Delignys andere Kartografie: Topografien einer kollaborativen Praxis 9783839459867

Aktivist*innen aus dem Umfeld der 68er-Bewegung haben gemeinsam mit Fernand Deligny über Jahre hinweg die Wahrnehmungs-

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German Pages 282 [300] Year 2022

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Delignys andere Kartografie: Topografien einer kollaborativen Praxis
 9783839459867

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Frank Beiler Delignys andere Kartografie

Theorie Bilden  | Band 44

Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hans-Christoph Koller, Andrea Sabisch, Olaf Sanders und Michael Wimmer.

Frank Beiler (Dr. phil.), geb. 1982, lehrt Allgemeine Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Erziehungs- und Bildungsphilosophie an der HelmutSchmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg.

Frank Beiler

Delignys andere Kartografie Topografien einer kollaborativen Praxis

Zugleich Dissertation Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, 2019.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5986-3 PDF-ISBN 978-3-8394-5986-7 https://doi.org/10.14361/9783839459867 Buchreihen-ISSN: 2747-3201 Buchreihen-eISSN: 2747-321X Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorbemerkung...................................................................... 7 Eine andere Kartografie ............................................................ 9 Einleitung........................................................................... 9 Anmerkungen zu Lebensraumplänen, Situational-Mapping und Critical Geography .... 22 Fährtenlinien in den Cevennen .................................................... 35 Fernand Delignys Arbeit und sein Umfeld ........................................... 35 Zur Rezeption von Fernand Delignys Arbeiten ....................................... 42 Der Kartenband Cartes et Lignes d’erre ............................................. 44 Autismus, 1968 und die Konstitution eines Kollektivs ................................ 45 Das Haus der Sprache und der Humanismus ........................................ 47 Individuum, Subjekt und Anomal .................................................... 52 Bild und Zeichen ................................................................... 59 Das dritte Haus ..................................................................... 71 Fährtenlinien in Ce gamin, là ........................................................ 86 Das außersprachliche Unbewusste.................................................. 94 Kompass und Visier ............................................................... 109 Exkurs I: Das Kameraauge und das Hinübersehen – Zu Rancières und Deleuzes Kinotheorie .................................................... 122 Fortsetzung »Kompass und Visir« ................................................. 129 Tun und Agieren .................................................................. 133 Verbindungen, Durchkreuzungen und Zwischenräume .............................. 142 Die Umwege (détours) der Kinder .................................................. 152 Exkurs II: Das Kameraauge und die Repräsentation – Zu Rancières und Deleuzes Kinotheorie .................................................... 156 Politische Praxis, kollaborative Praxis, kartografische Praxis ....................... 159 Exkurs III: Zur Prozessualität der Antonyme .................................. 165

Cartes et lignes d’erre ............................................................. 168 Mikroprozesse auf K 233.1 und K 233.2..............................................175 Das Floß ........................................................................... 179 Eröffnen ........................................................................... 179 Exkurs IV: Reinhard Hörsters Auseinandersetzung mit der kartografischen Praxis ................................................ 212 Fortsetzung »Eröffnen« ............................................................216 Präfigurieren ..................................................................... 222 … materialisieren …............................................................... 235 Rekurs: Die Lebendigkeit a-repräsentativer Anordnungen..................... 246 Quellen ........................................................................... 251 Siglen der Werke von Fernand Deligny ............................................. 251 Siglen für Karten (K) und Fährtenlinienblätter (FLB) aus Cartes et lignes d’erre (D 2013a).................................................................... 251 Film .............................................................................. 252 Literatur .......................................................................... 252 Abbildungsverzeichnis ........................................................... 269 Glossar ............................................................................ 271

Vorbemerkung

Die vorliegende Arbeit ist die gekürzte und überarbeitete Dissertation, die ich 2019 an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg verteidigt habe. Das leitende Erkenntnisinteresse für eine Auseinandersetzung mit der delignyschen Kartografie entwickelte sich bereits während meiner Studienzeit an der Universität zu Köln. Ein wichtiger Ausgangspunkt war die Beteiligung an der Schulgründungsinitiative »Unbedingte Schule e.V.« und die Arbeit an einem Schulkonzept, das in Distanz zu den gängigen Formen der Erziehungs- und Bildungsinstitution Schule steht. Die gemeinsame Arbeit führte nicht zur Gründung einer Unbedingten Schule, hatte jedoch die Veröffentlichung »Kleine Theorie der Unbedingten Schule« (2014, gemeinsam mit Thomas Jung, Olaf Sanders und Phillipp Thomas) zur Folge. Für die Betreuung und die Freiräume, die eine Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld möglich machten, danke ich Olaf Sanders. Des Weiteren gilt mein Dank Rainer Kokemohr für das Interesse an diesem Forschungsfeld, den anregenden Austausch in der Schlussphase und die Anerkennung, die er meiner Arbeit entgegengebracht hat. Bei Marlon Miguel möchte ich mich für den fortwährenden Austausch und seine Unterstützung bei der Recherche und Vermittlung zur Herausgeberin Sandra Alvarez de Toledo und zu Gisèle Durand bedanken. Auch bei ihnen möchte ich mich für ihre Rückmeldungen zu meinen Fragen bedanken. Hartwig Zander danke ich für die frühe Hilfestellung, die mir den Zugang zum Material erheblich erleichterte. Madeleine Scherrer danke ich für textkritische Anmerkungen und Korrekturen in der gesamten Arbeit und Robert Wartmann für den ausufernden Austausch. Roger Behrens danke ich für kritische Einwände und Hilfe in Layout und Print. Besonderer Dank gilt meinen Eltern, Ilse und Werner Beiler, die mir diesen Lebensweg ermöglicht haben und denen ich diese Arbeit widme. Ich dan-

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ke meiner Schwester Petra Beiler für ihr Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten. Meiner Partnerin Hanna Maldener danke ich für ihre uneingeschränkte Unterstützung, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre.    Hamburg, im November 2020  Frank Beiler

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Einleitung »Keine Angst vor der Leere! Nur Mut … Das Wissen und seine Formate, die Erkenntnis und ihre Methoden, die unendliche Detailliertheit wie die bewundernswerte Synthese, die meine Vorväter in den Fußnoten am Seitenende und den gewaltigen Bibliographien ihrer Bücher wie Rüstungen vor sich hertrugen und die zu vergessen sie mir vorwerfen – all das fällt unter dem Schwerthieb des Henkers des heiligen Dionysos hinab in die elektronische Büchse.« (Serres 2013, 33) 1969 hat sich aus dem aktivistischen Umfeld der 68er-Bewegung eine Lebensgemeinschaft in Südfrankreich zusammengefunden, die bis 1980 abseits staatlicher Institutionen und wissenschaftlicher Disziplinen hunderte Karten angefertigt hat. Auf den Karten sind vor allem die Bewegungen von autistischen Kindern festgehalten worden, die zumeist über die Sommerferien in die Obhut der Gemeinschaft gegeben wurden. Ein Mitglied der Gemeinschaft war der Sozialpsychologe und ehemalige Leiter des psychiatrischen Krankenhauses von Armentières Fernand Deligny, der bereits in der Nachkriegszeit ein landesweites Netzwerk für alternative Therapieformen zur klinischen Psychiatrie mitbegründete. Delignys Arbeiten sind ein zentraler Orientierungspunkt für diese besondere kartografische Praxis, die in der Lebensgemeinschaft ausgeübt wurde. Die Karten, die mehr mit Kunstwer-

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ken als mit vertrauten und gebräuchlichen Karten gemein haben, machen Wahrnehmungs- und Bewegungsräume autistischer Kindern erfahrbar, die von Geburt an keinerlei Sprachentwicklung durchlaufen haben. In den Schriften und Filmen reflektiert Deligny seine Arbeit als Institutsleiter eines psychiatrischen Krankenhauses in der Nachkriegszeit. Er setzt sich mit den wissenschaftlichen und philosophischen Rahmenbedingungen und den daran angebundenen Institutionen der Psychiatrie auseinander und unterzieht diese einer radikalen Kritik. Als Sozialpsychologe befasst sich Deligny vor allem mit frühkindlichem Autismus. Die Normierung und Disziplinierung, die die Kinder in den Institutionen und innerhalb der Gesellschaft zu der Zeit erfahren, erschüttern Deligny zutiefst. Seine Erfahrungen münden in einen Bruch mit den psychiatrischen Institutionen und deren Praktiken. Der Bruch markiert zugleich auch den Ausgangspunkt einer Suchbewegung nach alternativen Formen der Behandlung. Die kartografische Praxis ist Teil der Suchbewegung. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, anhand einer – erstmals im deutschsprachigen Raum vorgenommenen – Untersuchung der kartografischen Praxis von Fernand Deligny und seinen Mitstreiter:innen die Funktionsweise einer kollaborativen Praxis, die mit einer prozessualen bildbasierten Logik operiert, begrifflich aufzuarbeiten und die Wirkmacht dieser Praxis anhand der sie begleitenden Schriften und des Foto- und Filmmaterials zu belegen (vgl. Siglen D 1960-D 2017). Zentraler Untersuchungsgegenstand sind die Karten aus dem von Alvarez de Toledo 2013 herausgegebenen Band Cartes et lignes d’erre (D 2013a). Die Kartografin Gisèle Durand, die bereits im Alter von 20 Jahren ihre ersten Karten in der Gemeinschaft anfertigte, hält rückblickend im Vorwort dieses Bandes fest: »Since language had no hold, we had to invent« (Alvarez de Toledo 2013a, 8). Bewegungen außerhalb einer sprachlichen Ordnung erfordern kartografische Strukturen, die den sinnlichen Formen dieser Bewegungen gerecht werden können. Denn um Bewegung abseits bekannter Ordnungen ›erfassen‹ zu können, braucht es ein geeignetes Werkzeug, das diesen Bewegungen in ihrer Fremdheit und ihrer Offenheit gerecht werden kann. Es braucht eine Praxis, die nicht auf die einzelnen Individuen in der Gemeinschaft, auf ein sprachlich verfasstes Selbst oder ein imaginär-symbolisch konstituiertes Subjekt ausgerichtet ist, weil eine Vorgehensweise, die sich auf diese Figurationen stützen würde, zu Ausschlüssen der sprachfernen Kinder führen würde. Das hätte Hierarchisierungen zur Folge, durch die die Lebensgemeinschaft nicht als eine lokale Einheit egalitärer Mitglieder auf-

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rechterhalten werden könnte. Um diese Hierarchisierungen zu vermeiden, schlägt die kartografische Praxis einen anderen Weg ein. Ich werde aus diesem Grund nicht auf die Begriffe des Individuums und des Subjekts zurückgreifen, sondern aus Delignys Arbeiten die Begriffe der Seins- und Wahrnehmungsweise als qualitative Modalitäten der Existenz und der Erfahrung ableiten. Die Ableitung orientiert sich an Rancières Arbeiten zur Aufteilung des Sinnlichen und Foucaults Spätschriften, auf die ich vor allem in den Abschnitten Exkurs I-II und Politische Praxis, kollaborative Praxis, kartografische Praxis genauer eingehen werde. Seins- und Wahrnehmungsweisen erfordern kein Subjekt, ›Geist‹ oder kognitive Realität. Subjekt, ›Geist‹ oder die kognitive Realität sind lediglich besondere Modi von Seins- und Wahrnehmungsweisen. Seins- und Wahrnehmungsweisen sind dadurch nicht an eine bestimmte Spezies gebunden oder einer bestimmten Lebensform zugehörig. Sie eignen sich dazu, dem sinnlich Fremden genügend Spielraum zu lassen, um auch eine begriffliche Annäherungen an die kartografische Praxis zu ermöglichen. Die Praxis muss sich der Herausforderung stellen, wie sie das Fremde als Fremdes anerkennen und kartieren kann, um Rückschlüsse für die Lebensgemeinschaft ziehen zu können, die die Lebensweise aller in der Gemeinschaft berücksichtigt. Die Lebensweise aller kann nur in einer Gemeinschaft berücksichtigt werden, in der das Gemeinsame unbestimmt ist, d.h. in der das Gemeinsame der Gemeinschaft keinen sprachlich verfassten »Gemeinsinn« (D 2016, 17) hat. Die Wege der Kinder sind für uns – diejenigen, die eine sprachliche Entwicklung unter einer symbolischen Ordnung durchlaufen haben – kaum nachvollziehbar, weil die Bewegungen der Kinder in der Gemeinschaft aus Anomalien bestehen. Das bedeutet, dass ihre Bewegungen nicht von einer sprachlich verfassten Norm abweichen, sondern dass sie Abweichung als Abweichung leben. Die Kartierung von Anomalien ist mit den herkömmlichen Abbildverfahren von Wirklichkeit nicht möglich, weil Anomalien per definitionem keiner Ordnung angehören. Die Art und Weise, wie sprachferne Kinder Zeit, Raum und ›sich‹ ›selbst‹ wahrnehmen, ist nicht mit unserer sprachlich überformten Seins- und Wahrnehmungsweise vergleichbar. Die Praxis muss dementsprechend eine Umkehr vornehmen und die sprachfernen Seins- und Wahrnehmungsweisen als Ausgangspunkt ihrer Suchbewegungen festlegen und sie muss zugleich auch einen Weg finden, Übergriffe gegenüber dem Anomalen zu vermeiden. Die Umkehr der Perspektive dient vor allem dazu, die Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Seins- und Wahrnehmungsweisen in den Blick

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nehmen zu können. Die Verlagerung des Fokus auf die Wechselwirkungen zwischen der Welt der autistischen Kinder und derjenigen der Erwachsenen, schützt das Anomale vor Übergriffen. Die Wechselwirkungen ereignen sich in sinnlichen ›Zwischenräumen‹, die – so die These – eine topografische Struktur haben und sich kartieren lassen. Das prozessuale Geschehen in den Zwischenräumen erfasst die kartografische Praxis, indem sie vor allem Interaktionen und Interferenzen kartiert, so dass die Karten es ermöglichen, Rückschlüsse über (neue) Formen des alltäglichen Miteinanders zu ziehen. Mittels bestimmter Kartenzeichen wird eine Struktur des Interaktions- und Interferenzgeschehens auf den Karten entworfen. Die Karten widmen sich dementsprechend weder ausschließlich den Bewegungsräumen der Kinder noch denen der Erwachsenen, sondern heben die Ereignisse hervor, in denen die Mitglieder der Gemeinschaft in irgendeiner Weise interagieren oder interferieren. Das kann bereits ein Blick, eine einfache Geste sein. Ereignisse dieser Art fügen sich, sofern ein geübtes Auge sie beobachtet und kartiert, auf den Karten zu unterschiedlichen Markern zusammen, die Hinweise darauf geben, unter welchen Bedingungen interagiert und interferiert wurde. Das alltägliche Miteinander von Sprachferne und Sprachnähe entfaltet sich in der Lebensfläche (aire de séjour; vgl. D 2014, 8; Zander 2014, 62). Deligny bezeichnet mit dem Begriff eine offene Raumfigur des gemeinsamen Lebens von Sprachfernen und Sprachnahen an einem bestimmten Ort. Ich verstehe die Lebensfläche als eine topografische Struktur, die durch die kartografische Praxis konstituiert wird. Die Kartenzeichen sind mit dem Seismogramm eines mechanischen Seismografen vergleichbar. In einem Seismogramm wird die Aktivität von seismischen Wellen in einem Graph aufgezeichnet. Die grafische Aufzeichnung ist das Produkt der Interferenz der Wellen. Das Seismogramm bietet jedoch keinerlei Möglichkeit, die Aktivität einer einzelnen Welle zu identifizieren. Die Topografie des Sinnlichen auf den Karten besteht ausschließlich aus Ereignissen, die sich in den Begegnungsräumen zwischen den autistischen Kindern und den Erwachsenen ergeben und denen auf den Karten ein Ausdruck verliehen wird. Das bedeutet, dass die Karten Interaktions- und Interferenzprozessen Ausdruck verleihen, die eine paradoxe (topologische) Form haben. Die Formen sind paradox, weil mit ihnen Nicht-Identifizierbares (Abweichung als Abweichung) ›identifiziert‹ wird, d.h. durch topografische Strukturen werden a-repräsentative Formen als a-repräsentative Formen wahrnehmbar. A-repräsentative Formen sind – in Anlehnung an Lacan – topologisch.

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Ein Beispiel für eine paradoxe topologische Form ist das Möbiusband. Das Möbiusband ist eine nichtorientierbare Fläche mit einer Seite und einer Kante, für die es nicht möglich ist, zwischen oben und unten oder innen und außen zu unterscheiden. Lacan hält zum Möbiusband fest: »Es ist das, was ich kein Spiegelbild zu haben nenne« (Lacan 2011, 126). Kein Spiegelbild zu haben, bedeutet, keine Ich-Funktion, kein ›Selbst‹ herausbilden zu können (vgl. Lacan 1986). Ohne eine Ich-Funktion ist keine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt möglich. Für Deligny, der sich auf die Arbeiten von Leo Kanner (1943) zum frühkindlichen Autismus stützt, ist die sprachferne Einsamkeit und die Anziehungskraft des Gleichförmigen ein Orientierungspunkt für das Gemeinschaftsleben, dem es gilt (soweit eben möglich) nachzukommen. Die Aphasie und der Asymbolismus der autistischen Kinder wird – so argumentiert Zander (2003, 212f.) – in den Rang eines pädagogischen Prinzips gehoben. Mit einem Prinzip dieser Art wird Gleichheit axiomatisch im Gemeinschaftsleben verankert. Der Alltag konstituiert sich ausgehend von der Erkenntnis, dass es keinen Weg von der Ungleichheit zur Gleichheit gibt. Rancière beschreibt dieses axiomatische und operationale Prinzip der Gleichheit in Der unwissende Lehrmeister (2007, 104f.). Es geht eben nicht darum, sich aufopferungsvoll dem Leben der autistischen Kinder zu widmen, damit diese die ›richtige‹ Behandlung erhalten, die ihnen in psychiatrischen Institutionen verwehrt werden würde. Es geht darum, ein Leben mit Autist:innen zu leben und nicht ein Leben für sie. Hierbei helfen die Karten, denn was Sprache nur mühsam einholen kann, machen sie unvermittelt sichtbar. Ich folge Delignys Argumentation, in der er sich ausdrücklich vom heideggerschen Haus der Sprache distanziert und schließt, dass es neben dem Haus der Sprache auch ein Haus der Bilder gibt. Das Haus der Bilder ist für Deligny – anders als das Haus der Sprache – leer. Die Bilder führen im Heim der Bilder ein ›Eigenleben‹. Während menschliche Sprache an ein ›Ich‹, ein ›Selbst‹ und ein Subjekt gebunden bleibt, kommen Bilder ohne diese aus. Ich schließe weiter mit Coccia, dass diese autistischen Kinder in Bilderströmen denken und dass die Seinsweise der Kinder – in Anlehnung an Deleuze und Guattari – als eine maschinische Seins- und Wahrnehmungsweise verstanden werden kann. Das bedeutet nicht, dass diese Kinder stoffwechselgetriebene lebende Maschinen sind, sondern dass die Art und Weise, wie sie wahrnehmen, maschinisch ist. Das gesamte Sein jenseits der Sprache ist ein Sein als Wahrnehmungsmaschine. Delignys Film Le moindre Geste (FR, 1962-1971),

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der 1972 in Cannes aufgeführt wurde, zeigt ein Sein als Wahrnehmungsmaschine. Auf eine Filmsequenz, in der das Interagieren eines Kindes mit einer Baumaschine zu sehen ist, werde ich genauer eingehen. Die Gesten des Kindes orientieren sich an den Bewegungen der Maschine und entwickeln einen Rhythmus mit ihr. Die Bilderströme im Haus der Bilder sind nicht unvermittelt zugänglich, denn sie sind in erster Linie durch Kontingenz und Überschuss gekennzeichnet. Zeichenregime, wie die Sprache, gehen nicht restlos in Bilderströmen auf. Die Regime sind jedoch auf Bilderströme angewiesen, um aus ihnen Zeichen generieren zu können, die zu Ordnungen zusammenfügt werden. Die Spannungen zwischen dem Haus der Sprache und dem Haus der Bilder können nur durch ein drittes Haus beschrieben werden. Das Verhältnis zwischen Sprache und Bild ist in diesem dritten Haus ein doppelt artikuliertes. Zwischen Bildern und Zeichen herrscht ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit und Voraussetzung. Beispiel für einen Ausdruck eines solchen Verhältnisses ist die Kinoleinwand. Ich werde mit Delignys, Rancières und Deleuzes Arbeiten zum Kino argumentieren, dass der Zwischenraum der beiden Häuser ein virtueller operationaler Zwischenraum ist, in dem (repräsentationale) Sprache abgebaut werden kann. Das Haus der Sprache wird durch eine Ontologie des Sinnlichen seiner Vormachtstellung beraubt und dem Haus der Bilder nachgeordnet. Das dritte Haus ermöglicht als operationaler Zwischenraum – für Coccia ein »Hyperraum« (Coccia 2020a, 34) – eine Begegnung zwischen Menschen, die auf Sprache zurückgreifen und solchen, die es nicht tun. Die Karten der Lebensgemeinschaft sind – ebenso wie die Kinoleinwand – ein operationaler Zwischenraum, ein topografisch strukturierter Raum der Vermittlung. Vermittelt wird zwischen maschinischen Seins- und Wahrnehmungsweisen und den sprachlich verfassten Seins- und Wahrnehmungsweisen der Erwachsenen. Auf den Karten wird sichtbar und erfahrbar, wie maschinische Topologien und repräsentationale Zeichenregime zusammentreffen. Das Zusammentreffen erhält auf den Karten einen topografischen Ausdruck, der aus Interaktion und Interferenz besteht. Eines der ersten Zeichen, mit dem dieses Zusammentreffen kartiert wird, ist das Verflechtungszeichen (chevêtre). Deligny entnimmt den Begriff dem Zimmermannshandwerk, genauer gesagt der Balkenlage. Ein chevêtre ist ein Stichbalken, d.i. ein verkürzter Balken, der in der Balkenlage auf einem Wechsel aufliegt und hervorragt. Der Stich zeigt den Wechsel in der »Verflechtung« an. Das Zeichen hat nur Ähnlichkeit mit einem Y, denn genau

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genommen besteht es aus einem geraden, beinahe senkrechten, nach rechts oben weisenden Strich und einem kurzen daran ansetzenden Strich. Der beinahe senkrechte Strich kennzeichnet die Präsenz eines Erwachsenen. Der kurze daran ansetzende schräge Strich, beziehungsweise der Stichbalken, markiert die Anwesenheit eines autistischen Kindes, das sich mit den Tätigkeiten eines präsenten Erwachsenen »verflochten« hat. Delignys Formulierung, dass das Kind an dem Erwachsenen gewachsen sei (»lui a poussé«, D 2013a, 92), muss ganz wörtlich und eben nicht im übertragenen Sinn verstanden werden: Das Kind ist mit dem Erwachsenen so »verflochten«, wie beispielsweise ein Ast mit einem Baum; das heißt, ohne dass eine Verbindung sprachlich intentional provoziert oder gesteuert wird. Das Zeichen markiert auf den Karten eine Interferenz zwischen einem autistischen Kind und einem Erwachsenen. Das Verflechtungszeichen ist ein Vorläufer des Floßzeichens, dem ich mich im zweiten Teil der Arbeit ausführlich widme. Das Floßzeichen markiert Interaktionen auf den Karten, die sich aus Interferenzen zusammensetzen. Das Verflechtungszeichen ist vor der Transformation in das Floßzeichen für das Markieren der Orte verwendet worden, an denen Interferenzen stattgefunden haben. Eine Verflechtung ist ein Zeichen dafür, dass die Kinder und die Erwachsenen sich in einem Zwischenraum begegnen, in dem Seinsund Wahrnehmungsweisen mittels Gesten interferieren. Das Interferieren verstehe ich in Anlehnung an Haraway als ein »sich verwandt machen« (making kin) (Haraway 2018a, 9). Es ist ein Zusammentreffen, das durch eine Trennung (bzw. unüberwindbare Grenze) gekennzeichnet ist und das dennoch Interferenzen hervorrufen kann. Das kann beispielsweise auch eine bereits vor Jahren erloschene Feuerstelle in der Lebensgemeinschaft sein. Mit den Karten lassen sich auch mehrere Jahre alte Interferenz- und Interaktionsräume erkennen beziehungsweise wiederentdecken. Dies ist dann hilfreich, wenn die Bewegungen der Kinder Regelmäßigkeiten aufweisen, die für die sprachnahen Erwachsenen ohne die Karten kaum sichtbar wären. Auf den Karten verweist das Floßzeichen, das einer Raute ähnelt, mit zwei vertikalen Balken auf die Präsenz von zwei Menschen und mit zwei horizontalen Balken auf Tätigkeiten, die gewohnheitsmäßig in der Lebensgemeinschaft vorgenommen werden. Gewohnheitsmäßig (coutumier) meint nicht unbedingt alltäglich, sondern vielmehr ein (maschinisch) routiniertes Tun und Agieren, dem alle in der Lebensgemeinschaft nachgehen können. Das sprachnahe intentionale Tun und das sprachferne intentionslose und präreflexive Agieren treffen aufeinander und gehen ineinander über. Zu solchen Tätigkeiten, in

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denen Tun und Agieren kaum noch unterscheidbar sind, gehört beispielsweise das tägliche Abwaschen und Fegen oder auch das Brot backen und Teig kneten. Im Gewohnheitlichen drückt sich in gewisser Weise auch ein kollaboratives Miteinander aus. Wenn also auf einer Karte ein Floß eingezeichnet ist, dann zeigt dieses Zeichen an, dass (meistens zwei) Menschen gemeinsam eine solche Tätigkeit ausüben. Die Kartenzeichen bringen das Interaktions- und Interferenzgeschehen jedoch zur Geltung, ohne auf ein Denken in Identität|Differenz-Verhältnissen zurückzugreifen, denn sie markieren nicht die Abstände zwischen unterschiedlichen Seins- und Wahrnehmungsweisen. Das kartierte Geschehen repräsentiert auch keine bestimmte Form von Gemeinschaft, die methodisch reproduziert werden könnte und es liefert auch keine Wesensbestimmungen des Zusammenlebens. Durch die Zeichen wird ein rhizomatisches Netz aus Interferenzen und Interaktionen sichtbar, das aus prozessualen Wechselwirkungen besteht und das sich auf die Konstitution der Lebensgemeinschaft auswirkt. Rhizome sind für Deleuze und Guattari Ordnungsstrukturen, die durch eine inhärente Auflösung (in actu) bestimmt sind. Die Struktur besteht aus dem fortwährenden Abzug der Einheitlichkeit von Struktur. Sie ist der Abbau von einheitlichen Schemata. Ein Beispiel für ein Rhizom ist ein Wurzelgeflecht ohne Zentralwurzel, wie die Quecke. Ein Wurzelgeflecht wächst in alle Richtungen. Ein Schnitt durch das Geflecht zerstört nicht die Struktur der Pflanze, weil sie keine Hauptwurzel ausbildet und kein zentraler Stamm vorhanden ist. Wurzelgeflechte wachsen nicht in eine Richtung und haben auch kein Zentrum. Sie wuchern. Dualismen – wie beispielsweise der zwischen Sprachnähe und Sprachferne – sind innerhalb dieser Strukturen operational und nicht absolut. Ein Nachweis für die Wirkmacht der Praxis ist die Konstruktion eines zwei mal zwei Meter großen Holzgestells, das von Jacques Lin und seinen Brüdern im Mai 1974 gebaut wurde und das dazu beiträgt, den Alltag mit den autistischen Kindern zu organisieren. Die Konstruktion des Holzgestells kann zweifelsfrei auf das kartografische Floßzeichen zurückgeführt werden und ist zunächst nichts weiter als ein Notbehelf im Umgang mit dem Fremden, das keine Antworten zu geben vermag. Sie ist zugleich jedoch auch mehr als das, denn sie eröffnet neue Zwischenräume der Interaktion und Interferenz, indem sie für die Kinder ein »Hauptanziehungspunkt« (Lin 2004, 96) wird. Der Film Ce gamin, là (FR, 1975), den Deligny gemeinsam mit Renaud Victor und der Hilfe von Chris Marker drehte, zeigt das Interaktions- und In-

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terferenzgeschehen im Alltag der Lebensgemeinschaft. Dort sind nicht nur die mimetischen Gesten der Erwachsenen zu sehen, die sich den maschinischen Gesten der Kinder nähern, sondern auch die Floßkonstruktion selbst. Die kartografische Praxis dient nicht dazu, den Sprachnahen ein Steuerungsinstrument über die Sprachfernen an die Hand zu geben. Das aus dem einfachen Grund, weil eine Steuerung dieser Art eine Hierarchisierung der Lebensweisen und die Reproduktion der gängigen Macht-Wissen-SubjektFormationen zur Folge hätte, was den Ausgangspunkten und Grundgedanken der Initiative widersprechen würde. Unter einer Macht-Wissen-SubjektFormation versteht Foucault eine heterogene Gesamtheit, in der Wissen, Macht und Subjekte in einem »sozialen Nexus« (Foucault 2005a, 288) ineinander verschränkt sind. In der kartografischen Praxis werden Macht, Wissen und Subjekt nicht bloß als »Analyseraster […] einander fremde[r] Kategorien« (Foucault 1993, 33, Ergänzung von mir) verwendet. Die Praxis orientiert sich an einem Immanenzprinzip (vgl. Agamben 1998, 110ff.) und ist als verschränkter Bestandteil des Nexus auf den gesamten Nexus ausgerichtet, d.i. die Lebensgemeinschaft beziehungsweise die topografische Struktur der Lebensfläche. Dadurch kann die Praxis aber kein repräsentatives Wissen im herkömmlichen Sinne über Sprachferne anbieten, das Sprachnahe zur Optimierung therapeutischer Zweck nutzen könnten. Es ist ihr auch nicht möglich, die sprachnahen Machtmechanismen zu untersuchen, die das Verhalten oder den Diskurs über die Sprachfernen prägen oder die imaginärsymbolische Figuration des Subjekts, um Rückschlüsse auf das sprachlich verfasste Selbst der Individualität oder die Identität in der Lebensgemeinschaft ziehen zu können. Die Praxis verabschiedet sich davon, »zu beschreiben, was Wissen ist und was Macht ist« und was ein Subjekt ist »und wie das eine das andere unterdrückt oder mißbraucht« (ebd.). Es geht darum, »einen Nexus von Macht-Wissen[-Subjekt] zu charakterisieren« (ebd., Ergänzung von mir). Die Charakterisierung ist jedoch nur über einen Umweg, d.i. eine andere Kartografie, möglich, denn ein Nexus lässt sich nur dadurch untersuchen, dass man keine Trennlinien zwischen Macht-Wissen-Subjekt-Formationen zieht. Sobald Trennlinien durch den Nexus gezogen werden, geraten bestimmte Verhältnisse – in einem ganz konkreten Sinn – aus dem Blick, d.h. hier: aus dem Blick der Kartograf:innen. Rancière schließt an Foucault an und führt weiter aus, dass überall dort »Sichtbarkeitsregime« Wirkmacht erhalten, wo eine Logik der Repräsentation »Sehweisen, Tätigkeits- und Urteilsformen ordnet« (Rancière 2006, 38). Im Kern der Logik der Repräsentation ist die

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Trennung verankert. Mittels der Trennlinien, die durch den Nexus gezogen werden, entstehen wirkmächtige – und zugleich unterkomplexe – Formationen, die bspw. Machtzusammenhänge ausblenden können und/oder einheitliche Identitätskonzepte befördern. Wenn die Karten repräsentationslogisch reflektieren und spiegeln würden, was in der Gemeinschaft geschieht, indem sie beispielsweise abstrakte und systematische Kopien der sprachfernen Seins- und Wahrnehmungsweise entwerfen würden, dann stünde vor allem die Trennung und die Distanz zwischen den Sprachnahen und den Sprachfernen im Vordergrund. Betrachtet man die Karten aus dieser einseitigen Perspektive, dann ließe sich schnell konstatiert, dass sie nichts zu bedeuten haben und dass die kartografische Praxis ästhetisierte Praxis sei. Die Karten hätten demnach ausschließlich einen musealen Wert. Ein solches Urteil basiert auf einem bestimmten epistemischen Repräsentationsverhältnis mit bestimmten ontologischen Grundannahmen. Dieser Logik entzieht sich die Praxis. Ihre Wirkmacht ergibt sich nicht aus Differenzverhältnissen, sondern aus der Aktivität der Interferenz- und Interaktionsverhältnisse von Sprachferne und Sprachnähe. Sprachferne Formen der Seins- und Wahrnehmungsweisen werden für Sprachnahe in einer Topografie sichtbar und wahrnehmbar und zeigen Verbindungslinien an den Grenzen der Sprache auf. Dadurch ist die kartografische Praxis – in einem rancièreschen Sinne – eine politische Praxis (vgl. Rancière 2014b, 205ff.). Ich vertrete die These, dass das Verhältnis von Ausdruck und Wirkmacht in der kartografischen Praxis nicht dialektisch, sondern doppelt artikuliert ist. Meine Untersuchung kommt dementsprechend zu anderen Ergebnissen als Reinhard Hörster in seiner Auseinandersetzung mit Delignys Arbeiten, auf die ich in Exkurs IV eingehe. Die doppelte Artikulation ist ein prozessuales Modell der Bildung und Realisierung von Ausdrucksordnungen, das mit Differenz und Wiederholung operiert und auf Deleuze zurückgeführt werden kann (vgl. Deleuze 2007). Differenz wird in diesem Modell nicht »durch die Erfordernisse der Repräsentation verkehrt, die sie der Identität unterordnet« (ebd., 298). Rancière greift in Die stumme Sprache auf ein vergleichbares Modell zurück und spricht von einer »Ausdrucksordnung« (Rancière 2010, 50). Differenz und Wiederholung erzeugen einen Rhythmus, in dem Ordnung konstruiert und dekonstruiert wird. Konstruktion und Dekonstruktion setzen sich wechselseitig voraus, was zur Folge hat, dass die Bildung und Realisierung der Ausdrucksordnung durch fortwährende Prozesse der Neu-anordnung gekennzeichnet ist. Die Neu-anordnungsprozesse führen zu stetigen Verschiebungen und Abweichungen. Der Bindestrich im Wort Neu-anordnung soll die

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Prozessualität zwischen zwei sich wechselseitig voraussetzenden Ordnungsmerkmalen (Konstruktion und Dekonstruktion) zum Ausdruck bringen. Manning geht in ihrem Beitrag The Shape of Enthusiasm (2011) ausführlich auf die kartografische Praxis und Delignys Schriften ein. Für ihre Arbeit konnte sie nicht auf Kartenband Cartes et lignes d’erre (D 2013a) zurückgreifen. Sie argumentiert im Rückgriff auf Deleuze und Guattari, dass die kartografische Praxis Räume der Begegnung, ein »milieu of live-living« (ebd., 106) zwischen Erwachsenen und autistischen Kindern eröffnet und manifestiert. Die Räume der Begegnung und die Wirkmacht, die sie in der Gemeinschaft entfalten, werden im Alltag der Lebensgemeinschaft verifiziert. Die Wirkmacht wird in der Lebensgemeinschaft, die die Gleichheit unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen lebt, zum Ausdruck gebracht. Das heißt, dass »all aspects of the field are co-constitutive, co-emergent« (ebd., 93). Ich schließe an die Argumentation an und greife den Begriff der Ko-Konstitution auf, um ihn im Lauf der Arbeit weiter an das Kartenmaterial anzupassen. Die KoKonstitution ist für Manning eine Relation ohne Relationalität (a relation of nonrelation; ebd., 91), die die Aktivität (Ko-) in der Immanenz einer endlosen Bewegung der Materialisierung (Konstitution) zum Ausdruck bringt. Es ist eine »relation active in the immanence of its taking-form« (ebd.). Um Mannings Argumentation zu ergänzen und zu stützen, greife ich auf die Arbeit von Barad (2007) zurück. Barad versteht die Aktivität in Zwischenräumen (Subjekt-Objekt) als wirksame, materialisierte Differenz: »Matter isn’t situated in the world; matter is worlding in its materiality. […] Spatiality is intra-actively produced« (ebd, 180f.). Ich verstehe die Floßkonstruktion als das Ergebnis einer Aktivität in Zwischenräumen, die intra-aktiv produziert beziehungsweise ko-konstituiert wurden. Aus dem Interaktions- und Interferenzgeschehen in den Räumen zwischen Sprachnahen und Sprachfernen geht die Konstruktion als eine wirksame, materialisierte Differenz hervor. Meine Untersuchung der topografischen Strukturen auf den Karten und des Foto- und Filmmaterials belegt diese Argumentation. Die kartografische Praxis kann in diesem Sinn als eine »mindere Wissenschaft« verstanden werden (vgl. Deleuze, Guattari 1992, 495; vgl. hierzu auch Sanders 2020), deren Grundzüge Deleuze und Guattari auf Serres Arbeit The Birth of Physics (2018, 1977 i. O.) zurückführen. Die mindere Wissenschaft distanziert sich von repräsentationslogischen und positivistischen Zugängen, die der königlichen Wissenschaft angehören. Die königliche Wissenschaft, führt Platon im Politikos (283b-293c, 2007, 378ff.) aus, ist eine Meßkunst von der es zwei Arten gibt: eine, die zwei Phänomene bloß miteinander vergleicht

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und eine, die die Natur des Angemessenen untersucht. Zum Wissen führt jedoch allein die Suche nach dem Angemessenen, denn ohne das Angemessene würde auch das Vergleichen von Phänomenen zu nichts führen und die Suche nach dem königlichen Wissen wäre vergeblich. Das Angemessene ist der Maßstab, der die Norm vorgibt und Kategorisierungen erlaubt, die zu Hierarchien führen. Gemessen wird der Abstand zur Norm. Die Vermessung, Kategorisierung und Hierarchisierung erhält mit der aristotelischen Logik ihre Grundlegung in einem »repräsentativen Regime«, das in Analogie zu einer »umfassenden hierarchischen Auffassung von Gemeinschaft« steht (vgl. Rancière 2006, 38f.). Foucault fragt in seiner Vorlesung Die Anormalen (1974-1975) am Collège de France danach, entlang welcher Trennlinien diese Vermessungen vorgenommen werden und wie bestimmt wird, welche Individuen für eine Gesellschaft gefährlich, heilbar oder wiedereingliederbar sind. Die Frage nach den Techniken der Normalisierung ist zugleich eine Frage nach der wissenschaftlichen Praxis, die die Abstände zwischen dem Normalen und dem Anormalen objektiviert und verifiziert (vgl. Barlott, Shevellar, Turpin 2017). In den Anmerkungen, die auf die Einleitung folgen, werde ich einzelne Aspekte onto-epistemischer Voraussetzungen einer repräsentativen Logik anhand exemplarischer Beispiele aus der qualitativen Sozialforschung und der Critical Geography skizzieren, um auf Unterschiede zur hier untersuchten kartografischen Praxis hinzuweisen und um Spannungen aufzuzeigen, die diese Logik für empirische Forschung mit sich bringen kann. Auch die kartografische Praxis von Deligny und seinen Mitstreiter:innen ist von (immanenten) Spannungen betroffen, die ich vor allem im Abschnitt » … materialisieren …« und im darauffolgenden Rekurs diskutieren werden. Es sind Spannungen, die sich zwischen der Genese der Kartenzeichen und ihrer ›Methodisierung‹ beziehungsweise ihrer Verfestigung in einem Zeichenvokabular ergeben. Ich werde argumentieren, dass die Spannungen ko-konstitutiver Bestandteil der kartografischen Praxis sind. Die Lebensgemeinschaft kann diese Spannung durch die Praxis in einem Gleichgewicht halten, was sich produktiv auf die Konstitution der Gemeinschaft auswirkt. Die Spannung wird aufrechterhalten, indem die Praxis als ko-konstitutiver Bestandteil in den Lebensalltag integriert wird. Um der Prozessualität im Zwischenraum von Sprachnähe und Sprachferne gerecht werden zu können, entwerfe ich ein begriffliches Gefüge der topografischen Strukturen der Lebensfläche. Das ermöglicht, die kartografische Praxis als Bestandteil des sozialen Nexus der Lebensgemeinschaft zu ›cha-

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rakterisieren‹. Das Gefüge dient dazu, die Annäherungen, Überschneidungen und Gemeinsamkeiten zwischen Sprachnähe und Sprachferne in der Lebensfläche untersuchen zu können. Ziel ist, den Ausdruck und die Wirkmacht der kartografischen Praxis auszuarbeiten und nicht, ein begrifflich ›neutrales‹ Abbild einer kartierten sozialen Wirklichkeit zu zeichnen. Die Begriffe des Gefüges werden in Auseinandersetzung mit dem Kartenmaterial gewonnen und im Lauf der Arbeit mehrmals neu und anders am Material ausgerichtet, was zur Folge hat, dass begriffliche Transformationsprozesse eingeleitet werden. Der Bindestrich erweist sich als unpassendes Interpunktionszeichen, weil er eine Dialektik von Einheit und Trennung nahelegt, die unvereinbar mit der doppelten Artikulation ist. Für Begriffe, die doppelt artikulierte Prozesse zum Ausdruck bringen, werde ich auf den Doppelpunkt zurückgreifen. Der Doppelpunkt ist – wie Agamben zu Deleuzes »Die Immanenz : ein Leben…« (Deleuze 1996) ausführt – »die Öffnung auf ein Anderes, das jedoch vollkommen immanent bleibt« (Agamben 1998, 87). Der Begriff der »Interaktion« wird beispielsweise mehrmals verändert – aus »Inter-aktion« wird »Intra-aktion« und aus »Intra-aktion« wird »Intra:aktion« –, um seinen Zweck erfüllen zu können; nämlich dem kartierten Geschehen gerecht werden zu können, um Hierarchisierungen zwischen Sprachnähe und Sprachferne – soweit eben möglich – zu vermeiden. Hierfür gilt es, eine einseitig verfasste Repräsentationslogik zu überwinden. Die Filme (D 2007b) und die Karten (D 2013a) stellen die Dominanz des sprachlichen Denkens und die Einseitigkeit dazugehöriger gebräuchlicher Epistemologien infrage und stützen die begrifflichen Verschiebungen des Gefüges. Um Missverständnissen vorzubeugen, werden die Begriffe, die im Lauf der Arbeit neu ausgerichtet werden, solange in Anführungszeichen gesetzt, bis die Ausrichtung stimmig ist. Begriffe, die stimmig am Material ausgerichtet wurden, werden fett formatiert und können in einem Glossar nachgeschlagen werden. Das Glossar trägt dazu bei, dass die Leser:innen jederzeit auf das gesamte begriffliche Gefüge zugreifen können, um einen Kompass für die Karten und meine Arbeit zu erhalten. Das Glossar dient nicht dazu, ein begriffliches System zu entwerfen. Dafür sind die Begriffe zu beweglich und ihre Verbindungen untereinander zu lose. In dem Glossar konzentriert sich der begriffliche Zusammenhalt in einem Gefüge, das auch dem Zusammenhalt der Strukturen des Kartenmaterials entspricht.

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Anmerkungen zu Lebensraumplänen, Situational-Mapping und Critical Geography Das Kartenmaterial der Lebensgemeinschaft (D 2013a) kann an die Pionierarbeit der Wahrnehmungsgeographie »Der Lebensraum des Großstadtkindes« (1935) von Martha Muchow anschließen, denn in beiden Fällen sind die Wahrnehmungs- und Bewegungsräume von Kindern zentrale Ausgangspunkte. Muchow untersucht in ihrer qualitativen und quantitativen Studie die »Lebensraumpläne« (Muchow 2012, 96) der Großstadtkinder in Hamburg anhand von Fragebögen, Stadtteilkarten und Kinderzeichnungen eigener Streifwege. Der Aktionsraum ist der Raum, in dem sich die Subjekte bewegen. Er wird mit Hilfe von Stadtplänen und Fragebögen quantitativ erfasst. Der Wahrnehmungs- und Gestaltungsraum, durch den die Art und Weise der Raumwahrnehmung der Subjekte untersucht werden soll, wird überwiegend qualitativ ermittelt (vgl. kritisch hierzu Büttner; Coelen 2012, 207). Muchow nimmt mit der methodischen Erkundung kindlicher Lebensräume gewichtige theoretische Verschiebungen vor, die ein produktiveres Subjektverständnis und die Herangehensweise aus einer Kind-Perspektive befördern. »Es war also nicht mehr zu untersuchen, wie eine so und so zu beschreibende Großstadtwelt die in ihr lebenden, so und so beschaffenen Kinder beeinflusst, sondern es war zu zeigen, wie das Kind seine Umgebung ›Großstadt‹ zu seiner Umwelt umschafft, und wie sich als dann die vom Kinde ›gelebte Welt‹ Großstadt darstellt.« (Ebd., 76) Ziel von Muchows Arbeit ist auch über die formale Allgemeine (Entwicklungs-)Psychologie und ihre Gesetzmäßigkeiten hinauszugehen, um die besonderen »Weltbereiche« (ebd., 78) der Subjekte und die Art der Erfahrung der Bereiche zu berücksichtigen. Die Berücksichtigung besonderer Erfahrungsräume ist auch für Deligny und die kartografische Praxis leitend. Im Unterschied zu Muchows Arbeit erkundet die kartografische Praxis jedoch Erfahrungsräume von autistischen Kindern, die sich ›außerhalb‹ der Sprache bewegen. Die Berücksichtigung von sprachfernen Bewegungsräumen erfordert nicht nur eine Distanznahme zum dreidimensionalen (euklidischen) Raum, von dem sich auch Muchow distanziert (Muchow 2012, 157), sondern stellt das gesamte sprachnahe Denken vor immense methodische Herausforderungen. Sprachferne Bewegungsräume werfen die grundlegenden Fragen auf, wie Raumzeit in der Sprachferne wahrgenommen wird, wie sich Sprache und Bild zueinander verhalten, wel-

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che Rolle die Repräsentation und das Subjekt in diesem Verhältnis spielen und wie eine Forschungspraxis aussehen kann, die ihnen Rechnung trägt. Denn selbst eine empirische Forschungspraxis mit einer relationalen Beziehung zu ihrem Forschungsgegenstand, die das performative Zusammenwirken in der Beziehung berücksichtigt, ist mit dem Problem konfrontiert, dass die Theoriebildung oftmals einen epistemologischen ›Außenstandpunkt‹ gegenüber der Forschungspraxis einnimmt. Das Material kann dann kaum noch für sich selbst sprechen. Die strikte Trennung zwischen Empirie und Theorie wird von der Praxistheorie kritisiert (vgl. Alkemeyer, Schürmann, Volbers 2015). Die beiden Diskursarten (Forschungspraxis und Theoriebildung) können nicht bereits im Vorfeld der Forschungspraxis als voneinander getrennt vorausgesetzt werden. Eine solche Trennung – wie sie beispielsweise von Koller konstatiert wird (vgl. Schäfer, Thompson 2014, 15; Koller 2006; Koller 2012, 15ff.) – setzt voraus, dass sich »Eigenschaften prä-praktisch existierender Subjekte« (Alkemeyer, Buschmann, Michaeler 2015, 39) identifizieren ließen. Die Trennung würde Theorie an Reflexions- und Handlungswissen binden und beschränke empirische Forschung darauf, ausschließlich empirisches Wissen zu erzeugen. Die Kritik an der Praxistheorie – die sich hier vornehmlich in einem selbstkritischen Plädoyer für eine Erweiterung der Praxistheorien einsetzt – konstatiert einen »ko-konstitutiven Verweisungszusammenhang« (ebd., 26) zwischen Theorie und Forschungspraxis. Mit Bezug auf Rancière wird festgehalten: »Mit der von uns vorgeschlagenen Analytik lässt sich demgegenüber nicht nur die Reproduktion, sondern lassen sich auch die Transformation und die Subversion von Spielräumen der Fremd- und Selbstgestaltung thematisieren. So kann danach gefragt werden, unter welchen Bedingungen, aufgrund welcher Befähigungen und wie Teilnehmer transformativ in den Verlauf einer Praktik eingreifen, sich selbstbewusst in und zu den Verhältnissen positionieren und verhalten, in denen sie sich (selbst) bilden, oder sich dem ›Zugriff‹ einer Situation entziehen, um diese kritisch zu beurteilen – und damit als kritisch reflektierende Subjekte in Erscheinung zu treten. Indem wir Kritik als eine spezifische Weise der Transformation von Praktiken in der Praxis begreifen, binden wir sie nicht an normative Maßstäbe, die sich einem epistemologischen Außenstandpunkt verdanken. Vielmehr fragen wir – in Fortführung von bereits bei Marx, der Kritischen Theorie und Foucault angelegten Überlegungen – danach, wie die Grenzen etablierter Ord-

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nungen ›von innen‹ heraus identifiziert, ausgedehnt und eventuell überschritten werden.« (Ebd., 43) Der Ausrichtung und dem Ziel dieser Kritik kann ich zustimmen. Die kokonstitutiven Zusammenhänge verweisen auf eine postrepräsentative, empirische Herangehensweise, die »epistemologische Außenstandpunkte« vermeiden will. Es stellt sich jedoch die Frage, warum für hierfür Begriffe in Anspruch genommen werden, die dies unterlaufen. Denn ein »kritisch reflektierendes Subjekt« ist nichts anderes als ein epistemologischer Außenstandpunkt. Auf das Problem der Reflexionsmetapher in diesem Zusammenhang verweist beispielsweise auch Haraway, wenn sie betont, dass Reflexion und Refraktion (»reflexion and refraction«) zur Illusion von essenziellen und fixen Positionen verleiten (vgl. Haraway 1992, 300; vgl. hierzu auch Thompson 2007). Reflexion und Refraktion (re-)produzieren »›the same‹ displaced« (ebd.) oder in Deleuzes und Guattaris Begriffen ausgedrückt: Sie erzeugen ausschließlich Kopien und keine Karten. Dadurch besteht die Gefahr, dass man erneut – entgegen den eigenen Zielen – einen Außenstandpunkt in der Praxis etabliert. Es wird zwar betont, dass »reflexive Kompetenzen und kritische Rationalität, die klassisch mit einem starken Begriff von Subjektivität verbunden sind, im Rahmen des eigenen [praxistheoretischen] Paradigmas produktiv neu verstanden werden können« (Alkemeyer, Buschmann, Michaeler 2015, 26; Ergänzung von mir), dennoch wird damit zugleich auch hervorgehoben, dass diese Begriffe beibehalten werden sollen und nur der analytische Rahmen geändert werden müsste. In ähnlicher Weise stellt sich das Problem in der Situationsanalyse, einem Grounded Theory-Ansatz. Die Situationsanalyse nach Clarke (2012) zielt ebenfalls darauf ab, epistemologische Außenstandpunkte und damit verbundene Dichotomien zu vermeiden. »Gerade weil Grounded Theory nicht als Methode im Sinne eines präskriptiven Sets von Verfahrensregeln zu verstehen ist, sondern als ein an die konkrete Forschungspraxis flexibel anzupassendes Gerüst von Verfahrensvorschlägen [Strauss 1991,  33], kommt den Arbeitsprinzipien, die Strauss zu Beginn seines Einführungsbuches formuliert, besondere Bedeutung zu. Sie können die Forscherinnen und Forscher über den Sinn der im Einzelnen vorgeschlagenen Verfahrensschritte orientieren und deren situative Interpretation anleiten.« (Strübing 2018, 36f.)

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»Ko-Konstitution« und »relationale Verbundenheit« (ebd., 35) von Forscher und Forschungsgegenstand lassen nicht zu, dass ein präskriptives Set im Vorfeld des Forschungsvorhabens festgelegt werden kann. Die vorgeschlagenen Verfahrensschritte, die einem präskriptiven Set entgegenwirken sollen, zielen jedoch auch in diesem Fall darauf ab, ausschließlich den analytischen Rahmen des Forschungsverfahrens beziehungsweise die zeitliche Anordnung der Verfahrensschritte zu ändern. Durch die »Parallelisierung der Arbeitsschritte« (ebd., 37) sollen Datengewinnung, Datenanalyse und Theoriebildung nicht mehr nacheinander erfolgen, sondern »parallel betriebene Modi des Forschens« (ebd.) sein. Auch hier stellt sich die Frage, ob die epistemologischen Außenstandpunkte nicht erhalten bleiben, wenn das epistemische Set und zugehörige Begriffe beibehalten werden. Ich gehe auf dieses Problem ausführlicher anhand der Arbeiten von Clarke und der »Mapping Research with Grounded Theory« (vgl. Clarke, Friese, Washburn 2015) ein. Clarkes Situationsanalyse erweitert den Ground TheoryAnsatz und eröffnet neue Perspektiven für die qualitative Forschung in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Es geht Clarke darum, die Grounded Theory um postmoderne Theoriebaustein zu ergänzen, um den analytischen Rahmen der Forschungspraxis zu verändern. »Eines der wichtigsten Kriterien einer guten Grounded Theory ist ihre Modifizierbarkeit – ihre Zugänglichkeit für neue Daten. Ich möchte nun eine subversive Auslegung dieses Kriteriums vorstellen mit dem Ziel, die Theorie der Grounded Theory per se zu modifizieren. Ich will die zugrunde liegenden Annahmen der Grounded-Theory-Methodologie vom Positivismus in Richtung Postmoderne verlagern und verbessern, von den westlich-wissenschaftlichen, universalisierenden Meistererzählungen, die ›Verschiedenheit erklären‹, hin zur Erzeugung von Repräsentationen, die grundsätzlich von Verschiedenheiten und Multiplizitäten ausgehen und danach streben, sie detailliert aufzuzeichnen und darzustellen.« (Clarke 2012, 62) Für die von Clarke ausgearbeitete Kartografie der »Situations-Maps« (ebd., 35ff.) muss zuvor eine »Postmodernisierung« der Grounded Theory erfolgen, um der »Darstellung von Komplexität« (ebd., 76) gerecht werden zu können, die der traditionellen Grounded Theory und der damit einhergehenden »Erwünschtheit von Vereinfachung« (ebd.) gegenübersteht. Die Rahmenänderung mit der »Strategien zur vollständigen Postmodernisierung der Grounded Theory« (ebd., 62ff.) zielt darauf ab, das positivistische Gerüst aufzubrechen und »Normativität und Homogenität durch Komplexitäten,

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Verschiedenheiten und Heterogenität« (ebd.) abzulösen. Eindimensionalität wird durch »postmoderne multidimensionale Mappings« (ebd., 68) ersetzt. »Mein Vorschlag zur alternativen Verankerung einer postmodernisierten GTM [Grounded-Theory-Methodologie] ist stark an die Ansätze und Metaphern der sozialen Welten und Arenen angelehnt. Es ist mein Bestreben, die Metaphern der Normalverteilungen und Normativität durch relationale Metaphern der Ökologie und Kartographie zu ersetzen [vgl. Abb. 1]. Mein Argument ist, dass wir die modernistischen eindimensionalen Normalverteilungskurven konzeptionell durch postmoderne multidimensionale Mappings ersetzen müssen, um gelebte Situationen und die Vielfalt der Positionalitäten, der menschlichen und nicht-menschlichen Aktivitäten und Diskurse in ihnen zu repräsentieren. Sonst werden wir auch weiterhin lediglich rekursive Klassifikationen durchführen, welche die empirische Welt ignorieren.« (Ebd., 68f.; Ergänzungen von mir) Der Hinweis von Clarke, sich die Positionalität in der Abbildung dreidimensional vorzustellen, zielt auf die besagte Multidimensionalität ab, die eindimensionalen Zugängen entgegentritt.

Abb. 1: Mapping von Positionalität (Clarke 2012, 69)

Eindimensionale Zugänge finden sich beispielsweise in Normalverteilungskurven wieder, die universalisierende und essentialisierende Annahmen enthalten. Clarke ergänzt die Kartografie der Positionalitäten in Abbildung

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1 um zwei weitere Haupttypen, die »Situations-Maps« und die »Situationsanalysen«: »1. Situations-Maps als Strategien für die Verdeutlichung der Elemente in der Situation und zur Erforschung der Beziehung zwischen ihnen;  2. Maps von sozialen Welten/Arenen als Kartografien der kollektiven Verpflichtungen, Beziehungen und Handlungsschauplätze;  3. Positions-Maps als Vereinfachungsstrategie zur graphischen Darstellung von in Diskursen zur Sprache gebrachten und nicht zur Sprache gebrachten Positionen.« (Ebd., 124) Die drei Haupttypen des Mapping dienen dazu, eine »Postmodernisierung« der Grounded Theory vorzunehmen. Clarke sucht nach einer angemessenen Antwort auf das Problem der epistemologischen Außenstandpunkte und hält weiter fest, dass es nicht darum geht, »basic social proces(es) abzubilden, sondern Karten zu zeichnen« (ebd., 69). Repräsentationslogische (positivistische) Abbildungen werden durch (postmoderne) Karten ergänzt. Bereits in früheren Arbeiten bezieht sich Clarke auf die »crisis of representation« (Clarke 2003, 555). Die Krise stellt für Clarke die Legitimität und Autorität von Forschung und Forschenden infrage. Eine Antwort auf diese Krise, so schlussfolgert Clarke, ist eine De- und Repositionierung der Forschenden, d.h. eine »de/reposition [of] the researcher from ›all-knowing analyst‹ to ›acknowledge participant‹ in the production of always partial knowledges« (ebd., 556). Hier scheinen sich jedoch Widersprüche aufzutun, die sich als Folge des begrifflich weit gefassten Rahmens ergeben: »Während die Moderne Universalität, die Verallgemeinerung, Vereinfachung, Dauerhaftigkeit, Stabilität, Ganzheit, Rationalität, die Regelmäßigkeit, die Einheitlichkeit und Angemessenheit betonte, verschieben sich die Schwerpunkte in der Postmoderne hin zu Partikularismus, Positionalitäten, Komplikationen, Substanzlosigkeit, Instabilitäten, Unregelmäßigkeiten, Widersprüchen, Heterogenitäten, Situiertheit und Fragmentierung – kurz: Komplexität.« (Clarke 2012, 26) Wenn der »postmodern turn« (Clarke 2003), der von ihr zusammenfassend als »vis-à-vis complexity and variation« (ebd., 554) verstanden wird, die Möglichkeiten einer »Verallgemeinerung« infrage stellt, dann fragt sich, warum Clarkes Kartografie auch nach der vorgenommenen Postmodernisierung auf Repräsentation abzielt. Denn das Ziel der positional maps (Abb. 1) ist: »positional maps are not articulated with persons or groups but rather seek to rep-

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resent the full range of positions on particular issues« (ebd., 560). Wenn aber abgrenzbare Sachverhalte sozialer Wirklichkeit mittels »repräsentativer Abbildungen« (Clarke 2012, 176) kartiert werden sollen, was ist dann unter einem »postmodern turn« zu verstehen? Clarke erläutert hierzu: »But what do I mean by the complexities of ›situatedness‹ after the postmodern turn? I am quite specific. Many if not most of the methodological moves since the postmodern turn have centered on research wherein individual ›voice‹ and its representation lie at the heart of the matter. These include autoethnography, interpretive ethnography, new biographies/life stories, interpretive phenomenologies, the many forms of narrative analysis, and many forms of feminist inquiry. I heartily applaud these efforts and very seriously engage analysis of individual-centered materials here. But the most innovative part of my project also brings the social – the full situation of inquiry – further around the postmodern turn and grounds it in new analytic approaches that do justice to the insights of postmodern theory.« (Clarke 2003, 556) Um der Krise der Repräsentation gerecht werden zu können, dienen die »postmodernen Komplexitäten« als ein Ausgangspunkt, der es ermöglicht, ein »umfassenderes Forschungsfeld« (full situation) zu konstituieren. Ein umfassenderes Forschungsfeld trägt dazu bei, eine umfassendere Form der Repräsentation (to represent the full range of positions) zu ermöglichen. Es scheint jedoch widersprüchlich, auf die Krise der Repräsentation ausschließlich mit anderen Formen von Repräsentation zu antworten. Die Vorgehensweise wird auch von Diaz-Bone kritisiert: Die »epistemologische Unbekümmertheit« zeigt sich vor allem in einem weit gefassten begrifflichen Rahmen. Diaz-Bone schließt dementsprechend weiter, dass Begriffe wie Diskurs und Macht trotz eines expliziten Bezugs zu Foucault kaum hinreichend geklärt werden (ebd.). Ungeachtet all der noch offenen Fragen, die sich hier auftun, schließt Diaz-Bone, dass die Erweiterung der Grounded Theory-Methode weder eine »Analyse light« noch die »Herstellung eines methodischen Holismus« misslungen sei (ebd.). Ob diese Kartografie »fruchtbar für die Diskussion im Feld der qualitativen Sozialforschung« (ebd.) sein kann oder nicht, wird sich in anderen Arbeiten zeigen müssen. Hier sollte lediglich ein mögliches Problem der Repräsentation exemplarisch anhand der Situations-Maps und der Situationsanalysen skizziert werden. Unter dem Stichwort »Krise der Repräsentation« verstehe ich den Verlust einer Allgemeingültigkeit von Erkenntnissen, die ausschließlich über Re-

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präsentationssysteme gewonnen werden (vgl. Behnke 2017). Die »Krise der Repräsentation« hat sich erst im Lauf des 20. Jahrhunderts als Krise herausgebildet; bspw. in Lukács Die Theorie des Romans (1920) oder auch in Foucaults Die Ordnung der Dinge (1966). Im Kern ihrer Logik haben Repräsentationssysteme das Prinzip der Trennung verankert. Die Trennlinien, die das repräsentationale Denken zieht, unterstehen einem Transzendenzprinzip, das Hierarchisierungen ermöglicht. Das Regelwerk dieser Logik besagt, dass die Repräsentation von demjenigen getrennt werden muss, was zu repräsentieren ist; und zwar so, als ob es eine isolierbare Wirklichkeit geben würde, die es möglich macht, eine klare Trennlinie (zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Geist und Körper, zwischen Sinn und Sinnlichem) zu ziehen. Die Logik setzt dadurch ein verwaltbares und kategorisierbares System als Ordnungsschema voraus, das unabhängig von demjenigen besteht, was repräsentiert wird. In den drei Hauptformen des Situational-Mapping, die die Situationsanalyse auszeichnen (Abb. 1-3), sind Repräsentationsformen in metrisierten Räumen erkennbar. Die drei Haupttypen bilden Elemente (p1-pn; vgl. Abb. 1), Felder (Organisationen, Soziale Welten, Subwelten usw.; vgl. Abb. 2) und Positionen (»Zentrale Frage Nr. 1«, »Nichtmenschlicher Akteur A« u.a.; vgl. Abb. 3) in einem relationalen räumlichen Gefüge ab. Das bedeutet, dass die Karten im Modus der Repräsentation operieren und dass sie auch in diesem Modus verbleiben. »I want to shift and augment the undergirding assumptions of grounded theory from positivist to postmodern, from Western scientific universalizing master narratives ›explaining variation‹ to creating representations that basically assume differences and multiplicities and seek to explicitly map and represent them.« (Clarke 2005, 19) Ich stimme mit Clarke darin überein, dass es darum gehen muss, ein besseres Verständnis für (andere) Formen der Repräsentation zu entwickeln, um die Repräsentation von Heterogenitäten zu befördern. Ich bezweifle jedoch, dass dies mit einer Praxis gelingen kann, die sich auf den Modus der Repräsentation beschränkt. Denn das Problem der epistemologischen Außenstandpunkte bleibt trotz eines anderen (»postmodernen«) begrifflichen Instrumentariums weiterhin bestehen. Dass Verfahrensschritte zeitlich neu angeordnet und räumlich komplexer gezeichnet werden, hat keinen Einfluss auf das Problem. Clarke geht davon aus, dass die Krise der Repräsentation durch einen Mangel an angemessenen Abbildungsformen hervorgerufen wurde.

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Abb. 2: Abstrakte Map von Sozialen Welten in Arenen (Clarke 2012, 149)

Die Krise ist jedoch nicht auf einen Mangel adäquater Repräsentation zurückzuführen, sondern auf das »(Miß-)Verständnis dessen, was Erkenntnis eigentlich heißt, das auf vielen Gebieten unheilvolle Auswirkungen auf Theorie und Praxis nach sich gezogen hat. Um es in einer prägnanten Formel zusammenzufassen, könnte man sagen, dass wir das Erkennen als etwas Vermittlungsgebundenes (miss)verstehen. In ihrer ursprünglichen Gestalt ist diese Auffassung in dem Gedanken zum Vorschein gekommen, dass wir die äußere Wirklichkeit durch innere Vorstellungen oder Repräsentationen erfassen« (Dreyfus, Taylor 2016, 12). Der Kern der Krise besteht in der Annahme, dass die Repräsentation zwischen voneinander streng trennbaren Entitäten vermitteln kann und dass sie die Differenz zwischen diesen allein zu verwalten hat. Clarke verweist zwar auf den Verlust des Allgemeingültigkeitsanspruchs der Repräsentation, zieht daraus jedoch die Schlussfolgerung, dass man die

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Abb. 3: Abstrakte Situations-Map: Ungeordnete Arbeitsversion (Clarke 2012, 125)

Konsequenzen des Verlustes umgehen könnte, indem man von einer traditionellen, positivistischen Grounded Theory-Methodologie zu einem postmodernen, konstruktivistischen Grounded Theorizing übergeht (vgl. Clarke 2011, 225). Statt eines Dualismus von Subjekt und Objekt schlägt Clark eine Kontinuität von Subjekt und Objekt vor, statt einer Korrespondenztheorie der Wahrheit eine sozialkonstruktivistische Theorie der Wissensproduktion. Der Modus der Repräsentation bleibt in der Praxis des Mapping von dieser Verschiebung jedoch unberührt. Das hat zur Folge, dass die quasi-ontologische Realität des Sinnlichen der Wissensproduktion untergeordnet wird und der soziale Nexus nicht als Nexus untersucht werden kann. Das Sinnliche wird nach wie vor dem Sinn, d.h. in diesem Fall einem epistemologisch ›postmodernisierten‹ Rahmen, untergeordnet, um Wissen zu generieren, das von dem prozessualen und lebendigen Geschehen sozialer Wirklichkeiten getrennt ist. Die Critical Geography (vgl. Crampton, Krygier 2005) ist eine kritische Praxis, die nicht darauf abzielt, eine bestimmte Wissensproduktion durch

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adäquate Repräsentationsformen zu generieren, sondern nach Möglichkeiten sucht, konkrete gefährdete Lebensräume zu schützen. Sie hat ihren Ausgangspunkt in den lokalen Bedingungen eines sozialen Nexus, an denen sich auch der Einsatz von Theoriemodellen orientieren muss. Die Critical Geography und die kartografische Praxis von Deligny und seinen Mitstreiter:innen stehen sich nahe. In beiden Fällen werden mit Karten Vermessungen und Inventarisierungen von Lebensterrains vorgenommen und in beiden Fällen sind die lokalen Bedingungen der Lebensräume leitend für das gesamte Vorgehen. Critical Geography stellt durch theoretische und praktische Arbeit die ›Neutralität‹ mit der üblicherweise Karten angefertigt werden, infrage. Sie erhebt den Vorwurf, dass Karten zu positivistischen und instrumentellen Werkzeugen verkürzt werden, die einem technokratischen und imperialistischen Planen und Denken dienen. Die kritische Geografie argumentiert beispielsweise mit den theoretischen Mitteln der Semiotik, der Diskursanalyse und des Dekonstruktivismus, dass Karten als Zeichensysteme und sogar als ›Texte‹ kritisch gelesen werden können (vgl. Harley 1998; Wood, Fels 1992). Die Kritik dient der Aufklärung und Reflexion über die Macht- und Wissensstrukturen, in die die Kartografie staatlicher Institutionen eingebettet ist. In der Praxis der Critical Geography werden Gegen-Karten (counter-cartographies) von Aktivist:innen entworfen, die als ein »Tool for action« (Kollektiv Orangotango+ 2018, 18) dienen, um geopolitische, territoriale Machtansprüche infrage stellen zu können (vgl. Peluso 1995; Gangarova, von Unger 2020). Das Projeto Nova Cartografia Social da Amazônia hat beispielsweise das Ziel, die Territorien indigener Gemeinschaften vor invasiver Übernahme durch Großkonzerne und vor der einhergehenden Abholzung und Wasserverschmutzung zu schützen. Die Karten werden von der indigenen Gemeinschaft in kollaborativer Unterstützung mit einem geschulten Team erstellt, das beispielsweise Workshops zur Handhabung von GPS-Daten anbietet. Dadurch kann lokaler Aktivismus bestärkt werden, weil die Vermessung und Inventarisierung des indigenen Lebensterrains als ein Mittel für den Widerstand dient (http://novacartografiasocial.com.br/mapas/). Mit den Karten werden nicht nur Anbaugebiete, rituelle Orte oder ethnische Stammeshütten dokumentiert, sondern auch kommerzielle Eingriffe und territoriale Grenzüberschreitungen von Großkonzernen. Die Counter-Cartography Collectives haben das praktische Ziel: »To map systems of oppression, not oppressed people!« (Mesquita 2018, 30).

Eine andere Kartografie

Auch die Karten aus Cartes et lignes d’erre (D 2013a) dienen der Gemeinschaft als »Tool for action« und die kartografische Praxis richtet sich gegen institutionelle Formen der Normierung und Disziplinierung. Die Karten können insofern der Critical Geography zugeordnet werden, als sie die sprachfernen Lebensweisen der Kinder sichtbar und erfahrbar machen, wodurch sie sich besser vor sprachnahen Übergriffen schützen lassen. Das heißt, die Karten teilen die politische Ausrichtung und Zielorientierung der Counter-cartography. Im Unterschied zur Counter-cartography wird für die Vermessung und die Inventarisierung der Lebensterrains jedoch nicht auf repräsentationslogische Mittel der Kartografie zurückgegriffen, sondern auf die mindere Wissenschaft. Eine rhizomatische Kartografie distanziert sich nicht nur von einem instrumentellen, positivistischen Einsatz der Karten. Sie weist auch eine Praxis zurück, die auf solche Einsätze (notgedrungen) zurückgreifen muss. Denn eine Identifikation indigener Territorien und deren Nutzung führt zu einer Objektivierung, die als ein Mittel für politischen Aktivismus dienen kann, die jedoch zugleich auch das Territorium angreifbar macht. Gegen-Karten eröffnen einen Streit um Trenn- und Grenzlinien, die auf einem Denken in Identität|Differenz-Verhältnissen begründet sind. Die (dialektische) Praxis der Counter-geography kann dadurch die singuläre, lokale und immanente Prozessualität und Potentialität der Lebensterrains nicht berücksichtigen. Hier besteht die Gefahr, dass auf den Karten repräsentationslogische Trennlinien gezogen werden, die statische Dualismen zwischen Mensch und Welt, Denken und Sein, Natur und Kultur Vorschub leisten, die beispielsweise mit indigenen Seins- und Wahrnehmungsweisen unvereinbar sind (vgl. Descola 2013). Die wichtige Identifikation von gefährdeten Lebensterrains auf den Karten greift auf eine korrelationistische Dialektik zurück, um ihre Ansprüche geltend machen zu können. Die Trennlinien sind jedoch aus anthropologischer Perspektive »arbiträr und nicht aussagekräftig« (Viveiros de Castro, Danowski 2019, 142). Viveiros de Castro und Danowski argumentieren, dass Menschheit und Welt, Denken und Sein, Natur und Kultur nicht als getrennte Verhältnisse zweier Seiten einer Medaille betrachtet werden können, weil sie auf der einen Seite eines Möbiusbandes liegen. »Wenn man bei der Menschheit losgeht (beim Denken, bei der Kultur, bei der Sprache, beim ›Innen‹), kommt man notwendigerweise bei der Welt an (beim Sein, bei der Materie, bei der Natur, dem ›Großen Draußen‹), ohne eine Grenze zu überqueren, und umgekehrt.« (Ebd.)

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Die kartografische Praxis von Deligny und seinen Mitstreiter:innen hat zwar das gleiche Ziel wie die Counter-geography, schlägt jedoch einen anderen Weg ein, um es zu erreichen. Die Karten in dem Band Cartes et lignes d’erre (D 2013a) sind Gegen-Karten, weil sie nach Alternativen jenseits der standardisierten Therapie- und Behandlungsmethoden der Zeit suchen. Sie sind jedoch auch mehr als das, weil sie sich nicht dazu eignen, die Inklusion von Exkludierten oder die Therapie von ›Nicht-Therapierbaren‹ (incurable; vgl. D2007d, 0:01:39) zu unterstützen. Die Radikalität der kartografischen Praxis besteht darin, dass sie (notgedrungen) eine gewisse Ignoranz gegenüber den königlichen Trennlinien an den Tag legen muss, um Verbindungslinien zur Sprachferne zeichnen zu können.

Fährtenlinien in den Cevennen

Fernand Delignys Arbeit und sein Umfeld Fernand Deligny wird Mitte der 1940er Jahre die Institutsleitung des psychiatrischen Krankenhauses von Armentières entzogen, woraufhin er mit den Institutionen der klinischen Psychiatrie bricht. Er macht sich in den folgenden Jahrzehnten gemeinsam mit anderen auf die Suche nach alternativen Behandlungsmöglichkeiten schwer autistischer Kinder, die keine Sprachentwicklung durchlaufen haben. Diese Suche wird zu seiner Lebensaufgabe. Deligny wurde 1913 geboren und war in mehreren kommunistischen Organisationen aktiv (vgl. D 2015, 149). Zwischen 1933 und 1965 war er immer wieder Mitglied in der Kommunistischen Partei, widmete sich jedoch in erster Linie der Arbeit in der institutionellen Psychiatrie. Deligny entwickelte in dieser Zeit auch ambulanten Therapieformen, die auffällig gewordene Jugendliche vor einer Einweisung in die Psychiatrie bewahrten und beteiligte sich noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit an der Gründung der Grand Cordée, einem großen Netzwerk, in dem diese Therapieformen koordiniert wurden (vgl. D 2007a, 383ff.). Die Suchbewegung nach alternativen Behandlungsmöglichkeiten mündete in ein Lebens- und Gemeinschaftsprojekt in der ländlichen Region der Cevennen, das sich der egalitären Teilhabe autistischer Kinder widmete und das bis heute von den ehemaligen Beteiligten in Monoblet als Behandlungszentrum mit dem Titel »Aires Lien – Association humanitaire, d’entraide, sociale« weitergeführt wird. Delignys Distanzierung von den üblichen Behandlungspraktiken der Psychiatrie und der bald folgende Bruch mit sämtlichen Institutionen werden von zahlreichen Schriften begleitet, in denen er sich der Reflexion und Neuorientierung widmet. In den Schriften wird eine zunehmende Distanz, die sich nach und nach herausbildet, zum akademischen und institutionellen Betrieb sichtbar. Zu einem seiner Projekte (attempt) hält er fest:

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»For an attempt is closer to a work of art than to anything else. A person who means to create has to stay away from ›doing like‹.  Otherwise, one’s ›work‹, that which is purposed, exposed, is useless, if one doesn’t see in it some traces of a break with any identifications, whereas it is remarkable that [communist] Party members curiously resemble one another and that there is – there was, ›in my day‹ – an exemplary manner of being communist that went back to the ancestors. This is because a Party is grappling with history, whereas an attempt is situated within the space of now, now being a historical moment.« (D 2015, 151; Ergänzungen von mir) Die Konsequenzen, die Deligny für sich aus diesem Projekt zog, führten ihn, seine Mitstreiter und die autistischen Kinder an den Rand gesellschaftlicher Zusammenhänge. Deligny argumentiert, dass dieser Weg unumgänglich war. Das Leben als Aussteiger in einer kleinen Gemeinschaft in den Cevennen erwies sich als notwendig, weil die Autist:innen in den Institutionen und in der Gesellschaft unter erheblicher Diskriminierung und Normierung litten (und zum Teil auch heute noch leiden). Die Probleme, die sich für Deligny durch den Bruch ergaben, beschreibt auch Foucault in seiner Vorlesung Die Anormalen, die er 1974-1975 am Collège de France gehalten hat (vgl. Foucault 2013a): »Ist das Individuum gefährlich? Ist es heilbar und wiedereingliederbar? Die strafrechtliche Sanktion darf sich ab da nicht mehr auf ein für verantwortlich erklärtes Rechtssubjekt beziehen; sie ist ein Element, welches mit einer Technik einhergeht, die darin besteht, die gefährlichen Individuen abzuschieben und sich um jene zu kümmern, die für strafrechtliche Sanktionen empfänglich sind, um sie zu heilen und wiedereinzugliedern. Anders gesagt wird sich nunmehr eine Technik der Normalisierung des delinquenten Individuums annehmen.« (Foucault 2013a, 45) Deligny musste in der unmittelbaren Nachkriegszeit als Leiter einer Institution für psychisch kranke und schwer erziehbare »Individuen« eben diese Normierungstechniken anwenden. Nach drei Jahren in der Führungsposition eines Zentrums in der Nähe von Lille hält er 1948 in seinen Aufzeichnungen fest: »Betrug an den mir anvertrauten Leben« (D 1984, 99). Zwischen 1945 und 1946 schreibt er in sein Tagebuch, dass es ihm auf dem institutionellen Weg kaum möglich sei, sich den staatlichen Apparaturen und den Kontrollmechanismen zu entziehen (vgl. D 1984, 86ff.). Die Initiative, sich an der Gründung der Grand Cordée unter der Leitung von Henri Wallon zu beteiligen, ist auf seine Mitgliedschaft in der Kommu-

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nistischen Partei und die Begegnung mit der Aktivistin Huguette Dumoulin, der Landesvorsitzenden der Kommunistischen Jugend, zurückzuführen (vgl. Dosse 2017, 124). Über Dumoulin, mit der er später zwei Töchter haben wird, und das Netzwerk der Kommunistischen Jugend findet sich eine kleine Gruppe um Deligny zusammen, die die Grand Cordée eine Zeit lang aufrechterhalten kann. La Grande Cordée wurde als eine Organisation der Kinderpsychologie zur kostenlosen Behandlung von Heranwachsenden etabliert. Die Organisation blieb bis 1962 bestehen und hatte zuletzt acht Mitglieder. Der Tod von Henri Wallon und der Austritt von Huguette Dumoulin führten zur Auflösung (D 2007a, 1826). Nach mehreren Zwischenstationen – 1954 im Vercors-Gebirge, 1955 bis 1956 in der Haut-Loire, 1956 bis 1959 in Allier und danach in den Cevennen bis 1965 – und dem einhergehenden finanziellen Ruin, machen Deligny und eine kleine Gruppe sich auf den Weg zur antipsychiatrischen Clinique de La Borde. Deligny folgt einer Einladung des Psychiaters und Psychoanalytikers Félix Guattari, der die Gruppe in der Umgebung einquartiert und Deligny gleich ein Arbeitsatelier in der Klinik einrichtet. Die Clinique de La Borde wird von Jean Oury, einem weiteren Psychiater und Autor, und Guattari geleitet und wird durch den Rhythmus der Seminare Jacques Lacans bestimmt, an denen beinahe die gesamte Belegschaft der Klinik wöchentlich teilnimmt. Jacques Lacan, der durch eine (umstrittene) Re-Aktualisierung Freuds internationale Bekanntheit erlangte und zu der Zeit bereits eine gewisse Prominenz erlangte, ist für Delignys Arbeiten ein wichtiger Auseinandersetzungspunkt. Deligny und die Gruppe bleiben für eine Zeit in der Clinique de La Borde, sind jedoch eher am Rande ins Geschehen miteingebunden, was vor allem mit Delignys Zurückhaltung gegenüber der Psychoanalyse zusammenhängt. Denn für Deligny stand vielmehr die Form, Gestaltung und Funktion des Projekts einer Lebensgemeinschaft im Vordergrund und weniger die zurückliegenden Behandlungen der Kinder in den psychiatrischen Institutionen, deren Diagnosen oder gar mögliche Entwicklungsprognosen für eine ›Wiedereingliederung‹ in die Gesellschaft. Zwei Jahren nach der Ankunft Delignys erwirbt Guattari ein Bauernhaus in Gourgas in der Gemeinde Monoblet, das zu Beginn nicht nur Deligny einen Rückzugsort bot, sondern auch mehreren Aktivisten, die mit den Protesten der 68er-Bewegung in Verbindung standen. Das heillose Durcheinander der anwesenden Gruppierungen und Aktivisten auf dem Bauernhof, zu denen nebenbei bemerkt auch der Regisseur Jean-Luc Godard gehörte (vgl. Dosse 2017, 125), wurde Deligny – damals bereits 64 Jahre alt – jedoch zu viel.

