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German Pages [343] Year 2022
Jakob Moser
Dädalische Zunge Lukrez als Übersetzer des Realen
V&R unipress Vienna University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. Dissertation Universität Wien © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Michael Ziegler, Linolschnitt 2012 (Irrgarten) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1437-3
Inhalt
Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
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21 21
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27 32
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39
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47 53
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57 66
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74 82
II. Deferre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ennius perennis: Poetisches Vor- und philosophisches Feindbild (1.102–134) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vates: Böse oder gute Propheten (Kalchas, Empedokles) . . . . . 3. Homeri species: Gespenstische Wiederkehr des toten Dichters . . 4. Simulacra: Physik der Phantasiebilder (4.30ff, 4.726ff, 4.757ff u. a.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Divinitus insinuare: Kritik der pythagoreischen Seelenwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
I. Inlustrare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Noctes serenae: Licht und Lust der Dichtung (1.136–145) . 2. Naturae species ratioque: Aufklärerische Metaphorik (1.146ff, 2.55ff u. a.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inlustrare: Geschichte und Rhetorik eines Verbs . . . . . . 4. Obscura reperta: Dunkle Prosa, lichte Verse (Heraklit, Empedokles) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Graius homo: Heroisierung und Anonymisierung Epikurs (1.62–79) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Vestigia: Hermeneutik der Spurenlese (1.398–409) . . . . 7. Simulacrum et imago: Analogie der Sonnenstäubchen (2.109–237) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Semina rerum: Übersetzung und Belebung der Atome . . 9. Natura daedala rerum: Venus als Verkörperung der Natur (1.1–25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Lepos: Aphrodisiakum der Worte (1.931–950) . . . . . . .
91 99 105 112 121
6
Inhalt
6. Natura animai: Übersetzbarkeit der Seele (gegen die Harmonie) (3.130–134) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Deferre: Ennius und der Import der griechischen Musen . . . . . 8. Avia Pieridum loca: Übersetzung als uraltes Neuland (1.921–934) III. Imitari . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aurea dicta: Sechs Modelle der Imitation Epikurs (3.1–30) . . . . 2. Chartae: Querelen der Quellenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Imitari: Von der griechischen Mimesis zur römischen Imitatio . 4. Vis: Rhetorische und natürliche Macht der Sprache (Cicero, Epikur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Contendere: Notwendiger Wetteifer der Nachahmung (Quintilian) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Cycni canor: Alexandrinischer, epikureischer Schwanengesang (4.180–183) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Avium voces: Dichtung als Nachahmung von Vogelstimmen (5.1379–1391) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Dux natura: Vielstimmigkeit der Natur (Macrobius bzw. Seneca).
129 136 146 159 159 170 177 187 197 204 213 220
IV. Vertere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Novitas: Neuheit der Welt und der wahren Dichtung (5.324–337). 2. Repertus sum: Selbst(er)findung des Übersetzers (5.336f) . . . . . 3. Vertere: Übersetzung als Verwandlung (von Plautus bis Hieronymus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Primus cum primis: Primat der Latinsierung der Philosophie (Ciceros Taktik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Machina mundi: Unsterbliche Verse über die sterbende Welt (5.91–109) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Declinare: Physik und Poetik der Abweichung (2.216ff, 2.250ff u. a.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231 231 241
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
299
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
305
Abkürzungen antiker Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
307
Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
309
Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
333
247 265 272 281
Vorbemerkungen
Vorliegendes Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die Juni 2019 unter dem Titel Daedala lingua. Lukrez als Übersetzer des Realen am Institut für Philosophie der Universität Wien eingereicht und ebendort im März 2020 verteidigt wurde. Forschungsliteratur, die nach dem Zeitpunkt meiner Einreichung erschien, wird vereinzelt in den Fußnoten erwähnt, wird aber nicht mehr systematisch erfasst und konnte nicht mehr in die argumentative Substanz des Buchs eingehen. Wie jede Arbeit zu Lukrez, die einen weiten Fokus wählt und sich nicht auf ein einziges, begrenztes Spezialproblem konzentriert, erhebt auch diese Studie keinen Anspruch auf eine vollständige Erfassung der bisher geleisteten Forschung. Alle direkten Zitate von Lukrez wurden für die Publikation mit der neuen Teubneriana-Ausgabe von Marcus Deufert (De Gruyter 2019) abgeglichen, die kurz vor meiner Einreichung erschien. Nur an zwei Stellen, die als solche gekennzeichnet sind, folge ich dem älteren Text der Loeb-Ausgabe von W. H. D. Rouse und Martin Ferguson Smith (Harvard University Press 1976). Alle Übersetzungen stammen – falls nicht anders angegeben – von mir. Meine LukrezÜbertragungen, die sich entgegen der römischen Auffassung des Übersetzens nicht unbedingt um Eleganz, sondern um Wortwörtlichkeit bemühen, orientieren sich teilweise an der exzellenten metrischen Übertragung von Karl Büchner (Artemis 1956). Meine Prosaübersetzungen wollen die Schwierigkeiten einer Lukrez-Lektüre eher akzentuieren als verschleiern. Manche Textausgaben werden in der Bibliografie doppelt angeführt: Einmal als Primärliteratur unter den Namen der antiken Autoren, die ich zitiere, ein andermal als Sekundärliteratur unter den Namen der Herausgeber, Übersetzer und/oder Kommentatoren, insofern ich mich auf diese beziehe. Nahezu alle antiken Quellen werden mittels der fachüblichen Kürzel zitiert, die im Anhang aufgeschlüsselt sind. Die fetten Seitenzahlen im Stellenregister verweisen auf direkte, alle anderen auf indirekte Zitate. Die meisten Unterkapitel beziehen sich auf zahlreiche Lukrez-Stellen, weshalb die Stellenangaben in den Titeln nur eine sehr grobe Orientierung bieten können.
Einleitung
Mit seinem monumentalen Weltgedicht De rerum natura will Lukrez die gesamte Wirklichkeit in einen Text bannen, sie von der kleinsten Bewegung der Atome bis zum kosmischen Großereignis erklärend beschreiben. Dazu verwandelt er die materialistische Naturphilosophie Epikurs in Tausende von lateinischen Versen, die antike Atomphysik und Epik verweben, um sein römisches Publikum zum Epikureismus zu bekehren. Diese Verwandlung lässt sich als ein Übersetzungsprozess in einem weiten und vierfachen Sinn begreifen: Lukrez übersetzt mit De rerum natura die Lehre Epikurs erstens aus dem Griechischen ins Lateinische, zweitens aus der philosophischen Fachprosa in die didaktische Epik und drittens aus der Kultur des Hellenismus in diejenige der späten römischen Republik. Nicht zuletzt sucht er als Dichter unermüdlich nach Sprachbildern, welche die unsichtbare Dynamik der Atome einfangen, womit er viertens die verborgene und unvergängliche natura rerum, die ›Natur der Dinge‹, d. h. das Reale selbst, in eine anschauliche und ansprechende Sprache übersetzen will. Seine schöpferische Sprache oder – um einen Ausdruck des Dichters auf diesen selbst anzuwenden – seine dädalische Zunge (daedala lingua) (4.549),1 durchkreuzt und verwebt alle vier Ebenen. Mit ihrer Hilfe möchte Lukrez nicht nur die sprachliche, literarische und kulturelle Kluft überbrücken, die ihn von seinem Meister Epikur trennt, sondern zugleich eine ontologische, welche unsere Welt der Erfahrungen und Einbildungen von der atomaren Welt scheidet. Die daedala lingua erweist sich bei diesem Unterfangen als entscheidendes Bindeglied einer poetischen Physik und physikalischen Poetik, die Lukrez letzlich zum ›Übersetzer des Realen‹ verklären. Fraglos ist sich Lukrez der Schwierigkeit seiner Aufgabe bewusst. Er weiß genau, dass seine eigenwillige Übersetzung des epikureischen Systems auf allen 1 Durch das exquisite Adjektiv daedalus, das sich vom mythischen Künstler-Erfinder Dädalus ableitet, parallelisiert Lukrez, wie wir ausführlich sehen werden, seine eigene Dichtung indirekt mit der kreativen Leistung des Dädalus. Vgl. Beate Beer, »Der Daedalus der Dichter: Zur poetologischen Selbstdarstellung des didaktischen Ich bei Lukrez«, in: Philologus, 154, Nr. 2 (2010), S. 255–284.
10
Einleitung
vier genannten Ebenen mit Widerständen rechnen muss. Er kämpft nicht nur mit sprachlichen Schwierigkeiten, sondern auch mit fremdartigen Themen, wenn er eine Welt aus Atomen schildert, die sich unserer Alltagssprache und unseren gewohnten Vorstellungen schockartig entzieht.2 Sodann präsentiert er seinen ungewöhnlichen Stoff in einer ungewöhnlichen Form, die sicherlich nicht wenige Philosophen irritierte. So kritisierte die Philosophie bekanntlich – spätestens seit Platon – im Laufe ihrer Geschichte wiederholt den Erkenntnisanspruch der traditionellen Dichtkunst, von der sie sich einst selbst emanzipierte. Auch Epikur galt nicht unbedingt als Freund der Dichtung, die er angeblich sogar mit dem Gesang der Sirenen verglich, dessen Verlockungen man am besten mit verstopften Ohren umschiffen sollte.3 Folglich muss Lukrez seine poetische Form vor orthodoxen Epikureern und anderen dichtungskritischen Philosophen verteidigen, wohingegen er nichtphilosophische Leser überhaupt erst durch seine poetische Form zu philosophischen Inhalten verführen muss. Beide Aufgaben werden dadurch erschwert, dass die Latinisierung der Philosophie zu Lukrez’ Zeit noch keine unumstrittene Selbstverständlichkeit war, obschon die anfänglichen Ressentiments der Römer gegenüber der griechischen Philosophie gegen Ende der römischen Republik schwanden.4 Hinzu kommt, dass Lukrez als Epikureer einer philosophischen Richtung angehört, die aufgrund ihrer hedonistischen Ethik sowie ihrer Polemik gegen die institutionalisierte Religion in Rom den Argwohn bestimmter konservativer Kreise erregen musste. Selbst Intellektuelle wie Cicero, die eine römische Philosophie prinzipiell begeistert begrüßten und selbst förderten, lehnten den Epikureismus vehement ab, da sie in seinem individualistischen Luststreben staatsgefährdende Momente witterten.5 2 Wardy beschreibt diesen Schock treffend: »Theory reveals to the mind’s eye a stark, pure vista of colorless, odorless, tasteless, soundless atoms traveling through the never-ending void. It opens a gap between basic reality and at least the most familiar and basic appearances, threatening to make strangers of us in our own world. We inhabit a home at once so dim and so vast that our sight cannot penetrate its recesses.« Robert Wardy, »Lucretius on What Atoms are Not«, in: Classical Philology, 83, Nr. 2 (Apr. 1988), S. 112–128, hier S. 112. 3 Das berichtet zumindest Plutarch. Ausführlich zu dieser Anekdote und Epikurs ambivalenter Haltung gegenüber der Dichtkunst: Elizabeth Asmis, »Epicurean Poetics«, in: Philodemos and Poetry. Poetic Theory and Practice in Philodemos, Lucretius, and Horace, hg. v. Dirk Obbink, New York u. a.: Oxford University Press, 1995, S. 15–34, insb. S. 18f. 4 Wie zählebig diese Ressentiments waren, zeigt sich in der Terminologie. Selbst nachdem sich angesehene römische Autoren mit der Philosophie beschäftigten, behielt das Wort philosophus bis in die Kaiserzeit oft einen negativen Beigeschmack: Harry Hine, »Philosophy and philosophi. From Cicero to Apuleius«, in: Roman Reflections. Studies in Latin Philosophy, hg. v. Gareth D. Williams u. Katharina Volk, Oxford u. a.: Oxford University Press, 2016, S. 13–32. 5 Cicero macht die Epikureer etwa nach Ausbruch des Bürgerkriegs für die sozialen Wirren mitverantwortlich: Herbert M. Howe, »Amafinius, Lucretius, and Cicero«, in: The American Journal of Philology, 72, Nr. 1 (1951), S. 57–63, hier S. 61. Über Ciceros Kenntnis und Kritik des Epikureismus siehe auch: Stefano Maso, Grasp and Dissent. Cicero and Epicurean Philosophy, Turnhout: Brepols, 2015, insb. S. 33–46.
Einleitung
11
Angesichts dieser philosophischen wie kulturpolitischen Um- und Widerstände muss Lukrez seine eigene Übersetzungstätigkeit reflektieren und eine Poetik profilieren, um Nutzen und Notwendigkeit seines eigenen Dichtens zu legitimieren. Deshalb thematisiert er seine poetische Agenda in den meisten Proömien von De rerum natura, den strahlend polierten Portalen, die sein gewaltiges Gedicht in mehrere Bücher gliedern. Er streift sie aber auch in kleineren Exkursen, die seine philosophische Argumentation auflockern und bekräftigen sollen. Nicht zuletzt umfasst seine Darstellung des epikureischen Systems eine Theorie der Sprache und des Ursprungs der Dichtung, die sich rückwirkend auf sein eigenes Werk anwenden lassen. Diese mehr oder weniger expliziten poetologischen Äußerungen kommunizieren mit Lukrez’ dichterischer Praxis und seinem physikalisch-philosophischen Weltbild, denen eine Selbstreflexivität eingeschrieben ist, die ich in Anlehnung an Petrus Schrijvers als ›implizite Poetik‹ bezeichnen möchte.6 Vorliegendes Buch richtet das Augenmerk auf ebendiesen Übergang expliziter und impliziter Poetik. Hierzu versucht es, den Zusammenhang von Dichtungstheorie, Dichtung und Physik ausgehend von einigen Schlüsselpassagen von De rerum natura nachzuvollziehen. Im Unterschied zu zahlreichen anderen Monografien, die Lukrez’ Poetik adressieren,7 visiert meine Studie diesen Übergang aus der Perspektive der Übersetzung an. Damit knüpft sie einerseits an eine lange Forschungstradition an, die Lukrez als Übersetzer Epikurs porträtierte und die insbesondere in den ›klassischen‹ Forschungsarbeiten von Diskin Clay und David Sedley kulminierte.8 Andererseits klammert sie aber die Quellenfrage, die 6 Vgl. Petrus Hermanus Schrijvers, Horror ac divina voluptas. Études sur la poétique et la poésie de Lucrèce, Amsterdam: Adolf M. Hakkert, 1970, S. 2f. 7 Von diesen Monografien sei neben dem genannten Buch von Schrijvers folgende Auswahl erwähnt: Eva Maria Thury, Naturae Species Ratioque. Poetic Image and Philosophical Perspective in the De Rerum Natura of Lucretius, unveröffentlichte Diss., University of Pennsylvania, 1976; Alessandro Schiesaro, Simulacrum et imago. Gli argomenti analogici nel De rerum natura, Pisa: Giardini, 1990; Ivano Dionigi, Lucrezio. Le parole e le cose, Bologna: Pàtron Editore, 1992; David West, The Imagery and Poetry of Lucretius, London: Bristol Classical Press, 1994; Monica R. Gale, Myth and Poetry in Lucretius, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 1994; Duncan Kennedy, Rethinking Reality. Lucretius and the Textualisation of Nature, Ann Arbor: University of Michigan Press, 2002; Daniel Markovic´, The Rhetoric of Explanation in Lucretius’ De rerum natura, Leiden Boston: Brill, 2008; W. H. Shearin, The Language of Atoms. Performativity and Politics in Lucretius’ De rerum natura, Oxford u. a.: Oxford University Press, 2013; Eva Marie Noller, Die Ordnung der Welt. Darstellungsformen von Dynamik, Statik und Emergenz in Lukrez’ De Rerum Natura, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2019; Barnaby Taylor, Lucretius and the Language of Nature, New York: Oxford University Press, 2020 (die letzten zwei Bücher konnten in vorliegender Arbeit leider nur am Rande berücksichtigt werden). 8 Siehe die beiden älteren, aber unübertroffenen Werke: Diskin Clay, Lucretius and Epicurus, Ithaca/London: Cornell University Press, 1983; David Sedley, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 1998.
12
Einleitung
in dieser Tradition vordringlich wurde, weitgehend aus, um sich hauptsächlich textimmanenten poetologischen Strategien zuzuwenden. Während Clay und Sedley ansatzweise eine synkritische Lektüre von Lukrez’ Dichtung und Epikurs Prosa – seiner Lehrbriefe und Merksprüche oder der Bruchstücke seines Hauptwerks Über die Natur (Περὶ φύσεως) – verfolgten, konzentriert sich meine Studie daher auf Lukrez’ Selbstverständnis als Übersetzer.9 Sie untersucht also nicht primär, wie Lukrez Epikur rezipiert, sondern, wie Lukrez seine eigene Rezeption Epikurs reflektiert und in seine philosophische Epik integriert. Darum wird im Folgenden zwar hin und wieder Epikur zitiert, aber kein systematischer Vergleich zwischen Lukrez’ Übersetzung und einem äußerst fragmentarischen und ohnehin bloß hypothetischen ›Original‹ angestrebt. Wenn ich im Anschluss an Clay und in Abgrenzung von Sedley Lukrez’ freien und eklektischen Umgang mit möglichen Quellen betone, dann verstehe ich diese relative Unabhängigkeit nicht wie Clay in erster Linie als individuelle Gedächtnisleistung eines genialen Dichters, sondern vornehmlich als Ausdruck der römischen Übersetzungskultur, welche die Entstehung der römischen Literatur maßgeblich prägte. Damit bette ich Lukrez in einen kulturgeschichtlichen Rahmen ein, der vor dem Hintergrund eines Cultural turn in den Übersetzungswissenschaften bzw. eines Translational turn in den Kulturwissenschaften im letzten Jahrzehnt verstärkt Aufmerksamkeit erfuhr.10 Lukrez’ Selbstverständnis als Übersetzer ist zweifellos ein spezifisch römisches Problem, weshalb sich seine Poetik auch wesentlich von den poetologischen und rhetorischen Reflexionen griechischer Epikureer unterscheidet, etwa von Philodem, der ungefährt zur selben Zeit in Italien wirkte.11 Aus diesem Grund betrachte ich Lukrez’ philosophische Dichtung nicht so sehr aus dem Blickwinkel der griechischen Philosophie als aus demjenigen der römischen Dichtung. Anstatt Lukrez mit Epikur oder anderen Epikureern zu vergleichen, wird er verstärkt mit anderen römischen Autoren kontrastiert, z. B. mit Ennius, Cicero, Horaz, Vergil, Manilius, Seneca oder Quintilian. Obwohl diese Dichter, Philosophen und Gelehrten teilweise viel später schrieben, ringen sie doch mit analogen Problemen wie Lukrez. 9 Sedley parallelisiert Lukrez’ Werk mit den Fragmenten von Epikurs Περὶ φύσεως, wohingegen Clay es mit den Kernaussagen von Epikurs Lehrbriefen und Merksprüchen vergleicht. Hierzu und allgemein zum unlösbaren Problem der Quellenfrage siehe Kapitel 3.2. 10 Die beiden wichtigsten Orientierungspunkte dieser Arbeit bilden in dieser Hinsicht die Monografien: Maurizio Bettini, Vertere. Un’antropologia della traduzione nella cultura antica, Turin: Einaudi, 2012; Siobhán McElduff, Roman Theories of Translation. Surpassing the Source, New York/London: Routledge, 2013. Auch Feeneys Buch sei in diesem Zusammenhang zumindest erwähnt: Denis Feeney, Beyond Greece. The Beginnings of Latin Literature, Cambridge (Mass.) u. a.: Harvard University Press, 2016. 11 Es wird sogar über einen direkten Kontakt zwischen Lukrez und Philodem spekuliert: Vgl. Beate Beer, Lukrez und Philodem. Poetische Argumentation und poetologischer Diskurs, Basel: Schwabe, 2009, insb. S. 13–24.
Einleitung
13
Sie beteiligen sich allesamt an einem sprachlichen, literarischen, kulturellen und philosophischen Übersetzungsprozess, der vom griechischen Helikon in die Ebenen Roms führt und der auch De rerum natura wesentlich charakterisiert. In diesem Sinn erweist sich ein anachronistischer Ansatz als fruchtbar, wie bereits u. a. die vorbildlichen Arbeiten von Katharina Volk oder Philip Hardie bewiesen.12 Indem ich diesen Ansatz erstmals auf Lukrez’ Poetik des Übersetzens anwende, soll bewiesen werden, dass Lukrez’ selbstbewusste Einschreibung in die römische Übersetzungskultur seine Aufassung des Verhältnisses von Sprache und Wirklichkeit, von daedala lingua und natura rerum, grundlegend affiziert. Um diese Wechselwirkung von Dichten und Denken zu erkunden, wird Lukrez’ Poetik des Übersetzens ausgehend von vier poetologischen Schlüsselpassagen, die aus den Proömien bzw. aus einem kulturgeschichtlichen Exkurs stammen (1.136–145, 1.112–126, 3.1–30, 5.324–337), analysiert. In jeder dieser Passagen bestimmt Lukrez das Problem seiner Aufgabe als Übersetzer durch ein lateinisches Verb, das sowohl in der Übersetzungkultur verankert ist als auch im Kontext von Lukrez’ epikureischer Kosmologie gelesen werden muss: inlustrare, deferre, imitari, vertere. Jedes dieser Verben durchläuft alle vier genannten Ebenen der Übersetzung und führt ins Zentrum der lukrezischen Poetik. Daher stellen die Verben zugleich die Titel meiner vier Kapitel dar, deren Struktur und Intention ich im Folgenden resümiere: I. INLUSTRARE: Das erste Kapitel beleuchtet die poetologische Funktion der weitverzweigten Lichtmetaphorik, die das gesamte De rerum natura durchzieht. Die Tragweite dieser Metaphorik wurde in der Forschung oft bemerkt,13 allerdings noch nicht bis in jede Verästelung hinein untersucht. Auch dieses Kapitel liefert keine vollständige und detailierte Analyse, aber es untersucht erstmals, wie sich Lukrez’ Lichtmetaphorik mit seiner Tätigkeit als Übersetzer überschneidet. So beschreibt Lukrez seine eigene Übersetzungstätigkeit, wenn er gegen Ende des ersten Proömiums verspricht, die dunklen Funde (obscura reperta) der Griechen in lateinischen Versen zu erleuchten (inlustrare).14 Dadurch verortet Lukrez gleich zu Beginn seines Werkes alle vier Ebenen seiner Übersetzung in einem dramatischen Hell-Dunkel und verknüpft sie mit seiner aufklärerischen Rhetorik, in der das Licht der wahren Philosophie gegen die Schatten irrationaler 12 Vgl. Katherina Volk, The Poetics of Latin Didactic. Lucretius, Vergil, Ovid, Manilius, Oxford u. a.: Oxford University Press, 2002; Philip Hardie, Lucretian Receptions. History, The Sublime, Knowledge, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 2009. 13 Siehe z. B.: William S. Anderson, »Discontinuity in Lucretian Symbolism«, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association, 91 (1960), S. 1–29, insb. S. 1–5; West, The Imagery and Poetry of Lucretius, S. 79–93. 14 Keiner der Kommentare scheint bislang zu bemerken, dass inlustrare, wie auch Ciceros Wortgebrauch belegt, wesentlich zum römischen Übersetzungsvokabular gehört. Auch die mir bekannte Literatur über die Übersetzungskultur der Römer thematisiert das inlustrare nicht als Metapher des Übersetzens.
14
Einleitung
Todes- und Götterfurcht (religio) ankämpft, damit die Menschen den höchsten Zustand der Lust (voluptas) erreichen. So nähert sich Lukrez der Lichtgestalt Epikurs an, die er in den meisten Proömien euphorisch feiert, und verleiht seiner Übersetzung eine ethische Stoßrichtung, die auf die Lust des Lesers zielt. Während sich das inlustrare solcherart in das aufklärerische Narrativ von De rerum natura einfügt, bedeutet es auf lexikalischer Ebene eine Metaphorisierung des epikureischen Systems. Weil es im Lateinischen noch kaum ein naturphilosophisches Fachvokabular gab, muss Lukrez sein eigenes erschaffen, indem er vertraute Vorstellungen und Begriffe auf den Mikrokosmos überträgt. Dieses Verfahren, das der epikureischen Methode des Analogieschlusses verwandt ist, lässt sich mit Cicero als innersprachlicher Übersetzungsprozess begreifen. Es steigert nicht nur die Anschaulichkeit von Lukrez’ Sprache, sondern bewirkt zugleich eine Belebung der unbelebten Materie, da es die Atome z. B. mit Lebewesen und politischen Verbänden vergleicht. Diese vitalistische Metaphorik korrespondiert mit einer poetischen Vision der Natur als zeugende Venus und gebärende Mutter. Venus, die allegorische Verkörperung der Natur, mit der das erste Proömium eröffnet, verführt alle Wesen zur voluptas und zwar durch einen lichtvoll-ästhetischen Reiz (lepos), der laut Lukrez auch die Süße seiner eigenen lichtvollen Gesänge, den Honig der Musen, verantwortet. Dadurch naturalisiert die angerufene Göttin Lukrez’ Übersetzung, denn sie versöhnt seine dichterische Kreativität, seine daedala lingua, mit derjenigen der Natur selbst, mit der natura daedala rerum. II. DEFERRE: Das zweite Kapitel untersucht, wie sich Lukrez vor dem Hintergrund der epischen Tradition als Dichter positioniert und sich insbesondere von seinem Vorgänger Ennius distanziert. Die Forschung hat wiederholt die Bedeutung des vorsokratischen Dichter-Philosophen Empedokles für Lukrez’ Poetik und Philosophie unterstrichen.15 Dahingegen wurde der Einfluss des römischen Dichters Ennius zumeist auf eine rein stilistische Ebene reduziert und blieb darüber hinaus unterbelichtet.16 Das liegt sicher daran, das Ennius aus heutiger Sicht als Dichter und nicht als Philosoph wahrgenommen wird. Lukrez selbst betrachtete Ennius jedoch nicht nur als Dichter, sondern auch ausdrücklich als Philosophen. So rühmt Lukrez den Dichter Ennius im Kontext seines 15 Vgl. Sedley, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, insb. S. 21–34. Garani widmet dem Verhältnis von Lukrez und Empedokles eine ganze Monografie: Myrto Garani, Empedocles Redivivus. Poetry and Analogy in Lucretius, New York u. London: Routledge, 2007. 16 Eine Ausnahme bildet ein Aufsatz von Harrison, der die geschichtsphilosophische Bedeutung von Ennius würdigt: Stephen Harrison, »Ennius and the Prologue of Lucretius DRN 1 (1.1– 148)«, in: Leeds International Classical Studies, 1.4 (2002), S. 1–13. Mittlerweile ist eine ganze Monografie zu dieser Problematik erschienen, die mir allerdings beim Verfassen der Arbeit noch nicht bekannt war: Jason S. Nethercut, Ennius noster. Lucretius and the Annales, New York u. a.: Oxford University Press, 2020.
Einleitung
15
ersten Proömiums dafür, dass dieser einst als Erster (primus) den unvergänglichen Lorbeerkranz vom griechischen Musenberg Helikon nach Italien herabtrug (deferre). Doch im selben Atemzug rügt er ihn, dass er das Wesen der Seele (natura animai) missverstand und eine falsche Auffassung der natura rerum verbreitete. Ennius erscheint einerseits als poetisches Vorbild, dessen Stil und Metrik Lukrez massiv imitiert, andererseits als philosophisches Feindbild, dessen Geschichtsauffassung, Kosmologie und Psychologie es zu bekämpfen gilt. Ennius glaubte an die Seelenwanderung und an die Existenz einer Unterwelt, in der Schattenbilder (simulacra) der Verstorbenen weilen – Vorstellungen, die Lukrez zurückweist, weil sie unseren Seelenfrieden stören und irrationale Ängste der religio nähren. Lukrez’ Kritik bezieht sich v. a. auf das Hauptwerk seines Konkurrenten, auf das Epos der Annales. Zu dessen Beginn berichtet Ennius, dass ihm im Traum das Schattenbild Homers erschien, um ihm zu offenbaren, dass seine – d. h. Homers – Seele in ihm fortlebe. Die Annales, die sich selbst als Wiedergeburt der homerischen Epik stilisieren, initiieren einen multiplen Übersetzungsprozess, der zwischen Helikon und Rom, Vergangenheit und Gegenwart, Jen- und Diesseits, Seele und Körper vermittelt. Lukrez wird in diesen Prozess intervenieren und ihn unterbrechen, sobald dieser Konzepte importiert, die seiner Philosophie widersprechen. So widerlegt Lukrez in seiner Erklärung der Seele die Seelenwanderung und entlarvt die Erscheinungen der Toten in seiner eigenen Erkenntnistheorie als simulacra, die sich physikalisch-rational erklären lassen. Oder er schickt den griechischen Begriff der Harmonie, der irgendwann vom Helikon herabgebracht (deferre) und auf die Seele übertragen (transferre) wurde, an seinen Ursprungsort zurück, da er nicht zur epikureischen Theorie passt. Auch Lukrez beteiligt sich an einem interkulturellen de- und metaphorischen transferre, beharrt aber darauf, dass er das wahre Wesen der Realität übersetzt. Wenn er sich wie Ennius selbst als Pionier stilisiert, der noch unbetretene griechische Musengebiete (avia Pieridum loca) durchstreift und einen Siegeskranz erringt, dann schreibt er sich – wie nach ihm Manilius – nicht nur in den uralten Topos der Dichterweihe ein, sondern betritt zugleich philosophisches Neuland, das Reich der natura rerum selbst. III. IMITARI: Das dritte Kapitel verortet Lukrez’ Übersetzung im Spannungsfeld von Nachahmung und Wetteifer, produktionsästhetischen Kategorien, die tief in der antiken Poetik und Ontologie verwurzelt sind. Das Problem der kreativen Nachahmung, das oft aus einer rein literaturgeschichtlichen Blickrichtung verhandelt wurde,17 wird hier mit Lukrez’ Naturphilosophie in Verbindung gebracht. Lukrez eröffnet zu Beginn des dritten Proömiums, dass er 17 Zum literaturhistorischen Komplex der kreativen Nachahmung siehe den Sammelband: Creative Imitation and Latin Literature, hg. v. David West u. Tony Woodman, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 1979.
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Einleitung
Epikur imitieren (imitari) will, und vergleicht diesen u. a. mit einem majestätischen Schwan, sich selbst hingegen mit einer mickrigen Schwalbe, die es nicht wagt, mit jenem zu konkurrieren (contendere). Kurz darauf stellt er sich als Biene dar, die demütig über Epikurs Schriften fliegt, um deren goldene Worte zu sammeln und aufzusaugen. Obwohl Lukrez ein produktives Konkurrenzverhältnis (aemulatio) zu seinem Vorbild vordergründig ausschließt, dürfen wir De rerum natura nicht als oberflächliche – bloß versifizierende wortgetreue – imitatio eines einheitlichen Originals verstehen. Die berüchtigte Quellenfrage lässt sich aufgrund der dürftigen Überlieferungslage kaum beantworten, legt aber dennoch nahe, dass Lukrez seine epikureischen Quellen erheblich modifiziert, bzw. unterschiedliche Quellen frei kombiniert. Außerdem mischt Lukrez, während er die Worte seines Meisters in den Honig seiner Dichtung transformiert, fremde Zutaten bei, da er außer Epikur zahlreiche andere Schriftsteller – Homer, Empedokles, Thukydides, Ennius usw. – imitiert. Ähnlich wie Cicero orientiert er sich weniger an den Worten (verba) als an der rhetorischen Wortgewalt und Wirkmacht (vis) seiner literarischen Vorlagen, die er erreichen oder gar überbieten will. Durch dieses eklektisch-rhetorische Verfahren schleicht sich in sein Verhältnis zu Epikur ein gewisser Wettbewerb ein, was offensichtlich wird, wenn sich Lukrez im vierten Buch von De rerum natura unverhofft als Schwan porträtiert und dadurch den Bescheidenheitstopos aus dem dritten Proömium revidiert. Er vergleicht – ein hellenistisches Epigramm imitierend – seine eigenen Verse mit dem eindringlichen süßen Gesang eines Schwans. Diese poetische Selbstdarstellung entspricht seiner eigenen Rekonstruktion der Kulturgeschichte, in der er schildert, wie die Poesie einst der urmenschlichen Nachahmung von Vogelstimmen entsprang. Echos natürlicher Stimmen, die immer wieder in Lukrez’ Werk anklingen, deuten an, dass seine Übersetzung auf eine ursprüngliche Naturgewalt – eine Art vis – zielt, die seine imitatio Epikurs und anderer ausgewählter Autoren in den Dienst einer vielstimmigen imitatio der natura rerum stellt. Das Problem der Nachahmung von Autoren, lässt sich am Ende nicht von demjenigen der Nachahmung der Natur trennen. IV. VERTERE: Das letzte Kapitel zeigt, inwiefern sich Lukrez mit De rerum natura selbstbewusst in die Weltgeschichte und die römische Übersetzungskultur einschreibt. Hierzu richtet es sein Augenmerk auf eine kulturgeschichtliche Digression, deren weitreichende Bedeutung bislang kaum erkannt wurde. Mitten im fünften Buch kommt Lukrez auf die neuesten Fortschritte menschlicher Kulturtechniken zu sprechen und erwähnt sich selbst als Pionier, als Erster unter Ersten (primus cum primis), der die wahre Lehre der natura rerum ins Lateinische zu wenden (vertere) vermag. Er stilisiert seine Übersetzung zu einem Höhepunkt der Menschheitsgeschichte, deren rasante Entwicklung er als Ausdruck der relativen Neuheit (novitas) der Welt betrachtet. Lukrez ist wahrscheinlich nicht der Allererste, der die epikureische Philosophie latinisiert, trotz-
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dem präsentiert er sich als Übersetzer, der seine Vorgänger in den Schatten stellt. Wenn er seine eigene Tätigkeit als vertere, ›drehen‹, ›wenden‹ oder ›verwandeln‹, bestimmt, verwendet er ein geschichtsträchtiges Verb, mit dem bereits die ältesten römischen Dichter ihre literarischen Übersetzungen und Bearbeitungen griechischer Modelle beschrieben. Anders als viele moderne Ausdrücke des Übersetzens, die zumeist dem lateinischen transferre entsprechen, fokussiert vertere weniger auf die Ortsbewegung eines Texts bzw. Objekts als auf deren Zustandsveränderung. Darum gehört das Verb nicht zufällig zum römischen Vokabular der magischen Metamorphose. Sicherlich weiß auch Lukrez, der den permanenten Wandel aller Dinge wiederholt als vertere beschreibt, dass seine eigene Übersetzung eine Verwandlung darstellt, die Neues verheißt. Die Neuheit seiner Dichtung verweist auf die Neuheit unserer Welt, die in einer radikalen Veränderung begriffen ist und in nicht allzu ferner Zukunft untergehen wird. Dieses allumfassende Werden, das sich in Lukrez’ vertere widerspiegelt, beruht laut epikureischer Physik auf der Bewegung der Atome, v. a. auf ihrer spontanen und minimalen Abweichung (declinare) vom vertikalen Fall durch die unendliche Leere. Ohne sie gäbe es weder eine Welt noch die Fähigkeit der beseelten Geschöpfe, der Lust aus eigenem Antrieb zu folgen. Das Geheimnis kosmischer Kreativität und natürlichen Luststrebens liegt damit im declinare beschlossen, das folglich auch die tieferliegende Ursache von Lukrez’ daedala lingua sein muss. Damit drückt sich das ›Reale‹ selbst in Lukrez’ Übersetzung aus. Alle Kapitel sind ausgedehnte Kommentare, die jeweils um eine einzige Textstelle kreisen, aus der die meisten Unterkapitel lateinische Stichwörter aufgreifen, die aus unterschiedlichen Richtungen von einer poetologischen zu einer ontologischen Fragestellung führen. Die Methode könnte man in Anlehnung an Lukrez als eine philologische Spurenlese kennzeichnen, die zu philosophischen Einsichten führt: Wie Lukrez seinen Leser dazu anhält, wie ein Jagdhund den Spuren (vestigia) der wahrnehmbaren Phänomene zu folgen, um unwahrnehmbare physikalische Zusammenhänge zu erkennen, so suche ich in Lukrez’ expliziter Poetik Spuren einer impliziten Poetik, die in seiner Naturphilosophie steckt. Meine Fährte verläuft sowohl innerhalb von De rerum natura, dessen dichtes Gewebe sie offenlegt, als auch außerhalb davon, da sie auf den Umwegen anderer Texte – Inter- und Kontexte – zurück zu Lukrez führt. Kurzum: Die Arbeit untersucht ausgehend von einer dichten Kommentierung zentraler Passagen die teils labyrithnische intra- und intertextuelle Verfasstheit von Lukrez’ Argumentation (Dädalus war bekanntlich auch der Architekt eines Labyrinths),18 18 Zum Begriff der Intratextualität, der für das Verständnis von Lukrez hilfreich ist, siehe: Alison Sharrock, »Intratextuality: Texts, Parts, and (W)holes in Theory«, in: Intratextuality. Greek and Roman Textual Relations, hg. v. ders., Oxford u. a.: Oxford University Press, 2000, S. 1–39. Allgemein zum Problem der Intertextualität bei Lukrez: Don Fowler, »Philosophy and Li-
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um das Zusammenspiel von Poetik und Naturphilosophie im Kontext der römischen Übersetzungskultur zu erforschen. Auf diese Weise möchte sie nachweisen, dass Lukrez’ inlustrare, deferre, imitari und vertere eine Ontologie evozieren, die diejenige Epikurs erweitert, indem sie den Bereich der dichterischen Sprache einbezieht. So schafft Lukrez auf allen vier Ebenen seiner Übersetzung etwas Neues – ein Vokabular, eine poetische Form, einen philosophischen Habitus und eine Art des Wirklichkeitsbezugs, die ihn von seinem griechischen Vorbild unterscheiden. Darum kann er einerseits behaupten, dass er selbst den Fuß- oder Schriftspuren, den vestigia, seines Meisters Epikur folgt, andererseits unberührte Musengebiete durchschreitet. Denn während Epikur seine Lehre in Prosa fixierte und der traditionellen Dichtkunst skeptisch begegnete, glaubt Lukrez an die Macht, die ›natürliche‹ vis, seiner eigenen Poesie, die er als einen besonders effektiven und direkten Ausdruck der natura rerum versteht. Die uralte Frage nach der Beziehung von Philosophie und Dichtkunst, welche Leser von De rerum natura seit jeher irritiert, erscheint damit aus der Perspektive der Übersetzung in einem neuen Licht.19
terature in Lucretian Intertextuality«, in: Ders., Roman Constructions. Reading in Postmodern Latin, Oxford u. a.: Oxford University Press, 2000, S. 139–155. 19 Der angebliche Widerspruch von Poesie und Philosophie wurde von dem romantischen Dichter Coleridge auf eine Formel gebracht: »[…] whatever in Lucretius is poetry is not philosophical, whatever is philosophical is not poetry.« Zit. in: Edward Ernest Sikes, Lucretius, Cambridge: Cambridge University Press, 1936, S. 4. Wie viele andere Forscher will ich diese Formel aufweichen, ohne deshalb zu leugnen, dass gewisse unauflösbare Spannungen zwischen Poesie und Philosophie in De rerum natura bestehen bleiben. Nur weil Coleridges Formel offensichtlich zu starr ist, heißt das nicht, dass ihr Gegenteil der Fall ist.
»The Poets light but Lamps – Themselves – go out – The Wicks they stimulate – If vital Light Inhere as do the Suns – Each Age a Lens Disseminating their Circumference –« Emily Dickinson
I.
Inlustrare
1.
Noctes serenae: Licht und Lust der Dichtung (1.136–145)
Gegen Ende des ersten Proömiums, das De rerum natura eröffnet, kommt Lukrez noch einmal auf seine Aufgabe zu sprechen. Nach der Hymne an Venus, der Exposition seiner Themen, der Glorifizierung des Griechen Epikur (Graius homo) und der eindringlichen Warnung des Lesers vor der verderblichen Macht der Götterfurcht (religio) und den irrationalen Mythen falscher Dichter-Propheten (vates), auf die wir in den ersten beiden Kapiteln zu sprechen kommen, resümiert er in wenigen Versen Schwierigkeit und Ziel seines Dichtens (1.136–145): Nec me animi fallit Graiorum obscura reperta difficile inlustrare Latinis versibus esse, multa novis verbis praesertim cum sit agendum propter egestatem linguae et rerum novitatem; sed tua me virtus tamen et sperata voluptas suavis amicitiae quemvis efferre laborem suadet et inducit noctes vigiliare serenas quaerentem dictis quibus et quo carmine demum clara tuae possim praepandere lumina menti, res quibus occultas penitus convisere possis. Und ich täusche mich nicht, dass es schwierig ist, die dunklen Funde der Griechen in lateinischen Versen zu erleuchten, besonders weil vieles mit neuen Worten getan werden muss, wegen der Armut der Sprache und der Neuheit der Dinge; aber dennoch überzeugen mich deine Tugend und die erhoffte Lust süßer Freundschaft, alle Mühe durchzuhalten, und verleiten mich, lichte Nächte zu durchwachen, suchend mit welchen Worten und welchem Gesang ich vor deinem Geist jetzt helle Lichter ausbreiten könnte, durch die du in der Tiefe verborgene Dinge zu erblicken vermagst.
Die Verse beginnen mit dunklen Funden, obscura reperta, und enden im strahlenden Licht, clara lumina. Dazwischen liegt ein mannigfaltiger Raum, den die Aktivität des Dichters, seine Erleuchtungs-Tätigkeit (inlustrare), fortlaufend erhellt: Auf einer sprachlich-kulturellen Ebene vermittelt das inlustrare zwischen
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Inlustrare
der Dunkelheit der griechischen Philosophie und der Helligkeit der römischen Dichtung, auf einer ontologischen zwischen den unsichtbaren, in der Tiefe verborgenen Dingen (res occultae) und der Oberfläche eines sicht- und lesbaren Texts. Hinsichtlich beider Ebenen betont Lukrez die Schwierigkeit seiner Aufgabe und verortet sich an doppelter Front. Er hat nämlich gleichzeitig mit neuen Worten (nova verba) und der Neuheit der Dinge (rerum novitas) zu kämpfen. Aufgrund der relativen Bedürftigkeit seiner Muttersprache (egestas linguae), muss er ein philosophisches Fachvokabular erst etablieren. Die griechische Naturphilosophie war den Römern zwar seinerzeit längst bekannt, jedoch noch nicht vollständig in ihre literarische Kultur eingebürgert. Deshalb braucht er neue Worte, um die dunklen Entdeckungen der griechischen Philosophie in lateinischen Versen zu erhellen. Er muss in seinem Gedicht unaufhörlich Neologismen prägen, seine Sprache durch Metaphern bzw. Katachresen erweitern, gebräuchliche Wörter in einen neuen Kontext importieren20 oder – dies tut er besonders häufig – griechische Begriffe schlichtweg paraphrasieren.21 Seine Dichtung, welche die Grenzen von Licht und Dunkelheit verschiebt, ist in eine lexikalische Grenzerweiterung involviert. Doch die nova verba bezeichnen nicht nur einzelne neue Worte, sie versprechen einen völlig neuen Diskurs. Lukrez ist überzeugt, dass vor ihm noch niemand die wahre natura rerum in lateinischen Versen (Latinis versibus) enthüllte und ein so helles Licht vor den geistigen Augen der Römer verbreitete. Darum muss er nicht nur nova verba schaffen, sondern mit und in ihnen agieren (agere). Die Armut der Sprache, die er in seinem Gedicht wiederholt thematisieren wird (1.832, 3.260), ist für ihn weniger ein unüberwindbares Hindernis als ein Topos, der seine eigene schöpferische Leistung hervorhebt.22 Es ist die novitas seines Werks, in der, wie wir im letzten Kapitel ausführlich sehen werden, schließlich res und verba, Ontologie und Sprache, konvergieren. Auf jede Klage über die Armut der Sprache lässt Lukrez deren Relativierung folgen. So auch in den zitierten Versen, in denen er den dürftigen Mitteln seiner Sprache und der großen Schwierigkeit seiner Aufgabe das ›aber … dennoch‹ (sed … tamen) seiner noch größeren Motivation entgegenstellt: Die moralischen Vorzüge (virtus) seines Adressaten und die von dessen süßer Freundschaft erhoffte Lust (sperata voluptas suavis amicitiae) überreden ihn, jede Mühe (labor)
20 Dies wurde oft betont. Siehe z. B.: Gavin B. Townend, »Imagery in Lucretius«, in: Lucretius, hg. v. D. R. Dudley, London: Routledge & Paul Kegan, 1965, S. 95–114, insb. S. 96f. 21 Vgl. Alexander Dalzell, The Criticism of Didactic Poetry. Essays on Lucretius, Virgil and Ovid, Toronto u. a: University of Toronto Press, 1996, S. 92–95. 22 Das unterstreicht auch Fögen, der dem Topos der egestas lingua eine ganze Monografie widmet: Thorsten Fögen, Patrii sermonis egestas. Einstellung lateinischer Autoren zu ihrer Muttersprache, München/Leipzig: Saur, 2000, S. 65f.
Noctes serenae: Licht und Lust der Dichtung (1.136–145)
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auf sich zu nehmen.23 Mit dieser Motivation eröffnet er eine ethisch-hedonistische Ebene seines Dichtens. Das inlustrare verbindet Mühe und Lust, labor und voluptas, weshalb er an späterer Stelle auch von der süßen Qual (dulcis labor) seiner Aufgabe sprechen wird (2.730). Die voluptas führt ins Zentrum der epikureischen Ethik und schlägt eine Brücke zwischen der Digression und dem Beginn des Proömiums. Die Lust (ἡδονή) ist nämlich laut Epikur Ursprung und Ziel (ἀρχή καὶ τέλος) des glückseligen Lebens und folglich das höchste Prinzip seiner Ethik (Men. 128). Dieses Prinzip identifiziert Lukrez mit Venus, die er, wie wir gegen Ende des Kapitels zeigen werden, bereits im ersten Vers seines Gedichts als Wonne der Menschen und Götter (hominum divomque voluptas) anspricht, um sie um Beistand beim Schreiben seiner Verse De rerum natura zu bitten. Von Anfang an erhebt er die voluptas zum Ursprung und Ziel seines eigenen Werks, in dem Lust und Licht fusionieren. Er beantwortet die sprachliche und ontologische Schwierigkeit seiner Aufgabe durch ein Versprechen von Licht und Lust. Dieser lichtvolle Hedonismus bezieht sich nicht auf eine solitäre, sondern auf eine geteilte Lust. Die voluptas amicitiae bedeutet eine zweistellige Relation, in der das Subjekt der Lust austauschbar ist. Das lässt sich durch eine Äußerung verdeutlichen, die Cicero in einem seiner Dialoge einem epikureischen Gewährsmann in den Mund legt (fin. 1.68): »Quocirca eodem modo sapiens erit affectus erga amicum quo in se ipsum, quosque labores propter suam voluptatem susciperet, eosdem suscipiet propter amici voluptatem (Daher wird der Weise gegen den Freund genauso gestimmt sein wie gegen sich selbst und wird dieselbe Mühe, die er wegen seiner eigenen voluptas auf sich nimmt, auch für die voluptas des Freundes auf sich nehmen).« Dieselbe Reziprozität von amicitia, voluptas und labor finden wir bei Lukrez. Sie öffnet die ethische Ebene des inlustrare hin auf eine rezeptionsästhetische, die den Text auf die Tüchtigkeit und die Lust, virtus und voluptas, eines idealen Lesers bezieht. Der konkrete Adressat ist Memmius, ein römischer Politiker von adeligem Geschlecht, den Lukrez im Proömium als Günstling der Venus einführt und dem er seine Verse laut Proömium als persönliche Freundschaftsgaben (mea dona) überreicht (1.26–52).24 Die Freundschaft, die in der römischen Kultur ein rein politisch-ökonomisches Patronatsverhältnis meinen kann, tendiert zu einem philosophischen Freund-
23 Die klangliche Assonanz suavis … suadet kann als etymologische Figur verstanden werden, die eine semantische Nähe zwischen Süße und Überzeugung herstellt: Vgl. Alfred Ernout/ Léon Robin, Lucrèce, De rerum natura. Commentaire exégétique et critique, Paris: Les Belles Lettres, 1962, Bd. 1, S. 49. 24 Über das Zusammenspiel von Freundschaft und Gabe in der römischen Kultur: Renata Raccanelli/Lucia Beltrami, »Dono e amicizia«, in: Con i Romani. Un’ antropologia della cultura antica, hg. v. Maurizio Bettini u. William M. Short, Bologna: Il Mulino, 2014, S. 187– 214.
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Inlustrare
schaftsbegriff.25 Denn die freundschaftliche Liebe ist gemäß der epikureischen Ethik ein entscheidendes Element der Weisheit. Hier erweist sich die Einheit der Philosophie, deren Begriff Freundschaftsliebe (φιλία) und Weisheit (σοφία) verbindet. Epikur schreibt in einem seiner Merksprüche (rat. 27): »῟Ων ἡ σοφία παρασκευάζεται ει᾿ς τὴν τοῦ ὅλου βίου μακαριότητα πολὺ μέγιστόν ἐστιν ἡ τῆς φιλίας κτῆσις (Von dem, was die Weisheit für die Glückseligkeit des gesamten Lebens bereitstellt, ist das weitaus Größte der Erwerb der Freundschaft).« Die Freundschaft ist nach epikureischer Auffassung der wichtigste Garant der Weisheit und der Lust, die wiederum für Lukrez der Ursprung jedes sozialen Vertrags (foedus) sein wird (5.1019–1027). Vor diesem Hintergrund müssen wir Lukrez’ Freundschaftsangebot als eine offizielle Einladung zum Epikureismus lesen.26 Da Memmius im Laufe des Gedichts verschwindet und kontinuierlich mit dem anonymen Du des Lesers verschmilzt, richtet sich diese Einladung nicht nur an den aristokratischen Patron des Dichters, sondern an jeden gewillten Leser.27 Die Strahlkraft der Verse erstreckt sich vom Geist des Autors zu dem jedes einzelnen Lesers. Das inlustrare ist keine einsame Tätigkeit, denn es schließt für Lukrez einen Pakt, einen foedus, mit dem impliziten Leser. Lukrez porträtiert sich in seiner Digression als Nachtarbeiter. Wir blicken dem Dichter bei seiner Arbeit über die Schulter, wie er in schlaflosen Nächten nach Worten (dicta) und Versen (carmina) sucht, um ›jetzt‹ (demum) unseren Geist zu erleuchten.28 Auf einer zeitlichen Ebene verbindet die Rezeptionsästhetik die gegenwärtige (vergangene) Mühe des Dichters mit der künftigen (gegenwärtigen) voluptas des Lesers. Das inlustrare beschreibt sowohl die Produktion wie die Rezeption des Gedichts. Dadurch erweckt es die Illusion, als ob sich der Akt des
25 Harrison kommentiert die Passage treffend: »[…] the notion of amicitia, which provided the cement of Roman society through unequal relationships between patron and client, is redefined in terms of the equal relationship of fellow Epicureans.« Stephen Harrison, »Epicurean Subversion? Lucretius’s First Proem and Contemporary Roman Culture«, in: Lucretius and the Early Modern, hg. v. David Norbrook, Stephen Harrison u. Philip Hardie, Oxford: Oxford University Press, 2016, S. 29–43, hier S. 43. 26 Lukrez’ Verhältnis zu seinem Leser ist aber nicht nur freundschaftlich, sondern manchmal bevormundend und herablassend, wie Mitsis unterstreicht: Phillip Mitsis, »Comitting Philosophy on the Reader: Didactic Coercion and Reader Autonomy in De Rerum Natura«, in: Mega nepios: Il destinatario nell’epos didascalico, hg. v. Alessandro Schiesaro, Pisa: Giardini, 1993, S. 111–128. 27 Dies hat Towned in einem berühmten Artikel gezeigt, dessen textgenetischen Schlussfolgerungen allerdings umstritten sind: Gavin B. Townend, »The Fading of Memmius«, in: The Classical Quarterly, 28, Nr. 2 (1978), S. 267–283. 28 Da Lukrez’ labor nicht nur beschrieben wird, sondern sich im Text ereignet, könnte man hier von einem »impliziten Autor« sprechen: Nora Goldschmidt, »Reading the ›Implied Author‹ in Lucretius’ De Rerum Natura«, in: Approaches to Lucretius: Traditions and Innovations in Reading the De Rerum Natura, hg. v. Donncha O’Rourke, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 2020, S. 43–58, insb. 50f.
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Lesens und der des Schreibens gleichzeitig vollziehen würden – eine poetische Simultanität, die generell ein Kennzeichen didaktischer Dichtung ist.29 Durch seine Nachtarbeit schreibt sich Lukrez einerseits in die Tradition der alexandrinischen Dichtung ein, in der das nächtliche Schreiben mit der astronomischen Lehrdichtung des Aratos assoziiert wurde.30 Andererseits illustriert er durch sie seine eigene Unermüdlichkeit. Die Römer hatten ein eigenes Verb zur Bezeichnung der Nachtarbeit, ›im Schein einer Lampe schreiben‹, ›bei Nacht arbeiten‹ oder einfach ›leuchten‹ (lucubrare). Aufgrund ihrer Pflichten während des Tages dehnten sie die Mußestunden häufig auf die Nacht aus. Dies ist zumindest ein literarischer Topos, der in der römischen Literatur verbreitet ist.31 Ebenso schreibt Lukrez vorgeblich bei Nacht und, wenn der Schlaf ihn übermannt – so behauptet er an erstaunlicher Stelle –, sucht er im Traum weiter nach der natura rerum und hört nicht auf, sie in seiner Muttersprache zu verschriftlichen (patriis exponere chartis) (4.969f). Darin folgt er der Weisung Epikurs, der einen ethischen Lehrbrief folgendermaßen beschließt (Men. 135): »Ταῦτα οὖν καὶ τὰ τούτοις συγγενῆ μελέτα πρὸς σεαυτὸν ἡμέρας καὶ νυκτὸς [καὶ] πρὸς τὸν ὅμοιον σεαυτῷ, καὶ οὐδέποτε οὔθ’ ὕπαρ οὔτ’ ὄναρ διαταραχθήσῃ, ζήσῃ δὲ ὠς θεὸς ἐν ἀνθρώποις (Dies und was zu dem dazugehört bedenke bei Tag und bei Nacht bei dir selbst [und] in Hinblick auf den, der dir gleicht. Dann wirst du dich niemals, weder wachend noch schlafend, in Verwirrung stürzen lassen und du wirst leben wie ein Gott unter den Menschen).« So bedenkt Lukrez bei Tag und bei Nacht bei sich und gemeinsam mit seinem Leser-Freund die natura rerum. Sein inlustrare ist eine Form der literarischen Nachtarbeit, ein lucubrare, das der ununterbrochenen Aufmerksamkeit des epikureischen Weisen entspricht, dessen Gedanken niemals schlafen. Diese Geistesgegenwärtigkeit lässt die Grenzen zwischen der Nacht der Schöpfung und dem Tag ihrer Rezeption verschwimmen. Deshalb wacht Lukrez in heiteren Nächten, noctes serenae, und arbeitet, anstatt zu schlafen, unermüdlich an seinem Gedicht. Dieser Topos verrät weniger einen persönlichen Wesenszug des Dichters als eine metaphorisch-symbolische Ebene, die alle anderen Ebenen umfasst: Erkenntnis, sprachliche Klarheit und Lust werden mit einer Helligkeit und Lichtfülle gleichgesetzt, die schließlich die gesamte Schreibszene der Digression verwandelt. Zusammen mit den obscura reperta der Griechen und dem Geist des Lesers erhellt das inlustrare die ganze 29 Vgl. Katharina Volk, The Poetics of Latin Didactic, S. 13ff. 30 So bezeichnet Kallimachos in einem Epigramm das Werk des Aratos als ein Symbol der Schlaflosigkeit und der römische Dichter Helvius Cinna benutzt die Öllampen des Aratos als Metonymie für seine eigene nächtliche Schreibtätigkeit: Robert D. Brown, »Lucretius and Callimachus«, in: Oxford Readings in Classical Studies. Lucretius, hg. v. Monica R. Gale, Oxford u. a.: Oxford University Press, 2007, S. 328–350, hier S. 337f. 31 Vgl. James Ker, »Nocturnal Writers in Imperial Rome: The Culture of Lucubratio«, in: Classical Philology, 99, Nr. 3 (Juli 2004), S. 209–242, insb. S. 227f.
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imaginierte Szenerie. Die Nächte, in denen der Dichter arbeitet, werden durch seine Tätigkeit des Schreibens ›wolkenlos‹, ›heiter‹, ›ruhig‹, ›licht‹ (serenus).32 An anderer Stelle spricht Lukrez von den lichten heiligen Bezirken (templa serena), aus denen die Weisen auf das Ungemach der Welt herabblicken (2.7f), oder vom lichten Leben (vita serena) der Götter, das von keinen Sorgen und Ängsten erschüttert wird (2.1093f u. 3.18–22). Genauso sind die noctes serenae ein Symbol der Unerschütterlichkeit (ἀταραξία), die den höchsten Zustand der epikureischen Lust kennzeichnet (Her. 82).33 Zugleich zeigt sich an ihnen der visuelle Geist unseres Dichters, der seine Argumentation fortwährend in sprachliche Bilder übersetzt.34 Dabei ist es nicht das Licht der Schreiblampe oder das der Gestirne, das Lukrez vielleicht am wolkenfreien Nachthimmel erblickt, sondern das Licht seiner Verse, das die hellen Lichter entzündet, durch die der Leser die verborgenen Dinge in der Tiefe erblicken soll (convisere).35 Epikur schreibt in seinem wichtigsten erhaltenen Lehrbrief, der Epistola ad Herodotum, dass wir mithilfe der Naturphilosophie die unsichtbaren Zusammenhänge aller Dinge erblicken (συνορᾶν ἤδη περὶ τῶν ἀδήλων) (Her. 38), wobei das griechische Verb συνοράω dem lateinischen conviso entspricht.36 Doch für Epikur, welcher der Dichtung, wie eingangs gesagt, eher skeptisch gesinnt ist, ist es die prosaische Begriffsarbeit, welche die Sichtbarkeit des Unsichtbaren herstellt. Dahingegen wird Lukrez seine poetische Spracharbeit betonen, seine lichten Gesänge (lucida carmina), die er aus einem dunklen Thema (de re obscura) formt (1.933 u. 4.8).37 Die Helligkeit seiner Sprache zeichnet sich durch eine Bildlichkeit aus, die sich auch in der Metaphorik der Digression niederschlägt. Die noctes serenae übersetzen eine komplexe poetologische Reflexion in ein einziges poetisches Bild. 32 Das Adjektiv serenus bezeichnet bei Lukrez auch das heitere Wetter: Sister Francis, »The Light of Reason and the Darkness of Unbelief«, in: The Classical Journal, 58, Nr. 4 (Jan. 1963), S. 170–172, hier S. 171. Der moderne Begriff der Aufklärung leitet sich von der serenitas, dem ›Durchbrechen der Sonne durch die Wolken‹ oder ›Aufheiterung des Wetters‹ ab: Carsten Zelle, »Im Licht der Vernunft? Zu Bild und Begriff der Aufklärung«, in: Diagonal. Zeitschrift der Universität Siegen, 1 (2002), S. 164–187, insb. S. 171f. 33 Vgl. J. P. Elder, »Lucretius 1.1–49«, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association, 84 (1954), S. 88–120, hier S. 105. 34 Der visuelle Charakter von Lukrez’ Dichtung wurde oft hervorgehoben, u. a. von Bailey: »The wider structure of the poem is thus philosophic, but the inner development is pictorial; the poet, not only in his analogies, but in actual exposition, is always prone to escape abstract argument to concrete visualization.« Cyril Bailey, »The Mind of Lucretius«, in: The American Journal of Philology, 61, Nr. 3 (1940), S. 278–291, hier S. 289. 35 Über die metaphorische Verbindung von geistiger Erkenntnis und visueller Wahrnehmung siehe: Taylor, Lucretius and the Language of Nature, S. 82–88. 36 Vgl. Diskin Clay, »De Rerum Natura: Greek Physis and Epicurean Physiologia (Lucretius 1.1– 1.148)«, in: Ders., Paradosis and Survival. Three Chapters in the History of Epicurean Philosophy, Ann Arbor: University of Michigan Press, 1998, S. 121–137, hier S. 135. 37 Vgl. Anne Amory, »Obscura de re lucida carmina: Science and Poetry in De Rerum Natura«, in: Yale Classical Sudies, 21 (1969), S. 145–168, insb. S. 148f.
Naturae species ratioque: Aufklärerische Metaphorik (1.146ff, 2.55ff u. a.)
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Lukrez’ Lichtmetaphorik eröffnet einen mannigfaltigen Raum, der die Distanz zwischen der griechischen Philosophie und seinen eigenen lateinischen Versen vermisst.38 Dadurch möchte der Dichter den Leser orientieren und ihn zur epikureischen Lehre bekehren, damit er durch angstloses Schauen im Zustand der seelischen Unerschütterlichkeit die wahre natura rerum erfasst. Ohne Dunkelheit wäre diese Metaphorik ohne Spannung und Sinn. Deshalb präsentiert sich Lukrez als ein Dichter des Zwielichts. Sein inlustrare spielt sich in einem literarischen Chiaroscuro ab, das unterschiedlichste Schattierungen erzeugt und seine Sprach- und Naturphilosophie mit einem ethischen Telos verbindet. Das Verb stiftet auf den skizzierten Ebenen eine textimmanente Beziehung zwischen dem Autor, seinem Thema und seinem Leser. Die Antithese von Licht und Dunkelheit bildet den metaphorischen Rahmen einer aufklärerischen Erzählung, der graduellen und progressiven Erleuchtung des Lesers. Das inlustrare durchzieht daher den gesamten ›didaktischen Plot‹ von De rerum natura.39
2.
Naturae species ratioque: Aufklärerische Metaphorik (1.146ff, 2.55ff u. a.)
Dieses aufklärerische Narrativ drückt sich auch in drei formelhaften Versen aus, die direkt auf die besprochene Digression folgen und die Lukrez im Laufe seines Werks vierfach wiederholen wird (1.146ff, 2.55ff, 3.91ff, 4.39ff)40: »hunc igitur terrorem animi tenebrasque necessest | non radii solis neque lucida tela diei | discutiant, sed naturae species ratioque (Diesen Schrecken nun der Seele und [ihre] Schatten müssen nicht die Strahlen der Sonne noch die leuchtenden Geschosse des Tages notwendig zerschlagen, sondern Betrachtung und Lehre der Natur).« Diese Verse, mit denen Lukrez das erste Proömium beschließt, bilden das Bindeglied zwischen der poetologischen Digression und der vorangegangenen 38 Zur Lichtmetaphorik bei Lukrez: M. Ruch, »Lucrèce, Poète de la lumière«, in: Didascalia classica Gandensia, 8 (1968), S. 41–44. Allgemein zur Lichtmetaphorik in der Antike: Rudolf Bultmann, »Zur Geschichte der Lichtmetaphorik im Altertum«, in: Philologus, 97 (1948), S. 1– 36. 39 Laut Fowler weisen auch wissenschaftliche Darstellungen narrative Elemente auf, die er als ›didaktischen Plot‹ bezeichnet. Diesem Plot liegen immer implizite Mythen oder strukturelle Metaphern zugrunde, wie er am Beispiel der Wegmetaphorik bei Lukrez zeigt: Don Fowler, »The Didactic Plot«, in Matrices of Genre. Authors, Canons and Society, hg. v. Mary Depew, Cambridge (Ma.) u. a.: Harvard University Press, 2000, S. 205–219. Auch die Lichtwerdung kann als eine solche strukturelle Metapher begriffen werden. 40 Kenney bezeichnet sie zurecht als Leitmotiv: Vgl. Edward John Kenney, Lucretius, Oxford: Clarendon Press, 1977, S. 9. Deufert, der tentenziell Verswiederholungen kritisch gegenübersteht, klammert die Verse in seiner Edition im ersten Buch ein.