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Es gab zudem auch häufig Auseinandersetzungen über die Anwesenheit der verhaltensauffälligen und/oder autistischen Kinder und es wurde im Folgenden auch über die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen oder über sie gesprochen werden sollte, gestritten. Räumlichkeiten wurden stürmisch verlassen, weil man nicht mit »Geisteskranken« zusammenwohnen wollte. Deligny zeigt sich in einem Brief an Guattari schockiert darüber, dass er in seinem Buch »La Révolution moléculaire« (Guattari 1977) von »Debilen« spricht und nicht schlicht von »stummen Kindern« (zit.n. Dosse 2017, 127). So kam es trotz vieler Gemeinsamkeiten – wie zum Beispiel der Kritik an Lacans Konzeption des Unbewussten, das für Lacan wie eine Sprache strukturiert ist (vgl. Lacan 2015, 26) – nach wenigen Jahren zum Bruch zwischen Deligny und Guattari. Deligny zog sich von der Clinique de La Borde zurück und begab sich mit einer kleinen Gruppe von Mitstreiter:innen Mitte der 1960er Jahre auf die Suche nach alternativen Lebens- und Gemeinschaftsformen, in denen Menschen nicht systematisch ausgegrenzt werden. Die kleine Gruppe um Deligny bestand zu der Zeit bereits aus einem mehr oder weniger festen Kern von Mitgliedern. Sie war in ihrer Selbstorganisation offen, so dass sich auch aus dem Umfeld der Klinik und den Protestbewegungen der 68er neue Mitglieder anschlossen. Sowohl die Zusammensetzung der Gemeinschaft als auch der Ort, an dem sie – oftmals unter rauen Bedingungen und in einfachen Verhältnissen – lebte, variierten über die Jahrzehnte hinweg. In ihrer Obhut und ihres zum Teil unfreiwilligen Nomadentums blieben die verhaltensauffälligen und autistischen Kinder oftmals nur einen Sommer lang. Es gab aber auch Fälle – wie beispielsweise den von Jean-Marie J., der später nur noch Janmari genannt wurde – in denen Kinder einen Platz für sich in der Gemeinschaft gefunden hatten und diesen auch behielten. In einem Interview im Mai 1975 beschreibt Deligny die Situation wie folgt: »Es kommt öfter vor, dass Kinder hierherkommen, ein oder zwei Monate bleiben und dann wieder nach Paris oder anderswohin zurückkehren. Sechs Monate später heißt es, sie würden wiederkommen. Aber wenn jetzt der Wagen nicht genau dieselbe Route fährt wie sechs Monate zuvor, schlagen sie sich, obwohl sie dieses Stück Weg nur einmal gefahren sind, den Kopf gegen die Wagenscheibe; was dann eine Mutter als ein ›er will mich nicht verlassen‹ interpretiert – sehen Sie, zu was für Interpretationen das führen kann –, wogegen es einfach darum geht, zu verstehen, dass alles vorher-gesehen wird. Das Kind hat die Straße ein einziges Mal gesehen … Alles muss auf dieselbe Weise geschehen.« (D 1980, 130)

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Wie geht man mit diesem Kopf-gegen-die-Wand-schlagen um? Wie ist es zu erklären, falls es sich überhaupt erklären lässt? Und wie findet man Mittel und Wege für ein Miteinander aller Beteiligten, das nicht in eine Anpassung, Bevormundung oder noch einfacher in einer Distanznahme gegenüber den Kindern mündet, sondern von gegenseitiger ›Anerkennung‹ zeugt? Die zentrale Frage war, wie sich ein Gemeinschaftsleben konstituieren lässt, das diesen Anforderungen gerecht werden kann und dementsprechend (weitestgehend) egalitär organisiert ist. Die Konstitutionsprozesse der Suche nach einer solchen Gemeinschaft dokumentiert Deligny in mehreren Schriften. In den Schriften wird ein Ringen mit der Sprache sichtbar, das sich vor allem darin zeigt, dass Deligny Wörter aus dem Alltag in andere Bedeutungsebenen überführt. Hierbei zeigt sich eine gewisse Ignoranz gegenüber den gebräuchlichen Bezügen zu Wissenschaft, Philosophie und (Begriffs-)Geschichte. Wenn dennoch direkt Bezug auf sie genommen wird, dann geschieht dies eher am Rande und dann auch vorwiegend, um Differenzen aufzuzeigen und Distanz zu erzeugen. Dementsprechend liest man im Vorwort der Gesamtausgabe von Delignys Œuvres (D 2007a): »L’actualité de Deligny est donc sa permanent inactualité: le repère de l’humain lui permet de penser et d’agir en avance sur son temps.« (D 2007a, 37)  »Die Aktualität von Deligny liegt in seiner fortwährenden Inaktualität: Der Bezugspunkt einer [spezifischen] Menschlichkeit ermöglicht ihm ein Denken und Agieren, das seiner Zeit voraus ist.« (Ebd., eigene Übersetzung, Ergänzung von mir) Spannungsverhältnisse zeigen sich vor allem in Delignys Auseinandersetzungen mit dem westlichen Denken und den philosophischen Traditionen. Der Einfluss von Lévi-Strauss’ Strukturalismus ist in seinen Schriften leicht erkennbar (vgl. hierzu auch Miguel 2014). Deligny bewegt sich oft zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus. Dies spiegelt sich auch in seinen Quellenverweisen wider, beispielsweise wenn er sich auf Freud (D 2016, 124ff.), Lacan (D 2015 131ff.), Wittgenstein (D 2008, 113-166) oder Heidegger (D 2011, 22ff., 31ff.) beruft, sie aufnimmt, deren Ansätze erweitert oder auch auf Distanz zu ihnen geht. Dem Strukturalismus bei Freud, dem Subjekt bei Lacan (D 2015, 173), der Sprache und der Metaphysik bei Heidegger und dem frühen Wittgenstein tritt Deligny immer wieder entgegen, indem er sich auf die alltäglichen Erfahrungen mit dem Leben der autistischen Kinder beruft und die philosophischen Systeme ausgehend von den Seins- und Wahrnehmungsweisen der Kinder befragt. Das Leben mit den Kindern und

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anderen Mitstreiter:innen führt Deligny dazu, grundlegende Bestandteile philosophischer Denktraditionen des 20. Jahrhunderts infrage zu stellen. Seine Arbeit und die kartografische Praxis stehen, wie ich argumentieren werde, bestimmten Philosophien des Poststrukturalismus nahe. Neben den Schriften Delignys und der kartografischen Praxis des Kollektivs spielte auch der Film eine wichtige Rolle für die Suche nach alternativen Lebensformen. Delignys Film Le moindre Geste (FR, 1962-1971) wurde 1972 in Cannes aufgeführt und Ce gamin, là (FR, 1975) wurde von Renaud Victor und der Hilfe von Chris Marker gedreht. Die Verbindungen zum französischen Film gehen auf eine Freundschaft Delignys mit dem bedeutenden Filmkritiker und Vordenker der Nouvelle Vague André Bazin zurück, die seit 1947/48 bestand (vgl. Andrew 2013, 227ff.). Deligny, der sich vor und während der Nachkriegszeit durch unkonventionelle Methoden und häufige Wechsel seiner Berufsorte den Ruf eines »anarchist in the classroom« (Andrew 2013, 227) erarbeitet hatte, kontaktierte André Bazin und Chris Marker, um von ihnen eine Kopie Nicolaï Ekks Der Weg ins Leben (SU, 1931), dem ersten Tonfilm der Sowjetunion, zu erhalten. Der Film thematisiert das Leben und die Gemeinschaft von Straßenkindern und Waisen am Rand der Gesellschaft. Ein Thema, zu dem Deligny bereits 1945 in Graine de Crapule arbeitete [»Teufelskraut. Ratschläge für Erzieher, die solches heranziehen wollen«, 2. Auflage 1960, vgl. D 1960; D 1984, 50]. In Graine de Crapule notiert Deligny in Tagebucheinträgen seine Erfahrungen mit psychiatrischen Institutionen und unterzieht die Einrichtungen einer scharfen Kritik. Der Kontakt zu Bazin und Marker festigte sich, nachdem diese nicht nur eine Kopie von Der Weg ins Leben bereitstellten, sondern Deligny auch gleich die Einführung und die Leitung der Vorführung überließen. Bazin, der für Deligny 1949 in Paris eine Wohnung fand und ihn zu seinem unmittelbaren Nachbarn machte, stellte auch die Verbindung zum Regisseur François Truffaut her. Delignys Roman Adrien Lomme (1958), den Chris Marker auch anerkennend rezensierte, diente Truffaut als Vorlage für Szenen aus den Film Les 400 Coups (FR, 1959). So ist nicht nur die berühmte Schlussszene mit Jean-Pierre Léaud Deligny zu verdanken, sondern auch die vollständige Überarbeitung der Szenen, in der Antione Doinel einen Psychologen besucht (vgl. Andrew 2013, 227). Les 400 Coups führte Deligny wiederum dazu, eigene Filmprojekte zu beginnen. Seine Erfahrungen mit den Institutionen der klinischen Psychiatrie und sein früher Widerstand gegen diese fallen in eine Zeit des Umbruchs und des Wandels. Die Suche nach Mitteln und Wegen die

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Umbrüche dieser Zeit zu bearbeiten, führte ihn jedoch erst Ende der 1960er Jahre zur Kartografie. Es ging Deligny und der Gemeinschaft, die sich um ihn konstituierte, nicht darum, sich aufopferungsvoll dem Leben der autistischen Kinder zu widmen, damit diese die ›richtige‹ Behandlung erhielten, die ihnen in Institutionen verwehrt wurde. Es ging darum, ein Leben mit Autisten zu leben und nicht ein Leben für sie. Das Gemeinschaftsleben mit Autist:innen, Außenseiter:innen, Ungepassten etc. erfordert Räume, die gemeinsam konstituiert werden müssen, weil eine Lebensweise jenseits der institutionellen Normierung von allen Beteiligten erlernt werden muss. Zudem muss erlernt werden, wie man das Alltagsleben mit Menschen, die keinerlei Gebrauch von Sprache machen, gemeinsam bewältigen kann. Die Karten, die in der Gemeinschaft um Deligny ab 1969 angefertigt wurden, erhalten vor allem durch die Zusammenarbeit von Guattari und dem Philosophen Gilles Deleuze Aufmerksamkeit. In Rhizom (1976), der Einleitung zu Tausend Plateaus, welche bereits vier Jahre vor dem Erscheinen von Tausend Plateaus veröffentlicht wurde, und auch in Tausend Plateaus selbst, wird die »Deligny-Methode« (Deleuze, Guattari 1992, 26) zu einem wichtigen Bestandteil des Denkens von Deleuze und Guattari. Auch in späteren Arbeiten wird das »Prinzip der Kartografie« (ebd., 23) eine Rolle spielen, wie sich an Deleuze Einordnung von Michel Foucaults Werk in seinem gleichnamigen Buch erkennen lässt, in dem er Foucault als einen neuen Kartografen beschreibt (vgl. Deleuze 1992, 37) oder wie es auch der Titel »Geophilosophie« des 4. Kapitels in Was ist Philosophie?, des letzten gemeinsamen Werks mit Guattari, bezeugt (vgl. Deleuze, Guattari 2000, 97). Zum Rhizom gehört für Deleuze und Guattari auch das Nomadentum, das auch von der kleinen Gruppe mit und um Deligny über Jahrzehnte hinweg nicht nur durch häufige Ortswechsel, sondern auch in der Transhumanz oder Wanderweidewirtschaft gepflegt wurde. Das 12. Plateau ist eine »Abhandlung über die Nomadologie«, zu der auch eine »nomadische« oder »mindere Wissenschaft« gehört (vgl. Deleuze, Guattari 1992, 495). Die kartografische Praxis der Gemeinschaft um Deligny kann an eine solche mindere Wissenschaft anschließen. Eines der letzten von Guattari verfassten Bücher, die Cartographies Schizoanalytiques (1989), wurde bisher nur ins Englische übersetzt (vgl. Guattari 2013) und liegt – wie viele seiner Arbeiten, die er ohne Deleuze verfasste – nicht auf Deutsch vor, zeigt aber den Stellenwert des »Prinzips der Kartografie« auf.

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Zur Rezeption von Fernand Delignys Arbeiten Trotz dieses weiten Netzes ist die Rezeption von Delignys Arbeiten im deutschsprachigen Raum überschaubar geblieben. Neben einer relativ frühen Übersetzung von Beiträgen aus Delignys Arbeiten in den Cahiers de l’Immuable/2 (D 1980), die in Frankreich im Umfeld poststrukturalistischer Theorien Bekanntheit erlangten und daraufhin im Merve Verlag erschienen sind, liegen seit 2002 Übersetzungen im Peter Engstler Verlag vor (vgl. D 2002, D 2008, D 2011, D 2013b, D 2014, D 2016, D 2017). Diese Übersetzungen stammen von Ronald Voullié, der für Merve auch Tausend Plateaus übersetzte, und dem Erziehungswissenschaftler Hartwig Zander, der – vor allem mit Bezug auf die Filme Delignys – auch eine eigene Arbeit im Peter Engstler Verlag verfasst hat (vgl. Zander 2016). Zanders Arbeit legt den Schwerpunkt auf Visualität und Photogrammatik. In einer früheren Arbeit zur pädagogischen Geste befasst Zander sich auch mit Delignys Schriften (vgl. Zander 2003). Es gibt in der Erziehungswissenschaft (vgl. Hörster 2017, Kirchner 2002) und auch in anderen Forschungsgebieten (vgl. Petrescu 2007, Kristensen 2014, 2015) nur wenige Beiträge, die sich explizit mit Delignys Werk auseinandersetzen. In englischer Sprache liegen Arbeiten von Marlon Miguel (vgl. Miguel 2014, Miguel 2015), Damian Milton (vgl. Milton, Bracher 2013; Milton 2014; Milton 2016), Drew S. Burk (vgl. Burk 2016) und Erin Manning (vgl. Manning 2011; Manning 2016) vor. Vor allem auf Zander, Manning und Miguel – die sich intensiv mit Delignys Arbeiten auseinandersetzten und von denen sich meine Arbeit auf mehreren Streckenabschnitten leiten lässt – werde ich noch Bezug nehmen. Marlon Miguels Beiträge widmen sich aus ästhetischer und philosophischer Perspektive Delignys Werk und arbeiten dort die Verbindungslinien zwischen Kunst, Anthropologie und Psychiatrie heraus. Neben seiner Dissertation À la marge et hors-champ: l’humain dans la pensée de Fernand Deligny (2016) ist zuletzt beispielsweise die Arbeit Le matérialisme concret de Fernand Deligny: vers une pensée du milieu humain (2017) erschienen. Die Titel weisen bereits darauf hin, dass vor allem die schriftlich verfassten Denkbewegungen Delignys im Vordergrund stehen. Miguel ist unter anderem auch für Organisation und Klassifikation im Deligny-Archiv am Institut Mémoires de l’édition contemporaine (IMEC) verantwortlich. Auf die Beiträge Towards a New Thinking on Humanism in Fernand Deligny’s Network (2015) und Somewhere in the Cévennes circa 1970. Ex-

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periencing Space and Spacing Experience in Fernand Deligny’s Network (2014) werde ich an mehreren Stellen meiner Arbeit zurückgreifen. Auch Damian Miltons Arbeiten werden weiter unten noch ein Thema sein, wenn es um eine bestimmte Form der Kritik an Delignys Zugang und seine Ausgangspunkte im Umgang mit Autist:innen geht. Milton, der 2009 die Diagnose Asperger-Syndrom erhalten hat, setzt sich an der University of Kent als Lecturer in Intellectual and Developmental Disability vor allem für die Teilhabe von Autist:innen und Menschen mit Lernbehinderung in Wissenschaft und Forschung ein. Andrew S. Burk hat als Kulturwissenschaftler, Übersetzer, Herausgeber und Leiter von Univocal Publishing eine Übersetzung mehrerer Texte von Deligny unter dem Titel The Arachnean and Other Texts (D 2015) im gleichnamigen Verlag veröffentlicht. In Verbindung mit dem Verlagswesen widmet sich Burk auch der Forschung nach Möglichkeiten, das klassische Buchformat mit digitalen Formaten, wie beispielsweise Hypertexten, zu verbinden. Ein Beispiel für einen solchen Hypertext liegt in der kurzen Ausarbeitung Living Network Ecologies: A Triptych on the Universe of Fernand Deligny (Burk 2016) vor. Das kleine Digitaltriptychon zielt darauf ab, Delignys Arbeiten neuen Lesern vorzustellen und verbindet Ausschnitte aus der Übersetzung Arachnean and Other Texts (D 2015) mit Zeichnungen, poetischen Einschüben und anderen künstlerischen Arbeiten von Burk. Turrini (2018) hat eine italienischsprachige Einführung in die Schriften Delignys verfasst, die ein weiterer Indikator dafür sein könnte, dass eine intensivere Auseinandersetzung mit Deligny noch folgt. Aus dem Bereich der Psychoanalyse befasst sich der Band Deligny et les tentatives de prise en charge des enfants fous l’aventure de l’Aire, 1968-1973 (Pierre Boiral, Georges Bourdouil, Jean Milhau 2007) mit dem Thema. Diese Arbeiten sind vor allem Alvaraz de Toledos Herausgabe der Gesamtwerke Delignys zu verdanken, die 2007 mit den Œuvres auf 1865 Seiten einen wesentlichen Teil des delignyschen Werks editiert hat (vgl. D 2007a; vgl. auch Alvarez de Toledo 2001). 2013 folgte der für meine Arbeit zentrale Kartenband (D 2013a) und 2018 die Correspondance des Cévennes, 1968-1996, die den Schriftverkehr Delignys beispielsweise mit François Truffaut, Chris Marker, Louis Althusser u.a. (D 2018) zugänglich machen. Die Karten aus Cartes et lignes d’erre (D 2013a) sind erst 2010 von Gisèle Durand in einem Archiv in Monoblet entdeckt worden. Aus einem Korpus von 300 Karten, die von 1969 bis 1980 angefertigt wurden, sind rund 200 Arbeiten in den Kartenband aufgenommen worden. Die Karten dieses Korpus

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stehen stärker mit der Lebensgemeinschaft in Verbindung als die Karten, die in den Cahiers de l’Immuable veröffentlicht wurden und eine größere Bekanntheit erlangten. Das liegt daran, dass sich die Karten aus Cartes et lignes d’erre in erster Linie dem Alltag der Lebensgemeinschaft widmen, während sich die Karten aus den Cahiers de l’Immuable vorwiegend mit den Schriften Delignys befassen (vgl. Durand 2013a, 2). Im deutschsprachigen Raum gibt es keine mir bekannte Arbeit, die sich explizit mit den Karten aus Cartes et lignes d’erre auseinandersetzt.

Der Kartenband Cartes et Lignes d’erre Mit dem 2013 erschienenen Band Cartes et Lignes d’erre (D 2013a) widmet sich erstmals eine Veröffentlichung ausschließlich den Karten, die in der Lebensgemeinschaft um Deligny angefertigt wurden. Alvarez de Toledo hat in sorgfältiger Edition 65 Karten aufbereitet, denen jeweils bis zu 28 durchsichtige Schichten (calque) – Fährtenlinienblätter (FLB) – zugeordnet sind. Die Ausstellung Cartes et Figures de la Terre zeigt diese Karten 1980 im Centre George Pompidou in einem eigenen Ausstellungsbereich mit dem Titel Lignes D’erres (vgl. Centre Pompidou 1980, 194ff.). Lignes d’erres sind Linien der Fährten (erre) autistischer Kinder, die sich von der naheliegenden Übersetzung zu Irrwegen oder Irrlinien (errance) – wie sie der Übersetzer Ronald Voullié vorschlägt (vgl. D 2002) – dahingehend unterscheiden, dass sie nicht in die Irre führen, sondern auf ganz eigene, singuläre Bewegungsräume verweisen. Hartwig Zander macht in seiner Übersetzung Seinsspuren und Schattengemäuer (D 2014) auch auf die Homonymie zur Fläche (aire) aufmerksam, die in Delignys Arbeiten eine wichtige Rolle spielt (vgl. D 2014, 60). Man muss die Fährtenlinien auch von einer situationistischen Drift (dérive), also einer revolutionären Strategie, und auch von den Fluchtlinien (ligne de fuite), die mit Deleuze und Guattari in Verbindung stehen (vgl. Deleuze, Guattari 1992, 13), unterscheiden (vgl. Alvarez de Toledo 2013b, 10). Fährtenlinien sind singuläre Spuren, die mittels einer bestimmten Praxis in kartografischer Form festgehalten werden und einem ›Selbstzweck‹ Ausdruck verleihen. »Es trifft zu, dass die Charakteristik der Umwege und Arabesken der Fährtenlinien darin besteht, wiederholt zu werden, und zwar auf eine singuläre Weise, die jedem Kind eigen ist. Die Fährtenlinie jedes Kindes ist wieder-

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stehen stärker mit der Lebensgemeinschaft in Verbindung als die Karten, die in den Cahiers de l’Immuable veröffentlicht wurden und eine größere Bekanntheit erlangten. Das liegt daran, dass sich die Karten aus Cartes et lignes d’erre in erster Linie dem Alltag der Lebensgemeinschaft widmen, während sich die Karten aus den Cahiers de l’Immuable vorwiegend mit den Schriften Delignys befassen (vgl. Durand 2013a, 2). Im deutschsprachigen Raum gibt es keine mir bekannte Arbeit, die sich explizit mit den Karten aus Cartes et lignes d’erre auseinandersetzt.

Der Kartenband Cartes et Lignes d’erre Mit dem 2013 erschienenen Band Cartes et Lignes d’erre (D 2013a) widmet sich erstmals eine Veröffentlichung ausschließlich den Karten, die in der Lebensgemeinschaft um Deligny angefertigt wurden. Alvarez de Toledo hat in sorgfältiger Edition 65 Karten aufbereitet, denen jeweils bis zu 28 durchsichtige Schichten (calque) – Fährtenlinienblätter (FLB) – zugeordnet sind. Die Ausstellung Cartes et Figures de la Terre zeigt diese Karten 1980 im Centre George Pompidou in einem eigenen Ausstellungsbereich mit dem Titel Lignes D’erres (vgl. Centre Pompidou 1980, 194ff.). Lignes d’erres sind Linien der Fährten (erre) autistischer Kinder, die sich von der naheliegenden Übersetzung zu Irrwegen oder Irrlinien (errance) – wie sie der Übersetzer Ronald Voullié vorschlägt (vgl. D 2002) – dahingehend unterscheiden, dass sie nicht in die Irre führen, sondern auf ganz eigene, singuläre Bewegungsräume verweisen. Hartwig Zander macht in seiner Übersetzung Seinsspuren und Schattengemäuer (D 2014) auch auf die Homonymie zur Fläche (aire) aufmerksam, die in Delignys Arbeiten eine wichtige Rolle spielt (vgl. D 2014, 60). Man muss die Fährtenlinien auch von einer situationistischen Drift (dérive), also einer revolutionären Strategie, und auch von den Fluchtlinien (ligne de fuite), die mit Deleuze und Guattari in Verbindung stehen (vgl. Deleuze, Guattari 1992, 13), unterscheiden (vgl. Alvarez de Toledo 2013b, 10). Fährtenlinien sind singuläre Spuren, die mittels einer bestimmten Praxis in kartografischer Form festgehalten werden und einem ›Selbstzweck‹ Ausdruck verleihen. »Es trifft zu, dass die Charakteristik der Umwege und Arabesken der Fährtenlinien darin besteht, wiederholt zu werden, und zwar auf eine singuläre Weise, die jedem Kind eigen ist. Die Fährtenlinie jedes Kindes ist wieder-

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erkennbar. Mithin, neben den Singularitäten, die individuell genannt werden können, sind die Koinzidenzen zwischen diesen Linien bemerkenswert; und sie sind, zumindest an einigen herausragenden Punkten, in hohem Maß gemeinschaftlich.« (D 2014, 7) Die Zeichen und Spuren der Koinzidenzen werden durch die kartografische Praxis auf den Karten sichtbar. Dadurch werden die Karten zu einem Zeugnis für eine gelebte Form von Gemeinschaft, in der die Seins- und Wahrnehmungsweise der autistischen und/oder ›verhaltensauffälligen‹ Kinder geachtet und respektiert werden können. Auf der ersten Karte einer Serie sind oftmals Grundrisse eines Camps oder eines Gebäudes in der Lebensgemeinschaft erkennbar. Die Grundrisse dienen den Kartograf:innen der räumlichen Orientierung. Mit durchsichtigem Papier werden auf den folgenden Blättern der Serie, Schicht um Schicht, die Bewegungen und Ereignisse eines Lebensraums kartiert. Eine Karte kann als Unter- und Hintergrund für jedes Fährtenlinienblatt erneut verwendet werden. Das eigentliche Geschehen im Lebensraum, das mit der Praxis festgehalten werden soll, wird jedoch erst sichtbar, wenn die Verbindungen zwischen Karten und Blättern untereinander berücksichtigt werden. Durch den unvollständigen Korpus kommt es mitunter vor, dass Blätter vollständig fehlen und nur noch eine Karte mit Grundrissen aus einer Serie auffindbar ist oder umgekehrt, dass lediglich Fährtenlinienblätter vorhanden sind und keinerlei geografische Zuordnung mehr möglich ist. Auch die Form und die Legenden der Karten unterliegen fortwährenden Veränderungen. Eine Systematik ist auf den ersten Blick kaum erkennbar. Es gibt zudem mehrere Kartograf:innen, die sich in ihrer Art und Weise zu kartieren voneinander unterscheiden. Es kommt auch vor, dass die Kartograf:innen nicht mehr den Karten zugeordnet werden können und unklar bleibt, wer welche Karten angefertigt hat. Eine Identifikation und genaue Zuordnungen spielen jedoch – wie sich im Lauf meiner Arbeit zeigen soll – kaum eine Rolle, weil die kartografische Praxis sich durch ihre topografischen Zuordnungen von den bekannten repräsentativen Ordnungen der Sprache weitgehend distanziert.

Autismus, 1968 und die Konstitution eines Kollektivs 1965 werden Fernand Deligny, Any Durand und andere Freunde der beiden, die an dem noch laufenden Filmprojekt Le moindre geste (FR, 1962-1972) betei-

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erkennbar. Mithin, neben den Singularitäten, die individuell genannt werden können, sind die Koinzidenzen zwischen diesen Linien bemerkenswert; und sie sind, zumindest an einigen herausragenden Punkten, in hohem Maß gemeinschaftlich.« (D 2014, 7) Die Zeichen und Spuren der Koinzidenzen werden durch die kartografische Praxis auf den Karten sichtbar. Dadurch werden die Karten zu einem Zeugnis für eine gelebte Form von Gemeinschaft, in der die Seins- und Wahrnehmungsweise der autistischen und/oder ›verhaltensauffälligen‹ Kinder geachtet und respektiert werden können. Auf der ersten Karte einer Serie sind oftmals Grundrisse eines Camps oder eines Gebäudes in der Lebensgemeinschaft erkennbar. Die Grundrisse dienen den Kartograf:innen der räumlichen Orientierung. Mit durchsichtigem Papier werden auf den folgenden Blättern der Serie, Schicht um Schicht, die Bewegungen und Ereignisse eines Lebensraums kartiert. Eine Karte kann als Unter- und Hintergrund für jedes Fährtenlinienblatt erneut verwendet werden. Das eigentliche Geschehen im Lebensraum, das mit der Praxis festgehalten werden soll, wird jedoch erst sichtbar, wenn die Verbindungen zwischen Karten und Blättern untereinander berücksichtigt werden. Durch den unvollständigen Korpus kommt es mitunter vor, dass Blätter vollständig fehlen und nur noch eine Karte mit Grundrissen aus einer Serie auffindbar ist oder umgekehrt, dass lediglich Fährtenlinienblätter vorhanden sind und keinerlei geografische Zuordnung mehr möglich ist. Auch die Form und die Legenden der Karten unterliegen fortwährenden Veränderungen. Eine Systematik ist auf den ersten Blick kaum erkennbar. Es gibt zudem mehrere Kartograf:innen, die sich in ihrer Art und Weise zu kartieren voneinander unterscheiden. Es kommt auch vor, dass die Kartograf:innen nicht mehr den Karten zugeordnet werden können und unklar bleibt, wer welche Karten angefertigt hat. Eine Identifikation und genaue Zuordnungen spielen jedoch – wie sich im Lauf meiner Arbeit zeigen soll – kaum eine Rolle, weil die kartografische Praxis sich durch ihre topografischen Zuordnungen von den bekannten repräsentativen Ordnungen der Sprache weitgehend distanziert.

Autismus, 1968 und die Konstitution eines Kollektivs 1965 werden Fernand Deligny, Any Durand und andere Freunde der beiden, die an dem noch laufenden Filmprojekt Le moindre geste (FR, 1962-1972) betei-

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ligt sind, von Félix Guattari und Jean Oury an die Clinic de la Borde nach Blois eingeladen. Fernand Deligny und Any Durand ziehen in die Nähe der Klink, in der Deligny auch Arbeit findet. Anys jüngere Schwester Gisèle besucht die beiden häufig in den Schulferien. Im Sommer 1967 werden Deligny und Durand mit ihrem neugeborenen Sohn Vincent Deligny von Guattari auf ein Anwesen in Gourgas eingeladen, wo Aktivist:innen zusammentreffen, um sich im Vorfeld des Mai 1968 zu organisieren. Ein breit gefächertes linkes Milieu aus Intellektuell:en, Sozialarbeiter:innen, Lehrer:innen, Psychiater:innen, Architekt:innen, Arbeiter:innen u.a. versammelt sich dort. Guattari fordert Deligny dazu auf, die Führungsrolle für die Aktivitäten vor Ort zu übernehmen (D 2013a, 194). Es ist jedoch eine Position, an der Deligny keinen Gefallen findet. Die Familie bleibt nicht lange in diesem Umfeld und macht sich 1968 auf den Weg in die Cevennen. Kurz vor dem Aufbruch wird der 12-jährige autistische Junge Jean-Marie J. nach der Diagnose »schwere Form der Enzephalopathie« (»encéphalopathe profond«, D 2007a, 1826) von seiner Mutter der Obhut Delignys anvertraut. Zur gleichen Zeit trifft auch der 19 Jahre alte Jacques Lin auf Deligny, der seine Arbeit als Elektriker bei Hispano-Suiza und seine Gewerkschaftsmitgliedschaft hinter sich lässt. Gisèle Durand, damals 18 Jahre alt, und Jacques Lin bleiben in der Gemeinschaft um Deligny und leiten bis heute gemeinsam mit anderen Unterstützern das »nicht traditionelle und experimentelle« Zentrum Aires Lien für autistische Erwachsene in den Cevennen. Das politisch aktive und heterogene Umfeld um Guattari in Gourgas kann als ein Initiativpunkt für die kleine künftige Gemeinschaft angesehen werden, in der Menschen zusammenfinden, um einen Versuch außerhalb der direkten Einflussnahme gesellschaftlicher Institutionen für eine andere Lebensweise zu begründen. Dies ist der Beginn eines Projekts, das Le Nouvel Observateur im Mai 1972 in einem Artikel mit dem Titel »Guérilla dans les Cévennes« (D 2007a, 792; D 2002, 31) versieht. Die Karten sind ein Teil dieses Guerilla-Versuchs und eine Orientierungshilfe auf unbekanntem Terrain. Es ist ein Unbekanntes, das in einem so umfassenden Sinn unbekannt ist, dass zunächst unklar ist, wie und auf welche Weise sich Zugänge finden lassen. Bis auf Fernand Deligny ist zu Beginn dieses ›anarchischen‹ Versuchs weder jemand im Umgang mit Autist:innen geschult noch verfügen die Mitglieder des Kollektivs über andere Ausbildungen in sozial-, sonder-, heil- oder anderen pädagogischen, psychiatrischen oder psychoanalytischen Bereichen. Für das Zusammenleben in der Gemeinschaft und für die Bewältigung des Alltags entwickeln sich erst nach und nach Wege und Methoden im achtsa-

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men Umgang miteinander, ohne dass dies in finanzieller Hinsicht entlohnt worden wäre. Die Suche nach neuen Formen des Zusammenlebens wurde von den Beteiligten auch nicht als Arbeit im herkömmlichen Sinn verstanden.

Das Haus der Sprache und der Humanismus Deligny setzt sich in seinen Schriften ausführlich mit der Dominanz der Sprache und einem sprachbasierten Denken und Handeln auseinander, um die Verfassung und die Wirkmacht der symbolischen Ordnung in Individuationsund Subjektivierungsprozessen herausarbeiten zu können. Er entfaltet seine Argumentation erzählerisch, aphoristisch und zum Teil auch poetisch. Hierbei widmet er sich intensiv der Frage nach dem humanistischen Menschenbild und dessen Wirkmacht in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Es geht ihm nicht darum, dem Humanismus als solchem – wie breit man diesen auch fassen will – den Vorwurf zu machen, er hätte Autist:innen seit Anbeginn der Aufklärung in besten Absichten normiert, unterdrückt und ausgeschlossen. Das wäre auch nicht weiter hilfreich, denn es ist nicht in erster Linie ein historisch humanistisches Gewand, unter dem diese Kinder von den hartnäckigsten Vertretern eines Humanismus »einer regelrechten Dressur – genannt Lernprozess« (D 2016, 14) unterworfen wurden oder werden, sondern vielmehr die damit eng verbundenen und umfassenden Ordnungszusammenhänge. Es sind Ordnungen aufgrund derer sich das Subjekt als eine imaginär-symbolische Figuration, das Selbst als eine Individualität und die Identität als eine Rolle in einer Gesellschaft herausbilden. Diese umfassenden Prozesse bestehen aus vielen Haupt- und Nebensträngen, die in einem Netz den diskursiven Rahmen konstituieren, den Deligny untersucht (vgl. Miguel 2015). Deligny orientiert sich an der strukturalen Anthropologie von LéviStrauss und der Kritik des »Ethnozentrismus«, in dem die Verschiedenheit der Menschen zu einem bloßen Schein verkommt: »Die Menschheit wird als ein einheitliches, mit sich selbst identisches Wesen gesehen, nur dass sich diese Einheitlichkeit und Identität nicht anders als schrittweise verwirklichen kann und dass die Verschiedenheit der Kulturen lediglich die Momente eines Prozesses illustriert, der eine dahinterliegende Realität verbirgt oder deren Manifestation verzögert.« (Lévi-Strauss 1975, 371)

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men Umgang miteinander, ohne dass dies in finanzieller Hinsicht entlohnt worden wäre. Die Suche nach neuen Formen des Zusammenlebens wurde von den Beteiligten auch nicht als Arbeit im herkömmlichen Sinn verstanden.

Das Haus der Sprache und der Humanismus Deligny setzt sich in seinen Schriften ausführlich mit der Dominanz der Sprache und einem sprachbasierten Denken und Handeln auseinander, um die Verfassung und die Wirkmacht der symbolischen Ordnung in Individuationsund Subjektivierungsprozessen herausarbeiten zu können. Er entfaltet seine Argumentation erzählerisch, aphoristisch und zum Teil auch poetisch. Hierbei widmet er sich intensiv der Frage nach dem humanistischen Menschenbild und dessen Wirkmacht in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Es geht ihm nicht darum, dem Humanismus als solchem – wie breit man diesen auch fassen will – den Vorwurf zu machen, er hätte Autist:innen seit Anbeginn der Aufklärung in besten Absichten normiert, unterdrückt und ausgeschlossen. Das wäre auch nicht weiter hilfreich, denn es ist nicht in erster Linie ein historisch humanistisches Gewand, unter dem diese Kinder von den hartnäckigsten Vertretern eines Humanismus »einer regelrechten Dressur – genannt Lernprozess« (D 2016, 14) unterworfen wurden oder werden, sondern vielmehr die damit eng verbundenen und umfassenden Ordnungszusammenhänge. Es sind Ordnungen aufgrund derer sich das Subjekt als eine imaginär-symbolische Figuration, das Selbst als eine Individualität und die Identität als eine Rolle in einer Gesellschaft herausbilden. Diese umfassenden Prozesse bestehen aus vielen Haupt- und Nebensträngen, die in einem Netz den diskursiven Rahmen konstituieren, den Deligny untersucht (vgl. Miguel 2015). Deligny orientiert sich an der strukturalen Anthropologie von LéviStrauss und der Kritik des »Ethnozentrismus«, in dem die Verschiedenheit der Menschen zu einem bloßen Schein verkommt: »Die Menschheit wird als ein einheitliches, mit sich selbst identisches Wesen gesehen, nur dass sich diese Einheitlichkeit und Identität nicht anders als schrittweise verwirklichen kann und dass die Verschiedenheit der Kulturen lediglich die Momente eines Prozesses illustriert, der eine dahinterliegende Realität verbirgt oder deren Manifestation verzögert.« (Lévi-Strauss 1975, 371)

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Lévi-Strauss konstatiert einen »falschen Evolutionismus« (ebd.), in dem die Verschiedenheit der Kulturen paradoxerweise zugleich anerkannt und geleugnet wird. Versammelt unter einem Ideal, sind die Differenzen nur noch Stadien oder Etappen der Entwicklung, die zu diesem Ideal führen. Verschiedenheit wird in einem Zeitmodus des ›Noch nicht‹ immer wieder aufgeschoben und zuletzt im Ideal teleologisch aufgehoben. Deligny hält dementsprechend fest: »Ich bin davon überzeugt, dass der Humanismus die Faschismen, Totalitarismen und alle Desaster der Zivilisation in sich trägt, so wie man gesagt hat, dass der Kapitalismus den Krieg in sich trägt wie die Wolke das Gewitter.« (D 2016, 5) Die Härte, mit der Deligny hier formuliert, mag der Nachkriegszeit und den Erfahrungen als Institutsleiter geschuldet sein. Sie scheinen jedoch auch angesichts aktueller Beispiele eine gewisse Aktualität zu haben. So hat beispielsweise die größte Sozialorganisation Deutschlands »Aktion Mensch« bis zum 23.01.2017 Projekte gefördert, die Autismus mit der Therapieform ABA (Applied Behavior Analysis) behandeln. Dieser – bei Kindern oftmals zu Hause stattfindenden – Dauerkonditionierung liegt die Normierung und Anpassung an die Gesellschaft durch ein bestimmtes Menschenbild zugrunde. Eingestellt wurde diese Förderung nur, weil sich die globale Gemeinschaft der AutismusCommunity online dagegen wehrte und monatelang Kritik anführte (https:// fragtwarum.tumblr.com). Der Sinologe François Jullien verweist angesichts kultureller Umbrüche und der Migrationsbewegungen von 2015 darauf hin, dass der Umgang mit dem Fremden sich vor allem im europäischen Raum durch ein Denken in Identität|Differenz-Verhältnissen auszeichnet, das nach wie vor erhebliche Schwierigkeiten hat, nicht mit Distanz oder Assimilation zu antworten (vgl. Jullien 2018a). Grund hierfür ist – lässt sich mit Deleuze (2007) weiter argumentieren –, dass in bestimmten (dominanten) Formen des europäischen Denkens oftmals die Differenz der Identität untergeordnert wird. Ausganspunkt dieses Denkens ist das Identische, das Ähnliche, das Gleiche das zum Maßstab erhoben wird, um das Fremde, das Disparate, das Differente, das Anomale einordnen zu können. Die Differenz auf das Identische zu beziehen, ist die »intimste Aufgabe« (ebd., 298) der Repräsentation und bildet die Grundlage dafür, Trennungslinien der Normierung ziehen und Hierarchisierungen vornehmen zu können. Die Differenz dient dann dazu, klassifikatorische Unterscheidungen und zugleich auch weitere Identifizierungen vorzunehmen, die für Jullien zur Isolierung und Essentialisierung von Kulturen

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beitragen (vgl. Jullien 2018a, 76). Ein Denken, das sich vorwiegend in Identität|Differenz-Verhältnissen bewegt, scheint sich auch im Umgang mit Autismus widerzuspiegeln und es stellt sich die Frage, wie man dieses einseitige Denken überwinden kann. Das Phänomen Autismus – auf das hier nicht in angemessener Tragweite eingegangen werden kann – ist aus wissenschaftlicher Perspektive nach wie vor ein Rätsel. Entsprechend formuliert der Neurobiologe und Nobelpreisträger Kandel: »Wenn wir den Autismus verstehen […] dann können wir auch das Gehirn verstehen« (zit.n. Grolle 2014, 104). Zwischen »seelischer Erkrankung« (ebd., 103) und »leichter Schädigung des Gehirns« (Grisberger 2015, 31) finden sich noch andere Diagnosen, die jedoch kaum einen Nachweis für Ursache oder Schädigungsform anführen können (vgl. Waterhouse 2013). 1980 wurde im Katalog DSM III (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) von der American Psychatric Association Autismus erstmals als eigenes Syndrom mit »tiefgreifenden Entwicklungsstörungen« aufgeführt. Die Formulierungen wurden im Lauf der Jahre immer unschärfer und offener bis man sich 2015 (DSM 5) auf die nach wie vor gültige Version einigen konnte. Auf die Formulierung »tiefgreifender Entwicklungsstörungen« wird zugunsten von »Autismus-Spektrum-Störung« verzichtet (vgl. Grolle 2015, 106). Grisberger weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich die leichte vorbestehende Schädigung »nur in geringem Maß auf die körperliche Entwicklung auswirkt und mit neurologischen Untersuchungsmethoden auch nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden kann« (ebd.). Vor allem die kognitivistischen Theorien zum Autismus diagnostizieren, wie die Titel der Werke »Mindblindness« (Baron-Cohen 1997) und »Zero degrees of empathy« (Baron-Cohen 2011a) des britischen Psychologen und Direktors des Autismus-Forschungszentrums (ARC) in Cambridge bereits nahelegen, einen Mangel an Empathie und Einfühlungsvermögen. Baron-Cohen weist darauf hin, dass die Defizite lediglich auf kognitiver Ebene vorliegen und nur aus dieser Sicht das Unvermögen mit sich bringen, sich in andere Personen hineinzuversetzen. Er unterscheidet zwischen kognitiver und affektiver Empathie, um belegen zu können, dass psychisch kranke und gewalttätige Menschen über kognitive Empathie verfügen aber nicht über affektive, während es bei Autisten umgekehrt ist. Das heißt, sobald ein:e Autist:in erfährt, dass sie jemanden aufgrund der fehlenden kognitiven Ebene unwissentlich verletzt hat, will sie etwas unternehmen – auf affektiver Ebene –, um diesen Schaden zu beheben (vgl. Baron-Cohen 2011b, 4). Gegen diesen »empathy quotient« (EQ) regte sich in der Autismus-Community und vor allem auf

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der Seite https://autismandempathyblog.wordpress.com Widerstand (vgl. CohenRottenberg 2011). Baron-Cohen attestiert, auch unter Berufung auf andere Studien, Autist:innen einen durchschnittlichen EQ unter 30, während derjenige normaler Personen zwischen 30 und 80 liegt (vgl. Baron-Cohen 2011b, 2). In einer Antwort auf die Kritik von Cohen-Rottenberg beruft sich BaronCohen auf seine wissenschaftliche Perspektive: »This difference in viewpoint may arise because science looks at groups of individuals (with and without autism) and tests for differences on average between the groups. It says nothing about individuals.« (Baron-Cohen 2011b, 1) Die Antwort erweckt den Eindruck, dass die von Baron-Cohen vorgeschlagenen Wissenspraktiken keine materiellen Auswirkungen auf »Individuen« und die Welten, in denen sie sich bewegen, hätten. Die globale AutismusCommunity bezeugt das Gegenteil und zeigt auch die Probleme einer solchen repräsentativen Logik auf. Auch der Evolutionsanthropologe Tomasello vom Max-Planck-Institut geht in seinem Kapitel »Schimpansen und autistische Kinder« (Tomasello 2002, 94ff.) auf einen sogenannten Mangel an Empathie unter autistischen Kindern ein. Autistische Kinder weisen bezüglich der angeborenen Fähigkeit, sich mit Artgenossen zu identifizieren, ein »biologisches Defizit« (Tomasello 2002, 95) auf. Das führt dazu, dass sie nur »sehr wenige deklarative Gesten« (ebd.; vgl. Tomasello 2009, 134ff., 156ff.) – Gesten, die ein anderes »Individuum« auf ein Objekt aufmerksam machen – ausführen können. Sie können mithin, so die Schlussfolgerung, keine (sozio-)kognitiven Fertigkeiten ausbilden. Dennoch muss Tomasello aufgrund der »großen Variabilität in allen diesen Defiziten« auch vorsichtig einschränken, dass es gewagt sei, »allgemeine Behauptungen« (Tomasello 2002, 113) aufzustellen. Ob die Herangehensweise eine Brücke von der nichtsprachlichen Kommunikation der Geste zum Spracherwerb finden kann, soll hier nicht diskutiert werden. Einem einseitigen Fortschrittsbegriff dieser Art lässt sich entgegensetzen, dass der begrenzte Fokus auf den Spracherwerb Abweichungen und Anomalien in evolutionären Prozessen aus dem Auge verliert. Sanders verweist in einem ähnlichen Zusammenhang in seinem Beitrag »Ganz Altes denken« (Sanders 2015) auf die Archäologin Penny Spikins, die mit ihren Arbeiten diese Einseitigkeit kritisiert:

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»Cognitive differences within our own species, particularly those which characterize the ›autistic spectrum‹, are far from insignificant. Yet, whatever our own place on the autistic spectrum, we all use and find familiar such social mechanisms to communicate with those around us who may be cognitively very different from ourselves. It is argued here that the existence and incorporation of such difference (and potentially others) may have been a crucial part of modern human success. Indeed, it may not have been one ›modern human mind‹ but this integration of different minds which created what has been dubbed the ›human revolution‹.« (Spikins 2009, 24; vgl. Spikins, Wright 2016) Spikins argumentiert, dass ein integrativer Umgang mit Abweichung und Anomalie evolutionär signifikant zu dem beigetragen hat, was den modernen Menschen ausmacht. In ihrer Argumentation ist Differenz eine evolutionäre Ressource. Ressourcen lassen sich – das betont auch Jullien (vgl. Jullien 2018a, 58) – aktivieren. Das Fremde wird als Fremdes inkorporiert, ohne sich an einer Identität der Gemeinschaft ausrichten zu müssen, um sich zu assimilieren. Deligny geht es darum, diese Ressourcen zum Vorschein zu bringen und ihr in einer Lebensweise Ausdruck zu verleihen. Die Frage ist demnach, wie die »different minds« Teil einer Gemeinschaft werden können, ohne dass sie nach bestimmten Maßstäben an die vermeintlichen Wesenszüge dieser angepasst werden müssten. Dadurch stellt sich die Frage, wie eine Gemeinschaft mit Differenz umgeht und wie sie sich im Umgang mit Differenz (anders) »konstituieren« kann. Aus diesem Grund soll es an dieser Stelle auch nicht darum gehen, die Forschungsbefunde der kognitivistischen, anthropologischen oder archäologischen Theorien einer repräsentativen (delignyschen) Kritik zu unterziehen. Delignys politische Interventionen besitzen zwar Aktualität und decken auch eine gewisse Arroganz gegenüber Autist:innen auf, die nach wie vor beobachtbar ist, »weil man sie [autistische Kinder] für leer hält, da sie nicht voll von dem sind, was uns beschäftigt« (D 2016, 71). Es geht Deligny aber vielmehr darum, danach zu fragen, womit die Norm gefüllt ist, wie sich ihre Maßstäbe konstituieren und wo man Einsätze für andere Lebensweisen abseits dieser Ordnungen finden kann.

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Individuum, Subjekt und Anomal Der mithin entstehende Zwang des Konformismus eines Gemeinsinns (one »modern human mind«) in einer Gesellschaft verfehlt notwendig die Einzigartigkeit des »Individuums«. Einzigartigkeit kann nicht in einem gemeinsamen Sinn oder einem einzigen Menschenbild wurzeln. Sie kann lediglich partikulare Perspektiven auf den Sinn des Gemeinsamen bieten, ohne diesen Sinn zu konstituieren. Deligny hebt im »Sinn des Gemeinsamen« (D 2016, 17f.) den Genitiv hervor, um zu verdeutlichen, dass der Bezug zu einem Gemeinsamen dem Gemeinsamen vorgelagert ist. Ein Denken, das auf Identität|Differenz gründet, kann dem Gemeinsamen nur allzu leicht einen Sinn aufzwingen. Von diesem Sinn und diesem Denken kann man sich jedoch (mit Mühen und in begrenztem Umfang) loslösen, um Verschiebungen vorzunehmen (vgl. dazu auch Miguel 2015). Begriffliche Verschiebungen, die unmittelbar an Delignys Einsatz anschließen können, nehmen Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus (1992) vor. Sie argumentieren, dass es sinnvoller ist, nicht mehr von der Anormalität zu sprechen, die ihren Maßstab immer nur in einer gegebenen Norm des Gemeinsamen finden kann, von der sie sich abgrenzen lässt, sondern von dem Anomal: »Man hat einmal festgestellt, dass das Wort ›anomal‹, ein veraltetes Adjektiv, einen ganz anderen Ursprung als das Wort ›anormal‹ hat: a-normal, das lateinische Adjektiv ohne Substantiv, bezeichnet das, was nicht die Regel ist oder der Regel zuwiderläuft, während ›An-omalie‹, das griechische Substantiv, das sein Adjektiv verloren hat, das Ungleiche bezeichnet, das Unebene, die Unebenheit, die Grenze der Deterritorialisierung. Das Anormale kann nur im Zusammenhang mit artspezifischen oder gattungsmäßigen Eigenschaften definiert werden. Aber das Anomale ist eine Position oder ein Komplex von Positionen gegenüber einer Mannigfaltigkeit.« (Deleuze, Guattari 1992, 332; Hervorhebung von mir) Die Anormalität ist die Abweichung von einer Norm, wohingegen die Anomalie eine Abweichung als Abweichung bezeichnet. Anomalien sind singulär, was bedeutet, dass sie sich außerhalb einer Norm bewegen: Sie sind nicht definierbar, weil sie keiner Ordnung oder keinem System angehören. Sie weichen damit nicht von etwas ab, sondern sind Abweichung; ähnlich einem Schwarzen Loch, das einen Riss im Raum-Zeit-Gefüge ausbildet und in dessen Zentrum die bekannten wissenschaftlichen Gesetze kollabieren. Man kann den

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Begriff Anomal damit auf die singuläre undefinierbare Position eines einzelnen »Individuums« anwenden, die der Konstitutionen von Norm und Identität vorgelagert ist. Das »Individuum« ist dann lediglich eine mannigfaltige, agierende »Körpereinheit«. Ein Anomal zeigt hingegen auch die Potenzialität dieser »Einheit« an, bevor sie einer Ordnung unterworfen wird. Für Deligny ist die erste Ordnung, der wir unterworfen werden, die Sprache. Er verortet die Konstitution des Subjekts in der Konstitution des sprachlichen Bewusstseins beziehungsweise in der »symbolischen Domestizierung« (D 2016, 100; vgl. ebd., 145; vgl. ebd., 52ff.), die über die Ordnung der Sprache ein spezifisches Menschenwesen ausschließt und ein bestimmtes Menschenbild als vorherrschende Form etabliert. »Wenn ich diese Umwege mache, dann, um zu sagen, dass das, was das Subjekt umgibt, es determiniert. Es handelt sich um ein ganzes Umfeld, um eine Aura der Einflüsse, die ihre Quellen irgendwo in der Zeit und im Raum haben; weshalb manche – Materialisten der Intention nach – sagen, dass der Mensch ex-zentrisch ist.« (D 2016, 138) Der ex-zentrische Mensch wird vom Symbolischen und dem einhergehenden Sprachbewusstsein konstituiert. Das Potential des Individuums und seine Einheitlichkeit sind (beinahe ausschließlich) sprachlich verfasst. Um das Bild im Spiegel als ein »Ich« zu erkennen, muss man sich an sein Gesicht erinnern, was nichts anderes bedeutet, als dass das Gesicht vergegenwärtigt werden muss. Die sprachliche Überlagerung der Ich-Konstitution führt zu dem, was Deligny – der in derlei Zusammenhängen oftmals mit einem herkömmlichen Wörterbuch arbeitet – als das Gedächtnis bezeichnet, das »die Vergangenheit als Vergangenheit darstellen« (D 2014, 26) kann. »Der Andere existiert nur, wenn ich ihn als mir ähnlich wahrnehme; also wenn ich mich als ähnlich wahrnehme. Was Janmari fehlt, das ist dieses ›und ich‹, das bei jedem Kind auftritt, so klein es auch sein mag.« (Ebd., 30) Wenn aber dieses »Ich« nicht erscheint, wenn das Bild im Spiegel sich nicht in eine (wieder-)erkennbare Ordnung einfügt, kann es auch keine Unterwerfung unter die Ordnung der Sprache geben. Es kann kein Subjekt konstituiert werden, denn für eine Unterwerfung ist erforderlich, dass die Ordnung anerkannt und verinnerlicht wird. Deligny orientiert sich in seinen Beobachtungen an den Arbeiten von Leo Kanner zum frühkindlichen Autismus (vgl. Kanner 1943; Kanner 1971). Auf Kanner und auch auf Hans Asperger wird weiter unten auch noch genauer eingegangen. Kanner hält in seiner Pionierarbeit

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von 1943 bereits fest: »The children of our group have all shown their extreme aloneness from the very beginning of life, not responding to anything that comes to them from the outside world« (Kanner 1943, 248). Wenn der Befehl (der Sprache) nicht als solcher erkannt wird, dann konstituiert sich auch kein Sprachbewusstsein. Das, was sich dann konstituiert, ist eine Singularität, eine Art Schwarzes Loch in der Sprache, in dessen Kern alle Gesetze des Sprachbewusstseins kollabieren. Es gibt an diesem Ort der Singularität nichts und niemanden der spricht oder auf ein Zeichensystem zurückgreifen könnte beziehungsweise wollte, weil das sprachliche Bewusstsein eines »Ich«, eines Selbst nicht im herkömmlichen Sinn vorhanden ist. Eine Individuierung ist hier nicht erfolgt. Aus diesem Grund werde ich nicht auf Delignys Begriff des »Individuums« zurückgreifen, sondern auf den des Anomals. Der Begriff »Individuum« wird weiterhin in Anführungszeichen gesetzt, wenn er im Zusammenhang mit den Arbeiten von Deligny oder anderen Autor:innen steht beziehungsweise wenn diese explizit auf ihn zurückgreifen. Das Subjekt ist dem Gemeinsinn unterworfen. Ihm werden dementsprechend immer schon ein (sprachlich verfasster) Gemeinsinn und damit auch eine Rolle zugewiesen. Das Subjekt ist diesen unterworfen, weil sie bereits Bedingungen der Subjektkonstitution sind. Dem Gemeinsinn steht der Sinn des Gemeinsamen gegenüber. Der Sinn des Gemeinsamen ist umfassender als der Gemeinsinn, weil er keine bestimmte Ordnung oder Form des Gemeinsamen voraussetzt. Das Gemeinsame ist hier noch unbestimmt. Die Unbestimmtheit ermöglicht einen Zugriff, der (anomale) vor-sprachliche Denkräume berücksichtigen kann, weil er offenlässt, welchen Sinn von Gemeinschaft die Gemeinschaft »konstituiert«. Dadurch wird es möglich, sich versuchsweise dem ›Schwarzen Loch‹ in der Sprache anzunähern, um Grenzverläufe markieren und Verbindungslinien ziehen zu können. »Das Individuum lässt sich nicht machen. Was es braucht, ist ein bestimmter Respekt; und außerdem darf dieser Respekt nicht fehlgeleitet werden und bezieht sich nicht auf irgendein Er-selbst, das immer nur das Subjekt wäre, das sich auf (Menschen- oder Bürger-)Rechte berufen können muss, wobei die Rechte im Austausch mit dem Müssen/Sollen gegeben werden. Wenn das Individuum für jemand gehalten wird, geht es verloren, und je mehr es für jemand gehalten wird, um so mehr entschwindet es, überfrachtet mit allen Attributen der Rolle, die ihm aufgezwungen/vorgeschlagen werden.« (D 2016, 123)

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Ein »Individuum« ist für Deligny – anders als für Foucault (2005a) – keiner Ordnung unterworfen, d.h., ihm kann nichts vorausgesetzt werden. Es ist immer schon da und nicht da; als sinnlich Einzigartiges im Singular anwesend und als solches nie im Vorfeld schon Teil eines Gemeinsamen oder einer Menge von Gemeinsamkeiten, weil es sich durch seine unteilbare Einzigartigkeit auszeichnet. Gemeinsam ist »Individuen« nur die Einzigartigkeit und damit nur der Bezug zu dieser Gemeinsamkeit und nicht die Gemeinsamkeit selbst. Das »Individuum« bringt damit notwendig eine Pluralisierung der Menschenbilder, die jeder möglichen Subjektivierung vorgelagert ist. Dadurch wird verhindert, dass ein einzelnes Menschenbild als Ursprung und Norm für die Gemeinschaft gesetzt werden kann, was wiederum dazu führt, dass sich ein Spielraum der Pluralität öffnet. Ein solcher Raum kann als operativer Denk- und Handlungsraum anders auf die »Individuen« wirken als ein Raum, in dem die (repräsentative) Ordnung es kaum noch möglich macht, das Singuläre miteinzubeziehen. Es geht also zunächst darum, die nachgelagerten Prozesse der Subjektivierung, die den Blick auf das »Individuum« verstellen, über einen Umweg zu Heidegger wieder zu aktualisieren. Der verstellte Blick lässt sich in und mit Delignys Heidegger-Bezug anschaulich nachzeichnen. Heidegger kritisiert in seinem Brief über den Humanismus (1946) ein Menschenbild, das auf bestimmten metaphysischen Voraussetzungen fußt: »Der erste Humanismus, nämlich der römische, und alle Arten des Humanismus, die seitdem bis in die Gegenwart aufgekommen sind, setzen das allgemeinste ›Wesen‹ des Menschen als selbstverständlich voraus. Der Mensch gilt als das animale rationale. Diese Bestimmung ist nicht nur die lateinische Übersetzung des griechischen ζῷον λόγον ἔχον [zōon logon echon], sondern eine metaphysische Auslegung. Diese Wesensbestimmung des Menschen ist nicht falsch. Aber sie ist durch die Metaphysik bedingt.« (Heidegger 2004, 322, Ergänzung von mir) Heidegger geht es nicht darum, eine Form der Inhumanität zu befürworten, ganz im Gegenteil: »Gegen den Humanismus wird gedacht, weil er die Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt« (ebd., 330). Er macht darauf aufmerksam, dass der Humanismus nicht von einer unabhängigen humanitas aus gedacht wird, sondern von der animalitas [zōon] aus, d.h., der Mensch wird von einer Setzung aus – hier: als sprach- und vernunftbegabtes Tier [zōon logon] – bestimmt. Das Wesen des Menschen wird durch die Form der Metaphysik vorgeschrieben und verhindert, dass der Mensch sich aus sich

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selbst heraus seiner Wesensherkunft zuwenden kann. Die Wesensherkunft des Menschen liegt für Heidegger dort, wo er »vom Sein angesprochen wird« (ebd., 323). Dieser Ort ist für Heidegger jedoch der Raum der Sprache. Hinzu kommt, dass dieser Raum ausschließlich dem Menschen vorbehalten ist – und das heißt für Heidegger vor allem, dass der Raum einem ganz bestimmten (deutschen) Menschen vorbehalten ist (vgl. Homolka 2016). Die Sprache ist für den Menschen das »Haus des Seins« (vgl. Heidegger 2004, 313), das von den Denkenden und Dichtenden bewacht wird. Deligny schließt zwar an Heideggers Kritik am Humanismusbegriff an, geht jedoch über sie hinaus, um auch ›außerhalb‹ des Hauses der Sprache nach dem Sinn eines Gemeinsamen suchen zu können. »Und mich erstaunt immer wieder, dass die Metaphysik – ›rationale Suche, die das Ziel der Erkenntnis des absoluten Wesens hat‹ – das, was die Leute, die nach Freiheit gieren, denken, derartig in Bewegung versetzt, dass man schreiben könnte, dass ihre Metaphysik das Ziel hat, das Absolute des Wesens – das sich seiner selbst bewusst ist – zu imaginieren.« (D 2016, 135) Das Staunen ergibt sich dadurch, dass der Mensch unentwegt versucht, sich von diesen Lasten, »sei es auch nur ein wenig« (ebd.), zu befreien. Es ist für Deligny die Last der Sprache und die damit einhergehende »Last des Subjektivismus« (ebd., 135), d.h. eines Subjekts in all seinen Facetten der cartesianischen Erbschaft; einer Erbschaft, derer man sich entledigen muss. Mit dem »Individuum« (Anomal) kann zwar der Subjektivismus überschritten werden, um aber eine Distanznahme zum Haus der Sprache zu ermöglichen, ist zumindest ein zweites (Nachbar-)Haus notwendig. Dieses zweite Haus ist das Haus der Bilder. Während Deligny im ersten Haus immer und überall den sprachlichen Selbstbezug walten sieht – in dem ein ›Gewebe‹ aus Subjekt, Grammatik und Bewusstsein alle Räume einnimmt –, findet er im Nachbarhaus des Bildes nur Leere vor: »im Heim der Bilder ist niemand« (D 2011, 22). Das Bild kann für Deligny im Gegensatz zur Sprache sehr wohl ohne ein Selbst und ohne eine Intention, die schon jedem sprachlichen Ausdruck oder Gedanken eines »Ich« mitgegeben ist, existieren. Dass die Sprache dieses Vermögen ebenfalls besitzt, wird von Deligny nicht explizit thematisiert, soll jedoch weiter unten im Abschnitt Bild und Zeichen im Rückgriff auf die Arbeiten von Rancière diskutiert werden.

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Der Sprache stellt Deligny das Bild entgegen und dem Subjekt das »Individuum« (Anomal). Das Bild und das »Individuum« sind durch Unbestimmtheit gekennzeichnet. »Man sieht, wenn das Individuum außerhalb des Bereichs der (bewussten/unbewussten) Intentionalität angesiedelt wird, verliert die Welt – des Menschen – ihre Kohärenz, zumindest jene, die er sich erworben hat. Dass es sich um einen Erwerb handelt, macht es nicht notwendig, dass er [der Mensch] sich ein für alle Mal darauf verlässt, selbst wenn man diesem Wort das sich wegnehmen kann.« (D 2016, 164; Ergänzungen von mir) Der Bereich der Intentionalität und der Bereich des Subjekts sollen vor allem für die Kartograf:innen so erweitert werden, dass zumindest der Respekt und die Akzeptanz für eine Welt außerhalb des sprachlich Erworbenen möglich wird. Hierbei muss vermieden werden, einem neuen oder besseren Humanismus das Wort zu reden, denn dieser würde auch nicht weiterhelfen, weil er nicht im Widerspruch zu den Tragödien der Menschheit – vom Kolonialismus bis zu den Vernichtungslagern – steht, sondern »in seiner natürlichen Verlängerung« (Lévi-Strauss 1980, 247). »Die Respektierung des Menschen durch den Menschen kann ihre Grundlage nicht in bestimmten Sonderwünschen finden, die sich die Menschheit zuschreibt, da sonst ein Teil der Menschheit jederzeit entscheiden könnte, dass er diese Würden in größerem Maße verkörpert als andere. Man müsste an den Anfang eher so etwas wie eine prinzipielle Menschheit stellen: der Mensch, der damit anfängt, alle Lebensformen außerhalb seiner eigenen zu respektieren, würde sich vor der Gefahr schützen, innerhalb der Menschheit selbst nicht alle Lebensformen zu respektieren.« (Ebd., 247f.; vgl. D 2016, 51f.) Eine prinzipielle Menschheit zielt nicht auf ein Menschenbild ab, das den Menschen potentiell befähigen könnte, humaner zu handeln als es bisher der Fall war, weil dadurch (erneut) ein bestimmtes Menschenbild vorausgesetzt werden würde, das für diese Änderung einen Maßstab und eine Ordnung vorgeben würde. Ein einzelnes Menschenbild führt jedoch (im besten Fall) zu symbolischer Anerkennung. Es kann jedoch kaum dazu beitragen, Verbindung zu einem Raum jenseits des Symbolischen zu eröffnen, der potenziell jedem Beliebigen (Anomal) zur Verfügung steht. Dieser Raum kann nur einer sein, der keine Maßstäbe mit sich bringt. In ihm gilt der (paradoxe) Maßstab der Maßstabslosigkeit.

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Butler argumentiert in ihren Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung (2016), dass die Logik der Identitätspoltik im Kern daraus besteht, eine einzelne Maßgabe als Ausgangspunkt für weiteres Handeln zu setzen. Identitätspolitik kann dadurch aber »keine umfassende Vorstellung davon geben […], was es – politisch – bedeutet, über Unterschiede hinweg und manchmal in unfreiwilliger Nähe zusammenzuleben« (Butler 2016, 41). Jeder Anspruch auf Anerkennung einer Maßgabe hat die Ausgrenzung derer zur Folge, die nicht zu der Gruppe gehören, die diesen Anspruch erhebt. Lebensformen, von denen Lévi-Strauss einfordert, dass man sie respektieren müsse, sind für Deligny nicht hierarchisierbar. Lebensformen haben keinen Bezug zu einer Menschheit beziehungsweise einem Menschenbild, weil ein Menschenbild nur in einer Identität und damit in den Kreisläufen der Identitätspolitiken münden würde. Lebensformen sind vielmehr »in der Luft, im Zwischenraum« (D 2016, 55). Sie öffnen den Zwischenraum, in dem Menschenbilder und Identitäten (Haus der Sprache) infrage gestellt werden können, weil sie auf einen Raum der Unbestimmtheit (Haus der Bilder) zurückgreifen. Der Dualismus zwischen einem humanistischen Menschenbild und einer prinzipiellen Menschheit dient Deligny dazu, darauf hinzuweisen, dass eine prinzipielle Menschheit eine ›umfassendere‹ Form besitzt und das Außen jenseits des herkömmlichen Sprachgebrauchs miteinbeziehen kann, ohne es an einer Norm auszurichten. Dem humanistischen Menschenbild entspricht für Deligny der »ethnische Mensche (l’homme ethnique)«, die prinzipielle Menschheit dem »spezifischen Menschenwesen (l’humain spécifique)« (ebd., 50). Auch hier geht es nicht darum, eine andere Wesenhaftigkeit gegen ein Menschenbild auszuspielen oder zu hierarchisieren, wie eine Übersetzung von l’humain mit Menschenwesen oder Menschlichkeit nahelegen könnte. Es geht um eine Spezifizität des Menschlichen, die einen bestimmten und einen bestimmenden Gemeinsinn ausschließt. Das spezifische Menschenwesen bringt im Gegensatz zu einem ethnischen Menschen kein sprachlich konstituiertes Menschenbild mit sich, das als Grenzmarkierung, Normierung oder Maßstab dienen könnte. Das sprachlich verfasste Menschenbild wird durch die Konstitution des Subjekts und den èthnos der Sprachgemeinschaft geprägt, dem das Subjekt per Definition (subjectum) unterworfen ist. Das spezifische Menschenwesen lebt in der Sprachferne, der ethnische Mensch in der Sprachnähe. Die Sprachfernen können das Haus der Bilder nicht verlassen und die Sprachnahen bleiben an das Haus der Sprache gebunden. Die beide Häuser sind jedoch benachbart. Zwischen Bild und Spra-

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che verläuft keine klare Grenzlinie. Bild und Sprache sind vielmehr Teil eines (sinnlichen) Kontinuums. Die kartografische Praxis sucht nach Verbindungslinien in diesem Kontinuum, nach einem Ort der Vermittlung, nach einem dritten Haus, in dem die »Interferenzen« und »Interaktionen« zwischen den Bewohner:innen beider Häuser sichtbar werden können.

Bild und Zeichen Da sich die Autist:innen in der Gemeinschaft um Deligny oftmals an den Rändern beziehungsweise außerhalb einer Sprachgemeinschaft befinden und in einigen Fällen kein sprachliches (Selbst-)Bewusstsein konstituieren, sind sie von einer sprachlich verfassten Teilhabe ausgeschlossen. Sie sind jedoch nicht nur die Ausgeschlossenen einer Gemeinschaft und damit diejenigen, deren Anteil nicht gezählt wird, sondern sie sind – aus der Perspektive von Rancière (vgl. Rancière 2002, 39) – auch von einem möglichen Ausschluss ausgeschlossen, weil es zum einen keine (sprachliche) Ebene gibt, auf der der Ausschluss eingeklagt werden könnte und weil es zum anderen kein (sprachliches) Gemeinsames zur Konstitution einer solchen Ebene gibt. Das führt dazu, dass es nicht zum Streit über Ausschluss und Teilhabe kommen kann, denn es gibt im Haus der Sprache keine Bühne auf der diese autistischen Kinder ›sich‹ ausdrücken können, wie es für ›ihre‹ Belange erforderlich wäre, um für ›sich‹ ›sprechen‹ zu können. Ohne die sprachlichen Mittel, scheint der Streit nicht geführt werden zu können, weil vor allem der repräsentative Gebrauch der Sprache (und der Bilder) in den gesellschaftlichen MachtWissen-Subjekt-Formationen dominieren. Der Streit ist jedoch erforderlich, wie beispielsweise auch die Kritik der Autismus-Community an der ABA Therapieform auf Tumblr zeigt. Jeder (politische) Streit geht damit einher, dass eine gegebene Ordnung infrage gestellt wird. Die Sprachfernen stehen jedoch vor dem Problem, dass sie mit ihren Mitteln die Ordnungen der Sprachnähe, von denen sie betroffen sind, nicht infrage stellen können. Unter den gegebenen Bedingungen scheint es unmöglich zu sein, mit diesem doppelten Ausschluss umgehen zu können. Im beginnenden 19. Jahrhundert und später vor allem in den 1960er Jahren (im postmodernen Denken und mit dem Poststrukturalismus) stehen eben diese Bedingungen jedoch zur Diskussion. Ihre Unumstößlichkeit führt zu einer Krise, die sich als Krise der Repräsentation verstehen lässt (vgl. Behnke 2017).

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che verläuft keine klare Grenzlinie. Bild und Sprache sind vielmehr Teil eines (sinnlichen) Kontinuums. Die kartografische Praxis sucht nach Verbindungslinien in diesem Kontinuum, nach einem Ort der Vermittlung, nach einem dritten Haus, in dem die »Interferenzen« und »Interaktionen« zwischen den Bewohner:innen beider Häuser sichtbar werden können.

Bild und Zeichen Da sich die Autist:innen in der Gemeinschaft um Deligny oftmals an den Rändern beziehungsweise außerhalb einer Sprachgemeinschaft befinden und in einigen Fällen kein sprachliches (Selbst-)Bewusstsein konstituieren, sind sie von einer sprachlich verfassten Teilhabe ausgeschlossen. Sie sind jedoch nicht nur die Ausgeschlossenen einer Gemeinschaft und damit diejenigen, deren Anteil nicht gezählt wird, sondern sie sind – aus der Perspektive von Rancière (vgl. Rancière 2002, 39) – auch von einem möglichen Ausschluss ausgeschlossen, weil es zum einen keine (sprachliche) Ebene gibt, auf der der Ausschluss eingeklagt werden könnte und weil es zum anderen kein (sprachliches) Gemeinsames zur Konstitution einer solchen Ebene gibt. Das führt dazu, dass es nicht zum Streit über Ausschluss und Teilhabe kommen kann, denn es gibt im Haus der Sprache keine Bühne auf der diese autistischen Kinder ›sich‹ ausdrücken können, wie es für ›ihre‹ Belange erforderlich wäre, um für ›sich‹ ›sprechen‹ zu können. Ohne die sprachlichen Mittel, scheint der Streit nicht geführt werden zu können, weil vor allem der repräsentative Gebrauch der Sprache (und der Bilder) in den gesellschaftlichen MachtWissen-Subjekt-Formationen dominieren. Der Streit ist jedoch erforderlich, wie beispielsweise auch die Kritik der Autismus-Community an der ABA Therapieform auf Tumblr zeigt. Jeder (politische) Streit geht damit einher, dass eine gegebene Ordnung infrage gestellt wird. Die Sprachfernen stehen jedoch vor dem Problem, dass sie mit ihren Mitteln die Ordnungen der Sprachnähe, von denen sie betroffen sind, nicht infrage stellen können. Unter den gegebenen Bedingungen scheint es unmöglich zu sein, mit diesem doppelten Ausschluss umgehen zu können. Im beginnenden 19. Jahrhundert und später vor allem in den 1960er Jahren (im postmodernen Denken und mit dem Poststrukturalismus) stehen eben diese Bedingungen jedoch zur Diskussion. Ihre Unumstößlichkeit führt zu einer Krise, die sich als Krise der Repräsentation verstehen lässt (vgl. Behnke 2017).

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Die Kategorie des Unmöglichen wird zu einem Problem, das der Logik der Repräsentation angehört, denn um das Mögliche vom Unmöglichen trennen zu können, muss es einen (repräsentativen) Ort geben, an dem entlang Trennlinien sichtbar werden können. Trennlinien werden in Zeichensystemen, wie beispielsweise in der Sprache, sichtbar. Ein Bild unterliegt anders als ein Zeichen an und für sich keiner Ordnung und gehört keinem System an. Es hat genau genommen keine räumliche Existenz und ist nicht teilbar. Während eine Ursache etwas außer sich bewirkt, reproduzieren Bilder ausschließlich sich selbst. Ursache und Wirkung sind in dem Fall isomorph, denn die Wirkung eines Bildes ist immer nur ein weiteres, anderes Bild. Bilder verweisen dadurch ausschließlich auf sich selbst. Sie gehören, wie Coccia festhält, einer »doppelten Äußerlichkeit« (Coccia 2020a, 34) an. Sie befinden sich außerhalb von Geist (Innerlichkeit) und außerhalb von Körpern beziehungsweise von Welt (Äußerlichkeit). Die »extreme Äußerlichkeit wird nur von Bildern bevölkert« (ebd.). Coccia kehrt die Hierarchie zwischen Geist und Körper, zwischen Sinn und Sinnlichem um und argumentiert für ein »Primat des Empfindbaren (Sinnlichen)« (ebd., 52). »Das Bild entsteht und existiert immer nach dem Körper, dessen Form, letzter Ausdruck, Oberfläche es war, jedoch immer vor dem Bewusstsein, in dem es neu empfangen und wahrgenommen wird. […] Ein Bild entsteht also, wenn die Form der Dinge und der Ort ihrer Existenz sich scheiden: Wo die Form außerhalb ihrer Heimstatt ist, findet ein Bild statt.« (Ebd., 32) Die Existenz des Bildes als Form außerhalb der Heimatstatt des Subjekts macht seine Anverwandlung, seine Entfermdung, seinen Einfluss möglich. Sichtbares an sich ist dementsprechend (noch) keiner Ordnung des Sehens unterworfen, sondern durch einen Überschuss, durch Unbestimmtheit und durch Unordnung gekennzeichnet. Die Umkehr, die Coccia mit seiner Ontologie des Sinnlichen vornimmt, findet sich auch in Delignys Herangehensweise im Umgang mit Autist:innen wieder, weil er deren Seinsweise zum Primat der Gemeinschaft erhebt und das Sinnliche zum Ausgangspunkt seiner Auseinandersetzung macht. Kristensen übersetzt in seinem phänomenologisch ausgerichteten Beitrag Das Zugrundegehen des Bildes (2015) eine Zeile aus den Œuvres Delignys (D 2007a) wie folgt: »Das Bild kann existieren und existiert sehr wohl auch außerhalb jeder Intention und Sprache« (Kristensen 2015, 130; D 2007a, 1675). Deligny verortet die Bilder ebenso wie Coccia im Außen, d.h. vor dem (sprachlichen) Bewusstsein.

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Im Beitrag Acheminement vers l’image (D 2007a, 1663ff.) setzt sich Deligny mit den Arbeiten Heideggers – vor allem mit Unterwegs zur Sprache (Heidegger 1985) – auseinander und argumentiert für eine Eigenständigkeit der Bilderwelten jenseits des Hauses der Sprache. Für Deligny und für Coccia liegt das Primat des Sinnlichen außerhalb des Repräsentierbaren und in beiden Fällen geht es darum, zu fragen, wie man sich dem extremen Äußeren nähern kann, ohne es einem Primat des Sinns zu unterwerfen und einer einseitigen mentalen Repräsentationslogik unterzuordnen. Es geht darum, danach zu fragen, welche Formen der Repräsentation geeignet sind, mehr Unbestimmtheit zuzulassen, um sich diesem Außen annähern zu können. Ich werde im Folgenden argumentieren, dass sich zwischen der Sprachnähe und der Sprachferne topografische Räume (er-)finden lassen, mit denen Grenzen und mögliche Überschneidungen beider Seiten erkundet werden können. Hierfür ist die Mitbenutzung des Nachbarhauses, des Heims der Bilder, unerlässlich. Es müssen beide Häuser genutzt werden, denn das Haus der Sprache lässt sich – abgesehen davon, dass es einmal betreten nicht wieder verlassen werden kann – nicht restlos vom Haus der Bilder abgrenzen, weil Sprache grundlegend auf die Wahrnehmungsprozesse von »bildlichen Zeichen« (Herder 2017, 78) angewiesen ist, die gesehen, gelesen und gehört werden müssen, um in ein Zeichensystem (wie beispielsweise die Sprache) eingeordnet werden zu können. Das Haus des Bildes lässt sich umgekehrt nicht restlos vom Haus der Sprache abgrenzen, weil der rein imaginative, fiktionale oder intuitive Überschuss der Bilder ohne die (vorangehende) Wahrnehmung der »bildlichen Zeichen« nicht »erfassbar« beziehungsweise einoder zuzuordnen wäre. Herder bezieht in ihrer Arbeit Bild und Fiktion (ebd.) eine kritische Position gegenüber ›phänomenologischen‹ Bildtheoretikern, die davon ausgehen, »dass sich der Sinn beziehungsweise der Inhalt eines Bildes über die Wahrnehmung erschließt und nicht über einen semiotischen Prozess« (ebd., 53). Sie positioniert sich – mit Bezug auf Peirce – pragmatisch und erweitert diese Position, um »der Natur des Bildzeichens eine notwendige Bedingung hinzuzufügen: die der Fiktionalität« (ebd., 10). Diese Erweiterung macht Bilder zu besonderen »bildlichen Zeichen« (gegenüber anderen Zeichen), die durch andere Zeichen beziehungsweise Zeichensysteme, wie das der Sprache, nicht vollständig ersetzbar sind, weil die Betrachter beim Anblick von Bildzeichen etwas imaginieren (können), was nicht zu sehen, zu lesen oder zu hören ist. In ihrem Exkurs »Bildsemiotik vs. phänomenologische Bildtheorien« zeigt Herder anhand der Arbeiten verschiedener Phänomenologen (Gernot Böh-

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me, Hans Belting, Lambert Wiesing, Klaus Sachs-Hombach u.a.) auf, dass »sich die Differenzen in der Debatte aus unterschiedlichen Auffassungen der Begriffe Bild und Zeichen ergeben« (ebd., 52). »Der Fehler, den die Phänomenologen hier machen, ist die Gleichsetzung von Sprache mit Zeichen. Selbstverständlich sind Sprachen prädikativ, Zeichenprozesse allgemein jedoch vorprädikativ. Etwas verzeichnen bedeutet etwas als Zeichen zu erkennen, bevor man es in einer Sprache, d.h. in einem bestimmten Zeichensystem verwendet. Sprache ist prädikativ, ja, aber Sprache ist nur ein Zeichensystem unter vielen. Bilder wiederum sind zunächst vorprädikativ, aber eben nicht vorsemiotisch […]. Die vorprädikative, vorsemiotische Wahrnehmungsnähe, die bei vielen Phänomenologen das Merkmal von Bildern ist, erweist sich als völlig irrelevant für die Abgrenzung des Bildbegriffs vom Zeichenbegriff: Alle Zeichenträger werden, bevor sie als solche verzeichnet werden, zunächst vorprädikativ und vorsemiotisch wahrgenommen. Auch Buchstaben werden gesehen, auch sprachliche Begriffe gehört usw. Der Wahrnehmungsprozess von Zeichen unterscheidet sich nicht vom Wahrnehmungsprozess von Bildern. Bilder, die nicht als Bilder erkannt und verzeichnet werden, sondern nur wahrgenommen werden, sind keine Bilder, sondern nur Gegenstände in der Welt, die wahrgenommen werden, so wie alle anderen Gegenstände auch. Genauso ist es eben auch mit Zeichen: Sie müssen zuerst als Zeichen erkannt werden, um Zeichen zu werden, d.h. als Zeichen verwendet zu werden, sonst sind sie keine Zeichen, sondern bloße Gegenstände.« (Ebd., 61f.) Die restlose Trennung von Bild und Zeichen, d.h. auch Zeichensystemen wie der Sprache, ist aufgrund der Wahrnehmungsprozesse nicht möglich, weil in jedem Fall (zunächst) erkannt und eingeordnet werden muss. Für die bei Herder genannten Phänomenologen ist die Wahrnehmung der Bilder in ihrer Vorsprachlichkeit jedoch klar von sprachlichen Zeichen zu unterschieden, weil Zeichen immer begrifflich und damit sprachlich sind und der Vorsprachlichkeit der Bilder keine Rechnung tragen können. Bilder sind jedoch »notwendig und immer (wahrnehmungsnahe) Zeichen. Aber sie können gleichzeitig immer auch etwas anderes sein« (ebd., 65). Für Zeichen gilt demgegenüber: »alle Zeichen repräsentieren und alle Repräsentationen sind Zeichen« (ebd., 52). Dieses asymmetrische Verhältnis der Bilder gegenüber den Zeichen führt zugleich zu der Frage, ob es sich hier um ein einseitig asymmetrisches oder um ein wechselseitiges Verhältnis handelt. Denn die Erweiterung der Bilder

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um die Fiktionalität, also um das »Etwas-anderes-sein-können«, in den Bereich der Imagination müsste zur Folge haben, dass der »fiktionale Ausflug« über das Reich der Zeichen hinaus wieder in ein System der Zeichen (wie der Sprache) »rückgeführt« werden müsste, weil dieser Ausflug sonst kaum denkbar oder artikulierbar wäre und somit folgenlos bleiben müsste. Auf diesen Aspekt geht Herder nicht explizit ein, weil im Mittelpunkt ihrer Untersuchung die Frage steht, wie fiktionale Werke Wissen vermitteln können. »Es sind nicht die Eigenschaften eines Werkes hinreichend dafür, dass etwas ein fiktionales Werk ist, sondern seine Funktion als fiktionales Werk. Wird Fiktionalität also nicht bloß als Eigenschaft, sondern vor allem als Funktion (bzw. als funktionale Eigenschaft) gesehen, so verschiebt sich die Frage, was eine Fiktion bzw. ein fiktionaler Gegenstand sei, zu der Frage, was eine Fiktion bzw. ein fiktionaler Gegenstand leisten soll. Wenn ich also in den folgenden Abschnitten die Frage untersuche, ob fiktionale Werke Wissen vermitteln können bzw. welche Rolle sie in Erkenntnisprozessen spielen, so geht es nicht notwendigerweise darum, welche semantischen Eigenschaften sie besitzen bzw. ob sie wahr sind oder wahre Repräsentationen beinhalten, sondern eben wirklich nur, ob sie Wissen vermitteln und Teil eines Erkenntnisprozesses sein können.« (Ebd., 124) Herder geht davon aus, dass der »Ausflug« ins Fiktionale keinen Bruch oder Riss mit sich bringt, sondern Teil eines Erkenntnisprozesses sein kann. Bildern wohnt laut Herder eine »immanente Fiktionalität« inne, die es ihnen ermöglicht, etwas zu repräsentieren, »was durch Imagination vermittelt wird« (ebd., 191). Es ist unstrittig, dass Bilder diese Vermittlungsprozesse auch einleiten können. Die Fiktionalität der Bilder oder der fiktionalen Werke umfassten jedoch mehr als das Potential der Vermittlung. Denn durch die immanente Fiktionalität wohnt den Bildern zuerst auch eine »Alterität« (Rancière 2005, 10) inne, die zu einem Überschuss führt. Der Überschuss kennzeichnet die maßlose, quantitative Differenz zwischen Bild und Zeichen. Durch den Überschuss ist keine lückenlose Übersetzung von einer Form in die andere möglich, weil jede Übersetzung oder Vermittlung immer auch Abweichung mit sich bringt. Bilder existieren zwar – ebenso wie die Sprache – nur in heterogenen Zeichenregimen, sie gehen jedoch nicht restlos in diesen Regimen auf. Zeichen werden nicht als rein inhaltliche Abstraktionen in Ordnungszusammenhängen wahrgenommen, sondern sind wirkmächtige Ausdrücke ihrer innewohnenden Ordnung, ihres Regimes. Jede Wahrnehmung von Zeichen ist zugleich auch durchsetzt von Machtwirkungen, die Einfluss auf den

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Überschuss der Bilder nimmt. Zwischen Bildern und Zeichen herrscht ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit und Voraussetzung, ein doppelt artikuliertes Verhältnis. Die doppelte Artikulation ist ein Modell von Realisierungs- und Bildungsprozessen, das Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus ausarbeiten (vgl. Deleuze, Guattari 1992, 60-103). Das Modell integriert den Überschuss und sieht ihn als Bestandteil der Prozessualität der Realisierung und Bildung einer Ordnung an. Der Überschuss wird nicht repräsentationslogisch verkürzt, um ihn als einen Bestandteil der Vermittlungsprozesse denken zu können (vgl. Olkowski 1999, 15ff.). Er wird auch nicht dialektisch vereinnahmt, um insgeheim doch noch für eine Einheit der Ordnung zu arbeiten (vgl. Deleuze, Foucault 1977, 42ff.). Der Überschuss wird vielmehr in einen Rhythmus integriert, in dem Ordnung konstruiert und dekonstruiert wird. Die Konstruktion der Ordnung erfolgt durch Wiederholung, die von immanenter Differenz begleitet wird und die Dekonstruktion erfolgt durch Differenz, die in der Wiederholung verschoben wird. Konstruktion und Dekonstruktion setzen sich wechselseitig voraus, was zur Folge hat, dass die Ordnung durch fortwährende Prozesse der Neu-anordnung gekennzeichnet ist. Die Neu-anordnungsprozesse führen zu stetigen Verschiebungen und Abweichungen. Der Bindestrich im Wort Neu-anordnung bringt die Prozessualität zwischen zwei sich wechselseitig voraussetzenden Ordnungsmerkmalen (Konstruktion und Dekonstruktion) zum Ausdruck. Konstruktion, Dekonstruktion, Verschiebung und Abweichung sind untrennbar miteinander verbunden. Sobald die Bedingungen der Realisierung und Bildung der Ordnung eines Zeichenregimes untersucht werden, verschieben sich die Ordnungsmerkmale beziehungsweise die Ausdruckszusammenhänge der Ordnung immer wieder erneut. Das kennzeichnet ihre Prozessualität. Das Modell lässt sich an der kleinsten, einfachsten und vermutlich ältesten Lebensform auf der Erde weiter veranschaulichen. Ein Bakterium sorgt für die Aufrechterhaltung der eigenen Zellstruktur (Selbsterhaltung/Konstruktion). Es vervielfältigt sich fortwährend und erzeugt dabei immer wieder Abweichungen durch Mutation (Reproduktion/Dekonstruktion). Mit der Vervielfältigung eines genetischen Codes wird immer auch genetische Abweichung generiert, die Mutationen ermöglicht. Das Ordnungsmerkmal beziehungsweise der Ausdruckszusammenhang des Modells ist der Stoffwechsel, der durch seine biochemischen Vorgänge Einfluss auf seine Umwelt nimmt. Eine Auswirkung des Stoffwechsels der Bakterien ist beispielsweise die relativ konstante Oberflächentemperatur und die relative

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hohe Sauerstoffkonzentration auf der Erde trotz einer Zunahme der Leuchtkraft der Sonne seit Anbeginn der Entstehung von Leben auf der Erde (vgl. Lovelock 2000; Margulis, Sagan 1997). Die Wirkungen des Stoffwechsels haben Einfluss auf die Konstitution der Atmosphäre (Biogenese/Neu-anordnung). Diese Prozesse sind doppelt artikuliert und folgen keiner Ursprungs-, Fortschritts- und Entwicklungslogik (vgl. Somers-Hall 2012, 229ff.). Der Literaturwissenschaftler Jörg Dünne weist in Die kartografische Imagination (Dünne 2011) darauf hin, dass man Deleuzes und Guattaris Arbeiten auch als »Grundlegung einer kulturellen Medientheorie des Raums verstehen kann« (ebd., 19). Die doppelte Artikulation ist vor allem in der Linguistik gängig und verweist dort auf die Unterscheidung zwischen Morphemen (kleinste bedeutungstragende Einheiten) und Phonemen (kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten). Deleuze und Guattari sehen in der Anwendung jedoch lediglich einen Spezialfall und weiten sie mit Bezug auf Louis Hjelmslev über eine linguistische Perspektive hin zu »einer grundlegenden organischen Realität« (ebd., 20) aus. Die Ausweitung wird mit einem Rückgriff auf André Leroi-Gourhan vorgenommen und verleiht der doppelten Artikulation einen evolutionsbiologischen Charakter. Menschlicher Raum- und Zeitbezug wird von Leroi-Gourhan als »Ko-Evolution eines gestisch-technischen und eines sprachlich-symbolischen Weltverhältnisses« (ebd.) verstanden. »Diese evolutionsbiologisch begründete doppelte Artikulation wird nach Leroi-Gourhan möglich durch den aufrechten Gang des Menschen und durch die damit korrespondierende Aufspannung eines Relationsfeldes zwischen der Hand, deren Gesten den Werkzeuggebrauch und somit einen technischen Weltbezug ermöglichen, und dem Gesicht, das mit Auge und Mund sprachliche Zeichen artikulieren beziehungsweise technische Gesten als solche wahrnehmen kann. Der über die Hand bewerkstelligte gestische Weltbezug entspricht dabei der ersten Artikulation auf der Inhaltsebene, der über den Mund herbeigeführte sprachliche Weltbezug entspricht der zweiten Artikulation auf der Ausdrucksebene. […] Erst in der rekursiven Verknüpfung von Geste und Wort – beziehungsweise von Pragmatik und Semiotik – zu Operationsketten, bei denen Worte Gesten steuern und umgekehrt diese auf Sprache rückwirken, kann sich eine konkrete Räumlichkeit ›artikulieren‹, die nach Deleuze/Guattari nicht durch statische Opposition von Territorium und dessen symbolischer Repräsentation, sondern durch das dynamische Verhältnis zwischen Territorialisierung, ›Deterritorialisierung‹ und ›Reterritorialisierung‹ geprägt ist.« (Ebd., 20f.)

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Auf diese Weise kann diese Grundlegung von Räumlichkeit geodeterministische Positionen vermeiden und »Ortung und Ordnung […] gleichursprünglich und nie untereinander subsumierbar« (ebd.) denken. Sie entzieht sich damit auch strukturalistischer Semiotik und sozialkonstruktivistischen Positionen, die, selbst wenn sie in prozessorientierten Ansätzen »strukturalistischen ›Fixismus‹ überwinden«, dennoch nur eine Seite der doppelten Artikulation ins Auge fassen, nämlich die des Ausdrucks (ebd., 22). »Dieses Grundmodell eröffnet auch Möglichkeiten der historischen Differenzierung. Im Sinne einer differenztheoretischen Anthropologie ist davon auszugehen, dass Raumkonstitution nicht etwa von einem weitgehend naturnahen zu einem zunehmend kulturell-technisch geprägten Raum fortschreitet, wie dies noch bei Lefebvre und im Anschluss an ihn auch bei wichtigen Theoretikern der Postmoderne wie Jean Baudrillard oder Paul Virilio angenommen wird. Vielmehr ist das menschliche Raumverhältnis immer schon auf die doppelte Artikulation angewiesen und damit zumindest prinzipiell immer schon technisch und symbolisch geprägt.« (Ebd.) Sanders fasst für die doppelte Artikulation – in modifizierter Übersetzung anstelle von doppelte Gliederung – zusammen, dass Artikulation im Französischen drei Bedeutungen hat: »ausdrücken, gliedern, verbinden« (Sanders 2020, 90; vgl. auch DeLanda 2008, 162f.). Die Artikulationen zwischen dem Haus der Sprache und dem Haus der Bilder kann demnach wie folgt verstanden werden: Bilder setzen einerseits Zeichen – und damit Systeme wie die beispielsweise die Sprache – voraus, weil sie sonst zu Gegenständen in der Welt ›zerfallen‹ würden und Zeichen setzen andererseits den Überschuss der Bilder (Mannigfaltigkeit) voraus, aus dem sie sich (bzw. aus dem sich ihre Zeichensysteme) herauskristallisieren oder manifestieren können. Durch Zeichen wird in Wahrnehmungsprozessen bereits eine Auswahl getroffen. Die Zeichen begrenzen den Überschuss in einer vorläufigen Wahrnehmungsordnung (erste Artikulation, gliedern) und die Bilder stellen wechselseitig den hierfür erforderlichen Überschuss in der genannten extremen Äußerlichkeit zur Verfügung. Hieraus kann »das Erkennen« eines Gegenstands hervorgehen und sich in der Wahrnehmung manifestieren (zweite Artikulation, ausdrücken). Dieses Verhältnis bestimmen Deleuze und Guattari als einen »Isomorphismus mit reziproker Supposition« (Deleuze, Guattari 1992, 65). Das Ausdrücken und das Gliedern sind in wechselseitiger Voraussetzungen isomorph verbunden (dritte Artikulation).

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Versteht man das Verhältnis zwischen Bild und Sprache als ein doppelt artikuliertes, dann kann auch der Raum zwischen Bild und Sprache als ein Zwischenraum untersucht werden. Für Deligny kann hierbei die (Kino-)Leinwand vermitteln. Die Leinwand kann dabei helfen, die scheinbar unüberwindbare Mauer zwischen Bild und Sprache einzureißen, weil sie auch dazu beiträgt, den Überschuss der Bilder nicht einseitig auf repräsentative Zeichensysteme zu beschränken. »Die Wand [paroi] aber verschwindet, wenn sie für die Mauer des Hauses gehalten wird, wo ein jeder wohnt. Die Wand kann nur ein gemeinsamer Ort sein. Und das, wozu ein jeder virtuell fähig ist, kann von allen gesagt werden.« (D 2014, 23; vgl. D 2007a, 1515; Hervorhebung von mir) Der Unterschied zwischen Wand und Mauer ist für Deligny, dass die Wand – wie beispielsweise eine Kinoleinwand – ein durchlässiger Zwischenraum sein kann, in dem die Begegnungen stattfinden können. Es ist ein Zwischenraum, der »weder Fenster noch Spiegel« (ebd.) ist, sondern vielmehr Ort virtueller Gemeinsamkeit oder in der Begrifflichkeit von Rancière: ein Operator. Es ist ein Zwischenraum, der sich nicht nur auf der Kinoleinwand zeigt, sondern auch mittels der kartografischen Praxis eröffnet werden kann. Der Zwischenraum der Virtualität, der Raum des Bildes und des Sinnlichen wird – wie auch in Coccias Ontologie – von jedem Lebewesen gleichermaßen genutzt. Häufig wird das Zusammenspiel jedoch durch einseitige Formen der Repräsentation überlagert, sodass der Überschuss, die Fiktionalität oder auch die ästhetische Dimension an den Rand gedrängt werden und kaum noch Beachtung finden. Mit diesem Problem befasst sich Zander am Beispiel Ce gamin, là (FR, 1976; D 2007d) genauer. Deligny hat das Drehbuch geschrieben und Renaud Victor Regie geführt hat. Der Blick soll – »wie auf jeden Film« (Zander 2016, 6), merkt Zander an – von einer methodischen Gegenüberstellung von »erzählen« und »aufweisen« geleitet werden. »Wir behaupten: zwischen erzählen und aufweisen geht nichts zusammen. Erzählen ist eine Sache, Aufweisen eine ganz andere. ›Erzählen‹ rückt das Bild in einen Zusammenhang von Vorfällen. Die im Bild abgebildeten Geschehnisse folgen einander modal, aber nicht chronologisch notwendig, als nicht finale Verkettung von Ursache und Wirkungen. […] ›Erzählen‹ definiert das Bild als latentes Wort. ›Aufweisen‹ ist nicht ›beweisen‹. ›Aufweisen‹ nennen wir die bildbegriffliche Tätigkeit des Gedankens, ›beweisen‹ seine satzbegriffliche. […] Nur, Bilder beweisen nichts; Bilder sind keine Sätze; Bilder

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›bilden ab‹, und an der Form ihres Abbildens lassen sich konkrete begriffliche Konstruktionen aufweisen. Bildbegrifflich öffnen wir unsere Sinne auf die Anschauungsformen von Raum und Zeit.« (Ebd.) Das Erzählen erfordert demnach ein Zeichensystem der Repräsentation, wohingegen das Aufweisen für den Betrachter eine »bildbegriffliche Möglichkeit« (ebd.) eröffnet. Eröffnet wird ein (ästhetischer) Raum der Zirkulation und des Überschusses. Zander präzisiert hierzu: »›Aufweisen‹ baut im Bild das latente Wort ab. ›Erzählen‹ wird figuriert in der mise en scène, der dramatischen Disposition miteinander verketteter Bilder, ›aufweisen‹ in der pris d’image, der sich selbst dokumentierenden Bildernahme. Der Autor ›erzählt‹, der Kinematograph ›dokumentiert‹ das Bild. Der ›Gesichtspunkt‹ (point de vue) bildet den strategischen Ort, von dem her das Erzählen etwas aus etwas, sei dies chronologisch, sei dies logisch, herleitet. Der Gesichtspunkt weist das Bild als etwas von etwas aus, das selbst kein Bild ist, als Latenz von ›Sinn‹ im Bild. Im ›Sehpunkt‹ (point de voir), einem Unort mobiler Taktik, bewegen sich die Personen und die Dinge nur soweit, wie sie von der Bildnahme konstruiert werden, also ins Sehen gesetzt sind.« (Ebd., 6f.) »Aufgewiesen« wird im Film immer dann, wenn die verschiedenen Einstellungsgrößen, die Objektive der Kamera oder auch die Kameraführung dazu beitragen, die Anschauungsformen von Raum und Zeit in den Vordergrund zu stellen. »Erzählt« wird im Film immer dann, wenn das Bild in einen (kausalen, chronologischen) Zusammenhang von Vorfällen gebracht wird. Mit Rancière kann das Aufweisen dem Modus der Ästhetik und das Erzählen dem Modus der Repräsentation zugeordnet werden. Die Unterscheidung findet sich in ähnlicher Form auch in der deleuzianischen Aufteilung zwischen Aktionsund Zeitbildern wieder (vgl. Deleuze 2010, 1997). In Ce gamin, là lässt sich demzufolge unterscheiden: »Die mise en scène fordert den dramaturgisch definierten kartesischen, den optisch in Koordinaten meßbaren Raum. Die mise en image löst die Koordinaten, die Maße auf; sie fordert den qualitativen Raum der analysis situs. Dieser ›Raum‹ wird in Ce gamin, là in die Fläche zurückgenommen, in einen Inbegriff miteinander verknüpfter Knoten und Kanten. Deren (Karto-)Graph definiert Delignys ›Wand‹. Die Wand bildet die Materialstellung der Fläche ab, in welcher die auf der Wand gezogene Linie als ›Spur‹, die Spur selbst als ›Spur von Spur‹ gilt. Auf der Wand werden die Spuren graphisch ein-

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ander zugeordnet; sie bilden sich reflexiv und symmetrisch ab. In ihnen bilden sich die Gesten der [sprachfernen] Kinder und die Verrichtungen der [sprachnahen] Erwachsenen ab.« (Zander 2016, 7; Ergänzungen von mir) Auf der Wand – dem (ästhetischen) Zwischenraum beziehungsweise dem operationalen Raum – finden die Gesten der autistischen Kinder und die Tätigkeiten der Erwachsenen zusammen, weil sie dort nicht repräsentativ gerahmt beziehungsweise einer Ordnung unterworfen werden können.

Abb. 4: »Delignys Hand« (D 2007d, 0:34:14)

Die gezogene Linie ist in der Bewegung von Delignys Händen zu erkennen, wenn er auf den Karten in Ce gamin, là an den dort gezogenen Spuren entlangfährt (vgl. Abb. 4). »Spuren ziehen heiße, im Geflecht weiträumlich getrennter Lebensflächen Relationslinien aufzeichnen, eine Linie durch eine Ebene ziehen. ›Spur ist Relationsspur‹, und kein Index für etwas, das nicht Spur ist. Spuren ziehen, das bedeutet des weiteren, die Fährtenlinien in ein Geflecht von Verknüpfungs- und Verflechtungspunkten einzuschreiben. ›Spuren ziehen entleert das Subjekt‹, so Deligny, […]. Deligny regt Jaques Lin an, die Ortsveränderungen und die gestischen Bewegungen der Kinder im Raum mit der Hand zeichnerisch abzustecken, statt sie ›verstehen zu wollen‹. Die

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Geste der Spur korrespondiert der Handgeste. Auf diese Weise gelte es, so sein Vorschlag, das a-subjektive Bild außerhalb der Sprache gelebter Raumbeziehungen nach dem Vorbild des ›Spuren ziehen‹ – ein Infinitiv – zu schaffen. Verkehre sich indessen die Spur zu einem Anhaltspunkt, zu einem indizierenden Zeichen, so verschwinde die Seinsweise des ›Spuren ziehen‹, die allein in der Neutralität des Infinitivs existiere.« (Zander 2014, 64) Das »Spuren ziehen« ist elementarer Bestandteil für die Konstitution relationaler Zwischenräume, d.h. sowohl auf den Karten als auch vor der Kamera. In Ce gamin, là wird filmisch (reflexiv) das Prinzip realisiert, das die Praxis der Kartografie mit Tusche und Bleistift auf den Blättern vollzieht. Der Film eröffnet einen Zwischenraum, der die Relationen und Verbindungen zwischen den sprachfernen Kindern und den sprachnahen Erwachsenen (symmetrisch) wahrnehmbar werden lässt. Zander versteht die beiden konstruktiven Figuren Symmetrie und Reflexivität als die gestaltenden Elemente des Films. Die Symmetrie bezeichnet die Szenen, in denen Verbindungen zwischen sprachfernen Kindern und sprachnahen Erwachsenen zu sehen sind. Die Reflexivität korrespondiert mit der Bildnahme, »die sich ›weichmacht‹, die sich in eine Position der ›non-présence‹ zurücknimmt« (Zander 2016, 55). Der eröffnete Zwischenraum ist ein drittes Haus, das mithilfe der Wand beziehungsweise dem operationalen Raum zwischen dem Heim der Bilder und dem Heim der Sprache vermittelt, um eine Annäherung an die Sprachferne zu ermöglichen. Der dritte Raum kann mit Coccia auch als ein Medium verstanden werden: »Das Sinnliche, das Bild, ist, wie gesagt, die Existenz einer ihrer Materie beraubten Form. Ein Medium ist etwas, das die Form auf immaterielle Weise zu empfangen vermag (Coccia 2020a, 43; Hervorh. im Orig.)«. Das Medium, argumentiert Coccia mit Bezug auf Averroes, besitzt das Vermögen, von etwas affiziert zu werden, ohne sich selbst oder das Ding von dem es affiziert wurde zu verändern. Der Spiegel ist Beispiel für ein Medium. »Wie der Spiegel vom Bild ›affiziert‹ wird, ohne selbst einer Transformation zu unterliegen, so konstituiert sich jedes Bild über ein nichttransformatives Einwirken (passio) des Mediums.« (Ebd., 44) Die Vermittlung im dritten Haus kann nur stattfinden, »weil es jenseits der Dinge und des Geistes etwas gibt, das vermittelnder Natur« (Coccia 2020a, 28) ist. Der Spiegel, der für alle Sprachnahen zentrale Ich-Bildner-Funktionen er-

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füllt, ist ein Medium in dem ein Bild erfahrbar wird, das sich jenseits des Subjekts vor dem Spiegel und des Objekts (als Spiegelbild des Subjekts) befindet. Für Lacan ist das Spiegelbild der Ursprung der Persönlichkeit des (sprachnahen) Individuums. Das Spiegelbild zeigt ein »objektives Unbewusstes« (ebd., 77). Das Medium (Spiegelbild) ist der Ort jenseits von Subjekt|Objekt, wo Formen sinnlich erfahrbar werden. Mit dem Satzzeichen zwischen Subjekt und Objekt | verweise ich auf diesen Ort. Für Deligny ist der materielle Träger jedoch nicht der Spiegel, sondern die Wand (paroi). Die Wand (|) dient, anders als der Spiegel, nicht zur SelbstReflexion, sondern zum Abbau der (sprachnahen) Reflexion. Wand und Spiegel eigenen sich aber – wie auch jeder andere beliebige Gegenstand – gleichermaßen für die Vermittlung von Bildern. Für Deligny sind Wand und Spiegel dennoch Antonyme, weil der Spiegel bereits seit der Philosophie des Mittelalters mit der Erkenntnistheorie in Verbindung steht und aus dieser Tradition heraus dem Vorhaben des Sprachabbaus entgegensteht. Das Haus der Sprache wird in der Ontologie des Sinnlichen seiner Vormachtstellung beraubt und dem Haus der Bilder nachgeordnet: »Die übermaterielle und vorkulturelle Welt der Bilder (die Sinnenwelt) ist der Ort, an dem sich Natur und Kultur, Leben und Geschichte in einem dritten Raum exilieren« (ebd., 56). Das dritte Haus ermöglicht als operationaler Zwischenraum – für Coccia ein »Hyperraum« (ebd., 34) – die Begegnung von Sprachnahen und Sprachfernen. Das virtuelle Innenleben des dritten Hauses wird in der Lebensgemeinschaft um Deligny »exiliert«. Im Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Seinsweisen ergeben sich die doppelt artikulierten Verbindungen, die gefilmt und kartiert werden können.

Das dritte Haus Wenn es aber um ein spezifisches Menschenwesen (l’humain) und mithin ein gemeinsames Leben von Menschen innerhalb und außerhalb des herkömmlichen Sprachgebrauchs gehen soll, muss man dann auf einen ›Naturzustand‹ zurückgreifen? Der Vorwurf an Deligny, er würde sich auf einen rousseauschen Naturbegriff stützen, verkürzt einen Kerngedanken seiner Arbeiten. Der Naturbegriff bei Rousseau, der auch in die folgenden Jahrhunderte hineingetragen wurde, ist für Deligny nichts anderes als »die Substitution des Spezifischen durch das Ethnische« (D 2016, 90). Die von Deligny konstatierte Verdrängung des Spezifischen durch das Ethnische ist zwar von Lévi-Strauss’

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füllt, ist ein Medium in dem ein Bild erfahrbar wird, das sich jenseits des Subjekts vor dem Spiegel und des Objekts (als Spiegelbild des Subjekts) befindet. Für Lacan ist das Spiegelbild der Ursprung der Persönlichkeit des (sprachnahen) Individuums. Das Spiegelbild zeigt ein »objektives Unbewusstes« (ebd., 77). Das Medium (Spiegelbild) ist der Ort jenseits von Subjekt|Objekt, wo Formen sinnlich erfahrbar werden. Mit dem Satzzeichen zwischen Subjekt und Objekt | verweise ich auf diesen Ort. Für Deligny ist der materielle Träger jedoch nicht der Spiegel, sondern die Wand (paroi). Die Wand (|) dient, anders als der Spiegel, nicht zur SelbstReflexion, sondern zum Abbau der (sprachnahen) Reflexion. Wand und Spiegel eigenen sich aber – wie auch jeder andere beliebige Gegenstand – gleichermaßen für die Vermittlung von Bildern. Für Deligny sind Wand und Spiegel dennoch Antonyme, weil der Spiegel bereits seit der Philosophie des Mittelalters mit der Erkenntnistheorie in Verbindung steht und aus dieser Tradition heraus dem Vorhaben des Sprachabbaus entgegensteht. Das Haus der Sprache wird in der Ontologie des Sinnlichen seiner Vormachtstellung beraubt und dem Haus der Bilder nachgeordnet: »Die übermaterielle und vorkulturelle Welt der Bilder (die Sinnenwelt) ist der Ort, an dem sich Natur und Kultur, Leben und Geschichte in einem dritten Raum exilieren« (ebd., 56). Das dritte Haus ermöglicht als operationaler Zwischenraum – für Coccia ein »Hyperraum« (ebd., 34) – die Begegnung von Sprachnahen und Sprachfernen. Das virtuelle Innenleben des dritten Hauses wird in der Lebensgemeinschaft um Deligny »exiliert«. Im Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Seinsweisen ergeben sich die doppelt artikulierten Verbindungen, die gefilmt und kartiert werden können.

Das dritte Haus Wenn es aber um ein spezifisches Menschenwesen (l’humain) und mithin ein gemeinsames Leben von Menschen innerhalb und außerhalb des herkömmlichen Sprachgebrauchs gehen soll, muss man dann auf einen ›Naturzustand‹ zurückgreifen? Der Vorwurf an Deligny, er würde sich auf einen rousseauschen Naturbegriff stützen, verkürzt einen Kerngedanken seiner Arbeiten. Der Naturbegriff bei Rousseau, der auch in die folgenden Jahrhunderte hineingetragen wurde, ist für Deligny nichts anderes als »die Substitution des Spezifischen durch das Ethnische« (D 2016, 90). Die von Deligny konstatierte Verdrängung des Spezifischen durch das Ethnische ist zwar von Lévi-Strauss’

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Arbeiten geleitet, distanziert sich jedoch – ebenso wie der späte Lévi-Strauss selbst – nach und nach von diesen und mithin auch von der strukturalen Anthropologie. Zentral ist die damit einhergehende Verdrängung des »Individuums« durch das Subjekt, der Deligny entgegenwirken will. Der mit dieser Verdrängung verbundene Naturbegriff beinhaltet eine Überschreibung des Spezifischen und die Bestimmung und Setzung eines anthropozentrischen Naturzustands. »Wir kommen schon immer und bereits als Subjekte auf die Welt, und die kleine Person ist aufgrund dessen, was die Umgebung erwartet, ein Charakter. Und das geringe Alter ändert daran nichts. Ein Charakter ist das Kind, bevor es geboren wird, und oft in einem größeren Maße als es das in Folge wird. Die Rolle ist schon immer gegeben.« (D 2016, 90) Der Naturbegriff, der sich im und mit dem Humanismus konstituiert, bindet den Menschen an seine (Subjekt-)Natur, die immer auch den Ausschluss eines unbestimmten Naturbegriffs der »Individuen« (Anomale) zur Folge hat. Den Menschen seiner Natur gemäß zu erziehen, läuft bei Rousseau eben auf den humanistischen Ursprung hinaus: »Richtet die Erziehung des Menschen auf den Menschen aus und nicht nach dem, was er nicht ist« (Rousseau 1998, 192). Was der Mensch beziehungsweise sein bestimmbares Wesen ist, legt »die Natur in uns« (Rousseau 1998, 11) fest. Der Natur gemäß zu erziehen, heißt in erster Linie, gegen den Zwang zu erziehen und zugleich heißt es auch, gegen die »natürliche Trägheit« (Rousseau 1998, 152, Anm.), die die Macht der Gewohnheit etabliert, zu erziehen. »Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter majorenes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben.« (Kant 2006, 9) Die Natur ist der Hort der Unmündigkeit und entlässt zugleich auch in die Mündigkeit. Es ist jedoch ein Ärgernis, dass der Mensch (für Kant) ein krummes Holz ist. Krumm ist für Deligny allerdings nur die Vorstellung von einer solchen Natur des Menschen. In seiner Skepsis folgt er an diesem Punkt LéviStrauss. Es geht ihm jedoch nicht um die Wesenhaftigkeit oder Essenz einer Natur des Menschen, sondern um das spezifische Menschenwesen, das einem ethnischen Menschen gegenübersteht. Diese Spezifikation bezieht sich auf ein Menschenbild, dem eher die Lebensformen der Menschen oder der anderen Spezies zugrunde liegen. Der missverständliche und paradox anmuten-

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de Begriff des Spezifischen verweist zwar auf ein bestimmtes Menschenbild, nimmt jedoch zugleich Distanz von einer einheitlichen Bestimmung des Bildes. Das Spezifische ist ein spezifisch Unspezifisches, weil in seinem Wesen die Unbestimmtheit dessen liegt, was den Menschen seiner Natur nach ausmacht oder ausmachen kann. Um die Distanz zu einer Unbestimmtheit der menschlichen Natur aufzuzeigen, bezieht sich Deligny erneut auf die Sprache. »Ein Biber wird eine Gebärde [geste] nicht machen (faire), und es geht für sie nicht darum, sich miteinander zu verständigen, wie Rousseau sagt, da ›sich‹ das fokale Zeichen dessen ist, was aus uns selbst hervorgeht. Es geht darum, die Formen, Deiche, Baue, die Erde und das Astwerk und die mit all dem vermischten Gebärden zu respektieren.« (D 2016, 58f.) Wenn Rousseau das Wesen des Menschen in der »Sprache der Konvention« (ebd.) sieht und die Gebärden (geste) der Tiere als eine Kommunikation oder Tiersprache verstehen will, nimmt er Zuschreibungen vor, die für Deligny auf einem Missverständnis beruhen. In ihren Gebärden und Gesten ähneln die Tiere dem Menschen, doch es wäre verfehlt, aus dieser Ähnlichkeit zu schließen, dass die Kommunikation der Tiere sich deswegen darauf reduzieren ließe. Es gibt innerhalb der Kommunikation keine Ebene, von der aus auf kausale und bewusste Effekte geschlossen werden könnte. Die Form der Kommunikation in der Tierwelt läuft ohne Bezüge und Wirkungsrelationen ab. Ein Biber macht in diesem Sinne nichts, weil ihm damit schon unterstellt werden würde, dass sein Machen einen Sinn, einen Zweck oder ein Ziel hätte, nämlich möglicherweise einen Damm zu bauen. Deligny weist drauf hin, dass es keinen Sinn ergibt, von den Zielen eines Bibers zu sprechen. Jedes Verb über das, was ein Biber ›macht‹, ist bereits eine Anthropomorphisierung. An anderer Stelle weitet Deligny das Problem mit Bezug zu Wittgenstein (vgl. D 2008, 148) weiter aus. Die prägnanteste Bestimmung des unbestimmten spezifischen Menschenwesens findet sich jedoch in The Arachnean (D 2015, 31-114; vgl. auch D 2017). Dort gibt es mit Karl von Frisch, der 1973 gemeinsam mit Konrad Lorenz und Nikolas Tinbergen den Nobelpreis für Physiologie erhielt, einen weiteren Bezug zur animalitas und den Tieren als Baumeister (vgl. von Frisch 1974). Über den Damm eines Bibers, hält Deligny fest, ließe sich ebenso wenig sagen, dass der Biber ihn gemacht hätte, wie sich diese Aussage über den Termitenhügeln der Trinervitermes trinervoides treffen ließe. Es wäre in beiden Fällen auch kaum möglich, einen Baumeister oder Bauplan auszumachen.

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»What Karl von Frisch tells us is that, in the natural sciences, there are mysteries that the human mind, despite its power and thirst for knowledge, has not been able to penetrate. I shall say the same thing about the mode of being in a network, which is perhaps the very nature of human beings, ›the mind‹ merely intervening into the bargain, in this case, and its work is the excess rather than the structure of the network.« (D 2015, 40) Wenn es eine Natur des Menschen gibt, dann ist sie für Deligny durch eine Seinsweise (mode of being) in einem Netzwerk gekennzeichnet. Eine Seinsweise in einem Netzwerk ist ein Modus der Existenz, der kontinuierliche Veränderungen hervorbringt, die wiederum (in Wechselwirkungen) auf den Modus der Existenz Einfluss nehmen können. Die Seinsweisen eines Bibers oder einer Termite sind keiner symbolischen Ordnung unterworfen, sondern werden durch körperliche Modi bestimmt. Die körperlichen Modi bringen auch eine bestimmte Wahrnehmungsweise mit sich. Eine Wahrnehmungsweise in einem Netzwerk ist ein Modus der Erfahrung, der kontinuierlichen Veränderungen unterworfen ist, die wiederum (in Wechselwirkungen) auf den Modus der Erfahrung Einfluss nehmen können. Der Biberdamm und die Termitenhügel sind ein Ausdruck bestimmter Seins- und Wahrnehmungsweisen. Biberdämme und Termitenhügel werden nicht nach bestimmten Ordnungen gebaut und dennoch weisen sie gewisse Ordnungen auf, die das Ergebnis bestimmter Modi sind, die den Dammbau oder den Hügelbau möglich machen. Die körperlichen Modi einer Seinsweise besitzen demnach eine Einheit, unter der sich beispielsweise die Modi des Biberseins oder des Termitenseins fassen lassen. Die Ausdrücke dieser Modi, die Dämme und die Hügel, sind jedoch nicht einheitlich. Dämme und Hügel besitzen dennoch eine gewisse Ordnung, die Ausdruck der körperlichen Einheit des ›Biberseins‹ und des ›Termitenseins‹ sind. Das ›Bibersein‹ oder ›Termitensein‹ ist – wie bei jedem anderen lebenden Organismus – »die Erfindung einer Art und Weise, die Welt zu erzeugen (a way of worldmaking, um Nelson Goodmans Formulierung abzuwandeln), und die Welt ist immer Lebensraum, Lebens-Welt« (Coccia 2020b, 57). Eine Seinsweise in einem Netzwerk ist in gleicher Weise durch die (Körper-)Einheit derer bestimmt, die Teil dieses Netzwerkes sind. Die Seinsweisen der Sprachfernen und der Sprachnahen bilden in einem Netzwerk eine Einheit, die durch die kollaborative Praxis auf den Karten ausgedrückt wird. Den Ausdruck bezeichnet Deligny als »a network human« (D 2015, 96). Der

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Ausdruck der Netzwerk-Seinsweise, der von allen Beteiligten in der Lebensgemeinschaft gleichermaßen »konstituiert« wird, ist nicht einheitlich, sondern mannigfaltig beziehungsweise rhizomatisch. Die Karten werden in der Gemeinschaft von sprachnahen Kartograf:innen angefertigt, um eine Kollaboration unterschiedlicher Seinsweisen in einem Netzwerk zu ermöglichen. Die Kollaboration von Sprachfernen und Sprachnahen in einem Netzwerk ist – in Anlehnung an die neueren Arbeiten von Haraway – eine »nonarrogant collaboration« (Haraway 2016, 56), ein »making kin« (ebd., 1) beziehungsweise ein »sich verwandt machen« (Haraway 2018a, 9) von Sprachnähe und Sprachferne mit dem Ziel, ein kollaboratives Netzwerk zu konstituieren. Die kollaborative Praxis des making kin sucht nach den Möglichkeiten, wie ein »sich verwandt machen« unterschiedlicher Seinsweisen im Alltag eröffnet werden kann und zielt aus diesem Grund auch weniger auf eine Kollektivierung, sondern mehr darauf, »eine Praxis des Lernens zu entwickeln, die es uns ermöglicht, in einer dichten Gegenwart und miteinander gut zu leben und zu sterben« (Haraway 2018a, 9). Eine kollaborative Praxis orientiert sich nicht an der Einheit eines aktiven Kollektivs, sondern an den Mannigfaltigkeiten, die sich aus den »Interaktionen« der unterschiedlichen Seinsweisen ergeben: »we need to makewith—become-with, compose-with« (Haraway 2015, 161). Sich verwandt zu machen ist eine prozessuale post-humane Angelegenheit. Der Mensch als das Maß aller Dinge wird zurückgelassen und durch ein post-humanes Potential gefasst, das sich von dem Menschen als modernen Selbstbildner distanziert. Der Begriff des Posthumanismus ist für Haraway jedoch zu sehr an den Humanismus gebunden. Um das Potential der Erdverbundenheit der menschlichen Spezies (earthbound species) hervorzuheben, greift Haraway auf den Begriff des Kompost (compost) zurück, wodurch sie die Sterblichkeit und den Lebenskreislauf aller Spezies in einem Rhythmus aus »compose and decompose« (Haraway 2016, 97) hervorheben kann. Der Rhythmus ist »sym-chthonically, sym-poetically« (Haraway 2018b, 91) und bezeichnend für das Zeitalter »Chtulucene«, das Haraway dem Anthropozän entgegenstellt. Die Silbe »sym-« steht der Silbe »auto-« gegenüber, um die konstanten und lebendigen »Interaktionen« der (Körper-)Einheiten (interacting ›units‹) hervorheben zu können, die in autopoietischen Systemen in den Hintergrund geraten. Autopoietische Systeme haben – anders als sym-poietische Systeme – selbst-konstituierte Grenzen, sind in ihrer Organisation geschlossen und auf Wachstum und Entwicklung ausgerichtet. Sym-poietische Systeme sind hingegen durch eine unvorhersehbare, evolutionäre Ausrichtung (evolutionary orien-

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tation) von a-morphen (Körper-)Einheiten (complex amorphous entities) geprägt (vgl. Haraway 2016, 176, Anm. 13). Eine kollaborative Praxis ermöglicht ein »Interagieren« unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen und eröffnet eine Lebensfläche, die sym-poietisch geordnet ist. Das Netzwerk wird im dritten Haus »konstituiert«. Es ist der Raum des spezifisch Menschlichen der Netzwerk-Seinsweise, der keinem bestimmten Zeichensystem unterworfen ist, sondern ein making kin unterschiedlicher Seinsweisen ermöglicht. Deligny bezeichnet die befremdlich anmutenden Gesten der autistischen Kinder, auch als Ausschmückungen oder Gestalten (l’orné). Die Gesten muten befremdlich an, weil es anomale Bewegungen sind und weil sie keiner Ordnung angehören. Die Bewegungen sind amorph. In einer Ausschmückung erhält die Amorphie der anomalen Bewegungen eine Gestalt, d.h. der (bildliche) Überschuss der Gesten erhält eine Form. Die Formen der Gesten, die Ausschmückungen, können von anderen Anomalen nachgeahmt (mimesis) werden. Die Ausschmückungen stehen in Distanz zum Zweckmäßigen. Sie sind »gestischer Überschuss« (Zander 2014, 61). Der Überschuss wird in der Vermittlung beziehungsweise im Zwischenraum des dritten Hauses sichtbar. »L’orné: Das Bereichernde, in der Sprache Delignys, heißt die der Geste immanente Figur, die über das unmittelbar Zweckmäßige in den Gesten der Erwachsenen, der ›Anderen‹ hinausgeht, es überschießt. Das die Geste Bereichernde ist ein Überschuss in der Geste. Dieser Überschuss kennzeichnet bereits die Materialstellung der Geste. Die Erwachsenen, die mit diesen Kindern leben, lassen sich von der ›neutralen‹ nicht-intentionalen Stellung der Gesten anregen, wenn sie an ihren eigenen Gesten das Intentionale abbauen und die Gesten in der Weise gestalten, dass die autistischen Kinder sie visuell und auditiv orten können. An diesen Überschuss, dessen ästhetische Funktion an das ›additionale Element‹ Kazimir Malevichs erinnert, lässt sich der zeichnerische Überschuss der Karten Gisèle Durands anschließen. – Das Gebilde, an dem die Gestalt materiell ›verortet‹ wird, nennt Deligny in seinen Spätschriften die ›Wand‹ (paroi): ›Unser Werk besteht darin, der Wand einen Ort zu geben‹.« (Ebd.) Das Netzwerk ist ein Ort, an dem der gestische Überschuss seinen Ausdruck findet. In Ce gamin, là zeigt sich eine besondere Form der Achtsamkeit in den verschiedenen »Instrumenten« und »Signalen« der Erwachsenen, die dazu genutzt werden, um auf die Seinsweise der autistischen Kinder reagieren zu können. Auf den Abbildung 5 bis 9 sind sprachnahe Erwachsene zu sehen,

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die zwischen ihren alltäglichen Tätigkeiten die Gesten der Kinder spiegeln und dadurch Überschuss produzieren, der zu einem »Interagieren« beiträgt.

Abb. 5: »Klatschen« (D 2007d, 0:52:15)

Abb. 6: »Maultrommel« (D 2007d, 0:09:00)

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Abb. 7: »Holzkeule« (D 2007d, 0:52:15)

Abb. 8: »Eisenring« (D 2007d, 1:01:44)

Die Sprachnahen eröffnen im Alltagsleben einen Raum aus Rhythmen und Resonanzen. In Abbildung 5 ist ein Klatschen über dem Kopf und in Abbildung 6 ist das Spiel auf einer Maultrommel erkennbar. Die Abbildungen 7 und 8 zeigen, wie jemand Klopfgeräusche mit einer Holzkeule und einem Eisenring erzeugt. Auf Abbildung 9 sieht man, wie jemand in einem Steinbett

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Abb. 9: »Holzkugel im Steinbett« (D 2007d, 1:18:45)

eine Holzkugel rollt. Die Gesten der Erwachsenen sind zwar bewusst initiiert worden, haben jedoch keinerlei repräsentativen Zweck und erfolgen intuitiv und mehr oder weniger zufällig. Es sind ›rein‹ mimetische Leergesten, auf die weiter unten noch genauer eingegangen wird. Die Kinder reagieren auf diese Gesten ihrerseits, indem sie die Gesten nachahmen oder auch ›mechanisch‹ wiederholen. Die Abbildung 10 zeigt Anne, die keinerlei Bindung zu ›ihrem‹ Namen hat, wie sie am Bach spielt und die Finger beider Hände vor dem Mund bewegt, so als ob sie eine Maultrommel benutzen würde. Auf Abbildung 11 ist Janmari erkennbar, wie er – kurz nachdem ein Erwachsener die Kugel rollte – selbst ein gleichförmiges und rhythmisches Rollen initiiert. Das Netzwerk wird nach und nach in den Zwischenräumen des dritten Hauses »konstituiert«. In ihnen werden Annäherungen unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen möglich. Die Annäherungen stehen für Deligny einer einseitigen sprachlichen Überformung gegenüber. Die spezifisch menschliche Natur wird vom sprachlichen Geist (mind) verfremdet und verhindert eine »Interaktion« zwischen Geist (Subjekt) und Natur (Objekt). Das Geistige verstellt und überformt die Seinsweise (mode of being) des Netzwerks durch die Hierarchisierung des Sinns über das Sinnliche. Die Hierarchisierung hat in der cartesianischen Tradition des cogito ergo sum einen ihrer Ursprünge. Dieser Hierarchisierung stellt Deligny den gestischen

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Abb. 10: »Mädchen mit Händen am Mund, wie auf Abb. 6« (D 2007d, 0:33:15)

Abb. 11: »Janmari rollt die Holzkugel, wie auf Abb. 9« (D 2007d, 1:18:39)

Überschuss gegenüber und erhebt ihn zu einer Grundlage des menschlichen Bewusstseins. Es ist das »Ich« im Vollzug des »Ich denke«, in dem das sprachliche Bewusstsein seinen Halt findet. Die Seinsweise in einem Netz-

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werk hingegen ist dieser Trennung (vorprädikativ aber nicht vorsemiotisch) »vorgelagert«. »The network is not about doing or making; it is devoid of anything that would serve the purpose, and any excess of purpose leaves it in tatters at the very moment when the excess of the project is deposited in it.« (D 2015, 41) Ein Netzwerk ist frei von Zwecken und hat demnach aus repräsentationslogischer Perspektive keinen Nutzen. Jede Zweckorientierung stört vielmehr und verdeckt das Netz. »I was twelve years old; I was a day pupil in a secondary school and it was in my neighborhood that the network was woven, not in school, which in any case had no suitable space for it. And if chance played some role, this was the case every time.  If I wanted to indicate one of the components of the network, I would note an ›outside‹ as one of the necessary components.« (Ebd., 35f.) Ein Netzwerk kann (beinahe) überall entstehen. Deligny schließt die Institution Schule aus, weil sie zu der Zeit – wie oftmals auch heute noch – ebenso wie andere Institutionen, zu wenig Unbestimmtheit mit sich bringt und leitende Normen für ein ganz bestimmtes Menschenbild schafft. Ein Netzwerk befindet sich dahingehend »outside«, weil es keine leitenden Bilder besitzt. Ein Netzwerk kann in einem Spiel oder auch in einer Lebensgemeinschaft mit Autist:innen in den Cevennen »konstituiert« werden. Es kann durch Zufall entstehen aber auch hervorgerufen werden, indem man damit beginnt, Umgangsweisen mit dem Fremden als Fremden zu ermöglichen, die zugleich dazu beitragen, das Fremde vor Vereinnahmung zu schützen. Ein Netzwerk befindet sich inmitten der gesellschaftlichen Ordnungen – wie beispielsweise das Spiel mehrerer Kinder auf der Straße –, ohne sich den Ordnungen vollständig zu unterwerfen, weil das Spiel auch durch Selbstzwecke bestimmt ist und durch Unbestimmtheit mitkonstituiert wird. Einem Netzwerk ließen sich ohne Weiteres Zwecke und Ziele zuordnen – seien sie für ein Kinderspiel evolutionsbiologischer oder sozialpsychologischer Natur –, wodurch diese Netzwerke verdeckt und überlagert werden würden. Daraus ergibt sich folgende Paradoxie: Der Zweck des »Außen« (›outside‹) ist seine Zweckfreiheit und der Zweck dieser Zweckfreiheit ist, einen Raum zu eröffnen, der selbst (möglichst) kein weiteres »Außen« mehr zulässt, d.i. das dritte Haus, das ausschließlich der Vermittlung und der Annäherung dient.

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Für das dritte Haus ist nicht der Ursprung einer menschlichen Natur, sondern die Leere zentral. Zieht man vom ethnischen Menschen das humanistische Wesen, die anthropozentrische Perspektive und die damit verbundenen Konstitutionsbedingungen ab, dann erhält man einen (Denk-)Raum, der sich dem Unbestimmten annähert. Dadurch wird ein bestimmtes humanistisches Menschenbild zurückgelassen und durch ein ›posthumanistisches‹ ersetzt, das sich von einem Menschenbild distanziert und mit Offenheit und Kontingenz operiert. Ein derartiger Posthumanismus ist kein Antioder Transhumanismus, weil er sich weder um ein bestimmtes (anthropozentrisches) Menschenbild kümmert, dem er sich entgegenstellen müsste, noch versucht, ein vorhandenes Menschenbild zu überschreiten. Am Grunde des spezifischen Menschenwesens steht eine Kontingenz, die nicht absolut ist, sondern aus der Praxis abgeleitet. Die praktische Notwendigkeit wird von Deleuze und Guattari auch im Prinzip der Ausweitung durch Abzug, im »n1«-Prinzip, hervorgehoben: »Das Mannigfaltige muss gemacht werden, aber nicht dadurch, dass man immer wieder eine höhere Dimension hinzufügt, sondern vielmehr schlicht und einfach in allen Dimensionen, über die man verfügt, immer n-1 (das Eine ist nur dann ein Teil des Mannigfaltigen, wenn es davon abgezogen wird). Wenn eine Mannigfaltigkeit gebildet werden soll, muss man das Einzelne abziehen, immer in n-1 Dimensionen schreiben. Man könnte ein solches System Rhizom nennen.« (Deleuze, Guattari 1992, 16) Ein Netzwerk, das nach diesem Prinzip funktioniert, ist ein Rhizom und die Seinsweise in einem solchen Netzwerk bestimmt Deligny als die eigentliche Natur (the very nature) des Menschen. Sie funktioniert durch den Abzug und Abbau von Formen der Repräsentation, wie beispielsweise durch den Abbau des latenten Wortes im Bild oder auch durch den topografischen Abbau der Maße und Koordinaten des cartesianisch-euklidischen Raums in der kartografischen Praxis. »Man müsste die Sackgassen auf der Karte erneut lokalisieren und sie dadurch für mögliche Fluchtlinien öffnen. Das gleiche würde für die Karte einer Gruppe gelten: hier wäre zu zeigen, an welchem Punkt des Rhizoms Phänomene wie Vermassung, Bürokratie, leadership und Faschisierung etc. entstehen, und welche Linien dennoch unterirdisch fortbestehen und im Verborgenen weiterhin Rhizome bilden. Die Deligny-Methode: eine Karte der Gesten und Bewegungen eines autistischen Kindes aufzeichnen, ver-

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schiedene Karten für dasselbe Kind oder mehrere Kinder miteinander kombinieren … Wenn es stimmt, dass Karten oder Rhizome prinzipiell vielfältige Zugangsmöglichkeiten haben, dann kann man sogar daran denken, auf dem Weg über eine Kopie oder einen Wurzelbaum hineinzukommen, wenn man die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen hat (auch in diesem Fall sollte ein manichäischer Dualismus vermieden werden).« (Ebd., 26) Der zu vermeidende Dualismus, entspricht einer einseitigen Artikulation. Eine Kopie operiert in einem einseitigen Modus der Repräsentation und muss für eine doppelte Artikulation immer wieder aufgebrochen werden, d.h. durch Abzug und Abbau nach dem n-1-Prinzip, damit ein Zusammenspiel oder auch ein Rhythmus zwischen Karte und Kopie eröffnet werden kann. Es ist ein Zusammenspiel beziehungsweise ein Rhythmus zwischen einem Modus des Ästhetischen und einem Modus der Repräsentation, auf den in den Abschnitten Exkurs I-II – im Rückgriff auf Rancières Arbeiten – genauer eingegangen wird. Das Prinzip des Abzugs setzt Deligny konsequent im Schreiben um, wie Zander bereits 2003 in seiner Arbeit »Gliedern, verknoten, niederlegen« (Zander 2003) nachweist. Zander schließt an die genannten drei Bedeutungen der doppelten Artikulation (ausdrücken, gliedern, verbinden) an: »a) Die Techniken des Infinitivs: Heterologisch zur Hierarchie der Flexion, die ihr Zentrum im Selbstbezug des Sprachsubjekts hat, ermöglicht der Gebrauch des Infinitivs ein horizontales Schreiben, ein Schreiben ohne Subjekt. b) Die Technik des Antonyms: Den Worten, die in der symbolischen Ordnung des Bildungsgedächtnisses einen festen und unverrückbaren semantischen Wert beanspruchen, kann nur der semantische ›Antiwert‹ entgegengehalten werden; der ›Antiwert‹ ist eine Geste, die in der Schrift eigens ›niedergelegt‹ wird. c) Die Technik des Wörterbuchs, ›épuiser le dictionnaire‹, das Wörterbuch ausschöpfen nennt Deligny dieses Verfahren. Zu zeigen, und unermüdlich zu zeigen, in welch lexikalischen Varianten ein bestimmtes Wort in Gebrauch genommen wird, heißt, das Wort bis auf seine reine Materialität lexikalisch abzubauen.« (Zander 2003, 210) Durch einen anderen Gebrauch der Sprache – wie die Deligny-Zitate hier im Ansatz zeigen – verschieben sich die schriftlichen Arbeiten Delignys ebenso wie die Filme hin zu einer Suche nach Möglichkeiten, den Raum des Dazwischen (im dritten Haus) zu öffnen. Der mitunter poetische, aphoristische Stil Delignys, der sich der drei Techniken bedient – die sich in ähnlicher

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Form auch bei Deleuze und Guattari finden: »Unbestimmter Artikel + Eigenname + Verb im Infinitiv« (Deleuze, Guattari 1992, 358) –, ermöglicht einen Abbau von epistemisch-repräsentativen wirkmächtigen Macht-Wissen-SubjektFormation. Durch einen anderen Sprachgebrauch erzeugt Deligny ein rhizomatisches Netzwerk, das anders als ein zitierfähiger Text, der in strukturierten Inhaltsangaben fassbar und komprimierbar wäre, einen Überschuss bewirkt (vgl. dazu auch Miguel 2015). Deligny widmet sich einem experimentellen Schreiben, in dem er künstlerische Elemente in die Wissenschaft miteinfließen lässt. Die Logik der Repräsentation wird immer wieder durch einen ästhetischen Überschuss (neu) gegliedert, (neu) verbunden und (neu) ausgedrückt. Der experimentelle Schriftkörper bringt dadurch eine Wahrheit zum Ausdruck, wenn er die »Pädagogik in der elementaren Materialität bloßer Bedeutung zu begreifen [sucht], in deren ›commune présence‹ jeder jedem ausgesetzt ist« (Zander 2003, 215). Der Text kann durch diese Form der Artikulation die Wirkung seiner Ursache (ein pädagogisches Prinzip der Gleichheit) und die Macht seiner Wirkung (die Geste des Überschusses im Text) zum Ausdruck bringen. Zander zieht weitere Verbindungen von Delignys »pädagogischem« Schreiben zum Leben mit den Kindern im Netzwerk. »›Sie‹ sprechen nicht. ›Sie‹, die von unheilbaren Gehirnschäden gezeichneten Kinder. Der medizinisch-technische Ausgangspunkt interessiert ihn nicht. Er wird ›sie‹ pädagogisch als ›Autisten‹ definieren und ihren ›Autismus‹ durch die Merkmale ›Aphasie‹ und ›Asymbolismus‹ bestimmen. Der Zugang zur Sprache ist ihnen versperrt. Es hat den Anschein, als sei ihnen die Sprache entzogen worden, als litten sie unter einer ›privatio linguae‹. Damit aber auch, so sage man, sei ihnen der Zugang zum Selbstentwurf des Menschen entzogen worden; sie seien der Menschenähnlichkeit beraubt. Was läge näher, als ununterbrochen mit ihnen zu sprechen, sie in die Sprache, die Welt der Symbole und der Zeichen zurückzuholen? Deligny wird, ganz im Gegenteil, ›Aphasie‹ und ›Asymbolismus‹ in den Rang eines pädagogischen Prinzips erheben. Schon deshalb, um nicht aus der Position des Mangels, der Abwesenheit von etwas Unverzichtbarem, der Verstümmelung heraus argumentieren zu müssen. […] Er stellt der bildungsgeschichtlich tradierten Position ›de l’homme‹ (›vom Menschen her‹) die gattungsgeschichtliche ›de l’être humain‹ (›vom Menschsein her‹) gegenüber: Kontraria, die sich ausschließen, aber zugleich gelten können. Es findet so etwas wie eine Verschiebung der Ebenen, ein Ortswechsel statt. Es geht darum,

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beurteilen zu können, von woher, aus welcher Stellung jemand schreibt; sekundär ist, was er aussagt.« (Zander 2003, 212f.) Gleichheit ist für die Lebensgemeinschaft ein grundlegendes pädagogisches Prinzip. Die Gleichheit ist der Ausgangspunkt und nicht das Ziel des Netzwerks. In den Texten versucht Deligny dementsprechend mit den Techniken des Infinitivs, des Antonyms und des Wörterbuchs auf Macht-WissenSubjekt-Formationen zu antworten und eine andere Schreibweise zu (er-)finden. Das »heterologische Schreiben« eröffnet einen Umweg zu einem anderen Ort, der sich »außerhalb« der »dominanten Stellung symbolisch gesättigter Sprache« befindet (ebd., 213). Das Prinzip des Abzugs findet sich nicht nur in den Texten und – wie sich noch zeigen soll – in den Karten, sondern auch und vor allem in Ce gamin, là. Im gesamten Film entwickelt auch Delignys Stimme eine ungewöhnliche Sprachrhythmik, die Zander als »prosodischen Sprechgang« (Zander 2016, 65) charakterisiert und in einem Textprotokoll auch in einer grafischen Transkription abbildet (vgl. ebd., 65-72). »Deligny beschriftet nicht das Bild, sondern es ist das Bild, das Delignys Stimme sprachmetrisch bewegt. Die Metrik seines Sprechens stützt sich auf die Tonsilben. Die damit gebildete Prosodie artikuliert die Stimme Delignys und verleiht ihr eine deutlich markierte Tonalität. Im Besonderen handelt es sich hier um Elemente der Tondauer, v.a. der Sprechpausen, und der Tonintensität. Die graphische Transkription des gesprochenen Textes versucht, diesen prosodischen Sprachgang abzubilden.« (Ebd., 65) Das folgende Beispiel zeigt den Aufbau einer Transkription nach Zander: »Ils l’ont bien dit:          incurable                                                                                          insupportable                                                                                                                      invivable                                                                                                                                         incurable  invivable alors la société a tout prévu et même des lieux où invivre le soit             prévu.  Et il se trouve que ce lieu-là prévu pour,             je le connais.« (Ebd.; vgl. D2007d, 0:01:39) Indem Deligny seine Stimme dem Bild annähert und sich von ihm »sprachmetrisch bewegen« lässt, weist er die Hierarchie des Sinns über das Sinnliche zurück. Seine Stimme hat nicht die Funktion dem Inhalt des Films eine

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Bedeutung zu verleihen oder gar Erklärungen zu liefern. Delignys Stimme dient dazu, den Rhythmus der Bilder in ein Gleichgewicht mit der Sprache zu bringen. Dies gelingt ihm durch die poetischen Einsätze. Dadurch wird in Ce gamin, là Delignys Sprecherposition abgebaut und in den Hintergrund gedrängt. Zugleich wird das Spurenziehen im Netzwerk zum Mittelpunkt des Films.

Fährtenlinien in Ce gamin, là Auf die Frage »What human means?« antwortet Deligny konsequent: »Nothing« (D 2015, 43). Bedeutung wird durch Abzug generiert. Die bedeutungslosen Bedeutungen, die zweckfreien Zwecke oder auch die Gegenüberstellung eines ethnischen Menschen und eines spezifischen Menschenwesens sind Durchgangsmomente. Eine rhizomatische Struktur operiert nicht nach einem bivalenten Prinzip, weil in einem Rhizom an jedem Knotenpunkt mehrgliedrige Verbindungen möglich sind, d.h. neben den Werten wahr und falsch oder null und eins auch noch andere. Die zweigliedrigen YVerzweigungen, die immer auf einen Stamm oder eine tragende Verbindung zurückführen, werden Bestandteile einer mannigfaltigen Struktur, in der sie sich regelrecht auflösen. Die Zweigliedrigkeit wird in der Vielgliedrigkeit überschritten. Beispiele für rhizomatische Netzwerkstrukturen findet man in der Botanik. Dort wird zwischen Wurzelsystemen unterschieden, die Hauptwurzeln ausbilden (Allorhizien) und Wurzelgeflechten (Homorhizien), die gleichrangige Wurzeln ausbilden. Die Hauptwurzeln besitzen einen Stamm, auf den die Verzweigungen zurückgeführt werden können. Dadurch ist es möglich, die Abzweigungen zu hierarchisieren, weil der Stamm, der zur Wurzel führt, tragend und überlebenswichtig ist. Wurzelgeflechte – wie beispielweise die Quecke aus der Familie der Süßgräser oder Farne aus der Gruppe der Gefäßsporenpflanzen – haben keinen Stamm; sie können an jeder Stelle zerrissen werden und wuchern trotzdem weiter. Es gibt keinen Stamm, bei dem man diese Pflanze sprichwörtlich an der Wurzel packen könnte, um sie herauszureißen. Es gibt in der Struktur auch kein Zentrum, an dem man sich orientieren könnte, um zu entscheiden, welcher Weg richtig oder falsch sein könnte. In der Praxis des Gemeinschaftslebens mit Autist:innen ist dieses Prinzip der Unbestimmtheit und der Leere alles andere als eine formale Verkürzung oder Relativierung gesellschaftlicher Werte, denen sich eine kleine Gruppe zu entziehen versucht. Im Vordergrund des

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Bedeutung zu verleihen oder gar Erklärungen zu liefern. Delignys Stimme dient dazu, den Rhythmus der Bilder in ein Gleichgewicht mit der Sprache zu bringen. Dies gelingt ihm durch die poetischen Einsätze. Dadurch wird in Ce gamin, là Delignys Sprecherposition abgebaut und in den Hintergrund gedrängt. Zugleich wird das Spurenziehen im Netzwerk zum Mittelpunkt des Films.

Fährtenlinien in Ce gamin, là Auf die Frage »What human means?« antwortet Deligny konsequent: »Nothing« (D 2015, 43). Bedeutung wird durch Abzug generiert. Die bedeutungslosen Bedeutungen, die zweckfreien Zwecke oder auch die Gegenüberstellung eines ethnischen Menschen und eines spezifischen Menschenwesens sind Durchgangsmomente. Eine rhizomatische Struktur operiert nicht nach einem bivalenten Prinzip, weil in einem Rhizom an jedem Knotenpunkt mehrgliedrige Verbindungen möglich sind, d.h. neben den Werten wahr und falsch oder null und eins auch noch andere. Die zweigliedrigen YVerzweigungen, die immer auf einen Stamm oder eine tragende Verbindung zurückführen, werden Bestandteile einer mannigfaltigen Struktur, in der sie sich regelrecht auflösen. Die Zweigliedrigkeit wird in der Vielgliedrigkeit überschritten. Beispiele für rhizomatische Netzwerkstrukturen findet man in der Botanik. Dort wird zwischen Wurzelsystemen unterschieden, die Hauptwurzeln ausbilden (Allorhizien) und Wurzelgeflechten (Homorhizien), die gleichrangige Wurzeln ausbilden. Die Hauptwurzeln besitzen einen Stamm, auf den die Verzweigungen zurückgeführt werden können. Dadurch ist es möglich, die Abzweigungen zu hierarchisieren, weil der Stamm, der zur Wurzel führt, tragend und überlebenswichtig ist. Wurzelgeflechte – wie beispielweise die Quecke aus der Familie der Süßgräser oder Farne aus der Gruppe der Gefäßsporenpflanzen – haben keinen Stamm; sie können an jeder Stelle zerrissen werden und wuchern trotzdem weiter. Es gibt keinen Stamm, bei dem man diese Pflanze sprichwörtlich an der Wurzel packen könnte, um sie herauszureißen. Es gibt in der Struktur auch kein Zentrum, an dem man sich orientieren könnte, um zu entscheiden, welcher Weg richtig oder falsch sein könnte. In der Praxis des Gemeinschaftslebens mit Autist:innen ist dieses Prinzip der Unbestimmtheit und der Leere alles andere als eine formale Verkürzung oder Relativierung gesellschaftlicher Werte, denen sich eine kleine Gruppe zu entziehen versucht. Im Vordergrund des

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Gemeinschaftslebens steht nicht die Abkehr von Institutionen und von der Gesellschaft, sondern die Suche nach den Lebensformen in einem Netzwerk. Das n-1-Prinzip des Abzugs und des Sprachabbaus dienen nicht dazu, eine neue Macht-Wissen-Subjekt-Formation zu konstituieren, um von dort aus ›an den Rändern der Sprache‹ gegen die Sprache zu optieren. Dadurch würde nur eine Kopie der Logik erzeugt werden, die das Netzwerk überwinden will. Der Abbau ist kein absolutes Prinzip, sondern dient dazu, die doppelte Artikulation zu initiieren. Delignys Beispiel aus seiner Schulzeit kann zur Veranschaulichung aufgegriffen werden. »In the streets near the one on which the house where I lived as a twelveyear-old could be found, something must have been lacking, because a network was woven there.  I may have been its craftsmen, but it seems to me that it actually took shape on its own […]  […]  If a Karl von Frisch had turned up, with his eyes trained to glimpse the mysteries of animal architecture, he would have observed the construction of an entire network of trajectories evoking war, because we took advantage of the space as good sons of veterans of Verdun and other war zones;  […]  That said, and it by no means exhausts the inventory of what could be called ›acting like‹, playing at being soldiers, workers, children at play, I am certain that an observer would have perceived often-repeated trajectories whose goal was not at all obvious, for wander is a verb that needs no object.« (D 2015, 36f.) Die oft wiederholten Bewegungsbahnen (trajectories), die Kinder in ihren Spielen zurücklegen, sind an die zweckfreien Zwecke des Spiels gebunden. In einem (ästhetischen) »so tun, als ob« nehmen Kinder Rollen ein, wie hier im Beispiel: Soldaten, die ganz unhinterfragt in ein Spiel verwoben werden. Das Agieren im Zusammenspiel von Imagination und Intuition konstituiert den eingangs bestimmten Zwischenraum der Zweckmäßigkeiten ohne Zweck. Hier ist der Mensch nach Schiller ganz Mensch (vgl. Schiller 1984, Fünfzehnter Brief). Die unbewusste Seite des Spiels steht für Deligny den Bewegungen und Streifzügen der autistischen Kinder aus der Gemeinschaft nahe. Deligny bezeichnet die Streifzüge als Fährtenlinien (wander lines, lignes d’erre, vgl. D 2013a, 10, 14). Fährtenlinien entstammen der Sprachferne. Das Spurenziehen

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(traces) der Fährten wird an der Wand (paroi) sichtbar. Die Spuren lassen sich nicht repräsentationslogischen fassen, sondern nur über den vermittelnden Zwischenraum des dritten Hauses. Auf Abbildung 4 ist Delignys Hand zu sehen, die an einer Spur entlangfährt. »Was tun die Hände, wenn die Kamera sie in ihrem Tun beobachtet? Sie ziehen Spuren (›traces‹), sie zeichnen Striche (›traits‹) und sie konstruieren Linien (›lignes‹). Spuren und Striche geben dem Auge etwas zu sehen auf. In letzter Konsequenz stellen sie Sehpunkte in den Blick. Die Linien hingegen stellen dem Gedanken eine geometrische Aufgabe. Ziehend und Zeichnend verhalten sich die Hände an den Vorlagen der kartographischen Wand Delignys; konstruierend an den Kanten, Knoten, Ecken, Krümmungen eines Graphenkalküls. […] Das Ziehen einer Spur wird im Strich vollzogen. Der Strich ist das graphische Element, das in einem Zug getätigt wird. Im Strich ›gestaltet‹ sich in gewisser Weise das Spurenziehen. Deligny spricht an dieser Stelle von ›Stil‹. Der Sache nach geht es um Gestalt und Figur, also auch um Merkmale ästhetischer Differenz.« (Zander 2016, 8) Sehpunkte gehören dem Haus der Bilder an und stehen den Gesichtspunkten gegenüber, die dem Haus der Sprache angehören. Da das Haus der Sprache nicht wieder werden verlassen kann, müssen Sehpunkte »in den Blick gestellt« werden. Das heißt, der sprachferne Bildüberschuss muss für die Sprachnahen auch als Überschuss wahrnehmbar gemacht werden. Delignys Hand zeigt zuerst auf die Spuren der Karten. Dann »zieht und zeichnet« er mit der Hand nach, was auf der Karte bereits vorhanden ist und er »konstruiert« zugleich auch einen gestischen »Stil«. Die Hände bewegen sich in einem langsamen Rhythmus, der sich zwischen Ziehen, Zeichnen und Konstruieren abwechselt. Deligny fährt in mehreren Ausschnitten mit seiner Hand den Spuren auf den Karten nach (vgl. D 2007d, 0:16:45, 0:21:34, 0:34:56, 0:36:30, 0:39:06, 0:42:56, 0:49:46). Er fährt den kartierten Spuren (traces), die mit Strichen (traits) gezogen wurden, mit dem Finger nach und ergänzt hierbei mit seiner Stimme, dass die Kinder Bewegungen ausgeführt und auch nachgeahmt haben, die wiederum die Kartograf:innen (erneut) nachgeahmt haben. Dreht sich ein Kind beispielsweise mehrmals um sich selbst und wiederholt es dieses Drehen in bestimmten Rhythmen an mehreren Orten, dann versuchen die Kartograf:innen, dieses »Um-sich-selbst-Drehen« mit kreisförmigen Zeichen auf der Karte zu markieren. Deligny zeigt die Kreise auf den Karten und fährt ihnen dann mit einer Kreisbewegung nach. Die Kamera orientiert

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sich in Großaufnahmen an seinen Händen. Der Rhythmus der Szenen wird von der Stimme getragen. Die Stimme verbindet die einzelnen Segmente der Handbewegungen miteinander. Sie führt eine poetische Sprachmetrik ein, die die Zeitfolge des üblichen oder normalen Sprechtempos auflöst. Dadurch erinnert Delignys Sprechen auch an eine Spoken-Word-Performance. In der grafischen Transkription des deutschen Textprotokolls hat Zander – da es für Ce gamin, là keine Untertitel gibt – die Szene 0:16:00, in der Delignys Hand den Spuren folgt, wie folgt übersetzt: »Dieser Junge, dort sprachlos, zieht monatelang Spuren.  Seine Hand zog Ringe, Ringe und sonst nichts. Und sie zieht weiter Ringe. Wir, wir begannen Spuren zu ziehen, unsere Hände folgten Spur für Spur, was unsere Augen sahen. Unsere Augen folgten dem, was unser Blick zu sehen, zu erfassen, uns zuzutrauen fähig war. Und dies hier sind die Streifzüge des Jungen während eines Tages im September 1967.  Er dreht {il tourne}, mal um sich selbst, seine Hände auf dem Rücken verschränkt, mal läuft er, als sei jemand in der Mitte seiner Reitbahn und halte ihn an einer Laufleine man sagt: ein Junge missrät {tourne mal}.  Er, er dreht sich unaufhörlich um sich selbst. So sprechen wir also: er dreht sich um sich selbst. Nur, dieses berühmte SELBST ist in Wirklichkeit abwesend, leer.  Dieses Kind, dort dreht um NICHTS, gegen nichts, wie toll {éperdument}, verloren {éperdu}; heißt das, dass er dieses Selbst, heißt das, dass er sich suchen würde?  Diesen Pfad sind wir nicht gegangen.  Dieser Junge, dort drehte weder gut, noch schlecht, jenseits dessen, über das hinaus, was im Reich der Worte als gut oder schlecht gilt.  Seine Mutter hatte mir schon gesagt: nie lag der Schatten eines Lächelns auf seinem Gesicht, nie hatte er seine Arme ausgestreckt, nie lag er im Schatten des Anderen in seinem Blickfeld.  Das, was ich mir sagte und was ich unermüdlich, unwandelbar uns anderen, diesen uns anderen dort, sagte, gesagt habe und endlos wiederholte: uns sucht er, und wir, wir waren dort – nahe, aufmerksam, erstaunt, unruhig, erregt. Dort, das ist eine ausgedehnte Bleibe zwischen zwei Felsspitzen; wir, denkende und sprechende Wesen aus Fleisch, Blut und Knochen und – vor allem aus Sprache. Wem wollen sie sonst trauen? Doch da die Sprache nicht trägt, da dieser Junge, dort keine Sprache hat, da er nichts versteht, ist

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die Differenz gewaltig, die Distanz unendlich.« (0:16:02-0:20:00, Übersetzung nach Zander 2016, 74f.) Für den Betrachter verbinden sich diese Bestandteile des Films (Hand, Spur, Stimme) zu einer kinematografischen Einheit. Um die Einheit genauer untersuchen zu können, bezieht sich Zander unter anderem auf Deleuzes Definition des Photogramms als einem »beweglichen Schnitt« (Deleuze 2010, 16; vgl. Zander 2016, 11ff.). Das Photogramm ist das elementare und nicht mehr weiter zerlegbare Filmbild, das in der Standardisierung von 24 Bildern pro Sekunde ein 1/24 bezeichnet. Es ist jedoch nicht ein Standbild oder eine einfache Momentaufnahme, sondern es steht durch seine »Materialstellung« in der »Relationsfunktion des ›Zwischen‹« (Zander 2016, 11). »Es [das Photogramm] erfüllt diese Materialstellung, indem es dem Betrachter einen differentiellen Zugang zum Bild ermöglicht, seinen Blick den Bildvorfällen gegenüber zu distanzieren und die rhetorischen Illusionen des ›topic‹ zu subvertieren, welche die filmische Narrativität auf unseren Wahrnehmungsfeldern und in unseren Vorstellungswelten auslöst. Das Photogramm schneidet die diegetische Bildfolge in einzelne Stücke, die dann in einer anderen Struktur von neuem und anders, nur als Glieder, also syntagmatisch, einander zugeordnet werden. Das Photogramm wäre beides: Schnittmuster bildend, also Relationen stiftend, und Ermöglichung dieser anderen, semantischen Wahrnehmung.« (Ebd., 11f.) Das Photogramm ist ein verbindendes Element im Zwischenraum, das nur als Glied des ganzen Films und als Relat der anderen Elemente seine Funktion erfüllt. Mit dem Photogramm kann eine asemantische, syntagmatische »Stetigkeit« (Zander 2016, 11) wahrnehmbar werden. »In ›Ce gamin, là‹ wird die Figurativität – also die Neutralisierung der Sinnbzw. Verweisungsfunktionen der Darstellung – in den kartografischen, jedoch nicht geometrisch definierten Linien, insbesondere in den ›Umwegen‹ der Fährtenlinien materialisiert. Die delignysche Figur, in der sich die Anschauungsform des Raums geometrisch visualisiert, hat die Form der Linie. Deren bidimensionale Gestalt, die durch Punkte geschnitten wird, definiert jenen Raum, der photogrammatisch als Fläche in den Blick tritt. Auf den Flächen ziehen die Kinder ihre Fährten, die als Spuren gezogen werden, während die Erwachsenen auf den Wegen (›trajets‹), die als Striche gezeichnet werden, ihren Verrichtungen nachgehen.« (Ebd., 12)

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Die »delignysche Figur« zeigt sich für Zander in Form einer Linie. Die Linie wird filmisch als konstituierende Einheit in den Sequenzen erkennbar, die beispielsweise Janmari ins Bild setzen und in denen die semantische Leitung durch den poetischen Rhythmus der Stimme übernommen wird. Es ist auch erkennbar, »dass nicht das Bild die Stimme Delignys, sondern diese das Bild abbildet« (ebd., 55). Delignys Stimme »beschriftet« die Bilder, »stellt die ›Wand‹ zur Verfügung« (ebd.) und erhebt »die Beschriftung der Bilder zum kinematografischen Argument« (ebd.). Die kinematografische Argumentation verfährt damit nicht einseitig repräsentativ, sondern repräsentativ und ästhetisch, weil Delignys Stimme eine eigenwillige Metrik über die Bilder legt. Das Zusammenwirken von repräsentativen und ästhetischen Bestandteilen macht das Photogramm aus. Das Photogramm dient dazu, die Sprachnähe im Film abzubauen und die Bilder aus einer (sprachnahen) Filmerzählung zu befreien. Ce gamin, là entwirft einen Rhythmus der verzögerten und suspendierten Zeit, durch den der Abbau wahrnehmbar ist. Wenn Deligny einerseits die Bewegungen der Kinder beschreibt, deren Um-sich-selbst-Drehen er in eine sprachliche Rhythmik des Kreisens und Wiederholens führt und er andererseits die kartierten Kreisbewegungen mit den Fingern auf den Karten folgt, dann wird eine andere Seinsweise erfahrbar. Das gelingt auch, weil er keinerlei Erklärungen für die Bewegungen der Kinder oder wissenschaftliche Einordnungen, d.h. in seinem Fall sozialpsychologische Einordnungen, vornimmt. Deligny folgt mit seiner Stimme den Spuren der Kinder, um die Kamera beziehungsweise die Bildnahme ›mitzunehmen‹, indem er die Bilder durch seine Sprachmetrik einer anderen (poetischen) Zeit unterwirft. Was Zander für den Film ausarbeitet gilt auch für die Kartografie. Den Spuren zu folgen, heißt für Zander, der »Form der Linie« zu folgen. Die Linie wird gezogen, um sie in der Spur aufzulösen. Deligny führt den Betrachter von Ce gamin, là mit seiner Stimme zu einem Abbau des Blicks als »latentem Wort« und folgt den Spuren der Kinder mit seiner Hand auf den Karten. Die Kamera folgt Delignys Spurensuche in der Lebensflächen zurückhaltend und mit Bedacht (non-présence). Die Lebensflächen (aire de séjour, cerne, coutumier) sind offene Raumfiguren des gemeinsamen Lebens von Sprachfernen und Sprachnahen. Die Flächen werden durch die kartografische Praxis aufgespannt. Die Linien werden von sprachnahen und sprachfernen Fährten und Spuren an der Wand gezogen. Den Spuren zu folgen, bedeutet aber nicht nur, sie zu filmen, aufzuzeichnen und zu kartieren, sondern vor allem, ihnen einen Platz in der Orga-

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nisation des Gemeinschaftslebens zuzugestehen (vgl. Zander 2014, 62). Um herauszufinden, wie so ein Platz »konstituiert« werden kann, muss die Gemeinschaft sich auf die Sprachferne einlassen. Die gemeinsame Lebensfläche wird durch das Gewohnheitliche (coutumier) organisiert. Gewohnheitlich heißt nicht alltäglich, sondern verweist auf die Annäherungen zwischen Sprachferne und Sprachnähe im Alltag, die mit einer Achtsamkeit für die Zwischenräume verbunden ist. Das Gewohnheitliche beschreibt die Art und Weise des Zusammenlebens unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen. Das Gewohnheitliche lenkt die Organisation der Lebensfläche, die wiederum ihre Einheit durch das Gewohnheitliche erhält. Die Lebensfläche besitzt keine einheitliche Struktur, denn sie wird durch Bewegungen ganz unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen »konstituiert«. Sie ist begrenzt und offen zugleich; wie die Kringel, die Janmari unablässig zieht und auf die weiter unten noch genauer eingegangen wird (vgl. Janmari 2013). Die Voraussetzungen für die Annäherungen und den Ansatz Delignys, den Spuren der Kinder zu folgen und das Spurenziehen zu einem Bestandteil des Alltags in der Lebensfläche zu integrieren, können auf Leo Kanners Arbeiten zurückgeführt werden. Deligny orientiert sich vor allem an Kanners Beobachtungen, der eine der ersten Beschreibungen zum frühkindlichen Autismus verfasst hat und dort diagnostiziert, dass autistische Kinder ein »basic desire for aloneness and sameness« (Kanner 1943, 249) besitzen (vgl. auch Kanner 1971). Es scheint unwahrscheinlich, dass er die ebenfalls grundlegende Arbeit von Hans Asperger (1944), die ein Jahr nach Kanners Studie auf deutsch erschien, gekannt hat, weil diese weit weniger Aufmerksamkeit erhielt und 1991 erstmals ins Englische übersetzt wurde (vgl. Frith 1991). Asperger untersucht Kinder, die vor dem Grundschulalter eine Sprachentwicklung durchlaufen und weit weniger schwere Formen von »autistischer Psychopathie« entwickeln wie die die Fälle aus Kanners Studie (vgl. Wing 1991, 96). Auch Asperger diagnostiziert ein Bedürfnis nach Einsamkeit und Gleichförmigkeit, wenn er schreibt, dass die untersuchten Kinder »in einem extremen Maße egozentrisch« (Asperger 1944, 125) sind, kaum ein Gefühl für persönliche Distanzen entwickeln und sich an einen ganz fremden Erwachsenen anlehnen, »als wäre er gar kein Mensch, sondern eine Sache, ein Möbelstück« (ebd., 125). Sowohl Asperger als auch Kanner folgern, dass die Charakteristiken der Fälle auf ein »qualitatives Anderssein« (ebd., 128) deuten, das mit »Bewegungsstereotypien« (ebd., 122) verbunden ist. Bewegungsstereotypien, fügt Asperger hinzu, haben keinen Ausdruckswert (ebd., 113). Die Stereotypien sind zwar reich an Bewegungen, bringen jedoch laut Asperger keine Gefüh-

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le zum Ausdruck. Deligny zieht ähnliche Schlüsse aus seinen Beobachtungen wie Asperger. Anders als Asperger betrachtet Deligny die Kinder jedoch nicht von einer gesellschaftlichen Norm aus, um Merkmale der Anormalität zu diagnostizieren und um beispielsweise zu schließen, dass ihnen eine »Lust an der Bosheit« (Asperger 1944, 121) selten fehlen würde. Asperger nimmt – anders als Kanner – auch Bezug auf die Arbeiten von Bleuler, der 1911 den Begriff Autismus als ein Grundsymptom der Schizophrenie einführt (vgl. Bleuler 1911). Der in Aspergers Arbeit diagnostizierte extreme Egozentrismus leitet sich von Bleulers Verwendung des Autismusbegriffs ab, der auch in der Psychoanalyse von Jung (Introversion) und Freud (Narzissmus) aufgegriffen wird und den Bleuler als eine »aktive Abwendung von der Außenwelt« (Bleuler 1912, 1) bezeichnet. Kanner weicht deutlicher von Bleuler ab und versteht den frühkindlichen Autismus dementsprechend nicht wie Asperger als eine Extremvariante eines Persönlichkeitszuges, sondern als einen von Geburt an defizitären Aufbau sozialer Interaktionen (vgl. Sinzig 2011, 2ff.). Deligny schließt an Kanners Arbeiten an, kehrt den defizitären Aspekt jedoch um. Für Deligny ist die Leere in den Gesten der Kinder keine Abnorm, sondern ein neuer Maßstab und Orientierungspunkt für die Organisation der Lebensfläche. Es geht darum, zu lernen, wie das Bedürfnis nach Einsamkeit und Gleichförmigkeit von allen gleichermaßen geachtet werden kann. Den Spuren zu folgen, ist der erste Schritt, um mehr über die Bedürfnisse der anderen Seins- und Wahrnehmungsweisen zu lernen. Die Kamera kann die diagnostizierten Stereotypien ohne Ausdruckswert, die Leere der Gesten und das Geschehen in den Zwischenräumen von Sprachferne und Sprachnähe erfassen und im Photogramm erfahrbar machen. Die Kamera hebt wie beispielsweise in Abbildung 10 die Gesten der einzelnen Kinder hervor und zeigt Hände, Münder, Kreise auf Karten etc. Mit der Tonspur werden die Bilder rhythmisiert und mit einer Metrik, Kinderlauten oder dem Klopfen auf Gegenständen verbunden (vgl. Abb. 5-9). Stimmen, Geräusche und Laute fließen in einer Tonspur, in einer Linie zusammen, die sich in der Spur der Kinder verliert und im Film ›abgebaut‹ wird. Der ›Verlust‹ der Linie hat seinen Grund nicht darin, dass die Kamera vor die Unmöglichkeit gestellt wäre, weiter folgen zu können oder die Stimme den Sprachabbau nicht stützen könnte, sondern weil »es die Linie selbst [ist], die sich, da Spur, verliert« (Zander 2016, 55). Ce gamin, là ermöglicht einerseits eine andere Art und Weise des Sehens mittels des Abbaus des sprachnahen Blicks, d.h. des Abbaus des Blicks, der der Logik der Sprache folgt. Was beispielsweise mit dem Abbau eines re-

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glementierten und kompositorischen Blicks im abstrakten Expressionismus vergleichbar ist. Andererseits sucht der Film nach »Interaktionsräumen« unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen. Der Abbau von Sprache im Sehen dient dementsprechend auch dazu, die »Interaktionen« sichtbar zu machen. Hierfür ist der Zwischenraum, das dritte Haus beziehungsweise die »Wand« erforderlich. Die ›Zerlegung‹ des Films in Fragmente, Teilsegmente bis hin zu Photogrammen ermöglicht es Zander, Ce gamin, là als einen ›kartografischen‹ Film zu verstehen, der mit filmischen Mitteln umsetzt, was die Kartografie auf Blättern mit Tusche und Stiften zeigt.

Das außersprachliche Unbewusste Mit der »Konstitution« eines rhizomatischen Netzwerks distanziert sich die Lebensgemeinschaft um Deligny vom Strukturalismus. Die unbewussten Strukturen, die für Lévi-Strauss dem Denken und Handeln der »Individuen« in unterschiedlichen Kulturen zugrunde liegen, können nicht mit dem sprachfernen Unbewussten, das dem Agieren der autistischen Kinder zugrunde liegt, in Einklang gebracht werden. Das Unbewusste befindet zwar in beiden Fällen außerhalb intentionaler Denkvorgänge, die Bezugspunkte und Annäherungen an ein sprachfernes Unbewusste unterscheiden sich jedoch. Das sprachferne Unbewusste steht nicht in Verbindung zu einem Begehren, der Sprache oder einem Willen. Wie lässt es sich überhaupt verstehen? Foucault hält in einem kurzen Gespräch 1981 über Lacan fest: »Er [Lacan] wollte die Psychoanalyse aus der Nähe zur Medizin und den medizinischen Institutionen lösen, weil er diese Nähe für gefährlich hielt. Er suchte in ihr keinen Prozess der Normalisierung von Verhalten, sondern eine Theorie des Subjektes. Deshalb ist sein Denken trotz seines scheinbar extrem spekulativen Diskurses all jenen Bemühungen keineswegs fremd, die man unternommen hat, um die Praxis der Psychiatrie in Frage zu stellen.« (Foucault 2005b, 248) Deligny suchte sicherlich nicht nach einer Theorie des Subjekts, doch sein Widerstand gegen Normierungsprozesse und gegen die Praxis der Psychiatrie sind offenkundig. Während Lévi-Strauss sich in Bezug auf das Unbewusste an Freud orientiert, um ein anthropologisches Modell zu finden, das es ihm ermöglicht, strukturale Eigenschaften des Geistes ausfindig zu machen, scheinen Delignys Arbeiten in größerer Nähe zu Lacan zu stehen. Lévi-Strauss abs-

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glementierten und kompositorischen Blicks im abstrakten Expressionismus vergleichbar ist. Andererseits sucht der Film nach »Interaktionsräumen« unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen. Der Abbau von Sprache im Sehen dient dementsprechend auch dazu, die »Interaktionen« sichtbar zu machen. Hierfür ist der Zwischenraum, das dritte Haus beziehungsweise die »Wand« erforderlich. Die ›Zerlegung‹ des Films in Fragmente, Teilsegmente bis hin zu Photogrammen ermöglicht es Zander, Ce gamin, là als einen ›kartografischen‹ Film zu verstehen, der mit filmischen Mitteln umsetzt, was die Kartografie auf Blättern mit Tusche und Stiften zeigt.