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Warnung vor der Götterfurcht und der traditionellen Mythologie: Die Dunkelheit, gegen die Lukrez ankämpft, liegt nicht nur an der ontologischen Verborgenheit der Dinge und der sprachlichen Schwierigkeit, sie bezeichnet einen seelischen Zustand. Der Schrecken und die Schatten der Seele (terror animi tenebraeque), mit dem der Satz beginnt, erinnern an den im ersten Proömium geschilderten Terror der Götterfurcht (religio) und die Angstträume der DichterPropheten (vates) (1.102–106). Dahingegen weist die Betrachtung und Lehre der Natur (naturae species ratioque) am Ende der Formel voraus auf die folgende Darstellung der Grundprinzipien der epikureischen Ontologie, auf die ich in diesem Kapitel noch eingehen werde.41 Der Konflikt zwischen dem irrationalen Dunkel der Seele und dem rationalen Licht der Wahrheit entlädt sich in einem negativen Vergleich zwischen der ratio, den Strahlen der Sonne (radii solis) und den hellen Wurfspießen des Tageslichts (lucida tela diei).42 Dadurch wird die ethische Ebene von Lukrez’ Dichtung um einen kriegerisch-heroischen Aspekt bereichert. Die clara lumina seiner Verse führen nicht bloß zur friedlichen Lust, sie entpuppen sich darüber hinaus als eine metaphorische Waffe im Kampf der Aufklärung.43 Die naturae species ratioque richtet sich aber nicht nur gegen die traditionelle Götterfurcht, sondern allgemein gegen die geistige Blindheit und die Laster der Menschen. Dies wird in den anderen Proömien deutlich, in denen dieselbe Formel wiederholt wird: So blickt Lukrez z. B. zu Beginn des zweiten Buches aus der Perspektive der lichten Tempel der Weisheit (templa serena) auf die Schatten des Lebens (tenebrae vitae) herab, in denen sich die Menschheit mit blinden Herzen (pectora caeca) nach Ruhm, Macht und Reichtum verzehrt, ohne voluptas zu empfinden, da sie weiterhin von religiösen Skrupeln (religiones) und Todesängsten gepeinigt wird (2.14–46). Am Anfang des dritten Buches kontrastiert er den Seelenfrieden (animi pax = ἀταραξία) und das lichte Leben der Götter (vita serena), die im lichtdurchfluteten Äther (large diffuso lumine ridet) wohnen, mit der Unruhe der Sterblichen, die sich im Schatten und im Kot wälzen (in tenebris volvi caenoque) und jedes Pflichtgefühl (pietas) und die Freundschaft (amicitiae) 41 Vgl. Clay, »De Rerum Natura: Greek Physis and Epicurean Physiologia«, S. 133. 42 Wie West bemerkt, könnte tela nicht nur Wurfspieße, sondern auch ein Gewebe bezeichnen. Damit kann man in der Lichtmetaphorik vielleicht eine Spur der Gewebemetaphorik finden, die bei Lukrez in anderen Kontexten virulent wird: David West, The Imagery and Poetry of Lucretius, S. 81f. 43 Der politische Konflikt zwischen den Lichtern der Aufklärung (lumières) und den Schatten der reaktionären Kräfte (ténèbres) wird auch in der Ideologie und Ikonografie der französischen Aufklärung eine entscheidende Rolle spielen: Vgl. Rolf Reichhardt, »Lumières versus Ténèbres. Politisierung und Visualisierung aufklärerischer Schlüsselwörter in Frankreich vom XVII. zum XIX Jahrhundert«, in: Aufklärung und Historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte, hg. v. dems., Berlin: Duncker & Humblot, 1998, S. 83–170.
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verletzen (3.77–84). Ebenso eröffnet er das sechste Buch mit einer Klage über die Laster der Unerleuchteten, deren Seele er mit einem löchrigen Gefäß – einem Danaiden-Fass – vergleicht, in das die voluptas vergeblich gegossen wird (6.17– 21).44 Diese satirisch-ethischen Predigten (Diatriben) kulminieren45 in einer erweiterten Version unserer Formel, welche alle drei genannten Proömien beendet (2.55–61, 3.87–93, 6.35–41): nam veluti pueri trepidant atque omnia caecis in tenebris metuunt, sic nos in luce timemus interdum, nihilo quae sunt metuenda magis quam quae pueri in tenebris pavitant finguntque futura. hunc igitur terrorem animi tenebrasque necessest non radii solis neque lucida tela diei discutiant, sed naturae species ratioque. Denn wie Kinder zittern und alles in blinden Schatten fürchten, so ängstigen wir uns im Licht und haben zuweilen Angst [vor Dingen], die nicht mehr zu fürchten sind als das, wovor die Kinder erbeben und was sie als künftiges Geschehen erdichten. Diesen Schrecken nun der Seele und [ihre] Schatten müssen nicht die Strahlen der Sonne noch die leuchtenden Waffen des Tages notwendig zerschlagen, sondern Betrachtung und Lehre der Natur.
Die Passage bündelt die Lichtmetaphorik, die im gesamten zweiten und dritten Proömium so augenfällig wird, und verstärkt ihre ethische Stoßkraft durch einen weiteren Vergleich: Wie sich die Kinder im Dunkel fürchten, fürchten wir uns manchmal sogar im Licht. Insofern sind unsere Ängste kindischer als die der Kinder, deren Angst vor der gegenwärtigen Dunkelheit und künftigen Geschehnissen der Götter- und Todesfurcht der Erwachsenen entspricht, die sich vor den fiktiven Schatten der Unterwelt (tenebrae Orci) (1.115) und der Dunkelheit des Todes (mortis nigror) fürchten (3.39).46 Die blinden Schatten (te44 Dieser allegorische Vergleich geht vermutlich auf Platons Gorgias zurück: Vgl. Beate Beer, »Lust und Verlust: Zum Zusammenspiel zweier Metaphern in Lukrez’ De rerum natura«, in: Philosophie der Lust. Studien zum Hedonismus, hg. v. Michael Erler u. Wolfgang Rother, Basel: Schwabe, 2012, S. 161–182, insb. S. 168–174. Ähnlich: Tobias Reinhardt, »Readers in the Underworld: Lucretius, De Rerum Natura 3.912–1075«, in: The Journal of Roman Studies, 94 (2004), S. 27–46, insb. S. 39–43. 45 Wie Wittner in ihrer Dissertation darlegt, bedient sich Lukrez in De rerum natura zahlreicher literarischer Formen, darunter auch Elementen der Diatribe: Ursula Wittner, Obscura de re tam lucida carmina pango. Untersuchungen zu Sprache, Argumentationstechnik und literarischer Formenwelt im Lehrgedicht des Lukrez, unveröffentliche Diss., Universität Wien, 2003, S. 311–341. 46 Vgl. West, The Imagery and Poetry of Lucretius, S. 84. Anderson sieht hier eine gewisse Diskontinuität in Lukrez’ Lichtmetaphorik, die einerseits die Dunkelheit vertreiben will, um sie andererseits zu beschwören: Anderson, »Discontinuity in Lucretian Symbolism«, S. 4f. Das ist jedoch kein Widerspruch: Lukrez weckt mittels seiner poetischen Imagination beim Leser durchaus diejenigen Ängste, die er heilen will. Die unterschiedlichen Ebenen seines
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nebrae caecae), welche die unaufgeklärte Menschheit gefangen halten, können nicht durch das Sonnenlicht, sondern allein durch das geistige Licht der naturae species ratioque vertrieben werden. Deshalb können Lukrez’ clara lumina auch in der Finsternis leuchten und die Nächte in die lichten Nächte (noctes serenae) verwandeln. Lukrez möchte wie Epikur unseren Geist mit Worten, nicht mit Waffen (dictis, non armis) von seiner Blindheit befreien (5.50)47 und uns dadurch ins Licht führen, wohingegen uns die falschen Dichter-Propheten, wie es im nächsten Kapitel zu zeigen gilt, hinter das Licht führen. Der Ausdruck naturae species ratioque bezeichnet die Naturphilosophie, die Epikur schlicht φυσιολογία, ›Physiologie‹, nennt. Cicero übersetzt die φυσιολογία als naturae ratio (nat. 1.20) und latinisiert beide Komponenten des griechischen Wortes, wobei die natura der Physis (φύσις) und die ratio dem Logos (λόγος) entspricht. Bei Lukrez tritt bezeichnenderweise die species hinzu, ein Begriff, den er auch als Synonym für die Sichtbilder (simulacra) benutzen wird, die alle Dinge unaufhörlich aussenden. Damit betont er im Unterschied zu Epikur und Cicero den phänomenalen und visuellen Aspekt der Natur.48 Seine naturae species ratioque ist wie schon die Wendung terror animi tenebraeque eine Zwillingsformel (Hendiadyoin), die einen Begriff durch zwei gleichwertige Aspekte ausdrückt. Sie verbindet das Sichtbare (species) mit dem Unsichtbaren (ratio) und bringt die visuellen Tendenz des Dichters zur Sprache, der die ratio in der species und die species in der ratio durch Sprachbilder auszudrücken sucht.49 Die species ist im Kontext des De rerum natura mehr als eine reine Naturbetrachtung, sie bedeutet eine dichterische Schau.50 Während Epikur in seinen erhaltenen Schriften die unsichtbaren Zusammenhänge der Natur tendenziell aus ontologischen Grundbegriffen logisch deduziert, schreitet Lukrez in seinem Gedicht zumeist induktiv und anschaulich von einer poetischen Beschreibung der Phänomene zu deren atomarer Konstitution fort.51 Diese Tendenzen zeichnen sich vielleicht bereits in der Differenz zwischen φυσιολογία und naturae species ratioque ab. Weiter verbindet Lukrez’ Zwillingsformel die Aktivität des Dichters mit derjenigen der
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Symbolismus stehen nicht nur nebeneinander, sie bilden eine dialektisch-therapeutische Einheit. Der Vergleich von Wort und Waffe war in der Antike ein beliebter Topos: Vgl. Godo Lieberg, Poeta Creator. Studien zu einer Figur der antiken Dichtung, Amsterdam: Gieben, 1982, S. 174– 178. Vgl. Clay, »De Rerum Natura: Greek Physis and Epicurean Physiologia«, S. 136. Ausführlich zu diesem Verhältnis von species und ratio siehe: Thury, Naturae Species Ratioque, S. 74. Der visuelle Aspekt von species wird auch in einem neueren Artikel von Beltramini hervorgehoben: Luca Beltramini, »Alcune osservazioni su naturae species ratioque nel De rerum natura di Lucrezio (e una nota al testo)«, in: Philologus, 164 (2020), S. 308–331; insb. S. 312– 320. Vgl. C. Joachim Classen, »Poetry and Rhetoric in Lucretius«, in: Probleme der Lukrezforschung, hg. v. ders., Hildesheim u. a.: Olms, 1986, S. 331–372, insb. S. 345f.
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Natur. Da species und ratio schillernde Ausdrücke sind und der Genitiv naturae sowohl objektiv als auch subjektiv verstanden werden kann, ergibt sich daraus ein weites Bedeutungsfeld: Die naturae species kann entweder die ›Schau‹ oder das ›Aussehen‹, die ›augenscheinliche Beschaffenheit der Natur‹, meinen, und die naturae ratio entweder die ›Lehre von der Natur‹ oder die ›gesetzmäßige Wirkweise der Natur‹. Lukrez’ Kampf gegen die Ängste und Schatten der Seele erklärt diesen semantischen Spielraum selbst zu einem naturhaften Prozess.52 Die Natur selbst kommt uns in seiner poetischen Vision entgegen und löst den Schrecken, der uns zuweilen wie Kinder im Dunkel befällt. Lukrez vergleicht die naturae species ratioque aufgrund ihrer Naturhaftigkeit indirekt mit den Strahlen der Sonne. Damit illustriert er die Raschheit der Ausbreitung seiner Lehre: So wie die Sonne bei ihrem Aufgang den ganzen Raum mit Licht erfüllt (2.142–164), soll seine Naturphilosophie die Schatten der Seele augenblicklich vertreiben. Allerdings übertrifft die naturae species ratioque sogar die Macht des Sonnenlichts. Denn die ratio der Natur wie die ratio unsers Denkens und Vorstellens hat laut Lukrez eine höhere Geschwindigkeit als die des Lichts: Die Atome stürzen in der Leere mit einer größeren Raschheit als Sonnenlicht (multo citius quam lumina solis) (2.162). Weil wir diese ursprüngliche Bewegung denkend erfassen, muss unser Geist mindestens so schnell wie diese sein. Nach Epikur entspricht die maximale Geschwindigkeit der Atome und der Sichtbilder (simulacra) genau der unseres Denkens (ἅμα νοήματι) (Her. 48 u. 61). Unsere geistige Vorstellungskraft ist schneller als alle wahrnehmbaren Objekte, was Lukrez damit erklärt, dass unser Geist (animus) aus besonders kleinen und runden Atomen besteht, die sich nicht verhaken können und in ihrer Beweglichkeit kaum eingeschränkt sind (3.184–190). Diese Feinheit und Mobilität der rationalen Seele korrespondiert auch mit derjenigen der Sichtbilder, simulacra oder species, die rascher als unsere Wahrnehmung sind und die sich ebenfalls schneller als das Licht bewegen (4.199–208). Die Fallbewegung der Atome, die Raschheit unseres Geistes und der species begegnen sich also darin, dass sie die Lichtgeschwindigkeit übersteigen. Wie auch immer man diesen Zusammenhang im Detail interpretiert, die epikureische Naturphilosophie kann das Unsichtbare teilweise nur deshalb erfassen, weil ihr Denken schneller als die Bewegung der sichtbaren Phänomene ist. Dies deutet sich bereits in der Ähnlichkeit und in der Unterscheidung zwischen der naturae species ratioque, den radii solis und den lucida tela diei an. Lukrez’ Vergleich zwischen dem Licht des Geistes und dem der
52 Sedley beschreibt treffend: »Read actively, naturae species ratioque no doubt denotes the rational philosophical procedure of ›looking at nature and reasoning about it‹. But at the same time the Latin permits and even encourages the additional reading, ›the appearance and rationale of nature‹: such a rendition emphasises the power of nature herself to confront us with the truth […].« David, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, S. 37.
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Sonne ist ein allgemeiner philosophischer Topos,53 der bei Lukrez im Speziellen auf die epikureische Theorie der Geschwindigkeit des Denkens und Vorstellens verweist. Das Leitmotiv, das den Großteil der Proömien beschließt, stellt Lukrez’ Lehre in den Dienst der hedonistischen Ethik. Ohne Naturphilosophie (φυσιολογία) wäre ein angstfreies und lustvolles Leben unmöglich, wie auch Epikur in einem Merkspruch sagt (rat. 12): »Οὐκ ἦν τὸ φοβούμενον λύειν ὑπὲρ τῶν κυριωτάτων μὴ κατειδότα τίς ἡ τοῦ σύμπαντος φύσις, ἀλλ’ ὑποπτευόμενόν τι κατὰ τοὺς μύθους ὥστε οὐκ ἦν ἄνευ φυσιολογίας ἀκεραίους τὰς ἡδονὰς ἀπολαμβάνειν (Folglich wäre es unmöglich, die Angst bezüglich der entscheidendsten Grundsätze zu lösen, wenn man nicht die Natur des Ganzen berücksichtigt, sondern irgendetwas aufgrund der Mythen wähnt, sodass es ohne Naturphilosophie nicht möglich wäre, unbeschadet Lust zu empfangen).« Lukrez veranschaulicht die therapeutische Ausrichtung der epikureischen Philosophie durch den doppelten Vergleich seines erweiterten Leitmotivs und spinnt das metaphorische Chiaroscuro seiner Poetik fort. Der Antagonismus zwischen terror animi tenebraeque und naturae species ratioque, erweist sich auf unterschiedlichen Ebenen als verlängerter Arm des inlustrare, das durch die Verse seiner Schlussformel dramatisiert, visualisiert, naturalisiert und beschleunigt wird.
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Inlustrare: Geschichte und Rhetorik eines Verbs
Das inlustrare hat in der römischen Literatur eine Fülle von Konnotationen. Das zeigt sich in der Wortgeschichte, allgemein in den semantischen Schattierungen des Verbs und insbesondere in den philosophischen und rhetorischen Dialogen Ciceros, in denen dem inlustrare ein ähnliches Gewicht wie bei Lukrez zukommt. Die Etymologie des Verbs ist ungewiss: Im Wort inlustrare steckt das Verb lustrare, das entweder vom lateinischen ›leuchten‹ (luceo) oder ›büßen‹ (luo) stammt, wobei zweites mit dem griechischen ›(auf)lösen‹ (λύω) verwandt scheint.54 Lustrare allein kann manchmal ›beleuchten‹, aber auch ›sich im Raum bewegen‹ bedeuten. Beide Bedeutungen finden sich bei Lukrez, wenn er beispielsweise beschreibt, wie die Sonne mit ihrem Licht Länder und Himmel er53 Einen kleinen Überblick über diese Metaphorik bietet: Johann Kreuzer, »Licht«, in: Wörterbuch der philosophischen Metaphern, hg. v. Ralf Konersmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014, S. 207–224. Siehe auch: Hans Blumenberg, »Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung«, in: Ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001, S. 139–171. 54 Vgl. Alfred Ernout/Alfred Meillet, Dictionnaire étymologique de la langue latine. Histoire des mots, Paris: Kliencksieck, 2001, S. 372.
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leuchtet (lumine lustrans) (5.693), oder, wie die Gestirne im Weltraum auf ihren Bahnen wandeln (cursus lustrare) (5.79). Hauptsächlich meint lustrare jedoch ›läutern‹ oder ›rituell reinigen‹ und hängt mit dem römischen Ritual der Heeresreinigung (lustrum) zusammen. Bei der Zeremonie der Heeresreinigung umschritten die Priester bei Sonnenaufgang das versammelte Heer, wobei sich die genannten Bedeutungen des lustrare – die Lichtwerdung, die räumliche Bewegung und die rituelle Läuterung – auf komplexe Weise überschneiden.55 Lukrez erwähnt dieses Ritual nirgends, doch hat das Licht auch bei ihm eine reinigende Kraft. Blicken wir aus dem Schatten ins Licht (e tenebris in luce), behauptet er, werden unsere Augen durch die anströmenden Partikeln des Lichts gereinigt und die schwarzen Schatten der dunklen Luft werden zerschlagen (quasi purgat eos ac nigras discutit umbras) (4.312–317). Das brachiale Bild vom Zerschlagen (discutere) der Schatten ist uns aus dem soeben besprochenen aufklärerischen Leitmotiv bekannt. Außerdem schreibt Lukrez, dass Epikur unsere Herzen mit seinen wahrsagenden Worten reinigte (veridicis igitur purgavit pectora dictis) und damit unsere Ängste und Begierden in ihre Schranken wies (5.24f). Möglicherweise klingt in Lukrez’ inlustrare, das sich an der Zerschlagung (discutere) der Schatten der Seele und an der Reinigung (purgare) unseres Geistes beteiligt, ein Echo des rituellen lustrum nach.56 Inlustrare bzw. illustrare, das von lustrare stammt, heißt primär ›be-‹ oder ›erleuchten‹, aber auch ›rühmen‹, ›bekannt machen‹ oder ›schmücken‹. Die zweite Bedeutung rührt daher, dass das inlustrare Dinge ans Licht der Öffentlichkeit führt. Wenn Cornelius Nepos schreibt, dass Themistokles aufgrund seiner Klugheit und Tatkraft innerhalb kürzester Zeit erleuchtet wurde (ut brevi tempore illustraretur) (Them. 1.4), dann meint er damit, dass dessen Taten öffentlich bekannt wurden. Daher bedeutet das Adjektiv illustris, das von inlustrare stammt, ›berühmt‹. Der Ruhm kommt insbesondere durch Vermittlung der Sprache zustande. Cicero spricht davon, dass die römische Frühgeschichte zwar dunkel (obscurus) sei, aber zumindest die Namen der Könige erleuchtet wurden (inlustrata sunt nomina) (rep. 1.33). Ebenso schreibt er, dass die Weisheit der Vergangenheit im Schatten läge (iacere in tenebris), wenn sie uns nicht durch das Licht der Literatur (litterarum lumen) zugänglich gemacht worden wäre (Arch. 6.14). Die Gleichsetzung von Ruhm und Licht ist seit der frühgriechischen
55 So die Deutung von Benveniste, der sich auf die Schilderung des lustrum bei Livius bezieht: Émile Benveniste, Le vocabulaire des institutions indo-européennes, Paris: Éditions de minuit, 1969, Bd. 2, S. 230f. 56 Auch Pope entdeckt bei Lukrez ein Echo des lustrum, allerdings an einer anderen Stelle, die hier weniger relevant ist: Stella R. Pope, »The Imagery of Lucretius«, in: Greece & Rome, 18, Nr. 53 (Jun. 1949), S. 70–79, hier S. 73.
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Dichtung ein gängiger Topos.57 Er findet sich bei Lukrez, wenn er über den Tod Epikurs schreibt (3.1042–1044): »ipse Epicurus obit decurso lumine vitae, | qui genus humanum ingenio superavit et omnis | restinxit, stellas exortus ut aetherius sol (Selbst Epikur starb, nachdem er das Licht des Lebens durchlaufen hatte, der doch das Menschengeschlecht an Geisteskraft übertraf und alle überstrahlte, wie die Sonne im Äther bei ihrem Aufgang die Sterne).« Das Licht des Lebens und der Geisteskraft (ingenium) wird mit der Sonne des Ruhms gleichgesetzt, die alle anderen überstrahlt und in den Schatten stellt. Diese Stelle – die einzige im De rerum natura, die Epikur beim Namen nennt – ist eine Imitation eines Lobgedichts, das Leonidas von Tarent für Homer verfasste.58 Indem Lukrez den traditionellen Vergleich auf Epikur ummünzt, lässt er diesen Homer überstrahlen, den er wenige Verse zuvor noch als Anführer aller Dichter bezeichnete (3.1037f).59 Epikurs Sonne ging zwar unter, aber ihr Licht lebt in Lukrez’ Versen fort. Wenn Lukrez die obscura reperta Epikurs erleuchtet, dann verleiht er ihnen gleichzeitig Ruhm. Sein inlustrare rühmt Epikurs inlustrare. Eine spezifischere Bedeutung des inlustrare finden wir bei Cicero, in dessen Schriften das Verb eine prominente Rolle spielt. Cicero benutzt das Verb in seinen philosophischen Dialogen, um die Notwenigkeit der Latinisierung der griechischen Philosophie zu illustrieren (Tusc. 1.3): »Philosophia iacuit usque ad hanc aetatem nec ullum lumen litterarum Latinarum; quae inlustranda et excitanda nobis est […] (Die Philosophie lag bis zur heutigen Zeit darnieder und hatte kein Licht der lateinischen Literatur; wir müssen sie erleuchten und aufwecken […]).« Cicero schreibt vorgeblich seine Dialoge (div. 2.4): »[…] ut, nisi quae causa gravior obstitisset, nullum philosophiae locum esse pateremur, qui non Latinis litteris inlustratus pateret ([…] weil wir, falls uns nicht ein gewichtigerer Grund abhielt, nicht duldeten, dass es einen Bereich der Philosophie gibt, der nicht durch die lateinische Literatur erleuchtet offenstand).« Seine Aufgabe besteht darin (ac. 1.3): »[…] philosophiamque illam a Socrate ortam Latinis litteris inlustrare […] ([…] jene Philosophie, die von Sokrates geboren wurde, durch die lateinische Literatur zu erleuchten […]).« Dabei betrachtet er sich selbst als eine Art Geburtshelfer, welcher der Entstehung einer neuen literarischen Gattung beisteht (Tusc. 2.2): »[…] philosophia nascatur Latinis quidem litteris ex his temporibus, eademque nos adiuvemus […] ([…] die Philosophie soll freilich unter jetzigen Zeitumständen in der lateinischen Literatur geboren 57 Über das Verhältnis von Ruhm und Licht bei Pindar und anderen frühgriechischen Dichtern: Dieter Bremer, Licht und Dunkelheit in der frühgriechischen Dichtung. Interpretationen zur Vorgeschichte der Lichtmetaphysik (Supplementheft, Archiv für Begriffsgeschichte), Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann, 1976, insb. S. 276–286. 58 Dies stellt u. a. Bailey fest: Cyril Bailey, Titi Lucreti Cari De rerum natura libri sex, hg., üb. u. komm. v. dems., Oxford: Clarendon Press, 1947, Bd. 2., S. 1052. 59 Vgl. Gale, Myth and Poetry in Lucretius, S. 202f.
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werden und wir wollen ihr dabei helfen […]).« Erst durch ihn erblickt die Philosophie das Licht der lateinischen Literatur, lumen litterarum Latinarum, und eröffnet einen neuen literarischen Raum. Bislang lag die Philosophie scheinbar im Dunkel, sie schlief in der lateinischen Sprache und wartete nur darauf, dass Cicero sie erleuchtet und erweckt. Das inlustrare wird hier nahezu ein Synonym für eine bestimmete Art ›Übersetzung‹ der griechischen Philosophie. Wenn Cicero seine philosophische Aufgabe als inlustrare bestimmt, dann meint er damit nicht bloß die Latinisierung der Philosophie, sondern eine Form der ›Übersetzung‹, die durch stilistische Klarheit oder Helligkeit besticht. Das zeigt sich deutlich in einer Passage seines Dialogs De oratore, in der er sich über die römische Geschichtsschreibung beschwert (2.55): minime mirum, […] si ista res adhuc nostra lingua inlustrata non est. nemo enim studet eloquentiae nostrorum hominum, nisi ut in causis atque in foro eluceat; apud Graecos autem eloquentissimi homines, remoti a causis forensibus, cum ad ceteras res inlustris tum ad historiam scribendam maxime applicaverunt. Es ist kein Wunder, […] wenn jene Sache [die Geschichte] in unserer Sprache noch nicht erleuchtet wurde. Denn keiner unserer Männer bemüht sich um die Rhetorik, außer, um bei Gerichtsfällen auf dem Forum zu leuchten; bei den Griechen aber widmeten sich die redegewandtesten Männer fernab von den öffentlichen Rechtsangelegenheiten neben anderen lichten Dingen alsdann insbesondere der Geschichtsschreibung.
Zwar schreiben die Römer schon seit geraumer Zeit historische Werke, dennoch ist das inlustrare der Geschichte noch nicht geschehen. Das liegt daran, dass die römischen Schriftsteller im Gegensatz zu den griechischen die Rhetorik angeblich noch nicht im vollen Umfang anerkannten und ihren Wirkkreis auf die politische und juristische Rede beschränkten. Die Römer leuchten auf dem Forum60 hervor (elucere), ohne das Licht ihrer Sprache auf andere illustre Gegenstände (res inlustris) anzuwenden. Aus demselben Grund liegt aber auch die Philosophie im Dunkel: So erwähnt Cicero, wie ich im letzten Kapitel ausführen werde, zwar in seinen philosophischen Schriften immer wieder gewisse römische Epikureer – Amafinius, Rabirius, Catius –, die vor ihm philosophische Werke auf Latein verfassten.61 Doch diese Autoren schrieben Cicero zufolge noch auf ungeschliffene Weise (sermo vulgaris) und ohne Kunstfertigkeit (nulla arte adhi60 Eine exemplarische Analyse der Lichtmetaphorik anhand von Ciceros De senctute zeigt, dass das Licht der Öffentlichkeit in ihrem Zentrum steht: Aron Sjöblad, Metaphors Cicero lived by. The Role of Metaphor and Simile in Ciceros De senectute, Lund: Lund University, 2009, insb. S. 97–101. 61 Einen guten Überblick über diese frühen Epikureer bietet noch immer: Pierre Boyancé, Lucrèce et l’Épicurisme, Paris: Presses Universitaires de France, 1963, insb. S. 8–12. Über Ciceros Verhältnis zu diesen Epikureern siehe: Michael Erler, »Die Schule Epikurs«, in: Die Philosophie der Antike, Bd. 4 (Die hellenistische Philosophie), Halbb. 1, hg. v. Helmut Flashar, Basel: Schwabe & Co, 1994, S. 203–377, hier S. 368–370.
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bita) (ac. 1.5). Wenn aber jemand seine Gedanken verschriftlicht, ohne sie rhetorisch zu ordnen (disponere), auszuschmücken und zu erleuchten (inlustrare), um dem Leser Vergnügen (delectatio) zu bereiten, dann vergeudet er bloß seine Mußezeit (Tusc. 1.6). Das inlustrare der Philosophie steht also wie das der Geschichte aus, weil noch kein Römer die Redekunst auf dieses Gebiet angewandt hatte. Genauso muss laut Cicero auch die Physik, Mathematik und jedes andere wissenschaftliche Fachgebiet erst in der lateinischen Sprache erleuchtet werden (inlustrari oratione) und sich dabei der Fähigkeit des Redners (oratoris facultas) bedienen (de orat. 1.61). Für Cicero ist das inlustrare unabdingbar mit der Rhetorik verbunden. Der römische Historiker Velleius Paterculus lobt Cicero rückblickend (hist. 2.66.5): »vivit vivetque per omnem saeculorum memoriam, dumque hoc […] rerum naturae corpus, quod ille paene solus Romanorum animo vidit, ingenio complexus est, eloquentia inluminavit, manebit incolumne, […] (Er lebt und wird leben im ganzen Gedächtnis der Zeiten, solange dieser […] Körper der Natur der Dinge, den jener fast als einziger der Römer mit dem Geist erblickte, mit seinem Genie umfasste und durch seine Redekunst erleuchtete, unbeschadet bestehen wird […]).« Velleius verknüpft Ciceros Weltruhm mit dessen rhetorischer Gabe und erleuchtet dadurch selbst – wie es Cicero von der Geschichtsschreibung fordert – die ruhmvolle Vergangenheit. Er stilisiert Cicero zu einem Universalgenie, das gleichsam als erster unter den Römern das gesamte corpus der natura rerum in seinem Geist erblickte und sie durch seine Redekunst erleuchtete.62 Nur wer die Regel der Rhetorik beherrscht, kann laut Cicero den Dingen ein Licht (lumen) geben und Dunkelheit (obscuritas) und Schatten (tenebrae) der falschen Ausdrucksweise vermeiden (de orat. 3.50). Es steht scheinbar fest, dass (de orat. 3.24): »[…] neque verborum ornatum inveniri posse non partis expressisque sententiis, neque esse ullam sententiam inlustrem sine luce verborum ([…] man weder einen Schmuck der Worte finden kann, bevor Gedanken geboren und ausgedrückt wurden, noch, dass es irgendeinen lichten Gedanken ohne das Licht der Worte gibt).« Das Licht der Worte und das der Gedanken (sententia inlustris) sind nicht zu trennen. Auf der Ebene der Wortwahl (elocutio) werden dabei drei Möglichkeiten des inlustrare unterschieden (de orat. 3.152): »Tria sunt igitur in verbo simplici, quae orator adferat ad inlustrandam atque exornandam orationem: aut inusitatum verbum aut novatum aut translatum (Daher gibt es bei den Einzelworten drei [Mittel], die der Redner anwenden kann, um seine Rede zu erleuchten und zu schmücken: entweder das ungewöhnliche Wort, ein neues oder ein übertragenes).« Cicero erwähnt das inlustrare oft in 62 Über Ciceros Darstellung als Universalgenie siehe: Gregory Owen Hutchinson, Greek to Latin. Frameworks and Contexts for Intertextuality, Oxford: Oxford University Press, 2013, S. 38–42.
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einem Atemzug mit dem ornare, ›zieren‹, ›schmücken‹, und verwendet beide Verben fast synonym. Der Redeschmuck (ornatus) besteht auf lexikalischer Ebene in Archaismen, Neologismen oder übertragenen Wortfiguren (verba translata). Während Archaismen und Neologismen – zumindest in der Prosarede – nur sparsam eingesetzt werden sollen, spielen die übertragenden Wortfiguren bei der Erleuchtung die entscheidende Rolle (de orat. 3.170): »[…] translatum, quod maxime tamquam stellis quibusdam notat et inluminat orationem ([…] die Übertragung, die eine Rede am stärksten gleichwie gewisse Sterne kennzeichnet und erleuchtet).« Deshalb nennt Cicero die Redefiguren, welche die Griechen Schemata (σχήματα) nannten, in einem anderen Dialog lumina (Brut. 275). Ganz ähnlich spricht das älteste erhaltene rhetorische Handbuch der Römer, die anonyme Rhetorica ad Herennium, von den rhetorischen Figuren als lumina, durch die wir die Rede erleuchten können (luminibus distinctis inlustrabimus orationem) (4.23). Die Lichtmetaphorik des inlustrare ist von Anbegin in der römischen Rhetorik präsent.63 Unter allen Wortfiguren hebt Cicero – wie die meisten antiken Theoretiker der Rhetorik – die Metapher hervor, die er als eine Wortübertragung (translatio verbi) versteht, die zwischen zwei lexikalischen Feldern stattfindet, zwischen denen eine wesentliche Ähnlichkeit (similitudo) besteht.64 Die translatio wird zunächst aus sprachlicher Armut geboren, um Dinge zu benennen, die keine eigentliche Bezeichnung haben (Katachrese). Später wird sie aber auch bewusst eingesetzt, um eigentliche Bezeichnungen zu ersetzen (Metaphern im strengen Sinn) und um beim Publikum Vergnügen hervorzurufen. Sie funktioniert dann als Kurzform eines Vergleichs, der einen verborgenen Sachverhalt veranschaulicht und dadurch zum Glanz der Rede beiträgt (de orat. 3.155–160).65 Cicero unterstreicht v. a. die Wirkung derjenigen Metaphern, die an den Gesichtssinn appellieren, insbesondere jene, die einen unsichtbaren Sachverhalt sichtbar machen (de orat. 3.39): »illa vero oculorum multo acriora, quae paene ponunt in conspectu animi, quae cernere et videre non possumus (Jene [Metaphern] der Augen sind freilich scharfsinniger, die sozusagen in den Blick des Geistes rücken, was wir weder wahrnehmen noch sehen können).« Diese visuellen Metaphern verleihen der Rede eine besondere Anschaulichkeit. Deshalb übersetzt Cicero laut Quintilian den griechischen Begriff für Evidenz (ἐνάργεια) sowohl als evi-
63 Zum Begriff der lumina in der römischen Rhetorik: Elaine Fantham, Comparative Studies in Republican Latin Imagery, Toronto u. a: University of Toronto Press, 1972, S. 169f. 64 Vgl. E. Eggs, »Metapher«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Tübingen: Niemeyer, 1992, Bd. 5, S. 1099–1108, hier Sp. 1108f. 65 Die Vergleichstheorie der Metapher wird manchmal Aristoteles zugeschrieben, findet sich aber genaugenommen erst bei Cicero: Rolf Eckard, Metaphertheorien. Typologie, Darstellung, Bibliografie, Berlin u. a.: De Gruyter, 2005, S. 31f.
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dentia wie als illustratio (inst. 6.2.32).66 Das inlustrare bedeutet also nicht nur eine ›Übersetzung‹ zwischen zwei Sprachen, sondern auch einen metaphorischen und innersprachlichen Übertragungsprozess, der die ›bildliche‹ Evidenz der Sprache garantieren soll.67 Als Cicero mit der systematischen rhetorischen Übersetzung der hellenistischen Philosophie in seinen lateinischen Prosaschriften begann, hatte Lukrez einen Teilbereich von ihr, die epikureische Naturphilosophie, bereits Latinis versibus erhellt. Ähnlich wie bei Cicero beschreibt das inlustrare schon bei Lukrez eine Übersetzung im weiteren Sinn und zugleich eine genuine Sprachschöpfung, die sich rhetorischer Kunstgriffe bedient. Deshalb ist auch Lukrez’ inlustrare dem ornare verwandt (6.81f): »[…] multa tamen restant et sunt ornanda politis | versibus […] ([…] vieles bleibt noch [zu sagen] und muss mit polierten Versen ausgeschmückt werden […]).« Außerdem impliziert es eine innersprachliche Übersetzung: Lukrez muss die Armut der Sprache (egestas linguae) teilweise durch Katachresen überwinden, teilweise Metaphern erschaffen, die beim Leser eine bestimmte Form der Freude hervorrufen, die epikureische voluptas. Das Licht der Worte und Gedanken bildet wie in Ciceros rhetorischer Theorie eine untrennbare Einheit. Genauso zeigt auch Lukrez eine Vorliebe für visuelle Metaphern, die ein literarisches Licht entzünden, das schließlich die Dunkelheit und die Schatten der Seele vertreiben soll. Das zeigt sich nicht zuletzt in seiner ausgeprägten Lichtmetaphorik, die sich teilweise mit derjenigen der römischen rhetorischen Schriften überschneidet und durch die der Leser die verborgenen und dunklen Dinge erblicken soll.68 Trotz dieser Affinitäten erwähnt Cicero in seinen philosophischen Schriften Lukrez nie – wahrscheinlich, um, wie es im letzten Kapitel zu zeigen gilt, seine eigene Pionierrolle nicht zu relativieren.69 Dadurch kann sich Cicero zum ersten Römer stilisieren, der in den Worten des Velleius als erster die natura rerum in der lateinischen Sprache erfasste und erhellte. Cicero nennt Lukrez in seinem 66 Vgl. A. Kemman, »Evidentia, Evidenz«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, 5, Sp. 33–47. Die ἐνάργεια spielt nicht nur eine Rolle in der Rhetorik, sondern auch in der Philosophie. Während Cicero die ἐνάργεια als evidentia übersetzt und damit auf den Sehsinn rekurriert, übersetzt sie Lukrez als manifestum, womit er ein haptisches Modell der epistemologischen Gewissheit vertritt. Hierzu mein Aufsatz: »Manifest gegen die Evidenz. Tastsinn und Gewissheit bei Lukrez«, in: Auf die Wirklichkeit zeigen. Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften. Ein Reader, hg. v. Helmut Lethen, Ludwig Jäger u. Albrecht Koschorke, Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2015, S. 85–105. 67 Vgl. Philip Hardie, Ovid’s Poetics of Illusion, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 2002, S. 5f. 68 Über diese visuelle Metaphorik siehe: Petrus Hermanus Schrijvers, »Seeing the invisible: A Study of Lucretius’ Use of Analogy in De rerum natura«, in: Oxford Readings in Classical Studies. Lucretius, S. 255–288, insb. S. 280f. 69 Dies ist die gängige Interpretation von Ciceros Schweigen: Vgl. Lisa Piazzi, Lucrezio. Il De rerum natura e la cultura occidentale, Neapel: Liguori Editori, 2009, S. 23–31.
Obscura reperta: Dunkle Prosa, lichte Verse (Heraklit, Empedokles)
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ganzen erhaltenen Werk nur an einer einzigen Stelle, und zwar in einem vielzitierten Brief an seinen Bruder Quintus (ad Quin. 2.10.3): »Lucreti poemata ut scribis, ita sunt, multis luminibus ingenii, multae tamen artis […] (Die Gedichte des Lukrez, wie du schreibst, sind gewiss voller Lichter des Geistes, doch auch voller Kunstsinn […]).«70 Die Gegenüberstellung und Zusammenführung der angeborenen natürlichen Geistesgabe (ingenium) und der erlernbaren Kunstfertigkeit (ars) ist ein traditioneller Topos und verweist wahrscheinlich auf Lukrez’ stilistischen Kompromiss zwischen der alten homerischen Epik und der neuen alexandrinischen Poesie.71 Die natürlichen Lichter der Begabung oder Geistesblitze, die lumina ingenii, entsprechen hingegen Lukrez’ eigener Lichtmetaphorik, den lumina seiner Wortfiguren und den clara lumina seiner Verse. Sein inlustrare erweist sich in diesem Sinn als Ausdruck poetischer Geistesblitze.
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Obscura reperta: Dunkle Prosa, lichte Verse (Heraklit, Empedokles)
Wie erwähnt, vergleicht Lukrez Epikur mit einer Sonne, die zu Lebzeiten alle anderen Menschen überstrahlte. Indem er ihn als eine Lichtgestalt feiert, leuchtet Epikurs Licht in seinen Versen fort. Darin zeigt sich die rühmende Funktion des inlustrare. Zu Beginn des dritten Proömiums, welches das lichte Leben der Götter mit der schattenhaften Existenz der unerlösten Menschheit kontrastiert, ruft Lukrez, wie wir im dritten Kapitel in voller Länge zitieren werden, Epikur emphatisch an (3.1–3): »O tenebris tantis tam clarum extollere lumen | qui primus potuisti inlustrans commoda vitae | te sequor, o Graiae gentis decus […] (O, der du als erster vermochtest, aus so tiefen Dunkelheiten ein so helles Licht zu erheben, die Güter des Lebens erleuchtend, dir folge ich, o Glanz des griechischen Geschlechts […]).«72 Epikur, der anonym als Ornament oder Glanz der Griechen (Graiae gentis decus) angerufen wird, bewegt sich wie Lukrez in einem metaphorischen Chiaroscuro und erhebt sein helles Licht, clarum lumen, wie eine Fackel aus den Schatten. Wie Prometheus den Menschen als erster das Feuer brachte, erleuchtete (inlustrare) Epikur als erster die Vorteile des Lebens (commoda vitae), worunter vermutlich die zuträglichen Mittel/Güter (συμφέροντα) zu 70 Zu dieser berühmten Äußerung: Luciano Canfora, Vita di Lucrezio, Palermo: Sellerio editore, 1993, S. 113f. 71 Vgl. Edward John Kenney, »Doctus Lucretius«, in: Oxford Readings in Classical Studies. Lucretius, S. 300–327, hier S. 301f. 72 Timpanaro und West lesen O tenebris statt E tenebris. Nach dieser Lesart erhebt Epikur sein Licht nicht aus den Schatten, sondern inmitten der Schatten: Sebastiano Timpanaro, »Lucrezio III 1«, in: Ders., Contributi di filologia e di storia della lingua latina, Rom: Edizioni dell’Ateneo & Bizzari, 1978, S. 135–139; West, The Imagery and Poetry of Lucretius, S. 80.
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Inlustrare
verstehen sind, die nach epikureischer Lehre zur voluptas führen, ohne die Seelenruhe zu gefährden.73 Neben der Digression aus dem ersten Proömium ist dies die einzige Stelle im gesamten De rerum natura, an der das Verb inlustrare auftaucht. Dadurch rückt das Verb Lukrez in nächste Nähe zu seinem Meister, dem er folgt und dessen clarum lumen er durch die clara lumina seiner Verse fortpflanzen will.74 Die lukrezische Formel (2.78f): »[…] inque brevi spatio mutantur saecla animantium | et quasi cursores vitai lampada tradunt ([…] und in kurzer Zeitspanne wechseln die Generationen der Lebewesen und sie überbringen gleichsam wie Läufer die Fackeln des Lebens)«,75 gilt somit nicht nur für das Licht des Lebens, sondern auch für die lumina der Literatur: Epikur überreicht Lukrez nach seinem Tod seine Fackel, damit dieser in seiner Nachfolge durch sein inlustrare die Ängste und Schatten der Seele vertreibt. Beide folgen demselben leuchtenden ethischen Richtungsvektor. Ähnlich preist Lukrez Epikur im fünften Proömium dafür, dass er (5.11f): »[…] fluctibus e tantis vitam tantisque tenebris | in tam tranquillo et tam clara luce locavit ([unser] Leben aus so großen Fluten und tiefen Schatten in so eine Ruhe und ein so helles Licht versetzte).« Er bezeichnet Epikur sogar als einen Gott (deus ille fuit, deus) und vergleicht dessen Lehre mit anderen göttlichen Funden (divina reperta), die Epikur freilich übertrifft. Denn während Ceres den Menschen bloß den Ackerbau lehrte und Bacchus die Weinherstellung, erfand Epikur als erster die wahre Lehre des Lebens (vitae rationis invenit), ohne die ein glückliches Leben unmöglich wäre. Deshalb spricht Lukrez auch im sechsten Proömium von Epikurs divina reperta und stilisiert ihn selbst zur größten Errungenschaft und Entdeckung (vir … repertus) der Stadt Athen, die er als Wiege der Zivilisation verklärt (6.1–8).76 Sodann reiht er Epikur im dritten Buch unter die großen Forscher und Künstler ein, die Entdecker der Lehrgebäude und der Schönheit (repertores doctrinarum atque leporum), und lässt ihn, wie gesagt, sogar Homer überstrahlen.
73 Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 986f. 74 Dies sieht Cabisius deutlich: »Inlustrare occurs nowhere else in the poem. Both quotations [1.136f u. 3.1f] explicitly state the previous conditions of darkness and ignorance. The tantae tenebrae from which Epicurus raises his torch are the superstition and the fear which darken the lives of the unenlightened. Lucretius must illuminate for the imagination of his reader the activity of the invisible atoms. Though the terms of the image apply differently to the task and achievement of Lucretius, the metaphor defines the identity of the poet as like that of the master.« Gail Cabisius, »Lucretius’ Statement of Poetic Intent«, in: Studies in Latin Literature and Roman History, 167, Nr. 1 (1979), S. 239–248, hier S. 242. 75 Eine genaue Analyse der poetischen Bildlichkeit dieses Gleichnisses in: West, The Imagery and Poetry of Lucretius, S. 49f. 76 Vgl. Gale, Myth and Poetry in Lucretius, S. 196.
Obscura reperta: Dunkle Prosa, lichte Verse (Heraklit, Empedokles)
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Das reperire spielt, wie wir auch im letzten Kapitel sehen werden, in Lukrez’ Poetik und Kulturtheorie eine Schlüsselrolle. Reperire meint ›entdecken‹, ›wiederfinden‹ oder ›erfinden‹ und die reperta bezeichnen sowohl Entdeckungen bereits vorhandener Dinge und Fähigkeiten, die bislang verborgen waren, als auch genuine Erfindungen, die etwas völlig Neues hervorbringen.77 Das zeigt sich im fünften Buch, in dem Lukrez die Kulturgeschichte rekonstruiert und die sukzessive Entdeckung der Metalle, die Erfindung verschiedener Geräte und Kulturtechniken allesamt als reperta beschreibt. Lukrez beteiligt sich selbst an einem intellektuellen reperire. Nachdem er im ersten Buch die Existenz der Atome und der Leere nachgewiesen hat, sagt er z. B., dass nun die doppelte Natur aller Dinge entdeckt sei (duplex natura repertast) (1.502f). Oder er spricht im dritten Buch, in dem er die epikureische Psychologie darlegt, von seiner Entdeckung der dreifachen Natur der Seele (triplex animi natura reperta) (3.337). Darüber hinaus bezeichnet er aber sein eigenes Gedicht als eine Entdeckung oder Erfindung, die er in süßer Mühe erfindet (dulci reperta labore carmina) (3.419f). Seine intellektuellen und poetischen reperta gliedern sich in die kulturgeschichtliche Entwicklung ein, die Lukrez wiederum als Lichtwerdung beschreibt (5.1454–457): »sic unumquicquid paulatim protrahit aetas | in medium ratioque in luminis erigit oras: | namque alid ex alio clarescere corde videbant, | artibus ad summum donec venere cacumen (So zieht die Zeit ein jedes langsam hervor in die Mitte und die Vernunft hebt es empor in die Zonen des Lichts, denn sie [die Menschen] sahen auch eines sich aus dem anderen erhellen, bis sie in den Künsten zum höchsten Gipfel kamen).« Diese Verse, die das fünfte Buch beenden und auf die wir noch öfter zurückkommen werden, präsentieren den Fortschritt als einen natürlichen und lichthaften Prozess, der Epikurs und Lukrez’ inlustrare und reperire verschränkt und sie auf den höchsten Gipfel (summum cacumen) der kulturellen Entwicklung der Menschheitsgeschichte stellt.78 Wenn Epikur eine Lichtgestalt ist und die Geschichte der reperta uns graduell in die Zonen des Lichts (luminis orae) führt, warum spricht Lukrez dann von den obscura reperta der Griechen? Inwiefern können Epikurs divina reperta dunkel sein? Cicero unterscheidet zwei Arten der obscuritas, die seiner Meinung nach in
77 Dieser Aspekt der Neuheit lässt sich mit Shearin auf Lukrez’ poetische Sprache übertragen: »As usually understood, reperta are the ›discoveries‹ of Epicurus, but the term may just as well designate Epicurus’ ›inventions‹. The point in rendering reperta as ›inventions‹ is not that Epicurus created the natural world tout court but that the natural world does not exist (certainly for Lucretius as poet, perhaps not ever) apart from representation. The problem confronting Lucretius – no less than Epicurus, mutatis mutandis – may be something greater than the mere ›poverty‹ of Latin. Latin, one may suggest, is not a stable entity used only constatively but also a performative one that itself changes (through acts of naming and catachresis) in Lucretius’ hands.« Shearin, The Language of Atoms, S. 55. 78 Vgl. Clay, Lucretius and Epicurus, S. 52f.
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der Rede zulässig sind. Dabei schließt er bezeichnenderweise Epikur von beiden aus (fin. 2.15): Quod duobus modis sine reprehensione fit, si aut de industria facias, ut Heraclitus, cognomento qui σκοτεινός perhibetur, quia de natura nimis obscure memoravit, aut cum rerum obscuritas, non verborum, facit ut non intellegatur oratio, qualis est in Timaeo Platonis. Epicurus autem, ut opinior, nec non vult, si possit, plane et aperte loqui, nec de re obscura, ut physici, aut artificiosa, ut mathematici, sed de illustri et facili et iam in vulgus pervagata loquitur. Dies [die Dunkelheit der Rede] ensteht nur auf zwei Weisen ohne Tadel, entweder, wenn du sie zu Fleiß einsetzt wie Heraklit, der mit Beinamen ›der Dunkle‹ genannt wird, weil er allzu dunkel über die Natur sprach, oder, wenn die Dunkelheit der Dinge und nicht die der Worte bewirkt, dass die Rede nicht verstanden wird, wie es bei Platons Timaios der Fall ist. Epikur aber, so glaube ich, lehnt es, wenn er es überhaupt kann, weder ab, sich klar und offen auszudrücken, noch spricht er über dunkle Dinge wie die Physiker [Naturphilosophen] oder über künstliche wie die Mathematiker, sondern nur über leuchtende und einfache und bereits im Volk verbreitete Dinge.
Cicero polemisiert gegen Epikur, dem er vorwirft, dass sein Begriff der voluptas (ἡδονή) unverständlich sei, obwohl seine Sprache scheinbar so einfach und seine Themen so banal sind (fin. 2.16). Epikur drückt sich angeblich nicht dunkel und orakelhaft wie Heraklit aus und schreibt schlicht und verständlich. Das entspricht interessanterweise Epikurs eigener rhetorischer Theorie, die zwar nicht direkt überliefert ist, über die aber Diogenes Laertios berichtet (vit. 10.13): »σαφὴς δ’ ἦν οὕτως ὡς καὶ ἐν τῷ Περὶ ῥητορικῆς ἀξιοῖ μηδὲν ἄλλο ἢ σαφήνειαν ἀπαιτεῖν (Er [Epikur] war so klar, dass er auch in seiner Schrift ›Über die Rhetorik‹ nichts anderes fordert, als Klarheit zu erlangen).« In der Rhetorik zählt für Epikur allein die sprachliche Klarheit (σαφήνεια), weshalb er jede Dunkelheit der Ausdrucksweise (verborum obscuritas) offenbar meidet.79 Weiter behauptet Cicero, dass Epikur anders als die Physiker und Mathematiker – wie Platon in seinem kosmologischen Dialog Timaios80 – nicht über dunkle (res obscura) und artifizielle Sachverhalte (res artificiosa) spricht, sondern allein über helle und leicht verständliche Dinge (res illustris et facilis). Epikur verschmäht laut Cicero die 79 Über Epikurs Begriff der σαφήνεια, der in der hellenistischen Rhetorik verwurzelt ist: Guido Milanese, Lucida carmina. Comunicazione e scrittura da Epicuro a Lucrezio, Mailand: Pubblicazione dell’ Università Cattolica del Sacro Cuore, 1989, S. 34–38. Über die obscuritas als Stilkriterium: Manfred Fuhrmann, »Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarästhetischen Theorie der Antike«, in: Immanente Ästhetik, ästhetische Reflexionen. Lyrik als Paradigma der Moderne, hg. v. Wolfgang Iser, München: Fink, 1991, S. 47–73. 80 Cicero verfasste in seiner Jugend eine lateinische Übersetzung des Timaios, die nur fragmentarisch überliefert ist. Siehe: J. G. F. Powell, »Cicero’s Translations from Greek«, in: Cicero the Philosopher. Twelve Papers, hg. v. dems., Oxford: Clarendon Press, 1995, S. 273–300, hier S. 279–283.
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Dunkelheit der Dinge (rerum obscuritas). Wer mit Epikurs äußerst schwierigen naturphilosophischen Texten und Textfragmenten vertraut ist, mag sich zurecht über Ciceros Urteil wundern. Doch der Dialog, aus dem die Passage stammt, behandelt vornehmlich ethische Themen und Cicero betrachtet Epikur darin im Dienst seiner anti-epikureischen Polemik als populär-populistischen Moralphilosophen, nicht als Naturphilosophen. Deshalb blendet er hier aus polemischen Gründen dessen komplexere Naturlehre aus. Da Epikur sowohl die obscuritas der Sprache als auch die obscuritas der Dinge meidet, so die implizite Kritik, muss dessen Unverständlichkeit in einer dritten und illegitimen Art obscuritas liegen, nämlich in einer Dunkelheit und Falschheit seiner Argumente und Gedanken, die man als rationis obscuritas bezeichnen könnte. Für Lukrez ist Epikur der Erste, der die wahre Naturphilosophie, vera ratio, und die daraus folgende Lebensform, vitae ratio, durch seine Schriften ans Licht brachte. Dabei lehnt auch Lukrez die Dunkelheit der Worte entschieden ab, wie sich in seiner Polemik gegen Heraklit zeigt, die seine argumentativ-kriegerische Auseinandersetzung mit den Vorsokratikern eröffnet (1.638–644): Heraclitus init quorum dux proelia primus, clarus ob obscuram linguam magis inter inanis quamde gravis inter Graios qui vera requirunt: omnia enim stolidi magis admirantur amantque, inversis quae sub verbis latitantia cernunt, veraque constituunt quae belle tangere possunt auris et lepido quae sunt fucata sonore. Heraklit geht als ihr Führer als Erster in die Schlacht, berühmt [hell] wegen seiner dunklen Sprache [Zunge] mehr unter den leeren als den ernstzunehmenden [Denkern der] Griechen, welche die Wahrheit suchten. Denn die Dummen bewundern und lieben heftiger, was sie unter verdrehten Worten verborgen erkennen, und stellen das als wahr dar, was die Ohren hübsch zu berühren vermag und was mit einem angenehmen Klang geschminkt wurde.
Lukrez wird Heraklit nicht als Einzelfall, sondern als Stellvertreter und Offizier einer monistischen Ontologie attackieren, die das Feuer als Grundprinzip ansieht (1.645–703). Seine Kritik setzt bei Heraklits Sprache an. Wie Cicero erwähnt, wurde Heraklit als ›der Dunkle‹ (σκοτεινός) bezeichnet, weil er auf paradoxe und rätselhafte Weise über die Natur sprach. Lukrez spottet über diesen Beinamen, indem er Heraklit in einer paradoxen und ironischen Wendung, die dessen eigenen Stil imitiert, als hell, d. h. als berühmt, wegen seiner dunklen Sprache bezeichnet (clarus ob obscuram linguam).81 Der Ruhm ist obskur, da nur Dummköpfe hinter Heraklits verkehrten Worten (inversa verba) einen tieferen 81 Zu diesem Wortspiel: W. J. Tatum, »The Presocratics in Book 1 of Lucretius’ De rerum natura«, in: Oxford Readings in Classical Studies. Lucretius, S. 132–145, S. 138f.
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Sinn vermuten und sich vom schönem Klang, der seine falschen Gedanken übertüncht (lepido sonore fucata), täuschen lassen. Während Cicero in der Dunkelheit der Worte ein rhetorisches Stilmittel sieht, das – zumindest in der Philosophie – eine gewisse Legitimität besitzt, weist Lukrez sie auf das Entschiedenste zurück. Denn die dunkle Sprache Heraklits widerspricht Epikurs Forderung nach sprachlicher Transparenz. So wie Lukrez die leeren Griechen (inanes Grai) verachtet, die den bedeutungslosen Klang lieben, wendet sich Epikur gegen leere Wortlaute (κενοὶ φθόγγοι) und schreibt (Her. 37f): »Πρῶτον μὲν οὖν τὰ ὑποτεταγμένα τοῖς φθόγγοις […] δεῖ ει᾿ληφέναι […]. ἀνάνγκη γὰρ τὸ πρῶτον ἐννόημα καθ’ἕκαστον φθόγγον βλέπεσθαι καὶ μηθὲν ἀποδείξεως προσδεῖσθαι […] (Zuerst muss man also das den Lauten Zugrundeliegende erfassen […]. Notwendigerweise muss man nämlich bei jedem Laut auf die erste Bedeutung blicken und darauf, dass sie keiner weiteren Erklärung bedarf […]).« Dies ist aber nicht möglich, wenn die ursprüngliche Bedeutung (πρῶτον ἐννόημα) unter verkehrten Worten (Heraklits sub inversis verbis) verborgen liegt, sodass wir die Dinge, die sie bedeuten, nicht unmittelbar erblicken (βλέπω = conviso). Die gleichsam visuelle Transparenz der Sprache, die dem epistemologischen Kriterium der Evidenz (ἐνάργεια) entspricht, bildet die Grundlage der epikureischen Sprachphilosophie und damit – jedenfalls in der Theorie – auch diejenige von Epikurs und Lukrez’ eigener Ausdrucksweise.82 Die Evidenz, die Quintilian und Cicero als rhetorischen Begriff als inlustratio bezeichnen werden, ist wesentlich für das epikureische inlustrare. Wenn Lukrez von den obscura reperta spricht und darunter Epikurs Lehre versteht, dann unterstellt er seinem leuchtenden Vorbild sicherlich keine dunklen Worte im Sinne Heraklits.83 Vielleicht sind aber Epikurs Funde oder Erfindungen dunkel, weil sie in einer Fremdsprache geschrieben sind? Immerhin spricht Lukrez von den Graiorum obscura reperta und betont ihr Griechentum. Auch für Cicero schläft die griechische Philosophie noch im Dunkeln, weil sie noch kein lumen litterarum Latinarum besitzt. Doch die Schwierigkeit der Latinisierung der Philosophie liegt nicht nur in einer linguistischen, sondern auch in einer kulturellen Differenz. Wahrscheinlich beherrschte Lukrez wie Cicero das Griechische perfekt,84 doch der Wortschatz der lateinischen Sprache war, wie Lukrez betont, zunächst beschränkt und die Philosophie der Denkweise der Römer weitgehend fremd. Deshalb muss Lukrez die Armut der Sprache (egestas linguae) überwinden und 82 Vgl. Markovic´, The Rhetoric of Explanation in Lucretius’ De rerum natura, S. 88–93. 83 So auch Clay: »In any case, it is extremely doubtfull that Lucretius would regard the writings of Epicurus in particular as obscura, since it is precicely the quality of clarity (σαφήνεια) that his master insistet upon and lifted up as a light in darkness as he was the first to reveal what makes live livable […].« Clay, Lucretius and Epicurus, S. 107. 84 Zum generellen Bi- bzw. Polylingualismus der römischen Elite: Siobhán McElduff, Roman Theories of Translation. insb. S. 21–24.
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die Graiorum reperta zugleich übersetzen und neu entdecken oder erfinden, d. h. er muss sie als erster Römer sprachlich und gedanklich durchdringen. Epikurs Sprache leuchtet an sich hell, weshalb sie Lukrez an späterer Stelle als goldene Worte (aurea dicta) bezeichnet (3.12). Nur aus der Perspektive der römischen Sprachkultur, die er in seiner ersten poetologischen Digression einnimmt, werden Epikurs reperta verdunkelt. Erst vor dem Hintergrund der obscura reperta leuchten Lukrez’ eigene Worte so hell.85 Lukrez’ inlustrare möchte die ursprüngliche Leuchtkraft der epikureischen Lehre in einer neuen Sprache, und zwar Latinis versibus wiederherstellen. Die Antithese zwischen den obscura reperta und clara lumina schließt daher diejenige zwischen Prosa und Versen ein. Das wird in der Darstellung des Empedokles deutlich, die auf Lukrez’ Abrechnung mit Heraklit folgt (1.726–733): quae cum magna modis multis miranda videtur gentibus humanis regio visendaque fertur, rebus optima bonis, multa munita virum vi, nil tamen hoc habuisse viro praeclarius in se nec sanctum magis et mirum carumque videtur. carmina quin etiam divini pectoris eius vociferantur et exponununt praeclara reperta, ut vix humana videatur stirpe creatus. Wenn diese mächtige Region [Sizilien] in vieler Hinsicht den menschlichen Geschlechtern bewundernswürdig scheint und gesagt wird, dass man sie sehen muss, hervorragend an guten Dingen und befestigt durch gewaltige Manneskraft, so scheint sie doch in sich nichts zu bergen, was stärker hervorglänzen würde als dieser Mann, nichts so Heiliges, Wunderbares und Wertvolles. Die Gesänge aus seiner göttlichen Brust verkünden vielmehr auch mit voller Stimme hochglänzende Funde und stellen sie dar, so dass er [Empedokles] kaum aus menschlichem Stamm geboren scheint.
So wie Epikur als größte Hervorbringung Athens und als Gott gefeiert wird, wird Empedokles als göttlicher Spross Siziliens eingeführt. Lukrez wird zwar die ontologische Vier-Elemente-Lehre des Empedokles wie die Feuerlehre des Heraklit ablehnen, dennoch stellt er ihn als besonders leuchtend (praeclarius) dar. Während er die dunkle Prosa Heraklits verachtet, preist er Empedokles als sprachliches Vorbild, dessen Verse außerordentlich leuchtende Funde (praeclara 85 Das deutet Harrison in seinem Kommentar zu den obscura reperta an: »Lucretius here seems to be referring to the ideological transformation for the average Roman that Epicurean doctrine entails […]: the ›dark discoveries of the Greeks‹ both focalizes traditional Roman prejustice about Greek intellectualism and suggests a cultural revelation.« Harrison, »Epicurean Subversion?«, S. 41. Man könnte aber auch sagen, dass die eigene Sprache die Dunkelheit darstellt, in die das Licht der fremden Sprache (Entdeckung) fällt. So vergleicht Prete – in Anlehung an Leopardi – die Übersetzung mit einer Camera obscura, in die das Licht des Originals fällt: Antonio Prete, All’ombra dell’altra lingua. Per una poetica della traduzione, Turin: Bollati Boringhieri, 2001, S. 18f. Dieses Modell ließe sich auch auf Lukrez anwenden.
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reperta) offenbaren: Heraklit ist clarus wegen seiner obscura lingua, Empedokles praeclarus wegen seiner praeclara reperta. Lukrez steht dabei selbst in der Tradition des Empedokles, dessen Sprache er in seinem Gedicht häufig nachahmt und der in der Antike neben Parmenides als ein Gründervater der philosophischdidaktischen Dichtung galt.86 Lukrez versöhnt die Lehre Epikurs mit der philosophischen Epik des Empedokles. Dadurch überträgt er das epikureische Ideal der rhetorischen Klarheit (σαφήνεια) auf die Dichtung. Epikurs obscura reperta sind auch deshalb so dunkel, weil sie im Unterschied zu Empedokles und Lukrez’ eigenen praeclara reperta nicht in Versen geschrieben sind.87 Der Prosa wohnt eine relative Dunkelheit der Worte inne, die Lukrez überwinden will. Doch die obscura reperta bilden nicht nur aufgrund ihrer kulturellen Fremdheit und ihrer Prosaik die Kontrastfolie zum inlustrare, sie bezeichnen auch tatsächlich dunkle Dinge. Die Atome, die Leere, das unendliche All – Dinge, mit denen sich die epikureische Naturphilosophie beschäftigt – sind unseren Sinnen nicht unmittelbar zugänglich. Sie zählen nicht zu den offensichtlichen Phänomenen (res apertae), weshalb sie Epikur dunkle und verborgene Dinge (ἄδηλα) nennt, da sie weder evident noch sichtbar (δῆλος) sind. Darum spricht Lukrez von seinem Thema auch als verborgenen (res occulta) (1.145) und dunklen Dingen (res obscura) (1.933) und bezeichnet die Atome, wie wir sehen werden, u. a. als blinde und unsichtbare Körper (corpora caeca) (1.277).88 Aus einem ähnlichen Grund verwendet Cicero den Ausdruck naturae obscuritas sogar als Synonym für die Naturphilosophie (de orat. 1.68).89 Entgegen Ciceros zitierter Behauptung steht die Dunkelheit der Dinge, die rerum obscuritas, auch im Zentrum von Epikurs Philosophie. Epikurs obscura reperta bedeuten sowohl seine griechischen Prosaschriften als auch die wesentliche Verborgenheit der natura rerum selbst. Sie verschränken die sprachliche und ontologische Ebene des inlustrare, das gleichzeitig auf eine Hermeneutik der Natur wie des Texts zielt.