Das außersprachliche Unbewusste Mit der »Konstitution« eines rhizomatischen Netzwerks distanziert sich die Lebensgemeinschaft um Deligny vom Strukturalismus. Die unbewussten Strukturen, die für Lévi-Strauss dem Denken und Handeln der »Individuen« in unterschiedlichen Kulturen zugrunde liegen, können nicht mit dem sprachfernen Unbewussten, das dem Agieren der autistischen Kinder zugrunde liegt, in Einklang gebracht werden. Das Unbewusste befindet zwar in beiden Fällen außerhalb intentionaler Denkvorgänge, die Bezugspunkte und Annäherungen an ein sprachfernes Unbewusste unterscheiden sich jedoch. Das sprachferne Unbewusste steht nicht in Verbindung zu einem Begehren, der Sprache oder einem Willen. Wie lässt es sich überhaupt verstehen? Foucault hält in einem kurzen Gespräch 1981 über Lacan fest: »Er [Lacan] wollte die Psychoanalyse aus der Nähe zur Medizin und den medizinischen Institutionen lösen, weil er diese Nähe für gefährlich hielt. Er suchte in ihr keinen Prozess der Normalisierung von Verhalten, sondern eine Theorie des Subjektes. Deshalb ist sein Denken trotz seines scheinbar extrem spekulativen Diskurses all jenen Bemühungen keineswegs fremd, die man unternommen hat, um die Praxis der Psychiatrie in Frage zu stellen.« (Foucault 2005b, 248) Deligny suchte sicherlich nicht nach einer Theorie des Subjekts, doch sein Widerstand gegen Normierungsprozesse und gegen die Praxis der Psychiatrie sind offenkundig. Während Lévi-Strauss sich in Bezug auf das Unbewusste an Freud orientiert, um ein anthropologisches Modell zu finden, das es ihm ermöglicht, strukturale Eigenschaften des Geistes ausfindig zu machen, scheinen Delignys Arbeiten in größerer Nähe zu Lacan zu stehen. Lévi-Strauss abs-

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trahiert ausgehend von Freud die Strukturen der Verwandtschaft verschiedener Völker nicht als, sondern wie sprachliche Strukturen (vgl. Münker, Roesler 2000, 8f.). Delignys Nähe zu Lacan kann nicht mit dieser Abstraktionsleistung verglichen werden. Sie ergibt sich schlicht dadurch, dass Deligny sich mit den Strukturen der Sprache an ihren Grenzen befasst. »Lacans Versuch, eine von Lévi-Strauss beeinflusste strukturalistische Methode in der Psychoanalyse zu entwickeln, bietet uns das fehlende Bindeglied für einen Vergleich der verschiedenen Ebenen, auf denen Freud die Funktionsweise des psychischen Apparates und Lévi-Strauss die fundamentalen Strukturen des Geistes zu entdecken versuchen. Die Sprache ist nicht einfach wie bei Freud Lieferant von Repräsentanzen, deren Struktur nicht weiter untersucht werden muss. Sie besitzt selbst schon eine Struktur, die das Spiel der Repräsentanzen bestimmt, über deren Dynamik das individuelle Unbewusste sich entschlüsselt.« (Nagel 1970, 258) So wie Lacan mit Lévi-Strauss über einen freudschen repräsentativen Gebrauch der Sprache hinausgeht, versucht Deligny sich von den Strukturen der Sprache zu entfernen, um sich der Sprachferne annähern zu können. In beiden Fällen werden die Denkbewegungen von räumlichen Modellen begleitet. Lacan kritisiert jedoch an Freuds räumlichen Modellen, dass es ihnen einer Topologie mangeln würde (vgl. Evans 2006, 210). Die Topologie befasst sich als Teilgebiet der Mathematik mit der Untersuchung von kontinuierlichen Eigenschaften (Stetigkeit) von mathematischen Strukturen. Sie trägt zum Verständnis der Transformation der Strukturen bei, die beispielsweise von Zander mit dem Photogramm untersucht wird. Durch das Photogramm wird asemantische, syntagmatische »Stetigkeit« (Zander 2016, 11) erfahrbar. Für Lacan trägt die Topologie auch zu einem Verständnis der Transformation von Strukturen jenseits symbolischer, grammatikalischer Ordnungen bei. Die Topologie operiert zwar logisch und konsistent innerhalb symbolischer, grammatikalischer Ordnungen, ist jedoch selbst kein Teil dieser Ordnungen, weil Topologie für Lacan nichts repräsentiert, sondern lediglich die Form der Repräsentation sichtbar macht (vgl. auch Ragland-Sullivan; Milovanovic 2004, xviff.). Die topologische Form der Repräsentation hat dementsprechend eine paradoxe – beispielsweise mathematische oder hier: topografische – Struktur (vgl. Greenshields 2017, 37ff.). Durch paradoxe Strukturen werden topologische Formen als Repräsentation des Nicht-Repräsentierbaren wahrnehmbar. Ein Beispiel für ein topologische Form ist ein Möbiusband.

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Ein Beispiel für eine Struktur ist das freudsche Modell »Das Ich und das Es« (Freud 1923, 26). Freud lässt sich in seiner sogenannten ersten Topik von G. Th. Fechtners Vermutungen leiten, dass »der Schauplatz der Träume ein anderer sei als der des wachen Vorstellungslebens« (Freud 2005, 527), um die »psychischen Lokalitäten« von den anatomischen zu trennen, um »Hilfsvorstellungen zur ersten Annäherung an etwas Unbekanntes« (ebd., 528) zu erhalten. Auch in der zweiten Topik, dem Strukturmodell der Psyche in »Das Ich und das Es« entwirft Freud zwar ein konkretes räumliches Modell, räumt jedoch ebenfalls ein, dass Abgebildetes »nur der Darstellung dienen« und »keine besondere Deutung beanspruchen soll« (Freud 1923, 26f.). Lacans Kritik an Freud betrifft den metaphorischen Gebrauch des Raums, der sich auf eine Anschauung der Strukturen beschränkt, ohne die Strukturen als solche in einer Topologie zur Geltung zu bringen. Rancière argumentiert vergleichbar, dass Freud zwar einen (ästhetisch) produktiven Raum von Bewusstem und Unbewusstem eröffnet, dass er diesen produktiven Raum jedoch mit repräsentationslogischen Mitteln widerruft (vgl. Rancière 2008a, 60f.). Eine Topologie ist für Lacan eine eigenständige Struktur, die keinerlei metaphorischer Einsätze mehr bedarf. Lacan sucht in seiner topologischen Erweiterung keinen Zugang zum Unbewussten, das nie ein Objekt des Bewusstseins sein kann. Das Unbewusste ist vielmehr die anamorphotische Seite des Bewussten und kann nicht davon getrennt werden. Diese Doublette aus Bewusstem, Fassbarem und dessen verzerrter Seite voller Anomalien, erfordert einen Denkraum, der für Lacan topologisch ist. Es geht um einen Raum, der noch unbekannt ist und sich an den Grenzen des Denkens befindet (vgl. Blum, Secor 2014; Blümle 2015). Freud geht, so der Vorwurf Lacans, in der Erkundung dieser Räume nicht weit genug, weil er sich noch einem positivistischen Wissenschaftsverständnis verpflichtet fühlt. Die Frage, ob die Psychoanalyse eine Wissenschaft sei, trieb Freud Zeit seines Lebens um, wohingegen Lacan den Rahmen bewusst auf eine Topologie der Zwischenräume verschiebt und die Frage umkehrt: »What is a science, which includes psychoanalysis?« (Lacan 2001, 187; zit.n. Friedman, Tomšič 2016, 11). Seine Intervention in den Positivismus des Wissenschaftsdiskurses, den Freud in seiner Frage noch mit sich trägt, geht einen Schritt weiter und schließt das Anamorphe in die Wissenschaft mit ein. Das Verzerrte oder Fehlerhafte ist für Lacan konstitutiver Bestandteil der Wissenschaften, die sich mit den Zwischenräumen im dritten Haus nach wie vor schwertun. Mit einer Topologie weist er zum einen die metaphysischen Dualismen zwischen

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Körper und Geist, Subjekt und Objekt und zum anderen den Monismus der Neurowissenschaften von sich. Es gibt keine körperliche Substanz auf der einen Seite und geistige Prozesse auf der anderen Seite, sondern vielmehr eine zwischenräumliche Materialität psychischer Prozesse. Die zwischenräumliche Materialität zwingt das Subjekt in der Praxis dazu, mit dem Objekt zu denken (vgl. Friedman, Tomšič 2016, 114). Das Spiegelbild macht die zwischenräumliche Materialität wahrnehmbar. Das Spiegelstadium ist für Lacan das Paradigma, das die Beziehung zwischen dem Organismus und ›seiner‹ Realität, zwischen ›Innenwelt‹ und ›Umwelt‹ herstellt. Das Bild ist somit der Ursprung jedes Selbst-Entwurfes (vgl. auch Coccia 2020a, 85ff.). Die exemplarische Figur der Praxis des ›mit-dem-Objekt-denken‹ ist das Möbiusband, das ein ringförmig verdrehtes Band mit nur einer Fläche und einer Kante ist. Man kann am Möbiusband nicht zwischen unten und oben, innen und außen unterscheiden. Eine Kartierung vorzunehmen ist für Deligny in ganz ähnlicher Weise eine Erfahrung und Öffnung von Zwischenräumen. Die Zwischenräume befinden sich an den Grenzen sprachlicher und außersprachlicher Welten und werden von der Wand (paroi) im dritten Haus eröffnet. Die Wand ist für Deligny zugleich auch eine Leinwand (écran), auf die beispielsweise auch Filme projiziert werden können, vergleichbar mit einem Schirm, der das Licht einer Lampe durchlässt (vgl. D 2011, 38ff.). Auf den Karten werden Zwischenräume sichtbar, ähnlich wie ein Film auf einer Kinoleinwand sichtbar wird. Hier zeigt sich bereits eine Nähe zu den Arbeiten Lacans: »In der Tat geht es hier um etwas, dessen Abwesenheit auf einem Bild sich immer bemerkbar macht – anders als in der Wahrnehmung. Es ist das zentrale Feld, auf dem das trennende Vermögen des Auges im Sehen maximal zur Entfaltung kommt. Bei jedem Bild kann es nur abwesend sein und durch ein Loch ersetzt – letztlich ein Reflex der Pupille, hinter der der Blick ist. Folglich, und insofern das Bild in ein Verhältnis zum Begehren tritt, ist der Platz eines zentralen Schirms [écran] immer markiert. Dieser ist genau das, wodurch ich, vor dem Bild, als Subjekt aus der geometralen Ebene herausgenommen bin.« (Lacan 2015, 115; Ergänzung von mir) Der Schirm steht für Lacan in einer Vermittlerfunktion zwischen dem »Subjekt des Begehrens, welches das Wesen des Menschen ausmacht« (ebd., 114) und dem Blick, d.h. dem Un-/Vermögen des Auges eines Subjekts des Begehrens. Das Subjekt unterscheidet sich vom Tier dadurch, dass es sich von einem »imaginären Befangensein« (ebd.) loslösen kann, indem es die Funkti-

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on des Schirms einsetzt. Deligny distanziert sich deutlich von einem Subjekt des Begehrens oder einem damit verbundenen Wesen des Menschen, doch die Karten stehen in ähnlicher Weise in einer Vermittlerfunktion: »In Wahrheit führten uns diese ›Karten‹ nirgendwo hin.  In Wirklichkeit bildeten sie einen Schirm [écran].« (D 2011, 38; Ergänzung von mir) Der Schirm vermittelt, wie Deligny ein Jahr später präzisiert (1983), zwischen dem, was repräsentierbar ist und dem, was sich jenseits des Repräsentierbaren befindet. »Vor meinen Augen ist das Blatt am Lampenschirm [à l’abat-jour] angeheftet – Wand [paroi] also, weder Fenster noch Spiegel.« (D 2014, 22; vgl. D 2007a, 1514; Ergänzungen von mir) Das Blatt am Schirm ist lichtdurchlässig. Es ist nicht durchsichtig für das Auge und es reflektiert auch nicht. Es erzeugt ein materielles Dazwischen, indem es den Erfahrungen, die die Kartograf:innen mit der Sprachferne machen, eine nichtrepräsentative Form auf den Karten verleiht. Aus diesem Grund ist die Wand (paroi) ein »gemeinsamer Ort« (D 2014, 23), der durch die Karten (écran) aufgespannt wird und zwischen diesen Welten »vermittelt«. Da diese Welten denkbar weit auseinanderliegen, sind Verbindung zwischen ihnen allein im (ästhetischen) Zwischenraum des dritten Hauses möglich. Die Verbindungen ergeben sich im Alltagsleben mit den Kindern und können initiiert werden (vgl. Abb. 5-11). Die Schwierigkeit, den Verbindungen nachzugehen, liegt nun darin, dass ein sprechfernes Sein nicht in ein (sprachliches) Schema der Repräsentation übersetzbar ist. »What seems clear to me is that this autistic individual with whom I live in closest possible proximity, which means I willingly accept his being distant, HE being merely the subterfuge required by the fact that I’m speaking about him, it may well be that he doesn’t even have a window. His ›tracings‹ represent nothing; it would be better to say that they do not represent.« (D 2015, 147) Das Agieren der autistischen Kinder lässt sich, selbst wenn man es über Jahre hinweg aus nächster Nähe beobachtet, filmt und kartiert, nicht auf eine sprachliche Repräsentation zurückführen. Der Zwischenraum des dritten Hauses bleibt unförmig und der Abstand (aus repräsentativer Sicht) kaum fassbar.

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»So, what does it mean to ›comprehend‹ these children? Does it mean showing them a form of comprehension that would be like a well-intentioned embrace? As one might well imagine, this is our first impulse, or rather was the first impulse, and then that vague impulse receded, like the tide. The children had already been drowned by the wave [vague], or nearly. What still remained to be uncovered between us and them was the here: the topos.  When I say between, I don’t want to evoke a barrier, but on the contrary what we have – at least – in common: topos, the living area, outside.« (D 2015, 156) Ein erster – von Deligny oft beobachteter – Impuls, diesen Zwischenraum zu betreten, und eines der autistischen Kinder aus einem ›menschlichen‹ Gefühl heraus, einfach zu umarmen, scheitert, weil die Intentionen und Gefühle keinen teilbaren Raum zur Verfügung stellen. Sie öffnen keinen topos, sondern fordern einen logos. Sie fordern einen bestimmten Sinn, der sich zu einem Sinnlichen in bestimmter Weise verhält. Das Hier, zwischen Sprachnahen und Sprachfernen, ist in erster Linie ein ganz materieller (Lebens-)Raum, der von allen Anwesenden geteilt werden kann, sobald er entdeckt beziehungsweise gelebt wird. Der Zwischenraum muss für Deligny topografisch, als »a topography of living areas« (D 2015, 157) »konstituiert« werden. Eine Kartierung der Lebensräume außerhalb der Zwischenräume macht keinen Sinn. Die Karten können der Gemeinschaft keine bestimmte Ordnung aufzwingen oder ein neues Wissen zum Verständnis einer ›autistischen Lebenswelt‹ anbieten. Sie können aus einer sprachnahen und repräsentationslogischen Perspektive nicht eingeordnet werden. In diesem Sinne hält auch Lacan zu den räumlichen Modellen fest: »Models are very important. Not that they mean anything – they mean nothing. But that’s the way we are – that’s our animal weakness – we need images. And sometimes, for lack of images, some symbols don’t see the light of day.« (Lacan 1991b, 88; zit.n. Wegener 2016, 47) Die Bedeutung der Modelle oder Karten haben allein für die Zwischenräume und die Erfahrungen der Zwischenräume Relevanz. Das Kinderspiel im oben genannten Beispiel kann im gleichen Sinn als bedeutungslos abgetan werden. Die Bedeutungslosigkeit lässt sich jedoch nur im Modus der Repräsentation konstatieren.

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»It was in vain that Darwin said all paths lead to man if they are seen form man’s perspective, the perspective of man deprived of ,nature‹.  […]  And here we are, Janmari and I, at the transition point, hand quivering and overloaded with wanting to say [vouloir dire]. I believe that his hand passes through that point, and that we are indeed dealing with the laws of nature, nature being refractory to the point that freedom becomes lost within it, loses its name, but then, perhaps, what marvelous findings …« (D 2015, 179; Hervorhebung von mir) Deligny vermutet, dass die bedeutungslosen Gesten von Janmaris Hand einen »natürlichen« Grenzpunkt überschreiten können. Es könnte der Grenzpunkt sein, der unsere Handbewegungen auf einem Möbiusband stocken lässt; eine Bewegung, die wir nur mit Unterbrechungen ausführen können, denn man muss entweder das Band ›umdrehen‹ oder sich selbst, um sich mit dem Finger weiter darauf bewegen zu können. Der Widerstand (nature being refractory) ergibt sich womöglich auch durch unseren sprachbewussten Körper dem bestimmte Grenzen auferlegt sind, wodurch sich umgekehrt manche von Janmaris Bewegungen kaum einordnen lassen und ›unnatürlich‹ wirken, wie es unschwer in den Filmszenen zu erkennen ist (vgl. bspw. D2007d, 0:16:000:24:00). Das Möbiusband zeigt – beziehungsweise ist – eine nicht orientierbare Fläche, für die nicht festgelegt ist, welche ihrer zwei Seiten die Außen- oder Innenseite ist. Es macht genau genommen keinen Sinn, ein Möbiusband ›umzudrehen‹, weil es nur eine Fläche mit nur einer Seite hat und Innen- oder Außenseite immer zugleich vorhanden sind. Eine Unterscheidung zwischen Innen und Außen kann aus diesem Grund nicht getroffen werden, ganz gleich, wie man das Möbiusband wendet. Lacan hält zu dieser Figur auch fest: »Es ist das, was ich kein Spiegelbild zu haben nenne« (Lacan 2011, 126). Kein Spiegelbild zu haben, bedeutet, keine Ich-Funktion, kein ›Selbst‹ herausbilden zu können (vgl. Lacan 1986). Ohne eine Ich-Funktion ist keine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt möglich. Damit fehlt ein imaginäres Bild, das im Spiegelstadium von einem Selbst erzeugt wird und ohne diese Selbstidentifikation, ohne ein Selbstbild, verschiebt sich auch der Zugang zum Zeichensystem Sprache. Aus der Sprachferne gibt es keinen direkten Zugang zum Haus der Sprache. Der Weg durch das dritte Haus ist unerlässlich. Lacan hat für den Weg durch das dritte Haus ein größeres Vertrauen in den logos gesetzt als Deligny, der seine Skepsis gegenüber dem Wort und dem

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Sinngehalt der Wörter in seiner Auseinandersetzung mit Lacans Schriften Ausdruck verleiht: »I have mentioned that I have read, and sometimes even re-read, a good number of pages written in psychoanalysis. I have called it a foreign language. But where might the foreignness come from? Perhaps it’s that the thing, the real [from: res], doesn’t exist in that language, to the point that autism is envisioned like a charade, the subject going silent and seeking refuge in identification with some object in which obliteration of the subject would be seen.« (D 2015, 172) Der psychoanalytische Zugang ist Deligny fremd und er formuliert auch seine Unsicherheit gegenüber dieser ›Sprache‹, für die die Formen des Autismus nicht viel mehr als ein Rätsel auf einem Nebenschauplatz sein können. In Delignys Lesart wird das Subjekt in der Psychoanalyse Lacans a priori gesetzt und das Objekt steht in Abhängigkeit zu diesem a priori. Doch damit wird er den späten Arbeiten von Lacan nicht gerecht. Warum Deligny ihm nicht gerecht wird, lässt sich anhand an einer topologischen Figur begründen: dem Borromäischen Knoten (vgl. Lacan 2017, 33). Mittels der topologischen Struktur des Borromäischen Knotens untersucht Lacan die Verknotung der Register des Symbolischen, des Imaginären und des Realen. Die Register sind in gleicher Weise voneinander abhängig wie die Komponenten des Borromäischen Knotens. In der Strukturbestimmung des Psychischen sind das Reale, das Symbolische und das Imaginäre unauflösbar miteinander verbunden. Lacan erweitert Freuds Strukturmodell der Psyche, um ein postcartesianisches Subjekt zum Einsatz zu bringen, mit dem seine Gespaltenheit in drei Register thematisiert werden kann (vgl. Lacan 2015, 83f.). Die Gespaltenheit und die gegenseitige Abhängigkeit der Register kann allerdings zu einer verkürzten Schlussfolgerung führen, durch die das Symbolische mit dem ersten Haus (Sprache), das Imaginäre mit dem zweiten Haus (Bild) und das Reale mit dem dritten Haus (Zwischenraum) verbunden wird. Verbindungen dieser Art wären verkürzt, weil Lacan die drei Register ausgehend von einem Subjekt des Begehrens denkt und weil er in der Topik der drei Register eine (neue) topologische Subjektstruktur findet, die die Geteiltheit, Unwissenheit, Gespaltenheit und Alterität des Subjekts zeigt. Das ›sich zeigen‹ liegt für Lacan jenseits des Repräsentierbaren. Es ist jedoch zugleich auch mit diesem ›Jenseits‹ verknotet. Das Haus der Sprache ist für Lacan nicht das Haus des Seins, denn ohne die beiden anderen Häuser fehlt Wesentliches. Die drei Häuser bilden einen (borromäischen) Knoten und las-

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sen sich auch nur in dieser dreigliedrigen Struktur denken. Das Haus der Sprache ist von den imaginären und realen Strukturmomenten der anderen Häuser durchdrungen, d.h., Sprache ist aus dieser Perspektive immer bereits imaginär und real. Durch die Struktur wird keine bestimmte Subjektform sichtbar, sondern die konstitutive Gespaltenheit des Subjekts. Die Topologie des Knotens zeigt die dreigliedrige Gespaltenheit und geht dem Subjekt in seiner Verfasstheit gewissermaßen »als Stütze« (Lacan 2017, 47ff.) voran. Reales, Symbolisches und Imaginäres sind nur konsistent, weil deren Kontinuität vom Knoten getragen wird. »Die Analyse [Psychoanalyse] findet ihre Verbreitung darin, dass sie die Wissenschaft als solche in Frage stellt – die Wissenschaft insofern, als sie ein Objekt zum Subjekt macht, während es dagegen das Subjekt ist, das in sich selbst gespalten ist. Wir glauben nicht an das Objekt, aber wir konstatieren das Begehren, und von dieser Konstatierung des Begehrens leiten wir die Ursache als objektiviert ab.  Das Begehren nach Wissen trifft auf Hindernisse. Um dieses Hindernis zu verkörpern, habe ich den Knoten erfunden. An dem Knoten muss man zerbrechen. Ich will sagen, dass alleine der Knoten der fassbare Träger eines Verhältnisses zwischen irgendwas und irgendetwas ist. Auch wenn er einerseits abstrakt ist, so muss er dennoch konkret gedacht werden« (Lacan 2017, 38; Ergänzung von mir) An dem Knoten zerbricht man jedoch nur, wenn die Seinsweise eines »Individuums« in Form eines Begehrenssubjekts gefasst wird. Die Autist:innen in der Gemeinschaft um Deligny bewegen sich jedoch außerhalb des Hauses der Sprache und jenseits des Begehrens. Lässt man das Subjekt des Begehrens und einen repräsentativen Sprachgebrauch außen vor, zerfällt der gesamte Knoten, denn die Bestandteile können nur als miteinander verbunden gedacht werden. »I firmly believe that all doing and making is language, if it is only doing one’s business, or making love, or whatever you like, including making war, as the case may be.  That fact that, when we’re dealing with the stars, the real is outside is not open to doubt. But the real perceived by a human being who is not conscious of being, this too is the real. Can one say that this real is inside?  It seems to me that Lacan would answer that there is nothing to this: ›Every-

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thing which is human has to be ordained within the universe constituted by the symbolic function. […] If the symbolic function functions, we are inside it. And I [Lacan] would even say – we are so far into it that we can’t get out of it.‹« (D 2015, 205; Ergänzung von mir) Das außersprachliche Sein dieser Kinder scheint auf ein unbestimmbares Außen zu verweisen, das kaum Bezug zum lacanianischen Realen hat. Demnach kann auch nicht geschlossen werden, dass sie im Realen leben würden. Delignys Skepsis gegenüber dem Register des Realen zeigt sich wie folgt: »What does Lacan mean when he invites us to reflect, if only for an instant, to reflect ›in the real‹? Does he mean by putting ourselves in the place of the elephant [contingent animal individual] from outside, over there on the book cover [Einbandgestaltung Lacan 1991a], to cross the threshold and come sit down with the present company? Lacan makes it clear: there is no need for a real elephant. The word is enough. IT is there, ›more real‹ than an individual elephant, situated, ,contingent‹.  Contingent? […]  I suspect that I grab a word the way one would grab a marked piece in a subtle game of dice, and that I use it as I would a pebble.« (D 2015, 133; Ergänzungen von mir) Hier betont Deligny vor allem den Gebrauch der Sprache, den er unterschieden wissen will von einem ›zweckfreien‹ beziehungsweise indirekt intentionalen Gebrauch von Objekten in einem Spiel. Zu Delignys skeptischer Haltung gegenüber der Psychoanalyse kommt noch hinzu, dass sich die begriffliche Bestimmung des Realen in dieser frühen Schrift von den späteren Schriften unterscheidet. Denn in den späten Schriften und vor allem in Seminar XXII und XXIII arbeitet Lacan eine Topologie der Knoten aus, die Nähen zur Topologie der kartografischen Zeichen beinhaltet. Die Nähe zeichnet sich dadurch aus, dass beide Topologien mittels des dritten Hauses »konstituiert« werden können und dass sie bekannte Dualismen zwischen Geist und Körper aushebeln. Aus lacancianischer Perspektive gilt dementsprechend: »every living body has a topology« (Miller 2004, 35), woraus sich mit Coccia auch weiter ableiten lässt: »Alle Lebewesen erzeugen unentwegt Sinnliches« (Coccia 2020a, 63). In beiden Fällen werden die Strukturen sinnlicher Topologien als Strukturen (jenseits einer einseitigen Logik der Repräsentation) wahrnehmbar. Der Borromäische Knoten ist für Lacan eine operationale Stütze. Er dient nicht dazu, die Strukturen des Realen, Symbolischen und Imaginären zu re-

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präsentieren. Das Reale, Symbolische und Imaginäre lassen sich nicht repräsentieren. Sie ›existieren‹ außerhalb des Repräsentierbaren. Der Knoten bringt die Unmöglichkeit zum Ausdruck, dies adäquat ausdrücken zu können. Das Möbiusband ist die paradoxale Struktur, die den Knoten ausmacht, beziehungsweise die der Knoten ›knotet‹. Greenshields fasst in seiner Arbeit zur Struktur des Subjekts bei Lacan zusammen: »Where the Möbius strip allowed him [Lacan] to show how meaning (as the union of signifier and signified) is endlessly deferred, the knot allowed him ›[n]ot to [show] … how meaning arises, but how … the object arises.‹« (Greenshields 2017, 132f.; erste Ergänzung von mir) Das Möbiusband ist für Lacan der nicht-euklidische Ort, an dem keine Orientierung möglich ist, der keinen Halt bietet und keine Positionierung erlaubt. Es gibt keinen Punkt, von dem eine adäquate Zuschreibungen erfolgen könnten. Die Unterscheidung zwischen Innen und Außen führt zu einer endlosen (und sinnlosen) Bewegung des ›Umdrehens‹. »However, the structural equivalence cannot be represented; we can draw either a straight line or a circle, not both at the same time. Therefore, any representation of the knot invariably fails to capture its object, which, rather than being brought into existence by its image, is successfully demonstrated, precisely through failure, as ex-sistent. There is no ideal form of the knot, no perfect figuration of consistence and ex-sistence, finitude and infinitude.« (Ebd., 28) Der Knoten existiert nicht, er ek-sistiert. Mit dem heideggerschen Ausdruck ist gemeint, dass der Knoten nur als endlose (und unsinnige) Bewegung des Umdrehens ›existiert‹, heißt, dass er nicht wirklich existiert. Der Bindestrich in ›Ek-sistenz‹ drückt eine a-metaphysische und auch a-hierarchische Denkbewegung aus, die sich von einem Ordnungsschema zwischen Sinn und Sinnlichem distanziert. Der Knoten verkörpert diese Paradoxie. Wie aber unterscheidet sich das sprachferne Reale vom lacanianischen Realen? Denn das sprachferne Reale hat keinen Bezug zum Imaginären oder Symbolischen und müsste aus einem einzenlnen Ring bestehen. Auf die Frage antwortet Deligny mit einer verwirrenden Gegenfrage: Er fragt, ob sich das ›andere‹ Reale nicht außerhalb des Knotens, sondern innerhalb (inside) der Seinsweise der Kinder befindet. Was ist dann aber unter einem Realen ›im Inneren‹ zu verstehen und inwiefern macht es Sinn, von einem Realen zu sprechen, das in keinerlei Verknotung mit anderen Registern existiert?

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Das Reale hat einen (negativen) Bezug zum Symbolischen. Es befindet sich zwar vollständig außerhalb des Symbolischen, teilt jedoch eine Grenze mit ihm und dem Imaginären. »To insist on the plurality of the word réel suggests that each one of us is a singular being, which is no doubt true for us – felt by us – but not for Janmari. It would be better to say we are reality [le réel], if only ever so slightly, except that we have long since lost the habit of being real. And rather than evoking habit, we ought to speak attitudes.  Because from Janmari’s seeing point – the third eye – the real has innate forms; why not say the word: I have nothing to lose.  I’m speaking in a different language.« (D 2015, 174; Ergänzung von mir) Für Janmari spielt die gesamte Pluralität des Begriffs des Realen (réel) keine Rolle und es wäre, so Deligny, sinnvoller, davon zu sprechen, dass unsere Seinsweise dieses Reale ist (we are reality [le réel]). Daraus folgt, dass Realität für Janmari Objekt ohne Subjekt(e) ist. In diesem Sinn könnte man sich als Antwort auf die oben gestellte Frage Janmaris Seinsweise als eine ›maschinische‹ Seinsweise vorstellen, in der die Wahrnehmung von Welt, Selbst, Anderen und Gemeinschaft gegenständlich und maschinell ausgeprägt ist. Zwischen dem ›eigenen‹ Arm und einem Stock oder Ast gibt es in dieser Seins- und Wahrnehmungsweise kaum wesentliche Unterschiede, denn beides sind Bestandteile eines ›maschinischen‹ Kontinuums. Ein Körper ohne ›Ich‹ nimmt dementsprechend nichts wahr, denn er ist mit all seinen Funktionen Wahrnehmung. Sein gesamtes Sein ist ein Sein als Wahrnehmungsmaschine. Deligny unterscheidet die Seinsweise, in der es keinerlei Selbstbezug gibt, von einer animalischen instinkt- oder triebgesteuerten Seinsweise, die oftmals mit Primitivität und Aggressivität verbunden wird. »Und wir sind immer am Tag vor schrecklichen Tagen, der gute Glaube – an den Menschen – ist nicht umsonst da, das Eine des Einzelnen ist der Brennpunkt einer bestimmten Idee vom Menschen, während das Menschenwesen keine Ideen hat – nicht aus Ideen besteht. Das läuft darauf hinaus, dem Menschen dieses Privileg (das er sich selbst gegeben hat), das Reale zu kastrieren, um seine Realität zu begründen, zu nehmen. Claude Lévi-Strauss sieht in diesem Privileg die erste Ursache (causa prima) dieses einzigartigen Wahns, in dem die gegenseitige Vernichtung für unvermeidlich gehalten wird und der daher auf schlecht gezähmte instinktive Triebe zurückgeführt

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wird, obwohl sich hier anhand der autistischen Kinder zeigt, dass die Aggressivität einer der – manifestierten – Beweise für die (manifestierte und nicht manifeste) Existenz des Selbst (soi) ist.« (D 2016, 69f.) Der Verzicht auf dieses Privileg hat nicht zur Folge, dass sich ein animalisches Stadium bemerkbar machen würde. Die Seinsweise der Kinder ist weder triebgesteuert noch trägt sie irgendeine Form von ›primitiver‹ Aggressivität in sich. Das zeigt sich in Ce gamin, là (D 2007d) und auch in Le moindre geste (D 2007c). In Le moindre geste zeigt sich vor allem auch, wie Janmaris ›maschinische‹ Seinsweise mit den Maschinen der Baustelle »interagiert« (vgl. D2007c, 0:15:00, 0:55:00; vgl. auch Sanders 2015). Janmari ›dirigiert‹ in einer Szene die Maschinen auf der Baustelle mit winkenden Handbewegungen (ebd., 0:15:00) und ahmt in einer weiteren Szene die Bewegungen einer einschlagenden Abrissbirne mit dem Oberkörper nach (ebd., 0:55:00). Er beugt sich mit seinem gesamten Körper im Rhythmus der einschlagenden Birne in das Gestein immer wieder vor und zurück (vgl. Abb. 12). Körper und Maschine sind in Einklang.

Abb. 12: Janmari und die Maschine (D 2007c, 0:55:35)

Eine ›maschinische‹ Seinsweise ist im Gegensatz zu einer sprachnahen Seinsweise, die sich beinahe ausschließlich aus »sex and language« (D 2015, 45) zusammensetzt, nicht auf ein ›Selbst‹ angewiesen. Auch aus diesem

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Grund liegt es nahe, von einer ›maschinischen‹ und nicht von einer triebhaften oder animalischen Seinsweise zu sprechen. Das Reale zu kastrieren, um der Idee des Menschen dieses Privileg der prima causa zu nehmen und an diese Stelle ein spezifisches Menschenwesen zu setzen, das nicht aus Ideen besteht, versucht auch die Schizoanalyse (vgl. Sanders 2012). »Deligny beruft sich auf einen gemeinsamen Körper, auf den diese Linien [kartierte Bewegungen der autistischen Kinder] als lauter Segmente, Schwellen oder Quanten, als Territorialitäten, Deterritorialisierungen oder Reterritorialisierungen eingeschrieben werden. Diese Linien werden auf einen organlosen Körper eingeschrieben, auf den alles eingezeichnet wird und flieht und der selber eine abstrakte Linie ohne imaginäre Figuren oder symbolische Funktionen ist: das Reale des oK [organlosen Körpers]. Die Schizoanalyse hat praktisch kein anderes Objekt: Was ist dein organloser Körper?« (Deleuze, Guattari 1992, 278; Ergänzungen von mir) Janmaris organloser Körper löst die Idee des Organismus in/mit seinem Körper (inside) auf, weil Janmari ›selbst‹ eine maschinische Seinsweise ist. Sein Körper besitzt seine Organe nicht, weil er über keine imaginäre Figur hierfür verfügt und nicht auf symbolische Funktionen zugreift. Der Psychoanalytiker Turnheim führt zu dieser Seinsweise anschaulich aus: »Was dem Autisten in ›übermäßig schmerzhafter Weise‹ begegnet, wäre nichts anders als dasjenige, was Husserl als ›Körper‹ bezeichnet hat: nicht zu Leib gewordenes ›Eigenes‹, das – insofern es bereits von sprachlichen Differenzen betroffen ist, sich aber indirekte ›Einfühlung‹ in es nicht herzustellen vermag – fremd erscheint.« (Turnheim 2005, 35) Eine maschinische Seinsweise wäre aus psychoanalytischer Perspektive eine auf Dauer gesetzte Konfrontation mit dem Fremden durch den ›eigenen‹ Körper. Zugleich hebt die Seinsweise die Trennung zwischen einer strukturalen Einheit einer Maschine und einer spezifischen Einheit des Lebendigen auf. Um die sprachferne Topologie des Maschinischen genauer zu untersuchen, soll – in Einklang mit den späten Arbeiten Lacans – genauer auf die Schizoanalyse eingegangen werden. Hier bietet sich erneut die Arbeit von Deleuze und Guattari an, die im Kapitel »IV Einführung in die SchizoAnalyse« (Deleuze, Guattari 1988, 368) hervorheben, dass »die Schizo-Analyse den Maschinenzeichen der Deterritorialisierung folgt« (ebd., 409), während die Psychoanalyse »sich an die imaginären und strukturalen Repräsentanten der Reterritorialisierung« (ebd.) klammert. Zunächst soll die Konstitution

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der Wunschmaschine hervorgehoben werden, um den Maschinenzeichen zu folgen: »Ist die strukturale Einheit der Maschine einmal auseinandergenommen, die personale und spezifische Einheit des Lebendigen einmal fallengelassen, so wird die unmittelbare Verbindung von Maschine und Wunsch erkennbar, die Maschine geht ins Innere des Wunsches ein, die Maschine wird Wunschmaschine und der Wunsch Maschine. Nicht ist der Wunsch im Subjekt, vielmehr die Maschine im Wunsch – und auf der anderen Seite, neben der Maschine und in ihrem Umkreis, ist das residuale Subjekt, Parasit der Maschine und Anhängsel des Wunsches des maschinenartigen Säugetiers.« (Ebd., 368) Die Maschine im Wunsch oder auch der Wunsch in der Maschine erlauben, eine Form des Agierens zu denken, das sich als das »Unbewusste der SchizoAnalyse« (ebd., 401) manifestiert, das »nicht repräsentativ, sondern nur maschinell, produktiv« (ebd.) ist. Das Subjekt ist dann nur noch ein Parasit, ein Anhängsel (vgl. Sanders 2015); und im Fall der Kinder wäre es vollkommen abwesend. Deligny verweist auf die Gesten des autistischen Mädchens A., das stur und unentwegt kleine Zweige auf einer vor zwei Jahren erloschenen Feuerstelle platziert: »For I can certainly tell myself that A. [an autistic girl] is a kind of priestess whose self is sacrificed for the maintenance and worship of the fire cult; I can tell myself this if it’s somehow convenient for me, if I need to come to terms with wanting at all costs, the A.‹s gestures become highly – and purely – symbolic, while within her acting there is not an ounce of symbolism; acting is purely acting.  Which shows that the symbolic stripped of all making and aimless pure acting are located within one and the same gesture.« (D 2015, 60; Ergänzung von mir) Legt man den Gesten von A. einen Maßstab an, der ihrem Handeln einen Willen (wanting) unterstellt, dann ließen sich die wiederholten Bewegungsmuster auch als ein reines (purely) symbolisches Ritual einer Priesterin (priestess) in einer Art Trance verstehen. Ihre Gesten sind in ihrer Reinheit und Zweckfreiheit frei von allem Symbolischen und das gilt auch für Janmaris Gesten auf der Baustelle (vgl. Abb. 12), wie Deligny an anderer Stelle ausführt: Es scheint so, als ob »jede Geste [von Janmari] durch eine Liturgie vorgeschrieben ist« (D 2014, 31).

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Das Maschinische der Sprachferne bezeichnet folglich keine lebende Maschinerie, die stoffwechseltreibend agiert, sondern die Seins- und Wahrnehmungsweise eines sprachfernen Anomals. Jedes Agieren ist immer auch ein Ausdruck einer spezifischen Seins- und Wahrnehmungsweise, die sich in einer »Körpereinheit« manifestiert und Wirkmacht entfaltet. Janmaris Liturgie ist Ausdruck der maschinischen Seins- und Wahrnehmungsweise ›seines‹ Körpers und zugleich ist sie singulärer und unnachahmlicher Überschuss. Das rein produktive Agieren ist demnach eine Wunschmaschine ohne Anhängsel und ohne das Anhängsel, d.h. ohne das angehängte Subjekt, ist auch eine psychoanalytische Rückführung in die Ordnung der Repräsentation nicht mehr möglich. Aus diesem Grund kann auch von einer maschinischen Topologie gesprochen werden. Die Karten müssen sich dementsprechend mit dem Zwischenraum des dritten Hauses befassen, um die Topologien des Maschinischen kartieren zu können, ohne sie in einer einseitigen Logik der Repräsentation zu verkürzen. Die kartografische Praxis muss Wege erkunden, um paradoxen Strukturen einen (topografischen) Ausdruck zu verleihen, der Verbindungen zwischen unterschiedlichen Seins- und Wahrnehmungsweisen aufzeigen kann.

Kompass und Visier Die Figuren, die Deligny in den 1980er Jahren in seiner Auseinandersetzung mit den Schriften Lacans gezeichnet hat, helfen dabei, einen Weg zu fremden Seins- und Wahrnehmungsweisen zu finden und in die Funktionsweise der kartografischen Praxis einzuführen. Sie erschienen in dem erst 2008 posthum veröffentlichten Band L’Arachnéen et autres textes beziehungsweise in der englischen Übersetzung The Arachnean and Others Texts (D 2015). Der Band enthält auch bis dahin unveröffentlichte Texte von Deligny, die nicht mit in die deutsche Übersetzung Das Arachneische (D 2017) übernommen wurden. Die beiden Figuren (Abb. 13, 17) zeigen die Verbindungen und Unterschiede zwischen dem topologischen Zugang Lacans und dem topografischen Delignys. Abbildung 13 kann zugleich auch als ein Überblick oder eine Grundskizze der sinnlichen Räumlichkeiten verstanden werden, die das Feld der kartografischen Praxis zu fassen sucht. Sie trägt den Titel »Überholter/veralteter Kompass« und zeigt in erster Linie den Abstand der sinnlichen Räume zwischen den Sprachnahen und Sprachfernen auf. Die kartografische Praxis operiert an den Grenzen des Repräsentierbaren und orientiert sich an topolo-

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Das Maschinische der Sprachferne bezeichnet folglich keine lebende Maschinerie, die stoffwechseltreibend agiert, sondern die Seins- und Wahrnehmungsweise eines sprachfernen Anomals. Jedes Agieren ist immer auch ein Ausdruck einer spezifischen Seins- und Wahrnehmungsweise, die sich in einer »Körpereinheit« manifestiert und Wirkmacht entfaltet. Janmaris Liturgie ist Ausdruck der maschinischen Seins- und Wahrnehmungsweise ›seines‹ Körpers und zugleich ist sie singulärer und unnachahmlicher Überschuss. Das rein produktive Agieren ist demnach eine Wunschmaschine ohne Anhängsel und ohne das Anhängsel, d.h. ohne das angehängte Subjekt, ist auch eine psychoanalytische Rückführung in die Ordnung der Repräsentation nicht mehr möglich. Aus diesem Grund kann auch von einer maschinischen Topologie gesprochen werden. Die Karten müssen sich dementsprechend mit dem Zwischenraum des dritten Hauses befassen, um die Topologien des Maschinischen kartieren zu können, ohne sie in einer einseitigen Logik der Repräsentation zu verkürzen. Die kartografische Praxis muss Wege erkunden, um paradoxen Strukturen einen (topografischen) Ausdruck zu verleihen, der Verbindungen zwischen unterschiedlichen Seins- und Wahrnehmungsweisen aufzeigen kann.

Kompass und Visier Die Figuren, die Deligny in den 1980er Jahren in seiner Auseinandersetzung mit den Schriften Lacans gezeichnet hat, helfen dabei, einen Weg zu fremden Seins- und Wahrnehmungsweisen zu finden und in die Funktionsweise der kartografischen Praxis einzuführen. Sie erschienen in dem erst 2008 posthum veröffentlichten Band L’Arachnéen et autres textes beziehungsweise in der englischen Übersetzung The Arachnean and Others Texts (D 2015). Der Band enthält auch bis dahin unveröffentlichte Texte von Deligny, die nicht mit in die deutsche Übersetzung Das Arachneische (D 2017) übernommen wurden. Die beiden Figuren (Abb. 13, 17) zeigen die Verbindungen und Unterschiede zwischen dem topologischen Zugang Lacans und dem topografischen Delignys. Abbildung 13 kann zugleich auch als ein Überblick oder eine Grundskizze der sinnlichen Räumlichkeiten verstanden werden, die das Feld der kartografischen Praxis zu fassen sucht. Sie trägt den Titel »Überholter/veralteter Kompass« und zeigt in erster Linie den Abstand der sinnlichen Räume zwischen den Sprachnahen und Sprachfernen auf. Die kartografische Praxis operiert an den Grenzen des Repräsentierbaren und orientiert sich an topolo-

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Abb. 13: »Boussole désuète« (Überholter, veralteter Kompass) (D 2015, 130)

gischen Formen, um Annäherungen an die maschinischen Seinsweisen und deren Transformationen zu ermöglichen. Abbildung 13 und 17 zeigen schematisch, wie die Annäherungen aussehen. Deligny beschreibt die Zeichnung und deren Funktion im Begleittext. In der linken oberen Ecke von Abbildung 13 markiert ein unförmiges N(ous), dass wir, die Sprachnahen, das Objekt der Untersuchung in dieser Figur sind. Der

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große Kreis rechts oben in der Figur enthält ein Id. für Ideologie, in dem das Subjekt (S) gegen den Uhrzeigersinn kreist. Die Ideologie verweist auf den (sprachbewussten) ethnischen Menschen, »the species that calls itself human« (D 2015, 131), den Deligny vom spezifischen Menschenwesen unterscheidet. Der Id.-Kreis überschneidet sich mit dem Unendlichzeichen (∞), das auch ein Möbiusband sein könnte. Das Subjekt zirkuliert sowohl um die Ideologie als auch auf dem Unendlichzeichen, das in der Mitte einen Kreuzpunkt enthält. Der Kreuzpunkt ist mit einem kleinen Kringel versehen. Der obere Teil der Bahn im ∞ umschließt ein mi, das für Mikro-Ideologie steht und das Projekt der Lebensgemeinschaft markiert. Um die Mikro-Ideologie des Netzwerkes finden sich auf der Bahn mehrere u(nits), die von einem N(ous) durchkreuzt oder durchstrichen sind. Die u bilden Einheiten von kleinen Anwesenheiten oder Momenten während des Alltags in der Lebensgemeinschaft. Diese Momente (u), die durch ein Wir (N) mit Sprache und Bewusstsein durchsetzt sind, halten die Gemeinschaft auf diesen Bahnen in Bewegung und verleihen ihr Leben. Das Subjekt ist Teil beider Bewegungskreisläufe. Es kreist um die Ideologie des ethnischen Menschen und um die Mikro-Ideologie, die den Alltag mit seinen Einheiten (u) zusammenhält. Auf der anderen Seite der Bahn (∞), jenseits des Kringels am Kreuzpunkt (the twisting point), wird von der Bahn nichts mehr umschlossen. Die Mitte bleibt leer. Dennoch zirkuliert ein schlecht erkennbar eingerahmtes N(ous) auf der Bahn unten links. Der Kreuzpunkt kennzeichnet, dass Sprache auf dieser Seite der ∞ anders eingesetzt werden muss. Sprache ist hier vakante Sprache (vacant language) außerhalb einer intentionalen Funktion (language »out of function«). Die Vakanz verweist auf einen undeterminierten Gebrauch der Sprache, der sich von einer Chronologie und von Sprecherpositionen distanziert. Die (paradoxe) Funktionslosigkeit der Sprache kann als eine Ausweitung der sprachlichen Räume verstanden werden, in denen Verben nicht gebeugt werden können. Die Verweigerung der Konjugation unterbindet eine bestimmte Form der Zeit und eine Zuordnung zum sprachbewussten Ich. Die Zirkulation verläuft im Infinitiv und das N(ous) markiert das spezifische Menschenwesen. Das gerahmte N auf dem unteren Teil der Bahn (∞) wird von einem weiteren größeren Rahmen überlagert. Der Rahmen aus vier groben Strichen oder Balken, die ein Rautezeichen (#) formen, markiert den Raum, der kartiert wird. Während die rechte Seite des Rahmens immer noch einen Bezug zur vakanten Sprache im Infinitiv hat, reicht die linke Seite in eine dunkle Zone hinein, in der ein weiß hervorstehender Kringel sichtbar ist. Die Zone liegt

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vollständig außerhalb der Sprache und eines Sprachbewusstseins. Über den Kringel in der Zone schreibt Deligny: »RING: This is a ,tracer‹ dubbed RING.   We shall never know what this word may mean.  It means nothing. Autistic.« (Deligny 2015, 131) Die Spuren in der Zone haben keinen repräsentativen Zweck. Sie bedeuten (aus repräsentationslogischer Perspektive) nichts. Die Zone erhält das Symbol des Kringels, den Janmari unentwegt und unermüdlich auf Papier zeichnet (vgl. Abb. 14a, b). Die Lokalisierung der Spuren ist mit einer Anbindung an den Gebrauch der Sprache im Infinitiv möglich. Denn im Infinitiv bleibt die Zeit (weitgehend) unbestimmt und drängt sich nicht durch eine chronologische Form auf. Janmaris Zeichnungen stehen den Arbeiten von Hanne Darboven nahe. Wie bei Darboven, die in ihren »Schreibarbeiten«, in denen Tätigkeit und Werk nicht mehr voneinander trennbar sind (vgl. Bippus 2015), macht sich auch bei Janmari eine Monotonie im Infinitiv auf Tausenden von Blättern breit. Intentionalität und Kausalität haben in Janmaris und Darbovens Arbeiten keinen Platz. Es lässt sich nur schwerlich etwas Systematisches über die zahllosen Linien und Kringel sagen, weil sie sich bestimmten Formen der Repräsentation entziehen. Ich weiche dementsprechend auf die Konstitution der Wahrnehmungsräume aus. »und ›fülle‹ räume – wände mit: zeitlichen – dingen/zeitlicher – schrift/zeitlichen – aufzeichnugen/zeitlichen – zeichnungen/zeitlichen – zeichen/zeitlichen – widmungen/zeitlichen – aufzeichnungen/zeitlicher – schrift/zeitlichen – Dingen/und ›fülle‹ räume – wände – damit – damit – und damit […] – mit: zeitlichen – frei und unfrei begrenzten dingen – ›gefüllt‹.« (Darboven 2017, 14) Das »Zeitlichen« ist ein Infinitiv, durch den Darboven zeigen kann, wie Zeit anders wahrgenommen werden kann. Darboven entwirft »stets nach dem gleichen Prinzip einen Index und dann folgt sie einem disziplinierten Programm« (Krapat 2017, 14). Die Dinge des Zeitlichen (Schrift, Aufzeichnungen, Zeichnungen) stehen jeweils mit bestimmten Modi der Zeit in Verbindung. Die Dinge des Zeitlichen enthalten Zeit, wie es auch der Titel des Katalogs »Gepackte Zeit« (Darboven 2017) andeutet. Die Abbildungen 15 und 16 zeigen zwei kleine Ausschnitte aus dieser Schreibarbeit, in der U-Bögen beziehungsweise »Endlosschriftschwünge« ein grundlegendes Prinzip ausmachen.

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Abb. 14a: »Journal de Janmari« (Janmari 2013, ohne Seitenangaben)

  Darbovens Aufzeichnungen, die wie »eine Art Zeitspeicher« funktionieren, bringen die gepackte Zeit in eine sinnlich fassbare Form, die sich vor allem durch eine ›maschinische‹ Schreibarbeit auf Abertausenden von Blättern zeigt, die in der Sammlung Falckenberg eine ganze Etage füllen (vgl. auch Darboven 2015; Darboven 2002). Sie verleiht der Zeit andere Formen, indem sie sie dehnt oder konzentriert. Die Tätigkeit des disziplinierten Schreibens »im Rhythmus eines 8-Stunden-Tages« (Bippus 2015, 187) wird dadurch in

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Abb. 14b: »Journal de Janmari« (Janmari 2013, ohne Seitenangaben)

den Stand eines performativen Werks erhoben, das als »momentane Figuration« (ebd.) eines lebendigen Prozesses fungiert, der sowohl autobiografisch als auch (kultur-)geschichtlich geprägt ist. »Ihre [Darbovens] Schreibarbeit vermittelt sich dergestalt als eine Derepräsentation. Grundlegend hierfür wurde die in New York entstandenen konstruktivistischen Zeichnungen und Konstruktionen, die Darboven schließlich in Zahlensystemen erfasste und in ein systematisches, scheinbar endloses Tun überführte, in die Ermittlung von Quersummen aus Daten, also aus Tagesrechnungen, die in Form von Zahlenkolonnen, Kästchen, ›Zahlenwor-

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Abb. 15: »Ohne Werkbeschreibung: Ohne Titel (Endlosschriftschwünge, Studie zu 7 Tafeln, II), 1972« (Darboven 2015, 76f.)

ten wörtlich‹ und U-Bögen dargestellt werden. Diese grafischen Formfindungen wurden konstitutiv für die Transformation des sequentiellen Nacheinanders der Schrift in ein raumzeitliches Nebeneinander.« (Ebd.; Ergänzung von mir) Jedes einzelne Blatt ist mit den ›maschinischen‹ Wiederholungen der Bögen und Schleifen versehen und hat einen »Index«, der die gesamte Aufzeichnung einem Programm unterwirft. Das heißt, die U-Bögen, die aus scheinbar endlosem Tun bestehen, verwandeln die Form der Arbeit in den derepräsentativen »Inhalt« der Arbeit, »sodass Zeit von Darboven nicht bezeichnet, sondern in performativer Weise aufgezeichnet wird« (ebd.). »Darbovens Schreibarbeiten bilden so einen Raum, der keine Lektürerichtung vorgibt, sondern sich als gestaltbarer und heterogener Raum anbietet, sich vielfältigen Rezeptionsweisen öffnet und den autoritären Charakter einer vorbestimmten Deutung zurückweist. Dem wiederholend konstellativen Textverfahren ist methodisch die Möglichkeit inhärent, einen Sinn au-

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Abb. 16: »Quartet 88, 1988« (Darboven 2015, 257)

ßerhalb des Bekannten herzustellen. Die Inszenierung des Schreibens in all den von Darboven vorgeführten Ausformungen haben den Effekt, dass die uns vertraute lesbare Schrift gerade nicht zu Gunsten ihres Inhalts transparent wird, im Gegenteil: Sie zeigt sich in ihrer Materialität und affizierenden Kraft und kann zu einem Medium des Denkens werden. Öffnet man sich diesem Unvertrauten, kann ein modifiziertes Ergreifen möglich werden, ein Sinn außerhalb des Bekannten.« (Ebd., 188)

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Die U-Bögen und Schwünge in der Schreibarbeit werden in ihrer Materialität zu einer affizierenden Kraft. Die Materialität ist jedoch kein – d.h. weder bei Darboven noch bei Janmari – naiver unmittelbarer (Selbst-)Ausdruck, sondern vielmehr eine »Individuation im Denken« (ebd., 185). Es handelt sich um eine derepräsentative Individuation, in der zwar ›eigene‹ Zugänge und Bezüge zur (Kultur-)Geschichte – wie beispielsweise in Abbildung 16 Virginia Wolf – thematisiert werden, die jedoch eingebettet sind in die Aufzeichnungsform der Schreibarbeit, die wiederum ein »Raum-Zeit-Werden der Schrift« (ebd., 187) initiieren. Das Raum-Zeit-Werden finden auch Deleuze und Guattari in den Arbeiten von Virginia Wolf wieder: »In Die Wellen hat Virginia Wolf es verstanden, aus ihrem ganzen Leben und Werk einen Übergang zu machen, ein Werden, alle Arten von Werden zwischen Altersstufen, Geschlechtern, Elementen und Tierreichen, indem sie sieben Personen vermischt, Bernard, Neville, Louis, Jinny, Rhoda, Susan und Percival. Jede dieser sieben Personen steht mit ihrem Namen und ihrer Individualität für eine Mannigfaltigkeit […]. Jede ist zugleich in dieser Mannigfaltigkeit und am Rande, und geht in die andere über.« (Deleuze, Guattari 1992, 343) In Darbovens Werken werden die Werdensprozesse eines Lebens wahrnehmbar, das sich der Schreibarbeit widmet. In ihrer und in Janmaris Arbeit zeigen sich die kontinuierlichen Eigenschaften von Strukturen und deren Transformationspotential. Die Lebenszeit und der materielle Ausdruck der Lebenszeit werden auf den Zeichnungen sichtbar. Der Infinitiv des »Zeitlichen«, das als Adjektiv zugleich auch auf die jeweiligen Zeitmodi der Dinge verweist, steht in Verbindung mit dem Infinitiv des Agierens beziehungsweise der ›maschinischen‹ Seinsweise. Deligny stellt das Agieren dem Tun gegenüber – »›agir‹ der Gegen-Name, das ›Héteron‹, das prinzipiell unvermittelbare ›Andere‹ der Ordnung und des Gedächtnisses, in denen wir sprechen« (Zander 2003, 218) –, um über diesen konträren Bedeutungswert eine nichtintentionale oder präreflexive Praxis zu charakterisieren. Die maschinische Wiederholung der Schleifen bei Darboven zeigt Wege der Annäherungen an diese Seinsweise auf, weil sie Formen des Raum-Zeit-Werdens erfahrbar macht, die sich jenseits repräsentationslogischer Zusammenhänge konstituieren. Abbildung 17 präzisiert in einer abstrakteren Form die Funktionen des veralteten Kompasses in Abbildung 13. Sie zeigt ein Fadenkreuz, das die Bewegungen der Lebensgemeinschaft mit den autistischen Kindern ins Visier nimmt.

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Abb. 17: »Figur 2, Acting and the Acted« (D 2015, 139)

Im Zentrum befindet sich ein N, neben dem ein kleines (c) zu sehen ist und die gleiche Funktion innehat, wie das eingerahmte N in Abbildung 13. Es zeigt die Lebensgemeinschaft als funktionierende Gemeinschaft in einem sprachlichen Infinitivmodus an. Der äußere Kringel markiert den Raum, in dem Sprache in Gebrauch ist. Der sprachliche Infinitiv bildet um das N eine Überschneidungszone zwischen Sprache und Nichtsprache. Das Zentrum des Fadenkreuzes, das insgesamt aus drei Kringeln besteht – wobei der äußerste Kringel rechts unten von einem kleinen (a) unterbrochen ist – verweist auf das , das ein gelebtes Wir von Sprachnahen und Sprachfernen kennzeichnet. N Die Horizontale trägt links ein kleines (n), das ein sprachbewusstes Wir (ein liegendes eingekreistes n) markiert und rechts ein (u), das für Wasser

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(eau) steht. Das Wasser ist ein Anziehungspunkt für die Kinder. Der Rahmen der vier kleinen Balken neben dem (u) reicht hier, wie auch in Abbildung 13, weit über den Sprachraum hinaus. Zwischen (n) und (u) gibt es keine direkte Verbindung, denn der große äußere Kringel ist an der Vertikalen oben offen und unten rechts getrennt und mit einem (a) versehen. Jenseits des Bruchs im Kringel (a) unter dem Rahmen (u) ist das autistische Kind: eine rudimentäre Figur bestehend aus einem kleinen Kreis und zwei gebogenen Strichen. Eine Verbindung zu der rechten Kreishälfte kann lediglich über die Mitte N, dem »point of seeing« (D 2015, 138), hergestellt werden. Die Mitte ist von einem mittleren Kringel umgeben, der mit einem kleinen (o) rechts oben gekennzeichnet ist und das doing/living der Lebensgemeinschaft fassen soll. Die Vertikale trägt oben ein (i), darunter in der Öffnung des mittleren Kringels ein (f ) und unten in der Nähe des S(ubjekts) ein (d). Die senkrechte Verteilung zeigt die Seinsmodi der Lebensgemeinschaft N an, die von einer Unordnung d(isarray) unten, einer Initiative i(nitivative) oben oder auch einem f (faire) gekennzeichnet sind. Die Unordnung für die Gemeinschaft entsteht, wenn sie ihren Fokus oder den »point of seeing« aus dem Blick verliert beziehungsweise nicht mehr anvisieren kann und sich auf das Subjekt, die Sprache und das Selbst zubewegt. Mit (i) werden die Initiativen gekennzeichnet, die von den Sprachnahen (n) ausgehen und zu vollkommen Unerwartetem führen. Vom Ausgangspunkt verlaufen diese Initiativen durch den »point of seeing«. Sie helfen der Gemeinschaft zu Neuanordnungen und Kurskorrekturen. Das (f ) zeigt als Zwischenglied von Ausgangspunkt (n) und Initiative (i) ein Machen an, das die Brücke zwischen beiden Ebenen herstellt. Das Machen hat einen Zweck, wie zum Beispiel Brot backen oder Wasser holen. Zugleich ist es durch seine repetitive Mechanik auch ein Auslöser für Unvorhergesehenes (i). Das Unvorhergesehene wird allerdings nur dann sichtbar, wenn man lernt, aufmerksam zu beobachten (point of seeing). Das aufmerksame Beobachten kann zu anderen Wahrnehmungsweisen führen, die man auch anhand der Arbeiten von Janmari und Darboven erlernen kann. Das Ziel des Visierens ist, durch ein anderes Sehen herauszufinden, wie sich Initiativen finden lassen, die der Gemeinschaft helfen, auf Kurs zu bleiben und einer Auflösung oder auch sprachnahen Übergriffen entgegenwirken. Ein (e) über einer kleinen Zickzacklinie im linken oberen Teil von Abbildung 17 markiert einen Bruch zu einem in die Länge gezogenen N, das den äußeren Kreis der Sprache durchschneidet. Das in die Länge gezogene N(ous) ist der Teil des Gemeinsamen, von dem die Initiativen ausgehen. Es kann das gelangweilte oder belanglose Klopfen eines Fingers auf einer Tischplatte sein

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oder auch das Kauen auf einem Grashalm. Solange die Bewegung wiederholt wird und (möglichst) zweckfrei ist, kann sie ein Agieren initiieren. Das (e) weist darauf hin, dass vollkommen unklar ist, wie und warum die Bewegungen zu Initiativen führen. Das Zeichen markiert einen Bruch der Kausalität und verweist auf einen außersprachlichen Seinsmodus, der mit den Initiativen verbunden ist. Das (e) ist in diesem Sinne ein »minor event« (D 2015, 140). Mikro-Ereignisse dieser Art können von jedem Beliebigen zu jeder Zeit initiiert werden. Dafür ist kein bestimmtes Wissen, sondern eine gewisse Übung im Beobachten der Zusammenhänge erforderlich. Die beiden Abbildung 13 und 17 machen zunächst kenntlich, dass sie trotz aller Abstraktion mit den konkreten, räumlichen und sinnlichen Bedingungen in der Gemeinschaft verknüpft sind. Die beiden Abbildungen zeigen, dass die kartografische Praxis der Gemeinschaft als Fernrohr oder Kompass dient, um im Umgang mit dem Fremden als Fremden den von allen geteilten Lebensraum zu schützen. Die Spuren, die in den Zonen weit außerhalb der Sprache erfasst werden, erhalten einen Körper auf den Karten. Der Körper ist ein Rhizom aus Fährtenlinien und zugleich ein topografischer Ausdruck einer maschinischen Topologie. Die Lebensgemeinschaft setzt den geteilten Lebensraum als einen egalitären Raum axiomatisch voraus. Dass dieser Raum selbst wiederum in einen sprachnahen und in einen sprachfernen Teil gespalten ist, wird für alle Anwesenden zur alltäglichen Herausforderung. Der Umgang mit Kompass und Visier verfolgt das Ziel, die Ausschlüsse innerhalb der Gemeinschaft im Auge zu behalten und (möglichst) klein zu halten. Denn das, was ins Auge gefasst werden muss, ist der »Sinn des Gemeinsamen« (D 2016, 17) und eben kein »gemeinsamer Sinn«. Der – aus rancièrescher Perspektive – durch und durch politische Alltag erfordert Übung und verlangt allen Beteiligten viel ab, weil vor allem zu Beginn des Versuchs Subjektivierungs- und Entsubjektivierungsprozesse der Sprachnahen erforderlich sind, um in der Begegnung mit den Kindern keine Ausschlüsse zu produzieren. Die Gewichtung der Seh- und Augenmetapher mit dem »Visier« auf Abbildung 17 hat ihren Grund in einer Unterscheidung zwischen dem benannten »Sehpunkt« und einem »Gesichtspunkt« (D 2014, 18). Der Sehpunkt »ist eine Art und Weise (manière) zu sehen« (ebd.), die den autistischen Kindern eigen ist. Der Gesichtspunkt hingegen setzt immer einen sprachlichen (Selbst-)Bezug zum uns/wir/nous voraus. Der Graben zwischen den Seins- und Wahrnehmungsweisen ist zwar zu groß, um ihn zu überwinden. Er ist jedoch nicht zu groß, um nicht hinübersehen zu können. Zander ergänzt seine Überset-

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zung von Seinsspuren und Schattengemäuer um ein Glossar (vgl. ebd., 60ff.), das sich an dem Glossar von Alvarez de Toledo orientiert (vgl. D 2013a, 9ff.), dem er die beiden Begriffe Sehpunkt und Gesichtspunkt hinzufügt. Er unterscheidet wie folgt: »Wir, die Sprachmächtigen, setzen Gesichtspunkte, die unsere Bilder als Bilder von etwas, als thetische Setzungen ausweisen. Die autistischen Kinder, die unabhängig von Zeitkoordinaten zwischen Raumpunkten agieren, haben, dem Kameraauge gleich, Sehpunkte. Die Sehpunkte materialisieren sich in den Spuren, die Deligny, Jacques Lin, Gisèle Durand und andere auf Karten ziehen. In diesen Transkriptionen werden ›Gesichtspunkte‹ abgebaut, welche die Erwachsenen – ›Wir‹ – auf die autistischen Kinder werfen, mit denen sie leben.« (Zander 2014, 63) Die Karten haben für Zander die Funktion, die Sprachlichkeit und die sprachlichen Selbstbezüge der Gesichtspunkte »abzubauen« und dadurch auf Sehpunkte aufmerksam zu machen. Der Sprachabbau kann auch als ein Lern- und Bildungsprozess der Kartograf:innen verstanden werden, die in der Lebensgemeinschaft ihre Seins- und Wahrnehmungsweisen neu anordnen müssen, um eine gewisse reflexive Distanz zu ihrer Sprachnähe zu gewinnen (vgl. hierzu bspw. Koller 2018). Ohne diese Transformationen würden die Spuren der Kinder nicht sichtbar werden und könnten mithin auch nicht kartiert werden, weil die Sprachferne immer wieder durch eine einseitige Sprachnähe verdeckt werden würde. Gesichtspunkte, d.h. sprachliche (Selbst-)Bezüge, lassen sich bis zu einem gewissen Punkt abbauen und in Sehpunkte überführen. Der Abbau führt in das ›leere‹ Haus der Bilder. Es ist für Deligny das Haus, das ohne das Selbst und ohne die Intention auskommt, die in jedem sprachlichen Ausdruck eines ›Ich‹ bereits enthalten sind. Die Kamera beziehungsweise das Kameraauge kann das Hinübersehen in das leere Haus erleichtern, weil sie beziehungsweise es ›automatisch‹ Sprache abbaut, wenn es Bilder aufnimmt. Nichtsdestotrotz kann ein Film für Sprachnahe nicht ausschließlich als ›reiner‹ Bilderstrom wahrgenommen werden, weil die Sprache interveniert, und zwar allein schon durch eine Selbst-Wahrnehmung einer sprachlich verfassten Körpereinheit. An jeden Bilderstrom wird in gewisser Weise eine ›Selbst-Erzählung‹ geheftet. Man kann mit Bezug auf den ersten Teil der Arbeit ergänzen, dass Deligny auf das Haus der Sprache überwiegend in repräsentationslogischen Zusammenhängen eingeht und auf das Haus der Bilder in ästhetischen Zusammen-

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hängen Bezug nimmt. Mit dem Haus der Sprache steht für ihn vor allem die Hierarchisierung des Sinns über das Sinnliche im Modus der Repräsentation im Vordergrund und mit dem Haus der Bilder ein sprachliches ›Außen‹ beziehungsweise ein ästhetischer Überschuss. Dass auch die Sprache im Haus der Bilder operieren und damit an sich selbst einen Abbau von repräsentativen Formen vornehmen kann, zeigt sich jedoch in seinen poetisch-essayistischen Schriften mit den Techniken des Infinitivs oder auch in seiner poetischen Sprachrhythmik in Ce gamin, là. Eine Kamera nimmt hingegen – anders als die Sprache – automatisch einen Sehpunkt ein und auf. Dennoch ist das Ergebnis auf der Leinwand für einen sprachnahen Menschen immer bereits der Zwischenraum (Wand) und nicht der Sehpunkt selbst. Vom Standpunkt eines sprachnahen Gesichtspunkts zeigt sich der Zwischenraum, der sich auf der Kinoleinwand entfaltet, als das genannte Hinübersehen zum Sehpunkt. Ein maschinisches Kameraauge entfaltet selbst in einem ›reinen‹ Bilderstrom, wie Dziga Vertov ihn in seinem Film Der Mann mit der Kamera (SU 1929) festhalten wollte, (für die Sprachnahen) immer noch eine Erzählung.

Exkurs I: Das Kameraauge und das Hinübersehen – Zu Rancières und Deleuzes Kinotheorie Rancière argumentiert in diesem Zusammenhang in gewisser Weise gegen Vertov (und auch Deleuze). Er führt in Bezug auf Der Mann mit der Kamera aus: »Die Selbstentthronung des Auges, das immer Herr und Unterworfener ist, zugunsten der Bewegung liefert nicht nur die Formel für eine neue Kunst, sondern auch die Formel für die unmittelbare Verwirklichung einer neuen Welt. Das Kino bietet mit Vertov seinen eigenen Kommunismus an, einen Kommunismus des universalen Austausches von Bewegungen, der dem Dilemma zwischen dem Abwarten der objektiven Bedingungen und der Notwendigkeit des Gewaltstreichs entkommen ist. Diese Utopie des filmischen Kommunismus liegt der Deleuze’schen Auffassung zugrunde, Vertov sei der Filmemacher, bei dem die Wahrnehmung ›so in die Dinge hineingetragen [wird] (…), dass jeder beliebige Punkt im Raum selbst alle Punkte, auf die er einwirkt oder die auf ihn einwirken, wahrnimmt (…)‹ [Deleuze 2010, 116]. Diese Utopie impliziert eine ganz bestimmte Vorstellung von der Maschine. Die Kamera ist die Maschine, die alle Maschinen miteinander verbindet,

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indem sie sie von ihrer Unterwerfung unter den Imperialismus der Zwecke erlöst, sei das nun der Imperialismus der Ingenieure des neuen Lebens oder der Maschinenkünstler.« (Rancière 2012, 52) Rancière teilt Vertovs (und Deleuzes) Utopie nicht, weil die Vorstellung eines Bilderstroms für ihn nur noch »transzendental« (Rancière 2014a,170) begründbar ist, d.h. letztlich nur eine Vorstellung ist, die zu unterschiedlichen Betrachtungsweisen führt. Es gibt für ihn in keinem Film ›reine‹ Bilder (Sehpunkte). Das Bild muss für Rancière erst ›geschaffen‹ werden, beispielsweise durch die Einübung des oben genannten Hinübersehens. Das Bild muss als »bildliches Zeichen« (Herder) in ein Zeichensystem eingeordnet werden können, um Bild zu sein. Die »Erschaffung« ist doppelt artikuliert. Das Bild existiert demnach nicht an sich – so die Kritik an Deleuzes Kino-Philosophie –, d.h., das Bild existiert nicht als »Licht-Materie Bewegung« (Rancière 2014a, 164). »Deleuze selbst warnt uns schon am Anfang; Obwohl sein Buch von Filmen und Filmemachern spricht, obwohl es bei Griffith, Vertov und Eisenstein beginnt, um bei Godard, Straub und Syberberg zu enden, ist es keine Geschichte des Kinos, sondern ein ›Versuch, Zeichen zu klassifizieren‹ im Sinne einer Naturgeschichte. Was ist jedoch für Deleuze ein Zeichen? Er definiert folgendermaßen: Die Zeichen sind ›Ausdrucksmerkmale der sich bewegenden Materie, welche sich zu Bildern zusammensetzen und unaufhörlich neu gestalten‹ [Deleuze 2010, 52; hier in modifizierter Übersetzung]. Die Zeichen sind also Bestandteile der Bilder, Elemente ihrer Entstehungsgeschichte. Und was ist das Bild? Es ist weder das, was wir sehen, noch die von unserem Geist geformte Verdopplung der Dinge. Deleuze möchte an die philosophische Revolution anknüpfen, die Bergsons Denken für ihn darstellt. Was aber ist das Prinzip dieser Revolution? Es ist die Aufhebung des Gegensatzes zwischen der physikalischen Welt der Bewegung und psychologischen Welt des Bildes. Die Bilder sind keine Verdopplung der Dinge. Sie sind die Dinge selber, die ›Menge, die alles, was erscheint, enthält‹, das heißt die Menge dessen, was ist.« (Rancière 2014a, 163f.) Der Argumentation folgend stellt sich die Frage, was Vertov aus Deleuzes Perspektive auf der Leinwand zeigt, wenn die Bilder keine vom Geist geformten »Verdopplungen« der Dinge sind. Deleuze schreibt: »Nach Vertov wird die Wahrnehmung durch die Montage so in die Dinge hineingetragen – in die Materie gebracht –, dass jeder beliebige Punkt im

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Raum selbst alle Punkte, auf die er einwirkt oder die auf ihn einwirken, wahrnimmt, wie weit sich seine Aktionen und Reaktionen auch erstrecken mögen.« (Deleuze 1997, 116) Warum aber, so fragt Rancière, sollte man Wahrnehmung in die Dinge hineintragen? Versucht Vertov nicht gerade dies zu vermeiden? Widerspricht diese Annahme nicht Deleuzes Ausgangspunkt, »dass die Wahrnehmung schon in den Dingen sei, dass es die Dinge selbst seien, die wahrnehmen und sich unendlich aufeinander beziehen« (Rancière 2014a, 165)? Dann würde die Montage in die paradoxe Position geraten, dass sie den Bildern (oder auch den Ereignissen der Licht-Materie) Eigenschaften verleiht, »die sie bereits besitzen« (ebd.). Es gibt für Rancière zwei Antworten auf dieses (scheinbare) Problem der Paradoxie und die zwei Antworten entsprechen einer »durchgehenden Spannung in Deleuzes Denken« (ebd.). »Einerseits sind die wahrnehmbaren Eigenschaften der Bilder nur Potentialitäten. Die Wahrnehmung, die ›in den Dingen‹ virtuell vorhanden ist, muss herausgelesen werden. Sie muss den Kausalbeziehungen, mit denen die Dinge sich untereinander verbinden, entrissen werden. Der Künstler erzeugt jenseits dieser Ordnung von Körperzuständen und Beziehungen von Ursache und Wirkung – oder Aktion und Reaktion –, die ihre Verhältnisse kennzeichnen, eine Immanenzebene, auf der sich die Ereignisse, bei denen es sich um unkörperliche Wirkungen handelt, von den Körpern trennen und in einem eigenen Raum zusammensetzen. Er erzeugt jenseits der chronologischen Zeit der Kausalität, die in den Körpern wirkt, eine andere Zeit, die Zeit der reinen Ereignisse, der Deleuze den griechischen Namen aiôn gibt. Die Fähigkeit der Kunst im Allgemeinen und der filmischen Montage im Besonderen besteht darin, den körperlichen Zuständen die intensiven Qualitäten, das Vermögen, Ereignisse zu schaffen, zu entreißen.« (Ebd., 165f.) Die erste Antwort besteht demnach darin, dass der Künstler die Eigenschaften der Bilder, die sie bereits besitzen, »herauslesen« und »herausreißen« muss, um eine Zeit der »reinen Ereignisse« zu konstituieren. Deleuzes zweite Antwort auf dieses Problem ist für Rancière: »Wenn wir den Dingen ein Wahrnehmungsvermögen zurückerstatten müssen, das sie ›bereits‹ besaßen, dann liegt das daran, dass sie es verloren haben. Und dass sie es verloren haben, hat einen ganz genauen Grund: Dieses opake Bild, das sich menschliches Gehirn nennt, hat die Phosphoreszenz

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der weltlichen Bilder und ihrer Bewegungen in alle Richtungen unterbrochen. Das Gehirn hat den Zwischenraum zwischen Aktion und Reaktion besetzt und davon ausgehend sich im Zentrum der Welt eingerichtet. Es hat zu seinem Gebrauch eine Welt der Bilder erschaffen, eine Welt ihm zur Verfügung stehender Informationen, die es ihm ermöglichen, seine motorischen Schemen zu entwerfen, seine Bewegungen auszurichten und aus der physischen Welt eine immense Maschinerie von Ursachen und Wirkungen zu machen, die zu Mitteln für seine Zwecke werden. Wenn aber die Montage die Wahrnehmung in die Dinge zurückverlegt, dann handelt es sich dabei um eine Restitution, eine Wiederherstellung oder Wiedergutmachung.« (Ebd., 166) Die zweite Antwort gehört für Deleuze zwar einer anderen Bildlogik an, ist aber für Rancière jedoch nur »eine andere Art, dasselbe zu sagen« (ebd.). Mit der zweiten Antwort skizziert Rancière Aspekte, die Deleuze in Das Bewegungs-Bild (Deleuze 2010) ausarbeitet und mit der ersten Antwort bezieht er sich auf Deleuzes Gedanken aus Das Zeit-Bild (Deleuze 1997). Das Zeit-Bild leitet sich aus dem »Bruch mit dem sensomotorischen Schema« (Deleuze 2010, 205ff., hier 221) ab. Den Bruch diagnostiziert Deleuze im Kino der Nachkriegszeit (beispielsweise in den Filmen der Nouvelle Vague oder im italienischen Neorealismus). In diesen Filmen findet er Bewegungsbilder am Werk, die die Bewegung automatisieren und das »künstlerische Wesen des Bildes zur Erscheinung« (ebd., 205) bringen. Diese Bilder lösen für Deleuze »einen Schock im Denken« (ebd.) aus. Mit dem Zeit-Bild wird die traditionelle Narration »zerrüttet«, »indem es alle üblichen Formen eines Zusammenhangs zwischen erzählerischer Situation und emotionalem Ausdruck verbannt, um den von den Gesichtern und Gesten getragenen reinen Potenzialitäten freien Lauf zu lassen« (Rancière 2014a, 167; vgl. Deleuze 2010, 221ff.). Ebendiese Kraft ist – laut Rancières Einwand – jedoch auch in der Konstitution des Bewegungs-Bildes zu finden »und insbesondere in der Arbeit des Affekt-Bildes, das eine Ordnung reiner Ereignisse schafft, wenn es die intensiven Qualitäten von den körperlichen Gegebenheiten ablöst« (Rancière 2014a, 167; vgl. Deleuze 1997, 134ff.). Es gibt für Rancière keine grundlegende Unterscheidung zwischen den Aspekten der ersten Antwort und denen der zweiten Antwort. Es gibt keine wirkliche Differenz zwischen diesen Bildtypen und es gibt für Rancière auch keine Krise, keinen Schock, keinen Bruch und somit auch nicht zwei Bildlogiken.