86 Der Einfluss von Empedokles wurde in der Forschung oft hervorgehoben. Siehe u. a.: Myrto Garani, Empedocles Redivivus, S. 3–17; Walther Kranz, »Lukrez und Empdedokles«, in: Philologus, 96 (Feb. 1944), S. 68–107. 87 Man kann darin mit Cabisius eine latente Kritik an Epikur sehen: Cabisius, »Lucretius’ Statement of Poetic Intent«, S. 247. Allerdings wird diese Kritik dadurch gemildert, dass Lukrez Epikur im dritten Proömium als Dichter beschreibt, wie Volk betont: »[…] by presenting Epicurus as though he were a poet and constructing an imitatio relationship between himself and his Greek model, the speaker manages to ›poeticize‹ Epicurus, just as he endeavours to ›Epicureanize‹ poetry.« Volk, The Poetics of Latin Didactic, S. 116. 88 Mit dem Ausdruck corpora caeca beschreibt Lukrez neben der Unsichtbarkeit der Atome auch ihre »Blindheit« und ungeordnete »Ziellosigkeit«. Laut Rumpf unterscheidet Lukrez zwischen den Atomen als Ursprungskörpern (primordia) und den atomartigen corpora caeca: Lorenz Rumpf, »Primordia und corpora caeca. Zur doppelten Sichtweise des Atomismus bei Lukrez«, in: Rheinisches Museum für Philologie, 144 (2001), S. 43–63, insb. S. 60f. 89 Vgl. Clay, Lucretius and Epicurus, S. 107.
Graius homo: Heroisierung und Anonymisierung Epikurs (1.62–79)
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Graius homo: Heroisierung und Anonymisierung Epikurs (1.62–79)
Lukrez spricht nicht von den reperta Epikurs, sondern allgemein von den Graiorum obscura reperta. Damit markiert er einerseits den Ursprung seiner Philosophie in einer fremden Kultur, andererseits betrachtet er Epikur als Teil einer Entwicklung, die lange vor Epikur begann und die in Epikur ihren Höhepunkt erreichte.90 Lukrez stellt mit De rerum natura nicht nur die reperta Epikurs dar, er beschreibt mit seiner Kritik der Vorsokratiker (Heraklit, Empedokles, Anaxagoras) (1.635–920) auch andere griechische naturphilosophische Lehren. Wie zitiert, rühmt er insbesondere die praeclara reperta Empedokles’, in deren Tradition er sich stellt. Außerdem erwähnt er wiederholt Demokrit (3.371, 3.1039, 5.622), den er teilweise kritisiert, obwohl seine atomistische Lehre die Basis derjenigen Epikurs bildet. Dass sich die Graiorum obscura reperta in erster Linie auf Epikur beziehen, wird im Kontext des ersten Proömiums offensichtlich, wenn Lukrez Epikur noch vor der besprochenen poetologischen Digression als Helden einführt (1.62–79): Humana ante oculos foede cum vita iaceret in terris opressa gravi sub religione, quae caput a caeli regionibus ostendebat, horribili super aspectu mortalibus instans, primum Graius homo mortalis tollere contra est oculos ausus primusque obsistere contra, quem neque fama deum nec fulmina nec minitanti murmure compressit caelum, sed eo magis acrem inritat animi virtutem, effringere ut arta naturae primus portarum claustra cupiret. ergo vivida vis animi pervicit, et extra processit longe flammantia moenia mundi atque omne immensum peragravit mente animoque; unde refert nobis victor quid possit oriri, quid nequeat, finita potestas denique cuique quanam sit ratione atque alte terminus haerens. quare religio pedibus subiecta vicissim obteritur, nos exaequat victoria caelo. 90 Ähnlich Edelstein: »Lucretius says that in the books dealing with natural philosophy he is going to translate ›the findings of the Greeks‹ into his native tongue (1.136–7); so strong is his feeling that he does not recount the findings of his master alone. […] Knowledge of nature was achieved through a long line of inspired thinkers, the Pre-Socratics and Epicurus, the Epicurean system being, so to say, the entelechy of Pre-Socratic ideas; the victory gained is a victory of human thought, of Greek thought.« Ludwig Edelstein, »Primum Graius Homo (Lucretius 1.66)«, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association, 71 (1940), S. 78–90, hier S. 85.
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Als das menschliche Leben schmählich vor den Augen [der Menschheit] am Boden lag, erdrückt unter der Last der Götterfurcht, die ihren Kopf aus den Regionen des Himmels streckte, mit schrecklichem Anblick über den Sterblichen schwebend, da wagte es zuerst ein griechischer Mann, die sterblichen Augen gegen sie zu erheben und als Erster gegen sie anzutreten, den weder das Gerede von den Göttern noch die Blitze oder der Himmel mit seinem drohenden Donnern abhielten, sondern dadurch umso mehr den heftigen Mut seines Geistes reizten, sodass er begehrte, als Erster die dichten Riegel der Pforten der Natur aufzubrechen. Deshalb siegte die lebendige Kraft des Geistes und er marschierte weit über die flammenden Mauern der Welt hinaus und durchmaß die gesamte Unermesslichkeit mit Geist und Seele, wovon er uns als Sieger berichtete, was entstehen könne und was nicht, und schließlich aus welchem Grund alles eine beschränkte Macht habe und einen tief verhafteten Grenzstein. Deshalb wird die Götterfurcht, die nun ihrerseits unterworfen wurde, von Füßen zertreten, während der Sieg uns in den Himmel erhebt.
Lukrez nennt Epikur nicht beim Namen. Wie er ihn im dritten Proömium anonym als Zierde der Griechen (Graiae gentis decus) und im sechsten als Spross Athens anspricht, bezeichnet er ihn schlicht als griechischen Mann (Graius homo) und hebt von Anfang an sein Griechentum hervor. Epikur ist für ihn ein Gott, dessen Namen er nicht erwähnen muss und den er wohl aus Ehrfurcht nicht ausspricht.91 Nur einmal wird Lukrez seinen Namen erwähnen, und zwar wenn er von Epikurs sterblicher Natur spricht. Ansonsten geht es ihm nicht um Epikur als zeitliches Individuum, sondern um dessen überzeitliche Funktion als Aufklärer und Begründer wahren Lehre. Die Anonymität rückt die Leistung in den Vordergrund. So berichtet Cornelius Nepos über eines der ältesten Geschichtswerke der Römer, die Origines des älteren Cato (Cato 3.4): »atque horum bellorum duces non nominavit, sed sine nominibus res notavit (Und er [Cato] nannte die Feldherren dieser Kriege nicht, sondern registrierte die Ereignisse ohne Namen).« Ähnlich beschreibt Lukrez ein namenloses Geschehen (res).92 Indem er Epikurs Namen tabuisiert und ihn seiner Person und individuellen Maske (persona) entkleidet, zeigt er die eigentliche res (3.58): »[…] eripitur persona {manet res} ([…] die Maske wird heruntergerissen, die Sache bleibt).«93
91 Hierin zeigt sich eine Art religiöse Scheu, die der religio ähnelt, die Lukrez überwunden glaubt: »Vor allem in den Prooemien verwendet Lukrez Elemente der Gebets- und Mysteriensprache. Hierin gehört die Beobachtung, daß er in den hymnischen Partien den Namen seines ›Gottes‹ Epikur aus frommer Scheu nicht auspricht; dies geschieht nur, wo es um die sterbliche Natur des Lehrers geht (3.1042).« Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boëthius. Mit Berücksichtigung ihrer Bedeutung für die Neuzeit, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1994, Bd. 1, S. 239. 92 Vgl. Shearin, The Language of Atoms, S. 122. 93 Mit der Konjektur manet res folge ich ausnahmsweise nicht der Ausgabe von Deufert, sondern: W. H. D. Rouse/Martin Ferguson Smith, Lucretius, De Rerum Natura, hg. u. übs. v. dens., Cambridge (Mass.): Harvard University Press, 1975.
Graius homo: Heroisierung und Anonymisierung Epikurs (1.62–79)
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Der heroische Graius homo wird als Gegenspieler der religio porträtiert, der es erstmals (primum) und als Erster (primus) wagte, gegen sie anzutreten. Religio meint im ursprünglichen Sinn keinen Götterglauben oder Religion im Allgemeinen, sondern eine subjektive Haltung gegenüber den Göttern, die von Skrupeln und Furcht geprägt ist.94 Eine ähnliche Bedeutung findet sich bei Lukrez, der religio vornehmlich durch negative Affekte definiert.95 Die Epikureer waren keine Atheisten, sie lehnten nur alle religiösen Affekte ab, die der voluptas widersprechen. Lukrez’ ›antireligiöse‹ Polemik fällt viel heftiger aus als diejenige Epikurs. Möglicherweise war die römische religio zu Lukrez’ Zeit dringlicher als die Götterfurcht der Griechen.96 Deshalb wird Epikur im ersten Proömium erstmals als Zerstörer der religio eingeführt, wobei seine Opposition durch das doppelte contra an zwei Versenden ausgedrückt wird: Während das menschliche Leben bisher vor allen Augen (ante oculos) erdrückt am Erdboden lag, erhob Epikur seine Augen gegen sie (oculos tollere contra) und widerstand ihrem Anblick (obsistere contra). Dadurch drehte er als Erster die Blickrichtung um: Nicht mehr der Himmel blickt auf die Menschen herab, sondern die Menschen blicken zum Himmel empor, aus dem die personifizierte religio noch kurz zuvor ihre schaurige Fratze streckte. In den beiden Versen, »quae caput a caeli regionibus ostendebat | horribili super aspectu mortalis instans«, kann man eine pseudoetymologische Erklärung der religio (caeLI REGIOnIbus) und des Aberglaubens (superstitio = super instans) vermuten.97 Das würde damit übereinstimmen, dass Lukrez die religio mit dem Himmel und der Furcht vor Blitzen assoziiert und sie mit einer Art Wolke vergleicht, welche die Sonne verdunkelt. In dieser Wolke erblicken wir anthropomorphe Gestalten. Die religio streckt ihren Kopf mit einer fürchterlichen Grimasse aus dem Himmelsgeviert.98 An späterer Stelle spricht Lukrez von den Trugbildern (simulacra) der Gesichter von Giganten, die plötzlich in den Wolken erscheinen, Schatten werfen und das helle Gesicht der Welt (mundi species serena) vergewaltigen (4.133–142). Der Himmel verwandelt sich von einem Moment auf den nächsten in einen düsteren und schattenhaften Spiegel menschlicher Ängste (4.168–174, 6.250–254):
94 Zur ursprünglichen Semantik und Etymologie der religio siehe: Benveniste, Le vocabulaire des institutions indo-européennes, Bd. 2, S. 267–272. 95 Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 609. 96 Hierfür argumentiert: Herbert M. Howe, »The Religio of Lucretius«, in: The Classical Journal, 52, Nr. 7 (Apr. 1957), S. 329–33, insb. S. 331. 97 Vgl. Paul Friedländer, »Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius«, in: Oxford Readings in Classical Studies. Lucretius, S. 351–370, hier S. 355. 98 Auch manche modernen Theoretiker versuchen die Religion weniger als ein Glaubenssystem, sondern als systematischen Anthropomorphismus zu verstehen: Vgl. Stewart Guthrie, Faces in the Clouds. A New Theory of Religion, New York/Oxford: Oxford University Press, 1993, insb. S. 177–204.
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Inlustrare
Praeterea modo cum fuerit liquidissima caeli Tempestas, perquam subito fit turbida foede, undique uti tenebras omnis Acherunta rearis liquisse et magnas caeli complesse cavernas: usque adeo taetra nimborum nocte coorta inpendent atrae formidinis ora superne […]. Außerdem, wenn das Wetter des Himmels eben noch äußerst heiter war, plötzlich wird es schrecklich aufgewühlt, so dass du glaubst, dass überall alle Schatten den Acheron [die Unterwelt] verließen und die großen Höhlen des Himmels anfüllten: So sehr hängen, sobald sich die schreckliche Nacht der Wolken geballt hat, Fratzen dunklen Schreckens in der Höhe […].
Die religio, gegen die er Epikur ins Feld führt, gleicht der schrecklichen Nacht dieser Wolkenbilder in denen sich die Schatten der Unterwelt und Nachtfratzen voller dunkler Schauer sammeln. Sie entspricht den terror animi tenebraeque, die das inlustrare wie Sonnenstrahlen zerteilt. Die Seele wird wolkenlos, die schreckliche Nacht (taetra nox) der Wolken verwandelt sich in wolkenlose Nächte (noctes serenae). Der Ausdruck Graius homo taucht in der lateinischen Literatur erstmals bei dem frührömischen Epiker Ennius auf (ann. 6 Fr. 2 Sk.). Ennius bezeichnet mit dem Ausdruck den hellenistischen König Pyrrhos, einen Zeitgenossen Epikurs, der gegen die Römer Krieg führte und Teile Italiens zeitweilig besetzte.99 Auch Lukrez schildert seinen Graius homo als einen Krieger, als hellenistischen General oder römischen Triumphator. Epikur erweist sich als primus im Kampf gegen die religio und als primus der Eroberung der Natur:100 Die religio, die falschen Göttermythen und die Angst vor Blitzen schüchtern Epikur nicht ein, sondern reizen ihn, die natura rerum durch die lebendige Kraft seines Geistes zu besiegen, wobei die vierfache Wiederholung der Silbe vi Subjekt und Prädikat assimiliert (VIVIda VIs animi perVIcit). Lukrez schildert Epikurs Sieg in Bildern, die wahrscheinlich der literarischen Verklärung Alexander des Großen folgen, der, nachdem er die Welt eroberte, Legenden zufolge die Grenzen der Welt übertrat.101 Wie ein Feldherr bricht Epikur die engen Riegel der Pforte der Natur gewaltsam auf und durchbricht die Mauern der Welt, die wie nach einer Belagerung brennen.102 Daraufhin durchwandert er den unendlichen Kosmos (omne 99 Vgl. Harrison, »Ennius and the Prologue of Lucretius«, S. 9. 100 Damit steht die kriegerische Figur Epikurs in einem seltsamen Gegensatz zur friedlichen und mütterlichen Natur, die im Venus-Proömium beschworen wird: Vgl. Anderson, »Discontinuity in Lucretian Symbolism«, S. 16–18. 101 Diese Paralelle zeigt: Vinzenz Buchheit, »Epicurus’ Triumph of the Mind«, in: Oxford Readings in Classical Studies. Lucretius, S. 104–131, insb. S. 119–121. 102 Die Belagerung erfolgt nicht von außerhalb, sondern von innen. Epikur befindet sich zunächst innerhalb der ›Stadtmauern‹ der Welt, weshalb Davies von einer »inverted siege«
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immensum)103 mit seinem Geist und erstattet uns von seinem heroischen Geistesflug104 als Triumphator einen Bericht von seinen Eroberungen. Er enthüllt die epikureische ratio, die uns die beschränkte Macht aller Dinge (finita potestas) offenbart und uns die Grenzen aufzeigt, was gemäß der Natur geboren werden kann und was eben nicht. Der Graius homo bringt uns von seiner Expedition als Beute den tiefverhafteten Grenzstein, alte terminus haerens, des gesamten Werdens mit. Obwohl Epikur sterblich ist, kann er durch seine Eroberung der natura rerum das Unermessliche und Ewige durchschauen. Die Finitheit alles Werdens, die er paradoxerweise durch seine Eroberung des Infiniten entdeckt, entmachtet die religio, weil sie die Funktion der traditionellen Götter radikal beschränkt. Laut Epikur leben die Götter in Zwischenwelten (μετακόσμια), wo sie glücklich ruhen, ohne jemals ins Weltgeschehen einzugreifen.105 Daher müssen wir die Götter weder fürchten noch können wir sie durch unser Verhalten beeinflussen, da sie entfernt und abgeschieden leben, jenseits der Mauern unserer Welt und jenseits unserer Sorgen und irrationalen Affekte (1.44–49, 2.646–651, 3.16–22). Die religio wird durch diese ›Abschiebung der Götter‹106 von Epikurs Füßen zermalmt und uns hebt der Sieg in den Himmel. Der Sieger nimmt den Platz des Besiegten ein: Die alten Götter liegen am Boden und wir thronen mit Epikur, den Lukrez zum Gott erklärt, im Himmel. Erst die unterworfene Götterfurcht (religio subiecta) macht uns zum autonomen Subjekt. Lukrez bezeichnet Epikurs Kriegsbeute als terminus alte haerens, ein formelhafter Terminus, den er mehrfach wiederholen wird (1.596, 2.1087, 5.90, 6.66) und der wie die naturae species ratioque die epikureische Naturphilosophie (φυσιολογία) bezeichnet.107 Mit dieser Terminologie verleiht er Epikurs Lehre einen römischen Anstrich: In der Vorstellungswelt der Römer ist ein terminus ein
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spricht: Hugh Sykes Davies, »Notes on Lucretius«, in: Probleme der Lukrezforschung, S. 273– 290, hier S. 284. Die Unendlichkeit des Kosmos ist eine Konsequenz der epikureischen Ablehung der aristotelischen Kosmologie: Vgl. David J. Furley, »The Greek Theory of the Infinite Universe«, in: Journal of the History of Ideas, 42, Nr. 4 (Okt. 1981), S. 571–585, insb. S. 577ff. Vgl. Gale, Myth and Poetry in Lucretius, S. 119. Zur materielle Existenz der epikureischen Götter in den μετακόσμια, die Cicero als intermundia bezeichnet: David Konstan, »Epicurus on the Gods«, in: Epicurus and the Epicurean Tradition, hg. v. Jeffrey Fish, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 2011, S. 53–71, insb. S. 58f. Dies ein Ausdruck von Bloch: Ernst Bloch, Das Materialismusproblem. Seine Geschichte und Substanz, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 146. Das Konzept der Grenze bzw. des äußersten Ziels (terminus = πέρας, ὅρος, τέλος) spielt sowohl in der epikureischen Physik als auch in der Ethik eine entscheidende Rolle. Indem Lukrez die epikureische Lehre als terminus beschreibt, erfasst er ein wesentliches Moment, das Physik und Ethik verbindet: Vgl. Phillip Howard De Lacy, »Limit and Variation in the Epicurean Philosophy«, in: Phoenix, 23, Nr. 1 (1969), S. 104–113, insb. S. 104–107.
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unverrückbarer Stein oder Pfahl, der ein Gebiet rechtlich und sakral schützt und dem eine göttliche Kraft (numen) innewohnt. Die Römer verehrten sogar einen Gott Terminus auf dem Kapitol, der alle Grenzsteine des gesamten römischen Territoriums gleichsam als mythische Synekdoche verkörperte.108 Diesem Gott wohnt ein Imperialismus inne, wie Ovid betonen wird, der sein Gedicht an Terminus mit folgenden Versen beendet (fast. 2.683f): »gentibus est aliis tellus data limite certo | Romanae spatium est Urbis et orbis idem (Anderen Völkern wurde die Erde durch eine feste Grenze gegeben, das Gebiet der römischen Stadt ist [ jedoch] dasselbe wie der Erdkreis).« Terminus ist keine bestimmte Grenze, er ist die Grenze aller Grenzen. Ähnlich bezeichnet der terminus alte haerens bei Lukrez das Ganze. Doch dieser terminus totalisiert nicht nur wie bei Ovid den Erdkreis, sondern den gesamten Kosmos, das omne immensum. Dadurch übersetzt Lukrez die Eroberungen des Graius homo in die römische Raumvorstellung und adaptiert sie für sein römisches Publikum.109 Insofern ist der Graius homo bereits ein homo Romanus. Die territoriale Metaphorik des terminus alte haerens annektiert den Kosmos. Die Anonymität des Graius homo entspricht derjenigen der Graiorum reperta und überhaupt der ›Sachlichkeit‹ der Realität. So wie der ältere Cato die Namen der Feldherren nicht erwähnt, um die geschichtlichen res in den Vordergrund zu stellen, rückt Lukrez die Eroberungen seines Helden, die natura rerum, in den Vordergrund. Dabei installiert er den Graius homo als Gegenspieler der römischen religio und romanisiert durch seine Terminologie den Kosmos. Epikurs Territorialisierung der Unendlichkeit wird zu einem Sprachbild, das sich auf den Text anwenden lässt: Epikur fasst in seinen naturphilosophischen Schriften das infinite All in einem finiten Text.110 Das gilt genauso für De rerum natura, das die gesamte Wirklichkeit vom Mikro- (Buch 1–2) über den Meso- (Buch 3–4) bis zum Makrokosmos (Buch 5–6) in einen Text bannt.111 Da Lukrez Epikurs Naturphi108 Zu diesem Gott und seiner kultischen Verehrung: Ernst Marbach, »Terminus«, in: Paulys Real-Encyclopädie der klassischen Altertumswissenschaft, hg. v. Georg Wissowa u. a., Stuttgart: Metzler, 1934, Bd. V A, 1, Sp. 781–84. 109 Zum latenten Verhältnis zwischen terminus und römischem Imperialismus: Shearin, The Language of Atoms, S. 152–163. 110 Hierzu der Kommentar von Kennedy: »Epicurus conquers the universe, but conveys his control, his understanding, of it by textualizing it: an infinite phenomenon, the universe, is ›captured‹ within the confines of a finite phenomenon, a text.« Duncan Kennedy, »Making a Text of the Universe: Perspective on Discursive Order in the De Rerum Natura of Lucretius«, in: Oxford Readings in Classical Studies. Lucretius, S. 376–396, hier S. 378. Ähnlich Schiesaro, der das Spannungsverhältnis zwischen unendlichem Kosmos und endlichem Text betont: Alessandro Schiesaro, »The Palingenesis of De Rerum Natura«, in: Proceedings of the Cambridge Philological Society, 40 (1994), S. 143–157, insb. S. 88. 111 Vgl. Joseph Farrell, »Lucretian Architecture: The Structure and Argument of the De rerum natura«, in: The Cambridge Companion to Lucretius, hg. v. Stuart Gillespie u. Philip Hardie, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 2007, S. 76–91, insb. S. 80–82. Siehe auch: Don
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losophie ›übersetzt‹, wird sein Werk selbst zum römischen terminus des Werdens. Sein inlustrare zielt wie Epikurs kriegerisch-heroisches Entdeckertum (reperire) aufs Ganze. Es vertreibt die Schatten und Wolken der religio und erleuchtet den Geist des Lesers und zugleich die Unendlichkeit.
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Dieser Erleuchtungsprozess ist für Lukrez jedoch kein unmittelbarer Vorgang, sondern einer, der durch eine Zeichen- und Spurenlese vermittelt wird. Nachdem Lukrez im ersten Buch unzählige Beweise für die Existenz der Leere angehäuft hat, wendet er sich an Memmius und mahnt ihn zur Aufmerksamkeit. Dabei entfaltet er die rezeptionsästhetische Ebene seines inlustrare in einem ausführlichen Vergleich (1.398–409): Quapropter, quamvis causando multa moreris, esse in rebus inane tamen fateare necessest. multaque praeterea tibi possum commemorando argumenta fidem dictis conradere nostris. verum animo satis haec vestigia parva sagaci sunt, per quae possis cognoscere cetera tute. namque canes ut montivagae persaepe ferarum naribus inveniunt intectas fronde quietes, cum semel institerunt vestigia certa viai, sic alid ex alio per te tute ipse videre talibus in rebus poteris caecasque latebras insinuare omnis et verum protrahere inde. Darum, wie sehr du auch [falsche] Gründe vorschützend zögern magst, muss man dennoch gestehen, dass es in den Dingen die Leere gibt. Viele Argumente kann ich dir außerdem [noch] in Erinnerung rufen, um für unsere Worte Glaubwürdigkeit zusammenzukratzen. Allerdings genügen einem scharfsinnigen Geist diese kleinen Spuren, durch die du das Übrige zu erkennen vermagst. Denn wie auch die bergdurchstreifenden Hunde sehr oft mit ihren Schnauzen des Wildes laubbedeckte Ruhestätten entdecken, wenn sie einmal sichere Spuren der Fährte verfolgten, so wirst auch du für dich selbst eines aus dem anderen bei solchen Dingen erblicken und in alle blinden Verstecke eindringen können und von dort die Wahrheit [ans Licht] hervorziehen.
Da die Leere (inane) nicht wahrnehmbar ist und wie die Atome zu den verborgenen und dunklen Dingen, den res occultae oder res obscurae (ἄδηλα) gehört,
Fowler, »From Epos to Cosmos: Lucretius, Ovid, and the Poetics of Segmentation«, in: Ethics and Rhetoric. Classical Essays for Donald Russell on his Seventy-fifth Birthday, hg. v. Doreen Innes u. Donald Russell, Oxford: Clarendon Press, 1995, S. 3–19, insb. S. 9–10.
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können wir sie nur mithilfe von Indizien und Spuren (vestigia) erkennen.112 Zwar könnte Lukrez noch weitere Argumente anführen, doch wenige vestigia müssen dem aufmerksamen und scharfsinnigen Geist (animus sagax) des Lesers genügen, damit er aus ihnen die verborgenen Sachverhalte erschließt und sie gleichsam mit seinen geistigen Augen erblickt (videre) und Schritt für Schritt eines aus dem anderen (alid ex alio) erkennt. Durch die wiederholten und verdoppelten Personalpronomen (tute/per te tute ipse) unterstreicht Lukrez die Aktivität und Verantwortung des Lesers. Dieser wird mit einem Jagdhund verglichen, der durch seinen Geruchssinn die vestigia des Wildes entdeckt und schließlich die Beute in ihren blinden und dunklen Schlupfwinkeln (caecae latebrae) aufspürt, von wo er die Wahrheit erfolgreich ans Licht zerren kann.113 Ein gewisser Spürund Scharfsinn (sagacitas) und die Spurensuche ist den Hunden wesentlich. So wie Lukrez selbst im Traum an seinem Gedicht arbeitet, verfolgen die Hunde noch im Schlaf oftmals die vestigia des Wildes (4.991–997). Indem der Leser den unermüdlichen Spürsinn der Hunde nachahmt, werden die res obscurae in seinem Geist zu clara lumina. Sollte Memmius der Fährte nicht folgen, so droht ihm Lukrez in den folgenden Versen, wird er ihn mit einer solchen Überfülle (copia) an Argumenten überfluten, dass dessen Leben eher zu Ende geht, als dass der Strom an Argumenten versiegt (1.410–417). Diese Drohung muss reichen, damit sich Memmius selbst auf die Jagd nach der Wahrheit begibt. Da Lukrez keinen unendlichen Text schreiben kann, muss der Leser für sich selbst die natura rerum entdecken und das Unendliche (omne immensum) beschreiten. Unter vestigia versteht Lukrez die wahrnehmbaren Phänomene, durch die wir auf res occultae schließen. So können wir die Beweglichkeit der Körper im Raum, ihre Porosität und Durchlässigkeit, das unterschiedliche Gewicht von Gegenständen derselben Form und Größe, usw. – all die Phänomene, die Lukrez für die Existenz der Leere anführt – als vestigia begreifen. Weil diese Indizien oftmals sehr klein und unscheinbar sind (parva vestigia), bedürfen sie einer besonderen Scharfsinnigkeit: Lukrez bezeichnet etwa die Staubpartikel, wie wir sehen werden, als vestigia der Kinetik der Atome. Ebenso ist der Ring am Finger, der mit der Zeit immer dünner wird, eine sichtbare Spur der unsichtbaren Atome 112 Induktive Zeichenschlüsse spielen in der epikureischen Epistemologie eine zentrale Rolle, wie die fragmentarische Schrift des Epikureers Philodem De signis (Über Zeichen) belegt, die auch Pierces Semiotik inspirierte. Zu diesem Themenkomplex: Michael Franz, Von Gorgias bis Lukrez. Antike Ästhetik und Poetik als vergleichende Zeichentheorie, Berlin: Akademie Verlag, 1999, insb. S. 279–300. 113 Nach Ginzburg ist die Spurenlese der Jäger Urspung der ältesten wissenschaftlichen Methodik: Carlo Ginzburg, Spurensicherungen. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, übs. v. Gisela Bonz u. Karl F. Haubner, Berlin: Wagenbach, 1983, S. 18f. Dieser Urspung drückt sich auch in Lukrez’ Gleichnis aus, das sich vermutlich an Empedokles orientiert: Vgl. Lisa Whitlatch, »Empiricist Dogs and the Superiority of Philosophy in Lucretius’ De rerum natura«, in: Classical World, 108, Nr. 1 (2014), S. 45–66, hier S. 45f.
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(1.311f). Und die Fußspuren (vestigia pedum) einer Mücke, die auf unserer Haut krabbelt, sind ein Index für den Abstand zwischen den Seelen- und Körperatomen und zugleich vestigia in einem ursprünglichen und übertragenen Sinn (3.388–390). Lukrez’ Spürsinn umfasst einen mikroskopischen Blick für Phänomene, die unser Denken über die Schwelle der Wahrnehmung ins Unsichtbare führen. Doch die vestigia bezeichnen neben den natürlichen Phänomenen auch Lukrez’ eigene Argumentation und damit den Text De rerum natura, dessen vestigia der Leser wie ein Jagdhund folgen soll.114 Wenn Lukrez im fünften Buch von der Verschriftlichung der Dichtung und der damit verbundenen Aufzeichnung geschichtlicher Ereignisse (res gesta) spricht, dann betrachtet er die Buchstaben, die damals erfunden wurden (elementa reperta), als vestigia, durch die unser Denken (ratio) in vergangene Zeiten zurückblicken (respicere) kann (5.1444–1447).115 Analog kann der Leser durch die Buchstaben von Lukrez’ eigener Dichtung in die Vergangenheit der Kulturgeschichte blicken. Die menschlichen Taten, die res gesta, sind nur ein oberflächlicher Effekt eines tieferliegenden und anonymen Naturgeschehens, der natura rerum, die wir durch die vestigia seines Textes stellvertretend und schrittweise (alid ex alio) erschauen sollen. Lukrez fordert also seinen Leser gleichzeitig zur scharfsinnigen Betrachtung der Natur wie zur aufmerksamen Lektüre auf, da sein Gedicht eine ähnlich zeichenhafte Struktur wie die Natur selbst aufweist. Die vestigia beziehen sich wie die obscura reperta, von denen Lukrez in seiner poetologischen Digression spricht, sowohl auf die Natur als auch auf seinen Text.116 So wie Memmius Lukrez’ vestigia folgen soll, so folgt Lukrez den vestigia Epikurs. Im dritten Proömium, in dem er der Lichtgestalt Epikurs folgt (sequi), schreibt er, dass er seine eigenen Füße in die geprägten Spuren der Füße Epikurs (pedum pressa signa) stellt. Die pressa signa meinen in einem metaphorischen Sinn die philosophische Methode Epikurs, die wahre Lehre und den Weg, den dieser erstmals aufzeigte.117 Vergleichbar schreibt Lukrez an späterer Stelle (5.55f): »Cuius ego ingressus vestigia dum rationes | persequor ac doceo dictis […] (Ich beschritt dessen [Epikurs] Spuren, während ich [seinen] Argumenten folge und [sie] mit Worten lehre […]).« Die pressa signa können jedoch in einem 114 Vgl. Eva Maria Thury, »Lucretius’ Poem as a Simulacrum of the Rerum Natura«, in: The American Journal of Philology, 108, Nr. 2 (1987), S. 270–294, hier S. 278. 115 Vergangene Tatsachen müssen laut epikureischer Lehre zu den ἄδηλα gehören, d. h. zu denjenigen Dingen, die nicht direkt erfassbar sind, sondern bloß durch vestigia erschlossen werden können. Auch wenn Epikur und Lukrez dies nicht explizieren, muss ihr Verfahren des Analogiedenkens neben synchronen Analogien auch diachrone Analogien annehmen, sonst könnte es nicht die Kulturgeschichte rekonstruieren: Vgl. Schiesaro, Simulacrum et imago, S. 91–101. 116 Vgl. Franz, Von Gorgias bis Lukrez, S. 590–592. 117 Vgl. Clay, Lucretius and Epicurus, S. 40.
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konkreteren Sinn auch die Schriftzeichen auf den Papyrusrollen (chartae) bedeuten, aus denen Epikurs Texte bestehen und denen Lukrez, wie ich im dritten Kapitel zeigen werde, als Übersetzer folgt. Wieder offenbart sich die textuelle Natur der vestigia. Indem Lukrez in die Fußstapfen oder Schriftspuren Epikurs tritt, durchbricht er wie dieser die Mauern der Welt (moenia mundi), erblickt die Sitze der Götter in den Zwischenwelten und durchschaut (perspicere) die Erde zu seinen Füßen, unter denen sich die unendliche Leere auftut (3.14–30). Lukrez folgt Epikurs vestigia in das Unendliche, das omne immensum, und hinterlässt wiederum vestigia, denen der Leser folgen muss, um selbst die natura rerum zu sehen.118 Epikurs reperta sind auch deshalb so dunkel, weil sie die natura rerum nicht direkt darstellen, sondern nur vestigia liefern, deren Verfolgung uns ins Licht führen kann. Lukrez’ Erleuchtung folgt diesen Spuren ins Licht und hinterlässt dabei selbst Spuren, die der Leser seinerseits erhellen muss. Das führt dazu, dass auch Lukrez’ Verse in gewisser Weise dunkel sind und der Erleuchtung bedürfen. Das inlustrare und reperire der Natur verläuft nämlich mittels einer intellektuellen Spurenlese immer vermittelt (alid ex alio). Deshalb ist sie keine plötzliche Offenbarung, sondern ein schrittweiser Prozess, auch wenn sich Lukrez selbst als Prophet stilisieren wird, der die natura rerum scheinbar unmittelbar enthüllt. Darin gleicht der Prozess des Lesens und Schreibens dem Fortschritt der Menschheit, den Lukrez am Ende des fünften Buches als langsame Lichtwerdung – alid ex alio – stilisiert (5.1454–457): »sic unumquicquid paulatim protrahit aetas | in medium ratioque in luminis erigit oras: | namque alid ex alio clarescere corde videbant […] (So zieht die Zeit ein jedes langsam hervor in die Mitte und die Vernunft hebt es empor in die Zonen des Lichts, denn sie sahen auch mit ihrem Geist eines sich aus dem anderen erhellen […]).« Ganz ähnlich beendet Lukrez das erste Buch mit einem Ausblick auf die fortschreitende Erhellung des Lesers (1.1114–1117): »Haec sic pernosces parva perductus opella; | namque alid ex alio clarescet nec tibi caeca | nox iter eripiet quin ultima naturai | pervideas: ita res accendent lumina rebus (So wirst du dies geführt von geringer Arbeit erkennen; eines erhellt sich nämlich aus dem anderen und die blinde Nacht wird dir den Weg nicht entreißen, damit du das Äußerste [Letzte] der Natur durchschauen magst: So entzünden die Dinge ein Licht den [anderen] Dingen).«119 Die blinde Nacht (caeca nox) entspricht nicht nur den blinden Körpern der Atome (corpora caeca) und den blinden Schatten der Seele (tenebrae caecae), sondern 118 Whitlatch bemerkt treffend: »Lucretius leaves new tracks along similar lines, and he ceases to be the mere follower of Epicurus. He is now someone to be followed, and we have a larger image of a philosophical school.« Whitlatch, »Empiricist Dogs and the Superiority of Philosophy in Lucretius«, S. 50. 119 Diese Verse sind vermutlich von Ennius inspiriert: West, The Imagery and Poetry of Lucretius, S. 30.
Simulacrum et imago: Analogie der Sonnenstäubchen (2.109–237)
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der Dunkelheit des Texts. Das inlustrare ist ein endloser hermeneutischer Prozess, der auf allen Ebenen gegen die permanente Verdunkelung der natura rerum ankämpft.
7.
Simulacrum et imago: Analogie der Sonnenstäubchen (2.109–237)
Eines der elaboriertesten Beispiele für eine intellektuelle Spurenlese der Phänomene ist Lukrez’ Betrachtung der ›Sonnenstäubchen‹. Im ersten Teil des zweiten Buches entwickelt Lukrez die Kinetik der Atome, deren Existenz er im ersten Buch nachwies: Die Atome befinden sich in permanenter Bewegung, weil sie aufgrund ihres eigenen Gewichts (gravitas) in die unendliche Leere stürzen. Durch ihren Zusammenstoß (ictus/plaga) entstehen lockere oder feste Komplexe (concilia). Wenn sie bei ihrem Treffen aufgrund ihrer Gestalten verflochten werden, dann gehen sie eine dichte Verbindung (condensus conciliatus) ein und bilden Festkörper. Prallen sie hingegen voneinander ab und kehren nach gewissen Intervallen wieder, um erneut zusammenzuprallen, dann erzeugen sie lockere Verbindungen (concilia) wie Luft oder Licht.120 Darüber hinaus gibt es aber unzählige Atome, die sich in keiner Weise in einer Verbindung befinden. An ihnen lässt sich die ursprüngliche Kinetik besonders gut demonstrieren, da die Staubpartikel, die wir im Gegenlicht in der Luft tanzen sehen, ein sichtbares Bild ihrer unsichtbaren Dynamik darstellen. Wahrscheinlich wurde dieses Phänomen der Sonnenstäubchen schon von Demokrit und Epikur als Illustration der Atome eingeführt.121 Bei Lukrez verwandelt sich dieses jedoch in eine ausführliche poetischen Beschreibung, deren erste Hälfte so lautet (2.109–124): multaque praeterea magnum per inane vagantur, conciliis rerum quae sunt reiecta nec usquam consociare etiam motus potuere recepta. Cuius, uti memoror, rei simulacrum et imago ante oculos semper nobis versatur et instat. contemplator enim, cum solis lumina cumque inserti fundunt radii per opaca domorum: multa minuta modis multis per inane videbis corpora misceri radiorum lumine in ipso 120 Für eine detaillierte Analyse dieser Argumentation, auf die wir noch ausführlicher zu sprechen kommen: Don Fowler, Lucretius on Atomic Motion. A Commentary on De Rerum Natura Book two, Lines 1–332, hg. v. Petra Fowler u. a., Oxford u. a.: Oxford University Press, 2002, S. 162–167. 121 Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 821.
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Inlustrare
et velut aeterno certamine proelia pugnas edere turmatim certantia nec dare pausam, conciliis et discidiis exercita crebris; conicere ut possis ex hoc, primordia rerum quale sit in magno iactari semper inani. dumtaxat rerum magnarum parva potest res exemplare dare et vestigia notitiai. Und außerdem schweifen viele [Atome] in der großen Leere umher, die von den Verbänden der Dinge ausgestoßen wurden und die nirgends aufgenommen [ihre] Bewegung vereinen konnten. Ein Sichtbild und Abbild dieser Sache bewegt sich und steht, wie ich erinnere, uns immer vor Augen. Denn als Betrachter wirst du, immer wenn das Sonnenlicht und wenn die eingefallenen Strahlen sich im Dunkel der Häuser ergießen, im Licht derselben Strahlen sehen, dass sich viele winzige Körper auf vielfältige Weise im Leeren mischen und gleichsam im ewigen Streit Schlachten und Kämpfe verursachen und schwadronenweise miteinander wettstreiten ohne eine (Waffen)pause einzulegen, erregt von den aufeinanderfolgenden Verbindungen und Trennungen; so dass du daraus erraten kannst, was es für die Uranfänge der Dinge heißt, dass sie immer [schon] in die große Leere geworfen. Freilich nur, insofern eine kleine Sache für große Dinge ein Beispiel und Spuren der Erkenntnis geben kann.
Die Sonnenstäubchen erscheinen nur in einem Chiaroscuro. Erst der Kontrast zwischen der Dunkelheit und dem Licht macht sie sichtbar und zu einem Sichtbild oder Abbild, simulacrum et imago, der unsichtbaren Atome. Hierbei folgt Lukrez einer Methode, die von Anaxagoras auf eine Formel gebracht wurde und die schon Demokrit rühmte (DK 59 B 21a): »ὄψις γὰρ τῶν ἀδήλον τὰ φαινόμενα (Anblick der verborgenen sind die erscheinenden Dinge).«122 Nach diesem Verfahren können wir auch die verborgenen Dinge (res occultae oder ἄδηλα) der Atome in den Phänomenen (φαινόμενα) der Sonnenstäubchen erblicken. Dabei fordert Lukrez den Leser als Betrachter dazu auf, das Phänomen selbst mit eigenen Augen zu betrachten. Gleichzeitig übernimmt seine Schilderung aber selbst die Funktion einer empirischen Beobachtung. Sein Text ist selbst ein poetisches simulacrum et imago, das dem Leser das Phänomen vor Augen (ante oculos) stellt, worin traditionellerweise die Aufgabe der rhetorischen inlustratio (ἐνάργεια) besteht.123 Die Sonnenstäubchen zeigen deutlich, wie Lukrez’ inlustrare mithilfe visueller Beschreibungen und Metaphern schließlich zur Schau der
122 Ausführlich über diesen Spruch und das antike Analogiedenken, das sich darin niederschlägt: Vgl. Hans Diller, »ΟΠΨΙΣ ΑΔΗΛΩΝ ΤΑ ΦΑΙΝΟΜΕΝΑ«, in: Hermes, 67, Nr. 1 (1932), S. 14–42. Über die Mehrdeutigkeit von Analogien und permanente Gleichzeitigkeit von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit siehe neuerdings: Noller, Die Ordnung der Welt, S. 69f. 123 Vgl. Fowler, Lucretius on Atomic Motion, S. 197.
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res occultae führt.124 Das Sonnenlicht, das in das Dunkel der Häuser fällt, gleicht den clara lumina seiner Dichtung und ihre Strahlen (radii) den sonnigen Strahlen und lichten Waffen (radii solis und lucida tela diei), mit denen Lukrez, wie gesagt, seine Lehre vergleicht. Das Chiaroscuro der Sonnenstäubchen verbindet sich mit dem metaphorischen Chiaroscuro seiner Poetik. Das Phänomen der Sonnenstäubchen und seine dichte(rische) Beschreibung stellen eine Analogie der ›asozialen‹ Atome dar, die von allen Atomverbindungen, den concilia, verstoßen wurden. Da diese ihre Bewegung nicht koordinieren und vergesellschaften (consociare) können, befinden sie sich in einem ewigen Streit (aeternum certamen), den Lukrez als militärischen Konflikt veranschaulicht: Die Atome führen unaufhörlich gegeneinander Schlachten und Kämpfe und bewegen sich wie berittene Schwadronen, wobei sie kurzzeitig concilia bilden, die wieder in ihre Auflösungen münden. Deshalb visualisiert ihr Kampf sowohl die ungebundenen Atome als auch das ursprüngliche Chaos und die Zwietracht (discordia), aus der – wie Lukrez im fünften Buch schreiben wird – alle concilia und damit unsere Welt entstand (5.416). Die militärische Metaphorik versprachlicht die Sonnenstäubchen, die wiederum nur ein sprachliches analoges simulacrum et imago des ursprünglichen Chaos der Ursprungskörper darstellen – eine Analogie, die von den Atomen in der Leere zu unterscheiden ist, da sie uns nur ein sichtbares Exempel und Spuren der Erkenntnis (vestigia notitiai) gibt. Die intellektuelle Erkenntnis, die notitia – die vielleicht dem epikureischen Vorbegriff (πρόληψις) entspricht125 –, liegt jenseits ihrer vestigia, aus denen sie erraten werden muss. Genauso muss der Leser den vestigia von Lukrez’ Schriftzeichen folgen, um zur Einsicht der natura rerum zu gelangen. Die Sonnenstäubchen erweisen sich aber nicht nur als Analogie im Sinne einer oberflächlichen Ähnlichkeit, sie stehen auch in einem engen kausalen Zusammenhang mit den unsichtbaren Bewegungen der Atome.126 Das verdeutlicht Lukrez in der zweiten Hälfte der Passage, welche die Kinetik der Atome detaillierter beschreibt und uns vorschreibt, wie ihre vestigia zu lesen sind (2.125–137): hoc etiam magis haec animum te advertere par est corpora quae in solis radiis turbare videntur, quod tales turbae motus quoque materiai
124 Wardy spricht darum bei Lukrez von einem »[…] ›optical model‹: that is, a means of conveying the strangeness of atomic theory in terms of certain familiar visuell experiences.« Wardy, »Lucretius on What Atoms are Not«, S. 116. 125 Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 823. 126 Das gilt nicht nur für die diskutierte Passage, sondern allgemein für das Verhältnis von primordia und concilia: »[…] parlando di primordia e della loro esistenza non è possibile far ricorso ai concilia in senso strettamente analogico, ovvero senza che sia coinvolto un legame causale, perché tutta la realtà è composta di primordia, ed è originata da essi.« Schiesaro, Simulacrum et imago, S. 30.
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Inlustrare
significant clandestinos caecosque subesse. multa videbis enim plagis ibi percita caecis commutare viam retroque repulsa reverti, nunc huc nunc illuc, in cunctas undique partis. scilicet hic a principiis est omnibus error. prima moventur enim per se primordia rerum; inde ea quae parvo sunt corpora conciliatu et quasi proxima sunt ad viris principiorum, ictibus illorum caecis inpulsa cientur, ipsaque proporro paulo maiora lacessunt. sic a principiis ascendit motus et exit paulatim nostros ad sensus, ut moveantur illa quoque, in solis quae lumine cernere quimus, nec quibus id faciant plagis apparet aperte. Daher entspricht es umso mehr, dass du deinen Geist den Körpern zuwendest, die man in den Strahlen der Sonne Unruhe stiften sieht, weil solches Getümmel ein Zeichen ist, dass verborgene und blinde Bewegungen der Materie zugrunde liegen. Denn du wirst dort viele sehen, die von blinden Schlägen aufgepeitscht den Weg ändern und sich umwenden, bald hierhin und bald dorthin, wohin auch immer in alle Richtungen. Freilich entspringt dieses Umherirren den Anfängen [Atomen]: Zuerst bewegen sich nämlich die Uranfänge der Dinge von selbst, hierauf werden sie von den Körpern, die aus kleinem Verbund bestehen und die gleichsam den Kräften der Anfänge verwandt sind, aufgeregt – angetrieben von den blinden Stößen jener – und reizen wiederum selbst die etwas Größeren [die kleinen Verbände]. So steigt die Bewegung von den Anfängen auf und tritt allmählich hervor in unseren Sinnen, so dass sich auch jene bewegen, die wir im Sonnenlicht unterscheiden können, und dennoch erscheint nicht offen, mit welchen Stößen sie dies tun.
Während Lukrez in der ersten Hälfte die Aktivität der Sonnenstäubchen hervorhebt und sie als aktive Kriegsteilnehmer darstellt, beschreibt er sie nun als passive Objekte, die von verborgenen Kräften getrieben werden. Ihre chaotische Bewegung ist nicht nur ein sichtbares simulacrum et imago der Atome, sondern ein Zeichen, das die verborgenen und unsichtbaren Bewegungen der Materie bezeichnet (significare). Da die Staubteilchen ohne ersichtliche Ursache ständig ihre Richtung wechseln, müssen sie von blinden Schlägen (plagae caecae) angetrieben werden. Das dreifach wiederholte Adjektiv caecus bezeichnet dabei sowohl die Unsichtbarkeit dieser Dynamik als auch ihre Blindheit im Sinne ihrer Ziellosigkeit und Unvorhersehbarkeit.127 Wir sehen die Staubteilchen kollidieren. Dahingegen liegt die verborgene Ursache ihrer plötzlichen Richtungsänderung, die plagae caecae, die zu diesen Kollisionen führt, auf der atomaren Ebene im 127 Vgl. Daryn Lehoux, »Seeing and Unseeing. Seen and Unseen«, in: Lucretius: Poetry, Philosophy, Science, hg. v. dems., A. D. Morrison u. Alison Sharrock, Oxford: Oxford University Press, 2013, S. 131–152, insb. S. 146–151.
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Dunklen. Die asozialen Atome werden von den plagae caecae der kleinsten concilia, die den Kräften der einzelnen Atome besonders ähnlich sind, getroffen und prallen selbst auf diese concilia, die sie wieder in Bewegung setzen. Da die sichtbaren Staubkörner nichts anders als concilia von Atomen sind, spielt sich in ihnen ein ähnliches Drama wie der sichtbare Kampf der Sonnenstäubchen ab: Alle Atome, die radikal freien, die nur lose verbundenen der Luft und des Lichts, sowie diejenigen der einzelnen Staubkörner befinden sich miteinander im Krieg. Ihre Bewegung reicht von den plagae caecae bis zu unseren Sinnen und erzeugt das Schauspiel, das vor unseren Augen im Licht erscheint. Die primordia rerum führen langsam und schrittweise (paulatim) ans Licht, das selbst aus dem chaotischen Spiel der Atome besteht. Signifikant und Signifikat der zeichenhaften Struktur der Phänomene werden damit durch eine kausale Kette verbunden. Lukrez’ inlustrare folgt dieser Kette, indem es sie um die vestigia seiner eigenen Schriftzeichen verlängert. Lukrez beschreibt das Phänomen der Sonnenstäubchen als einen ›Krieg der Atome‹, um es dem Leser vor Augen zu stellen. Auch an anderen Stellen zeigt sich seine Vorliebe, die Atome in militärischen Metaphern und Vergleichen zu veranschaulichen. Wenn er etwa im zweiten Buch erklärt, warum uns Objekte im Mesokosmos unbewegt erscheinen, obwohl sie sich auf mikrokosmischer Ebene in permanenter Bewegung befinden, bedient er sich zunächst eines friedlichen Bildes: Eine Herde von Schafen erscheint uns aus der Distanz wie ein unbewegter weißer Fleck, obwohl sich die Tiere langsam bewegen. Daraufhin kontrastiert er das idyllische Bild durch epische Kriegsbilder, simulacra belli:128 Betrachten wir in der Ebene eine Schlacht vom Gipfel eines Berges aus, dann scheinen die aufgewühlten Legionen und Reiterscharen, die sich mit äußerster Schnelligkeit bewegen, still zu stehen (2.317–332). Ebenso befinden sich die Atome in einem heftigen Kampf, ohne dass wir es sehen. Erst das simulacrum et imago der Sonnenstäubchen, das sich gleichsam an der Grenze zwischen Meso- und Mikrokosmos bewegt, liefert uns simulacra belli, die den unaufhörlichen Kampf der Atome visualisieren. Dieser Kampf besteht seit Ewigkeit, er ist ein ewiger Streit (aeternum certamen), der niemals entschieden wird und auch den Makrokosmos betrifft. In seiner Kosmologie spricht Lukrez von einem Kampf der Elemente, den großen Gliedern der Welt (maxima mundi membra), die durch einen unfrommen Krieg (pium nequaquam bellum) erregt werden (5.380f). Der mikrokosmische Kampf spiegelt sich im Makrokosmos wider. Doch auch im Mesokosmos zeigt sich der
128 Man kann beiden Szenarien als Anspielungen auf die epische Welt des Homer (Krieg) und Hesiod (Agrikultur) lesen. Da sich Lukrez von beiden als ›distant viewer‹ distanziert, verabschiedet er sich zugleich von den beiden wirkmächtigsten literarischen Traditionen: Vgl. Monica R. Gale, »Piety, Labour, and Justice in Lucretius and Hesiod«, in: Lucretius: Poetry, Philosophy, Science, S. 25–50, insb. S. 27.
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unfromme Krieg der Atome, und zwar im unaufhörlichen Wechsel von Tod und Leben, wie Lukrez im zweiten Buch betont (2.573–580): sic aequo geritur certamine principorum ex infinito contractum tempore bellum: nunc hic nunc illic superant vitalia rerum et superantur item. miscetur funere vagor quem pueri tollunt visentes luminis oras; nec nox ulla diem neque noctem aurora secutast, quae non audierit mixtos vagitibus aegris ploratus mortis comites et funeris atri. So wird im unentscheidbaren Streit der Anfänge [Atome] ein Krieg geführt, der vor unendlicher Zeit erregt wurde: Jetzt hier, jetzt dort siegen die Lebenskörper der Dinge und werden auf gleiche Weise besiegt. Es mischt sich der Schrei ins Begräbnis, den die Kinder erheben, die die Zonen des Lichts erblicken; und niemals folgte eine Nacht dem Tag oder eine Morgenröte der Nacht, die nicht in [ihren] ängstlichen Schreien vermischt gehört hätte Wehklagen, Begleiter des Todes und der dunklen Bestattung.
Wenn sich die Atome im Zuge ihres Konfliktes verbünden und ihre Bewegungen koordinieren, entstehen concilia, wenn sie sich zerstreiten und auseinanderstreben, ihre Trennungen, discidia. Hinsichtlich unserer Lebenswelt entscheidet dieser unentschiedene Kampf zwischen Leben und Tod: Die concilia bedeuten aus der Perspektive der Lebewesen die Entstehung neuer Körper und neuen Lebens, die discidia hingegen deren Auflösung und Tod. Damit führt der Krieg der Atome zu einem existenziellen Chiaroscuro, in dem sich das Licht des Lebens und die Dunkelheit des Todes – die Zonen des Lichts und die schwarze Bestattung – wie Schreie der Neugeborenen und Totenklagen, die sich wie Tag und Nacht ergänzen, unaufhörlich und unausweichlich vermischen.129 Die Kriegsmetaphorik verleiht Lukrez’ Ontologie rhetorische Evidenz und dramatisiert zugleich die Dringlichkeit seiner Ethik. Denn der Weise muss den Krieg der Atome und den daraus folgenden Wechsel von Tod und Leben aus einer sicheren Distanz betrachten, aus den lichten Bezirken der Weisheit (templa serena).130 Dies ist umso dringlicher, als Lukrez selbst in einer Epoche blutiger Konflikte und permanenter Bürgerkriege lebt. So bittet Lukrez zu Beginn des ersten Proömiums die Göttin Venus, dass sie durch ihre süßen Worte den Römern heiteren Frieden erbitte, weil er sonst weder in solchen unruhigen Zeiten (iniquum tempus) mit Gleichmut (aequus animus = ἀταραξία) sein Gedicht 129 Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 893f. 130 »The army is for Lucretius a symbol not of the order but of the endless conflict that characterizes atomic movement on the physical level, and, among men, the life of ignorance and folly. Only the philosopher, by seeing things for what they are, can with that knowledge remove himself from the conflict.« Vgl. Phillip De Lacy, »Distant Views: The Imagery in Lucretius 2«, in: Oxford Readings in Classical Studies. Lucretius, S. 146–157, hier S. 153.
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schreiben, noch Memmius Ruhe finden kann (1.40–45), um ihm mit voller Aufmerksamkeit zuzuhören. Die Bitte wird nicht erfüllt, da der Bürgerkrieg weitertoben und schließlich die römische Republik zerstören wird.131 Insofern Lukrez jedoch sein Gedicht fast vollendet und die Worte der Göttin seinem eigenen Gedicht entsprechen, wird seine Stimme erhört. Das De rerum natura betrachtet den Krieg der Menschen und Atome aus einer gewissen Distanz und ermöglicht dadurch Frieden innerhalb der lichten Bezirke, der templa serena des Texts, die wie die schattenlosen Göttersitze dem Chiaroscuro des Werdens entzogen scheinen. Diese Utopie (Illusion) eines unbeteiligten Beobachters, die Lukrez’ Schreiben inhärent ist, wird im zweiten Proömium durch die berühmte Allegorie vom ›Schiffbruch mit Zuschauer‹ expliziert: Der Autor/Leser empfindet voluptas, wenn er aus der sicheren Entfernung des Texts auf den existenziellen Schiffbruch der Menschheit, ihr Streben nach Macht und die sich daraus erwachsenden Kriege (belli certamina magna) blickt (2.1–14).132 Indem Lukrez die simulacra belli des römischen Bürgerkrieges fortwährend auf den Mikrokosmos überträgt, naturalisiert er das zeitgeschichtliche Geschehen und verleiht ihm eine (mikro)kosmische Dimension.133 Die geschichtlichen Ereignisse (res gestae) werden aus der Naturgeschichte der natura rerum abgeleitet, wobei sich umgekehrt das Vokabular der Wirkungen auf das ihrer Ursachen verschiebt. Denn, wie oft bemerkt wurde, verwendet Lukrez nicht nur Bilder des Krieges, sondern überhaupt Begriffe des römischen Staatsapparates, um die Interaktion der Atome zu illustrieren.134 So bezeichnet z. B. der Ausdruck con131 Die genaue Datierung von De rerum natura ist umstritten. Nach Volk ist es noch vor dem Ausbruch des Konflikts zwischen Caesar und Pompeius zu datieren (49 v. Ch.), womit sich iniquum tempus nicht unbedingt auf ein konkretes Kriegsgeschehen beziehen muss: Katharina Volk, »Lucretius’ Prayer for Peace and the Date of De Rerum Natura«, in: The Classical Quarterly, 60, Nr. 1 (Mai 2010), S. 127–131. Hutchinson hingegen plädiert für eine späte Datierung (um 48 v. Ch.): Gregory Owen Hutchinson, »The Date of De Rerum Natura«, in: The Classical Quarterly, 51, Nr. 1 (Mai 2001), S. 150–162. 132 Über diesen Topos, der maßgeblich von Lukrez geprägt wurde: Vgl. Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, insb. S. 27–31. Möglicherweise spielt dieses Gleichnis darauf an, dass Epikur laut doxografischen Berichten selbst einen Schiffbruch überlebte und sich auf einen Felsvorsprung retten konnte. Hierzu: Beer, »Lust und Verlust«, S. 177–80. 133 Das stellt schon der Schriftsteller Schwob beiläufig in seiner imaginären Biografie des Lukrez fest: »Er [Lukrez] sah keinen Unterschied zwischen den bluttriefenden Machthabern in Rom, mit ihren Horden von bewaffneten Schützlingen und Raufbolden, und zwischen dem Durcheinander der Heere von Atomen, die, vom gleichen Blut getränkt, um die dunkle Vorherrschaft rangen. Und er erkannte, daß der Tod nur die Freigabe war dieser aufgerührten Scharen, die dann fortstürzten zu tausend neuen sinnlosen Abenteueren.« Marcel Schwob, Der Roman der zweiundzwanzig Lebensläufe, üb. v. Jakob Hegner, Baden-Baden: Suhrkamp, 1976, S. 42. 134 Einen Überblick über diese politisch-soziale Metaphorik bietet immer noch: Gail Cabisius, »Social Metaphor and Atomic Cycle in Lucretius«, in: The Classical Journal, 80, Nr. 2 (Dez. 1984), S. 109–120.
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Inlustrare
cilium, mit dem Lukrez die Verbindung der Atome beschreibt, allgemein eine ›Versammlung‹ von Menschen, aber insbesondere die politische Institution der ›Volksversammlung‹. Ebenso meint das Wort foedus, mit dem er den ›Bund‹ der Seelenteile (z. B. 3.416) und die ›Gesetzmäßigkeit‹ der natürlichen Phänomene (foedera naturai) beschreibt (z. B. 1.586), in erster Linie einen förmlichen ›Vertrag‹ oder eine ›Föderation‹ zwischen zwei Staaten, Völkern oder Parteien. An anderen Stellen spricht Lukrez von einem nexus zwischen den Atomen (z. B. 1.240), einem ›Abhängigkeitsverhältnis‹, das im juridischen Sinn einen Sklaven an seinen Herren und einen Schuldner an seinen Kreditgeber bindet.135 Seltener spricht er von leges, ›Gesetzen‹, denen alle Dinge gehorchen (z. B. 2.719).136 Auch der unverrückbare Grenzstein, der terminus alte haerens, der typisch lukrezische Ausdruck für ›Naturgesetzlichkeit‹, entspricht, wie gezeigt, den sakralen und juridischen Raumvorstellungen der Römer. Die Ordnung, die in diesem Raum aus der ursprünglichen Anarchie der Atome erwächst, gleicht einem sozialen Gefüge. Durch dieses Vokabular wird der Kosmos romanisiert und demokratisiert: Die Naturgesetze sind für Lukrez kein äußerer Zwang oder transzendentes (monarchisches) Prinzip, sondern ein foedus zwischen den Atomen, wobei die foedera etymologisch auf fides, gegenseitigem ›Vertrauen‹, beruhen.137 Nicht zu Unrecht nennt deshalb Dionysios von Alexandria die Welt der Atomisten eine Demokratie der Atome (τῶν ἀτόμων ἡ δημοκρατία).138 Allerdings wird diese Demokratie wie die römische Republik von Spannungen und inneren Kämpfen zerrissen – sie ist ein Krieg Aller gegen Alle.139 Cicero stellt bezüglich der Latinisierung der Philosophie fest (ac. 1.25): »[…] aut enim nova sunt rerum novarum facienda nomina aut ex aliis transferenda ([…] entweder muss man für neue Dinge neue Worte schaffen oder man muss [Ausdrücke] aus anderen Bereichen übertragen).« Durch seine metaphorische Beschreibung der Interaktion der Atome transferiert (transferre) Lukrez Aus135 Vgl. Davies, »Notes on Lucretius«, 284f. 136 Dieser Ausdruck taucht erstmal bei Lukrez auf und wird in der antiken Naturphilosophie eine wichtige Rolle spielen. Allerdings sind unter den leges naturae noch keine mathematischen Naturgesetze im modernen Sinn zu verstehen: Daryn Lehoux, What Did the Romans Know? An Inquiry into Science and Worldmaking, Chicago/London: The University of Chicago Press, 2012, S. 61–72. 137 Über mögliche ethische Implikationen dieses Vertrauens siehe: Elizabeth Asmis, »Lucretius’ New World Order: Making a Pact with Nature«, in: The Classical Quarterly, 58, Nr. 1 (Mai 2008), S. 141–157, insb. 146f. 138 Zit. in: Shearin, The Language of Atoms, S. 94. 139 Schon der junge Marx bemerkt in einem Notizbuch über das Weltbild des Lukrez: »Ein lärmender Kampf, eine feindliche Spannung, bildet die Werkstätte und Schmiedestätte der Welt. Die Welt ist im Inneren zerrissen, in deren innerstem Herzen es so tumultarisch zugeht. Selbst der Strahl der Sonne, der in die Schattenplätze fällt, ist ein Bild dieses ewigen Krieges.« Karl Marx, »Epikureische Philosophie. Viertes Heft«, in: Ders. u. Friedrich Engels, Werke, Berlin: Diez, 1973, Erg.-Bd. 1, S. 162.
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drücke aus dem Bereich des politischen Lebens auf neue Dinge (res nova). Indem er die Sprache des Lebendigen auf die tote Materie überträgt, überwindet er die egestas linguae, die er, wie erwähnt, in seinem Gedicht wiederholt beklagt. Dadurch wird sein simulacrum et imago der Atome anthropomorph. Die Atome verhalten sich nämlich wie menschliche Kollektive und jedes einzelne von ihnen scheint wie ein lebender Organismus. Diese metaphorischen Implikationen widersprechen jedoch der epikureischen Lehre, die den Atomen jede Intentionalität und Lebendigkeit abspricht.140 Deshalb steuert Lukrez immer wieder seiner eigenen (vitalistischen) Imagination entgegen. Im fünften Buch unterstreicht er z. B., dass sich die Atome ohne Beratung oder Ratschluss, concilium, und ohne scharfsinnigen Geist (mens sagax) koordinieren (5.419f).141 Ihre concilia kommen also seltsamerweise ohne concilium zustande. Das liegt daran, dass Lebendigkeit, Geistigkeit und Affektivität sekundäre Qualitäten sind, die den concilia zukommen können, nicht aber den einzelnen Atomen, ehe sie sich zu concilia verbinden. Wenn man nicht scharf zwischen primären und sekundären Qualitäten unterscheidet, so wendet Lukrez in seiner Kritik der Vorsokratiker gegen Anaxagoras ein, verdoppelt sich die gesamte Welt im Mikrokosmos und wir geraten in einen infiniten Regress. Man könnte sich dann auch Atome ausdenken, die wie wir lachen und weinen (1.915–920). Dasselbe Bild greift Lukrez im zweiten Buch auf, in dem er heftig gegen die Belebtheit der Atome polemisiert (2.976–979): scilicet et risu tremulo concussa cachinnant et lacrimis spargunt rorantibus ora genasque multaque de rerum mixtura dicere callent et sibi proporro quae sint primordia quaerunt; quandoquidem totis mortalibus adsimulata ipsa quoque ex aliis debent constare elementis, inde alia ex aliis, nusquam consistere ut ausis […]. Freilich lachen sie [die Atome] von bebendem Gelächter erschüttert und benetzen mit tropfenden Tränen [ihr] Gesicht und Wangen; auch sind sie geübt, über die Mischung der Dinge vieles zu reden und sich weiter zu fragen, was die Uranfänge sind; da sie nämlich allen Sterblichen ähnlich gemacht wurden, müssen sie auch aus anderen Elementen [Atome] bestehen, darauf die einen aus anderen, sodass du es nicht wagst innezuhalten […].
140 Auf diesen Widerspruch macht auch Albrecht aufmerksam: »Zwar lehnt er [Lukrez] teleologisches Denken im Stil des Peripatos und der Stoa ab, doch schleichen sich auf dem Weg über die Bilderwelt und über Vorstellungen der antiken Naturwissenschaft dennoch vitalistische und hylozoistische Züge ein.« Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, Bd. 1, S. 234. 141 Vgl. Asmis, »Lucretius’ New World Order«, S. 149.