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»Der Übergang vom Unendlichen der Bild-Materie zum Unendlichen des Bild-Denkens ist immer auch eine Geschichte der Erlösung. Und diese Erlösung wird immer auch durchkreuzt. Der Filmemacher trägt die Wahrnehmung in die Bilder hinein, indem er sie von den körperlichen Gegebenheiten ablöst und auf die Ebene der reinen Ereignisse bringt. Im Denken werden sie dann fortgesetzt. Aber diese Fortsetzung im Denken bringt gleichzeitig die Logik des lichtdurchlässigen Schirms wieder zurück, des zentralen Bilds, das die sich in alle Richtungen ausbreitenden Bewegungen unterbricht und alle Bilder nach eigener Maßgabe anordnet. Die Arbeit der Erlösung oder Wiedergutmachung ist immer ein neuer Zugriff. Folglich will Deleuze diese Logik der mentalen Fortsetzung der Bilder ›lähmen‹, selbst auf die Gefahr hin, den fiktiven Eigenschaften der fiktionalen Wesen eine autonome Existenz zu geben.« (Rancière 2014a, 173) Die »Logik des lichtdurchlässigen Schirms« kehrt dann zurück, wenn die BildMaterie das Bild-Denken mit seiner Bild-Materialität (Überschuss) durchkreuzt. Für Rancière führt diese Durchkreuzung jedoch nur zu einem anderen Bildtypus und nicht zu einer anderen Bildlogik. Sie führt auch nicht zu den ›reinen‹ Bilderströmen. Die Ströme versteht Rancière als eine »Lähmung«, die dazu dienen soll, die Bilder einem »Despotismus« der Regisseure zu entreißen, um sie dem Chaos der Bild-Materie wieder zu übergeben (ebd., 174). »Hier rührt man nicht nur an den Kern von Deleuzes eigenwilligem Bezug zum Kino, sondern tiefergehender noch an den Kern des Problems, welches das Kino für das Denken darstellt hinsichtlich seiner privilegierten Stellung innerhalb dessen, was man künstlerische Moderne nennt – und das ich lieber als ästhetisches Regime der Kunst bezeichnen möchte. Was dieses Regime dem klassischen, repräsentativen Regime entgegensetzt, ist schlussendlich eine andere Idee vom Denken, das in der Kunst am Werk ist. Im Regime der Repräsentation basiert die Arbeit der Kunst auf dem Modell einer aktiven Form, die sich der unbeweglichen Materie einprägt, um sie ihren repräsentativen Zwecken zu unterwerfen. Im ästhetischen Regime wird diese Idee, der Materie willentlich eine Form aufzuerlegen, abgelehnt. Das Vermögen des Werkes besteht von nun an in einer Identität der Gegensätze: der Identität von aktiv und passiv, von Denken und Nicht-Denken, von Beabsichtigtem und Unbeabsichtigtem.« (Rancière 2014a, 174)

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Für Rancière besteht die Arbeit des Films im ästhetischen Regime in der Ablehnung bestimmter Anordnungen von Materie und Form. Die Ablehnung bestimmter Ordnungen versteht Rancière als Dissens (vgl. Rancière 2008b, 35). Der Dissens bezeichnet einen (kurzweiligen) Bruch mit dem repräsentativen Regime, d.h. eine Distanznahme von einem geordneten Verhältnis zwischen Sinn (sens) und Sinnlichem (sens), die zu einer neuen Ordnung des Verhältnisses führt (vgl. Rancière 2014b, 140). Jede Transformation einer Seins- und Wahrnehmungsweise geht mit einem Dissens einher. Dissensuelle Prozesse sind – hier ergänze ich Rancière um die Argumentation von Deleuze und Guattari – doppelt artikuliert. Einerseits nimmt die Kamera den Regisseur:innen in gewisser Weise Arbeit ab, weil sie als ein Maschinenauge die Bewegungen, die Intensitäten und die Lebendigkeit der Welt in ihrer ›Wahrheit‹ erfasst. Die Hoffnungen Vertovs, dass diese Wahrheit die »Verwirklichung eines Kommunismus« und die »Verwirklichung einer neuen Welt« (Rancière 2012, 52) manifestiert, basiert darauf, dass er aus einem technischen Aspekt einen ästhetischen ableitet. Für Vertov bringt die Kamera diese Wahrheit in die Welt und zeigt die Welt »so wie sie ist«. Andererseits gibt das Maschinenauge den Regisseuren jedoch zugleich auch eine andere Arbeit mit auf den Weg: Die Kamera nimmt zwar die Welt auf, »so wie sie ist«, aber diese Wahrheit muss noch in eine Ordnung gebracht werden. Nachdem die Kamera der Regisseur:in Arbeit durch das »passive« Kameraauge abgenommen hat – d.h. passiv, weil es der Welt (oder auch dem Sinnlichen) nichts aufzwingt –, muss die Regisseur:in dieses Bildmaterial in eine »aktive« Ordnung einfügen. Die Regie muss die »passive« Arbeit der Kamera durch die »aktive« Montage lebendig werden lassen. Der Film findet im Kopf der Regie statt und die alte Logik der Repräsentation, die Macht des aktiven Geistes über die passive Materie (»Despotismus«), tritt erneut in Erscheinung. Wenn der Film nun Kunst sein will, dann muss er die alte Logik ein zweites Mal durchkreuzen. Um dieses Problem zu lösen, muss sich der Film den eigenen immanenten Kräften entgegensetzen. Aus diesem Grund ist die Filmfabel »eine durchkreuzte Fabel« (Rancière 2014a, 24), denn die Logik des Erzählens in Bildern funktioniert in einer doppelten Logik: »Es [das Kino] gehört dem ästhetischen Zeitalter an, es entsteht sowohl aus dem Auge der Maschine als auch aus dem Auge des Kameramanns, aus der Idee einer Sprache des Sinnlichen. Und zugleich entsteht es aus der optimalen Verwirklichung der aristotelischen Logik der Verkettung der Handlungen« (Rancière 2012, 107). Will der Film dieser doppelten Logik gerecht werden, muss er Neuverkettungen zwischen dem Auge der Maschine (ästhe-

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tisches Regime) und der aristotelischen Logik der Verkettung (repräsentatives Regime) erschaffen. Die Dramaturgien der Erzählung beziehungsweise der Film im Kopf des Regisseurs müssen verbunden werden mit Sequenzen, die ›frei‹ von einer erzählerischen Intention sind. Nur im Zusammenspiel von Intention und Intentionslosigkeit, Zweck und Zweckfreiheit, Bewusstem und Unbewusstem kann der Film einen Rhythmus erzeugen, der ihn weder auf der einen Seite zu einer didaktischen Lektion des Regisseurs noch auf der anderen Seite zu einer avantgardistischen Utopie verkommen lässt (vgl. auch Beiler, Sanders 2018). Rancières Bezugnahme auf Deleuzes Kinobücher greift jedoch zu kurz, wenn er den Bruch zwischen den Bildlogiken (Bewegungs-Bild und Zeit-Bild) als einen absoluten Bruch (miss-)versteht. Selbst die »tiefergehende« Gegenüberstellung der beiden Regime (ästhetisch und repräsentativ) ist ein inhärenter Bestandteil Deleuzes Argumentation. Ein kurzer Verweis auf die Arbeit von Marc Rölli Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus (2012) soll hier genügen (vgl. das Kapitel »Anfänge der Philosophie – zur Paradoxie der Differenz«; ebd., 169ff.). Im transzendentalen Empirismus koexistieren Materie- und Bilderstrom. Fasst man die doppelte Logik des Erzählens in Bildern zusammen und überträgt diesen Gedanken auf die Problematik zwischen dem Sehpunkt und dem Gesichtspunkt, dann kann man festhalten, dass das (Kamera-)Auge der Autisti:innen dieser Lebensgemeinschaft immer eine ›Maschine‹ bleibt und dass die Erzählung immer eine (von uns Sprachmächtigen) angefügte Erzählung (in einer doppelten Logik) sein wird. Es ist eine Erzählung, die auch in den Bildern von Vertov immer in einer doppelten Artikulation von einem Modus der Repräsentation und einem Modus des Ästhetischen stattfindet. Vertovs Bilderstrom ist nicht ›rein‹, sondern alle Figuren in dem Film – d.h. die Figuren auf der Arbeit oder in ihrer Freizeit in einer sozialistischen Gesellschaft – werden für Rancière von den Sprachnahen in eine geordnete Bilderzählung (Repräsentation) gebracht, um erfahrbar zu werden. Der (ästhetische) Überschuss der Bilder kann vom »emanzipierten Zuschauer« (Rancière 2009) verifiziert werden. Er muss jedoch nicht zwangsläufig verifiziert werden. Die Verifikation ist immer nur singuläre Möglichkeit, die lokal gebunden ist. Die Aussage erscheint banal, beschreibt für Rancière jedoch den Unterschied zwischen einer deleuzianischen »Theorie der Vermögen« (Rancière 2014b, 111) und einer »Kartografie des Möglichen«.

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»Ich habe nie in Begriffen der Vermögen [en termes de facultés] gedacht, sondern in Begriffen der Möglichkeit [en termes de possibilités], dass die Dinge so und so von Leuten wahrgenommen werden, die sich in dieser oder jener Lage befinden. Mein ganzes Denken entstand um all die Topiken der Illusion oder Verkennung herum, sei das nun bei Althusser, Bourdieu oder anderen. Es gibt keinen Grund für mich, von Vermögen zu sprechen, aber ich habe Gründe, von Einteilungen des Wahrnehmbaren und des Denkbaren zu sprechen, oder von Regimen der Entsprechung und NichtEntsprechung zwischen dem, was für Leute, die da oder dort verortet sind, wahrnehmbar ist. Ich spreche auch davon, wie ihre Diskurse oder ihre eigenen Erscheinungen sichtbar oder unsichtbar sind, Worte oder Lärm sind.« (Rancière 2014b, 112; Ergänzungen von mir) Aus einer deleuzianischen ›Theorie der Vermögen‹ lässt sich für Rancière ein »Regime der Denkbarkeit« (Rancière 2014b, 112; Hervorhebung von mir) ableiten. Das ist mit einer »Kartografie des Möglichen« nicht möglich. Beispiele für solche lokalen »Einteilungen des Wahrnehmbaren und des Denkbaren« finden sich in Rancières Arbeit Aisthesis (2013). Dort wendet er sich in vierzehn Szenen ganz unterschiedlichen Formen der Kunst zu, wie beispielsweise dem »Lichttanz« von Loïe Fuller oder der sozialdokumentarischen Studie von Walker Evans und James Agees Preisen will ich die großen Männer. In diesen »Szenen« kommt die Methode der Gleichheit zum Einsatz, d.h. ein antihierarchischer Zugang, der die Szenen und ihre Form und Vorgangsweisen in den Vordergrund stellt. Aus den Szenen lassen sich für Rancière jedoch keine ›Reinheit‹, ›Autonomie‹ oder unterschiedliche Operationslogiken synthetisieren. Aus diesem Grund ist es auch nicht möglich, wie Rancière zu Epsteins These über Vertov bemerkt, aus einer Technizität (Kameraauge) eine Ästhetizität (Verwirklichung einer neuen Welt) abzuleiten (vgl. Rancière 2012, 33ff.).

Fortsetzung »Kompass und Visir« Ganz in Einklang mit Rancières Einwand hält auch Deligny zu seinem Filmprojekt Ce gamin, là (FR, 1976 gemeinsam mit Renaud Victor) fest: »›Ce gamin, là‹, ist das nun ein Dokumentarfilm oder eine Fiktion? Das ist ein waschechter Dokumentarfilm. Und aus guten Gründen: Sie können nicht Janmari etwas Anderes tun lassen als das, was er Tag für Tag vollzieht. Dokumentarischer kann man nicht sein. Und dennoch ist dies eine Fiktion,

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»Ich habe nie in Begriffen der Vermögen [en termes de facultés] gedacht, sondern in Begriffen der Möglichkeit [en termes de possibilités], dass die Dinge so und so von Leuten wahrgenommen werden, die sich in dieser oder jener Lage befinden. Mein ganzes Denken entstand um all die Topiken der Illusion oder Verkennung herum, sei das nun bei Althusser, Bourdieu oder anderen. Es gibt keinen Grund für mich, von Vermögen zu sprechen, aber ich habe Gründe, von Einteilungen des Wahrnehmbaren und des Denkbaren zu sprechen, oder von Regimen der Entsprechung und NichtEntsprechung zwischen dem, was für Leute, die da oder dort verortet sind, wahrnehmbar ist. Ich spreche auch davon, wie ihre Diskurse oder ihre eigenen Erscheinungen sichtbar oder unsichtbar sind, Worte oder Lärm sind.« (Rancière 2014b, 112; Ergänzungen von mir) Aus einer deleuzianischen ›Theorie der Vermögen‹ lässt sich für Rancière ein »Regime der Denkbarkeit« (Rancière 2014b, 112; Hervorhebung von mir) ableiten. Das ist mit einer »Kartografie des Möglichen« nicht möglich. Beispiele für solche lokalen »Einteilungen des Wahrnehmbaren und des Denkbaren« finden sich in Rancières Arbeit Aisthesis (2013). Dort wendet er sich in vierzehn Szenen ganz unterschiedlichen Formen der Kunst zu, wie beispielsweise dem »Lichttanz« von Loïe Fuller oder der sozialdokumentarischen Studie von Walker Evans und James Agees Preisen will ich die großen Männer. In diesen »Szenen« kommt die Methode der Gleichheit zum Einsatz, d.h. ein antihierarchischer Zugang, der die Szenen und ihre Form und Vorgangsweisen in den Vordergrund stellt. Aus den Szenen lassen sich für Rancière jedoch keine ›Reinheit‹, ›Autonomie‹ oder unterschiedliche Operationslogiken synthetisieren. Aus diesem Grund ist es auch nicht möglich, wie Rancière zu Epsteins These über Vertov bemerkt, aus einer Technizität (Kameraauge) eine Ästhetizität (Verwirklichung einer neuen Welt) abzuleiten (vgl. Rancière 2012, 33ff.).

Fortsetzung »Kompass und Visir« Ganz in Einklang mit Rancières Einwand hält auch Deligny zu seinem Filmprojekt Ce gamin, là (FR, 1976 gemeinsam mit Renaud Victor) fest: »›Ce gamin, là‹, ist das nun ein Dokumentarfilm oder eine Fiktion? Das ist ein waschechter Dokumentarfilm. Und aus guten Gründen: Sie können nicht Janmari etwas Anderes tun lassen als das, was er Tag für Tag vollzieht. Dokumentarischer kann man nicht sein. Und dennoch ist dies eine Fiktion,

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weil die Menschen noch nie etwas Vergleichbares erlebt haben.« (D 2011, 20) Die Kamera folgt Janmari, der sich in seiner Seinsweise nicht merklich von ihr beeinflussen lässt. Außergewöhnlich ist für Deligny, dass das Maschinenauge eine maschinische Seinsweise im (Lebens-)Raum des Gemeinsamen filmen kann, sodass jede Handbewegung Janmaris als eine ›unvorstellbare‹ Bewegung festgehalten werden kann. Das Außergewöhnliche findet im Alltag der Lebensgemeinschaft statt und ist in das Gewohnheitliche eingebettet und mit ihm »verknotet« (vgl. Zander 2016, 81). »Verknotungen« sind beispielsweise dort erkennbar, wo »Interaktion« stattfindet, wo Janmari nach und nach an den täglichen Verrichtungen des gemeinschaftlichen Lebens teilnimmt und hilft, Brotteig zu kneten, der von der Gemeinschaft an die Dorfbewohner weiterverkauft wird (vgl. Abb. 18), oder wenn Anne bei der Wäsche hilft, wenn sie Eimer mitträgt oder Schmutzwasser ausschüttet (vgl. Abb. 19).

Abb. 18: Janmari knetet Brotteig (D 2007d, 0:39:40)

In beiden Fällen handelt es sich um ›unbestimmte‹ Gesten, die sich wiederum in »Leergesten« und »Nutzgesten« aufteilen lassen. Leergesten sind Gesten ohne Intention, Ziel und Zweck. Sie sind so leer, wie das Haus der Bilder, und sie können auch von Erwachsenen ausgeführt werden, wie bereits in den Abbildungen 5 bis 9 gezeigt wurde. Natürlich sind die Leergesten der

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Abb. 19: Mädchen schüttet Eimer aus (D 2007d, 0:54:30)

Sprachnahen nie ›vollkommen‹ leer, dennoch eignen sie sich dazu, Verbindungen zur Sprachferne zu initialisieren. Nutzgesten – Zander übernimmt Delignys Ausdruck »une machine à tout faire« (Zander 2016, 81) – liegen vor, wenn die Sprachfernen sich an gemeinschaftlichen Tätigkeiten beteiligen. Wenn die Leergesten der sprachfernen Kinder in Nutzgesten übergehen oder einen rhythmischen Wechsel zwischen beiden einleiten, dann spricht Zander (ebd.) von »Verknotungen«, weil Janmaris ›Teigkneten‹ und Annes ›Eimerleeren‹ beides zugleich sind. »Verknotungen« entstehen laut Zander aus »Koinzidenzen« (D 2014, 30) zwischen dem Sprachnahen und dem Sprachfernen. Er ordnet sie der »Verflechtung« (chevêtre) unter. »Verflechtungen« bilden »Verknotungen« und »Verknotungen« führen zu einem »Netz« (réseau). Im Lauf der Arbeit wird ausgehend vom Floßzeichen im entsprechenden Kapitel genauer zwischen der »Verknotung«, der »Verflechtung« und dem »Netz« unterschieden. Die Ausarbeitung der Begriffe erfolgt nach und nach am Material und um dies zu kennzeichnen, werden die Begriffe so lange in Anführungszeichen gesetzt, bis sie den hier ausgearbeiteten Anforderungen des Materials entsprechen, um angemessen mit ihm arbeiten zu können. Mit den außergewöhnlichen Vorfällen zeigt sich im Film (vgl. Abb. 18, 19), dass die Kinder sich zwar ›außerhalb‹ der Sprache bewegen, dass sie sich zu-

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gleich aber auch ›innerhalb‹ der Gemeinschaft bewegen. Der Raum des Gemeinsamen, in dem sich jeder der Beteiligten bewegen kann, ist eine (sprachnahe) Fiktion im Sinne einer gemeinsam geschaffenen ›Erzählung‹. Es ist die ›Erzählung‹ über einen Raum des Gemeinsamen, die von allen Beteiligten verifiziert wird. Die Kamera filmt Janmari als einen Teil dieses ›Gewebes‹, gibt Einblicke in ›seine‹ Seinsweise und eröffnet neue Weisen des Sehens. Was ein anderes Sehen ausmachen kann, veranschaulicht Barad am Beispiel der Schlangensterne, den nächsten Verwandten der Seesterne: »Brittlestars don’t have eyes; they are eyes. It is not merely the case that the brittlestar’s visual system is embodied; its very being is a visualizing apparatus. The brittlestar is a living, breathing, metamorphosing optical system. For a brittlestar, being and knowing, materiality and intelligibility, substance and form, entail one another. Its morphology – its intertwined skeletal and diffuse nervous systems, its very structure and form – entails the visualizing system that it is. This is an animal without a brain. There is no res cogitans agonizing about the postulated gap (of its own making) between itself and res extensa. There is no optics of mediation, no noumenaphenomena distinction, no question of representation.« (Barad 2007, 375) Das gesamte Skelett der Schlangensterne operiert als visuelles System, lautet die Erkenntnis eines internationalen Forschungsteams 2001 in Nature Nr. 412 (819-822; vgl. Barad 2007, 369ff.). Schlangensterne haben keine Organe zum Sehen und dennoch übernimmt ihr gesamter Körper eine Seh-Funktion. Ein Schlangensternkörper ist eine Sehmaschine. Den eigenen Körper in eine Sehmaschine zu verwandeln, fasst Deleuze als einen Werdensprozess auf. Werdensprozesse sind (auch) Bildungsprozesse (vgl. Sanders 2018, 123). Ein mögliches Schlangenstern-Werden ist nichts anderes als die Einübung und Annäherung an eine andere Seins- und Wahrnehmungsweise. Die Annäherung an die Seins- und Wahrnehmungsweise eines Schlangensterns, in der der gesamten Körper in eine Sehmaschine transformiert wird, erscheint weniger abwegig, wenn man sie mit der Seins- und Wahrnehmungsweise von taubblind geborenen Menschen vergleicht. Das Erlernen des Lorm-Alphabets geht mit einem Werdensprozess einher, durch den der Körper in eine Sehmaschine transformiert wird. Werner Herzogs Dokumentation Land des Schweigens und der Dunkelheit (D, 1971) widmet sich der Annäherungen an diese Seinsund Wahrnehmungsweisen und zeigt, welcher Modus des ›Sehens‹ in diesem Land erforderlich ist.

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Tun und Agieren Das Erste, was in einem respektvollen Umfeld im Alltag mit diesen autistischen Kindern sichtbar wird, schreibt Deligny, ist, dass sie auch ohne eine sprachlich reflexive Beziehung zur Welt und zu Anderen und den damit verbundenen Gemeinschaftsverhältnissen ›aktiv‹ an einem Gemeinschaftsleben teilhaben. Es soll weiter darum gehen, zu untersuchen, wie das Gemeinsame zu fassen ist, wie man sich ihm nähern kann, ohne es sprachlich allzu sehr zu verdecken und wie die Lebensgemeinschaft damit umgeht, dass Sprachnahe nur mittels der (paradoxen) Vermittlung der Zwischenräume zur Sprachferne hinübersehen können. Hinzu kommt das Problem, dass das Hinübersehen zu einem ›rein‹ Außersprachlichen in der Sprachferne ein dichotomes Verhältnis konstituiert, das schnell zu Missverständnissen führen kann. Wenn Sprachferne und Sprachnähe auf ein statisches, dichotomes Verhältnis reduziert werden, das sich vorwiegend einem Denken der Identität|Differenz verschreibt, dann hat das zur Folge, dass eine künstliche Reinheit konstituiert wird, die zu einem »ideal type« (Milton 2016, 286) von Autismus führt und andere Formen von Autismus in den Hintergrund drängt. Die sprachferne Seinsweise betrifft natürlich nur einen bestimmten Teil der Spekturmsstörung, der die Arbeiten von Deligny beinahe ausschließlich dominiert. So spielen beispielsweise Autist:innen, die ganz eigene und selbstbestimmte sprachliche Zugänge in Form einer »aut-ethnography« (Milton 2014) statt einer Autobiografie verfassen, – so der Vorwurf von Milton (ebd., 286) – kaum eine Rolle. Unter einer »Aut-ethnography« versteht Milton die brüchige und gespaltene ›Selbst‹-Thematisierung von Autist:innen. Solche Arbeiten liegen beispielsweise mit den (teils umstrittenen) Buchveröffentlichungen von Temple Grandin »Emergence: Labeled Autistic« (1986, mit Margaret Scariano), Donna Williams »Nobody Nowhere: The Extraordinary Autobiography of an Autistic Girl« (1992), Birger Sellin »Ich will kein Inmich mehr sein: Botschaften aus einem autistischen Kerker« (1993) oder auch Liane Holliday Willey »Pretending to be Normal: Living with Asperger’s Syndrome« (1999) vor. Milton zielt vor allem auf die Arbeiten von autistischen Wissenschaftler:innen (»autistic scholars«), die häufig am Rand der wissenschaftlichen Diskurse die eigenen Zugänge zur Wissensproduktion über Autismus thematisieren. Der durchaus berechtigten Kritik von Milton kann entgegnet werden, dass die Dichotomien, die von Deligny konstituiert werden, stets dafür vorgesehen sind, überschritten zu werden. Es geht nicht darum, eine ›reine‹ Sprachferne

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zu identifizieren oder zu essentialisieren, um die Differenz zur Sprachnähe abzumessen und kartieren zu können. Eine solche Vorgehensweise würde den Abstand zwischen Sprachferne und Sprachnähe zementieren, weil in der Praxis wiederholt werden würde, was bereits vorausgesetzt würde. Auf dieses Problem verweist Milton auch in seiner eigenen Aut-Ethnografie hin. Es geht ihm nicht um ein kohärentes Narrativ des Selbst über die Zeit hinweg, sondern um eine Erfahrung, »a fragmented one, where snippets of information are formed into ›rhizomatic‹ patterns of shifting meanings« (Milton 2014, 185). Janmaris Journal ist eine solche Aut-Ethnografie (vgl. Janmari 2013; Abb. 14a, b). Dem Vorwurf, dass das Journal erst 2013 erschienen ist – 11 Jahr nach seinem Tod im Juni 2002 und nach dem Wirken der Gemeinschaft um Deligny –, ließe sich entgegnen, dass man das Erscheinen auch aus der entgegengesetzten Perspektive verstehen kann, und zwar als das Weiter- und Nachwirken derjenigen, die dieses Projekt immer noch fortführen. In Ce gamin, là sieht man Janmari vor einer Staffelei stehen und ›seine‹ Kringel anfertigen beziehungsweise ›seine‹ Gesten ausführen (vgl. Abb. 20).

Abb. 20: Janmari an der Staffelei (D 2007d, 1:17:05)

Janmaris sprachferne Werke stehen nicht in einem Differenzverhältnis zur Sprachnähe, sondern sind von Beginn an ein Teil des Wirkens im Gemein-

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schaftsleben. Die Gemeinschaft setzt sich mit ›seinen‹ Kringeln auseinander. Die Kringel bieten bei der Konstitution von Kompass und Visier – dies zeigen die Figuren auf Abbildung 13 und 17 – und bei der Orientierung in den unbekannten Gewässern der Sprachferne eine (topografische) Orientierung. Janmaris Kringel rahmen auf Abb. 17 als zentrales Zeichen den »autistischen Bewegungsraum« (»autistic space«; D 2013a, 252), der durch das Gemeinsame (N) ins Visier genommen wird. Die Kringel weisen in dieser ›Visier-Funktion‹ auf Suchbewegungen für Sehpunkte hin, die dadurch in den Vordergrund treten können, wodurch zugleich auch (sprachnahe) Gesichtspunkte abgebaut werden können. Die Dichotomie zwischen Sprachferne und Sprachnähe dient dazu, der Gemeinschaft andere Formen der Wahrnehmung zur Verfügung zu stellen. Kompass und Visier sind in dieser Hinsicht Orientierungswerkzeuge für ein Gemeinschaftsleben, das sich in den Häusern der Sprache, der Bilder und der Zwischenräume abspielt. Durch bewegliche Dichotomien setzt sich die Gemeinschaft das Ziel, sich auf die Suche nach einem Kontinuum zwischen den unterschiedlichen Seins- und Wahrnehmungsweisen zu begeben. Sprachnahe Seins- und Wahrnehmungsweisen können dadurch immer wieder neu und immer wieder anders infrage gestellt und verschoben werden. Die Dichotomien sind nicht absolut, sondern operational und leistet einen produktiven Beitrag zu diesen Suchbewegungen. Die sprachfernen Kinder aus der Gemeinschaft um Deligny befassen sich mit nichts und sie spielen auch nicht – weder allein noch mit anderen. Sie tun (faire) nichts, sie agieren (agir) vielmehr. Das Tun hat eine thetische Einstellung zur Wirklichkeit und steht dem Agieren gegenüber. Agieren ist ein nichtreflexives Verhalten, das Deligny streng von einem intentionalen Tun und Machen unterscheidet. Ich übersetze agir mit ›agieren‹, um Missverständnisse zu vermeiden, die sich beispielsweise durch Ronald Voulliés Übersetzungsvorschlag »handeln« (vgl. bspw. D 2013, 54; D 2016, 7) ergeben könnten. Handeln leitet sich von Agieren (lat. agere) ab und ist in seinem Gebrauch oftmals näher beim Intentionalen angesiedelt als ein unbestimmteres Agieren. Das Agieren ist kein »rudimentärer Modus der Verständigung« (D 2016, 49), weil es keine unvollendete oder unfertige Sprache ist. Auch hier dient die Dichotomie nicht dazu, die Differenz zwischen Sprachnähe und Sprachferne zu zementieren, sondern dazu, sie in Frage zu stellen. Deligny stimmt hier mit Lacan überein, dass es keine Vorsprache (pré-langage) geben könne. »Von Vor-Sprache zu sprechen, bedeutet, die Tatsache außer Acht zu lassen, dass die gegebene Sprache unvermeidlich Schluss macht mit dem spezifi-

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schen Gemeinsamen und einen Pakt schafft, der dahin tendiert, die Wirkungen des Spezifischen zu annullieren, unter dem Deckmantel, sie zu umhüllen, womit sie sich immer wieder brüstet, auch auf die Gefahr hin, ihre Ursprünge in der Sprache der Biber oder Gibbons auszumachen, und die Ursprünge der Treue des Paares in dem zu sehen, was es mit dem Paar bei den Gänsen auf sich hat.« (D 2016, 50) Die Annullierung des Spezifischen der Sprache, hängt damit zusammen, dass manche Kinder kein sprachliches Bewusstsein von sich selbst, kein »Seinsbewusstsein« (ebd., 24) haben. Sie necken ›sich‹ nicht und amüsieren ›sich‹ nicht; sie agieren. »Und das – zweifellos menschliche – Agieren gibt es durchaus, und zwar nicht als Residuum irgendeines Unvermögens, sondern als Vorentwurf dessen, was das geerbte Bild, das jeder sich vom Menschen macht, schon immer ausklammert.« (Ebd., 7; vgl. D 2007a, 1250; modifizierte Übersetzung von mir) Das Agieren kennt keine Intention und hat keinen Bezug zu einem zielorientiert handelnden Bewusstsein, geschweige denn dazu, wie zielorientiert agiert werden könnte, weil selbst der Wunsch dazu ›sich‹ nicht artikuliert. Man kann dem Agieren dementsprechend keine Vernunft und keine Vernunftgründe zuordnen, weil das Agieren nicht in der Einheit eines ›Ich‹ gebündelt wird. Dennoch ist ein:e sprachferne:r Autist:in für Deligny – mit Bezug auf Kant – nicht ohne Verstand, denn seine Wahrnehmung und Empfindungen werden »zu einer Quantität von kleinen Systemen verbunden« (ebd., 43). Das Agieren wird nicht in einer sprachlichen, sondern einer sinnlichen ›Einheit‹ gebündelt. In der Sprachferne sind es weniger Erinnerung und Gedächtnis (im herkömmlichen Sinn), die im Lauf der Jahre als eine intelligibles »Eigentum« intervenieren, sondern vielmehr das »Schon-Geschehene« (ebd., 42). »Das geringste Wissen entschwindet schnell; also keine Erinnerung, [pas de mémoire donc] […], abgesehen davon, dass das Agieren bei ihm [Christophe] zeigt, dass das Ganze im Laufe der Jahre Schon-Geschehene [le déjàvu] jederzeit intervenieren kann. Was mich sagen lässt, dass es zwei Gedächtnisse [deux mémoires] gibt, die sehr wohl nicht in sich korrespondieren können und nicht denselben Fokus haben; am Fokus des einen gibt es einen, der wollen, wissen kann und zum ethnischen Müssen (falloir ethnique) in der Lage ist; am Fokus des anderen das, was sich als spezifisches Gemein-

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sames bezeichnen lässt, das im Zustand des Entwurfs bleibt, in einer Welt, in der die Haut eines jeden die Haut der Rolle ist, die man erfassen, kennenlernen muss.« (Ebd., 42f.; vgl. D 2007a, 1268f.; modifizierte Übersetzung und Ergänzungen von mir) Ein solches Intervenieren kann sich beispielsweise darin zeigen, dass eine mehrere Jahre alte Feuerstelle von einem Mädchen in der Lebensgemeinschaft (räumlich) aktualisiert wird, wenn es als eine Art Feuerpriesterin ›agiert‹. Das »Schon-Geschehene« gehört einer Zeitordnung an, in der das ›GegenwärtigGeschehende‹ von Rissen und Brüchen durchzogen ist. Gegenwärtiges ist ›immer schon‹ überlagert durch das »Schon-Geschehene«, d.h. der Ort, der für Sprachnahe ›gegenwärtig‹ nichts weiter als ein zugewachsener Platz fernab der Lebensfläche ist, ist für dieses Mädchen ›immer noch‹ eine Feuerstelle. Das »zweite« Gedächtnis funktioniert ähnlich wie eine Datenbank bei Manovich. Manovich stellt die Datenbank der Erzählung gegenüber, die darauf abzielt: »a cause-and-effect trajectory of seemingly unordered items (events)« (Manovich 1998, 8) zu konstituierten. Die Datenbank ist hingegen eine strukturierte Sammlung oder Menge von Daten ohne sequenzielle Ordnung (vgl. ebd., 1). Die Datenmenge lässt sich weder in formaler noch in thematischer oder genetischer Hinsicht auf eine Sequenz zurückführen. »As a cultural form, the database represents the world as a list of items, and it refuses to order this list. In contrast, a narrative creates a cause-and-effect trajectory of seemingly unordered items (events). Therefore, database and narrative are natural enemies. Competing for the same territory of human culture, each claims an exclusive right to make meaning out of the world.« (Manovich 2001, 225) Ein Film kann für Manovich auch eine Datenbank beziehungsweise ein Datenbankfilm sein. Als ein idealtypisches Beispiel führt er den Film von Vertov Der Mann mit der Kamera (SU 1929) an und argumentiert, dass das Kameraauge (kino-eye) bei Vertov dazu dient, durch kinematografischen Überschuss (orgy of cinematography) und eine Vielzahl von Möglichkeiten, die dieses Auge bereitstellt, die Welt zu dekodieren (decode) (vgl. Manovich 1998, 24). Eine Datenbank baut Gesichtspunkte ab. Die Veränderungen, die durch die neuen datenbankbasierten Medien hervorgebracht werden, fasst Sanders in seiner Arbeit Serie als symbolische Form (Sanders 2017) zusammen: »Die Entgegensetzung paradigmatischer versus syntagmatischer Beziehungen kehrt sich um. Während sich in Literatur oder Film die syntagmatische

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Dimension realisiert und die paradigmatische Dimension virtuell bleibt – es hätte zwar immer auch anders und Anderes erzählt werden können, doch die Sequenz liegt fest –, versammelt eine Datenbank (the paradigm) alle aktuellen Alternativen, aus der sich eine Vielzahl von Erzählungen (the syntagm) generieren lässt, die nicht erzählt werden müssen. Der Konsistenzzwang schwächt sich ab. Die kleinen Stehgreiferzählungen wirken dann im Vergleich zu den entwerteten lange tradierten großen oft flach.« (Sanders 2017, 16) Die scheinbar spontane Aktualisierung der sprachfernen Kinder von längst breitgetretenen Feuerstellen oder zugewachsenen Wegen und das konsequente Beharren auf eine weitere ›Nutzung‹ dieser Räume vollzieht sich a-sequenziell und dekodiert dadurch – sofern es von Sprachnahen gesehen wird – auch sprachnahe Wahrnehmungsräume. Die Aktualisierungen des »zweiten« Gedächtnisses operieren datenbankbasiert und es kann weiter geschlossen werden, dass der Verstand durchaus eine eigene ›Struktur‹ oder Gesetzmäßigkeit entwickelt, denn die Gedanken der Sprachfernen sind – im weitesten Sinn – sicherlich nicht ohne Inhalt und die Anschauungen auch nicht ohne Begriff. Die Formen von Raum und Zeit, die für Kant reine Formen der Anschauung sind und nicht aus der Erfahrung eines Bewusstseins abstrahiert werden, unterwerfen die Wahrnehmungsräume der Sprachfernen jedoch anderen Gesetzen. Denn in der Sprachferne sind sowohl die Formen der Anschauung als auch die Erfahrungen nicht mit der Vorstellung einer (sprachlichen) Einheit verbunden und sie werden auch nicht von einem sprachlich verfassten »Ich denke« begleitet. »Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, würden nicht insgesamt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem Selbstbewusstsein gehöreten, d.i. als meine Vorstellung (ob ich mich ihrer gleich nicht als solcher bewußt bin) müssen sie doch der Bedingung notwendig gemäß sein, unter der sie allein in einem allgemeinen Selbstbewusstsein zusammenstehen können, weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden.« (Kant 1998, KdU, B 132-133, 178) Die Quantitäten der kleinen Systeme benötigen jedoch kein einheitliches Selbstbewusstsein, was zur Folge hat, dass die Kinder die mannigfaltigen Vorstellungen nicht als Besitz oder Verfügbarkeit zu einer (sequenzierbaren) Einheit zusammenfügen.

Fährtenlinien in den Cevennen

»Auch wenn Jean-Jacques Rousseau den Ursprung der Sprache – und der Musik – in der von der Stimme modulierten Leidenschaft sieht, sehe ich ihn eher in der Tatsache dieser Hände, vor denen ein Autist perplex bleibt und nicht aufhört, sie zu inventarisieren, zu begutachten und zu entdecken.« (D 2016, 81) Die Hände, die begutachtet werden, als ob sie in einem ›Außen‹ der ›eigenen‹ Wahrnehmung und Empfindung angesiedelt wären, die dennoch zu einem Körper gehören, drängen sich wie jeder andere Gegenstand als eine maschinische Quantität auf, die zu einem Netzwerk oder einer datenbankförmigen ›Struktur‹ zusammengefügt wird. In der sprachfernen Seins- und Wahrnehmungsweise gibt es kein Innen und Außen. Es gibt dort eine Menge von Quantitäten, die sich jederzeit aktualisiert beziehungsweise aktualisieren kann. Eine Wasserpfütze, ein Stein oder die ›eigenen‹ Hände können zu einem solchen Maschinennetz gehören. »Und es ist wahr, dass ein Autist an diesen, für uns völlig belanglosen Dingen, die im Wahrnehmungsfeld herumliegen, hängt, während er an seinen Händen nicht hängt, oder es geschieht alles vielmehr so, als ob sie nicht an ihm hängen würden, sodass man sagen könnte, dass sie ihm nicht gehören.« (Ebd., 78) Die Hände sind nicht Teil seines Körpers, sondern vielmehr Teil eines maschinischen Netzes, zu dem auch der ›eigene‹ Körper gehört. Die ›Initiativen‹ zum Agieren gehen dementsprechend nicht von einem selbst- und körperbewussten Innen zu einem äußerlichen Weltbezug, sondern können von überall und zu jeder Zeit ausgelöst werden. Sie befinden sich auf einer Ebene der Immanenz, in der es kein Außen gibt. Was ein Agieren initiiert oder wo es seinen Anfang nimmt, lässt sich nicht sagen. Die Hände gehören einer maschinischen Ebene der Immanenz an und nicht einem bestimmten Körper. Es sind »nicht angeschlossene Organe« (ebd., 80). Oder noch genauer: »Das lässt sich so sagen, dass es das WESEN ist, das friert und nicht Janmari, der nichts hat, nicht mal Hunger. Die Seinsweise, die ›die seine‹ ist, besteht nicht darin zu haben, und sei es auch nur ein Schaffell, um sich – das WESEN – vor der Kälte zu schützen.  Keinen Hunger zu haben, hindert nicht daran zu essen. Sich zu ernähren – zu haben und zu wollen, gehen Hand in Hand.« (D 2013b, 119)

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Die Organe können und müssen auch nicht angeschlossen werden, wenn die Seinsweise maschinisch funktioniert. Einer solchen Seinsweise kann man sich von sprachbewusster Seite nur über die besagten Zwischenräume annähern. Die Räume der Annäherung erfordern zunächst eine Überwindung der strengen Trennung zwischen Tun und Agieren, d.h., es müssen, wie in den Abbildungen 5 bis 9 zu sehen ist, Zwischenformen von Tun und Agieren erfunden werden, die beiden Seiten (sprachnah und -fern) Zugänge ermöglichen. Jeder sprachbewusste Erwachsene in der Lebensfläche »durchkreuzt« sein Tun – soweit es ihm möglich ist – mit einem Agieren und jedes Agieren wird umgekehrt durch gemeinsame (recht maschinische) Tätigkeiten »durchkreuzt«, wie beispielsweise den Teig kneten, das Geschirr abwaschen etc. Der Sinn dieses Gemeinsamen wird – im Unterschied zu einem Gemeinsinn – durch Gebärden (gestes), Leergesten (gestes pour rien) und Nutzgesten (une machine à tout a faire) in einem Netzwerk »konstituiert« (vgl. auch D 2014, 55, 62). Leergesten sind im Unterschied zu den Gesten oder Gebärden nichtintentional und können sowohl einem Agieren als auch einem Tun zeitlich vorausgehen und von jedem zu jeder Zeit initiiert werden. Leergesten können nicht wie Signale oder Zeichen verwendet werden. Sobald die Leere der Geste von einem Körper oder der Bewegung mit der Intention eines Zeichens belegt wird, ist es keine Leergeste mehr, sondern ein sprachliches Zeichen, das aus der Sprachferne kaum als solches wahrgenommen wird. Will man etwas sprachlich Bestimmtes in die Sprachferne vermitteln, verhindert man vielmehr ein Agieren oder überlagert es, indem man den Bewegungen der Kinder Reaktion und Intention in Bezug auf das Signalisierte unterstellt. Leergesten müssen als solche (möglichst) leer sein, um eine Verbindung oder Brücke zu einem geteilten Sinn des Gemeinsamen aufrechtzuhalten. »›Zeichen‹ ist zugleich eine Konvention und ein Grundelement der symbolischen Ordnung, dem unser ›Bildungsgedächtnis‹ Universalität zuspricht. Alles ist Zeichen, verweist auf etwas, was es selbst nicht ist – einschließlich des Selbst, das sich dann eben ›Selbst‹ schreibt. Jede Geste sei, in ihrer Metafunktion als ›Geste‹, ein Köder, um sie als ›Geste‹, also Zeichen von etwas, auszulegen und an dieses ›Etwas‹ zu binden. Folglich hängen der Gebrauch der Geste, so Deligny, von der Fähigkeit ab, dem Zeichen gegenüber den antonymen Bedeutungswert des Gestischen zeigen zu können.« (Zander 2003, 218)

Fährtenlinien in den Cevennen

Das Ziel besteht darin, im Umgang mit den Kindern Leergesten und Gebärden hervorzubringen, die auch zu einem Agieren führen, wofür es zunächst erforderlich ist, »ein Gefühl für die andere Schwerkraft« (D 2016, 85) zu bekommen, um diese Fähigkeiten zu erlernen. Das Erlernen zielt jedoch nicht auf einen Zuwachs an Wissen oder eine ›kritische‹ Perspektive zur Sprachnähe als neuer Macht-Wissen-Subjekt-Formation. Ziel ist nicht die epistemische Neuorientierung, sondern der Bruch mit bisher (sprachnah) Erlerntem. Es geht um das Erlernen einer Denkweise, die sich anderen Seins- und Wahrnehmungsweisen zuwenden kann. Die Standbilder auf den Abbildungen 5 bis 9 aus Ce gamin, là zeigen, wie ein anderes Denken eröffnet werden kann, wenn sich die Sprachnahen auf die »Konstitution« von Zwischenräumen konzentrieren. Es geht darum, mittels der Gesten und Leergesten einen Möglichkeitsraum der »Koinzidenzen« (coïncidence, D 2014, 30) des Gemeinsamen zwischen Sprachnähe und Sprachferne zu konstituieren. Das Gefühl für eine andere Schwerkraft ist für Sprachnahe nicht ausschließlich durch Intuition oder Empfindsamkeit gekennzeichnet, sondern auch durch die Verlagerung der eigenen Position, die mit der bewussten Entscheidung zusammenhängt, sich den Zwischenräumen zu widmen. Die Schwerkraft einer anderen Seins- und Wahrnehmungsweise spürt man nur an einem anderen Ort; einem Ort, an dem »wir uns ihrem Einfluss aussetzen müssen« (D 2016, 85). Den Schritt der Sprachnahen in die Nähe einer anderen Schwerkraft kann man mit Rancière auch als eine »politische Subjektivierung« (Rancière 2002, 47) verstehen. Rancière definiert die politische Subjektivierung als den Prozess einer »Ent-Identifizierung« (ebd., S. 48), d.i. »eine Reihe von Handlungen […], die eine Instanz und eine Fähigkeit zur Aussage erzeugen, die nicht in einem gegebenen Erfahrungsfeld identifizierbar waren, deren Identifizierung also mit der Neuordnung des Erfahrungsfeldes einhergeht« (ebd., S. 47). Die Neuanordnung des Erfahrungsfeldes ist für Sprachnahe ein dissensueller Prozess und für Sprachferne in gewisser Weise ein Dauerzustand. Eine maschinische Seins- und Wahrnehmungsweise wäre demzufolge ein fortwährender Dissens. Der Einsatz der Leergesten führt in die Nähe der Sprachferne, weil sie einen Raum der Koinzidenzen eröffnen. Mit Leergesten können Sprachferne »interagieren«. Die »Interaktionen« in den Zwischenräumen erfordern Begegnungen von Sprachnähe und Sprachferne. Sprachnähe und Sprachferne müssen sich begegnen und in irgendeiner Weise »interferieren« bevor es zu »Interaktionen« kommen kann. »Interaktion« und »Interferenz« sind keine

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Begriffe, auf die Deligny zurückgreift. Sie kommen in dieser Arbeit zum Einsatz, weil sie als Gefüge die Wirkmacht und das Potenzial der kartografischen Praxis dort ergänzen und stützen können, wo Deligny beziehungsweise die Übersetzer:innen auf unbeweglichere Wendungen zurückgreifen. Den Begriff der »Verflechtung« entnimmt Deligny beispielsweise dem Zimmermannshandwerk, genauer gesagt der Balkenlage. Daraus könnte geschlossen werden, dass eine »Verflechtung« ein »Verbindungspunkt« sei, wie Voullié chevêtre übersetzt (D 2016, 13; vgl. D 2007a, 1253). In den Räumen zwischen Sprachnähe und Sprachferne wird jedoch nichts miteinander verbunden, weil im dritten Haus lediglich die Formen der Vermittlung erfahrbar werden. Zwischen dem Haus der Sprache und dem Haus der Bilder gibt es im dritten Haus, wie oben mit Coccia ausgeführt, keine Verbindungen zwischen Subjekt und Objekt. Der Spiegel (bei Coccia) oder die Wand (bei Deligny) sind Orte, an denen immaterielle Formen als »objektives Unbewusstes« (Coccia 2020a, 77) wahrnehmbar werden. Das objektive Unbewusste, das Bild, ist unteilbar und steht gewissermaßen ausschließlich mit sich selbst in Verbindung. Der Begriff der »Interferenz« ist in diesem Zusammenhang präziser, weil er kennzeichnet, dass Unterschiedliches in einem aktiven Austauschprozess steht und dass die Art und Weise des Austausches nicht weiter determiniert ist. Die Präzision ist erforderlich, weil an den Grenzen der Sprachnähe Missverständnisse auftreten können. So sind beispielsweise die Wege, die im Alltag in der Gemeinschaft von den Sprachfernen zurückgelegt werden, keine Umwege im eigentlichen Sinn, wie der Titel Die Umwege des Handels oder die kleinste Gebärde (D 2016) nahelegt, weil sie nicht in Abgrenzung zu einem direkten Weg zurückgelegt werden. Es sind – wie in einem anderen Titel übersetzt – natürlich auch keine Irrlinien (D 2002) im engeren Sinn, weil sie nicht in die Irre führen und weil es auch hier kein Differenzverhältnis zu den üblichen oder richtigen Linien gibt.

Verbindungen, Durchkreuzungen und Zwischenräume Das Fährtenlinienblatt 55 (Abb. 21) liegt auf einer Karte (K 49), die die Raumaufteilung des Hauses von Guy und Marie-Rose Aubert in Monoblet und die Gegenstände in den Räumen des Hauses zeigt. Auf den Fährtenlinienblättern der Serie treten vor allem Personen im Raum hervor, die als Strichmännchen in unterschiedlichen Farben hervorgehoben wurden. Richtungspfeile und Bewegungslinien der Personen in den Räumen sind gut erkennbar. Bei genaue-

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Begriffe, auf die Deligny zurückgreift. Sie kommen in dieser Arbeit zum Einsatz, weil sie als Gefüge die Wirkmacht und das Potenzial der kartografischen Praxis dort ergänzen und stützen können, wo Deligny beziehungsweise die Übersetzer:innen auf unbeweglichere Wendungen zurückgreifen. Den Begriff der »Verflechtung« entnimmt Deligny beispielsweise dem Zimmermannshandwerk, genauer gesagt der Balkenlage. Daraus könnte geschlossen werden, dass eine »Verflechtung« ein »Verbindungspunkt« sei, wie Voullié chevêtre übersetzt (D 2016, 13; vgl. D 2007a, 1253). In den Räumen zwischen Sprachnähe und Sprachferne wird jedoch nichts miteinander verbunden, weil im dritten Haus lediglich die Formen der Vermittlung erfahrbar werden. Zwischen dem Haus der Sprache und dem Haus der Bilder gibt es im dritten Haus, wie oben mit Coccia ausgeführt, keine Verbindungen zwischen Subjekt und Objekt. Der Spiegel (bei Coccia) oder die Wand (bei Deligny) sind Orte, an denen immaterielle Formen als »objektives Unbewusstes« (Coccia 2020a, 77) wahrnehmbar werden. Das objektive Unbewusste, das Bild, ist unteilbar und steht gewissermaßen ausschließlich mit sich selbst in Verbindung. Der Begriff der »Interferenz« ist in diesem Zusammenhang präziser, weil er kennzeichnet, dass Unterschiedliches in einem aktiven Austauschprozess steht und dass die Art und Weise des Austausches nicht weiter determiniert ist. Die Präzision ist erforderlich, weil an den Grenzen der Sprachnähe Missverständnisse auftreten können. So sind beispielsweise die Wege, die im Alltag in der Gemeinschaft von den Sprachfernen zurückgelegt werden, keine Umwege im eigentlichen Sinn, wie der Titel Die Umwege des Handels oder die kleinste Gebärde (D 2016) nahelegt, weil sie nicht in Abgrenzung zu einem direkten Weg zurückgelegt werden. Es sind – wie in einem anderen Titel übersetzt – natürlich auch keine Irrlinien (D 2002) im engeren Sinn, weil sie nicht in die Irre führen und weil es auch hier kein Differenzverhältnis zu den üblichen oder richtigen Linien gibt.

Verbindungen, Durchkreuzungen und Zwischenräume Das Fährtenlinienblatt 55 (Abb. 21) liegt auf einer Karte (K 49), die die Raumaufteilung des Hauses von Guy und Marie-Rose Aubert in Monoblet und die Gegenstände in den Räumen des Hauses zeigt. Auf den Fährtenlinienblättern der Serie treten vor allem Personen im Raum hervor, die als Strichmännchen in unterschiedlichen Farben hervorgehoben wurden. Richtungspfeile und Bewegungslinien der Personen in den Räumen sind gut erkennbar. Bei genaue-

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Abb. 21: FlB 55 (vgl. Siglen für Karten »K« und Fährtenlinienblätter »FlB« aus Cartes et lignes d’erre (D 2013a) im Quellenverzeichnis)

rem Hinsehen sind auf diesem beispielhaft herausgegriffenen Blatt aus dem Jahr 1969 auch Sprechblasen erkennbar, die einzelnen Personen beziehungsweise Strichmännchen zugeordnet sind. Die Sprechblasen zeigen, dass in

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diesem frühen Stadium der kartografischen Praxis noch auf eine sprachliche »Interaktion« mit den Kindern zurückgegriffen wurde. Auf dem Blatt sind jedoch auch die ersten feine Fährtenlinien zwischen den einzelnen Räumen erkennbar. Zwischen den Formen der »Interaktion« von Sprachfernem und Sprachnahem ergeben sich auch schon erste Spannungen. Der Text im oberen Teil des Blattes, die Strichmännchen an lokalisierbaren Positionen im Haus, die kleinen Striche auf den Linien, die die Bewegungsrichtungen der Kinder anzeigen und das Ziffernblatt, das sich über das obere Drittel der Karte ausdehnt, gehören zu einem sprachnahen Modus der Identifikation und der Repräsentation. Auf dem Blatt sind auch Distanznahmen zu Formen der Repräsentation erkennbar. Eine dieser Distanznahmen ist der Gebrauch von kleinen Zeichen für die Kartierung eines nichtverbalen Sprachgebrauchs (»langage non verbal«, D 2013a, 50). Es sind beispielsweise kleine Sterne in Rot auf der Karte, die den Blick oder das Starren eines Kindes markieren. Die kleinen roten Punkte auf Abbildung 21 kennzeichnen ein Summen oder Lachen der Kinder. Das ›Nichtverbale‹ wird hier noch im Modus der Repräsentation identifiziert. Die Zeichen bleiben jedoch selbst mit den Erklärungen der Kartenlegende aus dem Band (D 2013a, 54) relativ unbestimmt. Der kleine rote Stern auf der Karte markiert beispielsweise ein Ereignis, das in Ce gamin, là in Szene 0:47:05-0:48:05 gezeigt wird, in der ein kleines Mädchen bei der Vorbereitung des Frühstücks zusieht und währenddessen in regelmäßigen Abständen summt und Lautfolgen intoniert. Sie lächelt und bewegt die Hände vor dem Mund, so als ob sie die Bewegungen eines Maultrommelspielers imitieren würde. Der ›Imitation‹ gehen die Leergesten eines sprachnahen Erwachsenen voraus (vgl. Abb. 6), die von dem Mädchen ›aufgegriffen‹ werden und dann – sofern einer der sprachnahen Erwachsenen dies bemerkt – wieder kartiert und mit Markierungen versehen werden. Ob und wann Leergesten bemerkt und kartiert werden, ist scheinbar Zufall. Einige sprachnahe Leergesten werden in Nutzgesten überführt (Abb. 18). Nutzgesten können jedoch auch ohne andere Bezüge – wie aus dem Nichts – initiiert werden (Abb. 19). Leergesten eröffnen »Interaktionsräume«, in denen das Agieren Anschlüsse findet und das Agieren trägt wiederum dazu bei, die Leergesten rückwirkend zu beeinflussen, weil die Leergesten sich (mimetisch) am Agieren orientieren. Die »Verflechtungen« zwischen dem sprachnahen Tun und dem sprachfernen Agierens ergeben sich im Alltag der Lebensgemeinschaft. Eine Tätig-

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keit, wie beispielsweise das Brot backen, setzt sich aus »Paraphen des Agierens« zusammen (D 2016, 81; vgl. D 2007a, 1291; modifizierte Übersetzung von mir), wie sie auch in Abbildung 18 bei Janmari beziehungsweise auch in anderen Szenen in Ce gamin, là zu sehen ist. Ein anderes Beispiel hierfür ist die Szene 0:58:35-0:59:05 in der Janmari mit einem sprachnahen Erwachsenen zusammen ein Sägeblatt reinigt (vgl. Abb. 22).

Abb. 22: Janmari reinigt ein Sägeblatt mit einem sprachnahen Erwachsenen (D 2007d, 0:58:55)

Beide greifen auf die gleichen Nutzgesten zurück. Janmaris ›Nutzgesten‹ sind jedoch unterbrochen und von Paraphen überlagert, weil seine Gesten nicht darauf abzielen, das Sägeblatt zu reinigen. Janmaris Agieren ist untrennbarer Teil ›seiner‹ Seins- und Wahrnehmungsweise. Innerhalb dieses unteilbaren maschinischen Kontinuums bilden Sägeblatt, Reinigen, Nutzen des Sägeblatts, Holzsplitter, Hände, Nutzgesten, Agieren etc. eine Einheit. Die Einheit ist keine rein physische oder metaphysische, sondern eine BildEinheit, d.h. eine objektiv unbewusste Einheit, die sich ausschließlich im dritten Haus zeigt, beziehungsweise ausschließlich dort als Einheit erfahrbar ist. Das Kontinuum setzt sich aus den Paraphen des Agierens zusammen oder anders ausgedrückt: die Nutzgesten lassen sich in maschinische Tätigkeitsabschnitte unterteilen.

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Die einzelnen Handbewegungen des mechanisch wiederholenden Teigknetens oder Sägeblattreinigens sind intentional und damit außerhalb von Janmaris Seins- und Wahrnehmungsweise. Das Tun ist ein Nebeneffekt von Janmaris Agieren, das in erster Linie durch eine sich wiederholende, mechanische Präzision gekennzeichnet ist, die immer wieder durch Tätigkeitsabschnitte unterbrochen werden kann. Der Anspruch und die Präzision des Agierens haben keinen initiatorischen Ursprung. Die ›Notwendigkeit‹ auf eine bestimmte Art und Weise zu agieren, ergibt sich für diese Kinder demnach allein aus der Immanenz eines Maschinennetzes beziehungsweise aus der maschinischen Topologie heraus. »Ich würde eher sagen, dass es hier um einen Ausstoß geht, der von außen kommt, wenn man die Intention – zu tun – im Inneren des Menschen ansiedelt.« (D 2016, 98) Die Überschreitung zwischen innen und außen, lässt sich sprachlich nur recht umständlich fassen. Ein Tun – wie das mechanische Teigkneten – kann ein Agieren aus dem (sprachfernen) ›Außen‹ anziehen und zugleich kann dieses Tun aus dem (sprachnahen) ›Innen‹ von einem Agieren unterbrochen oder auch aufgegriffen und fortgeführt werden. Die Dichotomie zwischen Innen und Außen ist in einen kontinuierlichen Prozess eingebettet. Tun und Agieren nähern sich einander im Alltag und »konstituieren« produktive Formen des Gemeinsamen. Das Agieren besteht aus nicht sequenzierbaren Bewegungen, die keine Einheit, kein Anfang und kein Ende haben, was sich auch in Janmaris abrupten Unterbrechungen der Nutzgesten beim Sägeblattreinigen zeigt. Unterbrechungen scheinen mit nicht nachvollziehbaren Ablenkungen zusammenzuhängen. Auf dem Standbild ist erkennbar, dass Janmaris Blick nicht auf das Sägeblatt gerichtet ist, sondern in die Ferne. Die Kamera widmet sich – wie so oft – den Bewegungen der Hände. Der Blick in die Ferne unterbricht immer wieder in kurzen, schnellen Bewegungen den Reinigungsprozess. Die Unterbrechungen haben keinen erkennbaren Grund. Das Nachahmen (mimesis) der immer gleichen Handbewegungen des Sägeblattreinigens ist ein »Interaktionsmoment«, in dem Tun und Agieren miteinander »verknotet« werden. In der Szene des Sägeblattreinigens ist zwischenzeitlich nicht mehr unterscheidbar, ob Janmari und Jacques ›agieren‹ oder ›tätig sind‹. Auch das Teigkneten übt aufgrund der Monotonie und Simplizität einen Reiz auf die sprachfernen Kinder aus (vgl. Abb. 18). Die Gebärden des Knetens öffnen »Interaktionsräume«, die zu Nachahmungen einladen. Die Szene

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zeigt einen Rhythmus aus Unterbrechungen und ausschweifendem Agieren. Ein Nebenprodukt des Rhythmus ist Brot. Das Agieren schiebt sich »zwischen die Gebärden, die (von uns [Sprachnahen]) gemacht werden und die einen Spielraum lassen, eine Art von Lücke im Rhythmus, die auftritt, weil wir nur zwei Hände haben« (D 2016, 144; Ergänzung von mir). Der Rhythmus aus Tun und Agieren wird mit einem hohen Grad an Präzision ausgeführt, der aus der Sprachnähe befremdlich wirkt. Janmari spaltet vorsichtig und mit kleinen geschickten Bewegungen kleine Holzklötze. Er hebt die kleine Axt exakt so hoch, wie die Schlaghöhe es erfordert (D 2007d, 1:20:00-1:22:00). Die gespaltenen Stücke wirft er dann ›achtlos‹ beiseite, weil sie unwesentliches Nebenprodukt des Rhythmus sind. »Woher kommt nun dieser Anspruch (exigence)? Seltsamerweise hat exiger (beanspruchen), wie es scheint, seinen Ursprung in pousser dehors (ausstoßen).« (D 2016, 98) Die Ursache des Anspruchs liegt in der Sprachferne. Das bedeutet, dass die Wirkung der Ursache ebenfalls in der Sprachferne liegt, weil in der Sprachferne, im Haus des Bildes, Ursache und Wirkung isomorph sind. Janmaris Tun-Agieren-Rhythmus aus Sägeblattreinigen und Teigkneten hat nicht das Ziel, ein sauberes Sägeblatt zu erhalten oder ein Brot zu backen. Der Rhythmus wird um seiner selbst willen aufrechterhalten. Im Rhythmus werden jedoch Überschneidungen sichtbar, d.h. sofern die Sprachnahen hinsehen. Janmaris Rhythmus und Lins monotones Reinigen oder Gisèles maschinisches Teigkneten »verknoten« sich ineinander. Zwischen Sprachferne und Sprachnähe bilden sich im Rhythmus »Interferenzen« aus. »Interferenzen« halten »Interaktion« aufrecht. Sie beleben den Rhythmus. »Uns fehlt die Möglichkeit etwas, aus Versehen zu machen, was nichts mit den Fehlleistungen zu tun hat, durch die das Unbewusste sich manifestiert, sondern mit dem Agieren, das dieses Miteinander-Reden, das unsere verbotene Verständigung begründet [fonde] – eine Zensur, die tiefgreifender und radikaler ist als jene, die sich auf die (möglicherweise virtuellen) Abweichungen des Sexuellen bezieht, mit denen sich das Subjekt herausbildet, wenn es lernt, sich nicht für Vaterundmutter zu halten.« (Ebd., 145; vgl. D 2007a, 1329; modifizierte Übersetzung von mir) Das (agierende) Anomal entgeht nicht nur dem Gesetz der Sprache, sondern einer ganzen »symbolischen Domestizierung« (D 2016, 145). Eine Annäherung an einen sprachfernen Rhythmus, der sich abseits symbolischer Ordnungen

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konstituiert, erfordert eine Distanznahme zur Sprachnähe und die Nähe wird im Haus der Bilder abgebaut. Die Auseinandersetzung mit dem Haus der Bilder ist eine Auseinandersetzung mit dem Anomalen. Die Sprachnahen lernen, dass die Form des Agierens aus Um- und Abwegen (détours) besteht und dass diese Wege ›eigenen‹ Gesetzmäßigkeiten folgen. Der Rhythmus, der sich aus sprachnahen Annäherungen und sprachfernem Agieren »konstituiert«, spannt einen Zwischenraum unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen auf. Der Zwischenraum wird durch das alltägliche Agieren der Anomale und das Tun der Sprachnahen eröffnet. Manning untersucht in ihrer Arbeit The Shape of Enthusiasm (2011), in der sie sich ausführlich mit den Arbeiten Delignys auseinandersetzt, die »Konstitution« und das Innenleben des Zwischenraums genauer. Sie führt hierzu aus: »Deligny’s project in the Cevennes is about participating in an orienting that vibrates spacetime, allowing place to appear in its multiplicity, as singularly multiple. The point that inflects, the line of drift that crosses, is always absolutely what it is, here, now. But this ›here‹ is more-than, resonant. It turns the ›here‹ of place onto itself in an intensive orienting of the associated milieu of relation. It makes felt that all aspects of the field are co-constitutive, co-emergent. There is no longer an ›autist‹ here. The singularity of this or that confluence creates a speciation which may carry an autistic tendency, a suspended intensity in the form of a surging vitality, a river-cloth-arm movement, a greening-drawing-dance. Or it may create a speciation separate from the autist, a falling-laugh or a red-listening. Whatever the case, a fully-formed species, be it autist or educator, human or animal or tree is never primary: the maps trace a coming-to-act of life emergently attuning. The emergent attunement of life-living always exceeds this life, this body. ›The maps are not instruments for observation. They are instruments for evacuation: evacuation of language, but also evacuation of therapeutic anguish‹. The maps are emergent tracings of a body-becoming, tracings of the discovery of the more-than of language in a realm that pathologization cannot reach.« (Manning 2011, 93) Manning teilt Zanders These, dass vor allem (repräsentative) Sprache abgebaut wird (evacuation of language). Der Sinn und Zweck der kartografischen Praxis ist für Manning, Räume jenseits der Sprache als singuläre Mannigfaltigkeiten in der Lebensgemeinschaft zu eröffnen, zu manifestieren und ih-

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re Wirkmacht zu verifizieren. Räume jenseits der Sprache sind – so meine bisherige Argumentation – Räume im dritten Haus, die Manifestation dieser Räume erfolgt in der Topografie des Sinnlichen auf den Karten und ihre Wirkmacht entfaltet sich in einer Ausdrucksordnung. Mit Manning kann ergänzt werden, dass die Entfaltung der Wirkmacht an eine Lebensgemeinschaft gebunden ist, d.h. ein lokaler, singulärer und immanenter Prozess ist (comingto-act of life emergently attuning). Die Wirkmacht wird mittels einer (doppelt artikulierten) Ausdrucksordnung verifiziert, indem die Wirkung der Ursache und die Macht dieser Wirkung zugleich zum Ausdruck gebracht werden. Die Ursache ist das achtsame und respektvolle gemeinsame Leben unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen. Die Wirkungen sind die »Interferenzen«, die sich durch die Rhythmen in den Zwischenräumen des Agierens und Tuns ergeben. Die Wirkmacht wird in der Lebensgemeinschaft, die die Gleichheit unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen als Gemeinschaft lebt (life-living always exceeds this life), zum Ausdruck gebracht. Mit Rancière kann weiter präzisiert werden, was unter einer Ausdrucksordnung zu verstehen ist. Rancière verweist auf ein unscheinbares NovalisZitat, das den Übergang von einer kausalen Ordnung zu einer »Ausdrucksordnung« (Rancière 2010, 50) veranschaulicht: »Ein Kind ist eine sichtbar gewordene Liebe« (Novalis 1983, 253; vgl. Rancière 2010, 50). Die Liebe ist die Ursache, deren Wirkung (Kind) die eigene Macht zum Ausdruck bringt und sich damit verifiziert. In einer solchen Verdopplung werden die Ursache und das Potenzial einer möglichen Verifikation dieser Ursache ›geprüft‹. Worauf Rancière mit dem Novalis-Zitat hinaus will, lässt sich in einer Schematisierung der doppelten Artikulation veranschaulichen. Aus einer Ursache folgt eine Wirkung, die zugleich auch »das Zeichen« (Metapher, Metonymie) ist, »das die Macht ihrer Ursache sichtbar macht« (Rancière 2010, 50). Die Wirkung der Ursache und der (damit zugleich gegebene) Ausdruck der Wirkung verdoppeln sich in einem Körper beziehungsweise einer Folge der Ursache. Der (lebendige) Körper enthält die Gesamtheit von Eigenschaften der Ursache als Wirkung der einen Ursache. Der Körper ist zugleich auch der eine Ausdruck der Wirkmacht der Ursache. Der Körper wird durch die doppelte Bewegung zu einem Körper und erhält (s)eine Einheit. Seine Einheit erhält er durch die doppelte Artikulation von Wirkung und Ausdruck. Der (lebende) Körper ist ein Körper, weil er aus einer Wirkung hervorgeht und eine Wirkmacht ausdrückt.

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Daraus folgt – mit Rancière über Rancière hinaus –, dass sich ein Körper von anderen Körpern dadurch abgrenzt, dass er nur Wirkung seiner Ursache ist und nur die Wirkmacht der Wirkung seiner Ursache zum Ausdruck bringen kann. Durch die doppelte Artikulation gehen jedoch die Abgrenzung von und die Verbindung zu anderen Körpern Hand in Hand. Ein lebendiger Körper kann sich nur aufgrund der anderen Körper als Körpereinheit »konstituieren«. Die Einheit ist dadurch immer von den lebenden Organismen in seiner Umwelt abhängig. Aus diesem Grund spricht Manning davon, dass »all aspects of the field are co-constitutive, co-emergent« (Manning 2011, 93). Doppelt artikulierte »Konstitution« ist immer »Ko-konstitution«, Ko-emergenz. Das respektvolle Miteinander im Gemeinschaftsleben ist die Ursache in der Ausdrucksordnung. Das respektvolle Miteinander ist kein Miteinander in der Sprache oder aus der Sprache heraus, sondern vielmehr eine sprachnahe Suche nach Seins- und Wahrnehmungsweisen (coming-to-act), die zu einer Sprachferne ›hinübersehen‹ können. Die »Verknotungen« zwischen Sprachnahen und Sprachfernen, die die Kamera in Ce gamin, là aufnimmt und die die Karten erfassen können, sind die Zwischenräume, in denen der (ästhetische) Überschuss jedem Beliebigen jederzeit verfügbar ist. In der kollaborativen Praxis der Gemeinschaft manifestiert sich eine Wirkmacht, die neue Formen der Verkörperung (body-becoming) ermöglicht, die die Mannigfaltigkeit der Formen der Verkörperung gegenüber einer einzigen Form bevorzugt (this life, this body). Dadurch kann die Praxis – in einem rancièreschen Sinn – Gleichheit verifizieren. Zander nennt einen weiteren Aspekt, der sich mit den Zwischenräumen im Gemeinschaftsleben manifestiert: »Will es der Zufall, dass die Begebenheiten [in den Verknotungen] zusammenfallen, stelle sich also Kongruenz zwischen dem coutumier [dem Gewohnheitlichen im gemeinsamen Zusammenleben von Sprachfernen und Sprachnahen] – qui est d’asile – et la société – (qui est de) la cité – her, so machen sich konventionelle Zeichen geltend. Entziehe mensch nun der Cité das Zeichen, bleibe nichts als Mauern. Entziehe mensch hingegen dem coutumier jedes symbolische Zeichen (›tout signe qui se fasse‹), bestehe der coutumier weiter, bleibe unverletzt und lebendig, aber sei von dem Köder befreit, der uns so häufig täusche. In der Konstellation der nun von den Zeichen und ihren befreiten Dingwelten werde auch die Geste Teil dieser dinglichen Konstellation, ›ce geste même faisant chose et non point signe‹. Im coutumier des pädagogischen Versuchs habe sich die Geste aus der Konvention ihrer Zeichengebundenheit und ihrer Verweisung gelöst und mani-

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festiere sich als reine, symbolisch ungesättigte Materialität. Die Geste nehme nun den Rang eines pädagogischen Prinzips ein.« (Zander 2003, 219; Ergänzungen von mir) Das Gewohnheitliche, das sich im Alltag »ko-konstituiert«, wenn es zu diesen zufälligen Begebenheiten kommt, in denen die Sprachnahen und die Sprachfernen sich begegnen (vgl. Abb. 22), erfordert einen Abzug der symbolischen Zeichen, d.h. deren Herauslösung aus repräsentativen Verweisungsketten, um die Gesten als »Teil dieser dinglichen Konstellation« zu verstehen. Die Geste kann sich dann als »reine, symbolisch ungesättigte Materialität« manifestieren und um das Sehen zu können, ist Übung erforderlich. Die Einübung von Leergesten (vgl. Abb. 5-9) ist demnach gerade deshalb von Bedeutung, weil sie (weitgehend) aus repräsentativen Verweisungsketten herausgelöst sind. Die »Endlosschriftschwünge« von Darboven oder die Kringel von Janmari in ›seinem‹ Journal sind (weitgehend) leer. Die Schwünge Darbovens sind von Bedeutung, obwohl sie ›leer‹ sind und gerade durch diese ›Leere‹ können sie auch als ein »Schreiben […] ohne repräsentatives Bild« (Bippus 2015, 190) verstanden werden, d.h. auch als ›Gesten‹ von Darbovens Hand, die eine »ungesättigte Materialität« manifestieren, indem sie Zeit »einpacken« (ebd.), die von Betrachtern auch wieder ›ausgepackt‹ werden kann. Die Raumzeit gerät gewissermaßen in Schwingung (vibrates spacetime; Manning 2011, 93), und zwar dadurch, dass die Betrachter:innen sie mittels der Schreibarbeiten als ko-konstitutiv und ko-emergent (co-constutitive, co-emergent; ebd.) erfahren können. Die Gesten, die Janmari mit Schwüngen an der Staffelei (vgl. Abb. 20) oder im Journal ausführt, sind per se Gesten, die nicht mühsam in eine derepräsentative Form gebracht werden müssen. Janmari ordnet sich nicht ›selbst‹ einer Schreib- und Zeichendisziplin unter, die einen Abbau des Repräsentativen leisten oder ›seiner‹ Seinsweise Ausdruck verleihen würde. »Bleibt nachahmen: die Gesten und Haltungen Janmaris sind Wandgesten, Seinsgesten, und in diesen Gesten drückt er sich nicht aus. Nichts, dort, in ihnen drückt sich aus. Dort findet man das ursprüngliche Repertoire an Gesten, welche die Riten gestalten werden und die es dem Mimen erlauben, zu überraschen, zu erregen, den Gemeinsinn zu berühren, der keinen Nutzen hat. Das Lachen, das dann eintritt und das von weit herkommt, ist dem Gefühl der Exaltation nahe, welches den Gläubigen erfasst, dessen Glauben erschallt.« (D 2014, 55)

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Deligny versteht Janmaris Gesten als »Wandgesten«. Wandgesten sind anomale Gesten. Wenn Janmari den Bleistift sorgfältig anspitzt, bevor er an der Staffelei die Schwünge zieht, den Bleistift mit dem Mund befeuchtet, weil er Jacques dabei beobachtet hat, wie er die Spitze befeuchtet oder weil er selbst auf eine bestimmte Tönung seiner Schwünge hinarbeitet beziehungsweise hinagiert (D 2007d, 1:17:05-1:18:15), dann sind dies alles Bestandteile einer Seins- und Wahrnehmungsweise, die sich auch beim Brotbacken (Abb. 18) oder auf der Baustelle (Abb. 12) zeigen. Trotz der Nähe zwischen den Arbeiten von Darboven und Janmari, kann Janmaris Journal nicht ohne Weiteres beispielsweise der »Naiven Kunst« zugeordnet werden, weil Janmari keinem ›Selbst‹ einen (naiven) Ausdruck verleiht und auch unklar bleibt, worauf sich Naivität in diesem Zusammenhang beziehen könnte. Dennoch ist eine gewisse Nähe zu den Arbeiten Jeans Dubuffets und der Positionierung, die er in seinen Schriften vornimmt, erkennbar (vgl. Dubuffet 1991, 82ff.).

Die Umwege (détours) der Kinder Die sprachfernen Umwege (détours) sind Abweichungen von den ›eigenen‹, üblichen Fährtenlinie in der Lebensfläche. Es ist ein Abweichen in der Sprachferne, das nur mit einem geübten Auge erkannt werden kann. Deligny hält es für »sehr wahrscheinlich«, dass dieses Abweichen auf »Gesetzmäßigkeiten« beruht (D 2016, 158). »Ich entscheide mich dafür zu sagen, dass es diesen Zeitraum gegeben hat, der für diese Formen notwendig ist, die die Umwege des Agierens auslösen und ermöglichen, denn, wenn ihr glaubt, dass Janmari – beladen mit zwei randvollen Wassereimern, die an seinen Armen hingen – den kürzesten Weg nahm, um Wasser vom Brunnen herzubringen, dann erwartet ihr von ihm das, was wir tun würden. Seine Fährtenlinie, also die Spur seiner Wegstrecke macht Umwege [détours], über die wir gelernt haben, dass sie ›Verflechtungen‹ [chevêtres] bildeten, das heißt, dass sie Aspekte aufwiesen, die vielen ›autistischen‹ Kindern gemeinsam sind, die damit beschäftigt sind, etwas Schweres oder Sperriges zu tragen.« (D 2016, 151; vgl. D 2007a, 1332f.; modifizierte Übersetzung und Ergänzungen von mir) Auf den Karten und in den Filmen werden ziel- und intentionslose Bewegungen sichtbar. Dadurch werden sprachferne Seins- und Wahrnehmungs-

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Deligny versteht Janmaris Gesten als »Wandgesten«. Wandgesten sind anomale Gesten. Wenn Janmari den Bleistift sorgfältig anspitzt, bevor er an der Staffelei die Schwünge zieht, den Bleistift mit dem Mund befeuchtet, weil er Jacques dabei beobachtet hat, wie er die Spitze befeuchtet oder weil er selbst auf eine bestimmte Tönung seiner Schwünge hinarbeitet beziehungsweise hinagiert (D 2007d, 1:17:05-1:18:15), dann sind dies alles Bestandteile einer Seins- und Wahrnehmungsweise, die sich auch beim Brotbacken (Abb. 18) oder auf der Baustelle (Abb. 12) zeigen. Trotz der Nähe zwischen den Arbeiten von Darboven und Janmari, kann Janmaris Journal nicht ohne Weiteres beispielsweise der »Naiven Kunst« zugeordnet werden, weil Janmari keinem ›Selbst‹ einen (naiven) Ausdruck verleiht und auch unklar bleibt, worauf sich Naivität in diesem Zusammenhang beziehen könnte. Dennoch ist eine gewisse Nähe zu den Arbeiten Jeans Dubuffets und der Positionierung, die er in seinen Schriften vornimmt, erkennbar (vgl. Dubuffet 1991, 82ff.).

Die Umwege (détours) der Kinder Die sprachfernen Umwege (détours) sind Abweichungen von den ›eigenen‹, üblichen Fährtenlinie in der Lebensfläche. Es ist ein Abweichen in der Sprachferne, das nur mit einem geübten Auge erkannt werden kann. Deligny hält es für »sehr wahrscheinlich«, dass dieses Abweichen auf »Gesetzmäßigkeiten« beruht (D 2016, 158). »Ich entscheide mich dafür zu sagen, dass es diesen Zeitraum gegeben hat, der für diese Formen notwendig ist, die die Umwege des Agierens auslösen und ermöglichen, denn, wenn ihr glaubt, dass Janmari – beladen mit zwei randvollen Wassereimern, die an seinen Armen hingen – den kürzesten Weg nahm, um Wasser vom Brunnen herzubringen, dann erwartet ihr von ihm das, was wir tun würden. Seine Fährtenlinie, also die Spur seiner Wegstrecke macht Umwege [détours], über die wir gelernt haben, dass sie ›Verflechtungen‹ [chevêtres] bildeten, das heißt, dass sie Aspekte aufwiesen, die vielen ›autistischen‹ Kindern gemeinsam sind, die damit beschäftigt sind, etwas Schweres oder Sperriges zu tragen.« (D 2016, 151; vgl. D 2007a, 1332f.; modifizierte Übersetzung und Ergänzungen von mir) Auf den Karten und in den Filmen werden ziel- und intentionslose Bewegungen sichtbar. Dadurch werden sprachferne Seins- und Wahrnehmungs-

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weisen erfahrbar. Auf den Karten werden »Verflechtungen« von unterschiedlichen Umwegen manifestiert. Zugleich ist das Erkennen der Umwege auch eine Übung im ›Hinübersehen‹ zum Haus der Bilder. Die Übung zielt auch auf die Eröffnung weiterer Zwischenräume. »Auf diesem Hintergrund können Fährtenlinien eingezeichnet werden, was wir unaufhörlich tun. Dadurch wird deutlich, dass die Fährtenlinie der einen oder anderen Kinder ›Verflechtungen‹ bilden, das heißt, dass sie sich oft an denselben Stellen überschneiden und dass sie sich manchmal über Jahre hinweg und wechselnde Kinder überlagern.« (Ebd., 159; vgl. D 2007a, 1337; modifizierte Übersetzung von mir) Kartiert und filmt man über längere Zeiträume hinweg, werden nach und nach Gesetzmäßigkeiten sichtbar. So wird beispielsweise auch sichtbar, dass Kinder vollkommen unabhängig voneinander die gleichen Umwege gehen. Die Umwege von Kindern, die sich nie begegnet sind und deren Aufenthalte in der Gemeinschaft mehrere Jahre auseinanderliegen, führen immer wieder zu den gleichen abseitigen Achsen- und Kreuzpunkten in der Lebensfläche. Das heißt, dass die Sprachfernen sich nicht in den Räumen bewegen, denen aus der Sprachnähe üblicherweise ein Sinn und Zweck zugeordnet werden kann: den kürzesten Weg mit schweren Lasten, den schönsten Weg bei Spaziergängen, den sichersten in der Dunkelheit etc. Die kartografische Praxis trägt dazu bei, diese Gesetzmäßigkeiten zu inventarisieren, um sie der Lebensgemeinschaft zur Verfügung stellen zu können. Hierbei besteht die Gefahr, dass die Umwege aus der Sprachnähe vereinnahmt werden. Die Karten eignen sich jedoch kaum für eine systematische Inventarisierung, aus der sich Gesetzmäßigkeiten ableiten ließen. Deligny betont aus diesem Grund auch eine gewisse ›Nutzlosigkeit‹ der Karten, damit sie nicht mit der Hoffnung verbunden werden, es ließe sich repräsentatives Wissen über sprachferne Seins- und Wahrnehmungsweisen zutage fördern. »Die Karten sind für uns zwar notwendig, aber nicht von Nutzen; eine kaum zu ertragende Tatsache. Aber immer wieder wurden die Karten gekreuzt mit irgendeinem Nutzen. Vielleicht hätte man sie einfach umkleiden sollen, sowie man es mit Tabletten macht, um deren Bitterkeit zu verbergen. Denn gekreuzt verlieren die Karten die Deutlichkeit ihres Fundes und enden damit, dass sie in den Kreuzungen zugrunde gehen und schließlich verschwinden. Erweisen sie sich als nützlich und sei es nur, indem sie gewisse Aspekte unserer Seinsweise unterstützen, so hat dies zur Folge, dass

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sie nicht mehr notwendig sind, und sei es durch die Tatsache, dass diese Aspekte unserer Seinsweise gesichert sind und deshalb nicht mehr unterstützungsbedürftig sind.« (D 2014, 13) Die nutzlose ›Nützlichkeit‹ steht in Distanz zu den Modi der Repräsentation. Die Karten sind kein Reflexionswerkzeug über eine Realität in der Lebensgemeinschaft, die sie so repräsentieren, damit bestimmte Anomale bestimmte Funktionen adäquat übernehmen und ausüben können. Das Verhältnis zwischen einer nutzlosen Nützlichkeit und den Modi der Repräsentation kann mit Deleuze und Guattari Unterscheidung von Karte und Kopie weiter ausgearbeitet werden. »Wie Deligny sagt, sollte man bedenken, dass diese Linien nichts bedeuten. Es geht um eine Kartographie. Sie setzen uns zusammen, wie sie unsere Karte zusammensetzen. Sie verwandeln sich und können sogar ineinander übergehen. Rhizom. Und ganz sicher haben sie nichts mit Sprache zu tun, die Sprache muss im Gegenteil ihnen folgen, die Schrift muss sich zwischen ihren eigenen Linien auf sie stützen.« (Deleuze, Guattari 1992, 278) Die Karten bilden ebenso wie die kartieren Umwege ein Rhizom und ihre Wirkmacht zeigt sich in einer Ausdrucksordnung. Wenn die Karten ausschließlich im Modus der Repräsentation reflektieren, spiegeln oder kopieren würden, was sich zwischen Sprachfernen und Sprachnahen in der Lebensgemeinschaft ereignet, dann stünde vor allem die Trennung und die Distanz zwischen Sprachnahen und Sprachfernen, zwischen dem Gemeinsinn und dem Sinn des Gemeinsamen im Vordergrund. Aus einer einseitig repräsentationslogischen Perspektive kann demnach konstatiert werden, dass die Karten ›nichts‹ zu bedeuten haben und dass die kartografische Praxis eine ästhetisierte Praxis ist. Diesem Urteil liegt jedoch ein bestimmtes epistemisches Repräsentationsverhältnis mit bestimmten ontologischen Annahmen zugrunde. Bedeutung wird auf den Karten nicht allein aus einem Differenzverhältnis zu einer sprachlichen Außenposition generiert. Auf den Karten materialisiert sich kein Differenzverhältnis zwischen dem Sprachnahen und dem Sprachfernen, sondern ein »Interferenz-« und »Interaktionsverhältnis«. Die kartografische Praxis kann sich von einem Denken der Identität|Differenz distanzieren. Das bedeutet, dass die Karten nicht Wirkmacht entfalten, weil sie repräsentieren, sondern weil sie sprachferne Formen in einer Topografie sichtbar und wahrnehmbar machen. Die Karten zeigen nicht eine Kluft zwischen Sprachfernen und Sprachnahen auf, sondern

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eine mögliche Lebensgemeinschaft. Die Praxis ist aus diesem Grund keine ästhetisierte, sondern in hohem Maß politisch und befindet sich in einem Spannungsfeld aus Wissenschaft und Kunst. Auch die »künstlerischen Forschung« distanziert sich von der Logik der Repräsentation (vgl. Badura, Dubach, Haarmann, Mersch, Rey, Schenker, Toro Pérez 2015). Innerhalb dieses Forschungsbereichs dient »die Kunst als forschende Wissensproduzentin« (Haarmann 2015, 99). Es geht der künstlerischen Forschung – so präzisiert Klein (vgl. Klein 2011) – nicht darum, »Kunst als Forschung« zu verstehen, sondern darum, herauszustellen, dass künstlerische Forschung »immer auch wissenschaftliche Forschung sein kann« und es die Forschung ist, »die künstlerisch wird« (ebd., 2). Haarmann fasst zur Positionierung der »Kunst als Wissenschaft« (Haarmann 2015, 101) zusammen: »Einerseits lässt sich in der Diskussion beobachten, dass mit dem Begriffsinventar der ›künstlerischen Forschung‹, des ›künstlerischen Wissens‹, des ›künstlerischen Experimentierens‹ oder der ›Atelier-Labore‹ eine terminologische und praktische Nähe zwischen den Künsten und den Naturwissenschaften erzeugt wird und damit sowohl die (traditionell angenommene) stringente Objektivität der Naturwissenschaft zur Disposition gestellt wird. Andererseits lässt sich ebenso beobachten, dass der nicht kanonisierbare Methodenkatalog der künstlerischen Forschungspraktiken oder die Unabgeschlossenheit künstlerischer Einsichten eine epistemische Nähe zwischen den Künsten und den Geisteswissenschaften erzeugen, wobei die Künste im Rahmen dieser Engführung zugleich einen nicht-begrifflichen Erkenntnisanspruch behaupten. Schließlich deuten künstlerische Strategien der audiovisuellen Feldforschung oder der investigativen und performativen Interviewpraxis auf methodische Nähen zu den Sozialwissenschaften hin, womit deren Zugang zur Verfasstheit des Sozialen ästhetisch ergänzt wird.« (Ebd., 101) Die künstlerische Forschung steht dem Problem gegenüber, die epistemischen Begründungszusammenhänge eines »nicht-begrifflichen Erkenntnisanspruchs« zu legitimieren. Schiesser bemerkt: »no epistemology of artistic research has yet been produced« (Schiesser 2015, 201). Dies hängt, wie Schiesser gleich an zweiter Stelle zur gegebenen Situation der künstlerischen Forschung im Forschungsdiskurs bemerkt, mit der Legitimität der »neuen Disziplin« und ihrem möglichen Anspruch auf Forschungsgelder zusammen (ebd., 199). Ohne weiter auf die künstlerische Forschung und ihre Positionierung im Wissensdiskurs eingehen zu können, zeigt sich jedoch, dass die

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kartografische Praxis ebenfalls einen spezifischen Erkenntnisanspruch mit sich bringt, der im Folgenden weiter ausgearbeitet werden soll.

Exkurs II: Das Kameraauge und die Repräsentation – Zu Rancières und Deleuzes Kinotheorie Ce gamin, là bietet sich an, die kartografische Praxis als forschende Wissensproduzentin im Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft genauer zu untersuchen. Delignys gibt für eine Annäherung Hinweise, weil es auch im Film darum geht, einen einseitigen Gebrauch repräsentationslogischer Mittel zu vermeiden. »Das sage ich dem Bildernehmer [preneur d’images]: ›Das Bild, das ist nicht nichts.‹  ›Doch das bleibt zu bedenken, was dies heißt: der Mensch.‹ Heidegger sagt das; und das sage ich dem Bildernehmer: das, was das Bild bedeutet, bleibt ganz und gar zu bedenken. Würde und wird zu bedenken bleiben; denn das, was ich dem Bildernehmer vorschlage, ist nicht zu bedenken, einfach deshalb, weil das Wesen des Menschen [l’être humain] nichts bedeutet und weil auch das Bild nichts bedeutet. MENSCH bedeutet, weder das Bild noch Janmari.« (D 2011, 33; vgl. D 2007a, 1690; modifizierte Übersetzung von mir) Es ist nicht die Kamera oder das Maschinenauge, das den Bildern eine Bedeutung verleiht, sondern die Sprachnähe, die den Bildern eine bestimmte Bedeutung aufzwingt. Der Bildernehmer muss sich deshalb der ›Bedeutungslosigkeit‹ annähern, um die Sprachferne filmen zu können. Es geht auch beim »Bilder nehmen« darum, den Modus der Repräsentation zu meiden oder genauer: ihn als alleinigen und ausschließlichen Modus zu meiden. Bildernehmer:innen müssen eine Fiktion erzeugen, die sich aus dem Wechselspiel von ›Bedeutung‹ und ›Bedeutungslosigkeit‹, von Bestimmtem und Unbestimmtem ergibt. Rancière schließt mit seinen Bemerkungen in Die Filmfabel (Rancière 2014a) nahtlos an Deligny Hinweise für die Bildernehmer:innen eines Dokumentarfilms an. Die Bildernehmer:innen müssen der »,Passivität‹ der Maschine« (Rancière 2014a, 22) (Kamera) eine Aktivität der Regie (Montage) entgegenstellen, um eine Fiktion zu erzeugen. Sie dürfen jedoch nicht den Fehler begehen, die Fiktion auf einen einseitigen Modus der Repräsentation zu verkürzen, weil sie den Dokumentarfilm sonst in ein didaktisches Lehrstück über autistische Kinder verwandeln, der sich der Sprachferne

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kaum noch zu nähern vermag. Erschwerend kommt die ›Passivität‹ der Sprachferne hinzu; denn Agieren bleibt Agieren, ganz gleich, ob jemand filmt oder kartiert. Die Bildernehmer:innen müssen die doppelte Passivität mit einer Aktivität verbinden, die den Blick auf die sprachferne ›Passivität‹ nicht verstellt. Denn etwas Unbestimmtem wird schnell etwas Bestimmtes aufgebürdet, wodurch es nicht mehr als Unbestimmtes erkennbar ist. Die Bildernehmer:innen müssen im Allgemeinen doppelt einschreiten, denn die »Filmfabel ist eine durchkreuzte Fabel« (Rancière 2014a, 24), die sich vorsichtig mit der ›Passivität‹ auseinandersetzen muss, um der Sprachferne nicht eine repräsentative Fiktion aufzuzwingen. Die Herausforderung besteht darin, dass das mechanische Auge der Kamera selbst schon passiv ist und der sprachfernen ›Passivität‹ keine aktive Form einer Erzählung aufzwingen kann. »Im Gegensatz zum Schriftsteller oder Maler, der das Passiv-Werden willentlich auf sich nimmt, kann die Kamera gar nicht anders, sie muss passiv sein. Die Einheit der Gegensätze ist im Vorhinein gegeben, also im Vorhinein verloren.« (Rancière 2014a, 174) Die Kamera nimmt der Regie in gewisser Weise Arbeit ab. Sie bürdet ihr jedoch zugleich eine andere Arbeit auf, weil die passive Arbeit der Kamera durch die aktive Montage zum Leben erweckt werden muss. Der Film findet im Kopf der Regisseure statt und die alte Logik der Repräsentation, die Macht des aktiven Geistes über die passive Materie (oder hier die ›passiven‹ Sprachfernen), kehrt in ihm wieder. Wenn der Film kein Lehrstück, sondern Kunst sein will, dann muss er diese alte Logik der Repräsentation ein zweites Mal durchkreuzen. Um dieses Problem zu lösen, muss sich der Film den eigenen immanenten Kräften entgegenstellen. Denn die Logik des Erzählens in Bildern funktioniert in einer doppelten Logik: »Es [das Kino] gehört dem ästhetischen Zeitalter an, es entsteht sowohl aus dem Auge der Maschine als auch aus dem Auge des Kameramanns, aus der Idee einer Sprache des Sinnlichen. Und zugleich entsteht es aus der optimalen Verwirklichung der aristotelischen Logik der Verkettung der Handlungen.« (Rancière 2015, 107) Will der Film dieser doppelten Logik gerecht werden, muss er NeuVerkettungen in einem Zusammenspiel ästhetischer und repräsentativer Formen einleiten. Das Zusammenspiel von ästhetischen und repräsentativen Formen ist – um mit Deleuze und Guattari zu ergänzen – doppelt artikuliert.

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Aus dem gleichen Grund müssen auch die Kartograf:innen vorsichtig sein, wenn sie der ›Passivität‹ der Sprachfernen mit einer aktiven (sprachnahen) Wahrnehmung begegnen. Denn die Karten sind nicht wie das Maschinenauge per se schon passiv. Sie müssen mühsam passiv gemacht werden und dafür müssen die Kartograf:innen ein anderes Sehen erlernen. Gelingt dies nicht, wird die Kartografie einer Herrschaft der Repräsentation unterworfen. Um diese Herrschaft zu durchbrechen, muss ein Zusammenspiel (aktiv und passiv, Bestimmtes und Unbestimmtes) initiiert und »konstituiert« werden, das zu den Zwischenräumen führt, in denen das, was Deligny als MENSCH bezeichnet, Wirkmacht entfalten kann. Das Zusammenspiel findet in den Zwischenräumen des dritten Hauses statt. In Zwischenräumen kann nach Verbindungen zu den »Aufenthaltsbereiche« (D 2016, 162) in der Sprachferne gesucht werden. In den Aufenthaltsbereichen lässt sich »das jeweilige Eine des Subjekts weder eingrenzen noch einschränken« (ebd., 163). Das, was weder eingrenzt noch einschränkt werden kann und somit dem Anomal zukommt, ist das Spurenziehen (tracer). Spurenziehen ist eine Form des Agierens und auf den unbestimmten Modus des Infinitiv angewiesen. Das Spurenziehen ist dementsprechend eine »zeitlose« Form und hat als eine ursprüngliche Geste des Artgedächtnisses immer »bereits existiert« (ebd., 36). Die Sprachnahen ziehen die Spuren auf den Karten in Korrespondenz zu den Spuren der Sprachferne. Für Deligny ist das Spurenziehen eine Entleerung des Subjekts. Die sprachnahen Gesten der Hände der Kartograf:innen sind einerseits eine Nachahmung (mimesis) der sprachfernen Gesten. Sie sind jedoch auch die Eröffnung des Zusammenspiels zwischen Sprachferne und Sprachnähe auf den Karten. Durch die Gesten des Spurenziehens werden die Karten mühsam ›passiv‹ gemacht, um die sprachfernen Spuren in ihrer Unbestimmtheit kartieren zu können. Die Karten, Filme und Schriften dienen nicht dazu, einen einheitlichen Gemeinsinn zu konstituieren. Das Ziel ist vielmehr der Abbau von Repräsentation. Aus diesem Abbau lassen sich weder bestimmte Formen des konkreten Lebens noch geschichtliche Utopien oder bestimmte Formen für demokratische Gemeinschaften ableiten, weil der Abbau lediglich auf Kontingenz beruht und Gleichheit »ko-konstitutiv« im Gemeinschaftsleben manifestiert. Die Karten sind in diesem Sinne kein Werkzeug, das dazu dient, ein bestimmtes Verhältnis von Anomal und Gemeinschaft zu postulieren. Aus ihnen kann dementsprechend auch keine bestimmte Vorstellung von Politik abgeleitet werden. Miguel hält dazu in seiner Arbeit Towards a New Thinking on Humanism in Fernand Deligny’s Network (2014) fest:

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»In order to construct a common space with human beings that function radically differently, it is not possible to establish a priori the rules of that space and how it is used. That is why, in Deligny’s network, the close presence behaves as if he/she were absent. He/she does not impose things or him-/herself on others. Speaking is already a way of being too present and, perhaps, even harmful to those who are mute. A close presence, then, is a way of being there, but outside the empire of speech.« (Ebd., 116) Der Abbau der Formen der Repräsentation kann in der kartografischen Praxis dazu verhelfen, Gleichheit zu verifizieren und anders mit Kontingenz umzugehen. Er gibt jedoch keine konkrete Form vor, mit welchen Mitteln und auf welche Weise der Abbau erfolgen soll und er gibt auch keine Ordnung vor, die die Anomalen in der Gemeinschaft auf ihre Plätze verweist. Diese Formen und eine entsprechende Ordnung müssen sich die Lebensgemeinschaft selbst geben.

Politische Praxis, kollaborative Praxis, kartografische Praxis Die Karten in Cartes et lignes d’erre (D 2013a) wurden bis auf wenige Ausnahmen von Jacques Lin und Gisèle Durand zwischen 1969 und 1978 angefertigt. Die Aufnahmen für Le moindre geste wurden 1962-1964 gemacht und diejenigen für Ce gamin, là von 1973-1974 (vgl. D2007a, 1826f.). Für die Praxis der Kartografie ist aus diesem Grund vor allem Ce gamin, là relevant, in dem Lin und Durand auch mehrfach zu sehen sind. Zu Beginn der Kartierung waren sie jeweils knapp 20 Jahre alt und im Umgang mit autistischen Kindern nicht geschult. Lin hält in seiner eigenen Nacherzählung Das Leben mit dem Floß in der Gesellschaft autistischer Kinder zum Jahresanfang 1969 fest: »Drei Kinder leben auf der unteren Insel [von der Außenwelt weitestgehend abgeschnittenes Gelände unterhalb des Hauptcamps der Gruppe an einem Weiler in Graniès], und wir bemühen uns, nicht über sie zu sprechen; das ist das Wenigste, was wir tun können, denn sie sprechen überhaupt nicht. Das soll allerdings nicht heißen, dass wir sie ignorieren, ganz im Gegenteil, wir sind wachsam und achten auf jede Hand, die ausgestreckt wird und nach einem Stück Holz, einem Stein oder einem Löffel greift.  Namenlose Gegenstände, die bestimmten Werkzeugen oder Gebrauchsgegenständen ähneln und die geschnitzt oder zusammengebastelt wurden, stehen zu ihrer Verfügung, sind in der Reichweite dieser Kinder. 

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»In order to construct a common space with human beings that function radically differently, it is not possible to establish a priori the rules of that space and how it is used. That is why, in Deligny’s network, the close presence behaves as if he/she were absent. He/she does not impose things or him-/herself on others. Speaking is already a way of being too present and, perhaps, even harmful to those who are mute. A close presence, then, is a way of being there, but outside the empire of speech.« (Ebd., 116) Der Abbau der Formen der Repräsentation kann in der kartografischen Praxis dazu verhelfen, Gleichheit zu verifizieren und anders mit Kontingenz umzugehen. Er gibt jedoch keine konkrete Form vor, mit welchen Mitteln und auf welche Weise der Abbau erfolgen soll und er gibt auch keine Ordnung vor, die die Anomalen in der Gemeinschaft auf ihre Plätze verweist. Diese Formen und eine entsprechende Ordnung müssen sich die Lebensgemeinschaft selbst geben.

Politische Praxis, kollaborative Praxis, kartografische Praxis Die Karten in Cartes et lignes d’erre (D 2013a) wurden bis auf wenige Ausnahmen von Jacques Lin und Gisèle Durand zwischen 1969 und 1978 angefertigt. Die Aufnahmen für Le moindre geste wurden 1962-1964 gemacht und diejenigen für Ce gamin, là von 1973-1974 (vgl. D2007a, 1826f.). Für die Praxis der Kartografie ist aus diesem Grund vor allem Ce gamin, là relevant, in dem Lin und Durand auch mehrfach zu sehen sind. Zu Beginn der Kartierung waren sie jeweils knapp 20 Jahre alt und im Umgang mit autistischen Kindern nicht geschult. Lin hält in seiner eigenen Nacherzählung Das Leben mit dem Floß in der Gesellschaft autistischer Kinder zum Jahresanfang 1969 fest: »Drei Kinder leben auf der unteren Insel [von der Außenwelt weitestgehend abgeschnittenes Gelände unterhalb des Hauptcamps der Gruppe an einem Weiler in Graniès], und wir bemühen uns, nicht über sie zu sprechen; das ist das Wenigste, was wir tun können, denn sie sprechen überhaupt nicht. Das soll allerdings nicht heißen, dass wir sie ignorieren, ganz im Gegenteil, wir sind wachsam und achten auf jede Hand, die ausgestreckt wird und nach einem Stück Holz, einem Stein oder einem Löffel greift.  Namenlose Gegenstände, die bestimmten Werkzeugen oder Gebrauchsgegenständen ähneln und die geschnitzt oder zusammengebastelt wurden, stehen zu ihrer Verfügung, sind in der Reichweite dieser Kinder. 

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Manche dieser ›zu handhabenden Gegenstände‹ werden sogleich akzeptiert; andere bleiben liegen und landen bei den Werkzeugen und Flaschen derer, die früher bei diesen Mauern zusammenkamen.« (Lin 2004, 35f.; Ergänzung von mir) Trotz des Raums der gegenseitigen Achtsamkeit und des Respekts, der in der Gruppe um Deligny sorgfältig konstituiert wird, sind Irritationen im Umgang mit so viel Fremdheit unumgänglich. Delignys Anweisungen, das Nichtsprachliche nicht durch ein Sprachliches zu überformen und zu verzerren, helfen in dieser Anfangsphase nicht allen auf Anhieb weiter: »Trotz der Vorschrift, nicht über die Kinder zu sprechen, unterläuft es mir manchmal, dass ich etwas über meine Sorgen über eines von ihnen in das Heft schreibe. Darauf antwortet das Heft niemals.  F. Deligny, der niemals zur unteren Insel heruntergekommen ist, schlägt vor, die Wege der Kinder aufzuzeichnen.« (Ebd., 38) Die Fremdheitserfahrungen, vor die Lin und Durand gestellt sind, scheinen sich auf den ersten Blick nicht sonderlich von den Erfahrungen zu unterscheiden, die in der ethnografischen Feldforschung gemacht werden. Das Fremde, auf das man im Feld trifft, das einer anderen Kultur zugehört und kaum Zugänge bietet, erfordert zunächst elementare Bezüge im Umgang mit ihm. Das Fremde fordert das Subjekt zu Bildungsprozessen heraus, weil sonst nur bedingt Neuzugänge zu dem Untersuchungsobjekt aufgebaut werden können und eine Einordnung kaum möglich wäre. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass die kollaborative Praxis der Kartografie nicht auf ein vergleichbares Subjekt|Objekt-Verhältnis zurückgreift. Die Kinder sind kein Objekt einer kartografischen oder künstlerischen Forschungspraxis und Lin wäre als ausgebildeter Elektriker in dieser Hinsicht auch vollkommen unqualifiziert. Die Praxis begibt sich vielmehr auf eine Spurensuche nach den Manifestationen im Zwischenraum von Sprachferne und Sprachnähe. Sie sucht nach »Interaktionen« und »Interferenzen« im dritten Haus. Delignys Vorschlag, Karten anzufertigen, kann als eine Initiierung von Lern- und Bildungsprozessen verstanden werden. Foucault bietet eine Möglichkeit, Delignys Vorschlag genauer einzuordnen. Foucault weist in der Vorlesung (1981-1982) Hermeneutik des Subjekts (vgl. Foucault 2009) die antike »Sorge um sich selbst« als eine Lebensform aus, die nicht vorrangig um eine Erkenntnis des Selbst oder eine zeitlich begrenzte Vorbereitung auf das Leben bemüht ist. Die Technik des Selbst kann als

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eine Praxis verstanden werden, mit der ein dualistisches Subjekt|ObjektVerhältnis überwunden werden kann. »Zunächst sei daran erinnert, dass dieser grundlegende kanonische Ausdruck ›epimeleisthai heautou‹ (sich sich selbst widmen, sich um sich selbst sorgen, Sorge für sich tragen), der von Platons Alkibiades bis Gregor von Nysaa belegt ist, eine Bedeutung hat, die hervorgehoben zu werden verdient: epimeleisthai bezeichnet nicht nur eine geistige Haltung [attitude d’esprit], eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit, eine Art, dieses oder jenes nicht zu vergessen. […] Epimeleisthai bedeutet mehr noch als eine geistige Haltung vielmehr eine Form der Tätigkeit, eine wachsame, ausdauernde, sorgfältige, geregelt ausgeführte Tätigkeit.« (Ebd., 114) Die Karten werden (in erster Linie) nicht aus erkenntnistheoretischen Gründen angefertigt. Die Praxis der Kartografie kann in diesem Sinn auch als eine Technik des Selbst verstanden werden; beziehungsweise als das, »was die Deutschen Selbstbildung [dt. im Original, Anm. d. Übersetzers] nennen würden« (ebd., 69; Ergänzung von mir). Dabei gilt es zu beachten, dass die Technik des Selbst von Foucault von einem »platonischen Schema« (ebd., 317) und von einem »christlichen Modell« (ebd., 318) unterschieden wird. Es geht nicht darum, sich um sich selbst zu sorgen, weil man unwissend ist und sich selbst erkennen muss, denn damit wären Selbstsorge und Selbsterkenntnis nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Es geht erst recht nicht – wie im christlichen Modell – darum, durch eine Selbstexegese eine Beziehung zur Wahrheit zu finden, die mit einem Selbstverzicht als Ziel verbunden wäre. Die Praxis der Kartografie legt beides nicht nahe. Foucault arbeitet neben diesen beiden großen Modellen ein drittes Modell heraus, das – so seine These – von diesen eingeklammert und verdeckt würde, das er das »hellenistische Modell« (ebd., 321) nennt. In diesem Modell geht es um eine »Kunst des Selbst« (ebd.), die die Sorge und die Setzung des Selbst als Zweck ansieht und in der die Praxis der parrhesia angesiedelt ist. Der Selbst-Zweck wird von Foucault bereits in der Vorlesung aus dem vorhergehenden Jahr (1980-1981) präzisiert: »Eine Modifikation des Seins, der Übergang von einem ontologischen Status in einen anderen, die Eröffnung von Modalitäten der Erfahrung: darum geht es bei den Lebenskünsten. Sie sehen, dass wir sehr weit weg sind vom Erlernen einer Fähigkeit, eines Know-Hows, wie man es später finden kann. Was die Verfahren anbelangt, mittels derer diese Lebenskünste zu einer Veränderung des ontologischen Status eines Individuums führen und

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ihm Qualitäten des Daseins verleihen können, so kann man diese zusammenfassen, indem man sagt, dass es sich bei diesen Lebenskünsten darum handelt, die komplexe Arbeit zu definieren, durch die man diesen ontologischen Status der Erfahrung erlangen kann, über: erstens eine Beziehung zu anderen, zweitens eine bestimmte Beziehung zur Wahrheit, drittens eine bestimmte Beziehung zu sich selbst.« (Foucault 2016, 53f.) Foucaults allgemeiner Rückgriff auf den deutschen Bildungsbegriff, den er synonym zu den Techniken des Selbst verstanden wissen will, bringt offenkundig Verschiebungen und Ausweitungen mit sich, die sich in drei Punkten zusammenfassen lassen. Für das Erlernen der Praxis der Lebenskünste ist das Vorhandensein eines Anderen unverzichtbar (1), der den Weg von einer Seinsweise, die noch keine Beziehung zu einem Selbst(-zweck) hat, zu einer Seinsweise begleitet, in der diese Beziehung nach und nach konstituiert wird. Es muss jemand sein, der diesen Weg bereits gegangen ist (3) und der sich in der Unterweisung der Lebenskünste weder positiv noch negativ – heißt: im sokratischen Sinne des Wissens um ein Nichtwissen – auf ein Know-how bezieht (2). Es geht offenbar um eine Ergänzung des epistemischen Feldes um die Modalitäten der Erfahrung. Rancière distanziert sich zu Unrecht von diesen späten Vorlesungen Foucaults (vgl. Rancière 2014b, 170), weil sie in unmittelbarer Nähe zu der eigenen Arbeit Der unwissende Lehrmeister (2007) stehen. Nur ein emanzipierter Mensch kann einen anderen Menschen emanzipieren. Niemand kann sich allein emanzipieren. Ein:e Andere:r ist unabdingbar. Deligny ist für die Kartograf:innen ein unwissender Lehrmeister, der die Praxis in der Anfangszeit ganz auf das Selbst der »Individuen« ausrichtet und die Kartografie auch als Selbstpraxis weiterempfiehlt. Sie ist zu Beginn eine Form der wachsamen und sorgfältigen Tätigkeit, die das Selbst der Kartograf:innen in den Mittelpunkt stellt. Lins Sorgen scheinen jedoch trotz der Anweisungen und Hilfestellungen nicht gelindert werden zu können. Deligny lenkt die Sorgen im Umgang der Sprachferne entschieden weiter auf das (sprachnahe) Selbst. Die Praxis der Kartografie, die zu Beginn der Unternehmung weder einen epistemischen Status hat noch darauf angelegt ist, in irgendeiner Weise (ein bestimmtes) Wissen zu produzieren, führt das Selbst in eine Auseinandersetzung mit neuen Modalitäten der Erfahrung und mithin auch zu Bildungsprozessen. Deligny verlagert in diesem Sinn als »Vermittler« (Foucault 2009, 170) oder auch als »Operator« (ebd., 175) den Schwerpunkt der »Individuen« in der Lebensfläche – zunächst weg von den Kindern – auf die Techniken des Selbst. Die Verlagerung, die mit Übungen im Alltag verbun-

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den ist, eröffnet die Möglichkeit, neue Modi der Erfahrung zu erkunden. Die ›Bedeutungslosigkeit‹ der Karten, die Deligny hervorhebt, ist mit der Kunst des Selbst beziehungsweise dem Selbstzweck verbunden. Denn das Ziel der Techniken des Selbst ist in der kartografischen Praxis nicht die Konstitution eines neuen, anderen »Individuums«, sondern die Desidentifikation, der Dissens. Der Loslösungsprozess von einer Seins- und Wahrnehmungsweise und der Übergang zu einer anderen findet auch in diesem Fall in einer Sphäre des Dazwischen statt; zwischen einer Identität (dem vorhergesehenen Platz in der Gesellschaft) und einer Desidentifikation (dem Verlassen dieses Platzes) (vgl. Rancière 2002, 48). Die Desidentifikation eröffnet die Möglichkeit, sich anomale Seins- und Wahrnehmungsweisen anzueignen. Die kartografische Praxis hat dadurch einen »ethopoietischen« (Foucault 2009, 299) Einfluss auf den ethos der Gemeinschaft. Unter »ethopoiesis« versteht Foucault die Vermittlung und Gestaltung eines gemeinschaftlichen ethos. Die »Individuen« können durch ihr Eingreifen die eigene und auch die gemeinschaftlichen Lebensweisen aller in der Gemeinschaft umgestalten. Für diesen Eingriff wird nicht auf hierarchisierende Ordnungsmuster oder Mittel zur Identifikation einzelner »Individuen« zurückgegriffen. Es handelt sich nicht um einen politischen, anthropologischen, gesellschaftlichen, ontologischen oder kollektiven ethos. Von einem ethos dieser Form distanziert sich auch Rancière im Unvernehmen deutlich (vgl. Rancière 2002, 48). Der ethos ist operativer Modus durch den die Seins- und Wahrnehmungsweisen innerhalb einer Gemeinschaft geformt werden können. Die Karten, die (zunächst) auf das Selbst der Kartograf:innen ausgerichtet sind, müssen von der Gemeinschaft verifiziert werden können. Gelingt die Verifikation in der Gemeinschaft nicht, dann scheitert die Auseinandersetzung mit dem Unbekannten. Das Gelingen oder Scheitern lässt sich nicht an einer adäquaten Kartierung bemessen, sondern liegt »allein im Gelingen einer Orientierungshandlung« (Krämer 2018, 21). Krämer hält zum Gelingen oder Scheitern einer Kartierung weiter fest: »Eine Korrespondenz zwischen Karte und Territorium muss in jeder kartographischen Kritik vorausgesetzt werden – ›Korrespondenz‹ hier verstanden im Sinne der pragmatischen Orientierung, die Karten für Zwecke jener Mobilität leisten können, die ihren Gebrauch regulieren. Daher auch haben nützliche Karten ein Verfallsdatum. Zu betonen bleibt allerdings bei der Verwendung von Begriffen wie ›Repräsentation‹ und ›Korrespondenz‹, dass die ›Ähnlichkeit‹ zwischen Karte und Territorium nicht auf dem mime-

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tischen Abbildcharakter der Karte beruht, sondern eine transnaturale, eine strukturale Ähnlichkeit ist; sie findet ihr Kriterium allein im Gelingen einer Orientierungshandlung, die mit Hilfe der Karte zu vollziehen ist. Halten wir fest: ›Mapping‹ ist so zu verstehen, dass Repräsentationalität und Relativität sich nicht aus-, sondern einschließen. Die Relativität der Darstellungsmethode (Projektionsmethode, Maßstab, Selektivität, …) wird zur Bedingung der Möglichkeit, mit Karten etwas so zu repräsentieren, dass in das Objekt der Repräsentation zugleich interveniert, mit diesem Objekt operiert werden kann.« (Ebd., 21) Der Ansatz muss jedoch ergänzt werden, weil die kartografische Praxis kein »Objekt der Repräsentation« vor sich hat, dem sie gegenübersteht und in das sie intervenieren oder mit ihm operieren könnte. Das ›Objekt‹ der kartografischen Praxis ist der Raum zwischen Objekt und Subjekt. Für die Praxis sind das die »Interferenzen« und »Interaktionen« zwischen Sprachnahem und Sprachfernem. Das Gelingen der Praxis bemisst sich daran, ob die kartierten »Interferenzen« und »Interaktionen« dazu beitragen, ein Gemeinschaftsleben von Sprachfernen und Sprachnahen zu verwirklichen und zu unterstützen. Die Verifikation erfolgt durch die auf den Karten materialisierten »Interferenzen« und »Interaktionen« (vgl. bspw. Abb. 18, 19, 22). Die Praxis interveniert dadurch nicht in ein Objekt der Repräsentation, sondern in repräsentative Formen der Seins- und Wahrnehmungsweise, die durch Identität|Differenz gekennzeichnet sind und die Probleme im Umgang mit fremden Seins- und Wahrnehmungsweisen mit sich bringen. Dadurch unterscheidet sich die Praxis der Kartografie auch vom »Mapping«, das als ein zentraler Bestandteil der Forschungszugänge des spatial turn und topgraphical turn verstanden werden kann (vgl. Wietschorke 2018; Schmidt-Lauber, Zechner 2018), weil es der Praxis nicht um eine »Anwendung einer räumlichen Logik auf spezifisches Datenmaterial« (ebd., 45) geht. Die kartografische Praxis befasst sich mit Zwischenräumen, die als operationale Räume »ko-konstituiert« werden. Räume, in denen sich die Sprachnahen und die Sprachfernen einander annähern, finden sich beispielsweise in der Szene, die ein kleines Mädchen zeigt, das sich neben einem Erwachsenen aufhält, der mit der Holzarbeit beschäftigt ist (D 2007d, 0:13:55-0:16:01) und dem es die Hand gibt (vgl. Abb. 23a), um ihm zu folgen und ihn daraufhin bei der weiteren Arbeit genau zu beobachten (vgl. Abb. 23b). Sie intoniert Laute während sie beobachtet. Das Hämmern des Erwachsenen wiederholt sie durch ein Klopfen. Die Hände und

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beiliegendes Werkzeug führt sie an den Mund, so als ob sie auf einer Maultrommel spielen würde.

Abb. 23a: Annäherungen bei der Holzarbeit (D 2007d, 0:13:57)

Die »Interferenzen« und »Interaktionen« werden durch eine Praxis wahrnehmbar und zugleich auch immer wieder neu und anders im Alltag initiiert. Durch die Praxis, die den Abbau von sprachnaher Repräsentation befördert, werden bei den Kartograf:innen auch Seins- und Wahrnehmungsweisen transformiert, wodurch wiederum neue »Interferenz- und Interaktionsräume« sichtbar werden. Die Kartograf:innen lernen, auch die kleinsten und unscheinbarsten »Interferenzen« zwischen dem Sprachnahen und Sprachfernen zu sehen. Die kartografische Praxis trägt auch dazu bei, die hierfür nötigen Lern- und Bildungsprozesse einzuleiten.

Exkurs III: Zur Prozessualität der Antonyme Deligny verwendet für seine Zeichnung nicht einfach nur »schwarze Tinte« (D 2016, 97), sondern chinesische Tusche (»l’encre de chine«; D 2007a, 1300). Die Tuschmalerei spielt für Deligny eine wichtige Rolle und ist weit mehr als nur eine modische Erscheinung. Ein kleiner Umweg über China trägt dazu bei, den methodischen Einsatz der genannten Techniken des Antonyms (Zander

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Abb. 23b : Annäherungen bei der Holzarbeit (D 2007d, 0:14:04)

2003, 210) weiter auszuarbeiten, um den Stellenwert der Dualismen für die kartografische Praxis weiter präzisieren zu können. Der oben bereits genannte Sinologe François Jullien befasst sich in seinem Werk ebenfalls mit einem Umweg über China (vgl. Jullien 2002). »Der chinesische Maler wird nicht müde, die Macht der GegensätzlichkeitKomplementarität zu bewundern, die sich als Polarität konstituiert und die den beiden Faktoren [Tusche und Pinsel] entströmt, sobald man sie miteinander verbindet. Nach der geläufigsten Definition einer solchen Zweiteilung der Rollen dient der Pinsel zur Festlegung der Formen und ihrer inneren Strukturierung, während die Tusche dazu dient, yin und yang, Schatten und Licht voneinander zu trennen; oder noch elliptischer formuliert: der eine erfasst die Form und die andere die Variation des Tons. […] Was ihre vollständige Kopplung rechtfertigt, ist die Tatsache, dass sie nun nicht miteinander operieren, sondern auch jeder für sich selbst, unter komplementären Gegensätzen, die sich zwischen den Polen variieren lassen: so wie die Tusche zwischen trocken und nass, hell und dunkel oszilliert, bewegt sich der Pinsel ›in die eine Richtung oder die andere‹, zwischen dem ›Leeren‹ und dem ›Vollen‹; daher sind sie untrennbar wie das ›Innen‹ und ›Außen‹

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ein und desselben Prozesses.« (Jullien 2005a, 233; Hervorhebung und Ergänzungen von mir) Ausgehend von der Grundlage des »abendländischen« Verständnisses der Malerei, die durch Form und Farbe bestimmt ist, wird der Pinsel dort nicht der Tusche, sondern der Form gegenübergestellt, weil es um eine »Operation der Darstellung eines Modells auf einem Träger« (ebd., 229) geht. Es geht – so schematisiert Jullien – in diesem abendländischen Verständnis anders als in einem chinesischen um die Übertragung einer gegebenen Form auf einen Träger, d.h. eine Reproduktion eines ideellen Intelligiblen (eidos), durch die die Kunst sich die Teilhabe am Schönen sichert. Dies bringt zugleich auch eine Hierarchie der geistigen Form über die sinnliche Farbe mit sich. Der Pinsel wird im chinesischen nicht zu einem Instrument der Form, sondern er wird der Tusche gegenübergestellt und bildet ein Paar (Komplementarität) mit ihr. Die Paarbildung dient nicht dem Zweck der Übertragung des Intelligiblen. Das Paar Pinsel–Tusche steht vielmehr in einem Vorgang der Aktualisierung und Hervorbringung. In dem Vorgang nimmt der Pinsel eine Vermittlungsfunktion ein, »bei dem die von einem undifferenzierten (Quell-)Grund – hier der Seide oder dem Papier – ausgehende differenzierende Prozesshaftigkeit überwiegt« (Jullien 2005a, 229). Die Prozessualität ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Pinsel und Papier. Auch Jullien hebt die von Deligny erkannte Gefahr in seiner Arbeit hervor: Eine aktive und bewegliche Polarität kann jederzeit zu einer Repräsentation verkommen, wenn sie vereinseitigt wird und eine Hierarchie der geistigen Formen etabliert. Jullien arbeitet wie Deleuze und Deligny mit Antonymen. Er nennt die Transformation in seiner Arbeit Vom Sein zum Leben (2018b) die »Stille Verwandlung (vs. Lautstarkes Ereignis)« (ebd., Kap. XIII). Neben dem Klimawandel beschreibt Jullien auch das Altern als einen Prozess der stillen Verwandlung, den er wie folgt veranschaulicht: »So sieht man auch seine Kinder nicht heranwachsen oder sich selbst. Da alles an uns altert, unablässig, bemerken wir nicht, dass wir altern. Daher hat man in Europa aus dem Prozess des Alterns eine Altersstufe, einen Zustand, ein Seiendes (das ›Alter‹) gemacht, wobei man auch hier Mühe hat, einen tatsächlichen Beginn festzulegen: Wann habe ich denn zu altern begonnen? Das Zellsterben hat schon begonnen, wenn wir auf die Welt kommen: Der Prozess ist einfach zu kontinuierlich, um ein Datum festlegen zu können, und da er alles an uns betrifft, lässt er sich auch an keinem ›Ort‹ von uns selbst spezifizieren, lokalisieren. ›Alles‹, damit sind nicht nur die ergrauen-

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den Haare gemeint, sondern auch die Ausstrahlung des Blicks, das Timbre der Stimme, die Gesichtsfarbe, die Hautstruktur … Und die Körperhaltung, die Gestik, das Auftreten … Und das Denken und der Schlaf … Alles: Man kann gar nicht aufhören, dieses ›Alles‹ auszusprechen.« (Jullien 2018b, 143f.) Es ereignet sich fortwährend irgendetwas im Prozess des Alterns. Man kann diese Ereignisse mit Rancière und Deleuze auch als Mikro-Ereignisse verstehen, die kaum bemerkt und kaum lokalisiert werden können. Sie bringen trotz ihrer »stillen« Verwandlung ein »laut donnerndes Ergebnis« (ebd.) mit sich. Julliens Arbeit mit Antonymen eröffnet Räume zwischen ›einem‹ chinesischen und ›einem‹ europäischen Denken. Hierbei nimmt er auf Deleuze Bezug (vgl. ebd. 2005b, 539; 2008, 8) und Deleuze erkennt die Antonyme auch in der kartografischen Praxis wieder, wenn er bemerkt, wie »sorgfältig zwischen ›planlosen Linien‹ und ›gewohnten Linien‹« (Deleuze 1992, 277) unterschieden wird (vgl. Miguel 2015, 189ff.). Die Manifestationen des Dazwischen von Karte (Rhizom) und Kopie (Baumstruktur, Repräsentation) wird aus prozessualen Polaritäten »ko-konstituiert«. Die Dualismen bestehen aus operationalen Polaritäten, die nicht dazu dienen, die Differenz der Pole hervorzuheben, sondern dazu, die kontinuierliche Prozessualität in ihrer Prozesshaftigkeit aufzuzeigen.

Cartes et lignes d’erre Die Karten aus dem Band Cartes et lignes d’erre (D 2013a) sind zentraler Gegenstand meiner Arbeit. Die meisten Karten aus diesem Band bestehen aus einer Art Grundkarte (K) und dazugehörigen »tracing sheets« (calques) (D 2013a, 16) – im Folgenden: »Fährtenlinienblätter« (FLB). Ich werden die Karten mit der Seitenangabe des Kartenbands zitieren. Zur Karte 17 (D 2013a, 17) gehören beispielsweise die Fährtenlinienblätter 19 und 21 (D 2013a, 19, 21). Abgekürzt wäre das: K 17, FLB 19, FLB 21. Auf die Grundkarten, die häufig skizzenhaft die Umgebung der Lebensfläche der Gemeinschaft darstellen, werden die Blätter wie Transparentpapier aufgelegt, um in verschiedenen Schichten die Ereignisse und Bewegungen von Sprachnahen und Sprachfernen zu kartieren. Die Grundkarten bieten den Kartograf:innen eine räumliche Orientierung, wenn sie die Fährtenlinien auf den aufgelegten Fährtenlinienblättern kartieren. Eine Grundkarte kann zur unbegrenzten Nutzung als Unterlage für die Kar-

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den Haare gemeint, sondern auch die Ausstrahlung des Blicks, das Timbre der Stimme, die Gesichtsfarbe, die Hautstruktur … Und die Körperhaltung, die Gestik, das Auftreten … Und das Denken und der Schlaf … Alles: Man kann gar nicht aufhören, dieses ›Alles‹ auszusprechen.« (Jullien 2018b, 143f.) Es ereignet sich fortwährend irgendetwas im Prozess des Alterns. Man kann diese Ereignisse mit Rancière und Deleuze auch als Mikro-Ereignisse verstehen, die kaum bemerkt und kaum lokalisiert werden können. Sie bringen trotz ihrer »stillen« Verwandlung ein »laut donnerndes Ergebnis« (ebd.) mit sich. Julliens Arbeit mit Antonymen eröffnet Räume zwischen ›einem‹ chinesischen und ›einem‹ europäischen Denken. Hierbei nimmt er auf Deleuze Bezug (vgl. ebd. 2005b, 539; 2008, 8) und Deleuze erkennt die Antonyme auch in der kartografischen Praxis wieder, wenn er bemerkt, wie »sorgfältig zwischen ›planlosen Linien‹ und ›gewohnten Linien‹« (Deleuze 1992, 277) unterschieden wird (vgl. Miguel 2015, 189ff.). Die Manifestationen des Dazwischen von Karte (Rhizom) und Kopie (Baumstruktur, Repräsentation) wird aus prozessualen Polaritäten »ko-konstituiert«. Die Dualismen bestehen aus operationalen Polaritäten, die nicht dazu dienen, die Differenz der Pole hervorzuheben, sondern dazu, die kontinuierliche Prozessualität in ihrer Prozesshaftigkeit aufzuzeigen.

Cartes et lignes d’erre Die Karten aus dem Band Cartes et lignes d’erre (D 2013a) sind zentraler Gegenstand meiner Arbeit. Die meisten Karten aus diesem Band bestehen aus einer Art Grundkarte (K) und dazugehörigen »tracing sheets« (calques) (D 2013a, 16) – im Folgenden: »Fährtenlinienblätter« (FLB). Ich werden die Karten mit der Seitenangabe des Kartenbands zitieren. Zur Karte 17 (D 2013a, 17) gehören beispielsweise die Fährtenlinienblätter 19 und 21 (D 2013a, 19, 21). Abgekürzt wäre das: K 17, FLB 19, FLB 21. Auf die Grundkarten, die häufig skizzenhaft die Umgebung der Lebensfläche der Gemeinschaft darstellen, werden die Blätter wie Transparentpapier aufgelegt, um in verschiedenen Schichten die Ereignisse und Bewegungen von Sprachnahen und Sprachfernen zu kartieren. Die Grundkarten bieten den Kartograf:innen eine räumliche Orientierung, wenn sie die Fährtenlinien auf den aufgelegten Fährtenlinienblättern kartieren. Eine Grundkarte kann zur unbegrenzten Nutzung als Unterlage für die Kar-

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tierung von Fährtenlinien verwendet werden. Dieses Vorgehen verselbstständigte sich jedoch auch im Laufe der Jahre, sodass Grundkarte und Fährtenlinienblatt funktional zunehmend voneinander entkoppelt wurden. Grundkarten gingen verloren, waren nicht mehr auffindbar oder wurden schlichtweg nicht mehr benötigt. Bemerkenswert ist, dass gerade auf diesen geografisch nicht mehr lokalisierbaren und von räumlichen Zusammenhängen losgelösten Blättern neue Formen des Gemeinsamen sichtbar werden. Aus diesem Grund stehen sie in meiner Arbeit im Vordergrund. Formen des Gemeinsamen werden mit dem Floßzeichen kartiert, das einer Raute ähnelt und das in Ce gamin, là gleich zu Beginn gezeigt wird (vgl. Abb. 24). Die Aufnahmen für den Film wurden vom Mai 1973 bis in den Winter 1974 oder womöglich auch noch im Frühjahr 1974 angefertigt (vgl. D 2007a, 1828). Auf den Aufnahmen ist erkennbar, dass das Floßzeichen bereits ein zentrales Element der Karte ist. Die Karte in Abbildung 24 gibt einen Überblick zu mehreren Orten, an denen sich Lebensflächen und Netze herausgebildet haben. Netze (réseau) bestehen aus mehreren Flößen. Die dunkel hervorstechenden Rasterstrukturen zeigen Vernetzungen. Im Juni 1975 feierte der Film bereits Premiere auf einem Filmfestival in Grenoble. In Abbildung 24 ist nur undeutlich zu erkennen, was im Lauf von Ce gamin, là noch ausführlich behandelt wird. Es folgen auf den Ausschnitt in unregelmäßigem Abstand sechs Auszüge, die in loser Verbindung zur Handlung des Films stehen, weil sie zum Teil auf weit zurückliegende Orte des Gemeinschaftslebens (Lebensflächen) verweisen. Die erste Szene, die Bezug auf die Flöße nimmt, beginnt mit einer Detailaufnahme, die im Zentrum von Abbildung 24 zu sehen ist. Sie zeigt eine kleine Ansammlung von Häusern, eine kleine Straße und möglicherweise ein Ackerfeld, das rechts neben den Häusern eingezeichnet ist (0:05:14). Darunter ist Monoblet lesbar. Dies ist eine kleine Gemeinde mit derzeit 440 Einwohnern im südlichen Teil der Cevennen. In der vorhergehenden Aufnahme ist Monoblet zu sehen. Die Kamera zoomt raus und bietet den Zuschauer:innen einen Blick auf die ganze Karte. Nach kurzer Zeit wird der Schriftzug »radeaux dans la montagne« (Flöße in den Bergen; vgl. dazu auch D 1980) eingeblendet. In Monoblet sind – im Gegensatz zu den anderen Schauplätzen auf Abbildung 24 – keine Strukturen aus grauschwarzen, vertikalen und horizontalen Balken erkennbar. Die Szene endet 0:05:43 mit einem Schnitt und zeigt eine Landschaftsaufnahme der Cevennen, die nach wenigen Sekunden mit einem (französischen) Text versehen wird; bis zu diesem Zeitpunkt ist der Film – mit Ausnahme von Delignys rhythmischer Stimme – noch stumm und verfügt über keinerlei Untertitel.

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Abb. 24: Flöße in den Bergen (D 2007d, 0:05:29)

Abb. 25: Flöße in den Bergen, Le Serré (D 2007d, 0:06:02)

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Abb. 26: Flöße in den Bergen, Le pont neuf (D 2007d, 0:30:52)

In 0:06:03 sieht man den ersten von sechs Auszügen aus der Übersichtskarte (Abb. 24), der den rechten oberen Teil in einer Großaufnahme zeigt (vgl. Abb. 25). Hier steht unter dem Floß »Le Serré« und rechts davon »mars 1970«. In Le Serré (auf manchen Karten im Kartenband auch in den Schreibweisen Le Serret, Séret, Serré oder Séré, vgl. D 2013a, 62; hier im Folgenden: Le Serret) wird von Jaques Lin 1970 ein provisorisches Camp errichtet, das er später schrittweise weiter ausbaut. Im Mai 1974 wird er in diesem Camp mit seinen Brüdern auch eine Floßkonstruktion bauen, die als eine Art Werkzeug für die Öffnung und den Erhalt der Zwischenräume des Gemeinsamen dient. Die Datierung könnte nahelegen, dass es bereits 1970 Flöße gegeben haben muss und dass die Flöße bereits sehr früh für die Gemeinschaft eine gewichtige Rolle gespielt haben. Doch diese Vermutung lässt sich nicht bestätigen, weil der Ausschnitt aufgrund der Umrisse und der Wegstrecken eindeutig der Überblickskarte auf Abbildung 24 zugeordnet werden kann und diese aller Wahrscheinlichkeit nach für Ce gamin, là zwischen Oktober 1974 und Juni 1975 angefertigt wurde. Gegen die Annahme spricht auch die Datierung auf dem letzten Ausschnitt der Übersichtskarte, auf dem »Le pont neuf« zu sehen ist: octobre 1974 (0:30:52; vgl. Abb. 26). Monique Parelle-Renau und Victor Renaud richteten in »Le pont neuf« 1974 ein kleines Ferienlager für die Betreuung autistischer Kinder ein. Die

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Floßstruktur ist kaum verzweigt und deutet darauf hin, dass es sich hier um einen Nebenschauplatz der Lebensgemeinschaft handelt. Es war in Frankreich zu der Zeit oftmals üblich, dass die psychiatrischen Einrichtungen über die Sommerferien geschlossen wurden. Deligny bot sich bereits 1969 an – nach Erhalt der Kontakte durch die Clinique de La Borde –, Kinder (vor allem zwischen 3 und 10 Jahre alt) über die Sommerferien aufzunehmen, von denen manche länger und manche nur kurz blieben. Die Kosten für die Betreuung wurden geringgehalten und aufgenommen wurden vor allem Kinder, die sich fernab der Sprache bewegten (vgl. D2007a 673ff.). Die ersten Kinder wurden Deligny Anfang 1969 von den Psychoanalytikerinnen Françoise Dolto und Maud Mannoni und dem Psychiater Émile Monnerot anvertraut (vgl. ebd., 673). In dieser Zeit entstanden auch die ersten Karten (vgl. D 2007a, 1827). Das erste Floß auf einer Karte scheint jedoch erst im Mai 1973 eingezeichnet worden zu sein (vgl. D 2013a, 141f.). Hiervon geht auch die Herausgeberin des Kartenbandes Alvarez de Toledo aus (vgl. ebd., 13). Auf den anderen drei Ausschnitten aus der Übersichtskarte (vgl. Abb. 27, 28, 29) sind weitere Bestandteile des Netzwerks zu sehen. Neben Le Serret sind in »Le Palais« (September 1971) und »Granies« (Juli 1968) zwei größere Floßstrukturen und in »Les Ajones« (Mai 1974) eine kleinere erkennbar. Die Karten aus Cartes et lignes d’erre (D 2013a) sind mit Ausnahme der Abschnitte »Pomaret« und »Les Murettes-Le Montaud« alle in den Orten angefertigt worden, die auch auf der Übersichtskarte in Abbildung 24 zu sehen sind. In den Ausschnitten ist anhand der Datierungen erkennbar, dass Flöße wachsen können, dass sie aber auch verschwinden und verkümmern können und dass sie sich je nach Gegebenheit und – wie sich zeigen wird – je nach anwesenden Anomalen ganz unterschiedlich entwickeln. In den Filmausschnitten der »Flößen in den Bergen« ist erkennbar, dass räumliche und gegenständliche Repräsentation zu Beginn noch ein wichtiger Bestandteil der Karten sind. Die im Film gezeigten Karten bieten den Zuschauer:innen in erster Linien einen Überblick und eine Orientierung. Auch die frühen Fährtenlinienblätter aus dem Band Cartes et lignes d’erre (D 2013a) bieten Orientierungshilfen an: schriftliche Ergänzungen mit Zeiteinheiten (»1h«, »15 min«), Aufenthalten und Positionsbestimmungen (»IV retours à la …«, »II il va …«). Die Karten vom Sommer 1969 bis zum Sommer 1971 tragen eine Stundenskala (»cadran horaire«, D 2013a, 22), die den topografischen Raum teilt und strukturiert. In den Karten vom März 1972 bis zum September 1973 treten diese Skalen jedoch immer weiter in den Hintergrund, bis sie zuletzt als ein Randvermerk am unteren Rand der Karte kaum noch

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Abb. 27: Flöße in den Bergen, Le palais (D 2007d, 0:10:28)

Abb. 28: Flöße in den Bergen, Granies (D 2007d, 0:11:18)

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Abb. 29: Flöße in den Bergen, Les ajones (D 2007d, 0:13:46)

erkennbar sind. In dieser Randposition finden sich auch in späteren Karten bis 1979 noch Skalen, die jedoch kaum noch dazu beitragen, den kartierten Raums zu strukturieren und zu unterteilen. Auf den früheren Karten sind auch Sprechblasen und andere sprachlichen Ergänzungen erkennbar, die auf Tätigkeiten, zeitliche Abläufe oder besondere Vorkommnisse hinweisen (vgl. bspw. FLB 51ff.). Die Gegenstände auf den Karten stehen oftmals stärker im Vordergrund als die Beteiligten, die – sofern überhaupt – vage als Strichmännchen in unterschiedlichen Farben erkennbar sind (vgl. beispielsweise K 87 und die dazugehörigen Blätter). Trotz der Repräsentationslogik finden sich auch in frühen Karten bereits Ansätze, sich einer Alleinherrschaft dieser Logik zu entziehen. Die im Folgenden vorgestellten beiden Karten bieten eine Einführung in die Praxis der Kartografie und zeigen zugleich auf, wo sich Grenzverläufe zwischen der Sprachnähe und Sprachferne abzeichnen und wo die Logik der Repräsentation nicht mehr greift.

Fährtenlinien in den Cevennen

Mikroprozesse auf K 233.1 und K 233.2 Die beiden Karten 233.1 (Abb. 30a) und 233.2 (Abb. 30b) widmen sich den kleinsten sinnlichen Spuren in der Gemeinschaft. Mit ihnen kann gezeigt werden, wie ein topografischer Raum zwischen Tun und Agieren eröffnet wird. Die sternförmige Aufteilung von Karte 233.1 zeigt den Verlauf der Zeit für das Tun und das Agieren eines Sprachnahen und eines Sprachfernen im Uhrzeigersinn an. Der Verlauf wird auf beiden Karten um Sekundenangaben ergänzt. Auf Karte 233.1 ist ein 60 Sekunden langer Abschnitt des Abspülens einer Gabel zu sehen und auf Karte 233.2 das Fegen mit einem Besen. Die Zeitangabe auf Karte 233.2 endet nach 300 Sekunden. Der Raum außerhalb der spiralförmigen Strukturen bleibt leer. Die Kartierung orientiert sich in einer offenen Struktur um einen zentralen Punkt. Auf beide Karten wird an unterschiedlichen Stellen in Delignys Schriften und Zanders Arbeit eingegangen (vgl. D 2013a, 232; D 2016, 103ff.; vgl. Zander 2003, 219f.). Karte 233.1 zeigt drei spiralförmige Strukturen: eine kurze innere Linie, eine immer wieder nach Außen driftende mittlere Linie und ein breiter schwarzer Streifen weiter außen. Die innerste Schleifen ziehende und im Zickzack verlaufende kurze Linie, die bei Sekunde 0 anfängt und nach 34 Sekunden endet, kennzeichnet ein intentionales Tun: das Spülen einer Gabel. Die mittlere Linie beginnt ebenfalls oberhalb der Mitte bei null und ist von Schleifen und Zacken durchzogen. Sie führt mehrfach nach außen auf einen breiten Streifen. Mit der mittleren Linie wird Janmaris Agieren kartiert und der schwarze breite Streifen außen markiert eine sprachferne Umlaufbahn. Der Streifen steht, kartografisch gesehen, in größtmöglicher Distanz zum intentionalen Zentrum der Karte, das mit einem »S« markiert ist und laut Begleittext des Kartenbandes das Subjekt kennzeichnet (D 2013a, 232). Auf beiden Karten wurde kartiert, wie Janmaris Agieren sich in beinahe regelmäßigen Abständen dem intentionalen Tun eines Sprachnahen annähert. Die Annäherungen werden mit der mittleren Linie kartiert, die von außen nach innen und wieder zurück driftet. Karte 233.1 zeigt, dass ›seine‹ Gesten des Agierens, sobald sie sich dem Zentrum (S) annähern, den Gesten des intentionalen Tuns ähneln. Janmaris Handbewegungen ahmen beim Abwaschen, die Handbewegungen eines sprachnahen Erwachsenen nach. Wenn sein Agieren dem Tun ähnelt und kaum noch von ihm unterscheidbar ist, führt die mittlere Linie ins Zentrum der Karte. Wenn er seine anomalen Gebärden (l’orné) ausübt, dann führt die Linie auf die äußere Umlaufbahn und erhält dort eingeritzte Wellenzeichen (^^^). Für die Reinigung der Gabel be-

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Abb. 30a: K 233.1

nötigt Janmari etwa die doppelte Zeit, weil er zwischendurch abdriftet und Gebärden (^^^) auf dem breiten schwarzen Streifen ausführt. Die Karte zeigt,

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Abb. 30b: K 233.2

dass er sich in den Überlagerungen von Tun und Agieren »auf einer anderen Umlaufbahn als der unseren« (D 2016, 103) befindet.

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Die Strukturen auf der Karte nähern sich schematisch den Handbewegungen an, die beim Spülen erforderlich sind – das zickzackförmige Auf und Ab der Hand, die mit dem Schwamm über die Gabel fährt und diese dann im Becken spült oder erneut schrubbt. Das Abspülen einer Gabel, das bei Janmari doppelt so lange dauert, wie bei einem Sprachnahen, erhält auf der Karte einen Zeitverlauf, den Janmari nicht besitzt, weil Zeit für ihn (als Intensität) keine Rolle spielt. ›Seine‹ »Irr-Gebärden« (D 2016, 103) stehen auf der Außenlinie in Distanz zum Subjekt. Die Wellenzeichen (^^^) auf dem Streifen verweisen auf eine Nähe zu Wasser, das auf mehrere Sprachferne in der Gemeinschaft anziehend wirkt. Der Rhythmus und die Drift von Janmaris Bewegungen entfalten sich zwischen Außen (Sprachfern) und Innen (Sprachnah). Im sprachfernen Außen führt er (anomale) Gebärden im Wasser des Spülbeckens aus und in der Nähe des Zentrums gleichen seine maschinischen Bewegungen dem intentionalen Abspülen des Geschirrs. Tun und Agieren überlagern sich im Inneren der Spiralstruktur und sind kaum noch voneinander zu unterscheiden. Karte 233.2 zeigt in einem ganz ähnlichen Aufbau einen Zwischenraum aus Überlagerungen. Die Linien folgen den pendelnd schwingenden Körperbewegungen des Fegens bei der Handhabung eines Besens. Auf dem breiten äußeren Streifen in der Sprachferne werden Gebärden eingeritzt, die aus einem schwungvollen Agieren mit einem Besen und Körperdrehungen bestehen. In der Mitte der Karte wird das intentionale Fegen eines Erwachsenen bis zur Sekunde 300 kartiert. Auch hier ist erkennbar, dass die mittlere Linie einen Pendelrhythmus zwischen innerer Linie (Sprachnähe) und äußerem Streifen (Sprachferne) entwickelt und auch hier markieren die eingeritzten Schwünge auf dem äußeren Streifen Ausschmückungen (l’orné). Ausschmückungen auf der Außenlinie sind amorpher, gestischer Überschuss. Auf beiden Karten werden die Zwischenräume von intentionalem Tun und sprachfernem Agieren kartiert. Die mittlere Linie vermittelt nicht nur ein zeitliches Gefühl für die zeitlose Sprachferne auf der äußeren Bahn, sondern zeigt auch ein mimetisches Verhältnis von Janmaris Agieren zu intentionalen Tätigkeiten auf. Die kartierte Linie trägt dazu bei, den Raum zwischen Sprachnähe (S) und Sprachferne (^^^) als Zwischenraum zu eröffnen. Durch sie wird die Tür zum dritten Haus aufgestoßen, weil sichtbar wird, dass es ein Interaktions- und Interferenzgeschehen gibt, das kartiert werden kann.

Das Floß

Eröffnen Das Floß erfüllt für die Gemeinschaft um Deligny gleich mehrere Zwecke. Es ist in erster Linie eine topografische Metapher für die Erfahrungen des Gemeinsamen, die im Zusammenleben mit den autistischen Kindern nach und nach mithilfe der Karten möglich wurden. Es verweist als Kartenzeichen, das aus zwei senkrechten und zwei waagerechten Balken besteht und dem Rautezeichen ähnelt, auf die mannigfaltigen Räume, in denen die Erfahrungen des Gemeinsamen gemacht werden. Es deutet jedoch auch auf die laienhafte und behelfsmäßige Konstruktion eines Floßes gegenüber einem Schiff hin, das in diesem Zusammenhang für Professionalisierung und Institutionalisierung steht, wodurch es politisch einer ›anarchischen‹ Seite zugeordnet werden kann. Jede:r kann an dieser Gemeinschaft teilhaben – ganz gleich über welche berufliche Ausbildung oder Seins- und Wahrnehmungsweise verfügt wird –, solange die Gleichheit aller Beteiligten verifiziert und im Gemeinschaftsleben mit der Sprachferne zum Ausdruck gebracht wird. Gleichheit wird zum Ausdruck gebracht, wenn trotz der großen Distanzen zwischen den Sprachnahen und Sprachfernen »Interferenzen« in Zwischenräumen ermöglicht werden. Die »Interferenzen« in den Zwischenräumen können im Alltag zu »Interaktionsräumen« führen, die durch ein gemeinsames »Interagieren« gekennzeichnet sind, wie beispielsweise gemeinsames Kochen (vgl. Abb. 31) oder abwaschen (vgl. Abb. 32). »Interaktionsräume« können über längere Zeit hinweg Netze (réseau) bilden (vgl. Abb. 24-29). Das Floß – und dies ist seine wichtigste Funktion – ist ein Ausdruck der Gleichheit aller Anomale in der Lebensfläche, das zugleich die Wirkmacht der Gleichheit aller zur Geltung bringt. Die Wirkmacht des Floßes zeigt sich darin, dass es dazu beiträgt, eine Lebensfläche für Sprachferne und Sprachnahe zu »konstituieren«. Die »Konstitution« einer gemeinsamen Lebensfläche wird

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Abb. 31: Gemeinsam kochen (D 2007d, 0:29:48)

Abb. 32: Gemeinsam abwaschen (D 2007d, 1:01:16)

Das Floß

durch die Floßkonstruktion befördert, die von Jacques Lin und seinen Brüdern gebaut wurde. Das Floß erhält durch die Konstruktion einen konkreten (Werkzeug-)Körper, der von allen genutzt werden kann. Acht Monate nachdem das Floßeichen erstmals auf Karten zu sehen ist, wird es im Mai 1974 als eine Vorrichtung, die einem großen Rechenschieber ähnelt, für das alltägliche Gemeinschaftsleben gebaut. Deligny hat eine Zeichnung angefertigt, die den schlichten Titel »Das Floß« trägt (vgl. Abb. 33a). Es ist die einzige Zeichnung in dem Band Cartes et lignes d’erre, die von ihm stammt. Er selbst hat keine Karten angefertigt. Seine Zeichnung bezieht sich nicht unmittelbar auf die Floßkonstruktion, die die Lin Brüder gebaut haben, sondern ist eher metaphorisch zu verstehen. Abb. 33a: Delignys Floß (D 2013a, 209)

Es gibt eine Fotografie, auf der die kleinen Brettchen erkennbar sind, die auch in der Floßkonstruktion verwendet wurden (vgl. Abb. 33b). Das Foto ist aus den Œuvres aus einem Essay von 1979 und zeigt, welche sprachnahen und sprachfernen Anomale mit welchen Orten im Netz in Verbindung stehen. Die horizontalen Planken (planches) stehen für bestimmte Lebensflächen im Netz und die vertikalen Brettchen für anomale Präsenzen (planchettes). Das Foto ist jedoch eher ein Zeugnis für die Vernetzung der Lebensflächen und weniger ein Nachweise für die Wirkmacht kartierter »Interaktionsräume«.

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Abb. 33b: Les planches et les planchettes (D 2007a, 1241)

Dank eines Hinweises von Hartwig Zander bin ich auf eine kleine, perspektivische Aufnahme eines Modells der Vorrichtung in den Cahier de l’Immuable/3 gestoßen (vgl. Abb. 33c). Auf dem kleinen Foto ist erkennbar, dass mehrere Seile in einen Holzrahmen gespannt wurden, der auf mehreren großen Steinen liegt. Einen weiteren Hinweis verdanke ich Olaf Sanders, der in Ce gamin, là in einem Ausschnitt die Floßkonstruktion erkannt hat (vgl. Abb. 33d). Aufgrund

Das Floß

Abb. 33c: Perspektivische Aufnahme Floß (D 2007a, 999)

des Zeitraums der Aufnahmen von Ce gamin, là – diese überschneiden sich mit dem Zeitraum der Entstehung der Vorrichtung –, kann geschlossen werden, dass hier die Floßkonstruktion zu sehen ist. Abbildung 33d zeigt ein auf dem Boden liegendes Gerüst, zu dem die Maße und die Beschreibung von Lin (vgl. Lin 2004, 96) und Alvarez de Toledo (vgl. D 2013a, 196) passen. Gisèle Durand hat unsere Vermutung, dass hier die Floßkonstruktion zu sehen ist – meine Anfrage wurde von Marlon Miguel an sie weitergeleitet –, bestätigt. Von Marlon Miguel wurde ich auch darauf aufmerksam gemacht, dass in der Arbeit Camérer. A propos d’images (D 2021) ein Foto von bescheidener Qualität veröffentlicht wurde, auf dem die gesamte Floßkonstruktion zu sehen ist

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Abb. 33d: Ausschnitt Floßkonstruktion (D 2007d, 1:06:40)

Abb. 33e: Floßkonstruktion (D 2021, 142)

Das Floß

(vgl. Abb. 33e). Dies ist leider das einzige Foto, das es von der Konstruktion gibt. Vor der Konstruktion steht Gilles T. mit einem Brettchen in den Händen. Die Hintergrundgeschichte und die Entstehung der Floßvorrichtung hängen mit den alltäglichen Widerfahrnissen des gemeinsamen Lebens von Sprachfernen und Sprachnahen zusammen. Lin schreibt, dass es heftige Auseinandersetzungen zwischen ihm und seinen Brüdern gab, weil Alltagsgegenstände von Sprachnahen aus Unachtsamkeit wiederholt nicht an die vorgesehenen Stellen zurückgebracht wurden, was zu »ungestümen Geschrei« unter den autistischen Kindern geführt hätte, die sich dann auch mit permanenten Schlägen gegen den Kopf verletzten. »Bei einem Besuch in Graniès bespreche ich all das [diese Auseinandersetzungen] mit F. Deligny. Dabei kam die Idee auf, ein Instrument zu erfinden, mit dessen Hilfe wir uns über den Ablauf der täglichen Aufgaben verständigen konnten. An einem in die Erde gepflanzten Mast befestige ich einen Rahmen, der aus vier Latten besteht, die über zwei Meter lang sind. Innerhalb des Rahmens werden horizontal Seile gespannt, an die etwa zwanzig Holzbretter gehängt werden, die alle alltäglichen Tätigkeiten darstellen: Holz sammeln, Feuer anmachen, Wasser holen, Wäsche waschen, Suppe kochen…  Die Zeichnungen, die in jedes Brett geritzt werden, leiten sich von denen her, die wir verwenden, um diese oder jene ›Tätigkeit‹ darzustellen, wenn wir an den ›Karten‹ und ›Irrlinien‹ arbeiten.  Aufrecht gehalten von Seilen und Pflöcken, ähnelt dieses seltsame Instrument einem Floß. Rund um das ›Floß‹ liegen ebenso viele große Steine, wie es verzierte Bretter gibt. Auf jeden Stein wird ein Werkzeug oder ein Gebrauchsgegenstand gelegt; das ist der wichtigste Gegenstand, der aus unserer Sicht am meisten repräsentative Gegenstand, der bei jeder der etwa zwanzig täglich wiederkehrenden Aufgaben verwendet wird: die Hippe zum Holzschneiden, die Schüssel für den Abwasch, der Eimer zum Wasserholen…  Bevor mein Bruder und ich irgend etwas beginnen, gehen wir zum Floß und holen das Brett oder den Gegenstand, der mit dem zusammenhängt, was gemacht werden soll. Ist die Arbeit getan, kehren das Brett und das Werkzeug an ihren Platz auf den Seilen und auf den Steinen zurück.  Nach kurzer Zeit sind die heftigen Diskussionen unter uns anderen Sprechenden verschwunden, und der Hauptanziehungspunkt unserer sechs nichtsprechenden Kinder hat sich zum Floß verlagert. Manche verlassen es

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den ganzen Tag nicht. Der kleine Paul, der immer bereit ist zu explodieren, wenn man sich an ihn wendet, und der zum anderen Ende des Lagers rennt, wenn man ihn bittet uns zu folgen, ergreift jetzt Initiativen. Er folgt uns bei all unseren Wegen auf dem Fuße und legt bei bestimmten Aktivitäten freiwillig mit Hand an, ohne dass das ein Drama ist, seitdem das Floß in den Alltag eingetreten ist.« (Lin 2004, 96) Die Vorrichtung in dem Standbild (Abb. 33d), das Foto der Konstruktion (Abb. 33e) und Lins Beschreibung passen zusammen. Die Konstruktion verhilft nicht nur (allen) dazu, den Alltag gemeinsam zu bewältigen und einen respektvollen Umgang miteinander zu wahren, sondern eröffnet auch immer wieder neue »Interaktionsräume«. Die Konstitution und die (Weiter-)Entwicklungen des Floßes ziehen sich über mehrere Jahre hin. Das Floß verifiziert zunächst als Kartenzeichen »Interaktionen« zwischen dem Sprachnahen und dem Sprachfernen und erweitert die Annäherungsmöglichkeiten aller Beteiligten. Dadurch werden »Interaktionsräume« sichtbar und erfahrbar. Die Floßkonstruktion ist ein Ausdruck der »Interaktionsräume«, die sich in der Lebensfläche manifestiert haben. Die Erfahrungen in »Interaktionsräumen« beschreibt Manning wie folgt: »But is there not another way of conceiving language? A language in the prearticulation of the not-yet? In the weight of the beneath of words where the shape of enthusiasm lingers – ›In the language we speak‹ – lives a certain muteness that is the prearticulation of language in-forming. Prearticulation’s activation contour is the how of language’s movement-with that shapes not necessarily toward words as such, but toward the ›thinking-feeling of what happens‹ [vgl. Massumi 2008]. This thinking-feeling is a withness that is asymmetric, not an entre-deux – the reiteration of an ›I‹ – but a relation of nonrelation. A relation active in the immanence of its takingform. This withness – the associated milieu of expressibility – is co-constitutive of what can be said, felt, heard. Seen this way, language need not be of the ›I‹. Language can be ›the language we speak‹, active in lines of drift that move in a worlding that persists ›beneath the words‹. Poetry has long done this, exposing language to the more-than of its content, activating the incipient expressibility within expression.« (Manning 2011, 91) Wie ich bereits für K 233.1 und K 233.2 (Abb. 30a, b) gezeigt habe, »konstituieren« sich die Zwischenräume als Suche nach einer Struktur, die die Differenz zwischen Sprachnahen und Sprachfernen zum Ausdruck bringen kann, »a

Das Floß

relation active in the immanence of its taking-form«. Mit Massumi kann die Verbindung der Sprachnahen zu den Zwischenräumen (relation of nonrelation) als eine »direct and immediate self-referentiality of perception« verstanden werden (Massumi 2008, 5). Massumi fürt weiter aus: »I don’t mean selfreflexivity, which would be thinking about a perception, as from a distance or as mediated by language. This is a thinking of perception in perception, in the immediacy of its occurrence, as it is felt – a thinking-feeling, in visual form« (ebd.). Die Resonanzen zwischen dem Sprachnahen und Sprachfernen, die sich in Wiederholungen von Gesten oder Spiegelungen von Bewegungsabläufen ergeben (vgl. Abb. 5-9), führen zu »Interferenzen« in Zwischenräumen, die Manning als eine Aktivität (in its taking-form) versteht und Massumi als eine perzeptionelle Selbstreferenz der Sprachnahen (a thinking-feeling, in visual form). Mit den Aktivitäten und Selbstreferenzen in visueller Form können die autistischen Kinder »interagieren« (vgl. Abb. 10, 11). Das Floßzeichen ist eine Verifikation dieser »Interaktionen« und die Floßkonstruktion ist die Materialisierung der »Interaktionen« und der »Interferenzen« dieser Aktivitäten (in its taking-form). Ich verstehe das Floßzeichen und die Floßkonstruktion ausgehend von Zander und Rancière als ein Abbau von repräsentativen Sprachstrukturen. Der Abbau eröffnet uns Sprachnahen die Möglichkeit der Ergänzung einer einseitigen Repräsentationslogik um ästhetische Zugänge der Auflösung (Dissens). Die kartierten Mikroprozesse auf K 233.1 und K 233.2 dienen dazu, die Zwischenräume (»Interaktionen« und »Interferenzen«) wahrnehmbar werden zu lassen und leiten dadurch einen möglichen Dissens (Loslösung) von repräsentativen Formen des Sprachgebrauchs ein. Auf den beiden Karten steht ein Subjekt (S) im Zentrum, um das die Drift von Janmari zwischen den Nutzgesten (Außenkreis) und den Leergesten (Innenkreis, nahe der Leere) kartiert wird. Die Drift wird nicht quantifiziert, metrisiert oder repräsentativ erfasst, sondern ist aktive Relation eines nichtrelationalen Verhältnisses (relation of nonrelation), d.h. einer Relation ohne Einheit, ohne Halt und ohne Selbst. Der Abbau der Sprache lässt sich weiter veranschaulichen, indem man ein weiteres Antonympaar hinzuzieht: »›Zeichen‹ ist zugleich eine Konvention und ein Grundelement der symbolischen Ordnung, dem unser ›Bildungsgedächtnis‹ Universalität zuspricht. Alles ist Zeichen, verweist auf etwas, was es selbst nicht ist – einschließlich des Selbst, das sich dann eben ›Selbst‹ schreibt. Jede Geste sei in ihrer

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Metafunktion als ›Geste‹, ein Köder, um sie als ›Geste‹, also Zeichen von etwas, auszulegen und an dieses ›Etwas‹ zu binden. Folglich hänge der Gebrauch der Gesten, so Deligny, von der Fähigkeit ab, dem Zeichen gegenüber den antonymen Bedeutungswert des Gestischen zeigen zu können.« (Zander 2003, 218) Dem Zeichen kann das Antonym der Geste gegenübergestellt werden. Das Zeichen entstammt dem Haus der Sprache und die Geste dem Haus der Bilder. Die genannte Universalität der Zeichen wird beispielsweise von Josef Simon in einer Philosophie der Zeichen (Simon 1989) begründet. Mit Simon ließe sich Zanders beziehungsweise Delignys Gegenüberstellung von Zeichen|Geste entgegnen, dass »Etwas« zunächst auch »Sache« oder »Gegenstand« sein müsste, bevor es Zeichen ist, d.h. in ein Zeichensystem eingepflegt werden kann. Simons führt wie folgt aus: »Die Hauptpunkte der Kritik an der ›Philosophie des Zeichens‹ [ebd.] in diesem Band beziehen sich darauf, dass etwas doch zunächst Seiendes, ›Sache‹ sei, um dann Zeichen ›sein‹ und als Zeichen verwendet werden zu können. Auch Heideggers Bestimmung des Zeichens als ›Zeug‹ ist davon nicht vollkommen abgelöst. Der ›Philosophie des Zeichens‹ liegt dagegen die Frage zugrunde, ob wir nicht immer schon einer ›gemeinsamen Philosophie der Grammatik‹ [Nietzsche 2005, 34f.] folgen, wenn wir den Inbegriff von allem in seinem Seiendsein sehen.« (Simon 1992, 195) Für Deligny ist dieses grundlegende »immer schon« selbst ein grundlegendes Problem, weil die Geste als Unverstande immer bereits (von sprachlichen) Zeichen überformt wird. Simon spricht jedoch von einem Zeichenbegriff, der auch die Prozesse des Nichtverstehens als Zeichen fasst. Man kann nun aus Zanders und Delignys Perspektive einwenden, dass das Problem sich dadurch nur verschieben würde, denn wahrnehmungsnahe Zeichen (Bilder) können »gleichzeitig immer auch etwas anderes sein« (Herder 2017, 65). Jedoch wird auch dieses »anderes sein können« (Mannigfaltigkeit) von Simon in eine Philosophie der Zeichen integriert. »Man kann nicht sagen, wie es von einer ungegenständlichen Empfindung zu dem Gegenstand einer Empfindung komme, weil man über ungegenständliche Empfindungen nichts sagen kann. Wir haben schon immer interpretiert, wenn wir Empfindungen haben. Wir haben sie, indem wir interpretierende Zeichen verstehen. Wir haben Schmerzen, indem wir etwas als Schmerz haben. Deshalb kann man sich über seine Schmerzen nicht

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täuschen. Der Schmerz und das Zeichen des Schmerzes sind dasselbe. Der Schmerz ist ein Zeichen, sobald er als Schmerz bewusst ist. […] Nur am Verstandenen, auf der Basis von Gewissheit, kann etwas unverstanden sein. […] Unverstandenes wird dadurch verstehbar, dass es mittelbar auf Gegenstände der Empfindung zurückgeführt wird.« (Simon 1989, 78) Zum Einwand lässt sich ausgehend von Simon weiter veranschaulichen: Janmaris Gesten sind für die Sprachnahen zwar Zeichen, sie sind aber auch immer mehr als das. Sie sind Zeichenüberschuss und beinhalten damit auch Unartikulierbares und Unfassbares. Das Unverstandene – oder auch die Grenzerfahrung am Rand des Denk- und Fassbaren – kann nur als Zeichen Unverstandenes sein, d.h. das Zeichen steht (als Zeichen) in einer Beziehung zu diesem ›Außen‹. Simon präzisiert an anderer Stelle in Bezug auf die ästhetische Anschauung und den Umgang mit dem Fremden weiter: »Die Fremdheit einer Lebensform wird ästhetisch dann ›erfahren‹, wenn die Ebene der untersten Begriffe der eigenen Lebensform zur Erfahrung der fremden als nicht hinreichend differenziert erscheint. Die fremde Lebensform bleibt aus der Sicht der eigenen eine nicht bzw. nicht hinreichend begriffene Anschauung oder ein ästhetisches Phänomen. ›Was‹ wir an ihr nicht begreifen, bleibt ungedeutetes Zeichen, das dennoch ›viel zu denken veranlasst‹, ›soviel‹, ›als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen lässt‹ [Kant, KdU, § 49]. Wir fragen nach seiner Bedeutung, aber wir finden von uns aus keine Antwort auf diese Frage. Nach dem gewohnten Begriff von ›Erfahrung‹ erfahren wir die fremde Lebensform, wenn sich die Frage nach der Bedeutung der Zeichen für uns befriedigend beantworten lässt. Damit beziehen wir sie in unsere eigene Lebensform ein. Wenn sich diese Frage aber nicht befriedigend beantworten lässt, ›erfahren‹ wir sie als fremde, d.h., wir erfahren sie ›eigentlich‹ nicht. Sie wird uns nicht zu einem der Gegenstände, die aus unserer Lebensform heraus ›möglich‹ sind. Was für die Fremde in ihrer Eigenart ›bezeichnend‹ ist, bleibt als ungedeutetes Zeichen ›ästhetisch‹ stehen, als ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹, d.h. ohne einen von uns aus einsehbaren Zweck.« (Simon 2000, 56) Deligny und Zander stellen die Geste einem repräsentativen Zeichengebrauch gegenüber. Janmaris Geste bleibt dementsprechend ein ungedeutetes ›Zeichen‹, zu dem man keinen ›eigentlichen‹ Bezug entwickeln kann und das delignysche Hinübersehen zum Haus der Bilder oder in die »Fremde« bleibt immer unbeantwortet. Das Unbegreifliche, das zum Denken veranlasst, kann

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die Fähigkeit in Gang setzen, sich mit diesem Fremden immer wieder anders auseinanderzusetzen. Ohne hier umfassend auf die Arbeiten von Simon eingehen zu können, lässt sich dennoch (aus rancièrescher Perspektive) festhalten, dass eine Philosophie der Zeichen das Problem mit sich bringt, dass sie den ästhetischen Überschuss nur durch eine Hierarchisierung des Sinns, eben einer Philosophie der Zeichen, über das Sinnliche einhegen kann. Flöße sind jedoch das Ergebnis von ereignishaften, lokalen, sinnlichen, »konstitutiven« Begegnungen an den Grenzbereichen unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen. Eine Untersuchung der Begegnungen erfordert dementsprechend keine Philosophie der Kartenzeichen, sondern eine sinnliche Topografie der Seins- und Wahrnehmungsweisen, die Ausdruck und Wirkmacht der Lebensfläche aufzeigen kann. Die Floßkonstruktion der Lin Brüder ist zunächst nichts weiter als ein Notbehelf im Umgang mit dem Fremden, das keine Antworten zu geben vermag. Die Konstruktion ist jedoch zugleich auch mehr als das, denn sie eröffnet neue Zwischenräume, wenn sie für die Sprachfernen zu einem »Hauptanziehungspunkt« (Lin 2004, 96) wird. Auf den Karten verweist das Floßzeichen (#) mit vertikalen Balken auf die Präsenz von Anomalen und mit horizontalen Balken auf Tätigkeiten, die gewohnheitsmäßig in der Lebensgemeinschaft vorgenommen werden. Gewohnheitsmäßig (coutumier) meint in diesem Zusammenhang nicht unbedingt alltäglich, sondern vielmehr (maschinisch) routiniertes Tun-Agieren, dem Sprachnahe und Sprachferne in der Lebensfläche gemeinsam nachgehen (vgl. Abb. 30a, b). Zu solchen Tätigkeiten gehört das tägliche Wasserholen von einem Brunnen oder auch das Brot backen beziehungsweise Teig kneten. Im Gewohnheitlichen drückt sich auch ein gegenseitiger Respekt aller Beteiligten aus. Wenn also auf einer Karte oder auch auf einem Fährtenlinienblatt ein solches Floß eingezeichnet ist, dann wird mit diesem Zeichen markiert, dass (meistens zwei) Anomale gemeinsam eine solche Tätigkeit (Tun und Agieren) ausüben. Auf den Kartenausschnitten in Ce gamin, là sind Floßzeichen zu sehen (vgl. Abb. 24-29), die sich aus weit mehr als nur zwei Anomalen zusammensetzen. Die sich überlagernden Floßzeichen bilden ein Netz, das in den meisten Fällen auf zwei Anomale zurückgeführt werden kann (ein sprachnahes und ein sprachfernes). Zwei Anomale »konstituieren« ein Floß durch »Interaktionen«, was dazu beiträgt, dass anschließend weitere »Interaktionen« möglich werden und eine Ausweitung stattfindet. In dem Kartenband (D 2013b) erscheint das Floß zum ersten Mal auf einem Fährtenlinienblatt aus dem Sommer 1973 (FLB 141; Abb. 34e). Das Blatt 141 gehört zu einer von Gisèle Durand zwischen Juli und September 1973 in

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Le Serret angefertigten Reihe, für die die dazugehörige Karte verloren gegangen ist. Auf den 28 Spurenblättern sind die Fährtenlinien von sechs Kindern eingezeichnet. Die Wege der Erwachsenen fehlen auf ihnen und auch die geografische Lage und Umgebung sind unklar. Die ersten sechs Blätter der Reihe (vgl. Abb. 34a-f), die alle im August 1973 angefertigt wurden, zeigen die Fährtenlinien des sprachfernen Kindes Benoît und das fünfte Fährtenlinienblatt der Reihe zeigt im rechten oberen Teil ein kleines Floßzeichen. Es besteht aus einem braunen und einem grünen senkrechten Balken und zwei braunen waagerechten Balken und es trägt in drei Ecken einen kleinen schwarzen Punkt. Die Punkte markieren, dass ein Gegenstand für das Tun-Agieren erforderlich ist, beispielsweise ein Spüleimer oder ein Besen. Auf dem ersten Fährtenlinienblatt (FLB 133; Abb. 34a) aus der Serie sind in breitem Pastellbeige die »Wege des Gewohnheitsmäßigen« (trajets coutumier, D 2013a, 132) eingetragen. Es sind die Wege, die von allen regelmäßig beschritten werden, um ein gewohnheitsmäßiges Tun-Agieren gemeinsam auszuüben. Die breiten pastellbeigen Streifen bilden Bahnen, auf den sich das Gewohnheitsmäßig aktiv entfalten kann. Im Zentrum der 28 Blätter stehen die Aktivitäten, die sich aus dem Zusammenleben heraus ergeben. Auf den Blättern wird ein Suchprozess sichtbar, mit dem das Gewohnheitsmäßige untersucht wird. Die Blätter suchen nach Antworten auf die Fragen, wie und wo sich »Interaktionsräume« öffnen oder schließen und wie die Lebensfläche durch die Wege des Gewohnheitsmäßigen strukturiert und organisiert wird. Da die Grundkarte fehlt, hat Durand vermutlich das Wegenetz des ersten Fährtenlinienblatts auch für die folgenden 27 Fährtenlinienblätter verwendet. Das Fehlen der Grundkarte ist im Zusammenhang meiner Arbeit hilfreich, weil dadurch die Wege des Gewohnheitsmäßigen stärker in den Vordergrund treten können, denn die Bahnen in pastellbeige spannen einen Bewegungsraum auf, der Gesichtspunkte außen vor lässt. Dadurch werden Sprachhandlungen auf den Karten abgebaut und die Identifikation des Ortes sowie eine räumliche Orientierung verhindert. Die Blätter »konstituieren« eine Ordnung räumlicher Relationen ohne feste Bezugspunkte. Das bedeutet, dass auf den Blättern keine Ordnung für »Interaktionen« vorausgesetzt wird. Eine geografische Einordnung der Linien und Wege ist nicht möglich. Eine Stundenskala links unten im Blatt (Abb. 34a) deutet darauf hin, dass ein kurzer Zeitraum von vermutlich zwei Stunden kartiert wurde. Es bleibt jedoch unklar, was wo genau passiert ist und wie lange es gedauert hat. Die chronologischen Zeitabläufe und die Metrik des euklidischen Raums haben kaum noch eine Relevanz. Sehpunkte gewinnen hingegen an Bedeutung.