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Inlustrare
Die lächerliche Annahme, dass es keine radikale Differenz zwischen dem Mikround Mesokosmos gibt, bringt selbst die Atome zum Lachen und Weinen, die sich wie gebildete Menschen über naturphilosophische Probleme unterhalten und gleich Lukrez nach den Grundbausteinen der natura rerum fragen würden. Außerdem müssten sie, wenn sie den Menschen gleichen, selbst aus Atomen bestehen, die wiederum ad infinitum aus anderen Atomen bestehen. Weil dies absurd ist, muss Lukrez die Analogien zwischen dem Mikro- und Mesokosmos, auf denen seine Metaphorik beruht, ironisch brechen und seinen eigenen Anthropomorphismus und Animismus beständig revidieren, damit die Grenze zwischen seinem Text und seinem Thema nicht völlig verschwimmt. Das simulacrum et imago seiner Sprache entpuppt sich damit nicht nur als Ähnlichkeitsbild, sondern zugleich als irreführendes Zerrbild. Das inlustrare erhellt bestimmte Aspekte der natura rerum und rückt dadurch andere ins Dunkel, die dann in einem zweiten selbstkritischen Anlauf wiederum erhellt werden müssen. Die hellen Lichter seiner Verse versuchen immer wieder die Schatten zu korrigieren, die ihre eigenen Metaphern werfen.142
8.
Semina rerum: Übersetzung und Belebung der Atome
Die metaphorische Dimension des inlustrare zeigt sich nicht nur in Lukrez’ Beschreibungen der ›sozialen‹ Interaktion der Atome, sondern auch in seinem Vokabular für die Atome selbst. Das griechische Wort Atom (ἄτομος) wird aus einer Verneinung (α-) des Verbs ›(zer)schneiden‹ (τέμνω) gebildet. Es heißt daher wortwörtlich ›Nicht-Zerschneidbares‹, ›Un-Teilbares‹ und bezeichnet die ontologischen Grundbausteine durch eine negative Eigenschaft. Cicero wird ἄτομος einfach als atomus transliterieren (fin. 1.17) oder als corpora individua (nat. 1.71), ›unteilbare Körper‹, bzw. individuum (fat. 25), ›Unteilbares‹, übersetzen. Manchmal spricht er auch schlicht im Diminutiv von ›Körperchen‹, corpuscula (nat. 1.66).143 Die Worte atomus und corpuscula lassen sich bereits vor Cicero in der lateinischen Literatur nachweisen, wohingegen individuum vermutlich eine Wortprägung Ciceros ist.144 Das individuum, das als philosophi142 Theoretiker der Metapher sprechen von einem »hiding« und »highlighting« jeder Metapher, weil sie bestimmte Aspekte beleuchtet und andere verdeckt: George Lakoff/Mark Johnson, Metaphors we live by, Chicago u. London: University of Chicago Press, 1980, S. 10f. 143 Schon Amafinius, der, wie wir im vierten Kapitel sehen werden, wahrscheinlich vor Lukrez schrieb, sprach laut Cicero von corpuscula, ein Ausdruck, der auch Lukrez vertraut ist: Vgl. Tobias Reinhardt, »The Language of Epicureanism in Cicero: The Case of Atomism«, in: Aspects of the Language of Latin Prose, hg. v. Tobias Reinhardt., Michael Lapidge u. J. N. Adams, Oxford u. a.: Oxford University Press, 2005, S. 151–174, hier S. 158–162. 144 Vgl. Sedley, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, S. 38.
Semina rerum: Übersetzung und Belebung der Atome
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scher Neologismus eingeführt wurde, um ein Grundprinzip der atomistischen Physik zu latinisieren, bedeutet in den modernen Sprachen wie im Neugriechischen bekanntlich ein rechtlich-moralisches Subjekt. Die soziale Metaphorik der Atome, die bei Lukrez besonders ausgeprägt ist, erstarrt somit im Laufe der Sprachentwicklung schließlich zu einem eigentlichen sozialen Begriff. Allerdings spricht Lukrez weder von atomi noch von individua. Während Cicero ein einheitliches und gleichsam ›technisches‹ Vokabular anstrebt, verwendet Lukrez eine ganze Fülle von Ausdrücken, um die griechischen Atome in seiner Sprache wiederzugeben.145 Das liegt nicht nur daran, dass er in Versen schreibt und aus metrischen Gründen eine größere Bandbreite an Synonymen braucht, sondern auch daran, dass er die Einheitlichkeit seines Vokabulars zugunsten seiner höheren Metaphorizität aufgibt. Dabei unterstreicht er im Unterschied zu Cicero weniger die Kleinheit und Unteilbarkeit der Atome als deren Ursprünglichkeit und Zeugungskraft.146 Zwar umschreibt auch er an wenigen Stellen die Unzerschneidbarkeit der Atome, wenn er etwa sagt, dass sie sich nicht durch Zerschneiden entzwei spalten lassen (nec findi in bina secando) (1.533), oder, dass es ein Ende beim Zerschneiden der Körper geben muss (corporibus finem esse secandis) (1.844)147 – wobei das Verb seco dem τέμνω entspricht –, doch er charakterisiert sie nicht primär negativ. Demgegenüber hebt er vor allem auf positive Weise ihre Simplizität und Solidität (simplicitas und soliditas)148 wie ihr generatives Vermögen zur Bildung von Verbänden hervor. Schon im ersten Proömium führt Lukrez eine Serie alternativer Ausdrücke ein, mit denen er die Atome bezeichnen wird (1.54–61):149
145 Diese Differenz schildert Sedley treffend: »[…] it would be quite misleading to assimilate the practices of Lucretius and Cicero when each sets about establishing a group of alternative or complementary Latin terms for a single Greek original. Cicero does it only as a step towards what will, if all goes well, prove to be their eventual whittling down to a single technical term. For Lucretius, on the other hand, the range of alternative terms is no stopgap or compromise but is intrinsically desirable. By means of it, he seeks to capture the Greek original, not by substituting a Latin technical term for a Greek one, but by keeping in play a whole set of mutually complementary live metaphors. The policy is one not of finding a technical terminology, but of avoiding one.« Sedley, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, S. 44. 146 Vgl. Dalzell, The Criticism of Didactic Poetry, S. 101. 147 Dies wurde vielfach festgestellt. Siehe etwa: Alfani Caranci Luciana, L’atomo nel lessico di Epicuro e Lucrezio, Neapel: Lofredo, 1987, S. 5ff. 148 Vgl. Stefano Maso, »L’atomo di Lucrezio«, in: Lexicon Philosophicum. International Journal for the History of Texts and Ideas, 4 (2016), S. 173–82, hier S. 180f. 149 Die Echtheit der Verse 1.58–61 wurde zunächst von Deufert bestritten: Marcus Deufert, Pseudo-Lukrezisches im Lukrez. Die unechten Verse in Lukrezens ›De rerum natura‹, Berlin u. a.: De Gruyter, 1996, S. 228f. Mittlerweile hat er aber im Kommentar zu seiner neuen Lukrez-Ausgabe seine Zweifel revidiert: Ders., Kritischer Kommentar zu Lukrezens ›De rerum natura‹, Berlin u. a.: De Gruyter, 2018, S. 4.
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Inlustrare
nam tibi de summa caeli ratione deumque disserere incipiam et rerum primordia pandam, unde omnis natura creet res auctet alatque, quove eadem rursum natura perempta resolvat; quae nos materiem et genitalia corpora rebus reddunda in ratione vocare et semina rerum appellare suemus et haec eadem usurpare corpora prima, quod ex illis sunt omnia primis. Denn ich werde dir über den höchsten [letzten] Grund des Himmels und der Götter sprechen und die Uranfänge der Dinge ausbreiten, aus denen die Natur alle Dinge erschafft, vermehrt und ernährt und in die dieselbe Natur sie [alle Dinge] auch wiederum nach ihrer Vernichtung auflöst, [und] die wir, um sie in der [Terminologie unserer] Lehre wiederzugeben, gewohnt sind, Mutterstoff und Zeugungskörper der Dinge zu nennen und sie als Samen der Dinge zu bezeichnen und die wir uns ebenso als erste Körper [sprachlich] aneignen, weil alles zuerst aus jenen besteht.
Lukrez möchte den letzten Grund und die wahre ratio des gesamten Kosmos darlegen und die Grundlage aller Dinge offenbaren. Dazu besetzt er einen lexikalischen Raum und eignet ihn sich wie ein Territorium an (usurpare entstammt der militärischen Sprache): Der erste Ausdruck, den er einführt, die primordia rerum, die ›Uranfänge der Dinge‹, ist zugleich der häufigste.150 Die Atome sind Anfänge und Körper – Epikur spricht von Grundprinzipien (ἀρχαί) und Körpern (σώματα) –, die in einem kausalen Sinn primär sind, weshalb sie Lukrez auch principia, ›erste Ursprünge‹, ›erste Prinzipien‹ und corpora prima ›erste Körper‹ oder schlicht corpora, ›Körper‹, nennt. Primordium kombiniert das Suffix primus mit dem Verb ordior, das ursprünglich aus der Sprache der Webkunst stammt und ›ein Gewebe anfangen‹, ›die Fäden auf dem Webstuhl aufspannen‹ heißt. In den primordia stecken bereits die Ordnung und das Muster (ordo) der res, die aus ihnen gewebt werden können. Da Lukrez die Verbindung der Atome oft auch als textura, ›Gewebe‹, ›Textur‹ oder contextum, ›gemeinsame Verwebung‹ oder ›Verflechtung‹ beschreibt (z. B. 1.243), ist er sich sicherlich der Herkunft des Wortes bewusst. Überdies entfaltet er die Gewebemetaphorik, die in den primordia steckt, auch auf der Ebene seines Texts, wenn er davon spricht, dass er mit seinen Worten ein Gewebe ›weiterspinnt‹ oder es ›zu Ende webt‹ (pertexere dictis) (1.418, 6.42). Die textura der primordia entspricht somit der textura seiner Schrift.151 150 Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 606f. 151 Zur extensiven Webemetaphorik bei Lukrez, die nur selten betont wird, siehe: Jane McIntosh Snyder, »The Warp and Woof in the Universe of Lucretius’ De Rerum Natura«, in: Illinois Classical Studies, 8, Nr. 1 (Apr. 1987), S. 37–43. Die Webemetaphorik findet sich ansatzweise bei Epikur, wie schon Raumer bemerkt: Sigmund von Raumer, Die Metapher bei Lucrez, Erlangen: Universitäts-Buchdruckerei E. Th. Jacobs, 1893, S. 60.
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Diese Verknüpfung zwischen der Ordnung des Mikrokosmos und des Texts zeigt sich auch in einem weiteren Ausdruck, der in der zitierten Passage noch nicht auftaucht. Genauso wie Epikur die Atome ›Elemente (einer Reihe)‹, ›Komponenten‹ oder ›Grundlagen‹ (στοιχεῖα) nennt, spricht Lukrez von elementa. Das Wort elementum, dessen Etymologie ungewiss ist, taucht erstmals bei Lukrez auf und bezeichnet wie das griechische στοιχεῖον die Buchstaben des Alphabets – eine Bedeutung, mit der Lukrez häufig spielt: So vergleicht er die Atome wiederholt mit Buchstaben, die unterschiedlichen verba und res gemeinsam sind (z. B. 1.196f), und erklärt etwa damit, dass Holz (lignis) und Feuer (ignis) fast aus denselben Atomen bestehen – so wie die beiden Wörter dieselben Buchstaben teilen (1.891–896).152 Aufgrund solcher Wortspiele sprechen manche Forscher von einer ›Atomologie‹, d. h. einer atomistischen Etymologie bei Lukrez.153 Diese Atomologie ist in erster Linie eine Analogie, die veranschaulichen soll, dass eine minimale Veränderung in der Mikrostruktur der Elemente oder Buchstaben zu einer maximalen Veränderung auf der phänomenalen oder semantischen Ebene führt. Diese Beobachtung geht auf die Atomisten Leukipp und Demokrit zurück, die – so Aristoteles – die Atome bereits mit Buchstaben verglichen (DK 67 A 9): »ἐκ τῶν αὐτῶν γὰρ τραγῳδία καὶ κωμῳδία γίγνεται γραμμάτων (Denn aus denselben Buchstaben entsteht die Tragödie und die Komödie).«154 Einerseits teilen die Worte Tragödie und Komödie einige Buchstaben, andererseits bestehen ihre Texte wie jeder Text aus denselben Buchstaben des Alphabets. Doch Lukrez bezieht diese traditionelle Analogie nicht nur auf Wortspiele und allgemein auf Texte, sondern insbesondere auf seinen eigenen Text. Im ersten Buch führt er diesen Vergleich, den er später teilweise im selben Wortlaut wiederholen wird (2.688–698 u. 2.1013–1018), konsequent durch (1.817–829): atque eadem magni refert primordia saepe cum quibus et quali positura contineantur et quos inter se dent motus accipiantque. namque eadem caelum mare terras flumina solem constituunt, eadem fruges arbusta animantis, verum aliis alioque modo commixta moventur. quin etiam passim nostris in versibus ipsis multa elementa vides multis communia verbis, cum tamen inter se versus ac verba necessest confiteare et re et sonitu distare sonanti. 152 Vgl. Jane McIntosh Snyder, Puns and Poetry in Lucretius’ De rerum natura, Amsterdam: B. R. Grüner, 1980, S. 32–51. Siehe auch die umfangreiche Studie: Hermann Diels, Elementum. Eine Vorarbeit zum griechischen und lateinischen Thesaurus, Leipzig: Teubner, 1899, insb. S. 5–8. 153 Dieser Neologismus wurde von Friedländer geprägt: Friedländer, »Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius«, S. 353. 154 Hierzu: Diels, Elementum, S. 13f; Noller, Die Ordnung der Welt, S. 77ff.
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Inlustrare
tantum elementa queunt permutato ordine solo; at rerum quae sunt primordia, plura adhibere possunt unde queant variae res quaeque creari. Und es betrifft diese Uranfänge entschieden, mit welchen [anderen] und in welcher Position sie zusammengehalten werden und was sie unter sich für Bewegungen weitergeben und empfangen; denn dieselben [Atome] bilden Himmel, Meer, Erde, Flüsse, Sonne, dieselben Früchte, Sträucher Lebewesen, [auch wenn] sie sich freilich mit anderen auf andere Weise vermischt bewegen. Ja sogar in unseren Versen selbst siehst du viele gemeinsame Buchstaben in vielen Worten, obwohl sich die Verse und Worte, das muss man gewiss zugeben, sowohl in der Sache [Bedeutung] als im klingenden Klang unterscheiden. So viel können die Buchstaben allein durch die Änderung ihrer Ordnung; aber [die Elemente] der Dinge, welche die Uranfänge sind, vermögen noch mehr anzuwenden, woraus sie alle möglichen unterschiedlichen Dinge erzeugen können.
Alle Dinge, die Lukrez in einer langen, unverbundenen Reihe (Asyndeton) auflistet, variieren aufgrund der Position, Kombination und Bewegung ihrer Atome, die ihnen teilweise gemeinsam sind wie Buchstaben in unterschiedlichen Worten. In einer Metareflexion fordert der Text seinen Leser auf, bei seiner Lektüre darauf zu achten, wie die Verse und Worte, die viele gemeinsame Buchstaben teilen, dennoch in Bedeutung (res) und Klang (sonitus) erheblich variieren. Sein sichtbares System der Buchstaben wird damit zum simulacrum et imago der unsichtbaren Konstituenten der Phänomene, die der Text wiederum beschreibt und erklärt. Die einzelnen elementa der Buchstaben sind vestigia der elementa der Atome, denen der Leser folgen muss. Indem Lukrez die metaphorische Dimension der elementa ausschöpft, erklärt er nicht nur die Zusammensetzung aller Phänomene. Er erklärt zugleich das Phänomen seines eigenen Texts, den er unter die natürlichen Dinge einreiht. Das Vokabular der Atome wird dadurch wie das der Phänomene – der Spurenlese der vestigia – zum elementaren Bestandteil seiner eigenen Poetik.155 Ein weiterer Ausdruck, den Lukrez einführt, ist unspezifischer und meint nicht nur die Atome, sondern allgemein den ›Stoff‹, aus dem alles besteht. So spricht er bereits im ersten Proömium von materies et corpora genitalia, der ›Materie und den zeugenden Körpern‹. Materies (und die alternative Form materia) bezeichnet wie der griechische Materiebegriff (ὕλη) im Lateinischen das ›Bau-‹ oder ›Nutzholz‹, also ein Material, das der Herstellung unterschiedlicher Formen dient.156 Anders als ὕλη stammt das Wort materies jedoch von mater, ›Mutter‹,157 wobei man sich ihre Produkte gleichsam als Kinder vorstellen kann. Der lateinische Begriff der Materie erweckt weniger die Assoziation der passiven 155 Dies betont auch: Thury, »Lucretius’ Poem as a Simulacrum of the Rerum Natura«, S. 277. 156 Vgl. Wolfgang Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978, S. 206. 157 Vgl. Ernout/Meillet, Dictionnaire étymologique de la langue latine, S. 390.
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Formung eines Stoffes als die der aktiven ›Zeugung‹ und ›Geburt‹ eines lebendigen Organismus. Deshalb koppelt Lukrez die materies auch mit den corpora genitalia, wobei er unter partes genitales auch die ›Genitalien‹ und ›Zeugungsglieder‹ der Menschen verstehen kann (4.1045). Er nutzt diese und ähnliche sexuelle Konnotationen ausgiebig, wenn er die Materie und insbesondere die Erde mit einer Mutter vergleicht, die alle Wesen gebiert: Da jedes Ding wie alle Lebewesen aus bestimmten corpora genitalia besteht, so schreibt er, haben alle res eine bestimmte Mutter (mater certa) (1.168). An anderer Stelle schildert er die Befruchtung der Erde durch den Regen als Hierogamie, d. h. als kosmische Vereinigung des Himmelvaters mit der Muttererde (1.250f): »[…] pereunt imbres, ubi eos pater aether | in gremium matris terrai praecipitavit […] ([…] es vergehen die Regenschauer, sobald sie Vater-Äther in den Schoß der Mutter-Erde gestürzt hat […]).«158 Daraufhin gebiert die Erde Pflanzen, von denen sich Tiere und Menschen nähren (1.252–264). Die Erde enthält eine Mischung aus besonders vielen unterschiedlichen Atomen, weshalb sie den Mutterstoff und Nährboden aller organischen Verbindungen darstellt. Aus diesem Grund vergleicht sie Lukrez in seiner ausführlichen allegorischen Schilderung mit der Göttin Kybele, der ›Großen Mutter der Menschen und Tiere‹ (magna deum mater materque ferarum) (2.598–654). Zwar weist er die mythologischen Erklärungen der gelehrten Dichter der Griechen zurück, dennoch erlaubt er den metonymischen und poetischen Gebrauch der Götternamen, solange dieser keine negativen Affekte der religio weckt (2.655–660).159 Das Bild der Erdenmutter lebt deshalb in Lukrez’ Gedicht fort. So rechtfertigt er selbst wenig später die Mütterlichkeit der Erde in einer weiteren Szene der Hierogamie, die seltsamerweise seine Argumentation gegen die Belebtheit der Materie beschließt und direkt auf die schon zitierte Polemik gegen die lachenden und weinenden Atome folgt (2.991–998): Denique caelesti sumus omnes semine oriundi: omnibus ille idem pater est, unde alma liquentis umoris guttas mater cum terra recepit, feta parit nitidas fruges arbustaque laeta et genus humanum, parit omnia saecla ferarum, pabula cum praebet quibus omnes corpora pascunt et dulcem ducunt vitam prolemque propagant: quapropter merito maternum nomen adepta est.
158 Ausführlicher zu diesem Topos: Edward John Kenney, »Lucretian Texture: Style, Metre and Rhetoric in the De rerum natura«, in: The Cambridge Companion to Lucretius, S. 92–110, hier S. 98f. 159 Vgl. Gale, Myth and Poetry in Lucretius, S. 133.
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Letztlich müssen wir alle aus himmlischen Samen geboren werden; allen ist jener [Himmel] der gleiche Vater, von dem die nährende Mutter die Tropfen mit flüssigem Nass empfing und befruchtet gebiert sie glänzende Früchte und üppige Sträucher und das Geschlecht der Menschen, gebiert alle Gattungen der Tiere, weil sie die Nahrung bereitstellt, von der sich alle Körper nähren und [derentwegen] sie ein süßes Leben führen und ihr Geschlecht fortpflanzen; deshalb erlangte sie ganz zu Recht den mütterlichen Namen.
Lukrez imitiert und adaptiert hier wahrscheinlich eine Passage von Euripides, der wiederum der Lehre seines Freundes Anaxagoras folgt,160 demzufolge alles Leben von himmlischen Samen stammt und der behauptet, dass die Luft Samen aller Dinge (πάντων σπέρματα) enthält (DK 59 A 113).161 Diese Samen (semina) sind allerdings für Lukrez genauso wenig belebt wie Himmel und Erde. Wie er im fünften Buch ausführt, vermischen sich die Samen des Regens mit denen der Erde und zeugen im Erdinneren – in einer Art Uterus, der im Erdreich verwurzelt ist (uteri terram radicibus apti) – alle Lebewesen und Menschen. Die ersten Menschen wurden von der Erde gesäugt, die an bestimmter Stelle eine Art von Milch absonderte wie die Brüste von Frauen (5.783–815). Obwohl Lukrez den Anthropomorphismus und Animismus seiner Metaphern und Allegorien immer wieder argumentativ zurückzudrängen und zu kontrollieren versucht, kehren diese zurück und entwickeln ein Eigenleben. Die mater, die in den materies steckt, entlädt sich in poetischen Bildern, die sich der Kontrolle der epikureischen Lehre fortlaufend entziehen. Mit diesen Vorstellungen der sexuellen Zeugung hängt auch der folgende Ausdruck zusammen, der in der genannten Passage aus dem ersten Proömium auftaucht: Die Atome werden als semina rerum, ›Samen der Dinge‹ bezeichnet. Ähnlich nennt Epikur die Atome manchmal Samen (σπέρματα) (z. B. Her. 38), allerdings ohne das metaphorische Potential dieses Ausdrucks zu entfalten.162 Was bei Epikur eine ›tote‹ Metapher blieb, wird in der Dichtung des Lukrez ›lebendig‹.163 Die biologische Metaphorik der semina rerum kommuniziert mit den Bildern der Hierogamie und überhaupt mit denjenigen der sexuellen Zeugung. Lukrez beschreibt die Verbindung der Atome nicht nur als concilia, sondern auch als coetus, ›Zusammenkunft‹, wobei der Ausdruck bei späteren Autoren auch den ›Geschlechtsakt‹, den ›Koitus‹ bezeichnen wird.164 Gegen Ende 160 Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 956f. 161 Über Anaxagoras Konzept der Samen und ihren Einfluss auf die Atomisten siehe: G. E. R. Lloyd, Polarity and Analogy. Two Types of Argumentation in Early Greek Thought, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 1966, S. 244–251. 162 Vgl. Schrijvers, »Seeing the Invisible«, S. 261. 163 Ganz ähnlich: Diskin Clay, »The Anatomy of Lucretian Metaphor«, in: Ders., Paradosis and Survival, S. 161–73, insb. S. 167. 164 Darauf macht Schrijvers in einer Fußnote aufmerksam: »Seeing the Invisible«, S. 260 (Fn. 12).
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des vierten Buches, in dem Lukrez die menschliche Sexualität thematisiert, erklärt er wie Venus die menschlichen Körper verbindet und die männlichen und weiblichen semina mischt, woraus die zeugende Saat (satus genitales) und neues Leben entspringt (4.1208–1217). Außerdem finden sich Passagen, bei denen es nicht klar ist, ob er unter semina die Atome oder biologische Samen versteht (z. B. 2.434–437).165 Die semina rerum werden aber nicht nur mit der tierischen und menschlichen Sexualität assoziiert, sondern auch mit dem pflanzlichen Wachstum, etwa wenn Lukrez schreibt (1.69f): »at nunc seminibus quia certis quaeque creantur, | inde enascitur atque oras in luminis exit […] (Weil aber nun alles aus bestimmten Samen erzeugt wird, wird es von daher [aus ihnen] geboren und kommt heraus in die Zonen des Lichts […]).« Die unsichtbaren semina rerum verbinden sich, wodurch alle sichtbaren Phänomene geboren werden. Dadurch strecken sie sich in einer Art heliotropen Bewegung wie Pflanzen in die sichtbaren Zonen des Lichts.166 Lukrez vergleicht die semina rerum explizit mit den Samen von Pflanzen, um zu illustrieren, dass sie sich nur zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Umständen verbinden (1.174–183): […] cur vere rosam, frumenta calore, uvas autumno fundi suadente videmus, si non, certa suo quia tempore semina rerum cum confluxerunt, patefit quodcumque creatur, dum tempestates absunt et vivida tellus tuto res teneras effert in luminis oras? quod si de nihilo fierent, subito exorerentur incerto spatio atque alienis partibus anni, quippe ubi nulla forent primordia, quae genital concilio possent arceri tempore iniquo. […] warum sehen wir im Frühling die Rose hervorkommen, in der Hitze [des Sommers] das Getreide, die Trauben durch den einladenden Herbst, wenn nicht deshalb, weil, sobald sichere Samen der Dinge zu ihrem Zeitpunkt zusammengeströmt sind, sich öffnet, was auch immer gezeugt wird, während die Unwetter fern sind und die belebte Erde die zarten Dinge sicher in die Zonen des Lichts trägt? Würden sie aber aus nichts, müssten sie plötzlich entstehen an unbestimmtem Ort und in fremden Abschnitten des Jahres, gäbe es dort freilich keine Uranfänge, die zu ungünstigen Zeiten am zeugenden Bund gehindert werden könnten.
165 Hierzu mein Aufsatz: »Manifest gegen die Evidenz«, S. 95. 166 Dieser Heliotropismus verbindet die Samen- und Lichtmetaphorik bei Lukrez. Nach Derrida ist die Lichtmetaphorik in der abendländischen Philosophie dermaßen omnipräsent, dass er die gesamte philosophische Metaphorik als ›Heliotrop‹ bezeichnet: Jacques Derrida, »Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text«, in: Ders., Randgänge der Philosophie, hg. v. Peter Engelmann, übs. v. Gerhard Ahrens u. a., Wien: Passagen Verlag, 1988, S. 229–290, hier S. 264–277.
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Inlustrare
Keine res entsteht aus dem Nichts. Alles entspringt wie Pflanzen aus bestimmten semina, die nur zu bestimmten Zeiten und Orten zusammenströmen und einen zeugenden Bund (genitale concilium) bilden. Die Erde scheint lebendig (vivida tellus) und das gesamte Werden gleicht dem vegetativen Streben in die Zonen des Lichts. Im Dienst seiner Veranschaulichung – der rhetorischen inlustratio – entfaltet Lukrez das metaphorische Potential einer ganzen Reihe von Ausdrücken, mit denen er unterschiedliche Aspekte der Atome anspricht. Im Unterschied zu Epikur beleuchtet er bereits durch sein Vokabular die kausale und schöpferische Funktion der Grundbausteine seiner Ontologie.167 Einerseits verbindet er die kreative Fähigkeit der Atome mit der Schöpfung seines eigenen Texts, andererseits assoziiert er die ›Mechanik‹ der Atome mit der Zeugung und dem Wachstum biologischer Phänomene. Indem er tote Metaphern, die er teilweise von Epikur übernimmt, durch seine Übersetzung belebt, belebt er zugleich den ganzen Kosmos und es entsteht ein Animismus, welcher der epikureischen Philosophie zuwiderläuft. Lukrez opfert damit tendenziell seine Orthodoxie für eine größere Anschaulichkeit seiner Dichtung. Die heliotrope Bewegung der Atome kommt dabei seinem eigenen inlustrare entgegen. Die Dinge selbst entzünden das Licht, das in Lukrez’ Versen, wie zitiert, auf- und weiterleuchtet (1.1117): »ita res accendent lumina rebus (So entzünden die Dinge ein Licht den [anderen] Dingen).«
9.
Natura daedala rerum: Venus als Verkörperung der Natur (1.1–25)
Die Aktivität und Kreativität der Materie, die sich in Lukrez’ atomistischem Vokabular ausdrückt, korreliert mit seinem Naturbegriff. Die lateinische natura ist eine Übersetzung der griechischen Physis (φύσις), die vom Verb φύω/φύεσθαι stammt, das etwa ›hervorbringen‹, ›ans Licht bringen‹ ›(auf)wachsen‹ oder ›wachsenlassen heißt. Gemäß dieser Herkunft meint φύσις das ›Hervorbringen‹, ›Wachsen‹, ›Hervortreiben‹ oder die ›Gewachsenheit‹ aller Dinge, ein Bereich, der mit dem vegetativen Wachstum und mit einer heliotropen Bewegung assoziiert ist. Φύσις bedeutet einen gesetzmäßigen Wachstumsvorgang, den man insbesondere bei Gewächsen beobachten kann, weshalb auch die verwandten Ausdrücke φυτόν und φῦμα ›Pflanze‹ und ›Gewächs‹ oder ›Geschwür‹ meinen.168 Die Endung -σις 167 Vgl. Wardy, »Lucretius on What Atoms are Not«, insb. S. 121. 168 Über den ursprünglichen Begriff der φύσις: Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, S. 201–9. Darüber hinaus nimmt φύσις bzw. natura im Laufe der Geschichte zahlreiche Bedeutungen an. So listen etwa Boas und Lovejoy in einer berühmten Studie 66
Natura daedala rerum: Venus als Verkörperung der Natur (1.1–25)
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drückt wie im griechischen Begriff der Zeugung und Geburt (γένεσις) eine Aktivität und Tätigkeit aus. Für Empedokles steht φύσις im Gegensatz zum Tod (DK 31 B 8): »φύσις οὐδενὸς ἔστιν ἁπάντων | θνητῶν, οὐδέ τις οὐλομένου θανάτοιο τελευτή, | ἀλλὰ μόνον μῖξίς τε διάλλαξίς τε μιγέντων | ἔστι, φύσις δ’ ἐπὶ τοῖς ὀνομάζεται ἀνθρώποισιν (Physis gibt es bei keinem von allen sterblichen Wesen, und auch kein Ende im vernichtenden Tod, sondern nur Mischung und Neugestaltung des Gemischten gibt es, bei den Menschen wird es Physis [Geburt] genannt).« Die φύσις ist die Geburt und Entstehung aller Dinge auf einer phänomenalen Ebene, während es auf der Ebene der Elemente keine Neuentstehung, sondern nur Neumischungen gibt. Auch laut Aristoteles erschließt sich die φύσις hinsichtlich der γένεσις (phys. 193b): »ἡ φύσις ἡ λεγομένη ὡς γένεσις ὁδός ἐστιν ει᾿ς φύσιν (Die Physis, verstanden im Sinne der Genesis [Geburt], ist der Weg zur Physis).« Die φύσις ist kein fester, starrer und passiver Gegenstandsbereich, sondern ein dynamisches Werden, die γένεσις der Dinge selbst.169 Ganz ähnlich beschreibt die römische natura eine Aktivität und entstammt dem Bereich des organischen Werdens. Natura leitet sich vom Verb nascor, ›geboren-werden‹ ab.170 Sie ist nicht primär das, was geboren wird, sondern das, was gebiert, wie Isidor von Sevilla bemerkt (etym. 11.1.1): »Natura dicta ab eo quod nasci aliquid faciat. Gignendi enim et faciendi potens est (Man spricht von Natur, weil sie etwas geboren werden lässt. Sie ist nämlich fähig zum Gebären und Zeugen).« Die natura ist ein Potential des Gebärens (gigni), wobei die Vorstellung der sexuellen Reproduktion im Lateinischen noch präsenter als im Griechischen ist. Aufgrund ihrer Etymologie kann natura auch das weibliche Geschlecht und im Kontext der Tierzucht die ›Gebärpforte am Muttertier‹ bezeichnen.171 Lukrez schöpft diese etymologischen und begriffsgeschichtlichen Assoziationen der natura aus. Daher ist seine Übersetzung der φύσις sicherlich
unterschiedliche semantische Schattierungen der beiden Begriffe auf: Vgl. George Boas/ Arthur O. Lovejoy, »Some Meanings of Nature«, in: Dies., Primitivism and Related Ideas in Antiquity. Contributions to the History of Primitivism, Baltimore: Johns Hopkins Press, 1935, S. 447–456. 169 Diese Zitate von Empedokles und Aristoteles werden auch von Clay angeführt: Clay, Lucretius and Epicurus, S. 89–93. 170 Über die möglichen linguistischen Derivate (g)natus siehe: »Na¯scor«, in: Michiel de Vaan (Hg.), Etymological Dictionary of Latin and the other Italic Languages, Brill 2008, online unter: https://dictionaries-brillonline-com.uaccess.univie.ac.at/search#dictionary=latin&id =la1071 (Zugriff 02/05/2022). 171 Vgl. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, S. 202. Noch immer lebt diese spezifische Bedeutung fort, wenn natura in süditalienischen Dialekten wie dem Sizilianischen ein vulgärer Ausdruck für das weibliche oder auch männliche Genital ist: Vincenzo Mortillaro (Hg.), Nuovo dizionario Siciliano-Italiano, Palermo: Salvatore Di Marzo Editore, 1862, S. 563.
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Inlustrare
kein ›Verfall‹ der ursprünglichen ›Nennkraft‹ des griechischen Wortes.172 Ganz im Gegenteil – falls es überhaupt eine ursprüngliche Bedeutung gibt –, dann wird diese in seiner Dichtung reaktiviert. Die Nennkraft der natura ist bei Lukrez dermaßen stark mit poetischen Bildern der Zeugung und Geburt aufgeladen, dass man den Titel De rerum natura alternativ als ›Über die Geburt der Dinge‹ oder ›Über die Allgeburt‹ übersetzen könnte.173 De rerum natura, das dem griechischen ›Über die Natur‹ (Περὶ φύσεως) oder ›Über die Natur der seienden Dinge‹ (Περὶ φύσεως τῶν ὄντων) – den Titeln der Hauptwerke des Epikur und Empedokles – entspricht,174 bezeichnet einen Bereich des permanenten Werdens und Gebärens. Das zeigt sich bereits in seinen ersten Versen, dem berühmten Venus-Hymnus, der so beginnt (1.1–25): Aeneadum genetrix, hominum divomque voluptas, alma Venus, caeli subter labentia signa quae mare navigerum, quae terras frugiferentis concelebras, per te quoniam genus omne animantum concipitur visitque exortum lumina solis: te, dea, te fugiunt venti, te nubila caeli adventumque tuum, tibi suavis daedala tellus summittit flores, tibi rident aequora ponti placatumque nitet diffuso lumine caelum. nam simul ac species patefactast verna diei et reserata viget genitabilis aura favoni, aeriae primum volucres te, diva, tuumque significant initium perculsae corda tua vi. inde ferae, pecudes persultant pabula laeta et rapidos tranant amnis: ita capta Lepore 172 Das behauptet Heidegger, der die Latinisierung der Philosophie als einen Prozess der Entfremdung stigmatisiert: »Man gebraucht die lateinische Übersetzung natura, was eigentlich ›geboren werden‹, ›Geburt‹ bedeutet. Mit dieser lateinischen Übersetzung wird aber schon der ursprüngliche Gehalt des griechischen Wortes φύσις abgedrängt, die eigentliche philosophische Nennkraft des Wortes zerstört. Das gilt nicht nur von der lateinischen Übersetzung dieses Wortes, sondern von allen anderen Übersetzungen der griechischen Philosophensprache ins Römische. Der Vorgang dieser Übersetzung des Griechischen ins Römische ist nichts Beliebiges und Harmloses, sondern der erste Abschnitt des Verlaufs der Abriegelung und Entfremdung des ursprünglichen Wesens der griechischen Philosophie.« Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik (Gesamtausgabe, Band 40), Frankfurt am Main: Klostermann, 1983, S. 15f. Über Heideggers problematisches Verhältnis zu den Römern: Erich Hörl, »Heidegger und die Römer«, in: Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, 30 (2006), S. 103–110. 173 »Natura is cognate with the verb nascor, ›to be born‹, and figures the personified universe as a mother […]. De rerum natura is normally rendered as On the Nature of Things, but it could also connote On the Birth of Things. The juxtaposition of the inanimate and the animate in the phrase rerum natura is a particulary striking one in an Epicurean context.« Kennedy, »Making a Text of the Universe«, S. 389. 174 Sedley, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, S. 21f.
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te sequitur cupide quo quamque inducere pergis. denique per maria ac montis fluviosque rapacis frondiferas domos avium camposque virentis omnibus incutiens blandum per pectora amorem efficis ut cupide generatim saecla propagent. quae quoniam rerum naturam sola gubernas, nec sine te quicquam dias in luminis oras exoritur neque fit laetum neque amabile quicquam, te sociam studeo scribendis versibus esse, quos ego de rerum natura pangere conor Memmiadae nostro […]. Mutter der Aeneaden, Lust der Menschen und Götter, fruchtbare Venus, die du unter den gleitenden Zeichen des Himmels das schifftragende Meer, die fruchtbringenden Länder belebst, weil durch dich das gesamte Geschlecht der Lebewesen empfangen wird und geboren das Licht der Sonne erblickt: Dich, Göttin, dich fliehen die Winde, dich und deine Ankunft die Wolken des Himmels, dir schickt Künstlerin Erde süße Blumen, dir lachen die Meeresflächen und strahlt der besänftigte Himmel von Licht übergossen. Sobald sich nämlich der frühlingshafte Anblick des Tages eröffnet und sich der Lufthauch des zeugungsfähigen Zephirs regt, zeigen die luftigen Vögel zuerst dich, Göttin, und deinen Eintritt an, erschüttert [im] Herzen von deiner Macht. Dann springen Wildtiere und Vieh auf der fruchtbaren Weide umher und durchschwimmen reißende Flüsse: So folgt jedes von deinem Liebreiz erfasst dir voller Begierde dorthin, wohin du es führst. Schließlich erregst du auf Meeren, in Gebirgen, auch reißenden Strömen, belaubten Behausungen der Vögel und in grünenden Fluren die verführerische Liebe in [allen] Herzen, bewirkst, dass sie ihre Geschlechter nach Arten fortpflanzen. Weil du die Natur der Dinge allein regierst und ohne dich nichts in die göttlichen Zonen des Lichts geboren wird und nichts Glückliches oder Liebenswertes entsteht, trachte ich danach, dass du meine Gefährtin wirst beim Schreiben der Verse, die ich über die Natur der Dinge verfassen will für unseren [Spross aus dem Geschlecht der] Memmier […].
Lukrez ruft Venus im ersten Vers als Schöpferin (genetrix) der Nachfahren des Aeneas an, d. h. als Mutter der Römer, und als Personifikation der voluptas der Menschen und Götter.175 Doch Venus verkörpert nicht nur eine römische Schutzgottheit und das höchste Prinzip der epikureischen Ethik, sondern zugleich die schöpferische Seite der Natur.176 Sie durchwaltet und belebt alle Be-
175 Voluptas muss zunächst im weitesten Sinn verstanden werden, der auch Epikurs Konzept der Glückseeligkeit (μακαριότης) umfasst: Vgl. B. Farrington, »The Meanings of Voluptas in Lucretius«, in: Hermathena, 80 (Nov. 1952), S. 26–31. 176 Die Rolle der Venus in Lukrez’ Proömium ist komplex. Einerseits ist sie die Mutter von Aeneas, dem mythologischen Stammvater der Römer. Andererseits wurde sie bereits von Parmenides, Empedokles und Euripides als philosophisch-allegorische Figur angerufen, als physisches Prinzip der schöpferischen Natur, das die Römer Venus physica nannten. Darüber hinaus legen Münzfunde nahe, dass Venus eine Schutzgöttin des Geschlechts der Memmier war. Vor diesem Hintergrund verknüpft Lukrez auf geschickte Weise mytholo-
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reiche der Welt: Himmel, Erde, Meere und Lüfte. Sie ist eine Lichtgestalt, die das Geschlecht aller Lebewesen empfängt und gebiert, so dass sie das Sonnenlicht (lumina solis) erblicken. Die Wolken und kalten Winde weichen vor ihr und lassen Himmel und Meer im ausgedehnten Licht (diffusum lumen) erstrahlen. Sie allein regiert die natura rerum. Ohne sie wird nichts in die göttlichen Zonen des Lichts (diae luminis orae) geboren, weshalb Lukrez sie sich beim Schreiben seiner Verse als Muse und Gefährtin (socia) wünscht. Venus und die schöpferische Mutter-Erde (daedala tellus) beleben die Materie, wie Lukrez in einer rhetorischen Frage betonen wird (1.227–229): »[…] unde animale genus generatim in luminae vitae | redducit Venus, aut redductum daedala tellus | unde alit atque auget generatim pabula praebens ([…] woraus führt Venus das belebte Geschlecht der Lebewesen artgerecht zum Licht des Lebens zurück oder woraus nährt die künstlerische Erde das zurückgeführte [Geschlecht] und vermehrt es, artgerecht Futter gewährend)?« Ähnlich wie die Republik (res publica) den Wirkbereich der politischen Öffentlichkeit bezeichnet, meint natura rerum den Wirkbereich der Venus-Natur und Mutter-Erde. Da der materielle Prozess des Gebärens ein Licht-Werden ist, das die Atome aus dem Unsichtbaren in die Welt der sichtbaren Phänomene führt, überschneidet er sich mit der Tätigkeit des inlustrare des Dichters. Venus soll die hellen Lichter (clara lumina) von Lukrez’ Versen wie alle Geschöpfe in die Zonen des Lichts (in luminis oras) gebären, womit die Lichtmetaphorik des Venus-Proömiums mit derjenigen seiner Poetik konvergiert. Darüber hinaus ist Venus eine Göttin des Frühlings, wie Lukrez später in seiner allegorischen Beschreibung der Prozession der Jahreszeiten wiederholen wird (5.737–740): »it Ver et Venus, et Veneris praenuntius ante | pennatus graditur, Zephyri vestigia propter | Flora quibus mater praespargens ante viai | cuncta coloribus egregiis et odoribus opplet […] (Es schreiten Frühling und Venus einher und Venus’ gefiederter Vorbote [Cupido] geht voran, nahe der Spuren des Zephirs streut ihnen Flora, die Mutter das Ganze des Wegs und füllt es mit außerordentlichen Düften und Farben [der Blumen] […]).« Venus ist eine Personifikation des Frühlings (Ver) und ihre Macht offenbart sich in poetischen Frühlings-Bildern (species verna):177 So zeigt sich die Göttin in den Blumen, welche die künstlerische Erde (daedala tellus) – bzw. die Blumengöttin Flora – aufblühen lässt, im zeugenden Hauch (genitabilis aura) des warmen Zephirs, im Aufruhr der Vögel, die ihre Ankunft bezeichnen, und im Sexualtrieb aller Tiere, wobei die Landtiere vor Begierde sogar reißende Flüsse überwinden, um sich zu gische und philosophische Aspekte mit der Genealogie seines Adressaten: Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 588–591. 177 Einige der berühmtesten Bilder Botticellis wurden übrigens von diesen Versen inspiriert: Valentina Prosperi, »Lucretius in the Italian Renaissance«, in: The Cambridge Companion to Lucretius, S. 214–226, insb. S. 220f.
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paaren und zu reproduzieren. Venus regiert das Frühlingserwachen aller Wesen durch ihre Liebe (amor) und ihren Liebreiz (lepos). Den psycho-physischenVorgang, durch den sie schließlich auch die Menschen mittels Bilder des Begehrens (simulacra) fesselt und ihren Liebeswahn entfacht, wird Lukrez ausführlich im vierten Buch schildern (4.1058–1120). Die voluptas der Venus meint nicht nur die ruhende Lust, die zum philosophischen Seelenfrieden (ἀταραξία) führt, sondern auch die bewegte und ungebändigte Lust des sinnlichen Begehrens.178 Sie ist eine unsichtbare Kraft (vis), die durch das Zeichen der Frühlingsbilder sichtbar wird, so wie das simulacrum et imago der Sonnenstäubchen die unsichtbare Bewegung der Atome zu bezeichnen (significare) vermag. Laut Varro leitet sich der Name Venus nicht von vincere, ›besiegen‹, sondern von vincire, ›verbinden‹, ab und ist mit den Nomina vis und vita verwandt (l. l. 5.61). Genauso ist Venus für Lukrez eine verbindende Macht, die neues Leben erschafft. Sie ist aber auch eine Siegerin, da sie den Kriegsgott Mars besiegt, wie Lukrez in der folgenden mythologischen Allegorie schildert (1.28–37): Mars verkörpert die zerstörerische Seite der Natur, den ewigen Krieg der Atome, so wie Venus die schöpferische, die Versöhnung der Atome durch concilia. Diese Allegorie entspricht der Konzeption des Empedokles, dass das Weltall abwechselnd von der personifizierten Liebe Aphrodite oder vom Hass regiert wird (z. B. DK 31 A 29).179 Indem Lukrez Venus mit Empedokles’ kosmischer Aphrodite und Mars mit dem kosmischen Streit gleichsetzt, knüpft er an den homerischen Mythos an, wonach beide Götter eine Affäre hatten.180 Der waffenstarke Mars wird schließlich mit den Waffen der Liebe geschlagen und von der ewigen Wunde der Liebe besiegt und lehnt sich in den Schoss der Venus zurück, weshalb sich Lukrez von Venus eine Befriedung der Bürgerkriege und ruhigen Frieden (tranquilla pax = ἀταραξία) erhofft (1.31f). Venus ist simultan Stammmutter der Römer, Personifikation der voluptas, Licht- und Mutterfigur, Muse, Frühlings- und Friedensgöttin. In all ihren Funktionen verkörpert sie eine aktive und kreative vis. Sie ist eine gebärende und schaffende (natura naturans), keine geborene und geschaffene Natur (natura naturata).181 Erst später im ersten Proömium, wenn Epikur, wie gezeigt, als
178 Diese These wurde erstmals von Bignone vertreten: Ettore Bignone, »Il proemio del libro I di Lucrezio e l’allegoria di Venere«, in: Ders., Storia della Letteratura Latina, Florenz: Sansoni, 1945, S. 427–443, insb. S. 429f. Auch wenn diese allegorische Deutung, wie Giancotti zeigt, im Detail umstritten ist, umfasst sie doch zwei wesentliche Funktionen der Venus-Figur: Francesco Giancotti, Il Preludio di Lucrezio, Messina: D’Anna, 1959, S. 192–201. 179 Vgl. Garani, Empedocles Redivivus, S. 34–43. 180 Vgl. Gale, Myth and Poetry in Lucretius, S. 41f. 181 Die Unterscheidung von natura naturans und natura naturata ist scholastisch, lässt sich aber retrospektiv auf Lukrez anwenden, um zwei wesentliche Aspekte seines Naturbegriffs zu unterstreichen: Klaus Sallmann, »Studien zum philosophischen Naturbegriff der Römer
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Krieger auftaucht, der die engen Riegel der Natur aufbricht (1.70f), verwandelt sie sich in einen passiven Gegenstandsbereich und zum Objekt der menschlichen Forschung. Die weibliche natura, die alles regiert und sogar den Kriegsgott besiegt, wird schließlich vom männlichen Geist des Graius homo besiegt.182 Damit bewegt sich Lukrez’ Naturbegriff innerhalb des ersten Proömiums von der natura naturans zur natura naturata. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie im Laufe seines Gedichts zu einem bloßen Objekt der Naturbeherrschung degeneriert. Die Bilder der mütterlichen Erde kehren, wie gesagt, beharrlich wieder, obwohl sie der epikureischen Lehre von der Unbelebtheit der Materie widersprechen. Im fünften Buch kontrastiert Lukrez die Bedürftigkeit der neugeborenen Menschen mit der Mütterlichkeit und Schöpferkraft der Natur (5.222–234): Tum porro puer, ut saevis proiectus ab undis navita, nudus humi iacet, infans, indigus omni vitali auxilio, cum primum in luminis oras nixibus ex alvo matris natura profudit, vagituque locum lugubri complet, ut aecumst cui tantum in vita restet transire malorum. at variae crescunt pecudes armenta feraeque, nec crepitacillis opus est, nec cuiquam adhibendast almae nutricis blanda atque infracta loquella, nec varias quaerunt vestes pro tempore caeli, denique non armis opus est, non moenibus altis, qui sua tutentur, quando omnibus omnia large tellus ipsa parit naturaque daedala rerum. Weiter liegt dann das Kind, wie ein Seemann von den wütenden Wellen [an Land] geschleudert, nackt am Boden, stumm, bedürftig jeder lebenspendenden Hilfe, sobald es die Natur in Wehen erstmals in die Zonen des Lichts aus dem Mutterleib hervorgestoßen hat und es den Raum mit seinem traurigen Wimmern erfüllt, wie es angemessen ist für es, dem im Leben noch bevorsteht, so viel Leid zu durchlaufen. Aber das unterschiedliche Kleinvieh und Herden wilder Tiere wachsen und bedürfen weder kleiner Klappern [Kinderspielzeug] noch brauchen sie das gestotterte süße Geschwätz der nährenden Amme und sie suchen nicht unterschiedliche Kleidung gemäß dem Wetter des Himmels; schließlich brauchen sie keine Waffen, keine hohen Mauern, die ihr [Eigentum] schützen, weil allen alles reichlich die Erde gebiert und die künstlerische Natur der Dinge.
mit besonderer Berücksichtigung des Lukrez«, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 7 (1962), S. 140–284, insb. S. 229f. 182 Über das eigenartige Spannungsverhältnis zwischen dem matriarchalen Venus-Proömium und dem patriarchalen Epikur-Triumph: Don Fowler, »The Feminin Principle: Gender in the De Rerum Natura«, in: Ders., Lucretius on Atomic Motion, S. 444–452.
Natura daedala rerum: Venus als Verkörperung der Natur (1.1–25)
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Die Geburt gleicht einem Schiffbruch: Die Menschen werden von der Natur in luminis oras geschleudert, d. h. in die Zonen oder an die Küsten des Lichts. Anders als im Venus-Proömium erscheint die Licht-Werdung der Geburt als Urkatastrophe und Unfall. Der Mensch ist nun ein Mängelwesen, das seine Nacktheit und Hilflosigkeit durch Ablenkung und Artefakte kompensieren muss. Dahingegen stellt die Erde den Tieren alles reichlich zur Verfügung. Die schöpferische Natur der Dinge, die natura daedala rerum, gebiert ihnen alles, was sie zum Überleben brauchen. Während die Natur den Tieren ihre mütterliche Seite zeigt, erfahren die Menschen ihre stiefmütterliche Seite.183 Deshalb bedürfen sie neben anderen Kultur- und Überlebenstechniken auch die naturae species ratioque. Im zweiten Proömium beschreibt Lukrez, wie der Weise den Schiffbruch der unerlösten Menschen betrachtet (2.1–14). Die epikureische Lehre möchte den desaströsen Schiffbruch der Geburt erträglich machen und den Menschen zurück in den Schoss der Natur führen, aus dem er so gewaltsam vertrieben wurde. Die Licht-Werdung der Kulturgeschichte – die Geschichte der reperta –, die Eroberung und das inlustrare der Natur ergänzen die Schöpferkraft der natura naturans. Das zeigt sich auch, wenn Lukrez von der natura daedala rerum spricht und auf die Natur ein episches Epitheton anwendet, das in seinem Vokabular eine ausgezeichnete Rolle spielt. Das seltene lateinische Adjektiv daedalus, ›dädalisch‹, leitet sich wie seine griechische Entsprechung (δαίδαλος) vom mythischen Künstler und Erfinder Dädalus ab. Bei Lukrez taucht es sechs Mal auf, was über die Hälfte seiner Verwendung in der lateinischen Literatur ausmacht. Während das griechische Epitheton δαίδαλος und die daraus zusammengesetzten Komposita (δαίδαλ-) v. a. eine passive Bedeutung haben und in der griechischen Literatur ›kunstvoll geformte‹ Waffen, Gegenstände oder Worte bezeichnen, meint daedalus in der Dichtung des Lukrez eine aktive Eigenschaft.184 So nennt Lukrez, wie wir gesehen haben, wiederholt die Erde daedala tellus und meint damit die ›künstlerische‹ und ›schöpferische‹ Fähigkeit der Erde, die eng mit der sexuellen Kraft der Venus-Natur verknüpft ist. Er vergleicht die Schöpferkraft der Erde mit derjenigen des Dädalus. An anderer Stelle spricht er von der daedala lingua, der ›schöpferischen Zunge‹ oder ›Sprache‹, womit er die Fähigkeit der Zunge meint, den Luftstrom zu formen und zu artikulieren (4.549f): »[…] mobilis articulat verborum daedala lingua, | formaturaque labrorum pro parte figurat ([…] die bewegliche wortgestaltende Zunge gliedert [die Stimmen] und 183 Dieser anthropologische Pessimimus galt in der Antike als Gemeinplatz und findet sich bereits bei Empedokles: Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 3, S. 1351. 184 Über den Gebrauch von δαίδαλος-daedalus: Beer, »Der Daedalus der Dichter«, insb. S. 257– 260. Allgemein über die Bedeutung des mythologischen Dädalus für die griechische Kunst und Dichtung: Vgl. Sarah P. Morris, Daidalos and the Origin of Greek Art, Princeton: Princeton University Press, 1992, insb. S. 36–59.
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zum Teil formt sie die Formung der Lippen).« Die Zunge ist ›gestalterisch‹, ›dädalisch‹, weil sie neue Worte hervorbringen kann, welche die materielle Welt bezeichnen. Somit koppelt Lukrez die Kreativität der Materie mit derjenigen der Sprache.185 Das Adjektiv daedalus taucht bei ihm aber auch in passiver Bedeutung auf, wenn Lukrez die daedala carmina, die ›kunstvollen Gesänge‹ erwähnt, die Phöbus (Apollon) auf seiner Laute spielt (2.505f), oder die daedala signa, die ›kunstvollen Zeichen‹, ›Bildwerke‹, worunter er geschickt geformte Skulpturen versteht, die einen Höhepunkt der menschlichen Kulturgeschichte markieren (5.1453). Das exquisite Wort daedalus ist für ihn nicht nur ein schmückendes Epitheton, sondern eine verbale Klammer, die den philosophischen Zusammenhang zwischen Natur- und Kulturgeschichte verdeutlicht. Es verbindet die Schöpferkraft der Natur mit den daedala carmina seiner eigenen Dichtung. Das De rerum natura wird aufgrund seiner Personifikation der Natur und Erde und seinem aktivischen Vokabular der Atome selbst gleichsam zu einem De rerum daedala natura.
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Lepos: Aphrodisiakum der Worte (1.931–950)
Anders als der stoische Zeus regiert Venus die Welt nicht aufgrund ihrer Vernunft (λόγος), sondern durch ihre sinnliche Lust (voluptas).186 Sie verführt alle Wesen aufgrund ihres lepos, ihrem ›Liebreiz‹, ›Charme‹ bzw. ihrer ›Attraktivität‹ (1.14f): »[…] ita capta lepore | te sequitur cupide quo quamque inducere pergis ([…] So folgt jedes, von deinem lepos erfasst, dir voller Begierde dorthin, wohin du es führst).« Lepos stammt vom Adjektiv lepidus, ›fein‹, ›angenehm‹, ›unterhaltsam‹, das möglicherweise wiederum mit dem griechischen Adjektiv λεπτός, ›fein‹, ›klein‹, ›delikat‹, verwandt ist.187 Der lepos ist bei Lukrez zunächst ein ästhetischer Anreiz, durch den Venus alle Arten zur Paarung bewegt. Darüber hinaus ist er aber eine Eigenschaft, die der Dichter auf sein eigenes Werk überträgt. Er fleht Venus an (1.28): »[…] aeternum da dictis, diva, leporem ([…] gib meinen Worten, Göttin, ewigen lepos).« 185 Vgl. Brooke Holmes, »Daedala Lingua: Crafted Speech in De Rerum Natura«, in: The American Journal of Philology, 126, Nr. 4 (2005), S. 527–584, insb. S. 561f. 186 Dieser erhellende Vergleich zwischen Kleanthes’ Zeus-Hymnus und Lukrez’ Venus-Proömium findet sich in: Elizabeth Asmis, »Lucretius’ Venus and Stoic Zeus«, in: Oxford Readings in Classical Studies. Lucretius, S. 88–103, hier S. 97f. Siehe auch: Gordon Campbell, »Lucretius, Empedocles and Cleanthes«, in: Philosophizing Muse: The Influence of Greek Philosophy on Roman Poetry, hg. v. Myrto Garani u. David Konstan, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Press, 2014, S. 26–60, insb. S. 44f. 187 Vgl. »Lepo¯s«, in: De Vaan (Hg.), Etymological Dictionary of Latin online unter: https://dic tionaries-brillonline-com.uaccess.univie.ac.at/search#dictionary=latin&id=la0891 (Zugriff 02/05/2022).
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Lepos gilt in der römischen Rhetorik und Dichtung als wirkungsästhetische Kategorie: Laut Rhetorica ad Herennium soll der Redeschmuck (exornatio) Anmut und Festlichkeit der Rede (lepos et festivitas) steigern, ohne ihre Würde und Schönheit zu gefährden (4.32). Ähnlich spricht Cicero häufig von der Anmut (lepos) oder Annehmlichkeit (suavitas) einer Rede (z. B. Brut. 177). Wie für den alexandrinischen Dichter Kallimachos und dessen Nachfolger die ›Feinheit‹ und ›Delikatheit‹ (λεπτότης) eines Texts entscheidend war, bezeichnet der lepos in der lateinischen Dichtung – insbesondere bei den Neoterikern – literarische ›Subtilität ‹.188 Überdies meint lepos allgemein eine ›Verfeinerung‹ und ›Kultiviertheit‹ des Geistes.189 Wenn Lukrez von seiner göttlichen Muse einen aeternus lepos fordert, wünscht er unsterbliche rhetorische Wirksamkeit, Geschliffenheit, Gewitztheit seiner Verse. Dadurch rückt er in gewisse Nähe zu alexandrinischen und neoterischen Dichtern. Doch indem er den lepos seiner Verse mit Venus’ ›Sexappeal‹ gleichsetzt, durch den sie alle Lebewesen zur Fortpflanzung anregt, verbindet er gleichzeitig seine poetische mit der sexuellen Zeugungskraft der Natur. Seine Dichtung bekommt den Beigeschmack eines Aphrodisiakums.190 Diese doppelte Funktion des lepos als sexueller Anreiz und rhetorisch-poetischer Effekt findet sich auch bei Catull. Der neoterische Dichter, ein Zeitgenosse des Lukrez, reflektiert in einem seiner Gedichte die Wirkung seiner eigenen Verse (carm. 16.5–11): Nam castum esse decet pium poetam ipsum, versiculos nihil necesse est; qui tum denique habent salem ac leporem, si sunt molliculi ac parum pudici et quod pruriat incitare possunt, non dico pueris, sed his pilosis, qui duros nequeunt movere lumbos. Denn züchtig zu sein ziemt sich dem gewissenvollen Dichter selbst, bei seinen Verslein ist dies jedoch nicht nötig, die dann erst Witz [Salz] und lepos haben, wenn sie weich und nicht sonderlich keusch sind und das, was lüstern ist, zu erregen vermögen – ich spreche nicht von Buben, sondern von diesen behaarten [alten Männern], die ihre starren Lenden nicht mehr bewegen können.
188 Über die Verwandtschaft von λεπτός und lepos in der hellenistischen Dichtung: Brown, »Lucretius and Callimachus«, S. 336 (Fn. 31). 189 So berichtet beispielsweise Sallust über die römische Intellektuelle Sempronia (Cat. 25): »[…] posse versus facere, iocum movere, sermone uti vel modesto vel molli vel procaci; prorsus multae facetiae multusleque lepos inerat ([…] [sie] konnte Verse machen, Witze reißen, sich der Rede bedienen, sei es auf gediegene, sanfte oder freche Weise; kurz gesagt, sie hatte viel Witz und lepos).« 190 Hierzu: Reinhold Glei, »Erkenntnis als Aphrodisiakum. Poetische und philosophische voluptas bei Lukrez«, in: Antike und Abendland, 38, Nr. 1 (1992), S. 82–94, insb. S. 92f.
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In Catulls erotischer Dichtung spielt die Poetik des lepos wie bei Lukrez eine entscheidende Rolle. Doch während Catull im zitierten Gedicht seine Dichtung als frivoles Spiel darstellt, das primär dem Vergnügen dient, präsentiert sich Lukrez als Arzt, der seinem Leser mithilfe eines Tricks eine bittere Medizin einflößt, um seiner Gesundheit zu dienen.191 In seiner Dichterweihe, die als Doublette überliefert ist und die mit leichten Variationen im ersten Buch als Zwischenproömium und im vierten als Proömium (4.6–25) dient,192 erklärt er seinen Anspruch, warum er von den Musen gekrönt werden soll (1.931–950): […] primum quod magnis doceo de rebus et artis religionum animos nodis exsolvere pergo, deinde quod obscura de re tam lucida pango carmina, musaeo contingens cuncta lepore. id quoque enim non ab nulla ratione videtur; sed veluti pueris apsinthia taetra medentes cum dare conantur, prius oras pocula circum contingunt mellis dulci flavoque liquore, ut puerorum aetas inprovida ludificetur labrorum tenus, interea perpotet amarum apsinthi laticem deceptaque non capiatur, sed potius tali pacto recreata valescat, sic ego nunc, quoniam haec ratio plerumque videtur tristior esse quibus non tractata, retorque volgus abhorret ab hac, volui tibi suaviloquenti carmine Pierio rationem exponere nostrum et quasi musaeo dulci contingere melle, si tibi forte animum tali ratione tenere versibus in nostris possem, dum percipis omnem naturam rerum, qua constet compta figura. […] erstens weil ich über große Dinge unterrichte und fortfahre, die Seelen aus den engen Knoten der Götterfurcht zu lösen, dann weil ich von so dunklen Dingen so lichte Gesänge forme, mit musischem lepos alles berührend. Ich mache das nämlich nicht ohne Grund, doch so wie die Ärzte, wenn sie den Kindern bitteren Wermut zu verabreichen suchen, zunächst die Ränder des Bechers mit süßem und goldenem Honig bestreichen, damit das naive Kindesalter und die Lippen genarrt werden, während sie
191 Vgl. Vinzenz Buchheit, »Sal et Lepos Versiculorum (Catull C. 16)«, in: Hermes, 104, Bd. 3 (1976), S. 331–347, insb. S. 340f. 192 Es ist umstritten, ob diese Wiederholung intendiert ist oder ob sie auf den unabgeschlossenen Zustand von De rerum natura zurückzuführen ist. Bailey hält es etwa für möglich, dass die Passage an beiden Stellen am rechten Ort ist: Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 757f. Dahingegen argumentiert Deufert, dass die Stelle nur im ersten Buch passt und dass das vierte Buch ursprünglich überhaupt kein Proömium aufwies, obwohl bereits Quintilian sie in der Variante des vierten Proömiums zitierte: Deufert, Pseudo-Lukrezisches im Lukrez, insb. S. 94–96.
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die bittere Flüssigkeit des Wermuts austrinken und überlistet – aber nicht [völlig] getäuscht – werden, weil sie so wieder erholt gesund werden, so will auch ich, da diese Lehre oft denjenigen, die sie nicht kennen, bitter scheint und das gemeine Volk vor ihr zurückschreckt, dir unsere Lehre im lieblich-beredtem Gesang der Pieriden [Musen] darstellen, indem ich sie gleichsam mit süßem musischen Honig berühre, damit ich deinen Geist vielleicht auf solche Weise bei unseren Versen halten kann, während du die ganze Natur der Dinge erfasst, in welcher Gestalt sie besteht.