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Abb. 34a: FlB 133

Rechts unten auf Abbildung 34a, dem ersten Fährtenlinienblatt der Serie, beginnt die Fährte von Benoît (in der Gemeinschaft »Binou« genannt) in einer feinen dunklen Linie (ligne d’erre) aus Tusche oder Bleistift. Ihr Ursprung liegt außerhalb des Blattes. Binous Fährtenlinie führt zu einem Konzentrations-

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Abb. 34b: FlB 135

punkt, an dem sich mehrere Kreise und Zickzacklinien in orangem Pastell überlagern. Auf dem Weg nach oben sind auf der Linie zwei Schleifen erkennbar, die ebenfalls in pastellorange hervorgehoben werden. Die Schleifen zeigen zwei Umwege (détours) von Binou an, was laut des Begleittextes der Serie bedeutet, dass er Drehungen oder Bewegungen im Kreis vollführt. Sei-

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Abb. 34c: FlB 137

ne Fährtenlinie stoppt in der benannten Figur aus Pastellorange, die man als blumen- oder sternförmig bezeichnen könnte. Die Blumenfigur markiert laut Begleittext im Kartenband, dass sich die Umwege von Binou an einer Stelle konzentrieren und sich in (für ihn) cha-

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Abb. 34d: FlB 139

rakteristischen Bewegungen wiederholen. Dies kann beispielsweise ein Wiegen oder ein Schaukeln sein. Die kleinen grünen Krähenfüße in der Figur – und an zwei weiteren Stellen mittig auf dem Blatt – zeigen eine besondere Stellung der Hände an; das kann ein Anheben oder ein Über-dem-Kopfklatschen sein. Der Begleittext macht hierzu keine eindeutigen Angaben. Aus

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Abb. 34e: FlB 141

der Blumen- oder Sternfigur gehen mehrere kurze und eine längere Fährtenlinie nach links unten hervor. Die schwarzen Punkte in der Figur und auf der Fährtenlinie in den beiden Schleifen verweisen auf zwei Gegenstände, die Binou mit sich führt. Hier sind es zwei Steine, die er jeweils auf den beiden Umwegen aufhebt.

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Abb. 34f: FlB 143

Das große graue y-förmige Zeichen am rechten unteren Rand in Abbildung 34a befindet sich auch auf den anderen 27 Blättern an gleicher Stelle und kennzeichnet eine »Verflechtung« (chevêtre). Ein chevêtre ist – wie oben bereits erwähnt – ein Stichbalken aus dem Zimmermannshandwerk, d.i. ein verkürzter Balken, der in der Balkenlage auf einem Wechsel aufliegt und her-

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vorragt (vgl. dazu auch Zander 2014, 63). Der Stich zeigt den Wechsel in der »Verflechtung« an. Das Zeichen hat nur Ähnlichkeit mit einem Y, denn genau genommen besteht es aus einem geraden, beinahe senkrechten nach rechts oben weisenden Strich und einem kurzen daran ansetzenden Strich. Der beinahe senkrechte Strich zeigt die Präsenz eines Erwachsenen beziehungsweise sprachnahen Anomals an. Der kurze daran ansetzende schräge Strich beziehungsweise der Stichbalken markiert die Anwesenheit eines autistischen Kindes, das sich in seinem Agieren mit den Tätigkeiten einer Präsenz »verflochten« hat. Delignys Formulierung, dass das Kind an dem Erwachsenen gewachsen sei (»lui a poussé«, D 2013a, 92), muss ganz wörtlich und eben nicht im übertragenen Sinn verstanden werden: Das Kind ist mit dem Erwachsenen so »verflochten«, wie beispielsweise ein Ast mit einem Baum, d.h., ohne dass eine Verbindung sprachlich intentional provoziert oder gesteuert wird. Delignys Arbeit zeigt sich hier erneut von Leo Kanner beeinflusst, der diagnostiziert: »If dealing with another person becomes inevitable [for the child], then a temporary relationship is formed with the person’s hand or foot as a definitely detached object, but not with the person himself« (Kanner 1943, 249). Das »Verflechtungszeichen« (Y) markiert diesen Objekt-Bezug zwischen einem sprachnahen Erwachsenen und einem sprachfernen Kind. Das Zeichen wird nur für kurze Zeit (im Sommer 1973) über drei Monate hinweg in den Karten verwendet und ist ein Vorläufer für das Floß. Anfang September 1973 ergänzt Durand das Zeichen um die gemeinsame Tätigkeit (Tun-Agieren) von zwei Präsenzen. Das sind die zwei horizontalen Balken, die sich mit den zwei vertikalen zum Floßzeichen (#) zusammenfügen (vgl. Abb. 34e). Da sich das »Verflechtungszeichen« (Y) auch auf allen folgenden Blättern (vgl. Abb. 34a-f) im rechten unteren Rand wiederfindet, schließe ich, dass Durand über den Inhalt der jeweiligen Blätter hinaus, die Wichtigkeit der »Verflechtungen« in der Serie hervorhebt. Ich schließe weiter, dass das »Verflechtungszeichen« (Y) vor der Transformation in das Floßzeichen (#) für das Markieren der Orte verwendet worden ist, an denen »Interferenzen« stattgefunden haben. Die »Verflechtung« (Y) kennzeichnet demnach, dass sich das Sprachferne und das Sprachnahe in einem Zwischenraum begegnen, in dem Seins- und Wahrnehmungsweisen »interferieren«. Das »Interferieren« verstehe ich als ein »sich verwandt machen« (Haraway 2018a, 9). Es ist ein Zusammentreffen, das zugleich aus Trennungslinien (bzw. unüberwindbare Grenze) und Verbindungen (»Interferenzen«, »Interaktion«) besteht. Dadurch, dass die »Interferenzen« und »Interaktionen« auf den Karten sichtbar werden, ist es der Gemeinschaft auch möglich, neue Zwischenräu-

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men zu eröffnen, um Netze zu konstituieren, wie sie auf der Übersichtskarte und den Auszügen in Ce gamin, là zu sehen sind (vgl. Abb. 24-29). Dies ist dann hilfreich, wenn die Fährtenlinien der Sprachfernen Regelmäßigkeiten aufweisen, die für die Sprachnahen ohne Karten kaum sichtbar wären, wie beispielsweise eine bereits vor Jahren erloschene Feuerstelle. Die Wege der Sprachfernen ähneln sich oft, so dass bestimmte Orte auf unterschiedlichen Karten immer wieder von unterschiedlichen Sprachfernen aufgesucht werden, ohne dass ein Zusammenhang oder eine Bedeutung erkennbar wären (vgl. D 2016, 133ff.). In Ce gamin, là zeigt sich dies vor allem durch die »Interferenzen«, die durch Leergesten initiiert werden (vgl. Abb. 5-9). Durch die Kartografie können solche Orte über den Vergleich von mehreren Karten aus unterschiedlichen Kartierungszeiten sichtbar werden. Die Gesten und die Blätter dienen als Eröffnung eines Zugangs zu einem Gemeinsamen aus Sprachnähe und Sprachferne. Die Eröffnung ist zugleich ein Bruch (Dissens) mit den gewohnten Ordnungen der Sprachnähe. Das autistische Mädchen A., die genannte Feuerpriesterin, die auch Jahre später noch mit einer Feuerstelle »interagiert«, aktualisiert einen Ort weit abseits sprachnaher Zeitvorstellungen, der kaum noch in der Lebensfläche erkennbar ist. ›Ihr‹ Bezug zu der Feuerstelle bleibt unklar (vgl. D 2015, 60). Kausalität und Chronologie scheinen suspendiert zu werden. Die Bewegungen des Mädchens folgen einer anderen Logik. Diese andere Logik wird durch die Karten topografisch erschlossen und dadurch zugleich mit-konstituiert, das heißt genauer: Die Karten zielen auf eine »Ko-Konstitution« des Gemeinsamen (vgl. Manning 2011, 93) ab, die sich relationalen Raumverhältnissen widmet. Die »Ko-Konstitution« ist das Ziehen der Spuren, das immer zugleich auch einen neuen kartografischen Zwischenraum eröffnet: »Tracing is acting« (D 2015, 93). Daraus folgt: »the network consists in acting« (ebd.). Die Karten »ko-konstituieren« das Netzwerk aus den Spuren der Kinder mittels der gezogenen Spuren auf den Karten. Durch die Verdopplung wird den »Interferenzen« und den »Interaktionen« zwischen der sprachfernen und der sprachnahen Seins- und Wahrnehmungsweise Ausdruck verliehen. Die Wiederholung der Spuren auf den Karten erzeugt keine Kopie, sondern verschiebt die Spuren in einen relationalen (nicht-repräsentativen) Zusammenhang. »Die Wegstrecke verschmilzt nicht nur mit der Subjektivität derjenigen, die eine Umgebung durchlaufen, sondern mit der Subjektivität der Umgebung selbst, sofern sie sich in denen reflektiert, die sie durchlaufen. Die

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Karte drückt die Identität des Verlaufs und des Durchlaufenen aus. Sie verschmilzt mit ihrem Objekt, wenn das Objekt selbst Bewegung ist. Nichts ist lehrreicher als die Wege autistischer Kinder, deren Karten Deligny freilegt und übereinanderblendet mit ihren gewohnheitsmäßigen Linien, ihren Irrlinien, ihren Verschlingungen, ihren Abweichungen und Kehrtwendungen, mit all ihren Singularitäten.« (Deleuze 2000, 85) Die Hände der Kartograf:innen und die Spuren, die von diesen Händen gezogen werden, »verschmelzen« für Deleuze mit den Spuren der Kinder. Aus diesem Grund betont Deligny die gezogenen Spuren auf den Karten in Ce gamin, là, wenn er ihnen – wie beispielsweise in Abbildung 4 zu sehen ist – mit dem Finger nachfährt. Das ›Nachfahren‹ und ›Aufzeigen‹ des Spurenverlaufs auf den Karten wird von Deligny mehrfach wiederholt (vgl. D 2007d, 0:16:41, 0:21:23, 0:34:39, 0:36:05, 0:38:50, 0:42:03, 0:48:37), sodass das filmische ›Nachzeichnen‹ auf den Karten durch die Wiederholungen und die begleitende Sprachrhythmik Delignys ebenfalls als ein ›Spurenziehen‹ verstanden werden kann. Es ist in gewisser Weise ein filmisches Spurenziehen einer »Spur von Spur, ›die im Hinterhalt abwartet‹« (Zander 2016, 27). »Weder Dokumentarfilm noch Fiktion, es handelt sich um ›coutumier‹, etwas, das für uns [im Netzwerk] gewohnheitlich ist, dieser ›coutumier‹, dieses Gewohnheitliche, ist wirklich genug, um zu überraschen … ›l’ultra-coutumier‹ überrascht: m.a.W., die Überraschung geht von etwas aus, das nicht gesehen wird. Gelingt es, in einer Geste das zu filmen, was man [›se‹] nicht sieht, und ist die Kamera so eingestellt, dass man [›se‹] bemerkt, was man nicht hat sehen können, so kann schon die Geste, ein Stück Brot zu nehmen, überraschen.« (D 2011, 20; Ergänzung von mir) Das »Lehrreiche«, wie Deleuze oben bemerkt, ist das »Sehen« der Zwischenräume, die nur dann sichtbar werden, wenn man sich von den sprachnahen Wahrnehmungsräumen distanziert. Die Zwischenräume sind erfahrbar, wenn der Blick sich auf die Gesten jenseits des Sprachausdrucks und der Logik der Repräsentation einlässt. Das Blatt 133 (Abb. 34a) zeigt die Nähe von Binous Fährtenlinie zu den Wegen des Gewohnheitsmäßigen der Lebensfläche. Binou bewegt sich in Nachbarschaft zu diesen Wegen. Jede seiner Linien überschneidet sich mit denen des Gewohnheitsmäßigen oder grenzt an sie an. Auf dem zweiten Fährtenlinienblatt (FLB 135; Abb. 34b) sind keine größeren Abweichungen von den Wegen des Gewohnheitsmäßigen erkennbar. Hinzugekommen sind weite-

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re, sich wiederholende Bewegungen des Im-Kreis-Drehens. Im Begleittext zu dem Blatt wird vermutet, dass Binou Objekte (kleine Steine) gesammelt hat. Binou bringt die Steine in die Nähe der Wege des Gewohnheitsmäßigen. Auf dem dritten Fährtenlinienblatt (FLB 137; Abb. 34c) weisen die kleinen Strichmännchen in schwarz, die auf seinen Fährtenlinien zu sehen sind, darauf hin, dass er sich allein bewegt und einen Stein – der schwarze Punkt am Strichmännchen – bei sich hat. Seine Fährtenlinien führen nach links oben auf dem Fährtenlinienblatt. Auch hier ist erkennbar, dass er sich scheinbar an den Wegen des Gewohnheitsmäßigen orientiert. Auf dem dritten Blatt sind fünf »Verflechtungszeichen« (Y) erkennbar, die markieren, dass Binou für einen unbestimmten Zeitraum, an mehreren geografisch nicht mehr genau lokalisierbaren Orten in der Lebensfläche, an einem Geschehen beteiligt ist. Die Zeichen befinden sich an Orten in der Lebensfläche, an denen bestimmte Tätigkeiten ausgeübt werden: beispielsweise am Backsteinofen, im Unterstand oder am Waschkübel. Der orange Punkt auf dem linken Arm des Y markiert, dass Binous ›seine‹ charakteristischen Bewegungen ausführt. Die drei kleinen Streifen auf dem Y unten kennzeichnen, dass bei diesem Zusammentreffen drei Gegenstände präsent sind. Die Gegenstände müssen dauerhaft an derselben Stelle auffindbar sein. Sie sind mit der »Verflechtung« verbunden. Sollten die Gegenstände nicht an genau derselben Stelle liegen, sondern für andere Tätigkeiten verwendet werden oder gar zweckentfremdet in einen anderen Gebrauch übergehen, dann können diese Veränderungen unter Umständen Konsequenzen haben, wie beispielsweise die von Lin erwähnten »ungestümen Schreie« oder auch Selbstverletzungen. Es geht bei den Markierungen von Gegenstand und Platz aber nicht nur darum, Naheliegendes zu vermeiden und ein Sich-selbstSchlagen zu verhindern, sondern auch darum, eine gewisse Achtsamkeit zu erzeugen, wie und welche Objekte wo genau für welche Tätigkeiten verwendet werden. Die drei Striche markieren, unter welchen Umständen mit welchen Gegenständen die Räume der Lebensfläche beschaffen sein müssen, damit Binou »interagieren« kann. Sie sind ein Teil der Suche nach Formen der »Interaktion«. Die kaum erkennbaren Wellenlinien auf den beiden oberen Y beziehen sich laut Begleittext auf unterschiedliche Ausformungen des Gewohnheitlichen. Das Zeichen ist klein und unscheinbar aber es markiert wichtige Verbindungspunkte der beiden Seinsweisen. Auf dem Y werden die ersten Überlagerungen von Agieren und Tun mit dieser Wellenlinie gekennzeichnet. An vier dieser Y-Zeichen sind kleine grüne Streifen erkennbar und über dem Y

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oben auf dem Fährtenlinienblatt sind neben dem sehr kleinen Zeichen für die Hände auch zwei weitere grüne Punkte zu sehen, die auf und neben einem schwarzen Kringel mit drei Punkten stehen. Sowohl die grünen Streifen als auch die Punkte deuten laut Begleittext darauf hin, dass etwas Ungewöhnliches vorgefallen ist. Was genau vorgefallen ist, bleibt offen. In der letzten Zeile im Begleittext zu dem Blatt findet sich der in Klammern gesetzte Einschub: »(something unusual must have occured in the customary…)« (D 2013a, 136). Die Interpunktion »…« wird in dem Kartenband selten verwendet. Ich konnte sie lediglich in der Einleitung von Alvarez de Toledo (S. 8) und im Nachwort von Betrand Ogilvie finden (S. 412f.). In der 66-seitigen Serie, zu der diese Fährtenlinienblätter gehören, wird sie kein zweites Mal verwendet. Ich schließe, dass die Auslassungspunkte auf ein Ereignis verweisen, das auf den folgenden Blättern sichtbar werden wird. Die Punkte erzeugen ein Spannungsmoment, der durch Leere oder Unbestimmtheit gekennzeichnet ist. Auslassungspunkte dienen – neben anderen Funktionen – auch dazu, »alle syntaktischen Verbindungen aufzuheben« (Agamben 1998, 87). Agamben argumentiert, dass Deleuze in seiner letzten Schrift »Die Immanenz: ein Leben…« (Deleuze 1996, 30) die Auslassungspunkte aus bestimmten Gründen verwendet. Die drei Punkte am Ende des Titels bestimmt Agamben als »völlig unsyntaktische (weder hypotaktische noch parataktische sondern sozusagen asyntaktische) Anordnungen« (Agamben 1998, 82). Die Anordnungen dienen dazu, die Stellung der Worte »ein« und »Leben« zu verändern und zwar so, dass sie auf eine Unbestimmtheit der besonderen Art verweisen. Die Auslassungspunkte verhindern, dass der Titel »ein Leben« auf einen vollständigeren Sinn verweist, der vom Philosophen in diesem Text erörtert werden soll, um dem ›einen Leben‹ neuen Sinn zu verleihen. Die drei Punkte verhindern demnach, dass nach dem Doppelpunkt eine Bestimmung des ›einen Lebens‹ erfolgt. Es geht in Deleuzes Text nicht um den philosophischen Begriff des Lebens, der anders systematisiert werden müsste und auch nicht um das Syntagma ›ein Leben‹, das auf eine empirische Unbestimmtheit deutet, sondern um ein »Nicht-Syntagma« (ebd., 88). Die Auslassungspunkte binden ›ein Leben‹ an den Zwischenraum der Virtualität und blockieren die Transzendenz eines (neoplatonischen) Seins ebenso wie die singuläre Bestimmbarkeit. Die Eröffnung der Unbestimmtheiten im Titel durch die Interpunktion ist poetisch. Die oben zitierte Zeile aus dem Begleittext zu Fährtenlinienblatt 137 (Abb. 34c) ist mit dieser Eröffnung vergleichbar, weil der Begleittext offenlässt, was »something unusual« sein soll. Auch in den folgenden Begleittexten zu den

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Blättern 139 und 141 wird lediglich benannt, was ohnehin auf den Karten sichtbar ist. Die Benennung der Kartenzeichen führt nicht zu einer Hierarchisierung zwischen Sinn und Sinnlichem. Die Sinnzusammenhänge werden in der Schwebe belassen beziehungsweise verbleiben im Haus der Bilder. Die grünen Streifen auf dem Blatt 137 (Abb. 34c) deuten auf mehrere Ereignisse in der Nähe der »Verflechtungszeichen«. Die topografisch lokalisierten Ereignisse machen auf Verbindungen zwischen Binous Bewegungen und dem Gewohnheitlichen aufmerksam. Das nächste Fährtenlinienblatt 139 (Abb. 34d) bleibt im Vergleich zu den vorhergehenden jedoch beinahe leer, wodurch weitgehend unklar bleibt, wie es zu dem angekündigten Ereignis (»something unusual«) kommt. Es bleibt auch unklar, ob Durand hier nicht genügend Zeit hatte, ausführlicher zu kartieren, oder ob nichts weiter vorgefallen ist und die Ereignisse des Vortags hier noch keine Auswirkungen gehabt haben. Erst auf dem nächsten Fährtenlinienblatt 141 (Abb. 34e) ist erstmals ein Floßzeichen sichtbar. Das rautenförmige Zeichen besteht aus drei braunen und einem grünen Balken und hat jeweils an drei Ecken drei kleine schwarze Punkte, die für Objekte stehen, die für Binou an diesem Tag von Bedeutung sind. Das Zeichen markiert, dass Binou und ein sprachnaher Erwachsener gemeinsam mit etwas befasst sind (Tun-Agieren) und in irgendeiner Weise »interagieren«. Aus dem »Verflechtungszeichen« (Y) wird das Floßzeichen (#) generiert. Mit den drei braunen Balken des Floßes wird laut Begleittext ein intentionales Tun (faire) kartiert. Der vertikale grüne Balken markiert die Präsenz eines (sprachbewussten) Erwachsenen. Eine Präsenz oder eine Tätigkeit sind jedoch nicht zwangsläufig an Sprachnahe gebunden. Die Balken kennzeichnen lediglich, dass jemand in dieser Gemeinschaft anwesend und mit einer Tätigkeit beschäftigt ist und das heißt in erster Linie, dass etwas für jeden Beliebigen in der Lebensfläche wahrnehmbar ist. Abbildung 23b zeigt beispielsweise die Präsenz eines sprachnahen Erwachsenen, der durch sein Tun für ein sprachfernes Mädchen erfahrbar wird. Die Hände und die Bewegungen des Hammers werden genau beobachtet und durch rhythmische Lautfolgen begleitet. Es spielt hierbei keine Rolle, ob das Anomal, das die Präsenz des Erwachsenen wahrnimmt, selbstreflexiv und sprachbewusst ist oder sich außerhalb der Sprache bewegt. Präsenzen markieren keine bestimmten Personen oder bestimmten Anwesenheiten, sondern sind vielmehr Hüllen oder Leerstellen, die jeder Beliebige zu jeder Zeit einnehmen kann, um für die gesamte Lebensgemeinschaft wahrnehmbar zu werden. Das Floßzeichen umfasst dadurch auch Seins- und Wahrnehmungsweisen, die nicht individuiert sind. Daraus ergibt sich auch, dass es in

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diesem Zusammenhang mehr Sinn macht, von Anomalen statt von Individuen zu sprechen. Ein horizontaler Balken markiert ein Tun (faire), das von einem Anomal ausgeübt wird und einen (der Tätigkeit entsprechenden) Rhythmus hat. Der Balken umfasst sowohl ein intentionales Tun (faire) als auch ein unbestimmtes Agieren (agir). Abbildung 19 zeigt beispielsweise ein sprachfernes Mädchen, wie es einen Spüleimer leert. Das Mädchen ›agiert‹ mit dem Wasser und dem Eimer, indem es den Eimer nach dem Leeren umdreht, auf ihm klopft und dabei kurze Laute intoniert, die das Klopfen begleiten. Das ›Tun‹ wird – wie auch auf den Karten 233.1 und 233.2 gezeigt – von einem Agieren unterbrochen und danach wieder aufgenommen. Tun und Agieren fließen ineinander über. Das heißt, dass in einer Präsenz (ein vertikaler Balken) sprachnahe und sprachferne Anwesenheit »verflochten« sind. In einer Tätigkeit (ein horizontaler Balken) sind Tun und Agieren miteinander »verflochten«. Eine »Verflechtung« (Y) kennzeichnet die Ununterscheidbarkeit von Nutzgesten und Leergesten. Wenn Janmari den Brotteig knetet (Abb. 18), dann ist für eine sprachnahe Beobachterin schwer zu sagen, ob das eine Tätigkeit ist, die auf das Endprodukt Brot abzielt oder ob ›sein‹ Agieren gewissermaßen zufällig zu diesem Produkt führt. Die horizontalen und die vertikalen Balken im Floßzeichen verweisen implizit auf Übergänge, die von der »Verflechtung« (chevêtre) zu den »Verknotungen« führen. Aus der »Verflechtung« (Y) von sprachnaher Präsenz und sprachfernem Agieren wächst eine »Verknotung« (#), die gewohnheitliches Tun-Agieren kennzeichnet. Das bedeutet, dass durch eine »Verflechtung« die »Interferenzen« unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen sichtbar werden und durch eine »Verknotung« deren »Interaktionen«. Aus den ersten Annährungen (»Interferenzen«) bildet sich ein gemeinsames Tun-Agieren (»Interaktion«) heraus (vgl. bspw. Abb. 18, 19, 22) und die kartierten Verbindungen ermöglichen es, die Wege des Gewohnheitlichen zu »konstituieren« und weiter auszubauen (vgl. bspw. Abb. 23a). Flöße markieren die Ereignisse, die kenntlich machen, dass sich sprachnahe und sprachferne Anomale begegnen und die in der Folge der kartografischen Praxis (neue) Wege des Gewohnheitlichen konstituieren. Das Gemeinsame, das mit dem Floßzeichen kartiert und damit auch (»ko-konstitutiv«) manifestiert wird, zeigt sich in den »Verflechtungen« von Sprachbewusstem und Außersprachlichem. Natürlich muss ein:e Kartograf:in den Zwischenraum der »Verflechtungen« zuvor gesehen haben, bevor er topografisch erfasst werden kann. Die kartografische Praxis und die sinnlichen Zwischen-

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räume sind untrennbar miteinander verbunden und bedingen einander, weil die Ausübung der Praxis den Blick der Kartograf:innen für diese Zwischenräume öffnet und schult und weil der geschulte Blick wiederum die Ausübung der Praxis ermöglicht. Im Floßzeichen manifestieren sich die Seins- und Wahrnehmungsweisen der Anomale auf den Wegen des Gewohnheitlichen. Mit dem Zeichen werden lokale Mannigfaltigkeiten manifestiert, die aus relationalen Verbindungen bestehen. Das lässt sich mit Manning, die sich auf Daniel N. Sterns Arbeit Forms of Vitality (2010) und zugleich auf Deleuze und Guattari bezieht, weiter konkretisieren: »The speciations create drifts, and these drifts create run-offs. This is not a metaphor. When autistic perception meets the world, something is doing that fundamentally changes the field of relation. This field of relation ›includes‹ the ›we‹ that is not ›I‹. And what it does is create a tending-toward, a procedure-for-life that is a shaping of the relational milieu of experience. ›Practice does not come after the emplacement of the terms and their relations, but actively participates in the drawing of the lines; it confronts the same dangers and the same variations as the emplacement does‹ [in der dt. Übersetzung Deleuze, Guattari 1992, 278, in der englischen Übersetzung, 202]. Lines of drift [lignes d’erre] are lines of life-living. They are emphatically real, if abstract.« (Manning 2011, 95; Ergänzungen von mir) Manning kehrt – ebenso wie Zander und Miguel (2014) – die Perspektive um und beschreibt die Fährtenlinien nicht als eine Essentialisierung eines Identität|Differenz-Verhältnisses, sondern als eine Praxis, die mit der Lebensgemeinschaft verbunden ist (life-living). Durch die Praxis wird ein relational verfasster Wahrnehmungsraum (relational milieu of experience) »ko-konstitutiert«. Das Entweder-Oder der Differenz (sprachfern/sprachnah) wird in ein Weder-Noch aus »Interferenzen« überführt. Weder die Sprachnahen noch der Autismus dieser Sprachfernen stehen im Mittelpunkt der Praxis. Aus diesem Grund wird auch nicht der Zwischenraum – als abgrenzbare Einheit – identifiziert, sondern nur die Materialisierungen der »Verflechtungen« des sinnlichen Dazwischen (emergent attuning to forces of moving). Binous kartierte Bewegungen auf Fährtenlinienblatt 141 (Abb. 34e) sind demnach kein (identifizierbarer) Indikator für die Konstitution eines solchen Zwischenraums, sondern nur ein weiterer Bestandteil der »Verflechtungen«. Die farbige Markierung der Balken verweist auf eine Seins- und Wahrnehmungsweise, die mit einer anderen »verflochten« ist. Laut Begleittext sind

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Tätigkeiten mit der Farbe Braun markiert worden und Präsenzen mit der Farbe Grün. Das bedeutet aber, dass mit dem Floßzeichen eine Präsenz – in diesem Fall einen präsenten Erwachsenen – und drei Formen des Tun-Agierens markiert wurden. Da Binou beteiligt ist, stellt sich die Frage, warum Binous Präsenz nicht ebenfalls in der Farbe Grün kartiert wurde. Im Begleittext finden sich keine Hinweise hierzu. Ich werde argumentieren, dass es sich nicht um einen Fehler in der kartografischen Praxis handelt, sondern um eine Komplexitätssteigerung des bisher Ausgearbeiteten. Zu den beiden bereits genannten »Verflechtungen« von Tun/Agieren und sprachferner/sprachnaher Präsenz, kommt eine weitere hinzu. Präsenzen und Tätigkeiten sind im Floßzeichen ebenfalls miteinander »verflochten«. Die Balken in einem Floß sind nicht nur auf vertikaler und horizontaler Ebene »verflochten«, sondern auch in den farblichen Zuweisungen der Funktionen. Floßbalken operieren dadurch als Hüllen, mit denen kartiert werden kann, dass für eine der beiden Seins- und Wahrnehmungsweisen (Binou) nicht zwischen Präsenz (sprachnah-sprachfern) und Tätigkeit (tun-agieren) unterschieden werden muss. Mit dem linken, braunen Balken wird die Präsenz einer Tätigkeit kartiert. Das Floßzeichen enthält dadurch nicht nur vier Balken, die jeweils vier »Verflechtungen« von zwei Anomalen (sprachnah-sprachfern, tun-agieren) anzeigen, sondern vier Balken, die auch mit- und untereinander »verknotet« (Präsenz/Tätigkeit) sind. Die Bedeutung der beiden Termini »Verknotung« und »Verflechtung« kann nun ausgehend vom Floßzeichen konkretisiert werden. Die Verflechtung der Balken (Y) macht ein sinnliches Verhältnis durch eine topografische Struktur auf den Karten sichtbar. Durch Verflechtungen und Verknotungen wird eine Topografie des Sinnlichen »konstituiert«. Die topografische Struktur des Blattes 141 (Abb. 34e) zeigt, dass unterschiedliche Seins- und Wahrnehmungsweisen »interferieren«. Die Verflechtungen manifestieren sich in der sinnlichen Topografie der Lebensfläche und das heißt, nicht durch ein einzelnes Anomal (Y), sondern durch das Tun-Agieren von mindestens zwei Anomalen (YY). Die Verknotung kennzeichnet die Art und Weise, wie die Verbindungen erscheinen (#). Delignys Metapher des (Baum-)Stamms und der Zweigliedrigkeit werden durch die Verknotungen (#) in eine Mehrgliedrigkeit überführt. Die zweigliedrigen Y-Verzweigungen, die immer auf einen Stamm oder eine tragende Verbindung zurückführen, werden Bestandteile einer mannigfaltigen Struktur, einem Rhizom, in dem sie sich ›auflösen‹. Die Stichbalken fügen sich zusammen und bilden eine Balkenlage aus, die einen weiteren Balken erhält,

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der beide Y (oben) miteinander verbindet. Die Verflechtungen manifestieren sich nicht nur durch die wechselseitig wahrgenommene Präsenz der Anomale (YY), sondern auch durch das gemeinsame Tun-Agieren. Das bedeutet, dass die Balkenlage einen zweiten Balken erhält, der die beiden Y (unten) verbindet. Die Balkenlage der Verflechtungen bildet einen Knoten, das Floß (#), und mehrere Flöße bilden ein »Netz« (réseau) (vgl. Abb. 24). Das Zeichen repräsentiert kein bestimmtes »Netz« und keine bestimmte »Gemeinschaft«, die methodisch reproduziert werden könnten. Es liefert keine Wesensbestimmungen des Zusammenlebens von Sprachnahen und Sprachfernen und es verleiht den Verflechtungen auch keinen übergeordneten Sinn, der Aufschluss über eine bessere Weise des Zusammenlebens geben könnte. Die Verknotung im Floßzeichen ist vergleichbar mit dem Borromäischen Knoten, auf den weiter oben bereits Bezug genommen wurde. Der Borromäischen Knoten bringt für Lacan zum Ausdruck, dass das Reale, Symbolische und Imaginäre sich nicht repräsentieren lassen. Das Floßzeichen bringt die Unmöglichkeit zum Ausdruck, die Seins- und Wahrnehmungsweisen von Sprachnahen und Sprachfernen adäquat abbilden zu können. Auf den Karten wird eine »Interaktion« als Verknotung sichtbar, die keine Identifikation ermöglicht und nicht auf Identitäten rückführbar ist. Das Zeichen verkörpert die topografische Paradoxie der genannten »Nutzlosigkeit« der Karten, denn es handelt sich um eine Nutzlosigkeit, die sich für die Lebensgemeinschaft als ›nützlich‹ erweist. Die topografische Paradoxie verweist – gleich dem Borromäischen Knoten, der nicht existiert, sondern ek-sisitiert – auf eine endlose Bewegung. Der endlosen Bewegung wird durch den Begriff der »Ko-Konstitution« Rechnung getragen. Die »Ko-Konstitution« ist für Manning eine Relation ohne Relationalität (a relation of nonrelation; Manning 2011, 91), die die Aktivität (Ko-)in der Immanenz einer endlosen Bewegung der Materialisierung (Konstitution) zum Ausdruck bringt. Es ist eine »relation active in the immanence of its taking-form« (ebd.). Der Bindestrich hat die Funktion, auf einen Zwischenraum des ›Weder-Noch‹ zu verweisen, der durch seine Relationslosigkeit eine Bewegung in Gang setzt. Die Bewegung kann auf Heideggers »Brief über den ›Humanismus‹« aus dem Jahr 1949 zurückgeführt werden. Dort argumentiert Heidegger im Rückgriff auf den (sprachnahen) Menschen: »Der Mensch ist nie zunächst diesseits der Welt Mensch als ein ›Subjekt‹, sei dies als ›Ich‹ oder als ›Wir‹ gemeint. Er ist auch nie erst nur Subjekt, das sich zwar immer zugleich auch auf Objekte bezieht, so daß sein Wesen

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in der Subjekt-Objekt-Beziehung läge. Vielmehr ist der Mensch zuvor in seinem Wesen ek-sistent in die Offenheit des Seins, welches Offene erst das ›Zwischen‹ lichtet, innerhalb dessen eine ›Beziehung‹ vom Subjekt zum Objekt ›sein‹ kann.« (Heidegger 2004, 350) Die ersten Bindestriche (»Subjekt-Objekt-Beziehung«) dienen zur Gliederung einer Relationsbeziehung, die zurückgewiesen wird. Der zweite Bindestrich (»ek-sistent«) macht die Relationslosigkeit im »Zwischen« geltend, die als eine (endlose) Bewegung zwischen Subjekt und Objekt verstanden werden kann. Neben dem bereits angesprochenen Problem, dass Heidegger sich einseitig auf das Haus der Sprache beschränkt und dem Problem, dass er einem absurden Menschenbild verhaftet bleibt, das vor allem das deutsche Volk in einer besonderen Rolle sieht, kommt das Problem hinzu, dass der Bindestrich beziehungsweise der Viertelgeviertstrich im Zusammenhang von Verflechtung und Verknotung kein passendes Interpunktionszeichen ist. »Ko« und »Konstitution« werden durch einen Schnitt getrennt und gegenübergestellt. Der Strich hält eine Distanz und eine Differenz aufrecht, die zwar den »Zwischenraum« geltend machen kann, die jedoch zugleich auch eine Dialektik von Einheit und Trennung nahelegt. Das Floßzeichen operiert jedoch nicht im Modus von Einheit und Trennung, sondern im Modus der aktiven »Interaktionen«. Die »Interaktionen« können weder auf eine Einheit zurückgeführt werden (Identität) noch verweisen sie auf getrennte Bestandteile. Der Bindestrich wird aus diesem Grund im nächsten Unterkapitel durch den Doppelpunkt ersetzt. Zuvor muss jedoch noch geklärt werden, was ein »Netz« (réseau) ausmacht (vgl. Abb. 24). Zander bemerkt im Glossar von Seinsspuren und Schattengemäuer (D 2014, 60), dass die Übersetzung »Netz«, die er in »Annäherungen an das Bild« (D 2011, 39) verwendet, nicht sehr glücklich gewählt sei. Ein Netz lege nahe, dass es um einen geografisch bestimmbaren Raum gehe, in dem sich ein Netz ausdehnt, um Raum einzunehmen. Zander schlägt deshalb vor, dass es passender sei, réseau mit »Geflecht« zu übersetzen (D 2014, 60). Weil hier jedoch die Begriffe Verflechtung und Verknotung abweichend von Zanders Glossar ausgearbeitet werden, soll ein anderer Begriff verwendet werden. Statt auf das gewebte Geflecht oder den geknüpften Knoten, werde ich auf den gewalkten Filz zurückgreifen. Ich arbeite mit Deleuze und Guattari weiter aus, warum der Filz in diesem Zusammenhang passender ist. Der Filz wird im 14. Plateau als ein Antonym, das heißt als »Anti-Gewebe« (Deleuze, Guattari 1992, 659), ausgearbeitet. Das

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Gewebe hat eine bestimmte Anzahl von Eigenschaften und erzeugt einen »gekerbten Raum«: »Zunächst wird es durch zwei parallele Elemente gebildet: im einfachsten Fall sind die einen vertikal und die anderen horizontal, und beide sind miteinander verflochten, sie überschneiden und überkreuzen sich rechtwinklig. Zum zweiten haben die beiden Elemente nicht dieselbe Funktion; die einen sind starr und die anderen sind beweglich, sie durchziehen die starren von oben und unten. Leroi-Gourhan hat diese Figur von ›geschmeidigen Festkörpern‹ sowohl bei der Korbmacherei als auch beim Weben untersucht: die Stege und die Reiser, die Kette und der Schuss. Zum dritten ist ein solcher gekerbter Raum zwangsläufig begrenzt, er ist zumindest an einer Seite geschlossen: in der Länge kann das Gewebe unendlich sein, aber nicht in der Breite, die durch den Rahmen für die Kette festgelegt wird; die Notwendigkeit einer Hin- und Herbewegung setzt einen begrenzten Raum voraus (und kreisförmige oder zylindrische Figuren sind selber abgeschlossen). Schließlich scheint ein solcher Raum zwangsläufig eine Vorder- und eine Rückseite zu haben; selbst wenn die Fäden der Kette und des Durchschusses genau gleich sind, die gleiche Zahl und die gleiche Stärke haben, hat das Gewebe eine Unterseite, auf der die Fäden verknotet werden.« (Ebd., 658f.) Diese Eigenschaften sind für Deleuze und Guattari mit dem platonischen Modell der Weberei verbunden, das sie als paradigmatisch für die »Königswissenschaft« (ebd., 659) anführen. Die königliche Wissenschaft, führt Platon im Politikos (279b-287b, 2007, 368ff.) aus, beruht auf der Messkunst. Die Messkunst teilt Platon in zwei Teile auf: »als den einen Teil derselben alle Künste setzend, welche Zahlen, Längen, Breiten, Tiefen und Geschwindigkeiten gegen ihr Gegenteil abmessen; als den anderen aber alle, die es tun gegen das Angemessene und Schickliche und Gelegene und Gebührliche und alles, was in der Mitte zwischen zwei äußersten Enden seinen Sitz hat« (ebd., 284e, 380). Die Webkunst erzeugt ein Gewebe, das zu einer Rasterung führt, die beispielweise beim Weben durch Kette und Schuss entsteht. Der Schussfaden ›schießt‹ in parallelen Bahnen durch den querliegenden Kettenfaden und erzeugt dadurch das Gewebe. Der Schussfaden verläuft »in der Mitte zwischen zwei äußersten Enden«, den quer liegenden Kettenfäden. Durch die Kreuzungen von Schuss- und Kettenfaden entsteht ein Gewebe, mit dem sich »Längen, Breiten, Tiefen und Geschwindigkeiten gegen ihr Gegenteil abmessen« lassen. Das Gewebe ist geordnet nach dem Maß, das durch die paralle-

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len und zählbaren Fäden eine Ordnung entwirft: »die königliche Zusammenflechtung« (ebd., 306a, 410). Das Weben ist eine »Trennung des Zusammenhängenden und Zusammengefilzten« (ebd., 281a, 374), das auch den Wollkämmer vom Weber unterscheidet. Die Verflechtungen und Verknotungen im Floßzeichen legen durch die Rautenform nahe, dass auf und mit den Karten ein vergleichbares Gewebe erzeugt wird. Die Floßzeichen bilden jedoch, wie auch Abbildung 24 zeigt, keinen eingrenzbaren Raum aus. Sie können aus wenigen horizontalen und vertikalen Linien bestehen (vgl. Abb. 29) oder auch aus einem ganzen Netz solcher Linien, das keine geordnete Struktur oder Maßeinheit besitzt (vgl. Abb. 26, 27, 28). Die Floßstruktur entsteht eher durch die »Häufung von Nachbarschaften« (Deleuze, Guattari 1992, 676). Auch die Verbindungen in der Floßkonstruktion sind, wie die Abbildungen 33c und 33d zeigen, eher offen und kontingent. Sie können jederzeit neu und anders geknüpft oder auch vollständig aufgelöst werden, weil die Distanzen zwischen dem Sprachnahen und dem Sprachfernen kaum bestimmbar sind. Die Zeichen konstituieren auf den Karten vielmehr relationale Räume ohne feststehende Relata in der Lebensfläche. Hier lassen sich eben keine »Längen, Breiten, Tiefen und Geschwindigkeiten gegen ihr Gegenteil abmessen«. Es liegen keine »zwei parallelen Elemente« vor, die eine Maßeinheit bilden könnten. Die Verflechtung der einzelnen Balken, die zur Verknotung im Floßzeichen führen, welche sich wiederum zu »Netzen« (réseau) zusammenfügen, können kaum als eine Gewebestruktur bezeichnet werden. Die »Interaktionsnetze« zwischen dem Sprachnahen und Sprachfernen haben eine Filzstruktur. »Er [der Filz] braucht keine einzelnen Fäden, die miteinander verwoben werden, sondern nur eine Verschlingung von Fasern, die durch Pressen zustande kommt (zum Beispiel, indem der Faserblock abwechselnd vorwärts und rückwärts gerollt wird). Die Mikro-Fasern werden miteinander verschlungen. Das so verwickelte Material ist keineswegs homogen; und trotzdem ist es glatt und Punkt für Punkt dem Raum des Gewebes entgegengesetzt (es ist theoretisch unendlich, offen und in alle Richtungen unbegrenzt; es hat keine Vorder- oder Rückseite und auch keinen Mittelpunkt; es verbindet nichts Festes und Bewegliches, sondern breitet eher eine kontinuierliche Variation aus).« (Deleuze, Guattari 1992, 659; Ergänzung von mir) Der Filz formt einen »glatten Raum«, der im Unterschied zum »gekerbten Raum« durch das Amorphe gekennzeichnet ist. Darauf, dass das Netz (réseau) mit dem Amorphen zu kämpfen hat, verweist Deligny in The Arachnean: »The

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fact is that it [the network] struggles with the amorphous, the amorphous being, literally, something that does not have its own crystallized form« (vgl. D 2015, 52; Ergänzung von mir). Dieser Raum besitzt keinerlei Homogenität oder Metrik. »Der glatte Raum wird viel mehr von Ereignissen oder Haecceïtäten als von geformten oder wahrgenommenen Dingen besetzt. Er ist eher ein AffektRaum als ein Raum von Besitztümern. Er ist eher eine haptische als eine optische Wahrnehmung. Während im gekerbten Raum die Formen eine Materie organisieren, verweisen im glatten Raum die Materialien auf Kräfte oder dienen ihnen als Symptome. Es ist eher ein intensiver als ein extensiver Raum, ein Raum der Entfernung und nicht der Maßeinheiten.« (Deleuze, Guattari 1992, 663f.) Die Wahrnehmungsräume werden durch die Kartierung nicht organisiert und geordnet, sondern vielmehr intensiviert. Das geschieht vor allem dann, wenn die Praxis darauf abzielt, weitere »Nachbarschaften« zu erzeugen, um das Netz und die Lebensfläche auszuweiten. Im Filz wird auch die Linie »freigesetzt« oder »befreit« (ebd., 676), d.h., sie muss nicht mehr »zwischen zwei Punkten« (ebd.) verlaufen wie in einem Gewebe, wo der Schussfaden den Kettenfaden immer zwischen zwei Punkten passieren muss, um die spezifische Gewebestruktur zu erzeugen. Das Spurenziehen von abstrakten Linien auf Karten entspricht nach Deleuze und Guattari dem Ziehen von »nomadischen Linien« (ebd., 691), die »mechanisch« sind und dennoch »durch eine freie und wirbelnde Handlung« zustande kommen (ebd.). Sie sind »anorganisch« und dennoch »lebendig und umso lebendiger als sie anorganisch« sind (ebd.). Der Raum, der im Filzen erzeugt wird, verstehen sie auch als einen »riemannschen Raum« und halten dazu fest: »Es war ein entscheidendes Ereignis, als der Mathematiker Riemann das Multiple aus seinem Zustand eines Prädikats riss, um aus ihm ein Substantiv zu machen, ›Mannigfaltigkeit [multiplicité]‹. Das war das Ende der Dialektik zugunsten einer Typologie und einer Topologie von Mannigfaltigkeiten.« (Ebd., 669; Übersetzung nach Sanders 2020, 221) Sanders verweist auf die weitreichenden Folgen dieses Einsatzes, auf die hier nicht umfänglich eingegangen werden kann, die jedoch zu neuen Denkweisen führen und Anschlüsse eröffnen, die eine Komplexitätssteigerung des Den-

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kens bewirken können, das allzu oft der (repräsentativen) Sprache verhaftet bleibt. »Die These vom Ende der Dialektik, noch der negativen, reicht weit. Deleuze und Guattari ersetzen die doppelte Negation durch doppelte Artikulation und erklären das Nichtidentische durch Fluchtlinien. Höhere Komplexität erreichen sie durch Koexistenz, Gleichzeitigkeit und Nichtlinearität. Jede Mannigfaltigkeit definiert sich durch n Determinationen, die ihre Dimensionen bilden.« (Sanders 2020, 221) Binous Spuren auf den Karten sind Teil eines Rhizoms. Sie werden in den Zwischenräumen aus den »Interferenzen« von Sprachnahem und Sprachfernem »ko-konstituiert« und führen zu »Interaktionen«, die eine Filzstruktur bilden, welche wiederum als eine Topografie des Sinnlichen kartiert werden kann.

Exkurs IV: Reinhard Hörsters Auseinandersetzung mit der kartografischen Praxis Der erste Teil des Floßkapitels zeigt, wie die kartografische Praxis Strukturen erzeugt, die sich von denen der repräsentativen Messkunst unterscheiden. Für den Erziehungswissenschaftler Reinhard Hörsters bilden die Strukturen der kartografischen Praxis jedoch lediglich aporetische Verhältnisse ab. Ich werde eine Distanzierung zu Hörsters Beitrag »Sensibilisierung durch Nichtintentionalität – Zum konstellativen Denken eines sozialpädagogischen Versuchs« (2017) vornehmen, um meine bisherige Argumentation in ein Verhältnis zu setzten. Hörster entfaltet seine Argumentation entlang der Arbeit Einführung in die Erziehungsphilosophie von Alfred Schäfer (2005) für die Adornos Negative Dialektik (1982) von zentraler Bedeutung ist. Ausgehend von Schäfers Arbeit ordnet Hörster die Einsätze der kartografischen Praxis einem »konstellativen Denken« (Hörster 2017, 267, 270) zu. Das konstellative Denken grenzt er »von gestuft klassifikatorischen und deduktiven Verfahren« (ebd., 267) ab. »Im konstellativen Denken versucht man demgegenüber, Objektivität zu garantieren, indem man Begriffe einander zuordnet und sie um eine Sache versammelt, und zwar um die Vollständigkeit einer zusammenschauenden Erfassung anzustreben. Obendrein versucht man, Objektivität zu sichern, indem man den Sinn ihres Werdens erkundet. Das hierbei notwen-

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digerweise auch identifizierende und deshalb ›falsche‹ (Adorno 1982, 175) Denken besitzt im konstellativen Denken freilich einen eigenen Schauplatz: den der Dialektik. Das ist für meine Lektüre des Deligny’schen Versuchs ein kaum zu überschätzender Gesichtspunkt, weil mit dieser Verortung das ›falsche‹ Denken anders zu gewichten sein wird als gemeinhin üblich. Der in dieser Dialektik obwaltende Vorrang des Objekts mache sie zu einer materialistischen, behauptet Adorno; da sie ihre Begriffe experimentell um das Begriffslose und Nichtidentifizierbare versammele (um es aufzuschließen), setze sie sich dem Misslingen aus (Adorno 2003, 236).« (Hörster 2017, 267) Hörsters These ist, dass Deligny seine Begriffe um das »Problem der Intersubjektivität« versammelt, das durch die »unüberbrückbaren Differenzen im empfindenden Weltbezug« im Umgang mit den autistischen Kindern gekennzeichnet ist (ebd., 267). Das Ziel Delignys sei es, das Intersubjektivitätsproblem als dialektisches Geschehen zu fassen, um der »nichtintentionalen Rationalität« (ebd., 268) der autistischen Kinder zu folgen. Der Umgang mit einer nichtintentionalen Rationalität erfordert für Hörster dementsprechend einen »sozialpädagogischen Ort« (ebd., 275). Die Lebensfläche wird dadurch in erster Linie als ein Ort sozialpädagogischer Betreuung klassifiziert. Die Dialektik waltet für Hörster bereits im Spurenziehen, weil dort »auf eine veritable Leerstelle, auf Negatives, nämlich Nicht-Dargestelltes – auf ein Agieren« (ebd., 270) verwiesen wird. Das Negative wird durch die Dialektik des delignyschen Versuchs in ein Positives transformiert und kann dadurch das Unbestimmte, d.h. diese Leerstelle, umreißen und zeigen. »Der Erzieher Deligny versucht ebenso wie Schäfer, sich für die aporetischen Strukturen des eigenen symbolischen Ordnungssystems innerhalb einer von dem Erziehungsphilosophen Schäfer so genannten nichtintentionalen Rationalität zu sensibilisieren. Die nichtintentionale Rationalität, wie sie in den Deligny’schen Schriften operiert, erweist sich in jenen kritischen Passagen der praxeologischen Empirie als selbstwidersprüchlich, in denen sehr spezifische intentionale Praktiken vorausgesetzt werden müssen. Durchsetzt mit einem um Nichtintentionalität sich drehenden Stil (›die Spur der Spur‹) bewegt sich die Deligny’sche Gemeinschaftspraxis explizit in einem dilemmatischen Gemisch derartiger Praktiken.« (Ebd., 278) Die delignysche »Nichtintentionalität« trägt für Hörster einen Selbstwiderspruch in sich und führt die Praxis in die Aporie. Hörster schließt, dass Deligny »den Stein des Sisyphos immer wieder den pädagogischen Berg hinauf«

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rollen muss, weil es ihm nicht gelingt und nicht gelingen kann, »die Intention gänzlich ›ins Intentionslose‹ zu stoßen« (ebd., 278). Von diesem »sozialpädagogischen Versuch« bleibt nur noch eine »selbstkritische Sensibilisierung« (ebd., 279) übrig. Hörsters Deligny-Lektüre führt zu Erkenntnissen, die den bereits ausgearbeiteten diametral entgegenstehen. Ich vertrete die These, dass eine derart verfasste Dialektik der kartografischen Praxis nicht gerecht werden kann, weil ihr Wesentliches vorenthalten bleibt, d.i. die materialisierten »Interferenzen« und »Interaktionen«. Dass dieser dialektische Zugang der Praxis nicht gerecht werden kann, liegt vor allem an einem bestimmten Zusammenspiel von Identität|Differenz im Modus der Repräsentation. In diesem Zusammenhang greife erneut auf Friedrichs Arbeit Passagen der Pädagogik (2008) zurück, weil das dort vorliegende Problem von Dialektik und Repräsentation anhand der Negativen Dialektik (Adorno 1982) und der Differenz und Wiederholung (Deleuze 2007) diskutiert wird. »Das Unausdrückbare im Ausdruck aufheben. Der Unerreichbarkeit des Urbildes im Abbild zu gedenken. Die Aporetik und Negativität der Negativen Dialektik ist in der Grundkonstellation begründet, einerseits an der Unterscheidung zwischen Urbild und Abbild festzuhalten, anderseits einen Bildersturm zu entfesseln, der sowohl Urbild als auch Abbild betrifft. Das Urbild wird dann zur Sachhaltigkeit des Objektes, das Abbild verflüssigt sich in ausdrückenden Konstellationen. Der Weg in die Ästhetische Theorie ist damit geebnet. Am Grundsatz der Dialektik festhaltend sollen ästhetischer Ausdruck und das Recht des Objektes vermittelt werden, ohne eine positivierende Synthese zu bilden; die Dialektik bleibt damit auch im Ausdruck negativ. Insoweit verfolgt Differenz und Wiederholung eine andere Strategie, indem sie die Dialektik nicht dialektisch negativiert, sondern die Auf-Hebung, den Begriff der Negativität selbst, annulliert, ihn insbesondere dem engen Konnex zur Differenz entreißt, um einen Begriff der ›positiven‹ Differenz zu hybridisieren. Nur so, indem die Differenz nicht allein als flüchtiges Moment dem einzig positiven Moment – der Identität – zuarbeite, entkomme man dem Irrweg der Dialektik, der an Stelle der positiven Differenz eine ›falsche Tiefe‹ produziere. Denn man halte über die Mechanik der Synthese an der Figur der Vermittlung fest.« (Friedrichs 2008, 131) Wenn Hörster bestreitet, dass es Deligny gelingen könne, »die Intention gänzlich ›ins Intentionslose‹ zu stoßen«, weil eine »nichtintentionale Rationalität« nur unterstellt werden könnte, dann hält er an dieser Figur der Vermittlung

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fest. Dass Hörster die kartografische Praxis als eine dialektische Praxis versteht, hat zur Folge, dass sie in einer Kartierung des Unmöglichen (dilemmatisches Gemisch) mündet. Der negativ dialektische Bruch mit der Repräsentation bewirkt in diesem Fall die Preisgabe der Erkenntnis: »So konnte Habermas bemerken, dass ›für die erweckende Kraft ihres [des Identitätsdenkens] Exerzitiums mit der Abkehr vom Ziel theoretischer Erkenntnis‹ (Habermas 1981, 516) bezahlt werde« (Friedrichs 2008, 126; Ergänzung von mir). Die »Negative Dialektik ist einer mimetischen Erkenntnis verpflichtet«, die immer dann in eine Aporie führt, »wenn man [sie] mit den repräsentativen Ansprüchen des theoretischen Wissens konfrontiert« (ebd.). Dies aus dem Grund, weil bruchlose Repräsentation nicht möglich ist und der Riss durch die Identität selbst geht. Dadurch bleiben der kartografischen Praxis noch ›repräsentative Reste‹, die als ein Nebenprodukt (selbstkritische Sensibilisierung) in Erscheinung treten. Hörsters Zugang folgt einem Identitätsdenken, das sich in seiner Auseinandersetzung mit einer Praxis entfaltet, die sich gerade diesem Denken entziehen will. Die kartografische Praxis stellt die Frage, warum man an einem dialektischen Denken der Identität|Differenz festhalten sollte, wenn die Risse und Brüche in diesem Denken nicht produktiv gewendet werden können. Hörster bezeichnet Deligny als einen »Erzieher« (Hörster 2017, 266, 276, 278) und einen »Sozialpädagogen« (ebd., 272), die Beteiligten als »Erzieher_innen« (ebd., 265, 268, 275) und »Sozialpädagog_innen« (ebd., 269, 272, 277), die kollaborative Praxis der Kartografie als einen »genuin sozialpädagogischen Versuch« (ebd., 266, 269), »sozialpädagogisches Wagnis« (ebd., 278) oder auch als »sozialpädagogisches Denken« (ebd., 277, 279). Nicht nur die Distanz der kartografischen Praxis zu professionalisierten und institutionellen Zusammenhängen scheint in den Hintergrund zu treten, auch die Zurückweisung bestimmter Formen von Rationalität werden nicht aufgegriffen. Es hat den Anschein, dass der ›Erzieher‹ (Fernand Deligny) vom Erziehungsphilosophen (Alfred Schäfer) auf seinen Platz verwiesen wird. Hörster etabliert dadurch Hierarchien, die von der Praxis zurückgewiesen werden und nicht haltbar sind. Zander nimmt – anders als Hörster – Abstand von einem Denken in Identität|Differenz-Verhältnissen. Er betont mit Durkheim, dass die Differenz »kein Unterschied und kein Abstand innerhalb des Wirklichen« (Zander 2003, 207) sei. Sie ist »Bedeutungsdifferenz« (ebd.) – und kann mit Rancière auch als eine »Ausdrucksordnung« (Rancière 2010, 50) verstanden werden.

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Fortsetzung »Eröffnen« Der braune vertikale Balken im Floßzeichen (FLB 141) kennzeichnet, dass Binou in unbestimmter Weise »interagiert« – so wie Janmari »interagiert«, wenn er beispielsweise ein Sägeblatt gemeinsam mit einem Erwachsenen reinigt (vgl. Abb. 22). Binou wird mit diesem Balken weder als präsentes Anomal (grün) kartiert, noch als ›Agierender‹ (horizontaler Balken in braun). Der Balken bringt eine hybride Seins- und Wahrnehmungsweise zum Ausdruck: eine agierende Präsenz. Binous Präsenz ist eine ›rein‹ körperliche, d.h. »highly – and purely – symbolic«, ohne eine »ounce of symbolism« (D 2015, 60). Es ist ein ›rein‹ symbolisches Agieren ohne Symbole (»acting is purely acting«, ebd.). Eben dieses Agieren bezeichnet Manning als eine »relation active in the immanence of its taking-form« (Manning 2011, 91). Das Präsenzzeichen ist bereits im Mai 1973 auf einem Fährtenlinienblatt zu sehen – also drei Monate bevor das Floß kartiert wurde. Zu dem Fährtenlinienblatt 83 wird im Begleittext hervorgehoben, dass die »vertical bar in black charcoal« (D 2013, 82; Hervorhebung von mir) die Präsenz eines Erwachsenen markiert (vgl. ebenso FLB 163, FLB 171). Die hybride Funktion des Präsenzbalkens ist demnach beabsichtigt. Dafür spricht auch, dass Binous Bewegungen sich zweifelsfrei um das Floß herum konzentrieren (vgl. Abb. 34e), was bedeutet, dass es zu mehreren »Interaktionen« gekommen ist. Seine Fährtenlinien in schwarzer dünner Tusche, seine charakteristischen Bewegungen in pastellorange und die Objekte, die er regelmäßig mit sich führt, stehen in Beziehung zum Floßzeichen. Die hinzugefügten kurzen Schleifen in pastellbraun links neben und unter dem Floß stehen außerdem auch in direkter Verbindung zu seinen Fährtenlinien. Die kleinen Schleifen zeigen Binous Agieren rund um das Floß und sind bezeichnenderweise im gleichen Pastellbraun wie der vertikale Balken im Floß kartiert worden. Die Fährtenlinien enden an mehreren Stellen unterhalb des Floßes, wo Binous Agieren einsetzt. Die vielen schwarzen Punkte markieren, dass er Objekte bei sich führt, die in das Agieren eingebunden sind. Die beiden Verflechtungszeichen (Y) in der unteren Mitte des Fährtenlinienblattes (FLB 141, Abb. 34e) links und rechts tragen orange Punkte und zeigen Binous charakteristische Bewegungen an. Die kleinen Rauten auf dem Verflechtungszeichen deuten laut Begleittext darauf hin, dass Binou bereits an einem Tun ›beteiligt‹ ist. Die kleinen grünen Punkte links neben und unterhalb des Floßes weisen auf ungewöhnliche Bewegungen hin. Zwei dieser Bewegungen münden in der Manifestation des Gemeinsamen. Die beiden

Das Floß

kleinen Sonnen – bestehend aus einem Kreis und jeweils vier Strichen – unterhalb des Floßes links außen kennzeichnen, dass dieses Gemeinsame (»the Us«, auch: common us, nous commun und coutumiere; D 2013a, 154) wahrnehmbar geworden ist, weil mehrere »Interaktionen« zwischen Sprachnahen und Sprachfernen folgten. Das Sonnenzeichen markiert ein Gemeinsames, das zum ersten Mal auf der Karte 69 (Abb. 35) kartiert worden ist. Dort wird das Nous commun – kaum erkennbar – mit einem kleinen N auf mehreren Kochtöpfen an den Feuerstellen markiert.

Abb. 35: K 69

Durch die anderen Zeichen auf den Fährtenlinienblättern der Serie (Abb. 34a-f) lässt sich mehr oder weniger genau sagen, wann auf den Karten »Interaktionen« sichtbar werden und auch wann mit bestimmten Ordnungsmustern gebrochen wird. Aus dem Begleittext zum Blatt (FLB 141, Abb. 34e) lässt sich beispielsweise entnehmen, dass die kleine Skala links unten festhält, dass am 28. August 1973 zwischen 16 und 18 Uhr Binous Fährten vom Vortag, d.h. im Rückblick, kartiert wurden. Auch die anderen Fährtenlinienblätter dieser Reihe (vgl. Abb. 34a-f) wurden auf diese Weise angefertigt. Die achtteilige Skalierung lässt sich nicht auf das Ziffernblatt einer Uhr übertragen, denn dann würde die Zeitangabe der Kartierung (16.00 bis 18.00 Uhr) nicht mehr zu der

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Markierung in der Skala zusammenpassen. Diese würde auf einem achtteiligen Ziffernblatt 19.30 bis 21.00 Uhr anzeigen und nicht 16.00 bis 18.00 Uhr. Eine zwei Jahre zurückliegende Karte (K 65; Abb. 36) gibt einen Hinweis darauf, wie die Skala zu verstehen ist.

Abb. 36: K 65

Das Floß

Auf der Karte 65 ist die Lebensfläche des Netzes »La Grand Terre« detailliert und figurativ zu sehen. Neben der Lebensfläche sind die kleinen Mauern, die Tische und sogar einzelne Kochutensilien erkennbar. Über dem Platz ist eine Zeitskala, deren einzelne Arme mit einer Stundenangabe von 8.00 bis 22.00 Uhr versehen sind und die die Lebensfläche überstrahlen. Anders als auf der frühen Karte 23 aus dem Juli 1969 (Abb. 37) können die Strahlen auf Karte 65 nicht mehr mit einer herkömmlichen Uhr oder einem Ziffernblatt in Verbindung gebracht werden, weil die Kartografin sich an einer Sonnenuhr orientiert.

Abb. 37: K 23

Die Stundenangaben der einzelnen Arme strecken sich wie Sonnenstrahlen über die Lebensfläche aus und enden jeweils unterhalb der horizontalen Gerade. Die Nachtstunden oberhalb der Horizontalen sind für ihre Karten unerheblich. Dementsprechend trägt der erste Arm rechts unterhalb der Geraden auf Abbildung 36 die Zeitangabe »8h« und der letzte Arm links »22h«. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Strahlen der Sonnenuhr auch einen Fluchtpunkt für die kartierte Lebensfläche bilden. Nicht alle Objekte auf der Kar-

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te sind genau auf diesen Fluchtpunkt ausgerichtet, dennoch ist die zentralperspektivische Form der Lebensfläche unverkennbar. Fluchtpunkt und Sonnenuhr überlagern sich. Das Sonnenlicht gibt den Rhythmus des Tages vor und die zur Verfügung stehenden Stunden ordnen das Alltagsleben in der Lebensfläche an. Der Sonnenuhr-Fluchtpunkt ermöglicht es auch, den eigenen Rhythmus der Lebensgemeinschaft hervorzuheben. Und weil die Gemeinschaft im Zusammenleben mit den autistischen Kindern andere Alltagsrhythmen generiert und sich vor allem durch das abwesende (chronologische) Zeitgefühl der Kinder auszeichnet, tritt der – hier noch euklidische – Raum immer deutlicher in den Vordergrund. Die Hybridposition von Sonnenuhr und Fluchtpunkt leitet Verschiebungen in der kartografischen Praxis ein, die den Rhythmus der Lebensfläche und die »Interferenzen« der unterschiedlichen Seins- und Wahrnehmungsweisen von Raum und Zeit wahrnehmbar machen. Es liegen acht beschriftete Arme der Skala auf der Karte (K65; Abb. 36). Die Nachtstunden sind für die Skala irrelevant. Die Kartografin kann ihre Zeitskala dadurch auf acht Teile beschränken. Sowohl die Karte (K65) als auch die Fährtenlinienblätter (Abb. 34a-f) sind im Sommer angefertigt worden. Die Skala auf den Fährtenlinienblatt 133 und den folgenden Blättern der Serie endet nicht um 00.00 Uhr, sondern um 22 Uhr, was zur Zeit der Kartierung (August) in dieser Region die Zeit der Bettruhe ist. Vor diesem Hintergrund passen auch die Zeitangaben – von 16 bis 18 Uhr wird kartiert –, mit der Markierung des Achtels in der Skala der Fährtenlinienblätter zusammen. Die Kartografin führt mit dem Ziffernblatt einen (lokalen) Maßstab ein, der sich am Leben der Gemeinschaft orientiert. Die Chronologie wird damit nicht aufgegeben, sondern gewissermaßen angepasst. Eine Bestätigung für diese Anpassung findet man auch auf einer sechsmonatigen Serie aus dem Sommer 1978 (FLB 293-343), auf der diese Zeitskala durchgängig beibehalten wird. Die sprachnahen Seins- und Wahrnehmungsweisen werden durch diese Vorgehensweise verschoben. Die Verschiebungen beschreibt Zander wie folgt: »Formen werden aus der Materialstellung gewonnen. Dieser Vorgang ist für die Kennzeichnung pädagogischer Bedeutungsbestände elementar. Deligny arbeitet mit dem Begriff einer primordialen Geste […]. ›Erre‹ ist die Bezeichnung für eine relativ gleichmäßige, gering beschleunigte Art der Fortbewegung, beispielsweise die ›Fahrt‹ eines Schiffes. Diese Fortbewegung weckt eher unsere Raum- als unsere Zeitanschauung. Sie legt nahe, Zeitintervalle in Raumbestände aufgehen zu lassen, ihnen die Beschleunigungskraft zu nehmen. Deligny erfasst mithin die ›lignes d’erre‹ jedes der

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Kinder, das in dem Netz lebt, raumanschaulich, also kartografisch. Er zeichnet die Formen nach, in denen sich diese ›Gesten‹ und ›Linien‹ gestalten. Sie gestalten sich als Punkte, Knoten, Markierungen, an denen agir aufbricht. Hierauf werde die Aufmerksamkeit gelenkt.« (Zander 2003, 219) Die Verschiebungen werden ausgehend von der Lebensfläche vorgenommen, und zwar so, dass die »Materialstellung« der Lebensfläche in den Vordergrund treten kann. Die Fährten der Kinder (Erre), die die Seins- und Wahrnehmungsweisen der Kartograf:innen auf die Raumanschauung fokussieren, werden zwar in Zeitintervallen kartiert, die dem Lebensalltag entsprechen. Sie lassen sich jedoch kaum einer Zeiteinheit zuordnen. Der entworfene Zeitrhythmus orientiert sich in erster Linie an den Tätigkeiten, die den Alltag der Anomale kennzeichnet. Eine chronologische Zeitordnung wird in den Hintergrund gedrängt. In Abbildung 38 stechen sechs weiße Flächen auf der Karte hervor, vier größere (Tischoberflächen) und zwei sehr kleine (Brettchen am Baumstamm). Im Begleittext der Karte erfährt man, dass die weißen Flächen Räume markieren, in denen Erwachsene und Kinder im Alltag interagieren. Ich schließe weiter, dass an den Orten der »Interaktion« »Mikro-Ereignisse« stattfinden. Die Auflösung chronologischer Ereignisse in »Mikro-Ereignisse«, die »als unaufhörliches Gemisch von Atomen, das ständig neue Konfigurationen formt und auflöst« (Rancière 2008c, 80), fassen Deleuze und Guattari präziser im Begriff »Haecceïtäten (Diesheiten)« (Deleuze, Guattari 1992, 354f.). Rancière versteht diese Auflösungsprozesse wie folgt: »Gerade diese reinen Verhältnisse von Bewegung und Ruhe sind das Herz von Madame Bovary. Sie sind es, die zeigen, was das Leben ist, wie der Künstler es in seiner Wahrheit erfasst: ein reiner unpersönlicher Fluss von Diesheiten. Die Literatur sagt das Wahre und lässt es uns empfinden, indem es diese Diesheiten von den Ketten der Individualisierung und der Objektivierung loslöst. Das ist die richtige Weise, die Identität von Literatur und Leben zu verwirklichen. Flaubert zufolge muss das die Literatur tun, und zumindest macht er das. […] Das ist die Aufgabe der Literatur selbst als neuer Form der Schreibkunst, den Unterschied festzusetzen zwischen zwei Weisen, die Kunst und die Nicht-Kunst [Leben] gleich zu machen. Der ganze Unterschied besteht in der Weise, wie man die Mikro-Ereignisse behandelt, die die unpersönliche Leinwand weben, auf der die ›persönliche‹ Erfahrung ihre eigenen Szenarien einschreibt. Man kann sie in der Gestalt eines begehrenden Subjekts miteinander verbinden – das ist die Weise der Figur.

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Man kann die Leinwand des unpersönlichen sinnlichen Lebens umgekehrt von ihnen ausgehend weben – das ist die Weise des Künstlers.« (Rancière 2008c, 81; Ergänzung von mir) Mit dem reinen unpersönlichen Fluss der Diesheiten, die sich dem Raum »zwischen substantiellen Formen und determinierten Subjekten« (Deleuze, Guattari 1992, 346) widmen, eröffnet sich ein Zwischenraum, der Vermittlung erforderlich macht, d.h. eine »Behandlung« der Mikro-Ereignisse. Die unpersönliche Leinwand wird jedoch nicht gewebt, sondern gefilzt und ist im Fall der kartografischen Praxis der Ausgangspunkt für die Konstitution der Lebensgemeinschaft. »Interferenzen« sind die grundlegenden Fasern dieses Filzes. Das nächste Kapitel untersucht diese Fasern, um ausarbeiten zu können, wie es zu den »Interaktionen« kommt, die als Verknotungen (#) kartiert werden. Es soll ausgearbeitet werden, wie sich eine topografische Struktur aus »Interaktionen« herausbildet, die erst auf Grundlage von »Interferenzen« im Alltag, d.h. in einem Filz aus Mikro-Ereignissen, möglich wird.

Präfigurieren Etwa zur gleichen Zeit wie die oben beschriebenen Fährtenlinienblätter 133143 wird eine weitere Serie (K 189, K 191, K 193; vgl. Abb. 38a-c) angefertigt. Die erste Karte trägt das Datum »August 1973«. Die anderen beiden sind vom 10. November 1973 und – wieder ungenauer datiert – aus dem November 1973. Das Erscheinen des Floßes auf Fährtenlinienblatt 141 vom 28. August 1973 hängt jedoch nicht nur zeitlich unmittelbar mit diesen drei Karten zusammen. Auf den Fährtenlinienblättern 133-143 werden mit dem Floßzeichen Verflechtungen (Y), Verknotungen (#) und Verfilzungen (réseau) sichtbar. Auf den drei Karten 189, 191 und 193 sind breite braune Pastellstreifen zu erkennen, die laut Begleittext den Bau der Floßkonstruktion »präfigurieren« (»préfigurent«, D 2013a, 188). Die großen, pastellbraunen Planken liegen auf einem hellbraunen Untergrund und sind durch feine Fährtenlinien miteinander verbunden. Die Fährtenlinien spielen hier jedoch nur eine Nebenrolle. Auf den drei Karten (Abb. 38a-c) stehen vor allem die Verflechtungen (Y) im Vordergrund. Anders als auf den vorhergehenden Fährtenlinienblättern liegt das Augenmerk hier nicht auf den Verknotungen (#), sondern auf deren ›Innenleben‹. Eine Verknotung besteht aus »Interaktionen« und die Aktivität ihres Innenlebens besteht aus »Interferenzen«, die mit dem Verflechtungszei-

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Man kann die Leinwand des unpersönlichen sinnlichen Lebens umgekehrt von ihnen ausgehend weben – das ist die Weise des Künstlers.« (Rancière 2008c, 81; Ergänzung von mir) Mit dem reinen unpersönlichen Fluss der Diesheiten, die sich dem Raum »zwischen substantiellen Formen und determinierten Subjekten« (Deleuze, Guattari 1992, 346) widmen, eröffnet sich ein Zwischenraum, der Vermittlung erforderlich macht, d.h. eine »Behandlung« der Mikro-Ereignisse. Die unpersönliche Leinwand wird jedoch nicht gewebt, sondern gefilzt und ist im Fall der kartografischen Praxis der Ausgangspunkt für die Konstitution der Lebensgemeinschaft. »Interferenzen« sind die grundlegenden Fasern dieses Filzes. Das nächste Kapitel untersucht diese Fasern, um ausarbeiten zu können, wie es zu den »Interaktionen« kommt, die als Verknotungen (#) kartiert werden. Es soll ausgearbeitet werden, wie sich eine topografische Struktur aus »Interaktionen« herausbildet, die erst auf Grundlage von »Interferenzen« im Alltag, d.h. in einem Filz aus Mikro-Ereignissen, möglich wird.

Präfigurieren Etwa zur gleichen Zeit wie die oben beschriebenen Fährtenlinienblätter 133143 wird eine weitere Serie (K 189, K 191, K 193; vgl. Abb. 38a-c) angefertigt. Die erste Karte trägt das Datum »August 1973«. Die anderen beiden sind vom 10. November 1973 und – wieder ungenauer datiert – aus dem November 1973. Das Erscheinen des Floßes auf Fährtenlinienblatt 141 vom 28. August 1973 hängt jedoch nicht nur zeitlich unmittelbar mit diesen drei Karten zusammen. Auf den Fährtenlinienblättern 133-143 werden mit dem Floßzeichen Verflechtungen (Y), Verknotungen (#) und Verfilzungen (réseau) sichtbar. Auf den drei Karten 189, 191 und 193 sind breite braune Pastellstreifen zu erkennen, die laut Begleittext den Bau der Floßkonstruktion »präfigurieren« (»préfigurent«, D 2013a, 188). Die großen, pastellbraunen Planken liegen auf einem hellbraunen Untergrund und sind durch feine Fährtenlinien miteinander verbunden. Die Fährtenlinien spielen hier jedoch nur eine Nebenrolle. Auf den drei Karten (Abb. 38a-c) stehen vor allem die Verflechtungen (Y) im Vordergrund. Anders als auf den vorhergehenden Fährtenlinienblättern liegt das Augenmerk hier nicht auf den Verknotungen (#), sondern auf deren ›Innenleben‹. Eine Verknotung besteht aus »Interaktionen« und die Aktivität ihres Innenlebens besteht aus »Interferenzen«, die mit dem Verflechtungszei-

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Abb. 38a: K 189

chen (Y) markiert werden. »Interferenzen« setzen sich aus Mikro-Ereignissen (Haecceïtäten) zusammen. Die drei Karten 189, 191 und 193 dienen als Vergrößerungsglas, um die rhizomatischen Verbindungen im Inneren der »Interaktionen« untersuchen zu können. Auf den braunen Planken (tables) der Karte werden die alltäglich anfallenden Tätigkeiten der Erwachsenen zerlegt (décomposition), so der Begleittext zu

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Abb. 38b: K 191

der Karte. Mit den braunen Planken werden die Tätigkeiten der Erwachsenen auf allen drei Karten gekennzeichnet. Auf jeder Planke ist ein Arbeitsschritt angesiedelt, der zu einer zusammenhängenden Sequenz von Arbeitsschritten gehört. Auf einer Planke findet beispielsweise die Sequenz ›Geschirr trocknen‹ statt und auf einer anderen Planke werden die Gegenstände (wohl geordnet) abgelegt, die für andere Sequenzen erforderlich sind.

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Abb. 38c: K 193

»The flat brown tints [Färbungen] isolate tables or tasks. The multiplication of tables is the direct consequence of the breaking down [décomposition] of the adults gestures, who aim to make them more ›readable‹ in the children’s eyes.« (D 2013a, 188; Ergänzungen von mir)

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Auf den Karten wird dadurch sichtbar, wie das Tun in mehrere Glieder aufgeteilt wird, um potentiell alle Anomalen an »Interaktionen« zu beteiligen. Form und Farbe der breiten, braunen Pastellstreifen deuten auf die Planken eines Floßes und auf Arbeitstische hin. Das Floß symbolisiert die Lebensgemeinschaft und die Arbeitstische das Tun-Agieren, das in der Gemeinschaft im Alltag erforderlich ist. Aus diesem Grund kann die Herausgeberin auch schließen, dass die Idee des Floßes sich in der Form der braunen Planken »materialisiert« (vgl. ebd.). Es geht hier jedoch – so schließe ich weiter mit Bezug auf das vorhergehende Kapitel »Eröffnen« – nicht nur darum, durch vereinfachte Arbeitsschritte einen achtsamen Umgang mit den Kindern zu erlernen und dies auf Karten festzuhalten. Es geht darum, die »Konstitution« der »Interaktionsräume«, die bereits durch die Praxis eröffnet wurden, genauer untersuchen zu können. In Karte 189 (Abb. 38a) ist, wie sich ebenfalls dem Begleittext entnehmen lässt, auf dem größten braunen Pastellstreifen der Tisch zu sehen, auf dem das Essen zubereitet wird. Der Tisch ist mit feiner schwarzer Tusche eingezeichnet und auf dem radierten Hintergrund kaum erkennbar. Auf ihm sind die Gesten der Erwachsenen in schwarz und die Gesten der Kinder in weiß kartiert. Die kartierten Zickzacklinien oder Kreisbewegungen sind an die Handbewegungen angelehnt, die vorwiegend an diesem Tisch ausgeführt werden. Orangene Punkte markieren, dass ein autistisches Kind an diesem Tisch oder auf dieser Planke präsent ist. Die kleinen grünen Punkte deuten auf Ereignisse, von denen drei durch graue Pastellstreifen nochmals hervorgehoben wurden. Das erste Ereignis auf der oberen der drei grauen, kleinen pastellfarbenen Flächen ist kaum erkennbar. Es ist ein Tamburin, das von den Erwachsenen immer wieder in Leergesten (geste pour rien) genutzt wird (vgl. Abb. 5-9). Das Ereignis darunter markiert einen Zuwachs in der Gemeinschaft (um eine Ziege) und das dritte Ereignis unten verweist auf einen Stein, an dem Leergesten ausgeführt werden. Der Stein wird im Begleittext dementsprechend als »pierre pour rien« (ebd.) bezeichnet. Abbildung 7 und 9 zeigen zwei Gebrauchsweisen eines solchen Steins auf. Die grüne Vertikale am linken Tischende deutet auf die Präsenz eines Erwachsenen und der kleine schwarze Kringel in der Mitte der Vertikalen markiert, dass die Präsenz des Erwachsene von einem Kind wahrgenommen wird (repérer qn.). Im Glossar des Kartenbandes präzisiert die Herausgeberin weiter, dass die Wahrnehmbarkeit (repérer qn.) von Erwachsenen oder auch Gegenständen über die dingliche Präsenz hinaus eine gewisse Permanenz im Alltagsleben mit den Kindern erfordert, damit das Kind auf sie reagieren kann

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(ebd., 14). Deligny schlägt aus diesem Grund vor, dass die Praxis der Kartografie sich eine »Wahrnehmungsmaschine« (l’appereil à repérer) aneignen und sich von einer »Sprachmaschine« (l’appereil à langage) distanzieren muss (ebd.). Der schwarze Kringel markiert eine maschinische Form der Wahrnehmung und verweist implizit auch auf Leo Kanners Beobachtungen, dass autistische Kinder ein Grundbedürfnis nach einer besonderen (maschinischen) Form der Gleichförmigkeit haben (vgl. Kanner 1943). Der Kringel ist demnach auch ein Zeichen dafür, dass dem Bedürfnis der Kinder in der Lebensgemeinschaft Rechnung getragen wird. Der grüne und nach unten geöffnete Halbkreis auf der Vertikalen zeigt, dass die Hände des Erwachsenen keine besonderen Gesten ausführen. Ein grauer nach oben geöffneter Halbkreis kennzeichnet eine Leergeste, in der ein Erwachsener die Hände über dem Kopf zusammenklatscht (vgl. Abb. 5). Durch Leergesten wird ein Simulakrum erzeugt (simulacre, ebd., 11). Simulakren dienen den Erwachsenen dazu, ein mögliches Agieren mimetisch zu initiieren. Weil das Agieren keiner Ordnung und keinem Zeichensystem angehört, ist es leer. Auf diese Leere wird mit dem produktiven Widerspruch der Leergesten geantwortet. Die Erzeugung leerer Simulakren kann ein weiteres Agieren auslösen und in der Folge auch zu weiteren »Interferenzen« und »Interaktion« führen. Leergesten wiederholen die Gesten stereotypisch, intuitiv und intentionslos. Die Leergesten entleeren das Tun und entziehen es (soweit eben möglich) der repräsentativen Ordnung, um es den Unbestimmtheiten der Sprachnähe anzunähern. Die drei Ereignisse auf der Karte 189 (Abb. 38a) sind Orte einer solchen Entleerungen. An den Orten der Entleerung befindet sich eine Türschwelle zum dritten Haus. Auf den Karten ist mithilfe des Begleittextes erkennbar, auf welche Gesten der Erwachsenen die Kinder reagieren. Auf den sechs Planken links unten in der Karte 189 sind die zergliederten Schritte zu sehen, die Tätigkeiten markieren, die mit Wasser in Verbindung stehen. Die Bewegungen der Erwachsenen sind schwarz kartiert, die der Kinder in pastellweiß. Die schleifenförmigen schwarzen Zeichen zeigen, mit welchen Bewegungen die Gesten der Erwachsenen ausgeführt werden. Im Streifen links unten am Rand ist ein Kübel erkennbar, der zum Geschirrspülen dient. Die schwarze Schleife in dem Kübel zeigt eine Handbewegung, die Geschirr in den Wasserkübel eintaucht und wieder herausnimmt. Die beiden darüber liegenden Streifen deuten auf einen Wasserbehälter, der das dafür benötigte Wasser enthält (obere Planke links), und einen weiteren Behälter (mittlere Planke links), in dem das Geschirr ausgespült wird. Rechts neben diesen Streifen wird das Geschirr auf

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der unteren Planke zum Trocknen ausgelegt. Auf dem Tisch darüber stehen alle Gegenstände, die für dieses Tun-Agieren erforderlich sind und auf dem Tisch oben wird alles abgelegt, was gespült werden muss. Die schwarzen Schleifen gehen auf vier der sechs Pastellstreifen in weiße Schleifen über. Das heißt, dass die Gesten der Erwachsenen von den Kindern aufgegriffen und wiederholt werden. Das Agieren der Kinder wird nicht in das Tun der Erwachsenen überführt. Es nähert sich ihm lediglich an. Die Leergesten initiieren ein Agieren, das sich in einen Rhythmus aus Tun-Agieren einfügt. Das rhythmische Agieren des Knetens eines Brotteiges ist ein Hybrid aus Tun und Agieren (vgl. Abb. 18). In Ce gamin, là kann man Hybride in Minute 0:59:48-1:01:34 sehen. Abbildung 32 zeigt das Ende einer hybriden Bewegung aus Tun-Agieren. Dem abgelegten Teller des Mädchens sind drei abgewaschene und gespülte Teller eines Erwachsenen vorausgegangen. Nachdem das Mädchen den abgewaschenen Teller für eine kurze Zeit in der Hand hält und die Nutzgesten des sprachnahen Erwachsenen (Tun) beobachtet hat, legt es den Teller vorsichtig im Korb ab. Die Kamera fokussiert die Hände des Mädchens. Die Türschwelle zum dritten Haus ist in dieser Szene jedoch bereits überschritten worden. Die Karten 189, 191 und 193 zeigen im Detail, wie die Schwelle überschritten wird. Die Karten fokussieren ebenfalls die Bewegungen der Hände. Die Kartografin zoomt mit den Karten in das alltägliche Tun-Agieren hinein, um die einzelnen Bestanteile der Alltagsaufgaben und die damit verbundenen Arbeitsschritte stärker auszuleuchten. Der ›Zoom‹ ermöglicht es, die Verknüpfungen zwischen den Gesten von Erwachsenen und Kindern in den Arbeitsschritten besser hervorzuheben, um kartieren zu können, wie sich Zwischenräume des Gemeinsamen zusammenfügen. Karte 191 (Abb. 38b) und Karte 193 (Abb. 38c) gehen noch weiter ins Detail und widmen sich ausschließlich den einzelnen Sequenzen der Arbeitsschritte. Karte 191 zeigt das Tun-Agieren des Abwaschens und Karte 193 des Wäschewaschens. Der Aufbau der Karten und die Zeichen sind aus Karte 189 übernommen worden. Im Begleittext erfährt man, dass der Vorgang des Abwaschens rechts oben auf der Karte 191 beginnt. Das dreckige Geschirr muss vom Tisch abgeräumt und nach unten (in die Mitte) für den Abwasch sortiert oder aufgereiht werden. Die schwarzen Punkte auf den Pastellschleifen in schwarz und weiß sind die Objekte, die abgewaschen werden. In den schwarzen Schleifen werden die schwarzen Punkte durch klein weiße Flächen hervorgehoben, um sichtbar zu bleiben. Die Punkte bewegen sich in den Schleifen über die Planken, so wie das Geschirr von einer Station zur nächsten wandert. Das Wasser für den Ab-

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wasch kommt aus dem Kanister (oben links), neben dem vier autistische Kinder (orange Punkte) stehen. Eines der vier Kinder hebt den Kanister an und wiederholt die Bewegung (Schleife in weiß). Ein Erwachsener übernimmt den Kanister und die weiße Schleife geht in eine schwarze über. Der Erwachsene trägt den Kanister zu den beiden Bottichen zu der großen Planke unten links und schüttet das Wasser in den beiden anderen Bottichen aus (Linie in schwarz von links oben nach links unten). Die meisten orangen Punkte sind an und neben den großen Wasserbottichen links unten in der Karte zu sehen. Die drei Pastellstreifen in orange rechts neben den Bottichen im unteren Teil der Karte zeigen an, dass die Kinder bestimmte Gesten wiederholen. Ein Zickzack kann dann für ein Vorund-Zurück-wiegen stehen, eine Schleife für kreisende Armbewegungen. Die Herausgeberin hebt hervor, dass es sich bei den Bewegungen auf diesen kleinen orangen Flächen um »the children’s gestures with no purpose [geste pour rien]« (ebd., 190) handelt. Die Bewegungen der Kinder (wiegen, wippen, drehen …) häufen sich in der Nähe des Wassers. Nachdem das Geschirr abgewaschen und gespült worden ist, wird es von den Kindern zum Trocknen (ganz unten auf dem Tisch) ausgelegt und mit einer weißen Schleife auf der Karte versehen. Die weiße Schleife wird von den Erwachsenen gespiegelt (Simulakrum), bis alle Objekte zum Trocknen ausliegen. Das Spiegeln ist eine mimetische Wiederholung der Kindergesten, eine Wiederholung der Wiederholung (looped the loop, ebd., 190). Auf der ersten Karte 189 (Abb. 38a) – und auch den folgenden der Serie – ist die Farbe Orange der Marker für die Verflechtung (Y) zwischen der Sprachnähe und der Sprachferne. Die Flächen, Punkte und Hände in Orange markieren eine »Interferenz« zwischen der Sprachnähe und der Sprachferne, denen durch die Verflechtung (Y) beziehungsweise durch das Verflechtungszeichen Ausdruck verliehen wird. Nur wenige Monate später führen die kartierten »Interferenzen« zu den »Interaktionen« und dem Floßzeichen. Der kleine schwarze Kringel auf den grünen vertikalen Strichfiguren in Abbildung 38a ist ein Zeichen dafür, dass ein Anomal für alle anderen Anomale wahrnehmbar geworden ist (repérer qn.). Den Beleg dafür, dass es sich hier um »Interferenzen« handelt, findet man in den Farbüberlagerungen der Serie, auf die im Folgenden genauer eingegangen wird. Die ersten beiden Überlagerungen sind auf Abbildung 38a im rechten unteren Teil der Karte auf den beiden grünen Strichfiguren erkennbar. Auf der Karte 191 (Abb. 38b) und 193 (Abb. 38c) sind zwei weitere Farbüberlagerungen – ebenfalls in der Farbgebung der Strichfiguren – erkennbar.