Lukrez nennt zwei Gründe für seinen künftigen Ruhm: Erstens lehrt er über große und bedeutende Dinge und befreit die menschliche Seele von der religio. Zweitens formt er über ein dunkles Thema, res obscura, so leuchtende Verse, lucida carmina, indem er alles – d. h. alle Verse, aber auch alle Dinge/Themen – mit musischem lepos berührt. Zunächst hebt er den philosophischen Inhalt und seine ethische Wirkung, dann die poetische Form und seine ästhetische Wirkung hervor. Dabei ordnet er die Ästhetik der Ethik unter und erklärt das mit folgendem Grund (ratio): Der lepos und die rhetorische suavitas seiner Verse (suaviloquens carmen) sind bloß der Honigrand, an dem die Aufmerksamkeit des Lesers kleben bleiben soll. Die Poesie ist ein Süßmittel, ein verbales Spiel, das den Leser wie ein Kind überlisten (ludificare/decipere) soll, einen Becher Wermut zu trinken.193 Dahingegen ist die epikureische ratio der Wermut, eine bittere Medizin, welche die Seele reinigt und sie fähig zur wahren voluptas macht.194 Durch ihre Einnahme erkennt der Leser die wahre natura rerum und versteht zugleich ihren Nutzen (utilitas) (siehe Variante 4.25). Lukrez vollzieht die Unterscheidung von Inhalt und Form innerhalb eines poetischen Gleichnisses, das wiederum selbst zum lepos seiner Dichtung beiträgt. Damit gehört das berühmte Honig-Becher-Gleichnis selbst zum Honigrand seiner Dichtung. Es hebt dadurch die Dichotomie von Philosophie und Dichtung gewissermaßen auf, die es so säuberlich ziehen will.195 Lepos und ratio sind tiefgreifender miteinander verbunden, als es die Oberfläche des Honig-Becher-Gleichnisses darstellt. Beide dienen der voluptas, wobei der lepos eine sinnlich-bewegte und die ratio eine geistig-ruhende Lust bewirkt. Diese Unterscheidung entspricht einem Testimonium Epikurs (Diogenes Laer193 Hierzu die Bemerkung von Waszink: »Let us not underestimate the importance of the words ludeficetur and decepta […]: the children are deceived by the physicians in order to restore their health, and in the same way the readers are attracted because of the ratio, the ›system of truth‹, it offered them in the form of poetry, which is ψεῦδος – they are in short, ›deceived into truth‹.« Jan Hendrik Waszink, »Lucretius and Poetry«, in: Mededelingen der koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, 17, Nr. 8 (1954), S. 243–257, hier S. 252. 194 Der Zusammenhang zwischen dem Honig-Becher-Gleichnis und dem Hedonismus des Venus-Proömiums wurde oft unterstrichen. Eine überzeugende Darstellung findet sich z. B. in: Schrijvers, Horror ac divina voluptas, S. 34–38. 195 Hierzu mein Buch: Rationis imago. Descartes’ Dichten, Träumen, Denken, Paderborn: Fink, 2018, S. 45–48.
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tius vit. 136): »ἡ μὲν γὰρ ἀταραξία καὶ [ἡ] ἀπονία καταστηματικαί ει᾿σιν ἡδοναί, ἡ δὲ χαρὰ καὶ ἡ εὐφροσύνη κατὰ κίνησιν ἐνεργείᾳ βλέπονται (Die Unerschütterlichkeit und die Schmerzfreiheit sind stabile Lüste, wohingegen die [sinnliche] Lust und Freude als [Lüste] in Bewegung und Aktion gesehen werden).« Und Cicero legt einem epikureischen Dialogpartner in den Mund (fin. 1.37): »Non enim hanc solam sequimur, quae suavitate aliqua naturam ipsam movet et cum iucunditate quadam percipitur sensibus, sed maximam voluptaten illam habemus, quae percipitur omni dolore detracto (Denn wir folgen nicht allein derjenigen [Lust], die durch irgendeine Süße [unsere] Natur bewegt und von den Sinnen mit einer gewissen Freude empfunden wird, sondern für uns gilt als höchste Lust jene, die erfasst wird, sobald jeder Schmerz verschwunden ist).« Der Hedonismus der Epikureer unterscheidet zwischen kinetischen (bewegten) und katastematischen (statischen) Lüsten, die Cicero auch als stillstehende Lust (voluptas stans) und bewegende Lust (voluptas movens) bezeichnen wird (fin. 2.31). Das höchste Ziel ist gemäß ihrer Ethik die ἀταραξία, die als katastematische Lust negativ durch die Abwesenheit von Schmerz und Sorgen definiert wird.196 Das schließt jedoch nicht aus, dass der Weise zugleich die kinetischen Lüste, die sinnliche Annehmlichkeit (suavitas) und Freude (iucunditas) bewirken, kultiviert – zumindest solange sie die Ruhe nicht gefährden. Epikur schreibt (rat. 8): »Οὐδεμία ἡδονὴ καθ’ ἑαυτὴν κακόν, ἀλλὰ τὰ τινῶν ἡδονῶν ποιητικὰ πολλαπλασίους ἐπεφέρει τὰς ὀχλήσεις τῶν ἡδονῶν (Keine Lust ist für sich selbst ein Übel, aber das, was bestimmte Lüste verschafft, bringt Störungen hervor, viel stärker als die Lüste).« Lukrez reizt diese implizite Konzession an die kinetischen Lüste in seiner Poetik aus:197 Der sinnliche lepos und die suavitas seiner Dichtung werden zwar der höchsten Lust der ἀταραξία untergeordnet, tragen aber nichtsdestotrotz zur voluptas des Lesers bei. Genauso bewirkt der lepos der Venus nicht nur die sinnlich-sexuelle Bewegung aller Tiere, sondern auch die Ruhe und den Frieden der Römer. Aus einer ethischen und wirkungsästhetischen Perspektive unterscheidet das HonigbecherGleichnis weniger zwischen Inhalt und Form als zwischen zwei unterschiedlichen Lustwirkungen, die in Lukrez’ Dichtung kooperieren. De rerum natura reflektiert somit auf unterschiedlichen Ebenen eine antike ›Lust am Text‹ – um einen postmodernen Terminus zu verwenden.198 Auch wenn 196 Vgl. Klaus-Dieter Zacher, »Zur Lustlehre Epikurs«, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, 11 (1985), S. 63–72, insb. S. 64f. 197 So bemerkt auch Asmis, dass Lukrez’ eigene voluptas, die er angesichts der Offenbarungen Epikurs empfindet, als kinetische Lust einzustufen ist: Vgl. Elizabeth Asmis, »Lucretian Pleasure«, in: Columbia Studies in the Classical Tradition, 44 (2018), S. 139–155, hier S. 151f. 198 Barthes unterscheidet zwei Arten der Lust am Text, eine behagliche Lust (plaisir) und eine exzessive Wollust ( jouissance). Dies ähnelt auf entfernte Weise der epikureischen Unterscheidung zwischen einer ruhenden und bewegten Lust: Roland Barthes, Le Plaisir du Texte, Paris: Seul, 1973, S. 19ff.
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Lukrez im dritten Buch von den Entdeckern von Lehrgebäuden und poetischen Schönheiten (repertores doctrinarum atque leporum) spricht und unter diesen Homer, die Gefährten des Helikons (Heliconadum comites = Künstler), Demokrit und Epikur versteht (3.1036–1041), dann zeigt sich die enge Verknüpfung von doctrina und lepos. Er selbst würde sich zweifellos zu den repertores doctrinarum atque leporum zählen. Dabei ist der lepos für ihn eine Eigenschaft, die mit dem Licht zusammenhängt. So beschreibt er das Gefieder von Pfauen, deren goldenes Gefieder von lepos übergossen ist (2.503f), ein Theater, das von bunten Stoffbahnen bedeckt wird, durch die das Sonnenlicht fällt und das ganze Gebäude mit dem lepos der Farbe tränkt (4.57–83), oder, wie die Menschen bei ihrer Entdeckung der Edelmetalle zunächst vom lepos ihres Glanzes gefesselt wurden (5.1257f). Weil der lepos mit der Farbenpracht, den hellen Strahlen und der LichtGöttin Venus assoziiert ist, kann er im Kontext seiner Dichterweihe behaupten, dass er eine res obscura in lucida carmina verwandelt, indem er alles mit dem lepos seiner Dichtung berührt. Hier zeigt sich wieder, warum sein inlustrare der obscura reperta der Griechen nicht von seiner poetischen Form zu trennen ist. Erst der lepos des hellen Lichts seiner Verse erhellt die natura rerum und verführt den Leser sowohl zur süßen Lust der epikureischen Seelenruhe als auch zur philosophischen Freundschaft.199
199 Vgl. M. J. Edwards, »Aeternus Lepos: Venus, Lucretius and the Fear of Death«, in: Greece & Rome, 40, Nr. 1 (April. 1993), S. 68–78, hier. S. 75.
»Fliehet sie zum düstern Orcus, zu den schauerlichen Sümpfen, Oder muss sie rastlos wandern, stetig tauschend ihren Wohnsitz, wie es Ennius verkündet, dem mit immergrünem Lorbeer Die erhabne Stirne geziert ward als dem Stolze unsres Landes. Denn er sang, dem Schwan vergleichbar, dem umweht vom Todesfittich Goldne Töne aus der Kehle herzzerschmelzend nochmals strömen Sang von einem düstern Lande, wo die Seelen nimmer weilen Noch die Körper, sondern ihre grausig treuen Ebenbilder.« Hugo von Hofmannsthal (Lukrez-Nachdichtung des Gymnasiasten)
II.
Deferre
1.
Ennius perennis: Poetisches Vor- und philosophisches Feindbild (1.102–134)
Im Anschluss an den besprochenen Triumph Epikurs attackiert Lukrez im ersten Proömium den Terror der religio. Der Leser soll nicht fürchten, dass er pietätlosen Lehren folgt, wenn er gleich Epikur die religio mit Füßen tritt (1.80–83). Ganz im Gegenteil, die Götterfurcht steht im Widerspruch zur römischen Moralempfindung (pietas),200 wie Lukrez anhand seines tragischen Exkurses über die Opferung der Iphigenie illustriert (1.84–101): Iphigenie, die Tochter des Agamemnon, wurde wie ein Opfertier am Altar der Artemis geschlachtet, um die Rache der Göttin zu besänftigen, welche die Flotte der Griechen an ihrer Fahrt nach Troja hinderte. Erst nach diesem Opfer konnte das griechische Heer nach Troja weitersegeln, um dort ein weiteres Blutbad anzurichten. Deshalb wurde Iphigenie von Agamemnon unter dem Vorwand einer vorgetäuschten Hochzeit mit Achilles nach Aulis gelockt, wo sie statt des versprochenen Bräutigams den Tod fand. Anders als in harmloseren Varianten des dramatischen Stoffes wird Iphigenie bei Lukrez nicht im letzten Moment von Artemis durch eine Hirschkuh ersetzt und entrückt, sondern auf Befehl ihres eigenen Vaters ermordet.201 Die Moral der Geschichte kulminiert in dem berühmten Vers, den moderne Aufklärer liebten (1.101): »tantum religio potuit suadere malorum (Zu so vielen Verbrechen konnte die Götterfurcht raten).«202 Das wahre Gesicht der religio offenbart sich in einem brutalen Menschenopfer. 200 Zu Lukrez’ subversiven Umgang mit der römischen pietas: Kirk Summers, »Lucretius and the Epicurean Tradition of Piety«, in: Classical Philology, 90, Nr. 1 (Jän. 1995), S. 32–57, insb. S. 37f. 201 Vgl. Alessandro Perutelli, »Ifigenia in Lucrezio«, in: Studi classici e orientali, 46 (1996), S. 193–207, S. 195f. 202 Voltaire zitierte den Vers in einem Brief an Friedrich den Großen: Vgl. Reid Barbour, »Moral and Political Philosophy: Readings of Lucretius from Virgil to Voltaire«, in: The Cambridge Companion to Lucretius, S. 149–166, hier S. 164.
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Nach dem Iphigenie-Exkurs wendet sich Lukrez erneut an den Leser, um ihn vor der Propaganda der religio und ihren unheilbringenden Fürsprechern, den Propheten-Priestern (vates), zu warnen. Dabei kritisiert er vornehmlich eine falsche Auffassung der Natur der Seele (natura animai), die uns den Worten der vates schutzlos ausliefert. In diesem Kontext kommt er ausdrücklich auf den römischen Dichter Quintus Ennius zu sprechen, den er einerseits als literarischen Pionier rühmt, um ihn andererseits in gefährliche Nähe zu den vates zu rücken. Lukrez’ Auseinandersetzung mit Ennius steht im Zentrum der Passage, die eine Brücke zwischen dem Iphigenie-Exkurs und der im ersten Kapitel analysierten poetologischen Digression schlägt (1.102–134):203 Tutemet a nobis iam quovis tempore vatum terriloquis victus dictis desciscere quaeres. quippe etenim quam multa tibi iam fingere possunt somnia, quae vitae rationem evertere possint fortunasque tuas omnis turbare timore! et merito: nam si certam finem esse viderent aerumnarum homines, aliqua ratione valerent religionibus atque minis obsistere vatum; nunc ratio nulla est restandi, nulla facultas, aeternas quoniam poenas in morte timendum. ignorantur enim quae sit natura animai, nata sit an contra nascentibus insinuetur, et simul intereat nobiscum morte dirempta, an tenbras Orci visat vastasque lacunas, an pecudes alias divinitus insinuet se, Ennius ut noster cecinit, qui primus amoeno detulit ex Helicone perenni fronde coronam, per gentis Italas hominum quae clara clueret; etsi praeterea tamen esse Acherusia templa Ennius aeternis exponit versibus edens, quo neque permaneant animae neque corpora nostra, sed quaedam simulacra modis pallentia miris; unde sibi exortam semper florentis Homeri commemorat speciem lacrimas effundere salsas coepisse et rerum naturam expandere dictis. quapropter bene cum superis de rebus habenda nobis est ratio, solis lunaeque meatus qua fiant ratione, et qua vi quaeque gerantur 203 Wenn wir den größeren Komplex des ersten Proömiums als eine Ringkomposition verstehen, dann stehen der Iphigenie-Exkurs und die Ennius-Passage im Zentrum des gesamten Proömiums: Harrison, »Ennius and the Prologue of Lucretius DRN 1«, S. 6f. Die Entdeckung der Ringkomposition des ersten Proömiums geht auf Jacoby zurück: F. Jacoby, »Das Proömium des Lucretius«, in: Hermes, 56 (1921), S. 1–61.
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in terris, tum cum primis ratione sagaci unde anima atque animi constet natura videndum et quae res nobis vigiliantibus obvia mentes terrificet morbo adfectis somnoque sepultis, cernere uti videamur eos audireque coram, morte obita quorum tellus amplecitur ossa. Schon wirst du selbst in irgendeinem Augenblick, besiegt von den schreckenkündenden Worten der Propheten, versuchen, dich von uns loszusagen. Freilich wie vieles können in der Tat dir Träume vorgaukeln, was die Grundprinzipien des Lebens zu verkehren und all deine glücklichen Geschicke durch Angst zu verwirren vermöchte. Und zu Recht! Würden die Menschen nämlich sehen, dass es ein sicheres Ende ihrer Mühen gibt, wären sie durch irgendeinen Grund ermächtigt, sich den religiösen Skrupeln und Drohungen der vates zu widersetzen. Nun gibt es aber keinen Grund zum Widerstand, keine Macht, da man im Tod ewige Strafen fürchten muss. Denn man weiß ja nicht, was die Natur der Seele ist, ob sie geboren ist oder im Gegenteil in Geborene eindringt und ob sie zugleich mit uns zugrunde geht, hinweggerafft durch den Tod, oder ob sie die Schatten des Orkus sieht und die weiten Abgründe oder auf göttliche Weise in andere Tiere eindringt, wie unser Ennius sang, der als Erster vom anmutigen Helikon den Kranz von ewigem Laub für die italischen Stämme der Menschen herabbrachte, der [unter diesen] berühmt sein sollte; obwohl doch außerdem, dass es die Tempel des Acheron [die Unterwelt] gebe, Ennius darstellte, es in ewigen Versen verkündend, wo weder unsere Seelen noch Körper verweilten, sondern bloß gewisse Ähnlichkeitsbilder, die auf seltsame Weise blass seien; von dort, so erinnert er [außerdem], sei ihm das Bild des immer-blühenden Homer aufgestiegen, habe begonnen, salzige Tränen zu verströmen und die Natur der Dinge in Worten auszubreiten. Daher müssen wir nicht nur gut über die oberen Dinge [Himmelsphänomene] nachdenken, über der Sonne und des Mondes Gang, aus welchem Grund sie stattfinden und durch welche Macht alles auf der Erde geschieht, sondern müssen auch insbesondere mit scharfem Denken sehen, woraus die Seele und die Natur des Geistes besteht und welche Sache uns, während wir wachen, begegnend die Gemüter aufschreckt, wenn wir von einer Krankheit befallen wurden oder im Schlaf begraben sind, so dass wir diejenigen von Angesicht zu sehen und hören glauben, deren Gebeine nach der Begegnung des Todes die Erde umfängt.
Lukrez rückt Ennius in ein düsteres Licht: Der Leser droht dem Zustand der religio anheimzufallen und die wahre Lehre zu desertieren (desciscere),204 da er von den schreckenkündenden Worten der vates besiegt wird. Die Visionen der vates sind für Lukrez gefährliche Fiktionen und Träume (fingere … somnia), welche die wahre vitae ratio pervertieren (evertere) und unsere Seelenruhe stören. Solange die Menschen die Natur der Seele, die natura animai, nicht kennen, haben sie keinen Grund (ratio), sich gegen diese zu wehren. Weil sie nicht wissen, 204 Desciscere kann ›desertieren‹ im militärischen Sinn bedeuten: Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 617. Dies passt zur Metaphorik der vorangegangenen Schilderung von Epikurs Triumph, die das epikureische Projekt als militärisches Unternehmen charakterisiert.
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dass der Tod ein absolutes Ende ist, fürchten sie sich vor ewigen Strafen und Qualen im Jenseits und begreifen nicht, dass unsere Seele geboren und sterblich ist. Stattdessen stellen sie sich vor, dass diese nach dem Tod die Schatten der Unterwelt (tenbrae Orci) aufsucht oder dass sie sich im Sinne der Seelenwanderung auf göttliche Weise in Tierkörper einschleicht (divinitus insinuare), eine falsche Vorstellung, der wir in De rerum natura noch öfter begegnen. Ennius wird bei Lukrez als Exponent solcher Irrlehren eingeführt. Er glaubt nicht bloß an die Seelenwanderung, sondern auch an die Existenz jenseitiger Räume der Unterwelt (Acherusia templa), in denen zwar nicht unsere Seelen und Körper, doch gewisse blasse Schattenbilder (simulacra) von uns weilen. Aus diesen Acherusia templa, so behauptete angeblich Ennius, sei dem Dichter auch das Bild Homers (species = simulacrum) aufgestiegen (exoriri) und habe ihm die natura rerum verkündet.205 Das muss jedoch, wie Lukrez gegen Ende des Zitats betont, ein wirres Traumbild oder eine Halluzination sein, wie sie normalerweise nur Kranken und Schlafenden begegnet, die in ihrem Wahn vermeinen, die Toten zu sehen und zu hören. Darum dürfen wir uns nicht wie Ennius von schattenhaften simulacra täuschen lassen, sondern müssen mithilfe von Lukrez’ De rerum natura die natürlichen Vorgänge auf der Erde und im Himmel (Buch 5–6), das Wesen von Seele (anima) und Geist (animus) (Buch 3) und die Ursachen unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen (Buch 4) mit scharfer Vernunft (ratio sagax) – eine erste Anspielung auf den erwähnten Spürsinn (sagacitas) der Spurenlese – erforschen. Dieser Ausblick auf die späteren Bücher, mit dem Lukrez seine EnniusPassage beschließt, bildet ein symmetrisches Pendant zum Ausblick auf Wesen und Dynamik der Atome (Buch 1–2), der direkt auf den Venus-Hymnus folgt (1.50–61), und wird ethisch motiviert: Erst wenn wir die wahre natura rerum durchschauen, sind wir vor den verhängnisvollen Träumen und Halluzinationen der vates und den unheimlichen Besuchen der simulacra aus dem Jenseits gefeit, die Ennius oder andere Dichter-Träumer heimsuchten.206 Obwohl Ennius in der zitierten Passage zunächst als Vertreter einer falschen Vorstellung der natura animai eingeführt wird, wird seine Dichtung überschwänglich gerühmt. Dass Ennius mit einem Nebensatz (ut) und gleichsam durch die Hintertür das De rerum natura betritt, sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Auftritt für Lukrez eine poetologische Schlüsselrolle 205 Homer wurde in hellenistischer Zeit nicht nur als Dichter, sondern als Universalgenie vergöttert: Vgl. C. O. Brink, »Ennius and the Hellenistic Worship of Homer«, in: The American Journal of Philology, 93, Nr. 4 (1972), S. 547–567. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Lukrez bzw. Ennius behaupten, dass Homer die gesamte natura rerum darstellen wollte. 206 Vgl. Charles Segal, »Dreams and Poets in Lucretius«, in: Illinois Classical Studies, 15, Nr. 2 (Okt. 1990), S. 251–262, hier S. 253f.
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spielt: Er ist der einzige römische Autor, den Lukrez in seinem ganzen Gedicht überhaupt erwähnt, und zählt neben Homer und Empedokles zu den einzigen Dichtern, die er namentlich nennt. Ennius, der circa eineinhalb Jahrhunderte vor Lukrez lebte, war zweifellos einer der einflussreichsten römischen Dichter. In republikanischer Zeit gehörte er zur Schullektüre und noch in augusteischer Zeit galt er vielen als Gründervater der lateinischen Literatur.207 Heute sind seine Werke – zahlreiche Tragödien und Komödien nach griechischem Vorbild, aber auch philosophische und satirische Gedichte, Epigramme und historische Epen – nur äußerst fragmentarisch überliefert. Das gilt auch für sein monumentales Hauptwerk, das historische Epos der Annales (Jahresbücher), auf das sich Lukrez hier bezieht. Dieses Werk, von dem nur einige hundert Verse überlebten, stellte die römische Geschichte in schätzungsweise rund 30.000 Versen208 von ihren mythischen Anfängen bis in die historische Gegenwart dar.209 Wie sein Vorgänger Gnaeus Naevius, der etwas früher schrieb, verband Ennius in seinem opus magnum den heroischen Mythos der homerischen Epik mit der zeitgeschichtlichen römischen Politik durch die narrative Fluchtlinie des Aeneas, der aus dem brennenden Troja nach Italien flüchtet.210 Auch Lukrez spielt auf diese Geschichte an, wenn er Venus, wie gezeigt, im ersten Vers als Mutter der Nachfahren des Aeneas (Aeneadum genetrix) anruft. Für ihn gelten die Annales, die später von Vergils Aeneis verdrängt wurden, als das römische Epos schlechthin und die Sprache des Ennius dient ihm als stilistisches Vorbild.211 So übernimmt er das Versmaß des Hexameters, das Ennius als erster in die lateinische Dichtung einführte, und orientiert sich allgemein an dessen epischer Sprache. Lukrez’ archaische Wortwahl, seine Vorliebe für ungewöhnliche Komposita, Wortspiele
207 Er wird von Horaz und Properz als pater bezeichnet. Auch Vergil will sich von dieser übermächtigen Vater-Figur emanzipieren: Sergio Casali, »Killing the Father: Ennius, Naevius and Vergil’s Julian Imperialism«, in: Ennius perennis. The Annals and Beyond, hg. v. William Fitzgerald u. Emily Gowers, Cambridge: Cambridge University Press, 2007, S. 103– 128. 208 Suerbaum schätzt den Umfang der Annales unter Bezugnahme auf Vahlen auf circa 27.000– 32.400 Verse, was etwa der Länge der Ilias und Odyssee zusammen entspricht: Werner Suerbaum, Untersuchungen zur Selbstdarstellung älterer römischer Dichter. Livius Andronicus, Naevius, Ennius, Hildesheim: Olms, 1968, S. 320f. 209 Eine übersichtliche Darstellung des Aufbaus der Annales in: Gian Biagio Conte, Latin Literature. A History, übs. v. Joseph B. Soldow, Baltimore u. London: Johns Hopkins University Press, 1999, S. 78–80. 210 Ennius blendet die Irrfahrten des Aeneas, die bereits von Naevius geschildert wurden, wahrscheinlich in seiner Darstellung aus: Vgl. Skutsch, Otto, The Annals of Ennius, hg. u. komm. v. dems., Oxford: Clarendon Press, 1985, S. 142. 211 Vgl. Olof Gigon, »Lukrez und Ennius«, in: Lucrèce. Huit exposés suivis de discussions, Vandœvres-Genève 22–27 août 1977, hg. v. David Furley und dems., Vandœvres-Genève: Fondation Hardt, 1978, S. 167–191, S. 168f.
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und Alliterationen ist durch und durch ennianisch.212 Auch der Iphigenie-Exkurs, der im Mittelpunkt der Komposition des ersten Proömiums steht, ist möglicherweise von Ennius’ römischer Adaption von Euripides’ Iphigenie in Aulis inspiriert.213 Angesichts dieser Beziehungen ist die Ennius-Passage kein nebensächlicher Exkurs, sondern ein offensichtliches Signal – die Spitze des Eisbergs – einer tiefgreifenden poetologischen Verwandtschaft. Lukrez’ Haltung gegenüber Ennius ist ambivalent. Er porträtiert ihn zugleich als poetisches Vor– und philosophisches Feindbild. Ähnlich wie er Empedokles wegen seiner poetischen Qualitäten lobt, doch dessen Vier-Elemente-Lehre ablehnt, rühmt er Ennius’ unsterbliche Verse, ohne freilich dessen Theorie der anima und der simulacra zu akzeptieren.214 Hierbei präsentiert er Ennius als komplexe Vermittlerfigur: Ennius brachte als erster Römer (Ennius noster … primus) den Lorbeerkranz von unsterblichem Laub (perenni fronde corona), d. h. das apollinische Symbol der Dichtkunst, für die italischen Stämme vom Helikon herab (deferre). Sein Name verschmilzt auf lautlicher Ebene mit dem Symbol des Ruhms und wird durch ein Wortspiel verewigt (ENNIus … perENNI fronde coronam …).215 Ennius ist für Lukrez ein sprachlicher und kultureller Pionier, der erstmals zwischen Griechenland und Italien verkehrte, weshalb seine Dichterkrone und seine Schriften hell und berühmt (clarus) sein sollen. Die Präposition per gibt sowohl die Richtung des deferre ›für‹ die Römer als auch die Verbreitung von Ennius’ Ruhms ›unter‹ den Römern vor, was sich wiederum phonetisch niederschlägt (PERenni fronde coronam, PER gentis Italas hominum quae clara clueret). Mit diesem Vers zitiert Lukrez Ennius’ eigenen Ruhmesanspruch, wie ein Fragment aus dem ersten Proömium der Annales bestätigt (ann. 1 Fr. 2 Fl.): »Latos {per} populos res atque poemata nostra | {clara} cluebunt … (Weithin unter den Völkern werden die Sachen [der Stoff der Annales] und unsere Gedichte berühmt sein …).« Lukrez scheint diesen Anspruch seines Vorgängers zu akzeptieren und ihn auf dessen Transferleistung zu beziehen, die verschiedene Ebenen verknüpft: Ennius verbindet nicht nur Griechenland und Italien, griechische und römische Literatur, sondern zugleich die Höhen des Helikons mit den Niederungen der Zeitgeschichte. Die Bewegung vom Mythos 212 Einen Überblick über die zahlreichen intertextuellen Beziehungen zwischen Ennius und Lukrez bietet: William Merrill, Parallelisms and Coincidences in Lucretius and Ennius, New York: Johnson, 1971. 213 Vgl. Harrison, »Ennius and the Prologue of Lucretius DRN 1«, S. 5f. 214 Vgl. Sedley, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, S. 31f. 215 Gale sieht hier eine versteckte Anspielung auf Empedokles, dessen Name auf Griechisch wortwörtlich so viel wie ›dauernder Ruhm‹ (ἔμπεδος κλέος) bedeutet. Auch wenn ihr Argument etwas spitzfindig scheint, ist ein indirekter Bezug auf Empedokles, den Lukrez an späterer Stelle auf analoge Weise für seine Dichtung lobt, nicht von der Hand zu weisen: Monica R. Gale, »Etymological Wordplay and Poetic Sucession in Lucretius«, in: Classical Philology, 96, Nr. 2 (Apr. 2001), S. 168–172.
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auf den Boden der historischen Tatsachen (res gestae) entspricht der Erzählung der Annales, die sich von der homerischen Vergangenheit in die Gegenwart der römischen Republik bewegt, die Ennius schließlich glorifiziert. Dies ist ein Grund, warum Lukrez hier von einem vertikalen Herabtragen (deferre) und nicht schlicht von einem horizontalen Hinübertragen (transferre) spricht. Darin erschöpft sich die Rolle des Ennius nicht. Die Abwärtsbewegung von Ennius’ Tätigkeit des deferre wird nämlich durch eine Aufwärtsbewegung kontrastiert, durch das Aufsteigen (exoriri) des simulacrum (species) von Homer, der Ennius schließlich die natura rerum lehrt. Zwar wird Homer wie der Ruhm des Ennius als unsterblich und immer-blühend (semper florens) geschildert, doch sein simulacrum ist unnatürlich blass und farblos (pallens) und vergießt salzige Tränen (lacrimae salsae), wobei das Weinen der Totenerscheinungen seit Homer selbst ein gängiger Topos ist (Od. Λ 391). Damit schleicht sich nach Lukrez ein alptraumhaftes Element in Ennius’ Dichtung ein, das eine Kommunikation zwischen den Toten und den Lebenden, dem Dies- und dem Jenseits eröffnet. Da Lukrez diese Kommunikation aufgrund seiner hedonistischen Ethik und seiner Lehre von der radikalen Vergänglichkeit der Seele zurückweisen muss, grenzt er die Homer-Anekdote durch eine ungewöhnliche dreifache Konjunktion (etsi praeterea tamen)216 vom vorangegangenen Lob ab und entlarvt die Erscheinung von Toten im Ausblick auf die späteren Bücher seines Werks als Halluzinationen oder Fieberträume. Ennius importierte mit dem Lorbeerkranz auch eine falsche Lehre der Natur der Seele, natura animai, und der Hallen der Unterwelt, Acherusia templa – ein epischer Ausdruck, der von Ennius selbst stammt –217 nach Italien, weshalb Lukrez sein Lob durch eine philosophische Kritik rahmen muss: Ennius ist nicht nur ein literarischer Pionier, sondern zugleich ein falscher ›Dolmetscher‹ oder ›Zwischenhändler‹ der Seele, ein schlechter animi interpres, um einen Ausdruck zu benutzen, mit dem Lukrez allgemein die Funktion der menschlichen Zunge und Sprache (lingua) definieren wird (6.1149).218 Ennius verkehrt somit sowohl zwischen Griechenland-Italien, Helikon-Rom, mythischer Vergangenheit und historischer Gegenwart als auch zwischen Diesseits-Jenseits und Körper-Seele. Sein deferre initiiert einen vielschichtigen Vermittlungsprozess. Doch Lukrez unterbricht Ennius’ deferre im kritischen Moment, sobald mit dem simulacrum Homers eine mythische Vergangenheit auf gespenstische und 216 Harrison spricht von einer »[…] unique series of three adverbs […], an extraordinary verbal feature which expresses in the clearest possible way Lucretius’ strong objections to the old poet’s ideas […].« Harrison, »Ennius and the Prologue of Lucretius DRN 1«, S. 2. 217 Vgl. Ernout/Robin, Lucrèce, De rerum natura, Bd. 1, S. 44. 218 Diese Definition wurde von Horaz in seiner Ars poetica imitiert (epist. 2.3.111): »[…] effert animi motus interprete lingua […] [… die Bewegung der Seele äußert sich durch Dolmetscherin Zunge …].«
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irrationale Weise wiederkehrt und sich in die ontologische Vermittlung zwischen der natura rerum und der Sprache (expandere dictis) einschaltet. Die Schatten der Toten der Vergangenheit stören die sprachliche Expansion der natura rerum, die Lukrez für sich selbst in Anspruch nimmt. Er selbst möchte die Ursprünge der Dinge ausbreiten (rerum primordia pandere) (1.55) und mit Epikur die gesamte natura rerum in Worten entfalten (pandere dictis) (5.54). Wie er in der poetologischen Digression erklären wird, die unmittelbar an die Ennius-Passage anschließt, will er die natura rerum in lateinischen Versen erhellen (inlustrare) und damit, wie mehrfach betont, helle Lichter vor dem Geist des Lesers ausbreiten (clara lumina praepandere). Daher können wir Lukrez’ inlustrare als einen Gegenentwurf zu Ennius lesen: Auch Lukrez ist Protagonist eines vielschichtigen Übersetzungsprozesses, der aber weniger zwischen der Vergangenheit (Toten) und der Gegenwart (Lebenden) vermittelt als zwischen den unsichtbaren Ursachen und den sichtbaren Phänomenen. Homer und Ennius haben zwar eine glorreiche Vergangenheit beschworen, sind aber auf einer ontologischen Ebene an der Expansion, dem (ex)pandere der natura rerum, gescheitert. Darum muss Lukrez ihre heroische Epik durch seine philosophische Epik ersetzen und mit ihrer Tradition, in die er sich zugleich einschreibt, in gewisser Hinsicht brechen.219 Er wacht in noctes serenae, um gegen die fantastischen Träume (somnia) der vates und epischen Dichter anzukämpfen. Seine clara lumina sollen im Gegensatz zu Ennius’ Ruhm nicht von den störenden Einflüssen der religio und den Schatten der Unterwelt getrübt werden.220 Weil Ennius und Homer – die bislang größten Dichter der Römer bzw. Griechen – gescheitert sind, wird die eigentliche Dichterkrone (corona) schlussendlich Lukrez selbst gebühren. Das wird aber erst an späterer Stelle offensichtlich, nämlich in Lukrez eigener Dichterweihe, die wir am Schluss des Kapitels näher betrachten werden.
219 So auch Gale: »Thus, praise for the earlier writers’ poetry is combined with depreciation of what Lucretius regards as their misuse of their talents, to spread false stories about the nature of the gods and the fate of the soul after death and exacerbate the superstitious fears of their audience. Because the poets – particularly Homer – have been regarded as the teachers of mankind, Lucretius must set about correcting the view of the world which they put forward. He presents himself as the successor to Homer and Ennius because he owes them a poetic debt and because it is incumbent upon him to correct their philosophical errors.« Gale, Myth and Poetry in Lucretius, S. 108f. 220 Hierzu der Kommentar von Segal: »Unenlightened men, victims of the poets, spend troubled, fearful nights of bad dreams; the philosopher, on the other hand, enjoys serenas noctes of meditation on the truth […]. In place of the darkness of the poets’ Hades (tenebras Orci … vastasque lacunas 1.115), Lucretius sets the luminous vision of truth that will enable his reader to see what has previously been hidden […].« Segal, »Dreams and Poets in Lucretius«, S. 256.
Vates: Böse oder gute Propheten (Kalchas, Empedokles)
2.
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Vates: Böse oder gute Propheten (Kalchas, Empedokles)
Der Übergang vom Iphigenie-Exkurs zur Ennius-Passage versteckt sich in einem Detail, das Lukrez nicht ausdrücklich erwähnt: Iphigenie wurde auf Anraten des Apollo-Priesters Kalchas, des mythischen Sehers des griechischen Heers, geopfert.221 Agamemnon war somit selbst bloß ein Opfer der Rhetorik der vates, gegen die Lukrez Stellung bezieht. Das implizite Argument lautet folgendermaßen: Sollte sich der Leser von den vates verführen lassen, dann ist er prinzipiell zu Untaten bereit wie Agamemnon, der seine eigene Tochter auf Anraten des vates Kalchas schlachten ließ. Die Unkenntnis der wahren ratio der natura rerum führt zu Exzessen der Gewalt, aber auch zur unendlichen Angst vor den ewigen Strafen nach dem Tod. Darum müssen wir insbesondere die natura animai erkennen. Denn wer eine falsche Vorstellung der Seele verbreitet, der bestärkt die furchteinflößende Rhetorik der vates und dient der verbrecherischen religio. Angesichts der Schilderung der Opferung der Iphigenie leistet er gleichsam Beihilfe zum Mord. Deshalb rückt Ennius in die Nähe der vates, des Feindbildes, gegen das Lukrez seine eigene Poetik profiliert. Vates bezeichnen im ursprünglichen Sinn Propheten oder Wahrsager, d. h. Mittler, die von einem Gott besessen werden und als dessen Sprachrohr fungieren. Damit stehen sie in einem Naheverhältnis zu den Dichtern, denen traditionellerweise eine Gottbegeistertheit zugeschrieben wurde, ein Zustand, den die Griechen als ›Enthusiasmus‹ (ἐνθουσιασμός) bezeichneten und theoretisierten.222 Den Römern war diese Konzeption vertraut. Auch Ennius schrieb den Dichtern einen göttlichen Status zu, wie wir von Cicero erfahren, der schreibt, dass (Arch. 8.18): »[…] poetam natura ipsa valere et mentis viribus excitari et quasi divino quodam spiritu inflari. Quare suo iure noster ille Ennius ›sanctos‹ appelat poetas, quod quasi deorum aliquo dono atque munere commendati nobis esse videantur ([…] ein Dichter aufgrund seiner eigenen Natur mächtig ist und von den Kräften des Geistes angetrieben wird und gleichsam von einem gewissen göttlichen Atem angehaucht wird. Daher nennt unser wohlbekannter Ennius die Dichter mit Recht ›heilig‹, weil sie uns gewissermaßen wegen eines Geschenks oder einer Gabe der Götter gepriesen scheinen).« Laut Cicero/Ennius beruht die Dichtkunst weniger auf der Kunstfertigkeit (ars) als auf einer eingeborenen Geistesnatur (ingenium), die sich der menschlichen Kontrolle entzieht. Die Dichter kommunizieren mit den Göttern und werden von mentalen Kräften (mentis vires) und einem göttlichen Hauch (divinus spiritus) affiziert. Darum 221 Vgl. Howe, »The Religio of Lucretius«, S. 330. 222 Das Konzept des poetischen ἐνθουσιασμός wurde wahrscheinlich erstmals von Demokrit theoretisiert und insbesondere von Platon aufgegriffen: Vgl. Kositzke, B., »Enthusiasmus«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Sp. 1185–1197, insb. Sp. 1185f.
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nennt Ennius die Dichter angeblich ›heilig‹, ›göttlich‹, sanctus. Denn insofern die Dichter durch ihren Enthusiasmus am Bereich des Sakralen partizipieren und als Sprachrohr übermenschlicher Kräfte fungieren, gleichen sie den vates.223 Ennius, der die Dichter vergöttlichte und sich damit selbst heiligte, grenzte sich jedoch in einem Fragment explizit von den vates ab. In zwei Versen aus dem siebten Proömium der Annales heißt es (ann. 7 Fr. 1 Sk.): »scripsere alii rem | Vorsibus quos olim Faunei vatesque canebant […] (andere haben diese Sache bereits beschrieben in Versen, die einst Faune und Seher sangen […]).« Der Kontext dieses Bruchstücks lässt sich mithilfe von Ciceros Dialog Brutus rekonstruieren: Ennius, der im siebten Buch den Konflikt zwischen Rom und Karthago schildert, wird in seiner Darstellung den ersten punischen Krieg überspringen. Er rechtfertig dies damit, dass bereits andere vor ihm – darunter ist v. a. der Dichter Naevius zu verstehen – dieses Thema (res) in poetischer Gestalt darstellten. Doch Naevius und seine Vorgänger, so polemisiert Ennius, benutzten noch nicht den ›modernen‹ Hexameter, sondern dichteten im alten Vermaß des Saturnier, den Ennius als eine überkommene Form belächelt, die der archaischen Vorwelt der Faune (Waldgeister) und vates angehört.224 Wenn er also seinen Vorgänger unter die Faune und Seher zählt (in vatibus et Faunis adnumerat), wie Cicero erklärt, dann betrachtet er seinen Vorgänger sicher mit Geringschätzung (contemnere) (Brut. 75f). Ennius selbst verstand sich nicht als altrömischer vates, sondern als hellenistischer Dichter (poeta). Deshalb entbehrt es nicht der Ironie, dass Lukrez Ennius im Zuge seiner Invektive gegen die vates einführt und ihn dadurch wieder in die mythische Vorwelt verbannt, aus der er sich ursprünglich befreien wollte. So wie Ennius sich vom vates-ähnlichen Naevius distanziert, distanziert sich Lukrez vom vates-ähnlichen Ennius.225 Doch Lukrez verabschiedet sich nicht aufgrund der veralteten Ausdrucksform von seinem Vorgänger (er schreibt ja im Versmaß und Stil des Ennius), sondern aufgrund dessen inhaltlicher Nähe zu den vates als Funktionären der religio. Sowohl Ennius als auch Lukrez etablieren eine Verwandtschaft zwischen den Dichtern und Sehern. Das heißt nicht, dass sie ihre vorangegangenen Dichterkollegen mit vates identifizierten. Sie stellen zunächst lediglich eine gewisse Nähe fest. Varro hingegen, ein Zeitgenosse des Lukrez, interpretierte das siebte Proömium der Annales als Beleg dafür, dass der Ausdruck vates in frührömischer Zeit ein Äquivalent für das Wort poeta war (l. l. 7.36): »Antiqui poetas vates appellabant a versibus viendis […] (Die Alten nannten die Dichter vates wegen des Flechtens der Verse […]).« Die vates stammen angeblich vom Verb viere, 223 Vgl. Hellfried Dahlmann, »Vates«, in: Philologus, 97 (1948), S. 337–353, insb. S. 348f. 224 Vgl. Skutsch, The Annals of Ennius, S. 370f. 225 Hierzu: Philip Hardie, Virgil’s Aeneid: Cosmos and Imperium, Oxford: Clarendon Press, 1986, S. 17f. Siehe auch: Nora Goldschmidt, Shaggy Crowns: Ennius’ Annales and Virgil’s Aeneid, New York u. a.: Oxford University Press, 2013, S. 56 (Fn. 74).
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›flechten‹, was auch an Lukrez’ Beschreibung des Dichtens als Weben (pertexere) erinnert. In einer alternativen Etymologie, die indirekt bei Isidor von Sevilla überliefert ist, leitet Varro das Wort vates von der Geisteskraft (vis mentis) ab (etym. 8.7.3): »Vates a vi mentis appelatos Varro auctor est […] (Die vates wurden wegen der Geisteskraft so genannt, wovon Varro der Urheber [die erste Autorität] ist […]).« Während die erste Pseudoetymologie den ars-Aspekt der Dichtung unterstreicht, hebt die zweite den ingenium-Aspekt hervor. Die vis mentis erinnert an Ciceros Umschreibung des poetischen Enthusiasmus als Erregung durch mentale Kräfte (mentis vires = ingenium). Varros Gleichsetzung von poeta und vates, die vermutlich eine retrospektive Projektion ist und die sich zuvor nicht nachweisen lässt, setzte sich schließlich durch und wurde in der lateinischen Literatur zu einem klassischen Topos.226 Darum kann Isidor die vates ganz selbstverständlich zum Synonym für Priester, Propheten und Dichter erklären, die allesamt von einer göttlichen vis mentis bewegt werden (etym. 7.12.15): »Vates a vi mentis appelatos, cuius significatio multiplex est. Nam modo sacerdotem, modo prophetam significat, modo poetam (Die vates werden wegen der Geisteskraft so genannt, ihre Bedeutung ist vielfältig. Denn [das Wort] bezeichnet bald den Priester, bald den Propheten oder den Dichter).« Der spätantike Gelehrte kann sich nicht nur auf Varro, sondern überhaupt auf die klassischen Dichter berufen. Denn die augusteischen Dichter und insbesondere Vergil nutzen Varros Erweiterung des vates-Begriffs, um sich selbst als Dichter-Propheten zu stilisieren.227 Damit konnten sie zur Zeit der Restauration der religio unter Augustus228 an ein archaisierendes Idealbild des Dichters als Priester und Propheten anknüpfen, das bereits bei Ennius und Lukrez in einem negativen Kontext aufblitzt. Doch Lukrez’ Auseinandersetzung mit den vates ist zwiespältiger als es auf den ersten Blick erscheint. So assimiliert er im Laufe seines Gedichts selbst positive Momente des vates-Konzepts, die im ersten Proömium als Negativfolie erscheinen. Das zeigt sich zunächst an Lukrez’ Schilderung von Empedokles, den er, wie gesagt, wie Ennius nicht zuletzt als poetologisches Vorbild präsentiert.229 Unmittelbar nach dem im vorherigen Kapitel zitierten Lob von Empedokles’
226 Vgl. Dahlmann, »Vates«, S. 340–342. 227 Allgemein zum augusteischen vates-Konzept: J. K. Newman, The Concept of Vates in Augustan Poetry, Brüssel: Latomus (Collection Latomus, Bd. 89), 1967, insb. S. 9–12. 228 Über diesen Prozess der Restauration: Robert M. Ogilvie, … und bauten die Tempel wieder auf. Die Römer und ihre Götter im Zeitalter des Augustus, übs. v. Florian Weidenfels, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1984, insb. S. 119–130. 229 Vgl. Gordon Campbell, »Oracular Cosmology in Lucretius«, in: Cosmologies et cosmogonies dans la littérature antique, hg. v. Pascal Derron u. Stefan Maul, Genf: Fondation Hardt, 2015, S. 149–178, insb. S. 163–166.
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göttlichem Genie und dessen praeclara reperta vergleicht Lukrez Empedokles und andere Naturphilosophen mit dem Orakel von Delphi (1.734–741): Hic tamen et supra quos diximus inferiors partibus egregie multis multoque minores, quamquam multa bene ac divinitus invenientes ex adyto tamquam cordis responsa dedere sanctius et multo certa ratione magis quam Pythia, quae tripodi a Phoebi lauroque profatur, principiis tamen in rerum fecere ruinas et graviter magni magno cecidere ibi casu […]. Dieser jedoch und die weiter oben genannten geringeren [Naturphilosophen], die [ihm] um viele Grade und um vieles weit unterlegen, haben indessen vieles gut und auf göttliche Weise entdeckt und [uns] gleichsam aus dem innersten Heiligtum ihres Herzens [Geistes] Aussprüche übermittelt, heiliger noch und mit viel sichererer Begründung als Pythia, die beim Dreifuß und Lorbeer des Apollo weissagt; dennoch haben sie bei den ersten Anfängen der Dinge Irrtümer [einen Sturz] gemacht und so groß sie waren, um so heftiger fielen sie im großem Sturz […].
Die Verse bilden das Scharnier zwischen Lob und Kritik des Empedokles: Dieser, aber auch weit unterlegene Denker – darunter sind wohl ontologische Monisten wie Heraklit zu verstehen –, haben vieles auf göttliche Weise (divinitus) herausgefunden bzw. erfunden (invenire) und es aus der Tiefe ihres Geistes (ein adytum ist der innerste und unbetretbare Bereich eines Tempels) verkündet (responsum bezeichnet auch einen Orakelspruch).230 Dies taten sie sogar auf heiligere Weise (sanctius) und mit sichererem Grund (ratio) als die ApolloPriesterin Pythia, die in Delphi, dem wichtigsten Orakel der Antike, prophezeite. Die Naturphilosophen übertreffen die traditionellen Seher und Priester bei weitem. Trotzdem haben die nicht-epikureischen Philosophen die Grundlagen aller Dinge, principia rerum, noch nicht erkannt und die Ontologie ruiniert (ruinae facere). Sie haben weder das Leere noch die Atome, d. h. die beiden Grundprinzipien der natura rerum, verstanden (1.742–762). Deshalb führen ihre Gedanken zu einem großen Irrtum, obwohl ihr methodologischer Ansatz, die rationale Erklärung der Natur, großartig war. Je größer ihre methodische Heldentat, desto größer ihr philosophischer Sündenfall.231 Lukrez beschreibt seine Vordenker und insbesondere Empedokles in sakralen Ausdrücken und schildert sie als eine Art von vates, Philosophen-Propheten. Diese verdrängen die herkömmlichen Orakel, weil sie den Lauf der Dinge aufgrund der ratio erkennen. Auch wenn der Vergleich mit einem Orakel im Kontext der vorangegangenen Kritik der orakelhaften Sprache Heraklits einen polemi230 Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 734. 231 Vgl. Campbell, »Oracular Cosmology in Lucretius«, S. 161.
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schen Unterton hat, kommt ihm angesichts des Lobs der rationalen praeclara reperta Empedokles’ durchaus eine positive Funktion zu. Lukrez kann dabei auf die Selbstdarstellung des Empedokles zurückgreifen, der sich bereits selbst als Prophet und Wahrsager stilisierte.232 Er unterstreicht freilich einen Aspekt, den Empedokles nicht betonte: Die griechischen Naturphilosophen sind Hohepriester der ratio, nicht der religio. Damit skizziert Lukrez ein Ideal, das er für sich selbst in Anspruch nimmt, wie v. a. im fünften Buch deutlich wird, in dem er plötzlich selbst in die Rolle eines vates schlüpft, um – dazu im letzten Kapitel ausführlich – den künfigen Untergang der Welt zu verkünden (5.110–116): Qua prius adgrediar quam de re fundere fata sanctius et multo certa ratione magis quam Pythia, quae tribode a Phoebi lauroque profatur, multa tibi expediam doctis solacia dictis; religione refrenatus ne forte rearis terras et solem et caelum, mare sidera lunam, corpore divino debere aeterna manere […]. Aber bevor ich beginnen werde, die Geschicke dieser Sache [der Welt] zu verkünden, heiliger und mit viel sichererer Begründung als Pythia, die vom Dreifuß und Lorbeer des Apollo weissagt, will ich dir großen Trost durch gelehrte Worte spenden, damit du, gehemmt von Götterfurcht, nicht etwa glaubst, dass Erde, Sonne, Himmel und Meer, Sterne, aus göttlichem Körper ewig bestehen müssen […].
Indem Lukrez zwei Verse aus seiner Darstellung des Empedokles und anderer Naturphilosophen zitiert (5.111f = 1.739f), überträgt er die Funktion des heiligen Dichter-Sehers auf sich selbst. Er verkündet die Geschicke der Welt (fundere fata) auf heiligere Weise (sanctius) und mit sichererer ratio als Pythia. Der Dichterberuf ist also für ihn wie für Ennius sakral. Auch wenn das Wort vates für Lukrez ein pejorativer Ausdruck ist (er taucht nur im Proömium auf), kann er das vatesKonzept ähnlich wie die augusteischen Dichter für seine Selbstdarstellung fruchtbar machen. Anders als bei den augusteischen Dichtern schließt er jedoch bewusst jede Verwandtschaft, die über eine oberflächliche und terminologische Ähnlichkeit hinausgeht, mit der traditionellen religio aus. Dadurch höhlt er das archaische vates-Konzept gleichsam von innen aus, um es mit einer neuen Botschaft zu füllen, die der religio radikal widerspricht, da sie die Göttlichkeit der Welt und die Intervention der Götter bestreitet. Er schickt seiner Prophetie des Weltuntergangs gelehrte Trostworte (doctis solacia dictis) voraus, damit sie dem Leser keine Furcht einjagt und damit sie nicht den Schreckensworten der falschen vates ähnelt. Erst nachdem er die Sterblichkeit der Seele (natura animai) 232 Damit stilisiert sich Lukrez als neuer Empedokles, wie schon Boyancé bemerkt: Lucrèce et l’Épicurisme, S. 60f. Siehe auch: Sedley, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, S. 23.
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(Buch 3) und die wahre Beschaffenheit der Vorstellungs- und Traumbilder (simulacra) (Buch 4) dargelegt hat, wagt er es selbst, die Rolle des wahren vates zu spielen (Buch 5). Nur so kann er das vates-Konzept von der religio entkoppeln und für seine eigenen Zwecke instrumentalisieren.233 Diese Strategie ist keine Erfindung von Lukrez. Die Epikureer, die einen regelrechten Personenkult um ihren Meister entwickelten,234 verglichen Epikur immer wieder mit einem Orakel. Athenaeus nennt in einem Lobgedicht auf Epikur, das bei Diogenes Laertios überliefert ist, das Orakel von Delphi als mögliche Inspirationsquelle des Meisters (vit. 10.12): »τοῦτο Νεοκλῆς πινυτὸω τέκος ἢ παρὰ Μουσέων | ἔκλυεν ἢ Πυθοῦς ἐξ ἱερῶν τριπόδων (Dies [seine Lehre] hörte der weise Sohn des Neokles [Epikur] entweder von den Musen oder vom heiligen Dreifuß der Pythia).« Auch Cicero ist mit diesem Topos vertraut, wenn er einen epikureischen Gewährsmann von den Orakelsprüchen der vorsokratischen Naturphilosophen (physicorum oracula) erzählen lässt (nat. 1.66) oder Epikurs Buch, das die entscheidenden Lehrsätze (Κύριαι δόξαι) enthält, mit einem Orakel der Weisheit vergleicht (quasi oracula sapientiae) (fin. 2.20). Diese und ähnliche Formulierungen gehen wahrscheinlich auf den innersten Zirkel des epikureischen Lehrbetriebes zurück. So heißt es in einem Fragment des Metrodoros, eines vertrauten Schülers Epikurs (Metrod. Fr. 37 = gnom. 10): »Μέμνησο ὅτι θνητὸς ὢν τῇ φύσει καὶ λαβὼν χρόνον ὡρισμένον ἀνέβης τοῖς περὶ φύσεως διαλογισμοῖς ἐπὶ τὴν ἀπειρίαν καὶ τὸν αι᾿ῶνα καὶ κατεῖδες τά τ’ἐόντα τά τ’ἐσόμενα πρό τ’ἐόντα (Bedenke, dass du, von Natur aus sterblich und im Besitz begrenzter Zeit, durch die Reflexionen über die Natur zum Unendlichen und zur Ewigkeit emporsteigst und hinabschaust auf das, ›was ist, was sein wird, was war‹).« Der Philosoph wird durch Erörterungen De rerum natura (περὶ φύσεως) zu einem Seher, der trotz seiner sterblichen Natur den terminus des unendlichen Werdens erblickt. Der letzte Teil des Spruchs ist ein berühmtes Zitat von Homer, das ausgerechnet die Fähigkeit des Sehers Kalchas beschreibt, das ›was ist, was sein wird, was war‹ (Il. Α 70) zu durchschauen.235 Damit substituiert der epikureische Philosoph den Priester Kalchas, der für die Opferung der Iphigenie verantwortlich war, und tritt an die Stelle der herkömmlichen vates, die Lukrez im ersten Proömium attackiert. Lukrez adoptiert 233 Hardie schildert diese Strategie treffend: »Lucretius is an efficient predator, who digests those parts of his victim which are beneficial to his system and ostentatiously rejects the indigestible. So it is with his treatment of the spokesmen of traditional religion [vates]; it is not just that they are in error, but that they occupy a place as leaders and manipulators of society that Lucretius wishes to appropriate for himself, as the high priest of Epicurean rationalism.« Hardie, Virgil’s Aeneid, S. 18. 234 Epikur wurde schon zu Lebzeiten von seinen Schülern vergöttert und kultisch verehrt: Diskin Clay, »The Athenian Garden«, in: The Cambridge Companion to Epicureanism, hg. v. James Warren, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 2009, S. 9–28, hier S. 22–26. 235 Vgl. Clay, Lucretius and Epicurus, S. 49–52.
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diese Strategie und spitzt sie gegen die religio zu: Die bösen vates verbreiten Dunkelheit und Schrecken, wohingegen die guten diese vertreiben und im Geist des Lesers Lust und Licht entfachen, wie wir im ersten Kapitel im Detail zeigten.
3.
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Ohne Kenntnis des ersten Proömiums der Annales bleibt Lukrez’ Ennius-Passage in vielerlei Hinsicht dunkel: Warum spricht Lukrez von den Träumen (somnia) der vates und vom Erscheinen der simulacra der Toten im Schlaf ? Warum und in welchem Kontext begegnet Ennius der species bzw. dem simulacrum des großen griechischen Dichters? Inwiefern glaubt er an die Seelenwanderung und daran, dass sich unsere Seele auf göttliche Weise in andere Tierkörper einschleicht (pecudes alias divinitus insinuare)? Was lehrt Homer Ennius eigentlich über die natura rerum? Eine Rekonstruktion der spärlichen Fragmente des Beginns der Annales wirft ein Licht auf diese Probleme. Allerdings lässt sich Ennius’ einflussreiches Proömium nur mithilfe späterer Autoren rekonstruieren, die auf es anspielen, es imitieren, parodieren oder kommentieren. Lukrez’ Ennius-Passage erweist sich hierbei selbst als ein zentrales Puzzleteil und wird in den wichtigsten Editionen zu Ennius’ Fragmenten gezählt (ann. 1 Fr. 7 Fl. = 6 Sk. = 9 Vahl.). Ohne sie können wir die direkten Fragmente und ihre Anordnung kaum verstehen, weshalb eine gewisse Zirkularität, die es interpretativ zu nutzen gilt, nicht zu vermeiden ist. Das erste Proömium von Lukrez’ De rerum natura und von Ennius’ Annales befruchten sich wechselseitig.236 Nach einer Anrufung der Musen, auf die wir bald zurückkommen, beschwört Ennius seinen künftigen Ruhm mit einer Formulierung, die Lukrez, wie zitiert, nachahmen wird (ann. 1 Fr. 2 Fl.): »Latos {per} populos res atque poemata nostra | {clara} cluebunt … (Weithin unter den Völkern werden die Sachen und unsere Gedichte berühmt sein …).«237 Im nächsten Fragment finden wir Ennius im Schlafzustand (ann. 1 Fr. 3 Fl.): » … somno leni placidoque revinctus ( … vom sanften und friedlichen Schlaf gefesselt).« Dann erblickt Ennius plötzlich im Traum Homer (ann.1 Fr. 4 Fl.): » … visus Homerus adesse poeta (… mir schien der Dichter Homer anwesend zu sein).« Lukrez erwähnt zwar nicht, dass Ennius Homer im Schlaf begegnet, doch wird dies von vielen anderen Autoren bestätigt. Cicero schreibt z. B. in der Einleitung seiner eigenen poetisch-philosophischen Traumvision, dem Somnium Scipionis (Scipios Traum), das von Ennius’ Traum 236 Die folgende Rekonstruktion orientiert sich an den Kommentaren: Skutsch, The Annals of Ennius; Enrico Flores, Quinto Ennio Annali, hg. u. übs. v. dems., komm. v. Paolo Esposito, Giorgio Jackson u. Domenico Tomasco, Neapel: Ligori, 2002, Bd. 2. 237 Schon die Interpolationen {per} und {clara} beziehen sich auf Lukrez. Vgl. Mariotti, Lezioni su Ennio, Pesaro: Federici Editore, 1951, S. 71f.
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inspiriert ist (rep. 6.10): »[…] fit enim fere ut cogitationes sermonesque nostri pariant aliquid in somno tale quale de Homero scribit Ennius, de quo videlicet saepissimi vigilans solebat cogitare et loqui […] ([…] es geschieht nämlich etwa, dass unsere Gedanken und Gespräche im Schlaf etwas Ähnliches [wie im Wachen] hervorbringen, wie Ennius über Homer schreibt, über den er freilich wachend äußerst oft zu sprechen und nachzudenken pflegte […]).«238 Cicero rationalisiert Ennius’ Begegnung mit Homer und damit seine eigene Traum-Fiktion mit dem Argument, dass wir im Traum die Gedanken und Gespräche (den Tagesrest) fortspinnen, die uns bereits im Wachen beschäftigen. Dahingegen präsentiert Ennius seinen Traum wahrscheinlich nicht als profane Verlängerung des Wachzustands, sondern als Einbruch einer höheren Wirklichkeit.239 Der Traum ist für ihn eine inspirative Erfahrung, wie Fronto bemerkt: »Magistra Homeri Calliopa, magister Enni Homerus et Somnus (Die Lehrmeisterin Homers [war die Muse] Kalliope, Lehrmeister des Ennius Homer und der Schlaf).«240 Wenn Ennius seinen Traum als musische Inspirationsquelle stilisiert, dann knüpft er an eine lange Tradition an, die mit Hesiod begann und von Kallimachos, den Ennius in seinem Proömium vielleicht imitiert, ausgearbeitet wurde.241 Ennius’ Traumerfahrung und ihre literarische Tradition erklären, warum Lukrez Ennius im Kontext der somnia der vates, der fiktiven Träume der Dichter-Propheten, kritisiert. Ennius zufolge zeigte sich Homer im Traum nicht in voller physisch-realer Präsenz, sondern als gespenstische Erscheinung. Schon Cicero macht darauf aufmerksam, dass Ennius gezielt sagt, dass Homer ihm erschien (videri), und nicht einfach, dass er ihn sah (videre) (ac. 2.88).242 Dabei erscheint Homer auf verwandelte Weise, wie vermutlich das folgende Fragment der Annales zeigt (ann. 1 Fr. 5 Fl.): »Ei mihi, qualis erat, quantum mutatus … (Oh wehe mir!, wie war er, wie sehr hatte er sich verwandelt …).« Homer ist verwandelt (mutatus), weil Ennius, bloß dessen Abbild begegnet, einem simulacrum, das laut Lukrez auf 238 Vgl. Flores u. a., Quinto Ennio Annali, Bd. 2., S. 26. 239 Vgl. Giovanna Garbarino, Roma e la filosofia Greca dalle origini alla fine del II secolo a. C., Turin: Paravia, 1973, Bd. 2, S. 261f. 240 Zit. in: Skutsch, The Annals of Ennius, S. 152. 241 Der Bezug zu Kallimachos ist umstritten und wird von Waszink bezweifelt: Jan Hendrik Waszink, »The Proem of the Annales of Ennius«, in: Mnemosyne, 3, Nr. 3 (1950), S. 215–240. Dahingegen argumentiert Kambylis für einen direkten Einfluss: Athanasios Kambylis, Die Dichterweihe und ihre Symbolik. Untersuchungen zu Hesiodos, Kallimachos, Properz und Ennius, Heidelberg: Winter, 1965, insb. S. 200f. 242 Cicero benutzt das passive Perfektpartizip visum, um den stoischen Begriff der φαντασία zu übersetzen. Hierzu und über die komplexe Mehrdeutigkeit des videri in Ciceros philosophischen Dialogen: Tobias Reinhardt, »To See and to Be Seen. On Vision and Perception in Lucretius and Cicero«, in: Roman Reflections. Studies in Roman Philosophy, hg. v. Garreth D. Williams u. Katharina Volk, Oxford u. a.: Oxford University Press, 2016, S. 63–90, insb. S. 78– 88.
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unwirkliche Weise blass (pallens) ist.243 Homer vergießt vermutlich nicht aus Freude über seine Begegnung mit Ennius, sondern aus Trauer über seine schattenhafte Existenz salzige Tränen.244 Damit greift Lukrez bzw. Ennius auf Homers eigene Darstellung der Totenerscheinungen zurück: Gemäß den homerischen Epen bleibt nämlich von den Menschen nach ihrem Tod nur ein Schattenbild (εἴδωλον) oder eine Geist-Seele (ψυχή) zurück, die im Hades lebt und die Lebenden im Schlaf heimsuchen kann. Ψυχή und εἴδωλον der Toten, die Lukrez als species und simulacrum interpretiert, weisen ähnliche Züge wie lebende Personen auf und sprechen und agieren wie diese. Sie tauchen nach Homer meist über dem Kopf der Schlafenden auf, sprechen mit diesen – manchmal unter Tränen.245 Die homerische ψυχή und das ennianisch-lukrezische simulacrum bezeichnen keine ›Psyche‹ im modernen Sinn, da sie keine Seele und kein Lebensprinzip (anima) darstellen, sondern sind Doppelgänger der Toten, flüchtige und ungreifbare Nachbilder des Lebendigen, weshalb Homer ψυχή und εἴδωλον wiederholt mit Rauchfahnen, Schatten oder Träumen vergleicht.246 Wenn Ennius und Lukrez behaupten, dass die simulacra der Toten in Acherusia templa hausen, und wenn sie das Nachbild Homers (Homeri species) Tränen über seine eigene Schatten-Existenz vergießen lassen, dann wenden sie das homerische Rezept der Totenerscheinungen auf Homer selbst an. Doch Ennius schreckt nicht davor zurück, seine Begegnung mit der schattenhaften Homeri species zu einer substanziellen Inspirationserfahrung und zu einer genuinen Begegnung mit dem Jenseits zu stilisieren. So heißt es in einem Fragment aus Ennius’ Epicharmus, einem pythagoreischen Lehrgedicht, das wahrscheinlich ein Werk des gleichnamigen griechisch-sizilischen Philosophen und Komödiendichters247 übersetzt oder bearbeitet (Epich. Fr. 1 Vahl.): »Nam videbar somniare med ego esse mortuum (Denn mir schien, dass ich träumte, dass ich gestorben sei).« Während Ennius in den Annales träumt, dass ein simulacrum aus der Unterwelt zu ihm 243 Vgl. Flores u. a., Quinto Ennio Annali, Bd. 2, S. 30. 244 Die Frage, ob Homer aus Freude oder Trauer weint, wird diskutiert: Vgl. Francesco Giancotti, »Lucrezio e le lacrime di Omero in Ennio«, in: Rivista di filologia e di istruzione classica, 120 (1992), S. 10–38. Giancotti tendiert zur zweiten Option, die mittlerweile durch ein neues pythagoreisches Fragment gestützt wird: Enrico Livrea, »A New Pythagorean Fragment and Homer’s Tears in Ennius«, in: The Classical Quarterly, 48, Nr. 2 (1998), S. 559– 561. 245 Allgemein über die homerischen Traumerscheinungen: E. R. Dodds, The Greeks and the Irrational, Berkeley u. a.: University of California Press, 1951, S. 105–107. 246 Vgl. Jean-Pierre Vernant, »Psuché: simulacre du corps ou image du divin?«, in: Nouvelle Revue de Psychanalyse, 44 (1991), S. 223–230., insb. S. 224f. 247 Über den möglichen Einfluss der Gestalt des Epicharmus auf die griechische Komödie und Philosophie: Albio Cesare Cassio, »Two Studies on Epicharmos and His Influence«, in: Harvard Studies in Classical Philology, 89 (1985), S. 37–51. Über Ennius’ Epicharmus: Garbarino, Roma e la filosofia Greca, Bd. 2, S. 276–289.
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aufsteigt, steigt er bzw. sein Protagonist im Epicharmus selbst im Traum in die Unterwelt hinab.248 Beide Mal wird er im Traum-Jenseits über die natura rerum belehrt, wohingegen Lukrez die simulacra der Toten aufgrund ihrer Schattenhaftigkeit als substanzlose Trugbilder verwirft. Deshalb mahnt Lukrez den Leser am Ende seiner Ennius-Passage so eindringlich, das aufzuklären, was wir zu sehen und hören scheinen (videri), wenn wir von einer Krankheit affiziert werden (morbo affectus) oder vom Schlaf begraben werden (somno sepultus) (1.132–135): Wer den simulacra der Toten begegnet, der muss entweder krank sein oder sich selbst in einem todesähnlichen Zustand befinden. So wie die Gebeine der Verstorbenen von der Erde bedeckt sind, liegt Ennius im Schlaf begraben (sepelire = bestatten), wenn er das simulacrum Homers erblickt und ihm lauscht. Nachfolgende Fragmente der Annales belegen, dass die Homeri species zu Ennius sprach, wobei seine Rede wahrscheinlich mit dem Ausruf (ann. 1 Fr. 6 Fl.): »O pietas animi … (O Sanftmut [Großherzigkeit] der Seele …),« begann. Die pietas animi bezieht sich wohl auf Ennius’ mitleidigen Ausruf Ei, ›O weh!‹ angesichts des blassen simulacrum Homers, kündigt aber auch das Thema der folgenden Rede an, da wir von Lukrez erfahren, dass Homer Ennius etwas über die natura animai zu sagen hatte.249 Die Rekonstruktion der restlichen Rede Homers ist besonders schwierig: Ein mögliches Fragment macht deutlich, dass diese Rede aufs Ganze zielt (ann. 1 Fr. 8 Fl.): »… cava quaeque | corpore caeruelo caeli cortina receptat (… alles was das gewölbte Himmelsrund von dunkelblauem Körper aufnimmt).«250 Homers Rede umfasst die gesamte Welt, vielleicht auch Phänomene der Überflutung (ann. 1 Fr. 6 Sk.): »… desunt rivos camposque remanant (… sie [die Wassermassen?] verschwinden, überfluten [erneut] die Flüsse und Felder)«251; und des Kreislaufs der Jahreszeiten oder gar der Seelenwanderung (ann. 1 Fr. 12 Fl.): »rotam volvere per annos (sie drehten das Rad [des Himmels oder der Wiedergeburt] durch die Jahre).«252 Wie auch immer diese Textscherben zu deuten sind, sie lassen erahnen, warum Lukrez behauptet, dass Homer Ennius die natura rerum lehrt. 248 Schon Cicero bringt den Traum der Annales mit dem des Epicharmus in Zusammenhang. Vgl. Johannes Vahlen, Ennianae poiesis reliquiae, hg. u. komm. v. dems., Leipzig: Teubner, 1903, LIIIf. Siehe auch: Suerbaum, Untersuchungen zur Selbstdarstellung älterer römischer Dichter, S. 92–96. 249 Vgl. Skutsch, The Annals of Ennius, S. 157f. 250 Vielleicht sind hier die Seelen gemeint, die in den Himmel als ihre Heimat zurückkehren: Wolf-Hartmut Friedrich, »Ennius-Erklärungen«, in: Philologus, 97 (1948), S. 277–302, hier S. 281f. Das Fragment wird allerdings von Skutsch nicht zu den Annales Tragödien zugerechnet: Vgl. Flores u. a., Quinto Ennio Annali, Bd. 2, S. 31. 251 Manche Kommentatoren brachten das Fragment mit der Flutung des Tiber in Zusammenhang, was allerdings fragwürdig ist: Vgl. Otto Skutsch, Studia Enniana, London: Athlone Press, 1968, S. 105–109. 252 Der Bezug zur Wiedergeburt wird vom Kontext nahegelegt, in dem das Fragment bei einem Vergil-Kommentator überliefert wird: Vgl. Skutsch, The Annals of Ennius, S. 166f.
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Ein weiteres Fragment handelt von den Lebewesen und deutet an, dass ihre Körper von der Erde stammen und nach dem Tod in diese zurückkehren werden (ann. 1 Fr. 9 Fl.): »… terra{que} corpus | quae dedit ipsa capit neque dispendi facit hilium (… und die Erde erfasst den Körper, den sie gab und bewirkt [dadurch], dass nichts verloren wird).« In einem vergleichbaren Fragment aus dem Epicharmus heißt es (Epich. Fr. 5 Vahl.): »Terra corpus est, at mentis ignis est (Die Erde ist Körper, aber der Geist ist Feuer).«253 Dass sich auch Homer in den Annales auf beseelte Lebewesen bezieht, zeigen die folgenden Verse, die von einem spezifischeren Phänomen innerhalb der natura rerum handeln, nämlich von der Geburt der Vögel (ann. 1 Fr. 10 Fl.): »Ova parire solet genus pennis condecoratum, | non animam, {et} post inde venit divinitus pullis | ipsa anima … (Die Eier pflegt das federgeschmückte Geschlecht zu gebären, nicht die Seele; und erst später schlüpft auf göttliche Weise in die Küken die Seele selbst …).« Homer spricht von der natura animai der Vögel oder überhaupt von allen Wesen, deren anima nicht geboren wird, sondern von außen und auf göttliche Weise (divinitus) in die Körper dringt, die wiederum aus der Erde stammen. Der griechische Dichter weiß dies laut Ennius sogar aus erster Hand, da er sich im letzten Fragment daran erinnert, dass er selbst (genauer seine anima), in einen Vogel schlüpfte und zu einem Pfau wurde (ann. 1 Fr. 11 Fl.): »… memini me fiere pavom (… ich erinnere mich, dass ich ein Pfau wurde).« Mit dieser rätselhaften Wendung wird klar, weshalb Lukrez Ennius im Zusammenhang mit der Vorstellung von der göttlichen Wanderung der Seelen in Tierkörper einführt: Homer lehrte Ennius am Höhepunkt seiner Rede die Theorie der Seelenwanderung, die sogenannte Metempsychose.254 Die Metempsychose war den homerischen Epen noch fremd und taucht erst bei späteren Dichtern und Denkern auf, insbesondere bei Pythagoras und Empedokles, denen später Platon teilweise folgen wird.255 So heißt es in einem berühmten Fragment des Empedokles (DK 31 B 117): »ἤδη γάρ ποτ᾽ ἐγὼ γενόμην κοῦρος τε κόρη τε | θάμνος τ᾽οι᾿ωνός τε καὶ ἔξαλος ἔλλοπος ᾿ιχθύς (Denn ich war schon einmal ein junger Mann, eine junge Frau, ein Gebüsch, ein Vogel und ein stummer Fisch, der aus der Flut springt).«256 Empedokles erinnert sich wie Homer bei Ennius in erster Person daran, dass seine Seele bereits in andere Körper schlüpfte 253 Vgl. Vahlen, Ennianae poiesis reliquiae, CXXf. 254 Damit erscheint Ennius bei Lukrez als Exponent der volkstümlichen religio und als Sprachrohr einer falschen Philosophie: Vgl. Mariotti, Lezioni su Ennio, S. 64. 255 Möglicherweise geht die griechische Lehre der Metempsychose auf die Orphiker zurück, wie vermutet wurde. Vgl. Herbert S. Long, »Plato’s Doctrine of Metempsychosis and Its Source«, in: The Classical Weekly, 41, Nr. 10 (Feb. 1948), S. 149–155. 256 Schon Bignone erwähnt dieses Fragment im Zusammenhang mit Ennius’ Annales: Ettore Bignone, »Ennio ed Empedocle«, in: Rivista di filologia e di istruzione classica, 57 (1929), S. 10–30, hier S. 28f.
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und sich u. a. in Tiere verwandelte. Dabei integriert er Elemente der Philosophie der Pythagoreer in seine eigene Lehre, die schon vor ihm die Metempsychose lehrten, weshalb Empedokles in der Antike manchmal fälschlich als Schüler des Pythagoras dargestellt wurde.257 Aristoteles, der im Unterschied zu Platon die Seelenwanderung ablehnte, berichtet von ›pythagoreischen Mythen‹ (Πυθαγορικοὶ μῦθοι), denen zufolge jede beliebige ψυχή in jeden beliebigen Körper (σῶμα) eingehen könne (an. 407b). Die ψυχή, von der Aristoteles spricht, bezeichnet kein homerisches Schattenbild (εἴδωλον) mehr, sondern eine identitätsstiftende Einheit, die sich in arbiträre Körper kleidet. Diese Vorstellung wurde nicht nur von Empedokles und Platon aufgegriffen, sondern auch von der römischen Literatur, die diese pythagoreischen bzw. pythagoreisierenden Mythen weiterentwickelte: So wird das Konzept der Metempsychose in Ciceros Somnium Scipionis angedeutet (rep. 6.29). Ähnlich lehrt Vergil in der Aeneis im Rahmen der wirkmächtigen Rede, die der tote Anchises in der Unterwelt seinem Sohn Aeneas hält, die Lehre von der Wiedergeburt der Seelen in einem kosmischen Kreislauf (Aen. 6.735–751). Vergil spielt dabei mit Sicherheit auf Ennius an.258 Nicht zuletzt deutet Ovid gegen Ende seiner Metamorphosen in seiner Rede des Pythagoras, die wiederum Echos von Empedokles, Ennius, Lukrez und Vergil amalgamiert,259 sein Konzept der Metamorphose als Metempsychose um.260 Folgende Verse aus dieser Rede bringen das Wesen der pythagoreischen Seelenwanderung auf den Punkt (met. 15.165–172): Omnia mutuantur, nihil interit: errat, et illinc huc venit, hinc illuc et quoslibet occupat artus spiritus eque feris humana in corpora transit inque feras noster nec tempore deperit ullo, utque novis facilis signatur cera figuris, nec manet, ut fuerat, nec formas servat easdem, sed tamen ipsa eadem est, animam sic semper eandem esse sed in varias doceo migrare figuras.
257 Dies berichtet Diogenes Laertios, der sich auf ältere Autoritäten beruft (vit. 8.54–7). Siehe auch: Walter Burkert, Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, Nürnberg: Verlag Hans Carl, 1962, S. 113f. 258 Vgl. Hardie, Virgil’s Aeneid, S. 77–83. 259 Eine genaue Analyse dieser intertextuellen Bezüge von Ovids berühmter Rede des Pythagoras in: Philip Hardie, »The Speech of Pythagoras in Ovid Metamorphoses 15: Empedoclean Epos«, in: The Classical Quaterly, 45, Nr. 1 (1995), S. 204–214, insb. S. 207–209. 260 Es ist umstritten, inwieweit diese Deutung allgemein als Schlüssel zum Verständnis von Ovids Metamorphosen gelten kann. So macht Little zu Recht auf Diskrepanzen zwischen den mythologischen Verwandlungen in Ovids Epos und ihrer rationalistischen Erklärung durch Pythagoras aufmerksam: Douglas Little, »The Speech of Pythagoras in Metamorphoses 15 and the Structure of Metamorphoses«, in: Hermes, 98, Nr. 3 (1970), S. 340–360. Die Metempsychose ist nur eine mögliche (philosophische) Umdeutung.
Homeri species: Gespenstische Wiederkehr des toten Dichters
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Alles wird verwandelt, nichts geht zugrunde: Unser Geist irrt umher, kommt von dort nach hier, von hier nach dort und besetzt beliebige Glieder, geht aus Tieren in menschliche Körper über und [wieder] in Tiere, ohne dass zu irgendeiner Zeit etwas verloren ginge; und wie das geschmeidige Wachs durch neue Figuren geprägt wird und weder bleibt, was es war, noch dieselben Formen bewahrt, aber selbst dennoch dasselbe ist: So bleibt [auch] die Seele dieselbe, wandert aber, so lehre ich, in unterschiedliche Figuren.
Seele und Geist, anima und spiritus, bewahren ihre Identität, während sie unaufhörlich in neue Körper und Figuren wandern (migrare) und in unterschiedliche tierische oder menschliche Körper übergehen (transire). Diese Schilderung entspricht im Wesentlichen der Lehre, die Homer Ennius lehrt, weshalb Horaz die Annales spöttisch als pythagoreische Träume (somnia Pythagorea) bezeichnen wird (epist. 2.1.52). Die Annales gelten somit als Prototyp römisch-pythagoreischer Mythen, die in der augusteischen Dichtung entweder parodiert (Horaz) oder weitergeträumt werden (Vergil, Ovid). Doch Ennius’ somnia Pythagorea orientieren sich nicht nur an der pythagoreischen Seelenlehre, sondern auch an Homers Konzept der Totenerscheinungen. Da sie beide Vorstellungen kombinieren, spaltet sich die Figur Homers im Proömium der Annales auf: Einerseits in eine homerische ψυχή, ein schattenhaftes simulacrum, das in der Unterwelt, in den Acherusia templa, lebt, und andererseits in eine pythagoreische ψυχή, eine identitätsstiftende anima, die in unterschiedliche Körper migriert.261 Nicht zuletzt gibt es noch Homers Körper (corpus = σῶμα), der jedoch nach dessen Tod längst wieder von der Erde aufgenommen wurde. Diese dreifache Spaltung erklärt, warum Lukrez schreibt, dass Ennius an die Metempsychose glaubt und zugleich daran (1.120–122): »[…] esse Acherusia templa | […] quo neque permaneant animae neque corpora nostra, | sed quaedam simulacra modis pallentia miris ([…] dass es die Tempel des Acheron gibt, […] wo weder unsere Seelen noch Körper verweilen, sondern bloß gewisse Ähnlichkeitsbilder, die auf seltsame Weise blass sind).« Homers Erscheinung ist so blass und schattenhaft, weil sie vom corpus und von der anima abgekapselt ist.262 Dennoch kann sie uns laut Ennius von der wahren Beschaffenheit der natura animai unterrichten. Für Lukrez ist dies Unsinn: Wenn die anima radikal vom simulacrum geschieden ist, wie sollte dann letzteres von erster etwas wissen? Die Rede der Homeri species muss ein Schattenbild sein, ein trügerisches simulacrum der natura rerum selbst.
261 Zu dieser seltsamen Spaltung von anima und simulacrum: W. R. Hardie, »The Dream of Ennius«, in: The Classical Quarterly, 7, Nr. 3 (Jul. 1913), S. 188–195; Skutsch, The Annals of Ennius, S. 154f. 262 Vgl. Skutsch, The Annals of Ennius, S. 154f.
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4.
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Simulacra: Physik der Phantasiebilder (4.30ff, 4.726ff, 4.757ff u. a.)
Mit der Schilderung der Begegnung zwischen Ennius und Homer deutet Lukrez zugleich erstmals das zentrale Thema seiner eigenen Epistemologie an, die Existenz und Beschaffenheit der materiellen Ähnlichkeitsbilder (simulacra). Nachdem er im dritten Buch die natura animai dargelegt hat, kommt er im vierten auf die simulacra zu sprechen, die Bilder, die unsere Seele besonders vehement anrühren (vehementer attinere) (4.29f). Er führt dieses neue Thema durch folgende Verse ein (4.30–42): […] esse ea quae rerum simulacra vocamus; quae, quasis membranae summo de corpore rerum dereptae, volitant ultroque citroque per auras, atque eadem nobis vigiliantibus obvia mentes terrificant atque in somnis, cum saepe figuras contuimur miras simulacraque luce carentum, quae nos horrifice languentis saepe sopore excierunt; ne forte animas Acherunte reamur effugere aut umbras inter vivos volitare neve aliquid nostri post mortem posse relinqui, cum corpus simul atque animi natura perempta in sua discessum dederit primordia quaeque. Dico igitur rerum effigias tenuisque figuras mittier ab rebus summo de corpore rerum. {id licet hinc quamvis hebeti cognoscere corde.} […] es existiert das, was wir die simulacra der Dinge nennen, die, gleichsam losgerissen von der Oberfläche des Körpers der Dinge, durch die Lüfte hierhin und dorthin fliegen und uns, während wir wachen, begegnend die Gemüter aufschrecken, auch in den Träumen, wenn wir oftmals seltsame Gestalten erblicken und die simulacra derjenigen, die das Licht [des Lebens] entbehren und die uns entsetzenerregend aufschrecken, wenn wir oftmals im tiefen Schlaf erschlafft liegen; damit wir nicht etwa meinen, dass die Seelen aus dem Acheron fliehen oder Schatten zwischen den Lebenden fliegen und etwas von uns nach dem Tod übrigbleiben kann, wenn der Körper und zugleich die Natur des Geistes vernichtet in ihre jeweiligen Ursprungskörper geschieden wurden. Also sage ich, dass Nachbildungen und feine Gestalten der Dinge von den Dingen von ihrer Oberfläche des Körpers losgeschickt werden. {Das lässt sich hieraus mit noch so stumpfem Geist [Herz] erkennen.}
Die Verse rufen unmittelbar die Ennius-Passage in Erinnerung und ähneln ihr teilweise im Wortlaut (4.33f = 1.132f). Beide Passagen folgen derselben ethischen Stoßrichtung: Wir dürfen uns vor den simulacra der Toten, die uns im Wachen
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oder im Traum erscheinen, nicht fürchten.263 Denn weder entfliehen die Seelen der Unterwelt noch fliegen die Schatten der Toten unter den Lebenden umher (umbrae inter vivos volitare). Diese letzte Formulierung erinnert wohl nicht zufällig an ein Epigramm von Ennius, in dem dieser seinen eigenen Tod antizipiert (epig. Fr. 2 Vahl.): »Nemo me lacrimis decoret nec funera fletu | faxit. Cur? Volito vivos per ora virum (Niemand schmücke mich mit Tränen oder bestatte mich unter Klagen. Warum? Ich fliege lebendig durch Münder der Menschen).«264 Ennius fürchtet den Tod nicht, er ist unsterblich, da seine Gedichte und sein Ruhm in der oralen Tradition fortleben werden. Lukrez scheint dieses Epigramm zu kommentieren: Obschon der Ruhm des Ennius ewig währt, ist seine Seele mit seinem Körper gestorben und kann nicht in neue Körper migrieren. Es gibt keine psychische Integrität, die den Tod überlebt. Unsere anima löst sich gemeinsam mit unserem corpus wieder in die Atome auf und es bleibt nichts außer gewissen simulacra, die durch die Luft schwirren und sich physikalisch erklären lassen. Um dies zu erkennen, behauptet Lukrez, braucht man nicht einmal ein besonders scharfes Denkvermögen (ratio sagax = sagacitas); ein stumpfes Herz bzw. ein stumpfer Geist (hebes cor) genügt. Nicht Ennius fliegt durch die Münder der Lebenden, sondern bloß sein Schattenbild. Ennius perennis, das literarische Bild des unsterblichen Ennius, ist in gewisser Weise selbst ein fantastisches simulacrum.265 Die zitierte Stelle eröffnet einen poetologischen Subtext, der an die EnniusPassage anknüpft. Ihre Hauptfunktion besteht jedoch in der Ankündigung der epikureischen Epistemologie, die Lukrez im vierten Buch darlegt: Nach Epikur beruht unser Sehsinn, aber auch unsere Imagination und unser Denken im Wesentlichen auf Bildern (εἴδωλα), die Lukrez meist als simulacra oder species bezeichnet. Diese lösen sich unaufhörlich von der Oberfläche der Festkörper (summo de corpore rerum) und schwirren durch die Luft (per auras), wobei sie sich laut Lukrez schneller als Licht und laut Epikur mit Gedankengeschwindigkeit im Raum ausbreiten. Die εἴδωλα oder simulacra können durch unsere Sinnesorgane oder durch die Poren unserer Haut in unsere Körper eindringen, wo 263 Vgl. Segal, »Dreams and Poets in Lucretius«, S. 252. 264 Edwards macht auf dieses Epigramm aufmerksam, ohne jedoch auf Lukrez’ polemische Imitation einzugehen: Edwards, »Aeternus Lepos«, S. 70. 265 Vitruv spricht an interessanter Stelle von Ennius’ simulacrum (arch., praef. 9.16): »Itaque qui litterarum iucunditatibus instinctas habent mentes, non possunt non in suis pectoribus dedicatum habere sicuti deorum sic Enni poetae simulacrum (Die also, die einen Geist besitzen, der von den Freuden der Literatur angestachelt wird, die können nicht umhin, dass sie in ihren Herzen das geweihte Bildnis des Dichters Ennius wie das der Götter besitzen).« Damit knüpft er an die plastische Metaphorik an, derzufolge simulacra auch Götterbildnisse bezeichnen, und macht darauf aufmerksam, dass Dichter nach ihrem Tod nur im Zustand der simulacra überleben. So wie Ennius dem simulacrum Homers begegnet, muss Lukrez Ennius’ eigenem simulacrum begegnen.
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sie von unserer anima auf- und von unserem rationalen Geist (animus) wahrgenommen werden.266 Epikur schreibt (Her. 49): »Δεῖ δὲ καὶ νομίζειν ἐπεισιόντος τινὸς ἀπὸ τῶν ἔξωθεν τὰς μορφὰς ὁρᾶν ἡμᾶς καὶ διανοεῖσθαι […] (Es ist notwendig, anzunehmen, dass wir dann, wenn etwas von den äußeren Dingen in uns eindringt, die Formen [dieser Dinge] sehen und bedenken […]).« Alle sinnlichen und geistigen Wahrnehmungen beruhen auf den materiellen Emissionen oder Ausströmungen (ῥεῦσις) aller Dinge, die von einer nicht näher erklärten Vibration (πάλσις oder παλμός) der Atome im Körperinneren verursacht werden (Her. 47–50).267 Diese Emissionen berühren anima und animus und bilden eine Art Verlängerung unseres Tastsinns, die es uns erlaubt, auch entfernte oder abwesende Dinge zu erkennen. Nicht alle von ihnen sind aber simulacra, wie wir von Lukrez erfahren: Manche von ihnen, z. B. Geruch, Rauch, Hitze, Licht, dringen aus der Tiefe der Körper und sind diffus (diffusus), weil sie auf ihrem Weg aus dem Körperinneren durch die Poren des Körpers gepresst und zerrissen werden. Dahingegen stammen die Farben und die simulacra von den Körperoberflächen, von denen sie sich wie Häute (membranae) abschälen.268 Im Unterschied zu allen anderen Emissionen sind die simulacra nicht diffus, sondern verflochten (contextus). Nur sie können die Form (forma = μορφή) und Struktur (ordo) der Festkörper bewahren, denen sie im höchsten Maße ähnlich (similis) sind (4.54–109). Damit bilden die simulacra neben dem Tastsinn den entscheidenden Zugang zur Erkenntnis der Wirklichkeit. Sie stellen gleichsam einen visuellen und geistigen Hautkontakt mit der natura rerum her, weshalb sie auch im Zentrum der materialistischen Epistemologie der Epikureer stehen.269 Analog wie Lukrez Epikurs ἄτομοι durch eine Fülle von Ausdrücken wiedergibt, übersetzt er auch die εἴδωλα durch eine ganze Reihe lateinischer Entsprechungen. Er nennt sie nicht nur simulacra, ›Ähnlichkeitsbilder‹, sondern auch imagines, ›Abbilder‹, figurae, ›Gestalten‹, effigies, ›Nachbildungen‹, species, ›sichtbare Erscheinungen‹, membranae, ›Häute‹, oder cortices, ›Rinden‹.270 Weiter zählt er sie aufgrund ihrer epistemologischen Funktion zu den ›Boten der Dinge‹ (nuntia rerum) (4.704) oder ›Boten der Formen‹ (nuntia formae) (6.77). In methodologischer Hinsicht betrachtet er sie überdies als vestigia, als lesbare ›Spuren‹ ver266 Allgemein zu dieser epikureischen Lehre der εἴδωλα, die an Demokrit anknüpft: Franz, Von Gorgias bis Lukrez, insb. S. 267f. 267 Siehe den Kommentar in: Anthony Long/David Sedley, The Hellenistic Philosophers, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 1987, Bd. 1, S. 76f. 268 Wie Deleuze bemerkt, werden diese Tiefen- und Oberflächenemissionen durch unsere Sinneswahrnehmung, d. h. durch Seh- und Gehörsinn, kombiniert: Gilles Deleuze, »Lucrèce et le naturalisme«, in: Les Études Philosophiques, Vol. 16, Nr. 1 (1961), S. 19–29, S. 26f. 269 Über die eminente Rolle des Tastsinns im Epikureismus siehe: Ursula Schoenheim, »The Place of Tactus in Lucretius«, in: Philologus, 110 (1966), S. 71–88. Außerdem mein Text: »Manifest gegen die Evidenz«, insb. S. 94–102. 270 Vgl. Sedley, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, S. 39f.
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borgener Zusammenhänge, wie wir bereits aus Lukrez’ Betrachtung der Sonnenstäubchen als simulacrum et imago wissen. Die meisten Ausdrücke, mit denen Lukrez die εἴδωλα be- und umschreibt, entspringen der künstlerischen oder biologischen Sphäre: Simulacrum stammt vom Verb simulare, ›ähnlich machen‹, ›nachahmen‹, ›abbilden‹ und unterstreicht sowohl die Ähnlichkeit mit einem Gegenstand (similitudo) als auch dessen Vorspiegelung oder Vortäuschung (simulatio).271 Wie die imago und die effigies, die etymologisch mit imitari, ›nachahmen‹ bzw. effingere, ›formen‹, ›nachahmen‹ zusammenhängen,272 bezeichnet das simulacrum häufig künstlerische Nachahmungen, Skulpturen oder Bildwerke – so auch bei Lukrez (5.75 u. 6.419). Der Ausdruck imago ist außerdem eng mit dem aristokratischen Totenkult der Römer verknüpft, da die imagines ursprünglich die wächsernen Totenmasken der Ahnen bezeichnen, die im Atrium aufbewahrt wurden.273 Die Nähe zwischen dem epikureischen εἴδωλον (epistemologisches Bild) und dem homerischen εἴδωλον (Traum- u. Totenerscheinung) wird somit durch römische Vorstellungswelt erweitert und gefestigt. Vielleicht denkt Lukrez deshalb bei den simulacra im ersten Moment immer an die Erscheinungen der Toten? Jedenfalls vergleicht er die simulacra in seiner Erklärung der Spiegelbilder explizit mit einer Maske, allerdings mit einer feuchten Gipsmaske (cretea persona), die gegen einen Pfosten geschleudert und dadurch umgestülpt wird, weshalb die simulacra spiegelverkehrt werden (4.292–301). Neben diesen Assoziationen mit der künstlerischen und kultischen Mimesis, erklärt er die simulacra aber auch durch biologische Analogien. So vergleicht er sie mit organischen membranae (oder cortices), etwa den Hüllen von Zikaden oder Schlangen, die jene bei ihrer Häutung zurücklassen, oder mit dem Geburtshäutchen, das ein neugeborenes Kalb umschließt (4.58–62).274 Wenn die natura, wie 271 Hierzu die Bemerkung von Hardie: »Like its root, the verb simulo, simulacrum is a Janusheaded word. On one hand it refers to the fitting likeness (similis, similitudo) of image to model, a fit which is particulary close in the Epicurean explanation of sense-images as films of atoms which originate as physically part of the objects we perceive, and whose reliability as a record of those objects is guaranteed by their texture and by the speed at which they fly to our senses. On the other hand simulacrum may refer to the deceptiveness (simulo, simulatio) of images, which may for various reasons correspond to no substantially existing objects, but nevertheless leads us to believe in the existence of such object. » Hardie, Ovid’s Poetics of Illusion, S. 151. 272 Über den hypothetischen linguistischen Zusammenhang von imago und imitari siehe: »Ima¯go¯« in: De Vaan (Hg.), Etymological Dictionary of Latin and the other Italic Languages, online unter: https://dictionaries-brillonline-com.uaccess.univie.ac.at/search#dictionary=l atin&id=la0793 (Zugriff 02/05/2022). 273 Das Standardwerk hierzu: Harriet I. Flower, Ancestor Masks and Aristocratic Power in Roman Culture, Oxford: Clarendon Press, 1996, insb. S. 32–59. 274 Nach Sedley wollte Lukrez in der endgültigen Version des Texts – dessen überlieferte Fassung aufgrund von Redundanzen bearbeitungswürdig scheint – die biologische Metaphorik durch die künstlerische verdrängen: Sedley, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, S. 39–42. Diese textgenetische Annahme bleibt äußerst spekulativ. Wir können
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gesagt, mit der Geburt assoziiert ist, sind die membranae der simulacra ein abgestorbenes Bei- oder Nebenprodukt des schöpferischen Werdens. Durch diese Analogien und durch sein reichhaltiges Vokabular kann Lukrez unterschiedliche Aspekte der εἴδωλα ansprechen, insbesondere ihre Lesbarkeit, Spurenhaftigkeit und Vermittlungsfunktion sowie ihre Ähnlichkeit, Geformtheit, Erzeugtheit, Sichtbarkeit, Dreidimensionalität, Oberflächlichkeit, Hohlheit und Leblosigkeit. Der letzte Aspekt ist angesichts der Totenerscheinungen für Lukrez besonders wichtig, da er durch ihn die mythische Komponente der εἴδωλα zurückdrängen will. Die simulacra, die zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren, dem Toten und dem Lebendigen vermitteln, haben kein gespenstisches Eigenleben wie bei Homer oder Ennius, sie sind tote Spuren oder Zeichen. Die simulacra sind in erster Linie Ebenbilder der Dinge, die uns einen Zugang zur natura rerum gewähren. Erst in zweiter Linie bezeichnen sie Trugbilder, die uns in die Irre führen. Hier zeigt sich ihre doppelte Nähe zur similitudo wie zur simulatio. Lukrez unterscheidet fünf Gattungen von Trugbildern: Erstens können die simulacra auf ihrem Weg durch die Luft oder durch ihre Kollision mit Festkörpern deformiert werden. So werden z. B. die eckigen simulacra eines quadratischen Turms von der Luft abgestumpft, weshalb uns dieser aus der Ferne rund erscheint (4.353–359).275 Oder die simulacra werden durch ihren Aufprall auf der Fläche von Spiegeln umgestülpt – das Beispiel der feuchten Tonmaske – oder durch konvexe oder konkave Spiegel gekrümmt (4.292–341). Zweitens kann unsere eigene physiologische Verfassung die simulacra affizieren. Ein Gelbsüchtiger sieht etwa alles gelblich-blass, weil seine eigenen fahlen Atome (semina) den simulacra entgegeneilen und sie mit Blässe überziehen oder sich in seinen Augen mit diesen vermischen (4.307–311). Drittens gibt es simulacra, die spontan (sponte sua) in der Atmosphäre entstehen und den Wolken ähneln, die fließend ihre Gestalten wechseln (4.130–142). Diese Wolkenbilder, in denen wir oftmals die Schatten der Unterwelt (tenebrae Acheruntis) und Gesichter dunklen Schreckens (atrae formidinis ora) zu erblicken glauben (4.168–174), sind, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt, mit dem Terror der religio assoziiert. Viertens können sich simulacra untereinander verhaken, wodurch kombinierte Bilder entstehen. Lukrez erläutert z. B. die Erscheinung eines Zentauren durch das zufällig Aufeinandertreffen des simulacrum eines Pferdes und eines Mannes, die wie Spinnweben oder Blattgold aneinander kleben bleiben (4.725–743). Da sich die meisten Typen von Trugbildern für Lukrez ohne Rückgriff auf seine Psychologie erklären lassen, scheint die Phantasie primär ein physikalisch-meteonicht ausschließen, dass Lukrez beide Metaphoriken beibehalten hätte. Immerhin scheut Lukrez auch in seinem atomistischen Vokabular keine biologischen Metaphern, wie wir am Beispiel der semina rerum gesehen haben. 275 Dieses Beispiel wird auch von Sextus Empiricus und Tertullian überliefert: Vgl. Reinhardt, »To See and to Be Seen«, S. 73f.
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rologisches Problem zu sein. Doch für Lukrez gibt es auch psychologische Trugbilder. So spricht er fünftens und zuletzt von simulacra-Sequenzen, die durch eine Art innerpsychische Montage entstehen. Unser Geist kann durch seine selektive Aufmerksamkeit unterschiedliche simulacra kombinieren und sie zu flüssigen Bewegungsabläufen verdichten (4.768–826).276 Auch unsere visuelle Imagination kann dadurch Trugbilder hervorbringen, die furchteinflößende Bilder, etwa Phantasmen der religio, erzeugen oder aber unser Begehren nähren. Deshalb beschließt Lukrez sein viertes Buch mit seiner berüchtigten Diatribe gegen den Liebeswahn und einer eindringlichen Warnung vor erotisch-pornografischen simulacra, die uns überwältigen können (4.1058–1120).277 Lukrez wiederholt im vierten Buch unermüdlich, dass wir die simulacra nicht einzeln (singillatim) sinnlich wahrnehmen können (z. B. 4.104f), sondern bloß ihre Verdichtungen in den Sinnesorganen, die durch den wiederholten Ansturm derselben oder ähnlicher simulacra entstehen.278 Die einzelnen simulacra sind zu fein und zu schnell, um gesehen zu werden. Dennoch können wir sie uns vorstellen und sie denken (4.726–736): quippe etenim multo magis haec sunt tenvia textu quam quae percipiunt oculos visumque lacessunt, corporis haec quoniam penetrant per rara cientque tenvem animi naturam intus sensumque lacessunt. Centauros itaque Scyllarum membra videmus Cerbereasque canum facies simulacraque eorum quorum morte obita tellus amplectitur ossa; omne genus quoniam passim simulacra feruntur, partim sponte sua quae fiunt aere in ipso, partim quae variis ab rebus cumque recedunt, et quae confiunt ex horum facta figuris. Denn freilich sind sie viel feiner im Gewebe als jene, die wir [sinnlich] wahrnehmen und die unsere Augen und unser Gesicht reizen, weil sie die Poren unseres Körpers durchdringen und die feine Natur des Geistes wecken und in seinem Inneren die Empfindung hervorrufen. So sehen wir auch Zentauren und die Glieder der Skylla und Zerberus-Fratzen von Hunden sowie die Bilder jener, deren Gebeine nach der Begegnung des Todes die Erde umfängt, weil Bilder von jeder Gattung überall herumgetragen werden, teils die, die spontan in der Luft selbst entstehen, teils die, die sich wie auch
276 Vgl. meinen Artikel: »Manifest gegen die Evidenz«, insb. S. 101–103. 277 Über den komplexen Zusammenhang zwischen der simulacra-Lehre und der Diatribe gegen den Liebeswahn: Robert D. Brown, Lucretius on Love and Sex. A Commentary of Lucretius De rerum Natura IV, 1030–1287, Leiden u. a.: Brill, 1987, insb. S. 29–36. 278 Bailey spricht zurecht von einem kinematografischen Bild-Konzept: »[…] no single ›idol‹ can produce the image which is seen by the eye (φαντασία); this is due to the constant succession of ›idols‹ arriving one after the other at imperceptible intervals; the image is, as we might say today, ›cinematographic‹.« Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 3, S. 1207.
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immer von den unterschiedlichsten Dingen lösen und die aus ihren [kombinierten] Gestalten gemacht wurden.
Es gibt einen Unterschied zwischen Vorstellungs- und Wahrnehmungsbildern. Die einzelnen simulacra haben eine feinere Textur (textus) als ihre Agglomerate, die wir mit den Augen wahrnehmen. Sie dringen nicht durch die Sinne, sondern durch die Poren (rara) unserer Haut in unseren Körper und stimulieren in seinem Inneren animus und sensus. Deshalb können wir uns auch vereinzelte Trugbilder vorstellen, fabelhafte Mischbilder, die durch eine Kreuzung unterschiedlicher simulacra entstehen, Totenerscheinungen, Bilder die spontan in der Atmosphäre entstehen oder solche, die sich von irgendwelchen Dingen lösen und möglicherweise deformiert oder von uns affiziert wurden. Hiermit bezieht Lukrez die ersten vier Gattungen sowohl auf unsere Wahrnehmung als auch auf unsere visuelle Vorstellung. Freilich ist nicht klar, zu welcher Gattung er die Totenerscheinungen zählt, die er durch einen Vers umschreibt, den er aus seiner Ennius-Passage wortwörtlich zitiert (4.732 = 1.135). Entstehen die simulacra der Toten spontan in der Luft, entstehen sie durch Kombination oder schwirren die simulacra der Menschen auch nach ihrem Tod einfach weiter durch die Lüfte? Obwohl eine polemische Behauptung bei Cicero nahelegt, dass manche Epikureer die letzte Option vorzogen (Cicero erwähnt interessanterweise auch das simulacrum Homers) (nat. 1.105–108), lässt sich diese Frage bei Epikur und Lukrez nicht definitiv entscheiden.279 Für Lukrez scheint es jedenfalls nicht so wichtig, woher die simulacra der Toten stammen. Entscheidend ist für ihn, dass es sich bei ihnen um irgendeine Art von Trugbildern handelt, die sich auf die eine oder andere Weise erklären lassen.280 Nach epikureischer Lehre existieren alle simulacra physisch außerhalb der Seele, die aus sich selbst keine völlig neuen Bilder hervorbringen kann. In dieser Hinsicht gleichen unsere Vorstellungen und teilweise auch unser Denken eher der Sinneswahrnehmung. Doch unser animus ist nicht ausschließlich rezeptiv, er kann die präexistenten simulacra kombinieren, woraus die fünfte und wichtigste Gattung der Trugbilder resultiert, die alle anderen inkludiert. Der Mechanismus der Vorstellungskraft wird von Lukrez anhand des Traums skizziert. Schon Demokrit führte die Traumerscheinungen auf εἴδωλα zurück. Er behauptete laut Plutarch, dass (DK 68 A 77): »[…] ἐγκαταβυσσοῦσθαι τὰ εἴδωλα διὰ τῶν πόρων ει᾿ς τὰ σώματα καὶ ποιεῖν τὰς κατὰ τὸν ὕπνον ὄψεις ἐπαναφερόμενα […] ([…] die 279 Eine Analyse dieser Textstelle in: Schiesaro, Simulacrum et imago, S. 94–97. Schiesaro bezweifelt allerdings, ob Cicero die epikureische simulacra-Lehre korrekt darstellte. 280 Diese Haltung ähnelt derjenigen gegenüber den Himmelsphänomenen, die von den Epikureern nicht durch eine, sondern zahlreiche alternative Theorien erklärt werden. Alle Theorien tragen, solange sie nicht widerlegt werden, gleichermaßen dazu bei, unsere Seele zu beruhigen: Vgl. R. J. Hankinson, »Lucretius, Epicurus, and the Logic of Multiple Explanations«, in: Lucretius: Poetry, Philosophy, Science, S. 69–99.
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Ähnlichkeitsbilder durch die Poren tief in die Körper eindringen und, indem sie wieder emporsteigen, die Traumgesichter erzeugen […])« und, dass sie (ebd.) »[…] ὥσπερ ἔμψυχα φράζειν καὶ διαγγέλλειν τοῖς ὑποδεχομένοις τὰς τῶν μεθιέντων αὐτὰ δόξας καὶ διαλογισμοὺς καὶ ὁρμάς […] ([…] wie beseelte Wesen sprechen und ihren Empfängern [den Träumenden] die Meinungen, Gespräche und Bestrebungen derer mitteilen, die sie ausgesandt hatten […]).« Damit rationalisiert Demokrit die homerischen Traumerscheinungen.281 Die Epikureer griffen diese Theorie auf, gingen jedoch einen Schritt weiter, indem sie im Unterschied zu Demokrit darauf beharren, dass die Traumbilder bloße Trugbilder sind. Auch Lukrez erklärt dies gleich zu Beginn seiner Traumtheorie, wobei die Totenerscheinungen erneut in den Vordergrund treten (4.757–767): Nec ratione alia, cum somnus membra profudit, mens animi vigilat, nisi quod simulacra lacessunt haec eadem nostros animos quae cum vigilamus, usque adeo, certe ut videamur cernere eum quem relicta vita iam mors et terra potitast. hoc ideo fieri cogit natura, quod omnes corporis offecti sensus per membra quiescent nec possunt falsum veris convincere rebus. praeterea meminisse iacet languetque sopore nec dissentit eum mortis letique potitum iam pridem, quem mens vivom se cernere credit. Aus keinem anderen Grund wacht, wenn der Schlaf unsere Glieder durchdringt, das Denken unserer Seele, wenn nicht deshalb, weil dieselben Bilder unsere Geister erregen, wie wenn wir wachen, bis zu einem solchen Grad, dass wir den mit Sicherheit zu erblicken scheinen, von dem, nachdem ihn das Leben verließ, Tod und Erde längst Besitz ergriffen. Dass dies geschieht, erzwingt die Natur, weil alle Sinne des Körpers versperrt in unseren Gliedern ruhen und das Falsche nicht durch wahre Dinge widerlegen können. Außerdem ist die Erinnerung inaktiv und vom tiefen Schlaf ermattet und widerstreitet nicht, dass der längst im Besitz des Todes und der Vernichtung ist, den unser Geist lebendig zu erblicken glaubt.
Auch im Schlaf dringen die simulacra durch unsere Poren ein und erregen unseren animus (= mens). Weil unsere Sinne und unsere Erinnerung ruhen, können sie die Traumerscheinungen nicht widerlegen und deshalb glauben wir, die Toten zu erblicken. Die simulacra schwirren durch die Luft und, da sie sich schneller als Licht bewegen, sind sie in jedem sinnlich wahrnehmbaren und vorstellbaren 281 Demokrit wendet die Theorie der εἴδωλα hauptsächlich auf parapsychologische Phänomene an, wohingegen er laut Theophrast in seiner Sinnesphysiologie die Auffassung vertritt, dass wir Dinge nicht aufgrund ihrer εἴδωλα, sondern mittels ihrer Abdrücke in der Luft sehen können. Zu diesen widerstreitenden Theorien: Walter Burkert, »Air-Imprints or Eidola: Democritus’ Aitiology of Vision«, in: Illinois Classical Studies, 2 (Jän. 1977), S. 97–109, insb. S. 108.
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Augenblick simultan an jedem beliebigen Ort präsent (4.775f). Aus der Fülle (copia) von Bildern wählt unser Geist bestimmte aus und verdichtet sie, wobei er sie schneller montiert als wir sie uns vorstellen können, wodurch die einzelnen simulacra durch eine Art kinematografischen Effekt in unserer Vorstellung zu flüssigen Bewegungsabläufen verschmelzen (4.788–801).282 Diese Traum- bzw. Vorstellungsmontagen werden einerseits von unserem Begehren (libido) gesteuert (4.779f), andererseits durch unsere Tagesaktivitäten vorgeprägt: Die Bahnen des Geistes bzw. die Poren des Körpers stehen nämlich bei Menschen und Tieren im Schlaf eher für solche Bilder offen, denen sie bereits untertags begegneten (4.962–1019).283 Durch diese Theorie erklärt Lukrez schließlich die Traumerscheinungen und die Erscheinungen von Toten, die ihn seit der Ennius-Passage beunruhigen. Zugleich entwirft er aber eine allgemeine Theorie der visuellen Vorstellung, die sich auch auf die poetische Vorstellungskraft beziehen lässt. Denn Lukrez verknüpft seine Traumtheorie lose mit seiner Sprachtheorie (4.794–799): […] quia tempore in uno, cum sentimus, id est, cum vox emittitur una, tempora multa latent, ratio quae comperit esse, propterea fit uti quovis in tempore quaequae praesto sint simulacra locis in quisque parata. {tantast mobilitas et rerum copia tanta […]} […] Weil in einem Zeitpunkt, den wir [sinnlich] wahrnehmen, d. h. wenn ein Wortlaut entsandt wird, viele Zeitpunkte verborgen sind, die unser Verstand deutlich als vorhanden erfasst, deshalb geschieht es, dass in jedem beliebigen [sinnlich erfassbaren] Zeitpunkt [alle] Vorstellungsbilder an jedem Ort gegenwärtig vorhanden sind. {So groß ist die Geschwindigkeit, die Fülle der Dinge so groß […]}
Alle vorstellbaren simulacra sind zu jedem sinnlich fassbaren Moment kopräsent, wobei Lukrez die Dauer dieses Moments durch diejenige der Äußerung eines Wortlauts (vox) bestimmt. Damit scheint er anzudeuten, dass unsere ratio, wenn wir ein Wort hören, gleichzeitig ein passendes simulacrum aus der Simultanität aller simulacra auswählt.284 Nicht nur Ennius’ literarischer Traum, alle sprachlichen Äußerungen und die gesamte Literatur können somit auf indirektem Weg eine traumähnliche Montage von simulacra hervorrufen. Auch Lukrez arbeitet, wie erwähnt, noch im Traum an seinem Gedicht weiter, womit er
282 Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 3, S. 1274. 283 Eine ausführliche Rekonstruktion der physiologischen Traumtheorie der Epikureer in: Voula Tsouna, »Epicurean Dreams«, in: Elenchos, 39, Nr. 2 (2018), S. 231–256, insb. 232–239. Zu Lukrez’ Schilderungen der Tagesreste-Träume: Petrus Hermanus Schrijvers, »Die Traumtheorie des Lukrez«, in: Mnemosyne, 33, Nr. 2/3 (1980), S. 128–151, insb. S. 143–147. 284 Vgl. Holmes, »Daedala Lingua«, S. 552f.
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sich indirekt auf die Ennius-Passage bezieht.285 Während Ennius jedoch eine dunkle und schattenhafte Montage von Trugbildern herstellt, bastelt Lukrez in seinen noctes serenae an einer bewegten Abfolge von simulacra der wahren natura rerum.
5.
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Mit seiner Epistemologie kündigt Lukrez in der Ennius-Passage zugleich seine Psychologie an. Ennius dient ihm als Kontrastfolie, vor deren Hintergrund er im dritten Buch seine eigene Lehre der natura animai entwerfen wird. Wenn Lukrez berichtet, dass Ennius bzw. Homer lehren, dass sich die anima auf göttliche Weise in Tierkörper einschleicht – divinitus insinuare –, dann verschweigt er eine entscheidende Pointe des Proömiums der Annales: Homer lehrte nämlich Ennius nicht nur die Metempsychose im Allgemeinen, sondern im Besonderen, dass seine (Homers) anima, nachdem sie lange in einem Pfau lebte, in Ennius schlüpfte.286 Das simulacrum Homers erklärt in den Annales paradoxerweise, dass Ennius selbst Homer ist, womit die Erzählerstimme der Annales mit derjenigen einer ihrer Protagonisten verschmilzt. Obwohl Lukrez dieses Detail ausblendet, schwingt es in seiner Kritik der Metempsychose mit. Das Paradox von Ennius’ Verwandlung wurde in der Antike oft kommentiert und parodiert, u. a. in folgenden rätselhaften Versen des Satirikers Persius (sat. 6.9–11): »Lunai portum, est operae, cognoscite, cives. | cor iubet hoc Enni, postquam destertuit esse | Maeonides, Quintus pavone e Pythagoreo (›Lernt den Mondhafen kennen – es ist nötig – Bürger‹; dies befahl das Herz des Ennius, nachdem er schnarchte [träumte], dass er der Mäonier sei, Quintus aus dem pythagoreischen Pfau).« Persius ist wie Heraklit für seine obscuritas bekannt und der erste Teil der Verse lässt sich kaum erhellen: Nachdem Ennius aus seinem Traum erwachte, forderte er seine Mitbürger scheinbar dazu auf, einen gewissen Mondhafen (Lunai portus) aufzusuchen, worunter entweder ein historischer Hafenort oder aber der Hades zu verstehen ist, der von manchen Pythagoreern am Mond verortet wurde.287 Ennius’ Ausruf, »Lunai portum, est operae, cognoscite, cives«, wird manchmal sogar als ein weiteres Fragment aus dem 285 So auch: Schrijvers, »Die Traumtheorie des Lukrez«, S. 141f. 286 Eine poetologische Lektüre von Lukrez’ Lehre der simulacra wurde neuerdings auch von Hock vorgeschlagen: Jessie Hock, The Erotics of Materialism. Lucretius and Early Modern Poetics, Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2021, insb. S. 15ff. 287 Diese zweite ungewöhnliche Interpretation wurde von Kerényi vorgeschlagen: Karl Kerényi, Pythagoras und Orpheus. Präludien zu einer zukünftigen Geschichte der Orphik und des Pythagoreismus, Zürich: Rhein-Verlag, 1950, S. 86f.
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Proömium der Annales gewertet (ann. 1 Fr. 15 Vahl.), wohingegen es die meisten neueren Editoren zu den nichtzuordenbaren Fragmenten der Annales rechnen oder es einem anderen Werk Ennius’ zuschreiben.288 Doch egal wie wir dieses Fragment einordnen, sein Kontext bleibt obskur. Der zweite Teil des Persius-Zitats lässt sich hingegen rekonstruieren: Ennius sagt im Schlaf – und zwar schnarchend (destertere) –289 dass er, Quintus Ennius, der Mäonier Homer geworden sei, wobei Maeonides (der Lydier) eine gängige Metonymie für den griechischen Dichter ist. Ennius verwandelt sich auf wundersame Weise aus einem pythagoreischen Pfau (pavus Pythagoreus) in Homer. Ein anonymer Persius-Kommentator erklärt dies so: »[…] Ennius ait in Annalium suorum principio, ubi dicit se vidisse in somnis Homerum dicentem fuisse quondam pavonem et ex eo translatum in se animam esse secundum Pythagorae philosophi definitionem ([…] Ennius spricht zu Beginn seiner Annales, wo er sagt, dass er im Traum Homer erblickte, der [ihm] erklärt, dass er [Homer] einst ein gewisser Pfau war und seine Seele aus diesem in ihn [Ennius] gemäß der Lehre des Philosophen Pythagoras überführt [übersetzt] wurde).«290 Wir finden hier einen komplexen Übersetzungsprozess, einen zwischenseelischen Transfer (transferre): Nachdem Homer gestorben ist, geht seine anima nach dem Gesetz der pythagoreischen Metempsychose in einen Pfau ein, um schließlich auf Ennius überzugehen, der dadurch, wie Persius schreibt, zum Maeonides-Quintus, d. h. zum Homer-Ennius wird. Ennius präsentierte sich am Beginn seiner Annales nicht als bloßer Nachahmer, sondern als Wiedergeburt Homers.291 Darum nennt Horaz Ennius später scherzhaft einen ›andersartigen‹ oder ›zweiten Homer‹ (alter Homerus) (epist. 2.1.50). Ennius erklärt also seine eigene literarische Fortführung der homerischen Epik292 durch eine Art Seelen-Übersetzung. Dies erinnert an spätere Auffassungen der Übersetzung als Metempsychose,293 wie wir sie u. a. noch bei dem 288 Zur Geschichte des Fragments: Werner Suerbaum, »Ennius und der Portus Lunae. Zu einem übersehenen Zeugnis für das Annales-Proömium im Schol. Ad Pers. 1.6«, in: Mnemosyne, 18, Nr. 3 (1965), S. 337–352. 289 Wie Bettini argumentiert, meint destertere nicht ›aufwachen‹, ›aufhören zu schnarchen‹, sondern ›schnarchen‹. Ennius spricht also im Schlaf, nicht nach dem Erwachen: Maurizio Bettini, Studi e note su Ennio, Pisa: Giardini editori, 1979, S. 119–121. 290 Zit. in: Skutsch, The Annals of Ennius, S. 152. 291 So Skutsch: »[…] he [Ennius] may have seen in the migration of souls […] a symbol of his conviction that the creation of a Roman epic was not imitation but a new birth.« Skutsch, The Annals of Ennius, S. 148. 292 Vgl. J. K. Newmann, »Memini Me Fiere Pavom. Ennius and the Quality of Roman Aesthetic Imagination«, in: Illinois Classical Studies, 1, Nr. 8 (Okt. 1983), S. 173–193, insb. S. 175. Zu Ennius’ stilistisch-literarischer Anknüpfung an Homer: Peter Aicher, »Ennius’ Dream of Homer«, in: The American Journal of Philology, 110, Nr. 2 (1989), S. 227–232. 293 Das Konzept der Metempsychose erlebte v. a. ab dem 18. Jh. ein Revival und lebt seither in modernen Poetiken fort: Vgl. Martin Hense/Jutta Müller-Damm, »Poetik der Seelenwan-
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deutschen Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff finden, der im Vorwort zu einer seiner Euripides-Übersetzungen schreibt: »[…] der geist des dichters muss über uns kommen und mit unseren worten reden […] das kleid muss neu werden, sein inhalt bleiben, jede rechte übersetzung ist travestie. Noch schärfer gesprochen, es bleibt die seele, aber sie wechselt den leib: die wahre übersetzung ist metempsychose [sic].«294 Der Text/Körper ist der auswechselbare Signifikant, wohingegen die Bedeutung/Seele das bleibende Signifikat ist, das in eine andere Sprache und Zeit migrieren kann. Wenn Ennius Stücke von Euripides – z. B. die Iphigenie in Aulis – und von anderen griechischen Autoren (Aischylos, Sophokles, Epicharmos, Euhemeros, Archestratos usw.) übersetzte, handelt es sich allerdings nicht um Übersetzungen im modernen Sinn. Noch weniger gilt dies für die Annales, für die es ja gar kein ›Original‹ gibt. Dennoch finden wir in ihnen eine verwandte Ideologie wie bei modernen Theoretikern der Übersetzung: So wie Wilamowitz die deutsche Kultur als Wiedergeburt des Griechentums begreift,295 begreift Ennius die Erneuerung der römischen Dichtung als Wiedergeburt – Renaissance – der homerischen Epik in einem neuen Kleid. Deshalb überkommt ihn der Geist Homers und spricht wie selbstverständlich in lateinischen Worten zu ihm. Die Metempsychose verwandelt die Annales somit in eine Übersetzung im weitesten Sinn.296 Der pavus Pythagoreus bildet in der wunderlichen Genealogie Homer-PfauEnnius das entscheidende Bindeglied zwischen der griechischen und römischen Kultur und Dichtung. Doch warum wählt Ennius ausgerechnet dieses exotische Tier? Eine naheliegende Erklärung wäre, dass der Pfau in der Antike mit der Insel Samos assoziiert wurde, die der Geburtsort des Pythagoras war. Wahrscheinlich wurde der Pfau, der damals als äußerst kostbares Gut galt (die Pfauenzucht war ein lukratives Geschäft), erstmals über Samos aus Kleinasien nach Europa importiert. Jedenfalls wurden Pfaue auf dieser Insel in einem Heiligtum der Hera als heilige Tiere gehalten, weshalb sich auf samischen Münzen auch Darstellungen der Vögel finden.297 Der Pfau kann in diesem Kontext als ein Symbol eines kulturellen Transfers ex oriente gelesen werden. Er verbindet Orient und Okzident wie Pythagoras, der von Samos nach Unteritalien übersiedelt, Aeneas, der
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derung. Zur Einführung«, in: Poetik der Seelenwanderung, hg. v. Martin Hense, Freiburg u. a.: Rombach, 2014, S. 7–29. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, »Was ist übersetzen?«, in: Euripides, Hippolytos, hg. u. übs. v. dems., Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1891, S. 1–22, hier S. 6f. Wilamowitz-Moellendorff, »Was ist übersetzen?«, S. 3f. Hierzu: McElduff, Roman Theories of Translation, S. 55–58. Vgl. August Steier, »Pfau«, in: Paulys Real-Encyclopädie, Bd. XIX, 2, Sp. 1414–1421. Laut Friedrich wählte Ennius den Pfau, weil andere poetische Vögel – die Nachtigall oder der Schwan – bereits von anderen Dichtern und Heroen besetzt wurden: Friedrich, »EnniusErklärungen«, S. 280. Diese Erklärung ist jedoch unbefriedigend, da sie Geschichte und Symbolik des Pfaus marginalisiert.
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aus dem brennenden Troja nach Italien flieht, und Homer, der schließlich in Gestalt des Ennius aus Kleinasien (Mäonien) nach Rom kommt. Der pavus Pythagoreus öffnet eine ganze Serie von Metonymien (Pfau-Samos-PythagorasMetempsychose-Homer-Ennius), die eine Verbindung zwischen Homer, Pythagoras und Ennius herstellt. Diese kann wiederum durch eine weitere Metempsychose erklärt werden, da einer antiken Sage zufolge Pythagoras selbst als eine Wiedergeburt des trojanischen Helden Euphorbos galt, womit der griechische Philosoph direkt mit den homerischen Epen verbunden wird.298 Vielleicht wurden die Doppelgänger Euphorbos-Pythagoras und Homer-Ennius auch in den Annales durch die Seelenwanderung verknüpft. Das berichten zumindest spätere Scholiasten, z. B. ein Statius-Kommentator, der berichtet: »Primo enim anima ipsius in Euphorbum migrasse dicitur […], secundo in Pythagoram, tertio in pavonem, quarto in Homerum, quinto in Ennium poetam (Es wird gesagt, dass die Seele desselben erstens in Euphorbos wanderte, zweitens in Pythagoras, drittens in den Pfau, viertens in Homer und fünftens in den Dichter Ennius).«299 Der Witz der Wanderung (migrare) liegt darin, dass Quintus Ennius als quintus, ›fünfter‹, aufgezählt wird. Der Name wird wieder zum Zahlwort. Welche Reihenfolge auch immer Ennius selbst in seinen Annales wählte, die indirekte Überlieferung legt nahe, dass die Pfau-Episode nur ein Moment einer längeren Kette von Migrationen ist, welche die mythische Vergangenheit mit der historischen Gegenwart durch eine Reihe von Metempsychosen verbindet, die von verschiedenen Metonymien gesteuert wird. Homers Verwandlung ist ein Rätsel, das selbst wie der Pfauenschweif schillert, über den Lukrez schreibt (2.806f): »caudaque pavonis, largo cum luce repleta est, | consimili mutat ratione obversa colores […] (Und der Schweif des Pfaus, wenn er von reichem Licht erfüllt wird, wechselt auf ähnliche Weise, sobald er gedreht wird, die Farben).« Je nachdem, aus welchem Blickwinkel wir den pavus Pythagoreus betrachten, erscheint er in einem neuen Licht. Der Kirchenschriftsteller Tertullian, der wie Lukrez die Lehre von der Seelenwanderung bestreitet, eröffnet eine interessante Perspektive. Im Kontext seiner Polemik gegen die heidnische Metempsychose kommentiert er in seiner Schrift De anima (Über die Seele) Ennius’ Pfauen-Episode folgendermaßen: »Pavum se meminit Homerus Ennio somniante; sed poetis nec vigilantibus credam. Et si pulcherrimus pavuus et quo velit colore cultissimus, sed tacent 298 Über die legendäre Beziehung zwischen Euphorbos und Pythagoras: Erwin Rhode, Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, Tübingen/Leipzig: Paul Siebeck, 1908, Bd. 2, S. 417–421. Siehe auch: Burkert, Weisheit und Wissenschaft, S. 114–7. Skutsch spekuliert, dass Euphorbos und Pythagoras in der pythagoreischen Tradition durch einen Pfau verbunden wurden: Otto Skutsch, »Notes on Metempsychosis«, in: Classical Philology, 54, Nr. 2 (Apr. 1959), S. 114–116. 299 Zit. in: Skutsch, The Annals of Ennius, S. 153.
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pennae, sed dispilicet vox, et poetae nihil aliud quam cantare malunt. Damnatus est igitur Homerus in pavum, non honoratus (Homer erinnerte sich, ein Pfau gewesen zu sein, während Ennius träumte; aber ich möchte den Dichtern nicht einmal glauben, wenn sie wachen. Wenn auch der Pfau sehr schön ist, weshalb er auch wegen seiner Farbe besonders verehrt werden möchte, so schweigt doch sein Gefieder und missfällt seine Stimme, und die Dichter wollen ja nichts lieber als Singen. Verdammt wurde also Homer in einen Pfau, nicht [durch seine Verwandlung] geehrt).«300 Tertullian sucht nach Ähnlichkeiten zwischen dem Dichter und dem Vogel und lenkt sein Augenmerk auf den prachtvollen Pfauenschweif. Er versteht den Pfau nicht als Teil einer metonymischen Kette, sondern als Metapher für die heidnische Dichtung. Hierbei bemerkt er eine Diskrepanz zwischen der schweigenden Farbenbracht des Gefieders und der hässlichen Stimme des Tieres. Da Homer wie alle Dichter am liebsten singt, muss seine Verwandlung in einen Pfau folglich eine Verdammung und keine Auszeichnung sein.301 Diese Feststellung ist für den christlichen Apologeten zugleich eine Verdammung der heidnischen Dichtung, die in seinen Augen zwar in einem prächtigen Kleid auftritt, jedoch keinen wahren Kern (die vox der christlichen Lehre) birgt.302 Deshalb traut er den Dichtern nicht einmal dann, wenn sie wachen, ganz zu schweigen davon, wenn sie wie Ennius schnarchen und träumen. Diese Kritik ähnelt entfernt derjenigen des Lukrez, der von Homer-Ennius die schillernde Sprache übernimmt, aber deren Inhalt – insbesondere die Metempsychose – vehement ablehnt. Freilich verfolgen Lukrez und Tertullian eine völlig andere Strategie: Tertullian lehnt die Metempsychose ab, um für die Wiederauferstehung des Fleisches mit der Seele zu argumentieren, wohingegen Lukrez die radikale Sterblichkeit der Seele vertritt. Dennoch treffen sich beide Kritiker in dem Punkt, dass sie die Verwandlung in Tierkörper als Strafe sehen. So ist die Vorstellung der animalischen Metempsychose auch bei Lukrez mit der Furcht vor den ewigen Strafen (aeternae poenae) nach dem Tod assoziiert. Ennius’ Traum verwandelt sich aus zwei völlig konträren Perspektiven in einen Alptraum. 300 Zit. in: Ebd., S. 152. 301 Ähnlich McElduff, derzufolge der Pfau ein sprachloses Stadium ist, das Ennius durch seine ›Übersetzung‹ überwinden will: »However, despite the peacock’s understanding of praise, it cannot speak: thus, although the peacock provides a brilliant display for those who admire and praise it (not unlike poets), Homer’s soul can only speak once more via Ennius. It has been trapped in the worst of all possible vessel for a poet, a vessel that can only scream in incoherent and unpleasing language. Only when Homer is translated into Ennius, when his Greek voice is translated into a Roman one, when his Greek meter is translated to Rome, can he speak once more.« McElduff, Roman Theories of Translation, S. 57. 302 Hierzu der Kommentar von Erasmo: »Tertullian’s interests lie in the condemnation of human vanity, expressed through mythological metamorphoses, yet in doubting the veracity of poets, he condemns the peacock metaphor since it represents a contrast between form and content.« Mario Erasmo, »Birds of a Feather? Ennius and Horace, Odes 2.10«, in: Latomus, 65, Nr. 2 (2006), S. 369–377, hier S. 371.
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Lukrez greift die Vorstellung vom insinuare der anima in beliebige Körper wiederholt an. So etwa, wenn er im dritten Buch bestreitet, dass wir uns an frühere Leben erinnern (meminisse) können (3.670–678): Praeterea si immortalis natura animai constat et in corpus nascentibus insinuatur, cur super anteactam aetatem meminisse nequimus {…} nec vestigia gestarum rerum ulla tenemus? Nam si tanto operest animi mutata potestas, omnis ut actarum exciderit retinentia rerum, non, ut opinior, id ab leto iam longiter errat; quapropter fateare necessest qua fuit ante interiisse et quae nunc est nunc esse creatam. Außerdem, wenn die Natur der Seele unsterblich besteht und sich, während wir geboren werden, in den Körper einschleicht, warum können wir uns dann nicht der zuvor verbrachten Zeit erinnern {…} und keine Spuren unserer bereits begangenen Taten festhalten? Denn wenn es nötig ist, dass sich die Macht unseres Geistes so sehr verwandelt hat, dass jedes Behalten der getanen Dinge verschwand, was, so glaube ich, nicht wirklich weit vom Tod abirrt; deshalb muss man gestehen, dass das, was vorher war, zugrunde ging und das, was jetzt ist, jetzt erschaffen wurde.