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In der ersten Überlagerung in Abbildung 38a wird die schwarze Farbe des Kringels durch Orange ersetzt. Die Funktion des schwarzen Kringelzeichens bleibt erhalten wird durch die Funktion der Farbe Orange überlagert und dadurch erweitert. In der zweiten Überlagerung werden die grünen Hände der Strichfiguren (Präsenzen) durch pastellgraue Farbe ersetzt. Die grüne Strichfigur rechts unten auf der grauen Pastellfläche trägt einen orangen Kringel und hat pastellgraue Hände (Halbkreis nach unten geöffnet). Der Begleittext merkt zu diesem orangen Kringel kurz an, dass ein Erwachsener die Zweckfreiheit der Leergesten »verinnerlicht« hat (»the with no purpose is taken over by the speaking adult«, ebd., 188). Zu den grauen Händen wird bemerkt, dass sie auf ein Simulakrum deuten. Auf der Karte ist mit dem Figurzeichen demnach ein sprachnaher Erwachsener markiert, der Leergesten ausführt, was zu dem Ereignis des Leergesten-Steins (pierre pour rien, stone with no purpose; vgl. Abb. 11) führt, was zur Folge hat, dass der Erwachsene seine (maschinischen) gleichförmigen Bewegungen verinnerlicht (repris à son compte, take over), was dazu führt, dass die »Verinnerlichung« für Anomale sichtbar ist, wodurch wiederum das Ereignis des Leergesten-Steins erst möglich wird. Die kausale Logik hilft nur begrenzt dabei weiter diese Prozessualitäten zu erfassen, weil sie gleichzeitig und in wechselseitiger Voraussetzung (»ko-konstitutiv«), also (mindestens) doppelt artikuliert, ablaufen. Aus diesem Grund ist eine sprachlich (repräsentative) Beschreibung der Prozesse umständlich. Es gibt keinen Hinweis im Begleittext, warum die Hände in pastellgrau kartiert wurden; also mit der gleichen Farbe, mit der drei Ereignisflächen auf Karte 189 kartiert wurden und es bleibt auch offen, was unter der ›Verinnerlichung‹ in dem orangen Kringel zu verstehen ist. Ich schließe, dass der orange Kringel und der graue Halbkreis Zeichen für Transformationen von Seinsund Wahrnehmungsweisen sind, die durch »Interferenzen« hervorgerufen werden. Sowohl der Kringel als auch der Halbkreis sind Ausdruck sichtbar gewordener »Interferenzprozesse«, die sich zu »Interaktionen« in der Lebensfläche zusammenfügen. Die beiden folgenden Karten der Serie können als weitere Belege für den Schluss herangezogen werden, dass es sich um »Interferenzen« handelt. Auf der Karte 191 (Abb. 38b) haben drei schwarze Strichfiguren orange Hände, statt schwarzer oder grauer (auf der rechten Seite der Karte). Auf Karte 193 (Abb. 38c) überlagern und synchronisieren sich schwarze, weiße und orange Linien (verteilt auf der ganzen Karte). Die Hände mehrerer Strichfiguren auf Karte 191 werden in Orange kartiert. Mit Orange werden auf den anderen Karten jedoch »Interferenzen« markiert, die vorwiegend kleinen Flächen vorbe-

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halten sind. Die orangen Hände werfen die Frage auf, wie und womit Hände »interferieren«. Auch auf Karte 193 sind überlagerte Linienverläufe erkennbar, mit denen Gesten gekennzeichnet werden, durch die Sprachferne und Sprachnahe synchron und rhythmisch gemeinsam tun-agieren. Die überlagerten Linienverläufe werfen die Frage auf, wie und womit in einem TunAgieren »interferiert« wird. Die Kinder wiederholen die Gesten der Erwachsenen, die Geschirr spülen. Orange Hände können demnach als ein Zeichen für eine »Interferenz« der Hände der Erwachsenen mit den Gesten der Kinder verstanden werden. Die sprachnahen Hände wiederholen die Gesten der sprachfernen Hände. Die sich überlagernden Linienverläufe auf Karte 193 sind ebenfalls ein Zeichen dafür, dass die »Interferenzen« in den Bewegungsabläufen des TunAgierens ausgelöst werden. Zieht man die erste »Interferenz« auf Karte 189 hinzu, auf der durch den orangen Kringel die »Verinnerlichung« von Leergesten markiert wird, dann kann weiter geschlossen werden, dass Gesten unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen miteinander »interferieren« und dass dieses »Interferieren« zugleich auch eine Transformation der Seinsund Wahrnehmungsweisen mit sich bringt. Die vier Farbüberlagerungen kennzeichnen demnach, dass »Interaktionen« mit »Interferenzen« einhergehen und dass die »Interferenzen« der Gesten von Transformationen begleitet werden, durch die sich Gesten verändern und sich ›entleeren‹. Damit die Gesten aller Anomal miteinander »interferieren« können, müssen sie von der Sprache beziehungsweise von repräsentativen Ordnungen (weitestgehend) ›entleert‹ werden. Der Blick muss sich von einer »Sprachmaschine« (l’appereil à langage) zu einer »Wahrnehmungsmaschine« (l’appereil à repérer) transformieren, um die Gesten von einem repräsentationalen Charakter loslösen (Dissens) zu können, um einen »Interferenzraum« zu eröffnen. Die Sprachnahen müssen sich Modi der maschinische Seins- und Wahrnehmungsweise aneignen, wie sie beispielsweise bei Janmari auf der Baustelle in Abbildung 12 zu sehen sind (vgl. auch D 2007c). Die Überlagerungen zeigen, wie Leergesten – durch den orangen Kringel auf der Präsenz – regelrecht inkorporiert werden (Abb. 38a), wie die Leere in die orangen Hände der Präsenzen übergeht (Abb. 38b) und wie die Leere schließlich ein Teil des alltäglichen Tun-agierens aller Anomale wird (Abb. 38c). Die Struktur der Überlagerungen besteht aus einem Überschuss, der »Interferenzen« ermöglicht, denen durch Kartenzeichen Ausdruck verliehen wird. Der »gestischer Überschuss« (Zander 2014, 61) besteht aus den Bewegungen der Hände, die keiner Ordnung angehören, die über Zweckmäßigkeit

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und Intentionalität hinausgehen. Der Überschuss ist das Amorphe oder die Ausschmückung, die Gestalt (l’orné). Jede Geste bringt Überschuss mit sich und je mehr sich eine Geste der Leere annähert desto mehr Überschuss ruft sie hervor. Aus diesem Grund versteht Deligny die Gesten der autistischen Kinder auch als reine (purely) symbolische Rituale, denen jeder Symbolismus fehlt (vgl. D 2015, 60). Die Gesten des autistischen Mädchens A., der Feuerpriesterin, vollführen ein mythisches Ritual, dem kein Mythos zugeordnet werden kann. Die Gesten bestehen aus sprachnaher Perspektive beinahe vollständig aus Überschuss, weil sie in jeglicher (sprachnaher) Hinsicht fremd sind. Die Farbe Orange ist auf den drei Karten 189, 191 und 193 ein Zeichen dafür, dass ein Umgang mit dem Überschuss eine andere Seins- und Wahrnehmungsweise erfordert und dass andere Seins- und Wahrnehmungsweisen erlernbar sind. Durch die Zeichen auf den drei Karten werden »Interferenzen«, sichtbar, die durch Gesten unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweise hervorgerufen werden. »Interferenzen« sind ein sichtbarer Ausdruck von Seinsgesten, d.h. Gesten in denen ›sich‹ nichts ausdrückt. Die Kartografie ist die Apparatur, mit der das »interferieren« der Gesten in der Leere topografisch erfasst werden kann. Die orangen Hände der Strichfiguren sind eine Annäherung und auch eine Antwort auf den Überschuss, der durch ein anderes Sehen, einen anderen kartografischen Blick, eine andere Wahrnehmungsmaschine sichtbar wird. Die ›Begegnungen‹ der Leergesten, Wandgesten und Seinsgesten finden in der Leere statt und sind amorph. Auf den Karten werden lediglich die Überlagerungen der unterschiedlichen Gesten sichtbar. Eine Überlagerung gestischer Überschüsse wird – ähnlich wie die seismische Welle eines Erdbebens in den Aufzeichnungen eines Seismographen – durch Farbüberlagerungen der Kartenzeichen sichtbar. Die topografische Erfassung auf den Karten lässt sich weiter veranschaulichen. Die Aufzeichnung eines mechanischen Seismographen erfasst Bodenerschütterungen und andere seismische Wellen in einem Seismogramm durch Relativbewegungen des Bodens mittels eines Anzeigers. Auf dem Seismogramm werden die Ausschläge durch einen Erschütterungsanzeiger sichtbar. Der Anzeiger ›übersetzt‹ die seismischen Aktivitäten einer Quelle, eines Erbebenherdes in ein Diagramm, um einen visuellen Vergleich unterschiedlicher Magnituden zu ermöglichen. Treten mehrere Erdbebenherde auf, dann misst der Anzeiger die Überlagerungen (Interferenzen) der seismischen Wellen, die sich verstärken, abschwächen oder auch aufheben können. Die Farbüberlagerungen der Gesten, die auf den Karten sichtbar werden,

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entstehen aus ähnlichen Formen der Verstärkung, Abschwächung oder Aufhebung. Die kartografische Praxis ist jedoch komplexer als ein mechanischer Seismograph. Die Zeichen auf den Karten können zwar mit einem Seismogramm verglichen werden, das seismische Wellen aufzeichnet. Es ist jedoch – anders als bei einem Erdbeben – nicht möglich, Rückschlüsse über die seismischen Quellen zu erhalten, und es ist nicht möglich, die wechselseitigen Einflüsse in einem Identität|Differenz-Verhältnis zu erfassen. Die unterschiedlichen Quellen der Gesten sind nicht identifizierbar, weil auf den Karten ausschließlich das »Interferenzgeschehen« der Wellen sichtbar wird. Das heißt, dass die Überlagerungen auf den drei Karten 189, 191 und 193 (Abb. 38a-c) nicht auf differente Gesten zurückgeführt werden können und dass die Kartenzeichen kein Ausdruck einer Trennung sind, die mit den Karten eine neue Einheit oder Systematik erhalten. Die Kartenzeichen drücken nicht das prozessuale Geschehen zwischen (inter) Entitäten aus, sondern das Zusammenwirken unterschiedlicher Quellen als ein »Interferenzgeschehen«. Aus diesem Grund wird im Folgenden auf den Begriff der »Intra-ferenz« zurückgegriffen, der sich an Barads Begriff der »intra-action« orientiert. Eine »Intra-ferenz« ist ein doppelt artikulierter Ausdruck, der sich nicht durch anomale Gesten »ko-konstituiert«, sondern durch ihr Zusammenwirken. »Intra-aktionen« setzen sich aus »Intra-ferenzen« zusammen. Barad führt zum Neologismus »Intra-Aktion« aus: »The neologism ›intra-action‹ signifies the mutual constitution of entangled agencies. That is, in contrast to the usual ›interaction‹, which assumes that there are separate individual agencies that precede their interaction, the notion of intra-action recognizes that distinct agencies do not precede, but rather emerge through, their intra-action. It is important to note that the ›distinct‹ agencies are only distinct in a relational, not an absolute, sense, that is, agencies are only distinct in relation to their mutual entanglement; they don’t exist as individual elements. (Barad 2007, 33) Barad bevorzugt den Begriff der »Intra-aktion« gegenüber dem der »Interaktion«, weil letzterer auch nahelegt, es gehe um eine Interaktion zwischen distinkten Entitäten. In einer »Intra-aktion« gibt es jedoch weder identifizierbare Entitäten noch – und damit einhergehend – ein Differenzverhältnis zwischen diesen. Das Geschehen in den Zwischenräumen von Sprachfernem und Sprachnahem kann damit treffender als eine »Intra-aktion« gefasst werden. Denn mit den Kartenzeichen werden keine »Interaktionsräume« identifiziert,

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sondern es wird vielmehr eine »Intra-aktion« als Spur von Fährtenlinien materialisiert. »Intra-Aktionen« sind für Barad einem agentiellen oder agentischen Realismus zugehörig. Das englische »agential« wird mit »agentiell« (vgl. Barad 2012) oder auch »agentisch« (vgl. Barad 2015, 17) übersetzt und »agentive« (Barad 2007, 137) wurde mit »Agens« (vgl. Barad 2012, 15) ins Deutsche übertragen. Barads Bezug auf eine adjektivische Form der Wirkmacht (agency) hebt die agentielle Aktivität dieses Realismus hervor. Der Realismus menschlicher und nichtmenschlicher Agenten (agents) oder auch Agentialitäten (agencies) verschiebt den Fokus von einer statischen Perspektive auf Subjekt|Objekt-Verhältnisse hin zu einer rein relationalen Perspektive. »Matter is neither fixed and given nor the mere end result of different processes. Matter is produced and productive, generated and generative. Matter is agentive, not a fixed essence or property of things.« (Barad 2007, 137; Hervorhebung von mir) Materie ist nicht einfach nur Objekt. Sie ist nicht passiv und distinkt gegenüber einem Subjekt. Die Aktivität der Zwischenräume (Subjekt|Objekt) wird von Barad als wirksame, materialisierte Differenz verstanden. Der Begriff der »Intra-Aktion«, den Barad auch im Rückgriff auf Haraway ausarbeitet (vgl. Haraway 1992, 300; Haraway 1997, 273; Barad 2007, 71), erfordert jedoch eine weitere Modifikation, weil das Geschehen in den amorphen Zwischenräumen der Leere ein Ausdruck des »ko-konstitutiven« Zusammenwirkens. Der Bindestrich ist in diesem Zusammenhang kein angemessenes Interpunktionszeichen, weil er eine Dialektik von Einheit und Trennung nahelegt. Der Doppelpunkt ist demgegenüber – um hier erneut auf Agambens Kapitel zu Deleuzes »L’Immanence: une vie…« zurückzugreifen – »die Öffnung auf ein Anderes, das jedoch vollkommen immanent bleibt« (Agamben 1998, 87). Die Öffnung auf ein Anderes schließt auch die »Nicht-Beziehung« mit ein, und damit auch die Beziehung, »die sich von der Nicht-Beziehung ableitet« (ebd., 86). Mit dem Doppelpunkt wird ein offener Übergang auf ein (fremdes) Anderes hin zum Ausdruck gebracht. Im Folgenden werde ich Interpunktion und doppelte Artikulation begrifflich zusammenziehen, um Transformationen und Überlagerungen auch sprachlich Rechnung tragen zu können. Dadurch können die umständlichen Formulierungen, die weiter oben im Zusammenhang der Farbüberlagerungen in Abbildung 38a-c verwendet werden, vermieden werden. Doppelte Artikulation kann auf diese Weise unmittelbar

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zum Ausdruck gebracht werden: Intra:ferenz, Intra:aktion, Körper:einheit und Ko:konstitution.

… materialisieren … Im Juni 1974 – also ein halbes Jahr nach den oben besprochenen Karten – haben Jean und Jaques Lin eine Serie von vier Karten (K 197-K 203; Abb. 39a-d) angefertigt, zu denen keine Fährtenlinienblätter vorliegen. Auf allen vier Karten ist ein Floß in der Form eines rechteckigen Objekts erkennbar. Das Rechteck, durch das ein mittiger, längerer Strich gezogen ist, liegt in den Karten 197, 199 und 201 (Abb. 39a-c) im mittleren oberen Teil der Karte. Auf der letzten Karte 203 (Abb. 39d) ist das Floß im linken oberen Teil eingezeichnet. Zentrales Element auf Karte 203 ist eine Anhäufung von fünf Kartenzeichen, die mit allen anderen Geschehnissen auf den Karten in Verbindung stehen. Die fünf Zeichen stechen hervor, weil sie auf hellem Hintergrund von grau schattierten Wegen und schwarzen Fährtenlinien umrandet werden. Während die drei vorhergehenden Karten sich Christophes Fährtenlinien widmen, werden hier die Fährten von Toche kartiert. Toches Fährten reichen deutlich näher an die Floßkonstruktion heran und beziehen auch die Steine mit ein, die hier mit Simulakrenzeichen versehen sind und auf allen vier Karten in einem Halbkreis um die Konstruktion liegen. Seine Wege führen in vielen Wiederholungen an den Steinen vorbei und haben einen Fokus in Form einer »schwarzen Blume« (fleur noir; D 2013a, 202) in der Mitte rechts. Daneben ist – wie auch auf Karte 197 (Abb. 39a) an dieser Stelle – ein Zeichen erkennbar, das einer kleinen Sonne ähnelt (nous commun, coutumier) und Intra:aktionsräume kennzeichnet. In der Floßkonstruktion auf der Karte ist gut erkennbar, dass Toches Tun:Agieren auf zehn Brettchen in Intra:aktionen mündet. Seine Fährten führen ihn außerdem zu den fünf Zeichen im Zentrum der Karte, von denen er drei umrundet. Das Halbfloßzeichen unten rechts, das kleine Floßzeichen und das Simulakrumzeichen werden von seiner Fährte umkreist. Die drei kurzen Bindestriche im oberen Zeichen markieren kleine Brettchen, die von den Sprachnahen verwendet werden. Eines der Brettchen ist in Ce gamin, là zu sehen. Auf dem Brettchen hinterlassen Sprachnahe Nachrichten für die anderen Sprachnahen in der Lebensfläche (vgl. Abb. 40). Die anderen Zeichen in der Ansammlung sind bereits aus vorhergehenden Abschnitten bekannt. Die Konzentration an zentraler Stelle auf der Karte 203 (Abb. 39d) wirft die Frage auf, was dort vorgefallen ist und mit welchen Aktivitäten die Zeichen

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zum Ausdruck gebracht werden: Intra:ferenz, Intra:aktion, Körper:einheit und Ko:konstitution.

… materialisieren … Im Juni 1974 – also ein halbes Jahr nach den oben besprochenen Karten – haben Jean und Jaques Lin eine Serie von vier Karten (K 197-K 203; Abb. 39a-d) angefertigt, zu denen keine Fährtenlinienblätter vorliegen. Auf allen vier Karten ist ein Floß in der Form eines rechteckigen Objekts erkennbar. Das Rechteck, durch das ein mittiger, längerer Strich gezogen ist, liegt in den Karten 197, 199 und 201 (Abb. 39a-c) im mittleren oberen Teil der Karte. Auf der letzten Karte 203 (Abb. 39d) ist das Floß im linken oberen Teil eingezeichnet. Zentrales Element auf Karte 203 ist eine Anhäufung von fünf Kartenzeichen, die mit allen anderen Geschehnissen auf den Karten in Verbindung stehen. Die fünf Zeichen stechen hervor, weil sie auf hellem Hintergrund von grau schattierten Wegen und schwarzen Fährtenlinien umrandet werden. Während die drei vorhergehenden Karten sich Christophes Fährtenlinien widmen, werden hier die Fährten von Toche kartiert. Toches Fährten reichen deutlich näher an die Floßkonstruktion heran und beziehen auch die Steine mit ein, die hier mit Simulakrenzeichen versehen sind und auf allen vier Karten in einem Halbkreis um die Konstruktion liegen. Seine Wege führen in vielen Wiederholungen an den Steinen vorbei und haben einen Fokus in Form einer »schwarzen Blume« (fleur noir; D 2013a, 202) in der Mitte rechts. Daneben ist – wie auch auf Karte 197 (Abb. 39a) an dieser Stelle – ein Zeichen erkennbar, das einer kleinen Sonne ähnelt (nous commun, coutumier) und Intra:aktionsräume kennzeichnet. In der Floßkonstruktion auf der Karte ist gut erkennbar, dass Toches Tun:Agieren auf zehn Brettchen in Intra:aktionen mündet. Seine Fährten führen ihn außerdem zu den fünf Zeichen im Zentrum der Karte, von denen er drei umrundet. Das Halbfloßzeichen unten rechts, das kleine Floßzeichen und das Simulakrumzeichen werden von seiner Fährte umkreist. Die drei kurzen Bindestriche im oberen Zeichen markieren kleine Brettchen, die von den Sprachnahen verwendet werden. Eines der Brettchen ist in Ce gamin, là zu sehen. Auf dem Brettchen hinterlassen Sprachnahe Nachrichten für die anderen Sprachnahen in der Lebensfläche (vgl. Abb. 40). Die anderen Zeichen in der Ansammlung sind bereits aus vorhergehenden Abschnitten bekannt. Die Konzentration an zentraler Stelle auf der Karte 203 (Abb. 39d) wirft die Frage auf, was dort vorgefallen ist und mit welchen Aktivitäten die Zeichen

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Abb. 39a: K 197

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Abb. 39b: K 199

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Abb. 39c: K 201

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Abb. 39d: K 203

in Verbindung stehen. Der Kommentar der Herausgeberin Alvarez de Toledo zu K 203 trägt nicht zur Aufklärung bei, sondern irritiert vielmehr. Im Begleittext wird festgehalten, dass im Zentrum von Karte 203 das »most abstract graphic vocabulary of the research« (D 2013a, 202) zu sehen ist. Es ist ein Abstraktionsgrad, auf den die Kartograf:innen im Band nach

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Abb. 40: Brettchen »Nous somme dans le pré« (D 2007d, 1:06:22)

1974 nicht mehr zurückgreifen werden. Die Vielfalt und Komplexität der Kartenzeichen haben gegenüber dem bisherigen Einsatz einen Höhepunkt erlangt, der bis zum Ende der kartografischen Praxis nicht mehr überschritten wird. In den folgenden Jahren wird nur noch auf diese Zeichen zurückgegriffen und es kommen (zumindest im Kartenband) keine neuen hinzu. Zu diesen fünf Zeichen hält die Herausgeberin weiter fest: »their positioning on the map does not correspond to any geographical reality« (D 2013a, 202). In den beiden vorhergehenden Abschnitten »Eröffnen« und »Präfigurieren« wird gezeigt, dass alle Zeichen der kartografischen Praxis nicht auf geografische Orte verweisen, sondern auf die Ko:konstitution der Lebensfläche, die rhizomatische Netze ermöglichen. Die Herausgeberin hebt die Loslösung von einer geografischen Realität hier erneut hervor, um anzudeuten, dass die kartierten Ereignisse nicht auf eine repräsentative Logik zurückgreifen. Bereits zu Fährtenlinienblatt 83 (Abb. 41) hält sie im Kommentar fest: »These signs, placed in the middle of the tracing sheet [FLB], are not geographic: they write out an inventory of the physical and psychological components of the event, independent of its position in space.« (D 2013a, 82; Ergänzung von mir)

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Abb. 41: FlB 83

Die Karten erzeugen keine Kopie realer Geschehnisse der Lebensfläche. Ereignisse aus der Lebensfläche werden nicht einem bestimmten Ort zugewiesen, um bessere Lokalisationen vornehmen zu können. Die kartografische Praxis meidet – wie sich bisher gezeigt hat – die Transzendenz und operiert (vor-

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wiegend) in Modus der Immanenz und des Abzugs von Transzendenz. Es fragt sich dementsprechend, um was für eine Art der Loslösung es sich bei fünf Zeichen im Zentrum der Karte 203 handelt und ob dieses »most abstract graphic vocabulary of the research« in einem Widerspruch zu den Zielen der Praxis steht. Denn die Zeichengebung scheint hierarchische Trennlinien zwischen den Kartenzeichen zu etablieren und zu einer Loslösung der Praxis aus ko:konstitutionellen Zusammenhängen zu führen. Deligny verweist in seiner Arbeit Seinsspuren und Schattengemäuer (D 2014) 1983 – also mehrere Jahre nachdem keine Karten mehr angefertigt wurden – auf folgendes Problem: »Immer wieder habe ich gesagt, dass die Karten erst dann eine vom Sprachgebrauch differente Praxis werden könnten, wenn auch die noch geringste Erinnerung an Einen, an einen Solchen verschwindet, der diesen oder jenen Weg durchlief, der in Fährtenlinien überschrieben wurde. Nichts ändert diese Tatsache an dem Sachverhalt, eher bewirkt sie das Gegenteil, dass ein Solcher irgendwer ist. Irgendwer ist schnell gesagt, und bedeutet doch nichts anderes als irgendein Individuum, um das es geht, und sei es anonym. Es handelt sich dabei um einen Gesichtspunkt, welcher der unsrige ist. Der Umstand, dass dieser Eine irgendwer wird, mindert ganz und gar nicht die Tatsache, dass der Eine vom Gemeinschaftlichen verschieden ist. Diese ganz schlichte Evidenz widersteht allem, was sich sagen lässt. Im Übergang von dem, was ich unseren Gesichtspunkt genannt habe, zum Sehpunkt, von dem ich sagte, dass er allen Kindern, die keinen Sprachgebrauch haben, gemeinsam ist, befruchtete ich diesen Sehpunkt mit unserem Gesichtspunkt.« (Ebd., 25) Sehpunkte sind fortwährend bedroht davon, durch Gesichtspunkte überlagert zu werden. Die fünf Zeichen im Zentrum von Karte 203 können als ein Warnsignal dafür verstanden werden, dass sich sprachnahe Gesichtspunkte einschleichen, nachdem sie mühsam abgebaut wurden. Auf der Karte werden Anzeichen sichtbar, die auf eine Verlagerung hin zu einem Modus der Repräsentation deuten. Deligny führt weiter aus: »Alle waren wir uns dieses fehlerhaften Verfahrens bewusst, ohne indessen fähig zu sein, uns die Worte, welche auch immer, vom Hals zu schaffen, von denen wir auf jeden Fall Gebrauch machen mussten. Das galt auch für den Fall, dass wir uns völlig neue Worte schufen; Worte, die ihre Wurzeln an der Wand hatten, soll heißen, auf den Karten. Die Praxis geriet ins Stocken; je-

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de gezogene Spur war sogleich überladen mit dem ganzen Gewicht dessen, was wir schon vorher wahrgenommen hatten. Dies wird umso besser verständlich, als unsere Gesten – das Wort Gesten in weiterer Bedeutung, die all das benennt, was agiert werden kann – durch den Schatten des Vortages und des Vorvortages belegt waren, durch das, was wir das Gemeinschaftliche nannten.« (Ebd., 25f.) Der Fehler der kartografischen Praxis liegt für Deligny darin, dass sie notgedrungen eine neue Logik der Repräsentation konstituiert. Die kollaborative Praxis erzeugt ihre eigene wirkmächtige Kartenzeichen-Bildsprache, die vor allem für die Sprachnahen ein »Gewicht des Schattens« mit sich bringt, das sie regelrecht »verrückt gemacht« (ebd.) hat. Die täglichen immer wieder ausgeführten Gesten führten zu einer Art »Versklavung« (ebd.) in Routinen. Deligny beschreibt die Strapazen des nomadischen Versuchs und des entbehrungsreichen Gemeinschaftslebens in drastischen Worten. Die Routinen und die einhergehende Ermüdung seien sicherlich noch erträglich gewesen, schreibt er weiter, aber der Zweifel überschattete den gesamten Versuch. Der Abstraktionsgrad der fünf Zeichen führt scheinbar in eine Sackgasse, weil er eine Zementierung und dadurch Verkürzung der Ko:konstitution mit sich bringt. Intra:aktion und Intra:ferenz werden um ihre aktiven Materialisierungsprozesse gebracht und auf kartografische Zuschreibungen verkürzt. Ist dadurch das ganze Verfahren zum Scheitern verurteilt? Auch an anderer Stelle bestätigt Deligny Fehler in der Praxis, die schlicht in Kauf genommen werden müssen und hebt zugleich hervor: »Selbst irrend, bleiben die Karten zweifellos notwendig« (ebd., 53). Die These meiner Arbeit ist jedoch, dass nicht die Praxis fehlerhaft ist, sondern dass ein sprachnahes Denken immer wieder die Nähe zur Logik der Repräsentation sucht. Repräsentative Trennlinien haben auch zu dem geführt, was sich begrifflich unter dem Stichwort der »Krise der Repräsentation« (vgl. Behnke 2017) erst im Lauf des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat; bspw. in Lukács Die Theorie des Romans oder auch in Foucaults Die Ordnung der Dinge. Die Krise der Repräsentation ist kein Mangel adäquater Erkenntnistheorie, sondern der Verlust einer Allgemeingültigkeit von Erkenntnissen, die ausschließlich über Repräsentationssysteme gewonnen werden. Die Trennungslinien, die ein solches Denken zieht, unterstehen einem Transzendenzprinzip. Das Regelwerk der Logik der Repräsentation besagt, dass die Repräsentation von demjenigen getrennt werden muss, was von ihm betroffen ist – was zu repräsentieren ist –, und zwar so, als ob es eine isolierbare Wirklich-

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keit geben würde, mit der eine strikte Trennlinie zwischen Sinn und Sinnlichem (Subjekt|Objekt, Geist|Körper, …) gezogen werden könnte. Die Logik setzt dadurch ein verwaltbares und kategorisierbares repräsentationales System als Ordnungsschema voraus, das unabhängig von demjenigen besteht, was verwaltet und kategorisiert wird. Der Abstraktionsgrad der fünf Zeichen auf Karte 203 macht sichtbar, dass ein Regelwerk den Fokus der kartografischen Praxis scheinbar in die falsche Richtung lenkt, denn die Praxis orientiert sich an einem Immanenzprinzip (vgl. auch Agamben 1998, 110ff.). Die Karten bleiben für Deligny auch deshalb notwendig, weil sich auf ihnen zeigt, wann eine ›falsche‹ Richtung eingeschlagen wird. Er hält dazu abschließend fest: »Spurenziehen das, was wir Karten genannt haben – und sei es nur das Wort, das uns dahin geführt hat, Karten zu erstellen, statt Spuren zu ziehen – ist, so scheint mir, agieren. Spurenziehen fiel uns wie ein Reflex auf den schwierigsten Moment unseres Vorgehens zu. Was sollten wir, was konnten wir tun angesichts der manifesten Verwirrung der Kinder, dort. Gewiss ist, dass darauf Spurenziehen keine Antwort war. Es ist der Rückgriff auf die Wand, der es erlaubt, sich die Maskeraden zu ersparen, Indifferenz zur Schau zu stellen (mimer). Dies scheint mir die einzige Art und Weise zu sein, zu achten, was das bedeuten kann, zu sein (ce qu’il peut en être d’être).« (Ebd., 59) Das Spurenziehen kann demnach keine repräsentative Antwort sein, weil es ein ko:konstitutives Tun:Agieren ist, das die Logik der Repräsentation durch die ästhetischen Modi der Unbestimmtheit ergänzt und ein Wechselspiel aus Repräsentation und Abbau von Repräsentation initiiert. Repräsentationslogische Wissensproduktion und ästhetische Modi des Sprachabbaus (Dissens) bilden ein relationales Gefüge aus Wechselwirkungen. Eine Vereinseitigung würde das Wechselspiel zum Erliegen bringen. In einer repräsentationslogischen Vereinseitigung würde die Gefahr bestehen, dass mit der kartografischen Praxis ein transzendentes Zeichensystem etabliert wird, das die Lebensfläche und das Tun:Agieren einer bestimmten Ordnung unterwirft. Eine a-repräsentative Vereinseitigung würde (für Sprachnahe) die Gefahr mit sich bringen, dass die kartografische Praxis in einer sprachfernen Leere verloren geht. Das hätte zur Folge, dass die Praxis in eine rein künstlerische oder auch ästhetisierte Praxis überführt werden würde. Dadurch würde sich ihr Fokus von der Ko:konstitution der Lebensfläche zur künstlerischen Forschung an den Grenzen sprachnaher Wahrnehmungsweisen verschieben. Der Modus

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der kartografischen Praxis ist jedoch das ›Weder-noch‹, denn durch die Praxis wird ein Wechselspiel initiiert, das in einer Ausdrucksordnung Wirkmacht entfaltet, die von der Lebensgemeinschaft verifiziert wird. Die Floßkonstruktion ist ein Teil dieser Verifikation. Jacques Lin und sein Bruder bauten die Floßkonstruktion aus Holzbrettern, Regalteilen und weiteren Materialien (vgl. Abb. 33c-e). Sie misst 2,50 Meter in der Breite, 2 Meter in der Höhe, wurde an Drähten aufgehängt und ist auf allen vier Karten zu sehen. Die Konstruktion ist ausgehend vom Floßzeichen auf Blatt 141 (Abb. 34e) gebaut worden und hat die weitere Genese des Kartenzeichens (#) beeinflusst. Die auf Karte 203 eingezeichnete Floßkonstruktion und die Floßzeichen sind Belege dafür, dass das Gewohnheitliche (coutumiere, nous, nous commun) materialisiert und als Bestandteil der Lebensgemeinschaft verifiziert wurde. Die Materialisierung des Gewohnheitlichen wird von dem Kartografen mit einem Zeichen versehen, auf das in dem Begleittext der vier Karten jedoch kaum Bezug genommen wird. Es ist das kleine Sonnenzeichen, das aus einem Kreis und vier Strichen besteht und auf allen vier Karten 197-203 auf der rechten Seite erkennbar ist. Das Zeichen ist älter als das Floßzeichen und begleitet die Genese des Floßes von Beginn an. Es ist in Fährtenlinienblatt 141 als kleine, grüne Sonne unterhalb des Floßzeichens erkennbar. Auf allen vier Karten 197-203 ist die Sonne im rechten Teil der Karte zu sehen. Sie ist in weiß auf grauen Flächen eingeritzt worden und auf der letzten Karte 203 in grau hervorgehoben und vergrößert worden. Das Zeichen steht für die Lebensgemeinschaft unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen. Es organisiert die Lebensfläche ko:konstitutiv und verleiht ihr eine Einheit ohne sie einheitlich zu strukturieren. Dass das Zeichen nicht zu den fünf anderen Zeichen auf Karte 203 hinzugefügt wurde, ist dementsprechend erstaunlich. Ich gehe davon aus, dass das Sonnenzeichen in einer Spannung zu den Aussagen von Deligny steht, der der Meinung ist, dass Fehler im Verfahren der kartografischen Praxis vorliegen würden und dass die Karten irren würden (und trotzdem notwendig seien). Das Zeichen steht dadurch auch in einer Spannung zu den fünf Zeichen auf Karte 203, dem »most abstract graphic vocabulary of the research« (D 2013a, 202). Die Spannung besteht darin, dass die ko:konstitutive Lebendigkeit des Gewohnheitlichen ihrer ›Methodisierung‹ – und damit ihrem Stillstand – gegenübersteht. Wie mit dieser Spannung – von der auch meine Arbeit betroffen ist – umgehen?

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Rekurs: Die Lebendigkeit a-repräsentativer Anordnungen Toche hat drei Objekte bei sich … Lin hat die drei Objekte auf Karte 203 in einem Halbfloß auf der Horizontalen kartiert, d.h. dem Y. Das Halbfloß gehört zu der Gruppe der fünf Kartenzeichen, die laut Begleittext keine Entsprechung zu einer geografischen Realität haben: »not correspond to any geographical reality« (ebd.). In der Intra:ferenz (Y) auf den Karten macht die Aussage »Correspond to, correspond à« jedoch kaum Sinn, weil es nichts zu ›entsprechen‹ gibt. Die drei Objekte (…) stehen in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer weiteren Intra:ferenz (Halbfloß), einer Intra:aktion (#), einem Simulakrum (^^^) und den kleinen Planken (—), »planchettes« (D 2013a, 196), der Floßkonstruktion. Obwohl die Zeichen auf keinerlei geographische Realität Bezug nehmen, sind sie von den grau schattierten Wegen des Gewohnheitlichen umrundet, die die kartierte Lebensfläche durchziehen. Das bedeutet, dass die Anhäufung der fünf Zeichen Ereignisse markiert, die keinem bestimmten oder bestimmbaren Ort in der Lebensfläche angehören. Die Zeichen markieren lediglich, dass zwischen dem Tun, dem Agieren und der Floßkonstruktion die Wege des Gewohnheitlichen Verbindungen aufspannen. Die Verbindungen (^^^) (#) (—)(…) … bilden eine Filzstruktur, d.h. eine nicht-homogen Struktur, die in erster Linie dem Abbau von sprachlicher Repräsentation (Sprachnähe) dient. Die Spannung besteht darin, dass die fünf Zeichen – vereinfacht ausgedrückt – ›Nicht-repräsentierbares‹ repräsentieren und dadurch für die sprachnahe Seins- und Wahrnehmungsweise die Wege des Gewohnheitlichen eröffnen. Die Repräsentation des Sprachabbaus ist eine (mimetische) Annäherung an den Asymbolismus der sprachfernen Seins- und Wahrnehmungsweise. Die Spannung, die Deligny in den Gesten und dem Tun:Agieren des kleinen autistischen Mädchens A. erkennt, wiederholt sich in der Kartografie: »A.‹s gestures become highly – and purely – symbolic, while within her acting there is not an ounce of symbolism« (D 2015, 60). Während die Gesten für die Sprachnahen die Fülle einer rein symbolischen Liturgie mit sich bringen, gleicht das Tun:Agieren von A. den (a-symbolischen) Bewegungen einer Maschine. Die Spannung zwischen symbolischer Fülle und maschinischer Leere bleibt auch zwischen der Topografie des Sinnlichen, die sich der Liturgie der Fülle nur über die Paradoxie nähern kann, und den Formen der maschinischen Topologie erhalten. Die sprachferne Annäherung an den Überschuss der Gesten und die Leere des Tuns wird durch Kartenzeichen möglich, die Überschuss und Leere auch repräsentieren können. Die Repräsentation muss sich jedoch

Das Floß

dem Sprachabbau widmen, d.h. sie muss sich gegen sich selbst wenden, um maschinischen Topologien in einer Topografie des Sinnlichen Ausdruck zu verleihen können. Die Spannung ist dementsprechend nicht auflösbar, sie führt aber auch nicht in eine Aporie. Die Fehler und Irrtümer, von denen Deligny – und aus einer anderen Perspektive auch Hörster – spricht, können nur um die Preisgabe der Errungenschaften der Lebensfläche und der Wege des Gewohnheitlichen konstatiert werden. Das heißt, die kartografische Praxis ist nicht mit oder trotz ihrer Irrtümer und Fehler notwendig, sondern sie ist notwendig, weil sie die unauflösbare Spannung ko:konstitutiv aufrechterhalten kann. Die Materialisierung des Gewohnheitlichen in der Lebensfläche ist eben die Aufrechterhaltung der Spannung und wird mit dem kleinen Sonnenzeichen kartiert. Das Zeichen begleitet die Konstitution des Floßes und des Floßzeichens und kann als ein Wegbereiter der Konstitution verstanden werden. Die Transformation des Sonnenzeichens auf den vier Karten (Abb. 39a-d) ist ein Beleg hierfür. Auf der Floßvorrichtung hängen viele kleine Brettchen (planchettes) an Seilen, die waagerecht auf die Vorrichtung gespannt sind. Die Karten 201 und 203 (Abb. 39c, 39d) heben in der kartierten Floßvorrichtung die einzelnen Brettchen hervor. Jedes der kleinen Brettchen verfügt über ein eingeritztes Zeichen für eine ihm zugeordnete Tätigkeit in der Lebensfläche. In einem Halbkreis um das Floß befinden sich auf allen vier Karten größere Steine, auf denen die Objekte abgelegt werden, die für die jeweils zugehörigen Arbeiten benötigt werden. Einem Tun:Agieren sind ein oder auch mehrere Objekte und, korrespondierend dazu, ein kleines Brettchen zugeordnet. Auf den Steinen auf Karte 201 und 203 sind Simulakrenzeichen (^^^) erkennbar und auf Karte 203 sind auch kleine Striche über den Simulakren kartiert worden, die laut Begleittext die Anzahl der Kinder kennzeichnen, die auf die Simulakren reagieren. Bevor mit einer Arbeit begonnen werden kann, müssen zuerst das Brettchen aus der Floßvorrichtung geholt und die zugehörigen Objekte vom Stein mitgenommen werden, um die Teile zu dem Platz in der Lebensfläche zu bringen, an dem die Arbeit verrichtet werden soll. Nach dem Beenden der Arbeit muss alles wieder an seinen Platz gebracht werden. Die Brettchen mit den eingeritzten Zeichen dienen dazu, zu erkennen, was an welchen Platz gehört, was vergessen wurde und was noch fehlt. Die Floßkonstruktion trägt dazu bei, Intra:ferenzen in den Alltag der Sprachnahen und Sprachfernen zu integrieren und dadurch Wege des Gewohnheitlichen zu eröffnen, die in der

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Folge weitere Intra:aktionen und Netze ermöglichen. Karte 203 zeigt, dass die kartierte Floßkonstruktion zentraler Bestandteil des Wegenetzes der Lebensfläche ist. Rechts am Rand der Karten 197, 199 und 201 ist die kleine eingeritzte Sonne in weiß auf grauem Hintergrund erkennbar. Zu ihrer Bedeutung findet sich im Begleittext kein Vermerk. Das Zeichen wir aber in vorausgehenden Begleittexten zu der bereits vorgestellten Fährtenlinienblattserie als »green sign of the Us« (D 2013a, 154) und in früheren Karten als »the sign of the common Us (green sun)« (ebd., 88, 92, 100, 107, 120, 170) ausgewiesen. Es ist auch auf Fährtenlinienblatt 141 (Abb. 34e) unterhalb des Floßzeichens in grün erkennbar. Die Vorform des Zeichens ist ein »N«, das auf drei Töpfen und einem Teller auf Karte 69 (Abb. 35) für »common Us« (nous/nous commun) kartiert wurde (ebd., 68). Das Sonnenzeichen auf Karte 203 unterscheidet sich von den früheren Zeichen, weil es nicht mehr grün ist und weil es nicht wie auf den Karten 197, 199 und 201 von einer grauen Fläche umgeben ist beziehungsweise nicht wie das Tun:Agieren auf die graue Fläche der Brettchen eingeritzt wurde. Mit dem grünen Sonnenzeichen wird das Ereignis der Materialisierung des Gewohnheitlichen kartiert. Das Zeichen markiert somit den Ort auf der Karte, an dem das Gewohnheitliche (nous commun) für Kartograf:innen wahrnehmbar geworden ist. Auf Karte 203 fehlt dem Zeichen sowohl die Farbe als auch die graue Fläche der Brettchen. Das Zeichen markiert dadurch weder ein anderes bestimmtes kartografisches Ereignis, wie beispielsweise die Konstitution des Floßzeichens auf dem Fährtenlinienblatt 141 oder das Zusammentreffen (N) von Sprachnahen und Sprachfernen an der Feuerstelle auf Karte 69, noch ist es an die Wege der Sprachnahen gebunden, wie beispielsweise auf den Karten 197, 199 und 201, wo es in weiß auf graue Flächen eingeritzt wurde, wie alle Bewegungen der Sprachnahen. Seine Farbdichte und Linienstärke entspricht der des Floßvorrichtungszeichens und der der fünf Zeichen in der Mitte der Karte. Das Gewohnheitliche erhält auf Karte 203 den Rang einer Aktivität, die ko:konstitutiven Einfluss auf die Lebensfläche nimmt. Dadurch ist das Gewohnheitliche nicht mehr nur ein kartierbares Ergebnis von Intra:ferenz und Intra:aktion, sondern selbst ein materialisierter Ausdruck ko:konstitutiver Aktivität. Der Ausdruck ist Zeichen einer Verdopplung von kollaborativer Praxis im Alltag und seiner Wirkmacht, die wahrnehmbar geworden ist und auf die Praxis zurückwirkt. Das bedeutet, dass der Raum des Gemeinsamen nicht mehr eigens als eine ereignishafte Erscheinung (grün) hervorgehoben werden muss, weil er be-

Das Floß

reits Wirkmacht entfaltet. Zudem fällt das Gewohnheitliche nicht mehr in den Bereich des Tun:Agierens, wie auf den Brettchen von Karte 197 und 199, das von sprachnahen Kartograf:innen gesehen und aufrechterhalten wird. Das Gewohnheitliche befreit sich aus einem Identität|Differenz-Verhältnis und wird auf Karte 203 durch Intra:ferenzen und Intra:aktionen ko:konstituiert. Das Gewohnheitliche ist lebendig.

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Quellen

Siglen der Werke von Fernand Deligny D 2021 – Camérer. A propos d’images D 2018 – Correspondance des Cévennes, 1968-1996 D 2017 – Das Arachneische D 2016 – Die Umwege des Handelns oder die kleinste Gebärde D 2015 – The Arachnean and Other Texts D 2014 – Seinsspuren und Schattengemäuer – Pest oder Quecke D 2013a – [Kollektivarbeit] Cartes et lignes d’erre D 2013b – Eine einzigartige Ethnie D 2011 – Annäherungen an das Bild D 2008 – Briefe an einen Sozialarbeiter D 2007a – Œuvres D 2007b – Le cinema de Fernand Deligny D 2007c – Le cinema de Fernand Deligny, Le Moindre Geste, in: D 2007b D 2007d – Le cinema de Fernand Deligny – Ce gamin, là, in: D 2007b D 2002 – Irrlinien. Chronik eines Versuchs D 1984 – Provokateure des Glücks D 1980 – Ein Floß in den Bergen D 1960 – Graine de Crapule

Siglen für Karten (K) und Fährtenlinienblätter (FLB) aus Cartes et lignes d’erre (D 2013a) Deligny, Fernand [Kollektivarbeit] 2013a: Cartes et lignes d’erre. Trace du réseau de Fernand Deligny 1969-1979. Éditions L’Arachnéen. Paris

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Siglen für Karten (K) und Fährtenlinienblätter (FLB) aus Cartes et lignes d’erre (D 2013a) Deligny, Fernand [Kollektivarbeit] 2013a: Cartes et lignes d’erre. Trace du réseau de Fernand Deligny 1969-1979. Éditions L’Arachnéen. Paris

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  Alle Karten und Fährtenlinienblätter werden mit der Seitenanzahl des Kartenbandes und der Abkürzung K für Karte und FLB für Fährtenlinienblatt angegeben. K 17 ist beispielsweise eine Grundkarte, zu der die FLB 19, 21 gehören (D 2013a, 17, 19, 21). K17 und die beiden FLB 19, 21 bilden eine abgeschlossene Serie, die in diesem Beispiel von Jaques Lin im Juni 1969 kartiert wurde. Da jeder Karte und jedem Fährtenlinienblatt jeweils eine Kommentarseite in dem Band gewidmet ist, ergibt sich die unterbrochene Nummerierung der Serien (17, 19, 21).

Film Deligny, Fernand 2007b: Le cinema de Fernand Deligny. DVD-Box. Paris. Edition Montparnasse Deligny, Fernand 2007c: Le Moindre Geste. In: Le cinema de Fernand Deligny. DVD-Box. Paris. Edition Montparnasse Deligny, Fernand 2007d: Ce gamin, là. In: Le cinema de Fernand Deligny. DVD-Box. Paris. Edition Montparnasse

Literatur Adorno, Theodor W. 2003: Zur Theorie der geistigen Erfahrung. In: Adorno, Theodor W.: Vorlesung über Negative Dialektik. Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen, Band 16. Suhrkamp. Frankfurt a.M., S. 227262 Adorno, Theodor W. 1982: Negative Dialektik. Suhrkamp. Frankfurt a.M. Agamben, Giorgio 1998: Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz. Merve. Berlin Alkemeyer, Thomas; Buschmann, Nikolaus; Michaeler, Matthias 2015: Kritik der Praxis. Plädoyer für eine subjektivierungstheoretische Erweiterung der Praxistheorie. In: Alkemeyer, Thomas; Schürmann, Volker; Volbers, Jörg (Hg.): Praxis denken. Konzepte und Kritik. Springer VS. Wiesbaden. S. 25-50 Alkemeyer, Thomas; Schürmann, Volker; Volbers, Jörg 2015 (Hg.): Praxis denken. Konzepte und Kritik. Springer VS. Wiesbaden.

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  Alle Karten und Fährtenlinienblätter werden mit der Seitenanzahl des Kartenbandes und der Abkürzung K für Karte und FLB für Fährtenlinienblatt angegeben. K 17 ist beispielsweise eine Grundkarte, zu der die FLB 19, 21 gehören (D 2013a, 17, 19, 21). K17 und die beiden FLB 19, 21 bilden eine abgeschlossene Serie, die in diesem Beispiel von Jaques Lin im Juni 1969 kartiert wurde. Da jeder Karte und jedem Fährtenlinienblatt jeweils eine Kommentarseite in dem Band gewidmet ist, ergibt sich die unterbrochene Nummerierung der Serien (17, 19, 21).

Film Deligny, Fernand 2007b: Le cinema de Fernand Deligny. DVD-Box. Paris. Edition Montparnasse Deligny, Fernand 2007c: Le Moindre Geste. In: Le cinema de Fernand Deligny. DVD-Box. Paris. Edition Montparnasse Deligny, Fernand 2007d: Ce gamin, là. In: Le cinema de Fernand Deligny. DVD-Box. Paris. Edition Montparnasse

Literatur Adorno, Theodor W. 2003: Zur Theorie der geistigen Erfahrung. In: Adorno, Theodor W.: Vorlesung über Negative Dialektik. Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen, Band 16. Suhrkamp. Frankfurt a.M., S. 227262 Adorno, Theodor W. 1982: Negative Dialektik. Suhrkamp. Frankfurt a.M. Agamben, Giorgio 1998: Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz. Merve. Berlin Alkemeyer, Thomas; Buschmann, Nikolaus; Michaeler, Matthias 2015: Kritik der Praxis. Plädoyer für eine subjektivierungstheoretische Erweiterung der Praxistheorie. In: Alkemeyer, Thomas; Schürmann, Volker; Volbers, Jörg (Hg.): Praxis denken. Konzepte und Kritik. Springer VS. Wiesbaden. S. 25-50 Alkemeyer, Thomas; Schürmann, Volker; Volbers, Jörg 2015 (Hg.): Praxis denken. Konzepte und Kritik. Springer VS. Wiesbaden.

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  Alle Karten und Fährtenlinienblätter werden mit der Seitenanzahl des Kartenbandes und der Abkürzung K für Karte und FLB für Fährtenlinienblatt angegeben. K 17 ist beispielsweise eine Grundkarte, zu der die FLB 19, 21 gehören (D 2013a, 17, 19, 21). K17 und die beiden FLB 19, 21 bilden eine abgeschlossene Serie, die in diesem Beispiel von Jaques Lin im Juni 1969 kartiert wurde. Da jeder Karte und jedem Fährtenlinienblatt jeweils eine Kommentarseite in dem Band gewidmet ist, ergibt sich die unterbrochene Nummerierung der Serien (17, 19, 21).

Film Deligny, Fernand 2007b: Le cinema de Fernand Deligny. DVD-Box. Paris. Edition Montparnasse Deligny, Fernand 2007c: Le Moindre Geste. In: Le cinema de Fernand Deligny. DVD-Box. Paris. Edition Montparnasse Deligny, Fernand 2007d: Ce gamin, là. In: Le cinema de Fernand Deligny. DVD-Box. Paris. Edition Montparnasse

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Mapping von Positionalität, S. 26. Abb. 2: Abstrakte Map von Sozialen Welten in Arenen, S. 30. Abb. 3: Abstrakte Situations-Map: Ungeordnete Arbeitsversion, S. 31. Abb. 4: Delignys Hand, S. 69. Abb. 5: Klatschen, S. 77. Abb. 6: Maultrommel, S. 77. Abb. 7: Holzkeule, S. 78. Abb. 8: Eisenring, S. 78. Abb. 9: Holzkugel im Steinbett, S. 79. Abb. 10: Mädchen mit Händen am Mund, S. 80. Abb. 11: Janmari rollt die Holzkugel, S. 80. Abb. 12: Janmari und die Maschine, S. 106. Abb. 13: Boussole désuète, S. 110. Abb. 14a: Journal de Janmari, S. 113. Abb. 14b: Journal de Janmari, S. 114. Abb. 15: Ohne Werkbeschreibung: Ohne Titel (Endlosschriftschwünge, Studie zu 7 Tafeln, II), 1972, S. 115. Abb. 16: Quartet 88, 1988, S. 116. Abb. 17: Figur 2, Acting and the Acted, S. 118. Abb. 18: Janmari knetet Brotteig, S. 130. Abb. 19: Mädchen schüttet Eimer aus, S. 131. Abb. 20: Janmari an der Staffelei, S. 134. Abb. 21: FlB 55, S. 143. Abb. 22: Janmari reinigt ein Sägeblatt mit einem sprachnahen Erwachsenen, S. 145. Abb. 23a: Annäherungen bei der Holzarbeit, S. 165. Abb. 23b: Annäherungen bei der Holzarbeit, S. 166. Abb. 24: Flöße in den Bergen, S. 170.

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Delignys andere Kartografie

Abb. 25: Flöße in den Bergen, Le Serré, S. 170. Abb. 26: Flöße in den Bergen, Le pont neuf, S. 171. Abb. 27: Flöße in den Bergen, Le palais, S. 173. Abb. 28: Flöße in den Bergen, Granies, S. 173. Abb. 29: Flöße in den Bergen, Les ajones, S. 174. Abb. 30a: K 233.1, S. 176. Abb. 30b: K 233.2, S. 177. Abb. 31: Gemeinsam kochen, S. 180. Abb. 32: Gemeinsam abwaschen, S. 180. Abb. 33a: Delignys Floß, S. 181. Abb. 33b: Les planches et les planchettes, S. 182. Abb. 33c: Perspektivische Aufnahme Floß, S. 183. Abb. 33d: Ausschnitt Floßkonstruktion, S. 184. Abb. 33e: Floßkonstruktion, S. 184. Abb. 34a: FlB 133, S. 192. Abb. 34b: FlB 135, S. 193. Abb. 34c: FlB 137, S. 194. Abb. 34d: FlB 139, S. 195. Abb. 34e: FlB 141, S. 196. Abb. 34f: FlB 143, S. 197. Abb. 35: K 69, S. 217. Abb. 36: K 65, S. 218. Abb. 37: K 23, S. 219. Abb. 38a: K 189, S. 223. Abb. 38b: K 191, S. 224. Abb. 38c: K 193, S. 225. Abb. 39a: K 197, S. 236. Abb. 39b: K 199, S. 237. Abb. 39c: K 201, S. 238. Abb. 39d: K 203, S. 239. Abb. 40: Brettchen »Nous somme dans le pré«, S. 240. Abb. 41: FlB 83, S. 241.

Glossar

Ausschmückungen, l’orné – Ausschmückungen sind gestische Bewegungen anomaler Körper:einheiten. Die Gesten der Anomale gehören keiner Ordnung an. Sie sind amorph. In einer Ausschmückung erhält die Amorphie der Bewegungen eine Gestalt, d.h. der Überschuss der Gesten erhält eine Form. Die Formen der Gesten, die Ausschmückungen, können von anderen Anomalen nachgeahmt (mimesis) werden. Nachahmungen führen zu Leergesten (vgl. Abb. 5-9). (siehe Leergesten)  Ausdrucksordnung – Eine Ausdrucksordnung bezeichnet eine Verbindung von Ursache, Wirkung und Ausdruck. Den Wirkungen einer Ursache wird in einer Ordnung Ausdruck verliehen. Der Ausdruck einer Wirkung besteht aus den mannigfaltigen Eigenschaften der Ursache und der Wirkung, die sich im Ausdruck fortwährend aktualisieren. Im Ausdruck wird dadurch die Wirkmacht der Ursache und der Wirkung sichtbar. Wirkung und Ausdruck sind doppelt artikuliert. Ein Beispiel für eine Ausdrucksordnung ist die Floßkonstruktion. Zu dieser Ordnung gehören das Gewohnheitliche (Ursache) und das Floßzeichen (Wirkung). Die Ausdrucksordnung der Floßkonstruktion (Ausdruck) entfaltet in der Lebensfläche Wirkmacht. Die Ausdrucksordnung der Floßkonstruktion hat für Sprachnahe eine (paradoxe) topografische Struktur und für Sprachferne eine (maschinische) topologische Form. (siehe Doppelte Artikulation, Floßkonstruktion, Floßzeichen, Lebensfläche)  Amorphie – siehe Ausschmückungen, Geste  Anomal – Ein Anomal ist ein Modus einer Seins- und Wahrnehmungsweise. Subjekt, ›Geist‹ oder die kognitive Realität sind ebenfalls Modi von Seinsund Wahrnehmungsweisen. Im Unterschied zu diesen gehört ein Anomal

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jedoch keiner imaginär symbolischen Ordnung an. Die Anormalität ist die Abweichung von einer Norm. Die Anomalie ist eine Abweichung als Abweichung. Als Abweichung bergen Anomale Potentialität. Anomale sind weder bestimmten Lebensformen zugehörig noch auf bestimmte Körper:einheiten beschränkt. (siehe Körper:einheit, Seins- und Wahrnehmungsweisen)  Agieren – Agieren ist nichtintentionales präreflexives Handeln, das sich aus Gesten zusammensetzt und das einem bewussten Tun gegenübersteht (vgl. Abb. 9, 10, 11, 14a, b). Agieren ist Ausdruck einer spezifischen Seinsund Wahrnehmungsweise. Dem Ausdruck wird in einer Körper:einheit Wirkmacht verliehen. (siehe Doppelte Artikulation, Geste, Körper:einheit)  Bindestrich, Doppelpunkt – siehe Doppelte Artikulation, Ko:konstitution  Doppelpunkt, Bindestrich – siehe Doppelte Artikulation, Ko:konstitution  Doppelte Artikulation – Die doppelte Artikulation ist ein prozessuales Modell der Bildung und Realisierung von Ausdrucksordnungen, das mit Differenz und Wiederholung operiert. Differenz und Wiederholung erzeugen einen Rhythmus, in dem Ordnung konstruiert und dekonstruiert wird. Die Konstruktion der Ausdrucksordnung erfolgt durch Wiederholung, die von immanenter Differenz begleitet wird. Die Dekonstruktion erfolgt durch die Differenz, die in Wiederholungen verschoben wird. Konstruktion und Dekonstruktion setzen sich wechselseitig voraus, was zur Folge hat, dass die Bildung und Realisierung der Ausdrucksordnung durch fortwährende Prozesse der Neu-anordnung gekennzeichnet ist. Die Neu-anordnungsprozesse führen zu stetigen Verschiebungen und Abweichungen. Der Bindestrich im Wort Neu-anordnung bringt die Prozessualität zwischen zwei sich wechselseitig voraussetzenden Ordnungsmerkmalen (Konstruktion und Dekonstruktion) zum Ausdruck. Der Bindestrich wird im Lauf der Arbeit durch den Doppelpunkt ersetzt. Der Prozess der Neu-anordnung ist nicht durch die dialektische Arbeit des Negativen gekennzeichnet, die (deterministisch und teleologisch) auf eine Konservierung des Ganzen in einer dialektischen Einheit hinausläuft, sondern dadurch, dass er einer Mannigfaltigkeit Ausdruck und Wirkmacht verleiht. (siehe Intra:aktion, Intra:ferenz, Ko:konstitution) 

Glossar

Fährtenlinie, lignes d’erre – Fährtenlinien sind nichtintentionale, präreflexive und singuläre Spuren anomaler Körper:einheiten, die kartiert werden können. Es sind die Linien sprachferner Fährten (erre). Sie unterscheiden sich von Irrwegen oder Irrlinien (errance), weil sie nicht in die Irre führen, sondern Abweichung als Abweichung produzieren. (siehe Anomal, Körper:einheit)  Filz, Verfilzung – Filzstrukturen entstehen in Netzen, die sich aus Intra:aktionen zusammenfügen. Intra:aktionen entstehen aus Intra:ferenzen von Sprachnahem und Sprachfernem. Filz hat eine ungeordnete Flächenstruktur und steht dem Gewebe gegenüber, das bspw. in der Webkunst durch eine geordnete Rasterung mit Kette und Schuss erzeugt wird. Die verschlungenen Fasern im Filz, die sich bspw. durch das Walken entstehen, sind nicht einheitlich fassbar, weil sie eine amorphe nicht-homogene Mikro-Struktur bilden. Verbindungen zwischen dem Sprachnahen und Sprachfernen, d.h. zwischen unterschiedlichen Seinsund Wahrnehmungsweisen, können treffender mit der Filzstruktur beschrieben werden (Intra:aktionen, Intra:ferenzen).  Floßkonstruktion – Die Floßkonstruktion ist eine zwei mal drei Meter große Holzvorrichtung, die von Jacques Lin und seinen Brüdern im Mai 1974 gebaut wurde und dazu diente, das Alltagsleben unterschiedlicher Seinsund Wahrnehmungsweisen zu strukturieren und ihm eine (von allen anwesenden Körper:einheiten) geteilte Ordnung in der Lebensfläche zuzuweisen (vgl. Abb. 33c, 33d, 33e). Die Floßvorrichtung gehört einer Ausdrucksordnung an. (siehe Ausdrucksordnung, Körper:einheit, Seinsund Wahrnehmungsweisen)  Floßzeichen, # – Das Floßzeichen ist ein Kartenzeichen der kartografischen Praxis des Kollektivs um Fernand Deligny (vgl. bspw. Abb. 34e, 39d). Es ist eine ko:konstituierte, lokale, mannigfaltige Manifestation anomaler Seins- und Wahrnehmungsweisen, die auf Kollaboration abzielt. Aus Intra:ferenzen unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen entstehen Verflechtungen (Y). Verflechtungen werden in Intra:aktionen zu einem Floß (#) verknotet. Mehrere Flöße können sich zu einem Netz zusammenfügen. Floßzeichen gehören einer Ausdrucksordnung an. (siehe

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Anomale, Ausdrucksordnung, Intra:aktion, Intra:ferenz, Ko:konstitution, Netz, Seins- und Wahrnehmungsweisen, Verflechtung, Verknotung)  Geste – Gesten sind Ausdruck einer Körper:einheit außerhalb einer symbolisch, imaginären Ordnung, außerhalb eines Zeichensystems, wie beispielsweise der Sprache. Gesten können sich zum Agieren eines Anomals aber auch zu einem sprachnahen, intentionalen Tun zusammenfügen. Agieren ist gestischer Ausdruck einer Körper:einheit. Leergesten (geste pour rien) sind sprachnah und mimetisch an das Agieren angelehnt. Nutzgesten gehören zum sprachnahen, intentionalen Tun. In gleichförmigen Alltagstätigkeiten, wie bspw. Kneten, Abwaschen, Fegen, können Agieren und Tun sich überlagern. Gesten sind grundlegend für Intra:ferenz und Intra:aktion. (siehe Agieren, Anomal, Intra:ferenz, Intra:aktion, Leergesten, Tun)  Gewebe – (siehe Filz)  Gewohnheitliches, coutumiere, nous, nous commun – Das Gewohnheitliche beschreibt die Art und Weise des Zusammenlebens unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen. Es organisiert die Lebensfläche des Kollektivs ko:konstitutiv und verleiht ihr eine Einheit ohne sie einheitlich zu strukturieren. Das Gewohnheitliche gehört einer Ausdrucksordnung an. Gewohnheitliches unterscheidet sich von Alltäglichem dadurch, dass es allein durch die Kollaboration unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen aufrechterhalten werden kann. Der Kollaboration geht eine sprachnahe Achtsamkeit für sprachferne Seins- und Wahrnehmungsweisen voraus. Die sprachnahe Achtsamkeit ist durch die Arbeiten Leo Kanner zum frühkindlichen Autismus geprägt. (siehe Ausdrucksordnung, Lebensfläche, Ko:konstitution, Seins- und Wahrnehmungsweisen)  Individuum – Deligny stellt das Individuum dem Subjekt gegenüber. Das Individuum ist für Deligny – anders als das Subjekt – keiner symbolischen Ordnung unterworfen. Es ist durch Unbestimmtheit gekennzeichnet und außerhalb von Intentionalität angesiedelt. Das Menschenbild verliert für Deligny im Individuum seine Konsistenz. Ich werde jedoch nicht auf den Begriff des Individuums zurückgreifen, weil er zu Missverständnissen führt. Stattdessen werde ich die Begriffe Körper:einheit und Anomal verwenden. Individuum und Individualisierung sind nach Foucault Er-

Glossar

gebnisse von Unterwerfung und Disziplinierung unter gesellschaftliche (imaginär, symbolische) Ordnungen. Die kartografische Praxis zielt nicht auf eine Individuierung dieser Art ab. (siehe Anomal, Körper:einheit)  Interaktion, Inter-Aktion, Intra-Aktion, interagieren, intra-agieren – (siehe Intra:aktion)  Interferenz, Inter-ferenz, Intra-ferenz, interferieren, intra-ferieren – (siehe Intra:ferenz)  Intra:aktion – Intra:aktion ist ein sinnlicher Ausdruck eines gemeinsamen Tuns und Agierens von Anomalen unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen, der durch die kartografische Praxis auf den Karten und in der Lebensfläche manifestiert wird. Die Manifestation entfaltet Wirkmacht. Der sinnliche Ausdruck einer Intra:aktion ist die Verknotung. Intra:aktionen sind ko:konstituiert. (siehe Intra:aktion, Ko:konstitution, Verknotung, Wand).  Intra:ferenz – Intra:ferenz ist ein sinnlicher Ausdruck von Gesten unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen, der durch die kartografische Praxis auf den Karten und in der Lebensfläche manifestiert wird. Die Manifestation entfaltet Wirkmacht. Ein sinnlicher Ausdruck ist eine Verflechtung (Y). Intra:ferenzen sind ko:konstituiert und können Intra:aktionen hervorrufen (siehe Intra:aktion, Ko:konstitution, Verflechtung, Wand).  (Körper-)Einheit – (siehe Körper:einheit)  Körper:einheit – Eine Körper:einheit besteht aus einem lebendigen Körper und der Wirkmacht dieses Körpers. Jede Körper:einheit besitzt eine singuläre Seins- und Wahrnehmungsweise. Ein Körper erhält seine Einheit durch die die doppelte Artikulation von Wirkung und Ausdruck. Der Ausdruck der Wirkmacht grenzt den Körper als einen lebenden Organismus von seiner Umgebung ab und verbindet ihn zugleich mit ihr. Die Körper:einheit eines sprachnahen Anomals ist durch einen menschlichen Körper und den Ausdruck der imaginär-symbolischen Ordnung (Sprache) bestimmt. Die Körper:einheit eines sprachfernen Anomals ist durch einen menschlichen Körper und den Ausdruck von

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Mannigfaltigkeit und Kontinuität (Agieren) bestimmt. Die Körper:einheit eines Bibers oder einer Termite sind beispielsweise unter anderem durch die Ausdrücke des Biberdamms und des Termitenhügels bestimmt (vgl. Kapitel »Das dritte Haus«). (siehe Doppelte Artikulation, Seins- und Wahrnehmungsweise).  Ko-Konstitution, ko-konstituieren – (siehe Ko:konstitution)  Ko:konstitution, ko:konstituieren – Die Ko:konstitution ist ein stetig aktiver Materialisierungsprozess einer Lebensfläche. Das Ergebnis einer Ko:konstitution ist ein Netz. Die Ko:konstitution bringt eine Verdopplung zum Ausdruck, die aus einer Aktivität (Ko) und der Materialisierung dieser Aktivität (Konstitution) besteht. Der Doppelpunkt (:) hat die Funktion, auf das doppelt artikuliert Verhältnis von Überlagerung und Transformation hinzuweisen (siehe Doppelte Artikulation, Lebensfläche, Netz).  Knoten – (siehe Verknotung)  Leergeste, geste pour rien – Leergesten sind sprachnahe Gesten, die weitgehend ohne Intention, Ziel und Zweck ausgeführt werden und von Deligny als ein Gegenpol zu intentionalen Nutzgesten verstanden werden. Die Abbildungen 5 bis 9 zeigen sprachnahe Erwachsene, die Leergesten ausführen. Leergesten sind eine (mimetische) Annäherung an die Sprachferne. Durch sie können Verbindungen zu den Bewegungsstereotypien ohne Ausdruckswert (Agieren) hergestellt werden. Während Nutzgesten jedes intentionale Tun begleiten, d.h. das gewohnheitliche Verrichten aller erforderlichen Tätigkeiten zur Aufrechterhaltung der Lebensfläche (vgl. Abb. 22, 23a, 23b, 31, 32), bauen Leergesten Sprachnähe ab und versuchen (soweit eben möglich), das Agieren zu begleiten oder auch zu initiieren. Leergesten ziehen durch den Abbau von Sprachnähe Verbindungslinien zwischen Tun und Agieren. (siehe Agieren, Gewohnheitliches, Lebensfläche, Nutzgesten, Tun)  Lebensfläche, aire de séjour, cerne, coutumier – Lebensflächen sind offene Raumfiguren des gemeinsamen Lebens von Sprachfernen und Sprachnahen. Die Flächen werden durch die kartografische Praxis aufgespannt. Die Linien von sprachnahen und sprachfernen Fährten

Glossar

und Spuren werden an der Wand gezogen. Dadurch wird eine topografische Struktur sprachferner und sprachnaher Bewegungsräume sichtbar, die topologischen Formen Ausdruck verleiht. Die Flächen sind ko:konstitutiver Ausdruck des gemeinsamen Lebens unterschiedlicher Seins- und Wahrnehmungsweisen. Die Lebensfläche wird durch das Gewohnheitliche (coutumier) organisiert. Die Lebensfläche ist begrenzt und offen zugleich; wie die Kringel, die Janmari unablässig zeichnet (vgl. Abb. 14a, 14b, 20). (siehe Gewohnheitliches, Ko:konstitution, Sprachferne, Sprachnahe, Wand)  Netz, réseau – Ein Netz ist eine territorial ausgedehnte Mannigfaltigkeit, die aus mehreren Lebensflächen besteht und ein Rhizom bildet (vgl. Abb. 24-29). Ein Netz hat eine Filzstruktur, die sich aus Intra:aktionen und Intra:ferenzen in der Lebensfläche zusammensetzt. Zander übersetzt réseau mit Geflecht. Hier wird, um Begriffsverwirrung zu vermeiden, der Begriff des Netzes verwendet. (siehe Filz, Intra:aktion, Intra:ferenz)  Repräsentation, Logik der Repräsentation – Eine Repräsentation ist ein (sprachnahes) Ordnungsschema, das das Verhältnis von Seins- und Wahrnehmungsweisen und deren Körper:einheit bestimmt. Die Einheit eines Körpers in einem Bild, d.h. in der Immaterialität außerhalb des Körpers, ist eine Repräsentation. Um die Einheit in einem Bild als Einheit erkennen zu können, ist – wie in Lacans Spiegelstadium – ein repräsentationales Ordnungsschema erforderlich, das zwischen Seinsund Wahrnehmungsweisen und der Körper:einheit eine Trennlinie zieht. Nachahmung (mimesis) ist erst aufgrund der Trennlinie zwischen Seins- und Wahrnehmungsweisen und der Körper:einheit möglich. Das Überschreiten der Trennlinie führt in die Sprachferne, in das Haus der Bilder, in dem es keine Trennlinien gibt. Die Trennlinie ist für die Logik der Repräsentation wesentlich. So werden bspw. mit der Trennung zwischen Sinn und Sinnlichem – um hier auf die Begriffe Rancières zurückzugreifen – die Seins- und Wahrnehmungsweisen einer Ordnung unterworfen, die die Sehweisen, die Tätigkeits- und Urteilsformen strukturiert. (siehe Körper:einheit, Sprachferne, Sprachnähe, Seins- und Wahrnehmungsweisen, Wand)  Rhizom – Ein Rhizom ist für Deleuze und Guattari ein Ordnungsstruktur, die durch inhärente Auflösung (in actu) bestimmt ist. Die Struktur besteht

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aus dem fortwährenden Abzug der Einheitlichkeit von Struktur. Sie ist der Abbau von einheitlichen Schemata. Ein Beispiel für ein Rhizom ist ein Wurzelgeflecht ohne Zentralwurzel, wie die Quecke. Ein Wurzelgeflecht wächst in alle Richtungen. Ein Schnitt durch ein Wurzelgeflecht zerstört nicht die Struktur der Pflanze, weil sie keine Hauptwurzel besitzt, kein Stamm vorhanden ist. Wurzelgeflechte wachsen nicht in eine Richtung und haben auch kein Zentrum. Sie wuchern.  Sehpunkte, Gesichtspunkte – Sehpunkte gehören der Sprachferne an, Gesichtspunkte der Sprachnähe. Sehpunkte kennzeichnen die Ordnung des Agierens einer anomalen Körper:einheit. Beispiel für ein Sehpunkt ist eine Filmkamera, die ohne sprachnahes Zutun (rein mechanisch) Bilder aufnimmt. Ein Gesichtspunkt ordnet hingegen den (bildlichen) Überschuss der Sehpunkte in sprachliche Ordnungen ein, d.h. als Bilder von etwas, als thetische Setzungen. Delignys operationaler Dualismus von Sehpunkten und Gesichtspunkten dient dazu, Intra:ferenz und Intra:aktion initiieren zu können. (siehe Anomal, Sprachnähe, Sprachferne, Intra:ferenz, Intra:aktion, Wand)  Seins- und Wahrnehmungsweisen – Seins- und Wahrnehmungsweisen sind qualitative Modalitäten der Existenz und der Erfahrung einer Körper:einheit. Eine Seinsweise ist ein Modus der Existenz, der die Form einer Körper:einheit bestimmt. Eine Wahrnehmungsweise ist ein Modus der Erfahrung, der die Wahrnehmung einer Körper:einheit bestimmt. Eine Körper:einheit ist Ausdruck einer Seins- und Wahrnehmungsweise, der Wirkmacht entfaltet. Die Seins- und Wahrnehmungsweise der Sprachnahen ist durch die symbolische Ordnung der Sprache bestimmt. Die Seins- und Wahrnehmungsweise eines sprachfernen Anomals ist durch Mannigfaltigkeit und Kontinuität bestimmt. Seins- und Wahrnehmungsweisen erfordern kein Subjekt, »Geist« oder kognitive Realität. Subjekt, »Geist« oder die kognitive Realität sind lediglich besondere Modi von Seins- und Wahrnehmungsweisen. Seins- und Wahrnehmungsweisen sind dadurch nicht an eine bestimmte Spezies gebunden oder einer bestimmten Lebensform zugehörig. (siehe Agieren, Anomal, Körper:einheit)  Sprachfern – Sprachferne ist eine Seins- und Wahrnehmungsweise, die nicht der symbolischen Ordnung der Sprache unterworfen ist. Sprachferne

Glossar

sind Anomale. Die Sprachferne leitet Deligny aus den Arbeiten von Leo Kanner ab, der in seiner Studie zum frühkindlichen Autismus von 1943, den autistischen Kindern ein primäres Bedürfnis nach Einsamkeit und Gleichförmigkeit bzw. Unwandelbarkeit diagnostiziert. Das Bedürfnis entstammt – in Übereinstimmung mit Hans Aspergers Arbeiten von 1944 – einem qualitativen Anderssein. Der Diagnose liegt die Norm der Sprachnähe zu Grunde. Deligny kehrt die Norm der Sprachnähe um und setzt die Sprachferne der autistischen Kinder als Maßstab für die Lebensgemeinschaft, um Annäherungen an deren (anomale) Seins- und Wahrnehmungsweise zu ermöglichen. Der operationale Dualismus von Sprachferne und Sprachnähe wirkt vermittelnd für die Annäherungen. (siehe Anomale, Seins- und Wahrnehmungsweise)  Sprachnah – Sprachnähe ist eine Seins- und Wahrnehmungsweise, die der symbolischen Ordnung der Sprache unterworfen ist. Individuierungs-, Identifikations- und Subjektivierungsprozesse erfordern Sprachnähe. Der Bruch mit der Ordnung der Sprache, d.h. auch der Abbau der Sprachnähe, ist auf das Anomale angewiesen. Sprachnahe sind insofern Anomale, als sie auf die Potentialität des Anomalen zurückgreifen können, was jedoch – verallgemeinert ausgedrückt – selten geschieht. Der Bruch mit der Sprachnähe ist – um auf Rancière zurückzugreifen – ein Dissens und führt zu Desindividuierungs-, Desidentifikationsund Desubjektivierungsprozessen, was wiederum eine grundlegende Neuanordnung der sprachnahen Seins- und Wahrnehmungsweisen zur Folge hat. Die Neuanordnungen von Seins- und Wahrnehmungsweisen, die die kartografische Praxis bzw. ihre Genese von Beginn an begleite, können in diesem Sinn als Emanzipations- bzw. Bildungsprozesse verstanden werden. (siehe Anomale, Seins- und Wahrnehmungsweise)  Tun, Tätigkeit – Das Tun bezeichnet das gewohnheitliche Verrichten aller erforderlichen Tätigkeiten zur Aufrechterhaltung der Lebensfläche. Das Tun ist intentional und zweckorientiert und steht dem Agieren der sprachfernen Anomale gegenüber. (siehe Agieren, Lebensfläche)  Überschuss – siehe Ausschmückungen  Verflechtung, Y, chevêtre – Eine Verflechtung ist ein Zusammentreffen von sprachfernen und sprachnahen Anomalen (vgl. 23a, 23b). Das Verflech-

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tungszeichen Y markiert eine lokale Ko:konstitution von sprachnahen und sprachfernen Gesten (vgl. Abb. 10, 11). Das Zeichen (Y) besteht aus zwei Balken, einem schrägen, horizontalen, langen Balken und einem kurzen, daran ansetzenden, schrägen Stichbalken. Der Stichbalken intra:feriert mit dem Wechsel und ist ein Zeichen für ununterscheidbare Seins- und Wahrnehmungsweisen. Die Balkenlage (Y) ist Zeichen einer Intra:ferenz. (siehe Anomale, Intra:ferenz, Ko:konstitution)  Verknotung, # – Eine Verknotung besteht aus unterschiedlichen Seins- und Wahrnehmungsweisen und markiert auf den Karten Intra:aktion (vgl. Abb. 18, 19, 20, 22, 31, 32). Sie ist auf die Ununterscheidbarkeit von Seinsund Wahrnehmungsweisen in Verflechtungen angewiesen. Die Verflechtung der Balken (Y) charakterisiert die Struktur der Verbindung auf den Karten. In den Verflechtungen intra:agieren ununterscheidbare Seinsund Wahrnehmungsweisen und bilden einen Knoten. Die Verknotung ist die Art und Weise, wie diese Verbindungen sichtbar werden. (siehe Floßzeichen, Verflechtung, Intra:aktion)  Wahrnehmungsweise – (siehe Seins- und Wahrnehmungsweise)  Wand, paroi, | – Die Wand ist ein materieller Träger, auf dem Fährtenlinien kartiert werden (Spurenziehen) (vgl. Abb. 4). Die Wand ist zugleich ein immaterieller, vermittelnder (medialer) Operator zwischen Sprachnähe und Sprachnähe. Sie ist mit einer weißen Leinwand, einem Lichtträger, in einem Kino vergleichbar. Die kartografische Praxis ist auf die Wand angewiesen, weil die Wand zum Abbau von Sprache beiträgt. Deligny stellt die Wand dem Spiegel gegenüber, weil sie keine ›Ich‹-Bildner-Funktion hat und sich einem einseitigen Gebrauch repräsentativer Logik entzieht. Die kartierten Fährtenlinien erhalten auf der Wand eine topografische Struktur. Durch topografische Strukturen werden a-repräsentative Formen wahrnehmbar. A-repräsentative Formen sind – im Anschluss an Lacans Arbeiten zu Knoten und Möbiusbändern – topologisch. Intra:aktion und Intra:ferenz sind topologische Formen, die durch die kartografische Praxis eine topografische Struktur (Filz, Netz, Verflechtung, Verknotung) an der Wand erhalten und dadurch Wirkmacht in einer Ausdrucksordnung entfalten, wodurch sie in der Lebensfläche eingebettet werden können. (siehe Ausdrucksordnung, Intra:aktion, Intra:ferenz, Repräsentation, Rhizom, Sprachnähe, Sprachferne)

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