Die natura animai ist weder unsterblich noch schleicht sie sich in Körper ein. Wir können uns nämlich nicht wie Homer oder Ennius an vorherige Leben erinnern – schon gar nicht im Traum, in dem ja nach Lukrez, wie zitiert, die Erinnerung ruht. Deshalb muss unser animus derart verwandelt (mutatus) sein, dass sein Vergessen dem Tod gleichkommt, oder, er muss sterblich und mit unserer Geburt erschaffen worden sein.303 Lukrez führt für die letzte Option zahlreiche Argumente an: Unsere anima ist so sehr mit unserem corpus verbunden, dass diese sich nicht von außen in jenen einschleichen kann (extrinsecus insinuare) (3.89 u. 3.698). Seele und Geist leben nicht wie in einem Käfig im Körper, denn ihre Verknüpfung ist so eng, dass beide mit ihrer Auflösung sterben (3.679–685). Weiter bilden sich, wenn ein organischer Körper verwest, in ihm plötzlich zahllose Würmer und Maden. Nun kann es nicht sein, dass Tausende von Tierseelen, gleichzeitig von außen in den Kadaver einziehen (extrinsecus insinuare) (3.722). Eher geschieht es, dass sich die Seelen der Würmer von Resten der anima abspalten, die gerade starb (3.711–729). Warum sollten Menschenseelen in Tierkörper oder Tierseelen in Menschenkörper ziehen? Weshalb sollten alte und weise Seelen in junge und unwissende Körper schlüpfen (3.760–767)? Nicht zuletzt wäre es lächerlich, wenn die Seelen bei der Paarung aller Wesen zuschauen, damit sie rechtzeitig in die befruchteten Körperteile eindringen (insinuare) 303 Dieses Argument richtet sich wohl gegen Platon und die Pythagoreer: Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 1105.
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können, und absurd, wenn sich unsterbliche Seelen darum streiten, welche von ihnen als erste in einen sterblichen Körper eingehen (insinuare) darf (3.776–784). Warum gibt sich Unsterbliches mit Sterblichen ab (6.800–805)? Mit diesen und weiteren Argumenten polemisiert Lukrez gegen die Unsterblichkeit der Seele.304 Auffallend oft benutzt er dabei das Verb insinuare, mit dem er bereits in der Ennius-Passage die Lehre der Metempsychose charakterisiert, wenn er sich fragt, ob die Seele (1.113–116) »[…] nata sit an contra nascentibus insinuetur | […] an pecudes alias divinitus insinuet se […] ([…] geboren wurde oder im Gegenteil in Geborene eindringt […] oder auf göttliche Weise in andere Tiere eindringt […]).«305 Mit dem Adverb divinitus, ›auf göttliche Weise‹, greift Lukrez einen Ausdruck von Ennius selbst auf, der, wie bereits zitiert, Homer folgende Worte in den Mund legt (ann. 1 Fr. 10 Fl.): »Ova parire solet genus pennis condecoratum, | non animam, {et} post inde venit divinitus pullis | ipsa anima … (Die Eier pflegt das federgeschmückte Geschlecht zu gebären, nicht die Seele; und erst später schlüpft auf göttliche Weise in die Küken die Seele selbst …).«306 Während nach Ennius das Lebensprinzip der anima von außen in die Körper kommt, gehen das Leben und die Empfindung laut Lukrez aus empfindungsloser Materie hervor (2.926–930): »[…] quatenus in pullos animalis vertier ova | cernimus alituum vermisque effervere terra | intempestivos quam putor cepit ob imbris | scire licet gigni posse ex non sensibus sensus ([…] insofern wir sehen, dass in beseelte Küken Eier von Vögeln verwandelt werden und Würmer aus der Erde hervorkochen, welche die Fäulnis nach unzeitigen Regengüssen erfasste, können wir wissen, dass die Empfindung aus Nicht-Empfindung [den unbeseelten Atomen] geboren werden kann).« Vogeleier, aber auch der Schlamm der Erde können sich durch spontane Zeugung in lebendige Wesen verwandeln (vertere).307 Das insinuare wird vom Verb vertere ersetzt, einem unaufhörlichen ›Werden‹ und einer materiellen ›Umwandlung‹, die, wie wir im letzten Kapitel sehen werden, nach lukrezischer Auffassung den gesamten Kosmos durchwaltet. Wir müssen dieses Werden (vertere) aber ohne Intervention der Götter oder göttliche Gesetze verstehen. Denn so lautet das erste und wichtigste Grundprinzip der epikureischen Ontologie nach Lukrez (1.150): »[…] nullam rem e 304 Bailey zählt bei Lukrez bis zu 29 Argumente gegen die Unsterblichkeit der Seele: a. a. O., S. 1064. Die Abgrenzung einzelner Argumente fällt aber nicht immer leicht, da sie teilweise nahtlos ineinander übergehen. 305 Vgl. Gigon, »Lukrez und Ennius«, S. 179f. 306 Auch in einem der wenigen überlieferten Fragmente von Epicharmus gibt es einen Bezug auf Vögel: Skutsch, The Annals of Ennius, S. 162. 307 Zu Lukrez’ Konzept der generatio spontanea: Petrus Hermanus Schrijvers, »La pensée de Lucrèce sur l’origine de la vie (De rerum natura V 780–820)«, in: Mnemosyne, 27, Nr. 3 (1974), S. 245–261, insb. S. 250f.
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nihilo gigni divinitus umquam ([…] kein Ding wird jemals aus dem Nichts geboren auf göttliche Weise).« Dieses Prinzip findet sich bereits in der vorsokratischen Philosophie und wurde erstmals von Empedokles formuliert (DK 31 B 12): »ἔκ τε γὰρ οὐδάμ’ ἐόντος ἀμήχανόν ἐστι γενέσθαι […] (Es ist nämlich unmöglich, dass aus Nicht-Seiendem [etwas] geboren wird […]).« Epikur formuliert es etwas noch knapper (Her. 38): »[…] ὅτι οὐδὲν γίνεται ἐκ τοῦ μὴ ὄντος […] ([…] dass nichts aus dem Nicht-Seienden geboren wird […]).«308 Bezeichnenderweise tritt bei Lukrez das Adverb divinitus hinzu, gegen das er sich immer wieder wendet (2.180f): »[…] nequaquam nobis divinitus esse creatam | naturam mundi […] ([…] keineswegs wurde die Natur der Welt für uns auf göttliche Weise geschaffen […]).« Und (5.198f): »[…] nequaquam nobis divinitus esse paratam | naturam rerum […] ([…] keineswegs wurde die Natur der Dinge für uns auf göttliche Weise bereitet […]).« Das Adverb taucht jedoch bei Lukrez auch in einem positiven Kontext auf. Wie wir im ersten Kapitel erfahren haben, schreibt er, dass Empedokles viele Dinge divinitus entdeckte (1.736). Außerdem behauptet er, dass Epikur divinitus über das Wesen der Götter sprach (5.52). Epikur ist göttlich, weil er die Götter durch die natura rerum erklärt und nicht umgekehrt,309 und Empedokles, weil seine Sprache vorbildlich ist und er die natura rerum zumindest ansatzweise ohne Götter erklärte (Empedokles’ Aphrodite könnte man wie Lukrez’ Venus als Allegorie verstehen). Doch Empedokles ist sicherlich nicht göttlich, insofern er wie Ennius die Lehre der Seelenwanderung vertritt. Indem Lukrez das divinitus bereits im Grundprinzip seiner Ontologie implementiert, richtet er sich von Anfang an gegen falsche theologische Implikationen, v. a. jedoch gegen die Lehre der göttlichen Metempsychose, die unheilvolle Allianzen mit der religio eingeht.310 Lukrez’ fortlaufende Polemik gegen das divinitus insinuare und seine wiederholte Erwähnung animalischer Metempsychosen wenden sich explizit gegen das Proömium der Annales und implizit gegen den Mythos des pythagoreischen Pfaus: Ennius ist keine Wiedergeburt Homers und seine Annales sind keine seelische Übersetzung, die ihm Unsterblichkeit verleiht. Wenn die natura animai radikal sterblich ist und mit ihrem Körper zugrunde geht, dann kann sie nicht wie ein Signifikat beliebig ihren Signifikanten wechseln. Jede Verwandlung ist der kontinuierliche Tod dessen, was zuvor existierte, wie Lukrez in folgender Formel unermüdlich wiederholen wird (1.670f, 1.792f, 2.753f, 3.519f): »[…] nam quodcumque suis mutatum finibus exit, | continuo hoc mors est illius quod fuit 308 Vgl. Clay, Lucretius and Epicurus, S. 111–115. 309 Vgl. Gale, Myth and Poetry in Lucretius, S. 197. 310 Ähnlich Clay: »As for divinitus, it is repeated from the proem and echoes Ennius, but there is nothing in Epicurus’ stocheiosis [elementary teaching] to suggest it immediately. Here Lucretius shows a perfect awareness of the antitheological implications of the most fundamental principle of Greek physics.« Clay, Lucretius and Epicurus, S. 113.
Natura animai: Übersetzbarkeit der Seele (gegen die Harmonie) (3.130–134)
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ante ([…] was nämlich auch immer verwandelt seine Grenzen verlässt, ist fortwährend der Tod dessen, was vorher war).«311 Dieses Prinzip lässt sich auch auf die Sprache übertragen: Wir können ein Zeichen aus einem Kontext in einen anderen und von einer Sprache in eine andere übersetzen, nicht, weil ihm eine zeitlose psychische Bedeutung (Seele) innewohnt, sondern, weil es sich auf dieselben Referenten (Körper), auf dieselbe natura rerum, beziehen kann.312 Wenn der Metempsychose eine psychologische Bedeutung zukommt, dann im Sinne einer Art Psychose, die alptraumhafte simulacra produziert, welche uns von der wahren natura rerum entfremden, indem sie diese verstellen. Die Metempsychose kann für Lukrez keine Übersetzung sein, viel eher ist sie ein Hindernis für seine eigene Übersetzung der Wirklichkeit.
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Natura animai: Übersetzbarkeit der Seele (gegen die Harmonie) (3.130–134)
Darum entwirft Lukrez seine eigene Psychologie als Bollwerk gegen die Metempsychose und gegen die Todesfurcht, die beide Quellen der religio, der Angst und der Laster sind. So erklärt er gegen Ende des dritten Proömiums, dass Habgier, blinde Ruhmsucht, Neid, Schadenfreude, Mord und Bürgerkriege allesamt einer irrationalen Todesfurcht entspringen. Aus Angst vor dem Ende raffen die Menschen nämlich Güter zusammen, übertreten die Gesetze, streben nach Macht, erhoffen eitlen Ruhm und bemächtigen sich ihrer Mitmenschen, um ihr eigenes Leben möglichst intensiv zu gestalten.313 Ihr ganzes Leben spielt sich bangend vor den Toren des Todes ab (3.59–78). Dabei verkehrt sich ihre Lebensgier oftmals in einen regelrechten Lebenshass (odium vitae), der bis zum Selbstmord führen kann (3.79–86):
311 Die territoriale Metaphorik dieser Formel erinnert an den terminus alte haerens: Vgl. Cabisius, »Social Metaphor and Atomic Cycle in Lucretius«, S. 112. 312 Hier stellt sich die Frage, ob die epikureische Semiotik wie die der Stoiker ein triadisches (Signifikant–Signifikat–Objekt) oder – wie Sextus Empiricus nahelegt – ein dyadisches Zeichenmodell (Signifikant–Objekt) propagierte. Die Frage lässt sich aufgrund der Quellenlage nicht eindeutig entscheiden. Wahrscheinlich spielte aber das epikureische Konzept der Vorbegriffe (προλήψσεις), die durch wiederholte Eindrücke von simulacra in unserem Geist enstehen, die Rolle des Signifikats: Vgl. Anthony A. Long, »Aisthesis, Prolepsis and Linguistic Theory in Epicurus«, in: Bulletin of the Institute of Classical Studies, 18 (1971), S. 114–133, insb. S. 120f. Jedenfalls stellten die Epikureer die Materialität der Zeichen bzw. Vorstellungsbilder in den Vordergrund, wohingegen die Stoiker die rein intelligible Dimension der Bedeutung unterstrichen. Hierzu: Franz, Von Gorgias bis Lukrez, S. 285f. 313 Vgl. Martha C. Nussbaum, »Mortal Immortals: Lucretius on Death and the Voice of Nature«, in: Philosophy and Phenomenological Research, 50, Nr. 2 (1989), S. 303–351, insb. S. 309f.
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et saepe usque adeo, mortis formidine, vitae percipit humanos odium lucisque videndae, ut sibi consciscant maerenti pectore letum, obliti fontem curarum hunc esse timorem, hunc vexare pudorem, hunc vincula amicitiai rumpere et in summa pietatem evertere fundo. nam iam saepe homines patriam carosque parentis prodiderunt, vitare Acherusia templa petentes. Und oftmals erfasst bis zu einem solchen Grad die Menschen aus Todesfurcht ein Hass auf das Leben und auf das Sehen des Lichts, dass sie selbst mit trauerndem Herzen den Tod wählen, vergessend, dass diese Furcht die Quelle ihrer Sorgen ist; dass dieser das Schamgefühl verletzt, jener die Bande der Freundschaft zerreißt und überhaupt die Moralempfindung von Grund auf umstürzt. Denn oft haben die Menschen schon ihre Heimat und ihre teure Verwandtschaft verraten, weil sie danach strebten, die Tempel des Acheron zu meiden.
Die Furcht vor den Acherusia templa macht jede Form der Moralempfindung (pietas) und Freundschaft (amicitia) unmöglich. Sie entfesselt einen Todestrieb, der nicht nur die sozialen Bindungen zerrüttet, sondern autodestruktiv ist. Angesichts dieser fatalen Folgen müssen wir die Furcht und die Schatten der Seele (terror animi tenebraeque) durch die richtige Betrachtung und Lehre der Natur (naturae species ratioque) zerschlagen, wie es in der Wiederholung des mehrfach zitierten ethischen Leitmotivs heißt, das, wie gezeigt, nicht nur das dritte Proömium beschließt. Gegen Ende des Buchs wird Lukrez diese Forderung in einer langatmigen philosophischen Predigt (Diatribe) gegen die Todesfurcht erfüllen,314 die ein Pedant zu seiner Diatribe gegen den Liebeswahn bildet, die das vierte Buch beenden wird.315 Um seiner Ethik eine Grundlage zu bieten, muss er im dritten Buch zunächst seine Theorie der natura animai entwickeln: Unsere Seele besteht aus animus und anima. Der animus oder die mens ist der Sitz der Emotionen und des Denkens. Er befindet sich im Herz und vermag unseren Körper zu regieren, weshalb ihn Lukrez auch mit einem Haupt vergleicht (3.138f).316 Dahingegen ist
314 Die Diatribe lässt sich als eine allegorische Reise in die Unterwelt lesen, womit Lukrez das Thema der Acherusia templa, das er bereits im Pröomium ankündigt, unter Rückgriff auf traditionelle philosophische (Platon) und epische Spekulationen (Homer) beschließt: Vgl. Reinhardt, »Readers in the Underworld«, insb. S. 32–38. 315 Über Lukrez’ therapeutischen und literarischen Umgang mit der Todesfurcht siehe: Charles Segal, Lucretius on Death and Anxiety. Poetry and Philosophy in De rerum natura, Princeton: Princeton University Press, 1990, insb. S. 11–25. 316 Andere Epikureer wie Demetrius verorten den animus im Gehirn. Lukrez scheint diese späteren Entwicklungen der epikureischen Schule zu ignorieren, weshalb ihn Sedley als Fundamentalisten bezeichnet: Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, S. 68–72. Die Verortung des Geistes im Herzen folgt einer langen Tradition, die auf Empedokles
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die anima über den ganzen Körper verstreut und für dessen vitale Funktion sowie für unsere Wahrnehmung verantwortlich (3.370–395). Animus und anima bilden eine Einheit, die von Lukrez meistens als anima und manchmal als animus bezeichnet wird. Diese terminologische Unterscheidung ist unscharf und wird nur dann konsequent durchgezogen, wenn sie für die Argumentation unerlässlich ist. Das gilt auch für Epikur, der die gesamte Seele ›Psyche‹ (ψυχή) nennt und sie nur dann, wenn terminologisch erforderlich, in einen rationalen (λογικόν μέρος = animus) und einen nicht-rationalen Seelenteil (ἄλογον μέρος = anima) unterteilt.317 Viele Details der epikureischen Psychologie lassen sich aufgrund der schlechten Quellenlage nicht rekonstruieren. Entscheidend ist, dass die Seele und ihre Teile körperlicher Natur sind (naturam animi atque animai corpoream esse) (3.161f). Ebenso stellt Epikur fest (Her. 63): »[…] ἡ ψυχὴ σῶμά λεπτομερές, παρ’ ὅλον τὸ ἄθροισμα παρεσπαρμένον, προσεμφερέστατον δὲ πνεύματι, θερμοῦ τινα κρᾶσιν ἔχοντι καὶ πῇ μὲν τούτῳ προσεμφερές, πῇ δὲ τούτῳ […] ([…] die Seele ist ein feinteiliger Körper, der im ganzen Verbund [des Körpers] verstreut ist, am ähnlichsten einem Lufthauch, der eine gewisse Beimischung von Wärme besitzt und bald diesem, bald jenem ähnlich ist […]).« Der Seelen-Körper ist untrennbar mit dem restlichen Körper verbunden, ohne den er nicht existieren kann. Lukrez wird diese Behauptung in unzähligen Argumenten gegen die Unsterblichkeit der Seele ausbauen, von denen wir oben einige wenige erwähnt haben. Die anima und v. a. der animus müssen aus äußerst feinen und runden Atomen bestehen, sonst könnte sich unser Geist nicht so rasch bewegen und Dinge vorstellen, noch ehe wir sie wahrnehmen (3.161–188). Wenn Epikur schreibt, dass die ganze Seele entweder einem Lufthauch (πνεῦμα) oder der Wärme (θερμός) ähnlich ist, dann führt Lukrez aus, dass sie aus Wind- bzw. Wärme- und Luftatomen besteht (3.231–237). Diese drei unterschiedlichen Naturen, aus denen sich die Seele zusammensetzt, sind für Zorn, Furcht und Seelenruhe verantwortlich und erklären je nach ihrer Vorherrschaft die unterschiedlichen affektiven Dispositionen von Menschen, aber auch von Tieren (3.288–306). Neben diesen affektiven Elementen gibt es aber einen besonders feinen vierten Seelenteil, der für die Reizempfindung (πάθη), die Beweglichkeit (εὐκινησία) und das Denken (διανόησις) der Seele zuständig ist (Her. 63). Dieser Teil, der nach Lukrez namenlos ist (nominis expers), besteht aus noch feineren Atomen, vermittelt zwischen anima und animus und bewirkt die Sinnesbewegung (sensiferus motus) (3.241–245).318 Wie dies genau funktioniert und wie sich zurückgeht und die auch bei Ennius eine wichtige Rolle spielt: Vgl. Emily Gowers, »The Cor of Ennius«, in: Ennius perennis, S. 17–37, insb. S. 20–22. 317 Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 1005f. 318 Vgl. Long/Sedley, The Hellenistic Philosophers, Bd. 1, S. 70–72.
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dieser vierte Seelenteil mit den anderen drei vermischt, wird weder bei Epikur noch bei Lukrez erklärt. Letzter nimmt die Armut seiner Muttersprache (patrii sermonis egestas), die er so oft beschwört, als Ausflucht, um sich vor einer Erklärung zu drücken (3.258–261).319 Im Zentrum der Seelenlehre stoßen wir schließlich an die Grenze der Sprache, die Lukrez bereits in der poetologischen Digression seines ersten Proömiums problematisierte. Das Geheimnis des Bewusstseins entzieht sich dem inlustrare, es bleibt ein dunkler Fleck. Lukrez grenzt seine Theorie der natura animai ausdrücklich von zwei konkurrierenden Theorien ab: Einerseits wendet er sich, wie rekonstruiert, gegen ein pythagoreisch-platonisches Modell einer unsterblichen Seele und der Metempsychose, wie wir sie bei Ennius finden. Andererseits wendet er sich aber von Anfang an gegen die Auffassung, dass die Seele kein Körperteil, sondern ein Körperzustand (habitus) sei, den die Griechen als Harmonie (ἁρμονία) bezeichneten (3.96–134). Die Theorie der psychischen ἁρμονία geht wahrscheinlich auf vorsokratische Philosophen zurück und wurde von Aristoxenos und Dikaiarchos, zwei Schüler des Aristoteles, aufgegriffen.320 Cicero berichtet (Tusc. 1.19): »ut multo ante veteres, proxime autem Aristoxenus, musicus idemque philosophus, ipsius corporis intentionem quandam, velut in cantu et fidibus quae ἁρμονία dicitur […] (So haben viel früher die alten [Philosophen behauptet], in näherer Zeit jedoch Aristoxenos, Musiker und zugleich Philosoph, dass [die Seele] eine gewisse Spannung des Körpers selbst [sei], wie beim Gesang und Lyraspiel, wo sie ἁρμονία genannt wird […]).«321 Genauso macht Lukrez in folgenden Versen auf den musikalischen Ursprung des Seele-Harmonie-Begriffs aufmerksam (3.130–134): Quapropter quoniam est animi natura reperta atque animae quasi pars hominis, redde harmoniai nomen, ad organicos alto delatum Heliconi, sive aliunde ipsi porro traxere et in illam transtulerunt, proprio quae tum res nomine egebat. Deshalb, weil die Natur des Geistes und der Seele gleichsam als Teil des Menschen entdeckt wurde, gibt den Namen ›Harmonie‹ zurück, der zu den Künstlern [Musikern] vom hohen Helikon herabgetragen oder von denselben von woanders hergeschleppt und auf jenes übertragen wurde, was damals den Eigennamen entbehrte.
319 Hierzu: Fögen, Patrii sermonis egestas, S. 67. 320 Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 1004f. 321 Möglicherweise stellt Cicero hier Aristoxenos nicht ganz korrekt dar und vermischt dessen Psychologie mit derjenigen Platons. Siehe: Anna Maria Laskowska, »The Aristoxinian Theory of Soul as Harmony«, in: Archiwum Historii Filozofii i Mys´li Społeczneij, 61 (2016), S. 287–295.
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Nicht erst Lukrez, bereits die griechischen Philosophen hatten in ihrer Erklärung der Seele mit einer Armut der alltäglichen Muttersprache (patrii sermonis egestas) zu kämpfen. Da es keinen eigentlichen Ausdruck (proprium nomen) für den Begriff der Seele als Körperzustand gab, benutzten sie den musikalischen Begriff der Harmonie, der zu den Künstlern (organici) vom Helikon heruntergebracht wurde (deferre) oder von den Künstlern von einem anderen beliebigen Ort hergezogen (trahere) wurde, um ihn auf eine namenlose Sache (res) zu übertragen (transferre). Wir finden hier einen doppelten Transfer, ein Hinabtragen, deferre, zwischen dem mythischen Helikon und dem allgemeinen Sprachgebrauch und eine Übertragung, ein transferre, zwischen eigentlichen und uneigentlichen Worten.322 Transferre, das eigentlich ein ›Hinüber-‹ oder ›Übertragen‹ eines physischen Objekts von einem in einen anderen Bereich meint, wurde von den Römern in einem übertragenen Sinn auch auf sprachliche Prozesse angewandt. Wie das deutsche ›Übersetzen‹, das englische ›translate‹, französische ›traduire‹, italienische ›tradurre‹ usw. ist es eine gängige räumliche Metapher für eine Übersetzung zwischen zwei Sprachen.323 Beispielsweise schreibt Cicero (Att. 6.2.3): »itaque istum ego locum totidem verbis a Dicaearcho transtuli (Daher habe ich jene [griechische] Textstelle gänzlich den Worten gemäß von Dikaiarchos übersetzt).« Cicero benutzt das Verb transferre aber nicht nur zur Bezeichnung der Übertragung einzelner Textstellen, sondern allgemein zur Beschreibung der Aufgabe der Übersetzung der Philosophie (Tusc. 2.5): »[…] hortor omnis, qui facere id possunt, ut huius quoque generis laudem iam languenti Graeciae eripiant et transferant in hanc urbem […] ([…] ich fordere alle auf, die das können, dass sie den Ruhm auch auf diesem Gebiet [der Philosophie] dem schon erschlafften Griechenland entreißen und es in diese Stadt [Rom] überführen […]).« Das ›Entreißen‹ (eripere) und ›Übertragen‹ (transferre) sind keine harmlosen Metaphern, wenn man bedenkt, dass Sulla einige Jahre zuvor bei seiner Eroberung Athens die Werke des Aristoteles stahl und nach Rom brachte, wo sie rezipiert wurden.324 Das lateinische Wort transferre ist weiter als die moderne ›Übersetzung‹ und umfasst die Bewegung von Worten, Ideen sowie materiellen Objekten. Das zeigt sich daran, dass die Römer, wie wir im letzten Kapitel ausführlich sehen werden, oftmals ein ›gemäß der Worte‹ (verbis oder ad verbum) hinzufügen müssen, um 322 Genau genommen handelt es sich bei diesem zweiten Transfer um eine Katachrese: Clay, »The Anatomy of Lucretian Metaphor«, S. 163. 323 Transducere, von dem sich ›traduire‹ und ›tradurre‹ ableiten, wurde jedoch von den Römern noch nicht für sprachliche Übersetzungen benutzt. Das Wort scheint sich ironischerweise selbst aufgrund einer Fehlübersetzung eines italienischen Humanisten in den modernen Sprachen etabliert zu haben: Vgl. Maurizio Bettini, Vertere, S. VIIf. 324 Zu diesem Raub: Hellmut Flashar, Aristoteles: Lehrer des Abendlandes, München: C. H. Beck, 2013, S. 64f.
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zu verdeutlichen, dass es sich um eine Übersetzung eines Textes handelt. Das Übersetzen wurde dabei von den Römern in literarischer Hinsicht nicht weniger originär als das Verfassen eigenständiger Werke angesehen. Der Terenz-Kommentator Donatus behauptet sogar: »[…] minus exstimans laudis propria scribere quam Graeca transferre ([…] er [Terenz] hielt es für weniger löblich, Eigenes zu schreiben als Griechisches zu übersetzen).«325 Wenn Terenz jedoch im Prolog der Andria schreibt (13f): »quae convenere in Andriam ex Perinthia | fatetur transtulisse atque usum pro suis (Was von der Perinthia in die Andria passte, das, gesteht er [Terenz], hat er übersetzt und für seine [Werke] gebraucht),« dann behauptet er nicht nur, dass er mit seiner vorliegenden Komödie die gleichnamige Andria sowie die Perinthia des griechischen Dichters Menander übersetzte, sondern, dass er teilweise die Struktur (das Drama) der zweiten auf die erste überträgt, wenn es ihm passend erscheint – eine Technik, die er auch als Verunreinigung (contaminari) bezeichnen wird. Das transferre bezieht sich hier weniger auf eine Übersetzung eines Texts als auf die eines Plots in einen anderen.326 Nicht zuletzt kann das Verb aber auch eine Übersetzung von Begriffen bezeichnen, z. B. bei Quintilian, der schreibt (inst. 12.10.34): »[…] quod res plurimae carent appellationibus, ut eas necesse sit transferre aut circumire […] ([…] dass viele Dinge der Bezeichnungen entbehren, warum es nötig ist, dass man sie überträgt oder umgeht [paraphrasiert] […]).« Das transferre ist nicht nur eine Metapher für das Übersetzen, es bezeichnet wie das griechische Wort ›Metapher‹ (μεταφορά) die Metapher selbst, wobei diese vom Verb ›hinüber-‹, ›übertragen‹ (μεταφέρειν) stammt, was dem lateinischen transferre entspricht.327 Deshalb übersetzten die Römer die Metapher, wie im vorherigen Kapitel gesagt, u. a. als translatio verbi, d. h. als ›Wort-Übersetzung‹. Wenn Lukrez in der zitierten Passage den metaphorischen Ursprung der harmonia (ἁρμονία) anspricht, dann benutzt er das transferre in diesem letztgenannten Sinn. Gleichzeitig beschreibt er aber einen räumlichen vertikalen Transfer (deferre) und thematisiert die griechisch-römische Übersetzung. Da für ihn das gesamte Konzept der Seelen-Harmonie falsch ist, unterbricht er alle drei Übertragungsprozesse.328 Denn er versucht gar nicht ein lateinisches Äquivalent oder eine weitere Metapher zu finden und transliteriert die griechische ἁρμονία, die Cicero u. a. als concentio übersetzen wird, einfach als harmonia, so wie er 325 Zit. in: Astrid Seele, Römische Übersetzer. Nöte, Freiheiten, Absichten. Verfahren des literarischen Übersetzens in der griechisch-römischen Antike, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1995, S. 85. 326 Vgl. Bettini, Vertere, S. 67–70. 327 Darauf macht auch Hardie aufmerksam: Hardie, Ovid’s Poetics of Illusion, S. 228. 328 Schon Epikur wendet sich in einem wenig bekannten Fragment gegen die Theorie der ἁρμονία: Vgl. H. B. Gottschalk, »Soul as Harmonia«, in: Phronesis, 16, Nr. 2 (1971), S. 179–198, hier S. 196f.
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durch das seltene Fremdwort organicos (= ὀργανικός), ›Künstler‹, die kulturelle Fremdheit der griechischen Musiker-Künstler unterstreicht. Hier zeigt sich eine Strategie, die bei Lukrez immer wieder auftaucht: Er weigert sich manchmal, griechische Begriffe zu übersetzen, die seiner Auffassung von der natura rerum widersprechen, wohingegen er alle Ausdrücke, die er übernimmt, grundlegend latinisiert. Die Übersetzbarkeit scheint für Lukrez nahezu ein notwendiges Kriterium für die wahre Lehre zu sein.329 So weist er in seiner Kritik des Anaxagoras dessen Begriff der ›Homoiomierie‹ (ὁμοιμέρεια) ab, d. h. die Vorstellung, dass alle Samen allen anderen Samen und den Dingen, die aus ihnen bestehen, ähnlich sind. Die ὁμοιμέρεια lässt sich zwar als homoeomeria transliterieren, aber aufgrund der patrii sermonis egestas nicht ins Lateinische übersetzen (1.830–844). Diese Unübersetzbarkeit ist für Lukrez kein Problem, da er die Sache selbst (ipsa res) darstellen und zurückweisen kann. Genauso übersetzt er den HarmonieBegriff nicht, umschreibt dessen Inhalt und schickt ihn an seinen autochthonen Ursprungsort, den griechischen Helikon, einfach zurück (reddere).330 Damit skizziert Lukrez einen ähnlichen Transfer, wie er ihn in seiner EnniusPassage schilderte. Ennius wird gelobt, weil er die Dichter-Krone (corona) vom Helikon nach Italien herabtrug, und kritisiert, weil er zugleich eine falsche Auffassung der natura animai importierte. Insofern sich Lukrez selbst an einem griechisch-römischen de- und transferre beteiligt und griechische Begriffe durch lateinische Metaphern bzw. Katachresen wiedergibt, schickt er falsche Begriffe und sinnlose Metaphern zurück, die unsere Seele nicht erhellen, sondern sie verdunkeln. Dadurch möchte er verhindern, dass sich in das römische Sprechen und Denken verkehrte Konzepte der natura animai einschleichen (insinuare), welche die pietas unterminieren und unseren Seelenfrieden (animi pax) stören.
329 Vgl. David Sedley, »Lucretius’ Use and Avoidance of Greek«, in: Proceedings of the British Academy, 93 (1999), S. 227–246, insb. S. 237f. Dies gilt nicht nur für die genuin philosophische Sprache, sondern auch für die Sprache der Verliebten, deren Gräzismen Lukrez in seiner Diatribe gegen den Liebeswahn kritisiert: Taylor, Lucretius and the Language of Nature, S. 165ff. 330 Hierzu Warren: »[…] Lucretius combines philosophical objections with a pronounced emphasis on the Greekness of the harmony theory. Not only does he claim that ›harmony‹ has no Latin equivalent, but also, in completing his dismissal of the view, Lucretius emphasizes its particular provenance. […] He even goes so far as to recommend repatriation: it should be returned to the home of the Muses on Greek Mount Helicon […].« James Warren, »Lucretius and Greek philosophy«, in: The Cambridge Companion to Lucretius, S. 19–32, hier S. 29.
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7.
Deferre
Deferre: Ennius und der Import der griechischen Musen
Unter Bezugnahme auf die Eröffnung der Annales und ihrer Rezeption erweist sich Ennius’ deferre als ein vielschichtiger Übersetzungsprozess, der, wie wir nun zusammenfassen können, unterschiedliche Ebenen umfasst: So umschreibt das Verb gleichzeitig eine geografische (Helikon – Rom), linguistische (griechische – römische Sprache), literarisch-kulturelle (griechische – römische Epik), zeitliche (homerische Vergangenheit – historische Gegenwart), psychische (der PersiusKommentator spricht vom transferre der anima), philosophische (die Einführung der pythagoreische Metempsychose), mythische (Jenseits – Diesseits) und ontologische Übersetzung (natura rerum – dicta). Lukrez wird sich in den multiplen Transfer dieses deferre einschalten und ihn unterbrechen, wenn er der epikureischen Psychologie und Ontologie gefährdet sieht. Hierbei rückt er Ennius in die Nähe der vates und der religio, die seiner hedonistischen Ethik widersprechen. Zugleich rühmt er aber Ennius’ Pionierleistung und skizziert eine imaginäre Topografie, die dessen eigener Selbstdarstellung entspricht. Denn Ennius verortete sich selbst am Helikon oder an irgendeinem alternativen Musenberg – etwa dem Olymp oder Parnass.331 Dies wird zunächst in den Fragmenten aus dem siebten Proömium der Annales deutlich. Das erste davon ist ein Puzzle aus mehreren Bruchstücken und lässt sich folgendermaßen zusammensetzen (ann. 7 Fr. 1 Fl.):332 … scripsere alii rem vorsubus quos olim Faunei vatesque canebant, {at} neque me decet hanc carinantibus edere cartis, quom neque Musarum scopulos {quisquam scandebat}, ne {calamo} dicti studiosus quisquam erat ante hunc, nec quisquam sopiam, sapientia quae perhibetur, in somnis vidit, prius quam sam discere coepit. … andere haben diese Sache bereits beschrieben in Versen, die einst die Faune und Seher sangen, doch steht es mir nicht zu, dies in spottenden Schriften [Blättern] bekannt zu geben, weil weder {jemand} die Gipfel der Musen {bestieg}, noch vor diesem Zeitpunkt mithilfe des {Schreibrohrs} ein Wort-Freund [Philologe] war, noch jemand die Philosophie, die Weisheit genannt wird, im Traum sah, bevor er sie zu studieren begann.
331 Wo genau Ennius seine Inspirationserfahrung verortet, ist umstritten. Wenn wir die LukrezPassage ernst nehmen, dann muss darin auch der Helikon eine zentrale Rolle spielen. Im Folgenden spreche ich vereinfachend vom Helikon, obschon sich Ennius möglicherweise auf mehreren Musenbergen befindet. Über unterschiedliche Lösungsansätze zu diesem Problem: Suerbaum, Untersuchungen zur Selbstdarstellung älterer römischer Dichter, S. 54–74. 332 Flores vereint hier auf hypothetische Weise vier Fragmente, die bei Skutsch separat wiedergegeben werden: Vgl. Flores u. a., Quinto Ennio Annali, Bd. 2., S. 178f.
Deferre: Ennius und der Import der griechischen Musen
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Der erste Teil des Fragments ist uns bekannt: Ennius bezieht sich zunächst auf Naevius, der vor ihm über die res (gestae) des ersten punischen Kriegs schrieb und den er wegen seines veralteten Vermaßes mit den vates vergleicht und kritisiert. Allerdings mildert er seine Kritik ab, wenn er im Folgenden den Stil von Naevius und von allen anderen poetischen Vorgängern gleichsam entschuldigt: Man sollte die ältesten römischen Dichter-vates nicht verhöhnen (carinare), weil sie noch nicht so elegant und bewusst wie Ennius schrieben. Vor Ennius hatte nämlich noch kein Römer die unwegsame Bergspitze oder die Felsen der Musen, Musarum scopuli, erklommen. Außerdem dichtete niemand vor ihm als gelehrter Wortliebhaber und Philologe (dicti studiosus = φιλόλογος)333 in lateinischer Sprache, noch sah jemand die griechische Philosophie (sop[h]ia = [φιλο]σοφία), welche die Römer sapientia334 nennen, im Traum, ohne sie gründlich zu studieren. Mit dieser letzten Behauptung spielt Ennius vermutlich wieder auf seinen Traum aus dem ersten Proömium an: Noch bevor er im Traum von Homer über die natura rerum unterrichtet wurde, lässt er zwischen den Zeilen durchblicken, hatte er sich bereits intensiv mit der pythagoreischen Philosophie beschäftigt.335 Dabei stellt er sich als dreifacher Pionier (primus) dar, der poetisches, poetologisches und philosophisches Neuland betritt. Lukrez wird diesen Anspruch akzeptieren – zumindest hinsichtlich der Poesie –, wenn er Ennius als primus lobt, der zwischen dem Helikon und Rom verkehrt, wobei Lukrez’ Helikon mit Ennius’ Musarum scopuli korrespondiert.336 Im nächsten Fragment aus dem siebten Proömium kommt Ennius wahrscheinlich wieder auf Naevius zurück (ann. 7 Fr. 2 Fl.): »Contempsit fontes quibus ex erugit aquae vis. | Nos ausi reserare … (Er [Naevius] verachtete die Quellen, aus denen die Kraft des Wassers speit. Wir hingegen wagten sie wieder zu erschließen …).« Er spricht hier von den Musenquellen, die sich am Helikon oder an einem anderen Musenberg befinden und die zum traditionellen Topos der Dichterweihe gehören:337 Während Naevius diese vorgeblich geringschätzte (contemnere), eröffnet sie Ennius erstmals wieder (reserare meint eigentlich das Öffnen einer verriegelten Tür) und schöpft aus ihrer Kraft (vis), nachdem er die 333 Vgl. Skutsch, The Annals of Ennius, S. 374. 334 Da die σοφία insbesondere mit dem Pythagoreismus und die sapientia mit dem römischen Staatsmann assoziiert wurde, macht Habink auf einen entscheidenden Wandel aufmerksam: »[…] Ennius’s dream of wisdom, like his dream of Homer, can be understood to domesticate the figure of Pythagoras, transforming him from a mystical sage who repudiates and transcends the defining features of polis-society into a legitimator of Roman aristocratic and imperial ambition.« Thomas N. Habinek, »The Wisdom of Ennius«, in: Arethusa, 39, Nr. 3 (2006), S. 471–488, hier S. 486. 335 Vgl. Skutsch, The Annals of Ennius, S. 376f. 336 Vgl. Suerbaum, Untersuchungen zur Selbstdarstellung älterer römischer Dichter, S. 269–271. 337 Zur traditionellen Symbolik der Dichterweihe: Kambylis, Die Dichterweihe und ihre Symbolik, S. 17–30.
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Musarum scopuli bestieg. Dadurch verachtet (contemnere) er aber, trotz seiner scheinbaren Entschuldigung, seine eigenen Vorgänger, wie Cicero – wie bereits zitiert – feststellen wird. Schließlich wendet sich Ennius in einem möglicherweise abschließenden Fragment gegen Kritiker (ann. 7 Fr. 3 Fl.): »Contra carinantes verba atque obscena profatus (Gegen die Spötter habe ich Worte, und zwar schmutzige [Verwünschungen] ausgesprochen).« Nachdem er zuvor unterstrich, dass man nicht voreilig über die ältesten römischen Dichter spotten (carinare) soll, spricht er jetzt gegen diejenigen obszönen Worte aus (verba obscena profari), die über ihn spotten (carinare).338 Da das Verb profari, ›aussprechen‹, ›weissagen‹, aus einem sakralen prophetischen Kontext stammt, stilisiert sich Ennius gleichsam zu einem Priester, der seine Feinde verflucht. Damit ähnelt er aber der Figur der vates, von denen er sich, wie gesagt, eigentlich abgrenzen wollte.339 Nicht nur Lukrez’, auch Ennius’ Haltung gegenüber den vates ist durchaus ambivalent und widersprüchlich. Dass Ennius aus den Quellen des Helikon schöpfte, wird vom augusteischen Elegiker Properz bestätigt, der sich in seiner eigenen Selbstdarstellung auf raffinierte Weise auf die Annales bezieht. Das betreffende Gedicht beginnt so (eleg. 3.3.1–6.): Visus eram molli recubans Heliconis in umbra, Bellerophontei qua fluit umor equi, reges, Alba, tuos regum facta tuorum, tantum operis, nervis hiscere posse meis, parvaque tam magnis admoram fontibus ora, unde pater sitiens Ennius ante bibit […]. Mir schien, dass ich am Helikon im weichen Schatten lag, wo die Quelle des Bellerophontischen Pferdes [des Pegasus] floss, dass ich deine Könige, Alba Longa, die Taten deiner Könige mit meinen Saiten [Lyraspiel] eröffnen könne; und ich näherte meinen kleinen Mund den so großen Quellen, aus denen einst Vater Ennius dürstend trank […].
Properz scheint (videri) sich auf dem Helikon zu befinden, wobei das, ›mir schien‹ (visus eram), die ganze Szene in eine unwirkliche Ferne rückt, die uns an das zitierte Fragment aus dem ersten Proömium der Annales erinnert (ann.1 Fr. 4 Fl.): »… visus Homerus adesse poeta (… mir schien der Dichter Homer anwesend zu sein).« Vielleicht träumt Properz wie Ennius? Jedenfalls möchte er wie dieser die römische Geschichte besingen, wobei er in einem ersten Atemzug die Hel338 Diese Deutung folgt: Flores u. a., Quinto Ennio Annali, Bd. 2., S. 195f. Skutsch rechnet das Fragment hingegen zu den unzuordenbaren Fragmenten und vermutet, dass es sich nicht auf Ennius bezieht: Skutsch, The Annals of Ennius, S. 716f. 339 Über die religiöse Dimension des (pro)fari, das eng mit der Funktion der vates verknüpft ist: Maurizio Bettini, »Weighty Words, Suspect Speech: Fari in Roman Culture«, in: Arethusa, 41, Nr. 2 (2008), S. 313–375, insb. 368–371.
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dentaten der mythischen Könige von Alba Longa als Beispiel anführt. Er versucht aus denselben Inspirations-Quellen zu trinken, aus denen einst pater Ennius schöpfte. Doch sein Mund ist zu klein für die großen Quellen (mangi fontes) der heroischen Epik. Im Folgenden weist Apollo Properz in die Schranken und schreibt ihm den bescheideneren Stoff der Liebeslyrik zu, in der er ihm einen neuen Weg (nova semita) eröffnet. Dieser Weg führt Properz zu einer Grotte, in der die neun Musen musizieren, Efeu für Thyrsosstäbe pflücken und Rosen zu Kränzen flechten. Eine der Musen, Kalliope, tritt an den Dichter heran und mahnt ihn, dass er in Zukunft nicht mehr auf dem Streitross der epischen Dichtung, sondern auf dem Schwanenwagen der Venus – dem Vehikel der elegischen Liebesdichtung – fahren wird. Zum Schluss benetzt sie sein Gesicht mit dem Wasser aus einem Quell (fons), aus dem zwar nicht Ennius, aber der alexandrinische Dichter Philetas trank (eleg. 3.3.13–52). Properz beschreibt in Abgrenzung von Ennius seine eigene Dichterweihe und beschreitet einen neuen Pfad, obwohl er gleichzeitig in die Fußspuren der alexandrinischen Liebeslyrik tritt. Dabei resümiert er zentrale Motive der hellenistischen Dichterweihe (Musen, Quellen, Thyrsosstäbe, Kränze) und der poetologischen Selbstdarstellung (Dichten als Wagenfahrt, Beschreiten eines neuen Weges), die uns bei Lukrez begegnen werden.340 Ennius’ Dichterweihe fand vermutlich nicht erst im siebten, sondern bereits im ersten Proömium der Annales statt. Dies deutet Persius an, der seine satirische Verballhornung der Dichterweihe mit folgenden Versen beginnen lässt (sat. prol. 1–3): »Nec fonte labra prolui caballino | nec in bicipiti somniasse Parnasso | memini, ut repente sic poeta prodirem (Weder wusch ich mir die Lippen am Quell des Gauls [Pegasus], noch erinnere ich mich, dass ich am zweigipfligen Parnass träumte, damit ich plötzlich als Dichter voranschreite).« Das ›ich erinnere mich‹ (memini) ist eine Anspielung auf Homers’ Rede aus dem ersten Proömium (ann. 1 Fr. 11 Fl.): »… memini me fiere pavom (… ich erinnere mich, dass ich ein Pfau wurde).« Tatsächlich klärt uns der Persius-Kommentator auf, dass Persius hier »[…] tangit […] Ennium qui dixit se vidisse per somnium in Parnaso Homerum sibi dicentem quod eius anima in suo esset corpore ([…] auf Ennius anspielt, der behauptete, dass er im Traum auf dem Parnass Homer sah, der ihm sagte, dass dessen Seele in seinem Körper sei).«341 Egal, ob Ennius nun am Parnass oder am Helikon war und ob er im Traum auf einen Musenberg versetzt wurde (Properz) oder dort träumte (Persius), sein Traum und seine Metempsychose stehen in einer nicht näher rekonstruierbaren Verbindung mit einem Musenberg und damit in Verbindung mit dem klassischen Topos der Dichterweihe. 340 Vgl. Kambylis, Die Dichterweihe und ihre Symbolik, S. 136–161. 341 Zit. in: Skutsch, The Annals of Ennius, S. 152.
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In diesem Zusammenhang müssen wir das allererste Fragment der Annales lesen, das wir bislang ausgeblendet haben (ann. 1 Fr. 1 Fl.), »Musae, quae pedibus magnum pulsatis Olumpum … (Musen, die ihr mit [euren] Füßen den mächtigen Olymp stampft …!).« Ennius ruft im Traum oder noch vor seinem Traum die olympischen Musen an. Im Zuge seiner Begegnung mit den Musen bekommt er laut späteren Autoren wahrscheinlich die Dichterkrone (Lukrez) und trinkt aus den Musenquellen (Properz). Doch warum tanzen die Musen auf dem Olymp? Ennius’ Fragment erinnert zunächst an die Eröffnungsverse des ältesten Lehrgedichts der griechischen Antike, an Hesiods Theogonie (1–8): Μουσάων Ἑλικωνιάδων ἀρχώμεθ᾽ ἀείδειν, αἳ θ᾽ Ἑλικῶνος ἔχουσιν ὄρος μέγα τε ζάθεόν τε καί τε περὶ κρήνην ι᾿οειδέα πόσσ᾽ ἁπαλοῖσιν ὀρχεῦνται καὶ βωμὸν ἐρισθενέος Κρονίωνος καί τε λοεσσάμεναι τέρενα χρόα Περμησσοῖο ἢ Ἵππου κρήνης ἢ Ὀλμειοῦ ζαθέοιο ἀκροτάτῳ Ἑλικῶνι χοροὺς ἐνεποιήσαντο καλούς ἱμερόεντας ἐπερρώσαντο δὲ ποσσίν. Von Helikonischen Musen will ich zu singen beginnen, die an dem großen und heiligen Berg, dem Helikon, wohnen, die um die veilchenfarbene Quelle auf zierlichen Füßen tanzen und um die heilige Stätte des Herrschers Kronion [Zeus]. Wenn sie ihre zarten Körper im Permessos, in der Quelle des Hippos [Pegasus] oder im göttlichen [Fluss] Olmeios gebadet haben, veranstalten sie am höchsten Gipfel des Helikos schöne, reizende Tänze und bewegen sich rasch mit den Füßen.
Die Musen leben und tanzen auf dem Helikon, wo sie, nachdem sie sich in heiligen Gewässern reinigten, anmutige Chortänze (χοροὶ καλοί) aufführen. Deshalb nennt sie Hesiod auch ›Helikonische Musen‹ (Μοῦσαι Ἑλικωνιάδες). Wenig später wird er jedoch behaupten, dass die Musen auch auf dem Olymp zuhause sind, weshalb er sie dann als ›Olympische Musen‹ (Μοῦσαι Ὀλυμπιάδες) bezeichnet (theog. 52 u. 75).342 Da die unterschiedlichen Musenberge schon bei Hesiod austauschbar scheinen und sich poetologisch überlagern, spricht Ennius’ Rede vom Tanz der Musen auf dem Olymp nicht unbedingt dagegen, dass seine eigene Dichterweihe am Helikon und Parnass stattfand. Bei einem Vergleich der beiden Textstellen fällt auf, dass das ›Stampfen‹ (pulsare) der Musen bei Ennius durch eine Reihe von Assonanzen verstärkt wird (PEdibus magnUM PUlsatis OlumPUM).343 Damit fällt es viel heftiger aus als ihr ›darstellendes Tanzen‹ und ›Springen mit zarten Füßen‹ (πόσσ᾽ ἁπαλοῖσιν ὀρχέομαι) bei Hesiod. Die Asso342 Ausführlich zu Hesiods Dichterweihe: Kambylis, Die Dichterweihe und ihre Symbolik, S. 31–51. 343 Diese Assonanzen erinnern vielleicht nicht zufällig an den Beginn von Homers Odyssee: Vgl. Jay Fisher, »Visus Homerus Adesse Poeta: The Annals of Quintus Ennius and the Odyssey of Homer«, in: The Classical World, 106, Nr. 1 (2012), S. 29–50, hier S. 30f.
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nanzen verschmelzen die Füße von Ennius’ Musen mit ihrem Tanz. Vielleicht ist dieses Stampfen der Musen mit römischen Riten verwandt, insbesondere mit dem Tanz der Salier und dem Juno-Kult, in denen das pedibus pulsare eine zentrale Rolle spielte.344 Sollte diese Hypothese stimmen, werden die griechischen Musen bereits im ersten Vers der Annales romanisiert und in einen neuen kulturellen Kontext überführt. Diese Vermutung wird von Lukrez bekräftigt, bei dem wir eine analoge Verbindung zwischen den Musen und einer heftigen Stampfbewegung finden. Wenn Lukrez im fünften Buch seine Theorie über die unterschiedlichen Ursprünge der Poesie entwickelt, verortet er zumindest einen ihrer Ursprünge in archaischen Tänzen (5.1398–1404): […] agrestris enim tum Musa vigebat. tum caput atque umeros plexis redimire coronis floribus et foliis lascivia laeta monebat, atque extra numerum procedere membra moventes duriter et duro terram pede pellere matrem; unde oriebantur risus dulcesque cachinni, omnia quod nova tum magis haec et mira vigebant. […] denn damals war die ländliche Muse mächtig. Damals mahnte die zügellose Freude [die Menschen], dass sie Haupt und Schultern mit aus Blüten und Blättern geflochtenen Kränzen umwinden und dass sie, die Glieder bewegend, ohne [festen] Rhythmus voranschritten und hart mit hartem Fuß die Muttererde stampften; woraus sich süßes Lachen und Gelächter erhob, weil damals alles neu war und dies heftiger und wunderlich wirkte.
Für Lukrez gibt es neben himmlischen Musen auf heiligen Bergen auch ganz bodenständige: In einem bukolischen Ursprungsszenarium schildert er, wie die ›ländliche Muse‹ (agrestis Musa)345 die Menschen erstmals dazu verführte, sich mit Kränzen (coronae) zu schmücken und im Tanz die Muttererde mit den Füßen zu stampfen, wobei die Heftigkeit der Bewegung wie bei Ennius alliterativ verstärkt wird (DUriter DUro PEde PEllere). Und an anderer Stelle spricht er davon, dass die Bauern das Echo durch eine ›waldige Muse‹ (silvestris Musa) erklären, die im Gefolge der Faune, Satyrn und Nymphen des Hirtengottes Pan entsteht und die Stimmen der Menschen nachahmt (4.572–589).346 Dadurch demystifiziert Lukrez das Echo und den Ursprung der Poesie: Nicht auf den Höhen des 344 Bettini, Note e Studi su Ennio, S. 107f. 345 Ich schreibe Musa im Unterschied zu Bailey und Deufert groß, um zu verdeutlichen, dass es sich hier nicht bloß um eine Metonymie für die Musik, sondern um eine Personifikation handelt. 346 Sowohl die agrestis Musa als auch die silvestris Musa werden von Vergil in seinen Eklogen zitiert, womit er sich eindeutig auf Lukrez bezieht, von dem er sich zugleich abgrenzt: Vgl. Hardie, Lucretian Receptions, S. 18f.
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Helikons oder Olymps, sondern auf dem harten Boden einer bäuerlichen Kultur erwuchs die Inspiration der Dichter, wobei ursprünglich die Menschen anstelle der Musen tanzten und sich selbst mit Kränzen (coronae), dem Symbol der späteren Dichtkunst, bekränzten.347 Die Bewegungen der Tänzer, die immer wieder aus dem Takt geraten (extra numerum), werden dann im Laufe der Kulturgeschichte verfeinert und vom modulierten Gesang (flectere cantus) verdrängt, der von einer regelmäßigen Metrik (numerus) beherrscht wird (5.1405– 1409). Auf die Entstehung des Gesangs aus der Nachahmung von Vogelstimmen werden wir im nächsten Kapitel im Detail zurückkommen. Entscheidend ist hier, dass diese Entwicklung gegen Ende des Buches in der Erfindung der Buchstaben (elementa) und in der heroischen Epik gipfelt, die Spuren (vestigia) vergangener Heldentaten (res gestae) zu tradieren vermögen (5.1444–1447) und eine Tradition begründen, in der letzlich auch Ennius’ Annales stehen. Die Menschen erfreuten sich ursprünglich nur deshalb an plumpen Tänzen, weil diese zunächst neu (novus) waren und sie noch nichts Besseres kannten. Mit der Verfeinerung des Taktes (numerus) entstanden nun aber auch neue Versarten. Denn der altrömische Saturnier wurde teilweise vom griechischen Hexameter verdrängt. Dies schildert auch Horaz in einem seiner Briefe (epist. 2.1.157– 160): »sic horridus ille | defluxit numerus Saturnius et grave virus | munditiae pepulere; sed in longum tamen aevum | manserunt hodieque manent vestigia ruris (So versiegte jenes schreckliche saturnische Versmaß und reiner Kunstsinn verdrängte den heftigen [salzigen] Geschmack; doch für lange Zeit blieben und bleiben noch heute Spuren des bäurischen Wesens).« Damit erklärt Horaz den Übergang von Naevius, der noch im ›faunischen Versmaß‹ des Saturnier schrieb, zu Ennius, der den Hexameter auf die römische Sprache übertrug. Das Tanzen der Musen hängt eng mit dem Versmaß und mit Spekulationen über den Ursprung und Fortschritt der Metrik zusammen. Trotz signifikanter Differenzen überschneiden sich das lukrezische pede pellere und das ennianische pedibus pulsare darin, dass sie das poetische Schreiben/Singen in einer heftigen körperlichen Tätigkeit verorten, die von den leichtfüßigen Tänzen der griechischen Musen bei Hesiod abweichen. Ist das die Spur einer bäuerlichen Kultur (vestigia ruris), von der Horaz spricht? Lukrez’ agrestis Musa und silvestris Musa, die vielleicht auf den ›archaischen‹ Saturnier anspielen,348 scheinen eine solche Spur zu legen, wohingegen Ennius’ olympische Musen diese verwischen. Ennius’ pedibus pulsare bezeichnet nämlich in erster Linie keine rustikalen oder saturni-
347 Vgl. Vinzenz Buchheit, »Lukrez über den Ursprung von Musik und Dichtung«, in: Rheinisches Museum für Philologie, 127, Nr. 2 (Jän. 1984), S. 141–158, insb. S. 147–150. 348 Vgl. Schrijvers, Horror ac divina voluptas, S. 49f.
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schen Tänze, sondern die Versfüße (pedes) des Hexameters, auf denen sich seine Musen vom ersten Vers an bewegen.349 Wenn Ennius zu Beginn seiner Annales die Musae anruft und damit die griechischen Μοῦσαι transliteriert, ist das keine unhinterfragbare Selbstverständlichkeit. Soweit wir wissen, riefen die römischen Dichter vor Ennius anstelle der Musae die Camenae an, d. h. autochthone Quellennymphen, deren Heiligtum vor einem Stadttor Roms lag.350 Die Camenae wurden in der Antike etymologisch mit dem carmen, ›Gesang‹, in Verbindung gebracht und erfüllten in der ältesten römischen Dichtung die Funktion der griechischen Musen. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Odusia des Livius Andronicus, eine Übersetzung oder Nachdichtung der homerischen Odyssee, die nach Cicero zu den ersten schriftlichen Werken der römischen Literatur zählt (Brut. 72–75) und die möglicherweise überhaupt die erste ›künstlerische Übersetzung‹ der europäischen Literatur darstellt.351 Livius übersetzte in seiner Odusia, von der nur wenige Fragmente überliefert sind, den Beginn der Odyssee (Od. Α 1), »Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον […] (Den Mann singe mir, Muse, den vielgewandten …)«, mit folgenden Worten: »Virum mihi, Camena, insece versutum … (Den Mann, Camena, singe mir, den gewandten …).«352 Seine Übersetzung der homerischen Μοῦσα als Camena ist ein typischer Fall für die gängige römische Praxis der Übersetzung von Gottheiten, der sogenannten interpretatio Romana, die sich in analoger Weise in anderen polytheistischen Kulturen findet.353 Es wird berichtet, dass auch
349 Das betont auch Hinds: »Invocations of poetic goddesses do not invariably focus upon their dancing feet; this [Ennius’] invocation does, not because of some robust archaic association of poetry with vigorous stamping in the dance, nor even (primarily) to signal a debt to Hesiod […], but to ›annotate‹ through a reflexive pun in the word pes the metrical innovation which is being enacted even as we read.« Stephen Hinds, Allusion and Intertext. Dynamics of Appropriation in Roman Poetry, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 1998, S. 56f. Diese Deutung schließt den Bezug auf archaische Tänze, wie wir sie bei Lukrez finden, nicht unbedingt aus. 350 Vgl. Georg Wissowa, »Camenae«, in: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, hg. v. Wilhelm Heinrich Roscher, Leipzig: Teubner, 1886, Bd. 1.1, Sp. 846–848. 351 Das wurde oft hervorgehoben. Siehe z. B.: Scevola Mariotti, Livio Andronico e la traduzione artistica. Saggio critico ed edizione dei frammenti dell’Odyssea, Urbino: De Silvestri, 1952, S. 13–52; Karl Büchner, »Livius Andronicus und die erste künstlerische Übersetzung der europäischen Kultur«, in: Symbolae Osloenes, 54 (1979), S. 37–70. Cicero vergleicht Livius’ Odusia übrigens mit einem Werk des Dädalus (opus aliquod Daedali) (Brut. 71). Im Kontext der Parallelisierung von Bildhauerei und Dichtung spielt er wahrscheinlich darauf an, dass Livius’ Werk archaisch wie ein Bildwerk des Urkünstlers Dädalus sei. Möglicherweise möchte er aber auch sagen, dass die Übersetzung der Odusia zu imitativ ist (Dädalus galt als mimetischer Künstler schlechthin). 352 Zit. in: Mariotti, Livio Andronico e la traduzione artistica, S. 67. 353 Schon in den frühen orientalischen Hochkulturen spielte die Übersetzung und Assimilation von fremden Gottheiten eine entscheidende Rolle: Jan Assmann, »Translating Gods: Religion as a Factor of Cultural (Un)Translatability«, in: The Translatability of Cultures. Figu-
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der Tragödiendichter Accius und – das ist allerdings umstritten – schon Naevius die Camenae anstelle der Musae anrief.354 Ennius ist sich dieser literarischen Tradition bewusst, wenn er in einem Fragment seiner Annales, das wahrscheinlich aus dem fünfzehnten Buch stammt, schreibt (ann. Fr. 487 Sk.): »Musas quas memorant nosce nos esse Camenas (Die Musen, welche sie [die Griechen] so nennen, erkenne, dass wir die Camenae sind).«355 Die Camenae selbst geben hier wahrscheinlich in erster Person ihre Identität mit den Musae zu erkennen. Diese Identität verhindert jedoch nicht, dass es einen bedeutenden Unterschied macht, dass Ennius im ersten Proömium ihren griechischen Namen wählt: Ennius möchte sich ja als erster Römer darstellen, der die Gipfel der Musen, Musarum scopuli, eroberte und sich von Naevius abgrenzen, der vielleicht noch die Camenae um Inspiration anflehte. Indem er die vorhergehende interpretatio Romana teilweise durch eine Rückübersetzung aufhebt und die Musae als ›Fremdwort‹ in die römische Literatur einführt, kann er sich viel eher als hellenistischer poeta denn als altrömischer vates stilisieren. Ennius’ Spiel mit den Musen ist kein bloßes l’art pour l’art. Das beweist der historische Kontext der Annales, der die Musen in die römische Territorialpolitik verstrickt: Ennius widmete nämlich dieses Hauptwerk zum Teil dem römischen Konsul Fulvius Nobilior, der auf seinem Feldzug gegen die Aetoler im Jahre 189 v. u. Z. die Statuen der Musen aus der griechischen Stadt Ambrakia raubte und nach Rom brachte. Ennius glorifizierte diesen Feldzug nicht nur in seinem Theaterstück Ambracia und im fünfzehnten Buch seiner Annales, sondern nahm an ihm selbst Teil, wie Cicero berichtet (Arch. 11.27). Insofern war er nicht bloß literarisch, sondern militärisch am Import der Musen beteiligt, den Plinius der Ältere als ›Übersetzung‹, transferre, beschreibt (nat. 35.66): »Fecit et figlina opera, quae sola in Ambracia relicta sunt cum inde Musas Fulvius Nobilior Romam transferret (Er [der Künstler Zeuxis] verfertigte auch Skulpturen aus Tonerde, die allein in Ambrakia zurückgelassen wurden, als Fulvius Nobilior die [Statuen der] Musen nach Rom überführte).« Wie wir bei Cicero gesehen haben, ist das transferre mit dem Raub, dem eripere, verquickt. Nachdem Fulvius die Statuen der Musen erfolgreich nach Rom ›übersetzt‹ hatte, brachte er sie in einen Herkulestempel, in den er auch das Heiligtum der altrömischen Camenae verlegte.356 In diesem Kontext müssen wir auch das Camenae-Fragment aus den Annales verstehen: Wahrscheinlich sprechen die Camenae im Traum zu Fulvius, geben sich als Musen zu erkennen und bitten ihn um ein neues Heim – d. h. einen
rations of the Space Between, hg. v. Sanford Budick, Stanford: Stanford University Press, 1996, S. 25–36. 354 Vgl. Maria Teresa Camilloni, Le Muse, Rom: Editori Riuniti, 1998, S. 81–85. 355 Zur Zuordnung des Fragments: Skutsch, The Annals of Ennius, S. 649f. 356 Vgl. Goldschmidt, Shaggy Crowns, S. 43f.
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neuen Tempel.357 Durch seine kultische Zusammenführung der Camenae und Musae führte Fulvius jedenfalls den griechischen Musenkult erstmals unter den Römern ein. Dabei ließ er in seinem Tempel eine monumentale Inschrift anbringen, einen chronologischen Bericht oder historischen Kalender (fasti), der sich vermutlich mit der narrativen Struktur der Annales deckt.358 Die Architektur von Ennius’ Epos ist somit nicht nur ein komplexes intertextuelles Spiel mit der epischen Tradition, sondern wie Fulvius’ Tempel Ausdruck der Eroberung Griechenlands, einer militärischen Machtarchitektur, die den rituellen und literarischen Import der Musen erst ermöglichte. Schon der römische Dichter und Literaturhistoriker Porcius Licinius stellt fest: »Poenico bello secundo Musa pinnato gradu | intulit se bellicosam in Romuli gentem feram (Im zweiten punischen Krieg drang die Muse mit gefiedertem Schritt und auf kriegerische Weise in das wilde Volk des Romulus ein).«359 Obwohl Licinus hier vom zweiten punischen Krieg spricht und sich wohl auf Naevius bezieht,360 finden wir bei ihm einen ähnlichen Zusammenhang von Literatur und Imperialismus, wie er auch Ennius’ Einführung der Musae prägt. Dabei wird die Muse aber nicht passiv übertragen (transferre), sie trägt sich selbst hinein (inferre), was an Horaz’ berühmtes Diktum erinnert, das sich – was manchmal ausgeblendet wird – nicht nur auf die Einführung griechischer Formen in die römische Literatur,361 sondern insbesondere auf die oben zitierte Einführung des Hexameters bezieht (epist. 2.1.156f): »Graecia capta ferum victorem cepit et artis | intulit agresti Latio (Nachdem Griechenland [von den Römern] erobert wurde, eroberte es seinen wilden Besieger und führte die Künste im bäuerlichen Latium ein).« Die imperialistische Eroberung geht mit einer kulturellen Rückeroberung einher, weshalb die Romanisierung der Musae bei Ennius sowohl zu einer Hellenisierung der Camenae als auch zu einer Hellenisierung der römischen Metrik führt.362 Als primus brachte Ennius die Dichterkrone und die Musen im Gefolge seines mächtigen Patrons von Griechenland nach Rom. Dadurch verbindet sein deferre 357 Die Deutung des nos und der Akkusative Musas … Camenas ist umstritten. Wir folgen hier Skutsch: »[…] that nos refers to the Camenae as speakers of the line and that, appearing to Fulvius in a dream, they are here asking for a new home.« Skutsch, The Annals of Ennius, S. 650. 358 Vgl. Jorg Rupke, »Ennius’s Fasti in Fulvius’s Temple: Greek Rationality and Roman Tradition«, in: Arethusa, 39, Nr. 3 (2006), S. 489–512, insb. S. 508–510. 359 Zit. in: Camilloni, Le Muse, S. 85. 360 Vgl. Hermann Funke, »Porcius Licinus Fr. 1 Morel«, in: Rheinisches Museum für Philologie, 120, Nr. 2 (1977), S. 168–172. 361 Hierzu der ausführliche Kommentar in: Charles O. Brink, Horace on Poetry, Cambridge: Cambridge University Press, 1982, Bd. 3, S. 199–201. 362 Vgl. Albert Henrichs, »Graecia Capta: Roman Views of Greek Culture«, in: Harvard Studies in Classical Philology, 97 (1995), S. 243–261, hier S. 254f.
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die mythischen Höhen des Helikons und die historische Ebene des römischen Territoriums auf doppelte Weise: Einerseits verknüpft es durch die Metempsychose und die unmittelbare (nicht durch vestigia vermittelte) Erinnerung an res gestae die homerische Vergangenheit mit der römischen Zeitgeschichte. Andererseits legitimiert es die aktuellen Kriegszüge der Römer gegen die Griechen, an denen Fulvius beteiligt ist und die Ennius in den Annales glorifiziert, durch die Beschwörung der Vergangenheit. Das vertikale deferre überkreuzt sich mit einem horizontalen transferre, das keine Einbahnstraße ist, da es ein inferre ermöglicht. Spätere Autoren werden diesen Weg, den Ennius zwischen dem Helikon und Rom bahnte, weiter folgen. Wenn Lukrez und die augusteischen Dichter den Topos der hellenistischen Dichterweihe aufgreifen, um sich selbst als Pioniere (primus) zu stilisieren, schreiben sie sich wie Ennius in eine literarische Vorgeschichte ein, um dadurch paradoxerweise ihren eigenen Neuanfang zu proklamieren. Das deferre bewirkt zwei rückläufige Bewegungen, die charakteristisch für die römische Literatur sind und uns auch in Lukrez’ eigener Dichterweihe begegnen werden: Die Romanisierung der griechischen Epik und Philosophie bewirkt eine Hellenisierung der römischen Kultur.363 Jede literarische Neuheit führt sie durch das alte Territorium der Musen ein.
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Während die griechischen Musen bei Ennius eine gewisse Fremdheit bewahren und zunächst von den einheimischen Camenae geschieden werden müssen, um sie wieder mit diesen zu identifizieren, fühlen sie sich in Lukrez’ De rerum natura bereits heimisch. So ruft Lukrez im sechsten Buch mit einer gewissen Selbstverständlichkeit die griechische Muse Kalliope an (6.92–95): Tu mihi supremae praescripta ad candida calcis currenti spatium praemonstra, callida Musa Calliope, requies hominum divomque voluptas, te duce ut insigni capiam cum laude coronam. Du zeige mir, der ich zum letzten vorgeschriebenen leuchtenden Ziel des Kreidezeichens eile, die Bahn voraus, kundige Muse Kalliope, Ruhe der Menschen und Lust der Götter, dass ich durch dich als Führerin mit ausgezeichnetem Ruhm den Kranz gewinne. 363 Traina spricht von einer »[…] tensione fra romanizzazione della letteratura greca […] e l’ellenizzazione della letteratura latina.« Alfonso Traina, »Le traduzioni«, in: Lo spazio letterario di Roma antica, hg. v. Guglielmo Cavallo u. Piergiorgio Parroni, Bd. 2 (La circolazione del testo), Rom: Salerno, S. 93–123, hier S. 105.
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Nachdem Lukrez mehrere Verse zuvor in einem Fragment – der Text ist lückenhaft – den strahlenden Wagen (insignis currus) der Muse bestieg (6.47), fährt er nun wie bei einem Pferderennen mit diesem auf das Ziel zu, das durch ein Kreidezeichen markiert wird.364 Damit signalisiert er den Abschluss seines Gedichts, das mit dem sechsten Buch enden wird. Gleichzeitig setzt er sich aber von möglichen Konkurrenten ab: Der Wettkampf, bei dem Lukrez mit ausgezeichnetem Lob (insignis laus) siegen will, hat nämlich nur Sinn, wenn es andere Bewerber gibt, Dichter und Philosophen, die sich im selben Raum, in derselben literarischen Rennbahn (spatium), bewegen und befinden. Tatsächlich tauchte das Motiv der Wagenfahrt bereits bei den ältesten griechischen Dichtern auf – Theognis, Simonides, Pindar usw. – und wurde auch von den vorsokratische Dichter-Philosophen aufgegriffen.365 So schilderte Parmenides in seinem Lehrgedicht seinen Aufstieg zur höchsten Erkenntnis als Wagenfahrt (DK 28 B 1). Ebenso beschwor Empedokles, der ja ein wichtiges poetisches Vorbild von Lukrez ist, im Proömium seines Περὶ φύσεως (Über die Natur) seine ›von vielen umworbene, weißarmige, jungfräuliche Muse‹ (πολυμνήστη λευκώλενε παρθένε Μοῦσα), dass sie einen reinen Quell (καθαρή πηγή) aus seinem Mund fließen lasse, ihm einen Wagen (ἅρμα) schicke und ihm die Ruhmes-Blüten (ἄνθεα τιμῆς) nicht verwehre (DK 31 B 3). Die Muse ist eine Jungfrau mit vielen Bewerbern, wacht über die Quelle der Inspiration, lenkt den Wagen der Worte und zeichnet ihre Favoriten durch Ehrenzeichen aus. Darüber hinaus rief Empedokles in seinen Καθαρμοί (Reinigungen) die Muse Kalliope an (DK 31 B 131).366 Wenn sich auch Lukrez an Kalliope wendet, damit sie ihm bei seiner Wagenfahrt und beim Erringen eines Sieges-Kranzes (corona) beistehe, dann reiht er sich in eine lange Tradition ein, die er schließlich auf dem Wagen seiner eigenen Dichtung überholen will.367 Dadurch tritt er natürlich auch mit Ennius in Konkurrenz, der bereits vor ihm – zwar nicht als Wagenlenker, aber für seine Erstbesteigung des Helikons – eine corona als Preis gewann.
364 Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 3, S. 1567. 365 Einen Überblick über Lukrez’ Vorläufer des Wagenfahrtgleichnisses bietet: A. A. R. Henderson, »Insignem conscendere currum (Lucretius 6.47)«, in: Latomus, 29, Nr. 3 (1970), S. 739–743. 366 Zu Lukrez’ und Empedokles’ Musenanrufungen: Clay, Lucretius and Epicurus, S. 251–255. 367 Hendersons Behauptung stimmt nicht: »The race that Lucretius pictures winning is not against any rivals. His victory, one may say, is over his material, and the metaphor is more precisely one of reaching the end of the course.« Henderson, »Insignem conscendere currum«, S. 742. Zwar erwähnt Lukrez in seinem Gleichnis keine Konkurrenten, doch gerade dies ist ein Zeichen, dass er sie bereits weit überholt hat. Lukrez’ Gleichnis lässt sich vor dem Hintergrund seiner kritischen Auseinandersetzung mit Homer, Empedokles und Ennius lesen.
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Lukrez spricht die ›schlaue Muse Kalliope‹ (CALLIda Musa CALLIope) an, die auch mit dem Ziel seiner Fahrt (CAndida CALcis) alliteriert.368 Er bezeichnet sie durch ein Epitheton als ›Ruhe der Menschen und Lust der Götter‹ (requies hominum divomque voluptas), was mit seiner zitierten Anrufung der Venus im ersten Vers des De rerum natura als hominum divomque voluptas korrespondiert. Außerdem beschreibt er sie als Wagenlenkerin und dux, was an seine Beschreibung der Venus als ›Führerin des Lebens‹ und ›göttliche Lust‹ (dux vitae dia voluptas) erinnert (2.172). Durch diese Überschneidung von Venus und Kalliope wird nochmals verdeutlicht, dass schon Venus im ersten Proömium eine Musen-Funktion erfüllte. Die voluptas der Menschen wird im Epitheton der Kalliope jedoch als ruhende Lust (requies = ἀταραξία) näher spezifiziert.369 Die leuchtende Ziellinie seiner Wagenfahrt, die Musen und Götter seiner Epik, werden zugleich Ursprung und Ziel (ἀρχή καὶ τέλος) von Lukrez’ hedonistischen Ethik und Poetik. Die ἀταραξία ist der Lohn und die verdiente Ruhe für die rasante und aufwühlende Wagenfahrt, auf der Lukrez seinen Leser mitnimmt.370 Da niemand vor Epikur die wahre Lust, die epikureische voluptas, erkannte und niemand vor Lukrez diese in der römischen Dichtung darstellte und verwirklichte, ist Lukrez selbst ein primus im sportlichen Wettkampf der Dichtung, ein Sieger, dem schlussendlich die einzige wahre Insignie der dichterischen corona gebührt. Das macht Lukrez in seiner eigenen Dichterweihe explizit, an die das im ersten Kapitel analysierte Honig-Becher-Gleichnis anschließen wird. Die erste Version der Passage, die im ersten Buch als Zwischenproömium fungiert und etwas ausführlicher als das vierte Proömium ist, lautet so (1.921–934): Nunc age, quod superest cognosce et clarius audi. nec me animi fallit quam sint obscura; sed acri percussit thyrso laudis spes magna meum cor et simul incussit suavem mi in pectus amorem Musarum, quo nunc instinctus mente vigenti 368 Snyder über die Assonanz CALLIda Musa CALLIope: »The assonance calls attention to the literal meaning of her Greek name – ›fine voiced‹ – and emphasizes her shrewd and skillful nature. She is the symbol of the practical wisdom which the student of Epicurean philosophy should now be attaining as he completes the final stage in the course of Lucretius’ instruction«. Jane McIntosh Snyder, »The Significant Name in Lucretius«, in: Oxford Readings in Classical Studies. Lucretius, S. 371–375, hier S. 373. Synder übersieht aber die Alliteration mit CAndida CALcis. 369 Vgl. Giancotti, Il Preludio di Lucrezio, S. 198f. 370 Nach Clay markiert der Unterschied zwischen der hominum voluptas im Venus-Proömium und der requies hominum in der Anrufung der Kalliope die Distanz, die der Leser im Laufe seiner Lektüre des De rerum natura zurücklegt. Nach der Dekonstruktion der Venus in der Diatribe gegen den Liebeswahn und der Entmythologisierung der Ursprünge der Poesie braucht der Leser endlich Trost und Ruhe: Diskin Clay, »Lucretius, Venus, Cybele, Love, the Gods«, in: Prometheus, 37, Nr. 2 (2011), S. 153–162.
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avia Pieridum peragro loca nullius ante trita solo. iuvat integros accedere fontis atque haurire, iuvat novos decerpere flores insignemque meo capiti petere inde coronam, unde prius nulli velarint tempora Musae; primum quod magnis doceo de rebus et artis religionium animum nodis exsolvere pergo, deinde quod obscura de re tam lucida pango carmina, musaeo contingens cuncta lepore. Nun auf, erkenne, was übrig ist, und höre es heller! Und ich täusche mich nicht, wie dunkel sie [die Dinge] sind; doch hat mit durchdringendem Thyrsos die große Hoffnung auf Ruhm mein Herz durchbohrt [erschüttert] und mir zugleich die süße MusenLiebe in der Brust erregt, weshalb ich nun angestachelt mit lebensmutigem Geist die weglosen Gebiete der Pieriden [Musen] durchstreife, die zuvor von niemandes Fußsohle betreten wurden. Es freut, unberührten Quellen zu nahen und daraus zu schöpfen, es freut, neue Blüten zu pflücken und einen ausgezeichneten Kranz von dort für meinen Kopf zu erbitten, wo die Musen zuvor niemandem die Schläfen schmückten; erstens weil ich über große Dinge unterrichte und fortfahre, die Seelen aus den engen Knoten der Götterfurcht zu lösen; dann weil ich von so dunklen Dingen so lichte Gesänge forme, mit musischem Liebreiz alles berührend.
Die gesamte Szene wird vom rhetorischen Chiaroscuro gerahmt: Der Leser muss hellhörig sein (clarius audire), weil das folgende Thema dunkel (obscurus) ist. Die Formel ›und ich täusche mich nicht‹ (nec me animi fallit) ist uns bereits aus der poetologischen Digression des ersten Proömiums bekannt und unterstreicht, hier wie dort, die Schwierigkeit von Lukrez’ Aufgabe, die res obscura bzw. Epikurs obscura reperta in lucida carmina zu verwandeln und zu erleuchten (inlustrare).371 Lukrez überwindet die Hindernisse seines inlustrare, da er vom Thyrsos – einem Symbol des dionysischen Enthusiasmus – geschlagen wird und von einer unbändigen Hoffnung auf Ruhm und der Musen-Liebe (amor Musarum) angetrieben wird.372 Darum betritt er poetisches Neuland und durchmisst (peragrare) mit seinem Geist (mens = animus) weglose Musen-Gebiete, avia Pieridum loca, die vor ihm noch niemand betrat. Voller Freude (iuvat … iuvat) schöpft er aus 371 Vgl. Gale, Myth and Poetry in Lucretius, S. 143f. 372 Der Thyrsos ist ein Attribut des Dionysos, der Mänaden, Satyren und Dionysospriester: Vgl. Friedrich von Lorentz, »Thyrsos«, in: Paulys Real-Encyclopädie, Bd. VI A, 1, Sp. 747–752. Darum spricht Buchheit von einer dionysischen Aufassung des Dichtens bei Lukrez, die u. a. an Demokrits und Platons Lehre vom poetischen ἐνθουσιασμός erinnert: Vinzenz Buchheit, »Novos decerpere flores. Geistiges Schöpfertum bei Lukrez und Vergil«, in: Hermes, 132, Nr. 4 (2004), S. 426–434, insb. S. 431f. Allerdings psychologisiert Lukrez diese dionysischen Motive und schränkt sie auf seine persönlichen Ambitionen ein, wie Brown bemerkt: »[…] Lucretius has converted these originally religious motivs into personal symbols of ambition and ecstasy, stripping away the reference to external inspiration which was conventional in a Dichterweihe of the Hesiodic kind.« Brown, »Lucretius and Callimachus«, S. 332f.
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unberührten Quellen (integri fontes) und bricht neue Ruhmes-Blüten (novi flores), aus denen die Musen ihm einen exklusiven Kranz (insignis corona) flechten und ihn damit krönen. Wie gezeigt, verdient er diese corona – das apollinische Symbol des Sieges und der Dichtung – aus zwei Gründen: Erstens, weil er von großen Dingen (magnae res) unterrichtet und unseren animus von der religio befreit, und zweitens, weil er die verborgene natura rerum (res obscura) in lucida carmina verwandelt, indem er sie mit dem lepos seiner Dichtung berührt. Seine Hoffnung auf Ruhm wird somit erfüllt und sein amor Musarum erwidert, wobei letzter sowohl als ›Liebe zu den Musen‹ (objektiver Genetiv) als auch ›Liebe der Musen‹ zu ihm (subjektiver Genetiv) gelesen werden kann. Somit verbindet die Passage ingenium, göttliche Begeisterung, und ars, harte menschliche Arbeit am Text. Lukrez stellt sich in seiner Dichterweihe als primus dar und betont – wie schon in der poetologischen Digression, in der er von seinen neuen Worten (nova verba) und der Neuheit seiner Themen (rerum novitas) spricht (1.138f) – die novitas seiner eigenen Dichtung. Doch welches Neuland durchquert er und was ist eigentlich unter den avvia Pieridum loca zu verstehen, den ›weglosen Gebieten der Pieriden‹? Die Bezeichnung der Musen als Pierides ist ein gängiger Ausdruck, der auf Hesiod zurückgeht, der behauptet, dass die Musen von Zeus und Mnemosyne in Pierien (einer Landschaft in Makedonien, die an den Olymp grenzt) gezeugt wurden (theog. 53f), weshalb er sie auch als ›Musen aus Pierien‹ (Μοῦσαι Πιερίθεν) anspricht (op. 1). Einer alternativen Tradition zufolge, von der Cicero berichtet, wurden die ›Pierischen‹ von den ›Olympischen Musen‹ geschieden und galten als Töchter des Königs Pieros und seiner Frau Antiopa (nat. 3.54). Nach Ovid, der diese Tradition fortführt, sind die Pierischen Musen sogar Konkurrentinnen der Olympischen Musen, von denen sie im Wettkampf besiegt und verwandelt werden (met. 5.294–317).373 Bei Lukrez scheint diese Differenz keine Rolle zu spielen. Er unterscheidet nicht zwischen den Pierischen, Olympischen und Helikonischen Musen, aber zwischen den erhabenen Musen der hohen Dichtung und den bodenständigen Musen, der genannten agrestis oder silvestris Musa. Die Pierides sind für ihn schlichtweg ein allgemeines Patronym bzw. Geonym für die erhabenen Musen, in deren Zeichen seine Epik steht. Sie bedeuten nicht unbedingt, dass seine Dichterweihe am Fuße des Olymps in Pierien stattfand. Diese ist wahrscheinlich am Helikon zu verorten, da ihre imaginäre Topografie stark an die Ennius-Passage erinnert: Das Motiv der Erschließung neuer fontes und das Symbol der corona 373 Auf diese Geschichte macht Conrad aufmerksam. Allerdings scheint auch er ratlos, wie man die Unterscheidung zwischen Olympischen und Pierischen Musen auf Lukrez anwenden könnte: Christian Conrad, Loca nullius ante trita solo. Vorbilder und dichterisches Selbstbewusstsein in Lukrezens De rerum natura, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Wien, 2013, S. 37f.
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geht sicherlich auf die Annales zurück, womit die avia Pieridum loca die Funktion von Ennius’ Musarum scopuli erfüllen, obschon sich Lukrez nicht allgemein auf den Musenberg, sondern auf sein philosophisches Thema bezieht.374 Außerdem taucht das Motiv des unbegangenen Weges, des Thyrsos, der kranzflechtenden Musen und der Wagenfahrt auch bei Properz auf, der sich, wie gezeigt, in seiner Dichterweihe auf Ennius bezieht. Wir wissen nicht, ob sich all diese Elemente schon bei Ennius fanden. Jedenfalls verschmelzen Lukrez und Properz auf synkretistische Weise verschiedene Motive der hellenistischen Dichterweihe, um sich von Ennius abzugrenzen, der sich selbst wiederum u. a. an Hesiod und Kallimachos bedient.375 Die Dichterweihe eröffnet ein komplexes intertextuelles Netz, durch das die unterschiedlichen Dichter an die Tradition anknüpfen und gleichzeitig ihren Bruch mit dieser vollziehen.376 Die avia Pieridum loca sind ein paradoxer Raum, in dem sich das uralte Territorium der griechischen Musen mit dem Neuland der römischen Dichtung überlagert, ohne mit diesem völlig identisch zu werden. Dieses Spiel von Differenz und Wiederholung wird von der Dichtung nach Lukrez verdeutlicht. Nicht nur Properz, auch andere augusteische Dichter werden Ennius und Lukrez folgen, um sich von ihnen zu differenzieren. So grenzt sich Vergil im dritten Proömium seiner Georgica, das als Ankündigung seiner Aeneis zu lesen ist, offensichtlich von Ennius ab (3.8–13): Temptanda via est, qua me quoque possim tollere humo victorque virum volitare per ora. Primus ego in patriam mecum, modo vita supersit, Aonio rediens deducam vertice Musas; Primus Idumaeas referam tibi, Mantua, palmas et viridi in campo templum de marmore ponam […]. Ein [neuer] Weg ist zu erproben, auf dem auch ich mich vom Erdboden erheben und als Sieger durch die Münder der Menschen fliegen kann. Als Erster werde ich, wenn mein Leben hinreicht, vom Aonischen Gipfel heimkehrend, die Musen mit mir in meine Heimat führen; als Erster werde ich dir, Mantua, Idumaeische Palmen zurückbringen und auf der grünen Ebene einen Tempel aus Marmor errichten […].
Die Wendung, dass Vergil ›als Sieger durch die Münder der Männer fliegen‹ will (victor virum volitare per ora), imitiert das Grabepigramm von Ennius (volito
374 Vgl. Waszink, »Lucretius and Poetry«, S. 250f. 375 Vgl. Kambylis, Die Dichterweihe und ihre Symbolik, S. 191. 376 Hierzu die Bermerkung von Hinds: »[…] Hellenizing revolutions often operate in Roman poetry and in Roman literary self-fashioning in the last centuries BCE: they operate through a revision of previous Hellenizing revolutions, a revision which can be simultaneously an appropriation and a denial.« Hinds, Allusion and Intertext, S. 55.
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vivos per ora virum), auf das Lukrez, wie gesagt, anspielte.377 Ennius’ Ruhm – unsterblicher Atem – geht durch dieses Zitat auf Vergil über, weil nicht jener, sondern dieser als primus die Musae vom Aonischen Gipfel (Helikon) in das römische Territorium (patria) herabführte (deducere), wobei Vergils vertikales deducere offensichtlich Ennius’ vertikales deferre widerspiegelt.378 Außerdem bringt Vergil als primus exotische Palmen, ein Symbol des Sieges und ein Äquivalent der corona, in seine Heimatstadt Mantua zurück (referre). Dort errichtet er mit seiner Dichtung eine Art Tempel (templum), in dessen Mitte Augustus thronen wird (georg. 3.16). Dieser Vergleich seines künftigen Epos mit einem Tempel ruft Fulvius’ Musentempel in Erinnerung, der die narrative Struktur der Annales mutmaßlich prägte. Durch all diese Anspielungen stellt Vergil seine Aeneis in die Tradition der historischen Epik der Annales, die er zugleich fortführen und ersetzen will. Dahingegen verortet er sich in seinen Georgica in der Tradition der didaktischen Epik des De rerum natura, weshalb er sich in ihnen immer wieder auf Lukrez bezieht. So referiert beispielsweise Vergils Dichterweihe im dritten Buch der Georgica auf diejenige von Lukrez (georg. 3.289–293):379 Nec sum animi dubius, verbis ea vincere mangnum quam sit et angustis hunc addere rebus honorem; sed me Parnasi deserta per ardua dulcis raptat amor, iuvat ire iugis, qua nulla priorum Castaliam molli devertitur orbita clivo. Und ich zweifle nicht, wie groß [die Aufgabe ist], dies mit Worten zu besiegen und auch engen [kleinen] Dingen Ehre zu verschaffen; doch reißt mich süße Liebe über die verlassenen schroffen Gebiete des Parnass, [denn] es freut das Gipfeljoch zu betreten, von wo kein Weg der früheren [Dichter] die Kastalische Quelle über den sanften Abhang hinabwandte.
Der Dichter springt vom Helikon zum Parnass, dessen verlassene und schroffe Abhänge (deserta ardua) er erklimmt, um als primus die heilige Musenquelle des Bergs in die Ebene zu leiten, indem er ihr Bachbett umlenkt (devertere). Wie Lukrez betont er sowohl die Schwierigkeit (nec sum animi dubius = nec me animi fallit) wie die Freude (iuvat = iuvat … iuvat), mit denen seine Arbeit verbunden ist. Anders als sein Vorgänger möchte er aber kleine Dinge, d. h. enge Themen (angustae res), behandeln – im Folgenden beschreibt er die Kleintierzucht – und keine magnae res. Auch wenn er Lukrez in seiner berühmten Hommage als denjenigen lobt (georg. 2.490–293), »[…] qui potuit rerum cogoscere causas | 377 Vergil grenzt sich hier sowohl von Ennius als auch von Lukrez ab, wie Hardie darlegt: Hardie, Virgil’s Aeneid, S. 48–51. 378 Vgl. Hinds, Allusion and Intertext, S. 53. 379 Hierzu: Volk, The Poetics of Latin Didactic, S. 125f.
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atque metus omnis et inexorabile fatum | subiecit pedibus strepidum Acherontis avari ([…] der es vermochte, die Ursachen [aller] Dinge zu erkennen und alle Ängste, das unerbittliche Schicksal und das Tosen des gierigen Acheron, mit seinen Füßen unterwarf)«, gibt er sich selbst in den Georgica mit den ländlichen Göttern und dem friedlichen Handwerk der Bauern zufrieden, die im Gegensatz zur blutigen Geschichte Roms stehen (georg. 2.494–540).380 Verlegt Vergil seine eigene Dichterweihe vom Helikon auf den Parnass, um diesen Unterschied zu markieren, oder spricht dieses Detail im Gegenteil dafür, dass er Lukrez’ avia Pieridum loca mit dem Parnass gleichsetzt? Egal wie wir diese Frage beantworten, Helikon und Parnass scheinen erneut austauschbar. Die Pointe ist, dass sich die variablen Musenberge in hellenistischer Zeit immer auf bestimmte Vorläufer beziehen, die es sowohl zu imitieren als auch zu ignorieren gilt. Auch Manilius, der vermutlich zur Zeit des Augustus oder Tiberius dichtete, berief sich in seinem Lehrgedicht Astronomica wiederholt auf Lukrez, um sich von ihm abzusetzen. Manilius steht der Stoa nahe und kann aufgrund seiner teleologischen und theologischen Kosmologie als ein ›Anti-Lukrez‹ avant la lettre gelesen werden.381 Dennoch ähnelt seine Poetik in vieler Hinsicht derjenigen des Lukrez. Dabei lohnt sich ein Vergleich zwischen Astronomica und De rerum natura in doppelter Hinsicht: Manilius beschäftigt sich wie Lukrez mit magnae res, großen kosmologischen Themen, und er präsentiert wie dieser eine ältere bereits vorformulierte Theorie. Während Lukrez die Lehre Epikurs verdichtet, folgt Manilius der astronomischen Dichtung des Aratos, die er zwar nicht – wie Cicero mit seiner Aratea – übersetzt, aber nachdichtet und erweitert.382 Obwohl er in den Grundzügen einem griechischen ›Original‹ folgt, ist er von seiner eigenen ›Originalität‹ überzeugt. Das zeigt sich bereits im ersten Proömium der Astronomica, das mit folgenden Versen beginnt (astr. 1.1–6): Carmine divinas artes et conscia fati sidera diversos hominum variantia casus, caelestis rationis opus, deducere mundo aggredior primusque novis Helicona movere cantibus et viridi nutantis vertice silvas hospita sacra ferens nulli memorata priorum. Göttliche Künste und Sterne, die das Schicksal kennen und die unterschiedlichen Wechselfälle der Menschen bestimmen, das Werk himmlischer Vernunft von der Welt [Kosmos] herunterzuholen, beginne ich und bewege als Erster den Helikon mit neuen 380 Vgl. Monica R. Gale, Vergil on the Nature of Things. The Georgics, Lucretius and the Didactic Tradition, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 2000, S. 9–12. 381 Hierzu: Wolfgang Hübner, »Manilius als Astrologe und Dichter«, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 2, Bd. 32.2 (1984), S. 126–320, hier S. 233f. 382 Vgl. Patrick Glauthier, »Repurposing the Stars: Manilius, Astronomica 1, and the Aratean Tradition«, in: American Journal of Philology, 135, Nr. 2 (2000), S. 267–303, insb. S. 279f.
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Gesängen und seine mit grünen Wipfeln wogenden Wälder, fremde Heiligtümer tragend, die niemand zuvor in Erinnerung rief.
Im Unterschied zu Vergil und Ennius führt Manilius nicht die Musen oder eine corona vom Helikon herab (deducere = deferre), sondern bringt die himmlische ratio vom Weltraum auf die Ebene der Dichtung herunter (deducere) und erschüttert die Höhen des Helikons mit seinen neuen Gesängen (nova carmina).383 Dabei versteht sich Manilius durchwegs als primus: Auch wenn er im zweiten Proömium behaupten wird, dass jeder Helikon-Zugang bereits betreten wurde (omnis ad accessus Heloconos semita trita est) und die Quellen (fontes) des Musenbergs bereits erschöpft und trübe sind, dann tut er dies nur, um nichtsdestotrotz unberührte Wiesen (integra prata) zu betreten und um aus einem neuen Gewässer in einer verborgenen Grotte zu schöpfen, aus dem nicht einmal Vögel oder Apollo tranken (astr. 2.49–56). Er spricht nämlich in völlig neuen und eigenständigen Worten (astr. 2.57–59): »nostra loquar, nulli vatum debebimus orsa, | nec furtum, sed opus veniet, soloque volamus | in caelum curru […] (Ich werde unsere [Worte] sprechen, wir werden keinem der Dichter Anfangs-Worte schulden, kein Diebstahl, sondern ein [originales] Werk wird kommen und wir fliegen auf einem einsamen Wagen in den Himmel […]).«384 Sein Werk ist kein Plagiat (furtum) und verdankt gar nichts den älteren vates, obschon Manilius im ersten Proömium gesteht, dass er fremde Heiligtümer (hospita sacra) bei sich trägt (ferre), die niemand zuvor in der lateinischen Muttersprache erinnerte und benannte (memorare). Doch was meint er mit diesen geheimnisvollen hospita sacra? Führt Manilius Heiligtümer der Musen, die göttliche ratio oder die stoische Doktrin des Aratos in Rom ein? Für welche Lesart wir uns auch entscheiden, Manilius’ ferre ist wie Ennius’ oder Lukrez’ trans- oder deferre eine Bewegung, die zwischen der griechischen und römischen Welt vermittelt und auf einer sprachlichen und kulturellen Gastfreundschaft beruht, die etwas völlig Neues ermöglicht. Diese novitas seiner Dichtung begründet Manilius damit, dass er das Territorium der Musen mit dem Kosmos gleichsetzt und dadurch den Topos der Dichterweihe kosmologisiert: Wenn er im ersten Proömium selbstbewusst den Helikon betritt, beschreitet er freudig den unendlichen Kosmos (astr. 1.13f), »iuvat ire per ipsum | aera et immenso spatiantem vivere caelo […] (es freut, selbst durch den Äther zu schreiten und umherwandelnd im unermesslichen Himmel zu leben […]),« und erkennt zugleich das Innerste des Alls (astr. 1.17), 383 Das deducere ist eine Anspielung auf eine Stelle aus Vergils Bucolica: Vgl. Katharina Volk, Manilius and his Intellectual Background, Oxford u. a.: Oxford University Press, 2009, S. 187. Es erinnert aber auch an das zitierte deducere der Musen in den Georgica. 384 Über das zweite Proömium von Manilius: Luciano Landolfi, Integra prata. Manilio, i proemi, Bologna: Pàtron Editore, 2003, insb. S. 43f.
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»[…] scire iuvat magni penitus praecordia mundi […] ([…] es freut, in der Tiefe das Herz der großen Welt zu kennen […]).« Das doppelte ›es freut …. es freut‹ (iuvat … iuvat) entstammt aus Lukrez’ Dichterweihe und kombiniert die Freude der Dichtung mit der Erkenntnis der verborgenen natura rerum.385 Deshalb dient Manilius zwei Altären, wie er gegen Ende des ersten Proömiums schreibt (astr. 1.20–24): Bina mihi positis lucent altaria flammis, ad duo templa precor duplici circumdatus aestu carminis et rerum: certa cum lege canentem mundus et immenso vatem circumstrepit orbe vixque soluta suis immittit verba figuris. Zwei Brandaltäre leuchten mir durch gelegte Flammen, zu zwei Tempeln bete ich, umgeben von der doppelten Glut des Liedes und der Dinge: Den Dichter, der nach einem festen Gesetz [Versmaß] singt, umrauscht der Kosmos im unermesslichen Kreis, kaum aber flößt er [der Kosmos] durch seine Gestalten gelöste Worte [Prosa] ein.
Der vates Manilius opfert an zwei Altären, dem Tempel der Musen, der für seine dichterische Form (carmen) steht, sowie dem Tempel der kosmischen Vernunft, der seinen sachlichen Inhalt (res) symbolisiert. Er verbindet beide Altäre, denn erst, wenn sich die Flammen beider heiligen Stätten zu einer einzigen Hitze (aestus) vereinen, offenbart sich die res selbst, die Realität des unermesslichen Kosmos, die sich viel eher im strengen Versmaß als in der Prosa zeigt.386 Diese Verschmelzung von carmen und res dehnt das Gebiet der Musen auf den gesamten Kosmos aus. Das deutet auch das dritte Proömium an, in dem der Dichter die Pierides bittet, dass sie ihn durch Neuland (nova [loca]) geleiten (astr. 3.1f), damit er ihr Territorium erweitern kann (astr. 3.3f): »vestros extendere fines | conor et ignotos in carmina ducere census (Ich versuche, eure Gebiete zu erweitern und in meine Gesänge unbekannte Schätze einzuführen).« Aus der Perspektive des Kosmos wird das Territorium der Pierides annektiert, aus der Perspektive der Musen werden die traditionellen Grenzen ihres Gebiets (fines) gesprengt und erweitert (extendere), womit der Helikon zum Sprungbrett für eine intellektuelle Reise durch den gesamten Kosmos wird. Manilius’ verschlungenes Fortschreiben der hellenistischen Dichterweihe gibt einen allgemeinen Einblick in ihre intertextuelle Dynamik und lässt sich als eine Relektüre von Lukrez begreifen: Auch bei Lukrez finden wir eine Kosmologisierung der Dichterweihe. Denn so wie Manilius durch seine Dichtung den unermesslichen Himmel (immensum caelum) beschreitet und in der Tiefe die Eingeweide der großen Welt erforschen will (scire magni penitus praecordia), 385 Vgl. Volk, Manilius and his Intellectual Background, S. 192f. 386 Diese ›Dialektik‹ von Stil und Inhalt erinnert natürlich wieder an Lukrez: Vgl. Landolfi, Integra prata, S. 11–13.
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möchte Lukrez die in der Tiefe verborgenen Dinge erblicken (res occultas penitus convisere) und mit Epikur das Unendliche beschreiten. Lukrez’ Dichterweihe, in der er als primus mit seinem lebensmutigen Geist die weglosen Gebiete der Musen durchstreift (mente vigenti avia Pieridum peragro loca), erinnert sicher nicht zufällig an seine Schilderung Epikurs, der als primus das Unermessliche mit seinem Geist durchstreift (omne immensum peragravit mente animoque) (1.76). Wie kann Lukrez aber den sichtbaren vestigia seines Meisters folgen und simultan unbegangene Wege beschreiten? Dadurch, dass Lukrez letzendlich auf subtile Weise die avia Pieridum loca mit dem unendlichen All (immensum) gleichsetzt.387 Da Lukrez, wie in seiner Kritik an Heraklit gezeigt, die lucida carmina tendenziell der obscuritas der Prosa gegenüberstellt, könnte seine Antwort analog derjenigen des Manilius lauten: Die Priorität und Neuheit von Lukrez’ Dichtung liegt darin, dass er griechische res und lateinische carmina kombiniert und das Territorium der Musen, nicht nur auf das der römischen Literatur, sondern auch auf das der epikureischen Philosophie ausdehnt. Indem er Ennius’ epische Sprache auf Epikurs Kosmos überträgt, verdrängt er alle anderen Dichter aus dem Gefolge des Helikons (Heliconadum comites), das nun nicht mehr Homer mit seinem Zepter (3.1037f) oder Ennius mit seinem Lorbeerkranz, sondern allein Lukrez – von einer corona aus frischen Blüten gekrönt – anführen wird.
387 So auch Clay: »The deliberate parallelism Lucretius establishes between himself and Epicurus helps explain how Lucretius can portray himself as following Epicurus’ footsteps and at the same time as striking out through a trackless region to the sources of his inspiration. The clue lies in the words avia Pieridum … loca. The ἄπειρον or omne immensum (1.74) of Epicurus and Lucretius’ avia Pieridum … loca are one and the same.« Clay, Lucretius and Epicurus, S. 43.
»Hec visa sunt de apium imitatione que dicerem, quarum exemplo, ex cunctis que occurrent, electiora in alveario cordis absconde eaque summa diligentia parce tenaciterque conserva, nequid excidat, si fieri potest. Neve diutius apud te qualia decerpseris maneant, cave: nulla quidem esset apibus gloria, nisi in aliud et in melius inventa converterent.« Francesco Petrarca
III.
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1.
Aurea dicta: Sechs Modelle der Imitation Epikurs (3.1–30)
Fast alle Proömien von De rerum natura beinhalten ein hymnisches Lob Epikurs. So auch das dritte, in dem Lukrez sein Vorbild rühmt, um zugleich sein Verhältnis zu ihm näher zu spezifizieren. Es zählt neben dem im ersten Kapitel besprochenen ersten Proömium und neben der im zweiten Kapitel besprochenen Dichterweihe zu den bedeutendsten poetologischen Äußerungen Lukrez’. Der Anfang des Proömiums, dessen Eröffnungsverse uns vertraut sind, lautet folgendermaßen (3.1–30): O tenebris tantis tam clarum extollere lumen qui primus potuisti inlustrans commoda vitae, te sequor, o Graiae gentis decus, inque tuis nunc ficta pedum pono pressis vestigia signis, non ita certandi cupidus quam propter amorem quod te imitari aveo; quid enim contendat hirundo cycnis, aut quidnam tremulis facere artubus haedi consimile in cursu possint et fortis equi vis? tu, pater, es rerum inventor, tu patria nobis suppeditas praecepta, tuisque ex, inclute, chartis, floriferis ut apes in saltibus omnia libant, omnia nos itidem depascimur aurea dicta, aurea, perpetua semper dignissima vita. nam simul ac ratio tua coepit vociferari naturam rerum, divina mente coorta, diffugiunt animi terrores, moenia mundi discedunt, totum video per inane geri res. apparet divum numen sedesque quietae quas neque concutiunt venti nec nubila nimbis aspergunt neque nix acri concreta pruina cana cadens violat semperque innubilus aether integit et large diffuso lumine ridet. omnia suppeditat porro natura, neque ulla
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Imitari
res animi pacem delibat tempore ullo. at contra nusquam apparent Acherusia templa, nec tellus obstat quin omnia dispiciantur, sub pedibus quaecumque infra per inane geruntur. his ibi me rebus quaedam divina voluptas percipit atque horror, quod sic natura tua vi tam manifesta patens ex omni parte retecta est. O, der du als Erster vermochtest, aus so tiefen Dunkelheiten ein so helles Licht zu erheben, die Güter des Lebens erleuchtend, dir folge ich, o Zierde des griechischen Geschlechts, und in deinen gedrückten Zeichen der Füße setze ich jetzt die haftenden Spuren [meiner Versfüße], nicht so begierig nach Wettstreit, als aus Liebe, weil ich heftig begehre, dich nachzuahmen; denn was sollte die Schwalbe mit dem Schwan eifern oder was könnten Böcklein in ihrem Lauf mit zittrigen Gliedern es gleichtun der Macht des energischen Rosses? Du, Vater, bist der Entdecker der Dinge, du reichst uns väterliche Lehren und aus deinen Papyrus-Blättern, Hochberühmter, weiden wir, genauso wie die Bienen auf blütentragenden Waldgebirgen alles aussaugen, alle goldenen Worte ab, goldene, [weil] immerfort am würdigsten ewigen Lebens. Denn sobald deine Lehre begann, die Natur der Dinge, die sich aus [deinem] göttlichen Geist erhob, laut zu verkünden, fliehen die Schrecken der Seele, die Mauern der Welt weichen, in der ganzen Leere sehe ich Dinge geschehen. Es erscheinen der Götter Wesen und die ruhigen Sitze, die weder die Winde erschüttern, weder die Wolken mit Sturzregen bespritzen noch der weiße Schnee, erstarrt durch scharfen Frost, fallend verletzt und die immerzu der wolkenlose Äther bedeckt und [dieser] lacht im weithin vergossenen Licht. Alles reicht die Natur außerdem und kein Ding saugt zu irgendeinem Zeitpunkt den Frieden der Seele auf. Nirgends erscheinen hingegen aber die Tempel des Acheron und die Erde steht nicht im Weg, dass alles durchschaut wird, was auch immer in der Tiefe geschieht unter unseren Füssen in der Leere. Deshalb erfasst mich da eine gewisse göttliche Lust und ein Schauer, weil derart die Natur durch deine Macht so greifbar offensteht in jedem Teil entblößt.
Lukrez bestimmt seine Haltung gegenüber Epikur als Nachahmung (imitari) und Nachfolge (sequi). Dabei illustriert er seine literarische und philosophische imitatio durch eine ganze Reihe von Vergleichen und Modellen, die teilweise älteren literarischen Traditionen folgen und diese modifizieren, um sie in den Dienst der epikureischen Aufklärung zu stellen. In der zitierten Passage lassen sich mindestens sechs poetologische Modelle unterscheiden, die das Verhältnis zwischen Lukrez und Epikur regulieren. Erstens wird Epikur als prometheischer Lichtbringer porträtiert.388 Wie im ersten Kapitel gezeigt, ist seine ratio ein strahlendes Licht (clarum lumen), das
388 Epikur wurde von seinem Schüler Kolotes mit dem Sonnengott Helios verglichen, der die Dunkelheit erhellt (Us. S. 145), und Cicero schreibt (fin. 2.70): »Epicurus (hoc enim vestrum lumen est) (Epikur (das ist euer [der Epikureer] Licht)).« Hierzu: Richard Heinze, T. Lucretius Carus De rerum Natura Buch III, hg. u. komm. v. dems., Leipzig: Teubner, 1897, S. 48.
Aurea dicta: Sechs Modelle der Imitation Epikurs (3.1–30)
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gleich einer Fackel die Schatten (tenebrae) und Ängste der Seele (terrores animi) vertreibt,389 wobei das metaphorische Chiaroscuro sowohl eine ethische wie eine ontologische Funktion erfüllt. Epikur erleuchtet als primus die Güter der richtigen Lebensform (commoda vitae) und offenbart (retegere) simultan das wahre Wesen des Alls, die natura rerum. Das Licht seines Geistes durchdringt die Mauern der Welt (moenia mundi), die er schon im ersten Proömium, das wir ausführlich zitierten, wie ein Feldherr sprengte. Dadurch werden die friedlichen Sitze der Götter (sedes quietae) – in den sogenannten Zwischenwelten (μετακόσμια) – sichtbar, das wolkenlose und lichtvoll-fröhliche Sinnbild des Seelenfriedens (animi pax), das im Zentrum der epikureischen Ethik steht. Lukrez verleiht diesem Zustand der Ruhe rhetorische Evidenz, indem er eine Passage aus Homers Odyssee imitiert (Od. Ζ 42–46):390 […] Ολὔμπόνδ’, ὅθι φασὶ θεῶν ἕδος ἀσφαλὲς αι᾿εὶ ἔμμεναι. οὔτ ἀνέμοισι τινάσσεται οὔτε ποτ’ ὄμβρῳ δεύεται, οὔτε χιὼν ἐπιπίλανται, ἀλλὰ μάλ’ αἴθρη πέπταται ἀννέφελος, λευκὴ δ’ἐπιδέδρομεν αἴγλη. τῷ ἔνι τέρπονται μάκαρες θεοὶ ἤματα πάντα. […] zum Olymp, wo sie sagen, dass der Sitz der Götter ist, der wankenlose immer. Weder von Winden wird er erschüttert, noch auch von Regen je benetzt, noch auch naht Schnee ihm, sondern Himmelsheitre ist ausgebreitet, wolkenlos, und weißer Glanz läuft darüber hin. Auf ihm erfreuen sich die seligen Götter alle Tage.391
Lukrez’ Verse übertragen die homerische Schilderung der Göttersitze des Olymps auf die epikureischen μετακόσμια.392 Die Nachahmung Homers dient der Nachahmung Epikurs und deutet die homerischen Götter zu einem Gegenbild der traditionellen religio um. Während die Götter in der Höhe erscheinen, verschwinden die Acherusia templa, an deren Existenz Homer glaubte und von der sein simulacrum angeblich noch nach seinem Tod Ennius überzeugen wollte.
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Lukrez scheint dieser Darstellung zu folgen. Man könnte aber auch an Prometheus denken, der den Menschen erstmals das Feuer brachte. Hierzu Regenbogens Kommentar: »Es ist, als könnte sich der römische Dichter nicht genug tun in der Entgegensetzung des strahlenden, strömenden, lachenden Lichts und der schaurigen Finsterniss des gewähnten Acheron; in der Tat, auf dieser großen Antithese ruht eigentlich die Gesamtkonzeption dieses Elogiums; genauer, auf einem gedoppelten Paar von Gegensätzen […]: das Dunkel des Lebens, die Erleuchtung durch Epikur und das strahlende Licht des Göttersitzes – die düsteren Hallen des Acheron.« Otto Regenbogen, Lukrez. Seine Gestalt in seinem Gedicht, Leipzig u. a.: Teubner, 1932, S. 41. Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 990f. Ich übernehme die Prosaübersetzung von Wolfgang Schadewaldt. Dabei anthropomorphisiert Lukrez einerseits Homers Darstellung des Himmels (large diffusio lumine ridet), andererseits präzisiert er sie, indem er die Bildung des Schnees konkret beschreibt. Hier zeigt sich Lukrez’ wissenschaftlicher Blick für meteorologische Phänomene: Vgl. West, The Imagery and Poetry of Lucretius, S. 31f.
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Damit grenzt sich Lukrez von der mythologischen Dichtung seiner Vorgänger ab, obschon oder gerade weil er sie zitiert:393 Die Erde wird durch Epikurs ratio durchsichtig und wir können anstelle der Acherusia templa die unendliche Leere (inane) in der Tiefe erblicken (dispicere), in der sich alle res abspielen. Diese visuelle Metaphorik erinnert offensichtlich an die poetologische Digression aus dem ersten Proömium, in der Lukrez von seinem inlustrare spricht, das seinem Leser Lichter entzünden soll, durch die dieser in der Tiefe verborgene Dinge zu schauen vermag. Unter Rückbezug auf Lukrez’ inlustrare wird deutlich, dass Lukrez Epikurs clarum lumen imitiert und durch seine eigene Dichtung (re)aktualisiert. Zweitens charakterisiert Lukrez sein imitari durch den Vergleich mit einer Spurenlese. Auch dieses Modell ist uns bereits vertraut. Lukrez setzt seine geprägten Fußspuren (ficta vestigia) in die gedrückten Zeichen (pressa signa) seines Meisters, worunter im Allgemeinen dessen philosophischer Weg und im Besonderen die Schriftzeichen seiner Texte zu verstehen sind. Die Syntax der Verse ist dermaßen (durch Hyperbata) verschachtelt, dass sich Lukrez’ und Epikurs Fuß- und Schriftspuren chiastisch überkreuzen (3.3f): »[…] inque tuis nunc | FICTA pedum pono pressis VESTIGIA signis […] ([…] und in deinen gepressten Zeichen der Füße setze ich jetzt die haftenden Spuren [Verse] […]).« Die grammatische Konstruktion lässt offen, ob das Genetiv-Attribut pedum Lukrez’ oder Epikurs Füße meint, wobei pedes auf Lukrez bezogen auch dessen ›Versfüße‹ bezeichnen könnte. Ebenso ist der Ausdruck ›gepresste Zeichen‹ (ficta vestigia) ambivalent: Das Partizip fictus kann entweder vom Verb figere, ›heften‹, ›(ein)prägen‹, ›anschmiegen‹, oder von fingere, ›formen‹, ›bilden‹, ›erdichten‹ stammen.394 Beide Lesarten sind relevant, da Lukrez sowohl seine Fußspur an die Fersen Epikurs heftet als auch – wie im ersten Proömium – neue Schriftzeichen und Wörter (nova verba) erdichtet. Lukrez’ eigene vestigia stehen in der uralten philosophischen Tradition der Wegmetaphorik und verweisen zugleich auf die epikureische Methode des Analogiedenkens, der in Lukrez’ Dichtung eine besondere Funktion zukommt: Genauso wie Lukrez die vestigia der Phänomene entziffert, folgt er den signa seines Meisters und hinterlässt selbst schriftliche vestigia, denen sein Leser wiederum wie ein Spürhund folgen soll. Durch diese Fährten- und Spurenlese parallelisiert Lukrez sein Verhältnis zu Epikur mit demjenigen zwischen De rerum natura und seinem Leser oder allgemeiner mit 393 Ähnlich Campbell: »By recontextualizing Homer’s description of Olympus Lucretius seeks to invert the Homeric world view; the gods live beyond the walls of the world and not within it, from which they can visit the earth and hurl thunderbolts down on it. Homer is thus used against himself.« Campbell, »Lucretius, Empedocles and Cleanthes«, S. 34. 394 Fast alle Kommentatoren und Übersetzer lesen ficta als archaisches Partizip von figere, wohingegen Konstan die Ableitung von fingere für möglich hält: David Konstan, »Lucretius on Poetry: III.1–13«, in: Colby Literary Quarterly, 24, Nr. 2 (Jun. 1988), S. 65–70, insb. S. 65f.
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dem Verhältnis von Text und Natur. Der gegenwärtige Augenblick, das ›jetzt‹ (nunc), in dem Lukrez in Epikurs Fußstampfen tritt, kann sich sowohl auf den Akt des Lesens als auch auf den des Schreibens beziehen. Daher finden wir in Lukrez’ imitari eine poetische Simultanität, wie sie uns im inlustrare des ersten Proömiums begegnet ist. Diese Simultanität mündet in dem bekannten Paradox, dass Lukrez einerseits lesend Epikurs vestigia folgt und andererseits schreibend Musengebiete beschreitet, die zuvor noch keine Fußsohle betrat (avia Pieridum loca, nullius ante trita solo). Drittens bestimmt Lukrez sein Verhältnis zu Epikur, indem er tendenziell jede Form eines möglichen Wettstreits ausschließt: Sein imitari, so behauptet er, resultiert weniger aus Streit-Begierde (certandi cupidus), als aus reiner Liebe (amor) zu seinem Vorbild. Dadurch grenzt er seine imitatio von einer wetteifernden Nachahmung, aemulatio, ab, die, wie wir sehen werden, ein typisches Merkmal der hellenistischen Literatur ist, die üblicherweise ein historisches oder literarisches Vorbild ein- bzw. überholen will.395 Darum vergleicht Lukrez sich selbst in einem Bescheidenheitstopos mit einer zierlichen Schwalbe (hirundo) oder einem jungen Bock (haedus), Epikur jedoch mit einem majestätischen Schwan (cycnus) und der Kraft eines mächtigen Rosses (fortis equi vis), Tieren mit denen er nicht zu konkurrieren (contendere) wagt. Der Wetteifer unterschiedlicher Vogelgattungen ist ein uralter Topos, der sich schon bei Pindar und Theokrit findet, bei denen der Vergleich das Konkurrenzverhältnis zwischen Dichtern veranschaulicht.396 Dahingegen ist das Gleichnis vom Böcklein und dem Pferd wahrscheinlich eine Neuprägung von Lukrez, die auf ein poetisches Kräftemessen und auf eine gleichsam physische Macht (vis) zielt, wobei die vis, wie bald auszuführen ist, ein zentraler Begriff der römischen imitatio ist: Der Ausdruck ›Macht des energischen Rosses‹, fortis equi vis, imitiert eine homerische Formel (βία + Genetiv)397 und spielt überdies vermutlich auf Ennius an, der sich in einem Fragment selbst mit einem Rennpferd vergleicht.398 Die Figuration der Dichtung als Rennen und sportlicher Wettkampf ist uns bekannt und schwingt in diesem Vergleich mit, obwohl sie Lukrez vorläufig negiert, da er sich als Bock mit zittrigen Gliedern präsentiert, der gerade erst das Laufen gelernt hat. Vordergründig unterstreichen beide Tier-Vergleiche die Differenz zwischen Epikur und 395 Allgemein über das Verhältnis von aemulatio und imitatio in der römischen Literatur: Arno Reiff, Interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern, Diss., Universität Köln, 1959, insb. S. 111–122. 396 Einen Überblick über diese Vogelvergleiche bietet: C. Graca, Da Epicuro a Lucrezio. Il maestro ed il poeta nei proemi del De rerum natura, Amsterdam: Adolf M. Hakkert, 1989, S. 19f. 397 Vgl. E. J. Kenney, Lucretius, De rerum natura Book III, hg. u. komm. v. dems., Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 1971, S. 75. 398 Hierzu: C. Graca, Da Epicuro a Lucrezio, S. 21.
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Lukrez, die als unüberwindbare biologische Gattungsgrenze vorgestellt wird. Nichtsdestotrotz stellen sie aber eine gewisse Nähe her, weil sie aus dem Kontext der herkömmlichen Dichterdarstellung stammen und Epikur unausgesprochen die Rolle eines Dichters zuschreiben, der außer Konkurrenz steht.399 Doch Lukrez wird sich im vierten Buch, wie wir gegen Ende dieses Kapitels sehen werden, selbst als Schwan porträtieren, womit er insgeheim einen Wetteifer (contendere) mit seinem Vorbild betreibt. Viertens präsentiert Lukrez Epikur als väterliche Autorität: Wenn er ihn als pater bezeichnet, der uns ›väterliche Vorschriften oder Lehren‹ (patria praecepta) darreicht, dann schlüpft Lukrez und mit ihm sein Leser in die Rolle seines erziehungsbedürftigen Kindes. Der Epikureismus gleicht somit einer römischen Familie, in der sich alle Mitglieder ihrem Gründer Epikur und seiner patria potestas unterordnen.400 Lukrez’ imitatio wird zu einer literarischen Vater-SohnBeziehung innerhalb einer Gattung. Die biologische Gattungsgrenze der vorangegangenen Tiervergleiche wird aufgehoben, ähnlich wie die literarische zwischen Prosa und Versform durch Epikurs Darstellung als Dichter aufgeweicht wurde. Die Figuration intertextueller Verhältnisse als Blutsverwandtschaft ist ein Topos, den wir auch bei anderen Schriftstellern finden. So schreibt Seneca in einem berühmten Brief-Traktat über die literarische imitatio (epist. 84.8): »Etiam si cuius in te comparebit similitudo quem admiratio tibi altius fixerit, similem esse te volo quomodo filium, non quomodo imaginem: imago res mortua est (Auch wenn sich bei dir [in deinen Schriften] eine Ähnlichkeit mit jemandem [einem Autor] zeigen wird, für den dir eine besondere Bewunderung anhaftet, wünsche ich, dass du ihm nach Art eine Sohnes ähnlich bist, nicht nach Art eines Abbildes [Totenmaske]: Denn ein Abbild ist eine tote Sache).«401 Vergleichbar möchte Lukrez ein legitimer und lebendiger Sohn Epikurs sein, nicht dessen tote imago, die bloß eine passive und keine aktive Ähnlichkeit (similitudo) aufweist. 399 Damit präsentiert Lukrez Epikur als seinen eigenen poetischen Vorläufer, wie Ryan bemerkt: »Through animal similes, Lucretius attempts to depict Epicurus as a poet like himself. Literary tradition characterizes the swan, the horse, and the bee as poetic animals. […] Lucretius inserts himself into each animal simile, constructing links between his own poetry, the works of his poetic predecessor Ennius, and Epicurus’ writings. From these associations, the reader infers that the relationship between Epicurus and Lucretius is that of poetic sucession. Lucretius transforms Epicurus into his own poetic predecessor.« Kelly Erin Ryan, Poeticizing Epicurus in Lucretius’ De Rerum Natura, unveröffentliche Masterarbeit, University of Georgia, 2002, insb. S. 64–74. Ähnlich: Volk, The Poetics of Latin Didactic, S. 110– 116. 400 Pater erinnert nicht nur an die römische patria potestas, sondern galt auch als Beiname von Göttern: Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 988. 401 Interessanterweise greift Seneca eine Passage seines eigenen Vaters auf, d. h. des Redners Seneca d. Ä. Hierzu: Christopher Trinacty, »Like Father, Like Son?: Selected Examples of Intertextuality in Seneca the Younger and Seneca the Elder«, in: Phoenix, 63, Nr. 3/4 (2009), S. 260–277, hier S. 264f.
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Retrospektiv erweiterte ein humanistischer Kommentator diese Ähnlichkeit im Vorwort seiner Ausgabe von De rerum natura zu einer regelrechten Genealogie, die er allerdings auf die ›Familie‹ der römischen Literatur beschränkt: »avum esse Q. Ennium, patrem T, Lucretium, P. Vergilium Maronem filium (Ennius ist der Großvater, Lukrez der Vater, Vergil der Sohn).«402 Bei Lukrez finden wir hingegen eine gewisse Familienähnlichkeit zwischen Epikurs griechischen patria praecepta und seiner eigenen römischen Vatersprache (patrius sermo) (1.832, 3.260), in der er die väterlichen Schriften (patriae chartae) (4.970) oder die väterlichen Stimmen (patriae voces) (5.337) seiner Dichtung verfasst. Die poetische Sprache des pater Ennius vermischt sich gleichsam mit der philosophischen Autorität des pater Epicurus. Die sprachliche und intellektuelle patria von Lukrez verschränken sich im patrilinearen Modell, das zunächst Epikurs uneingeschränkte Autorität unterstreicht.403 Fünftens erklärt Lukrez Epikur noch im selben Atemzug zum göttlichen Erfinder oder Entdecker der Dinge, zum rerum inventor. Das Erfinden und Entdecken, reperire oder invenire, spielt in der Rhetorik des De rerum natura, wie gesagt, eine Schlüsselrolle und durchzieht das ganze Werk. Epikurs ausgezeichneter Status besteht darin, dass er als primus die natura rerum darstellte und ihre ratio durch seinen göttlichen Geist (divina mens) ans Licht brachte.404 Während Lukrez im dritten Proömium eher beiläufig von Epikurs göttlichem Geist (divina mens) spricht, wird er ihn im fünften explizit zum deus erklären (5.8), den er mit anderen Göttern vergleicht: So achtet er andere altbewährte und göttliche Erfindungen (divina antiqua reperta), etwa die Entdeckung des Getreideanbaus durch Demeter (Ceres) und die der Weinproduktion durch Dionysos (Bacchus), gering im Vergleich zu den philosophischen reperta Epikurs. Auch die Heldentaten des Herkules, welche die Erde von Ungeheuern befreiten, reichen nicht an Epikurs heroische Leistung heran, die das menschliche Herz von Ängsten und Lastern reinigte (5.13–46). Götter und Heroen galten in der Antike als erste Erfinder/Entdecker (πρῶτος εὑρετής = primus inventor) und der Gott Epikur scheint sie aufgrund seiner divina reperta alle zu überbieten.405 Darum 402 Obertus Giphanius, T. Lucretii Cari De rerum natura libri sex, hg. u. komm. v. dems., Antwerpen: Christophori Plantini, 1566, S. 32. 403 Zur Metaphorik der Vaterschaft in der griechisch-römischen Antike und ihre politischen und religiösen Implikationen: T. R. Stevenson, »The Ideal Benefactor and the Father Analogy in Greek and Roman Thought«, in: The Classical Quaterly, 42, Nr. 2 (1992), S. 412–436. 404 Es gibt in De rerum natura eine dramaturgische Steigerung, die Epikur zunächst als Graius homo, dann als pater und schließlich als deus präsentiert. Der Ausdruck ratio divina mente coorta im dritten Proömium erinnert an die Kopfgeburt der Athene und weist auf die Vergöttlichung im fünften Proömium voraus: Vgl. Jeffrey M. Duban, »Ratio divina mente coorta and the Mythological Undercurrent in the Deification of Epicurus«, in: Prudentia, 11 (1979), S. 47–53. 405 Vgl. Gale, Myth and Poetry in Lucretius, S. 196f.
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benutzt Lukrez in seinen Proömien, wenn er von Epikur spricht, teilweise die Sprache epischer Götteranrufungen und hält sich an die Konventionen des traditionellen Götterlobs, das nach Quintilian folgende rhetorische Funktionen erfüllen muss (inst. 3.7.8): »Verum in deis generaliter primum maiestatem ipsius eorum naturae venerabimur, deinde proprie vim cuiusque et inventa, quae utile aliquid hominibus attulerint (Bei den Göttern freilich werden wir üblicherweise zuerst die Majestät ihrer Natur verehren, dann auch die Macht eines jeden und ihre Erfindungen, die den Menschen einen Nutzen gebracht haben).«406 Entsprechend rühmt Lukrez die Majestät (maiestas), die Macht (vis) und die Erfindungen (inventa = reperta) Epikurs, wenn er zu Beginn des fünften Proömiums eine rhetorische Frage aufwirft: Wer vermöchte ein Lied zu stiften, das der Majestät der Dinge und ihrer Entdeckung (pro rerum maiestate hisque repertis) angemessen ist? Wer kann einen Lobpreis Epikurs dichten (laudes fingere), der selbst aus sterblichen Körpern erwuchs (mortali corpore cretus) (5.1– 6)? Die Antwort ist Lukrez selbst. Indem er die Licht-Natur Epikurs rühmt, der als Erster und Bester die wahre Lebenslehre erfand (qui princeps vitae rationem invenit) (5.9) und durch seine Macht die ganze Natur für uns evident-greifbar öffnete (natura tua vi tam manifesta patens) (3.29), wird er selbst unsterblich, was freilich seiner Lehre von der radikalen Sterblichkeit aller Lebewesen und Dinge widerspricht.407 Das Modell des Gott-Menschentums färbt durch die imitatio und Verherrlichung Epikurs auf Lukrez ab und verleiht seinem Werk Unsterblichkeit.408 Zuletzt und sechstens vergleicht Lukrez seine poetische Aufgabe mit der Arbeit der Bienen: Wie die Bienen (apes) auf einer blumenreichen Waldlichtung (floriferi saltus) von allen Blüten kosten, schwirrt Lukrez über Epikurs Schriften aus Papyrus-Blättern (chartae) und weidet alle seine goldenen Worte (omnia aurea dicta) ab, die eines ewigen Lebens mehr als würdig sind.409 So gewinnt er aus Epikurs chartae seine Dichtung, den süßen Honig der Musen (musaeum dulce mel), mit dem er im Anschluss an seine Dichterweihe den Becher der bitteren epikureischen Lehre versüßen wird. Mit diesem Vergleich greift Lukrez auf eine 406 Vgl. Graca, Da Epicuro a Lucrezio, S. 35. 407 Gale bringt dieses Paradox auf den Punkt: »Epicurus was worth to be called a god and surpassed the terrestrial gods of Euhemerus precisely by denying the possibility that man can undergo apotheosis or that the gods have any concern with mankind.« Gale, Myth and Poetry in Lucretius, S. 80. 408 Hierzu Gracas Bemerkung: »Lucrezio, piuttosto, intende che chi compone l’elogio del maestro espone le dottrine epicuree non è un mortale qualsiasi, ma un artifice divino al pari del fondatore del Kepos.« Graca, Da Epicuro a Lucrezio, S. 41. 409 Gold galt in der griechischen Mythologie als Symbol der Unsterblichkeit: Vgl. H. L. Lorimer, »Gold and Ivory in Greek Mythology«, in: Greek Poetry and Life. Essays presented to Gilbert Murray on his Seventieth Birthday, hg. v. Gilbert Murray, Oxford: Clarendon Press, 1936, S. 14–33.
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lange literarische Tradition zurück: Der Honig und die Biene sind mythologisch aufgeladene und vielschichtige Symbole, die bereits in der ältesten griechischen Dichtung mit Dionysos, der Mantik und der Dichtkunst assoziiert wurden.410 Platon, der in der Biene ein Sinnbild der dionysischen Begeisterung (ἐνθουσιασμός) der Dichter sieht, referiert in einer vielzitierten Passage seines Ion auf diese Tradition (534a-b): »λέγουσι γὰρ δήπουθεν πρὸς ἡμᾶς οἱ ποιηταὶ ὅτι ἀπὸ κρηνῶν μελιρρύτων ἐκ Μουσῶν κήπων τινῶν καὶ ναπῶν δρεπόμενοι τὰ μέλη ἡμῖν φέρουσιν ὥσπερ αἱ μέλιτται, καὶ αὐτοὶ οὕτω πετόμενοι·καὶ ἀληθῆ λέγουσι (Es sagen zu uns nämlich die Dichter, dass sie von honigfließenden Quellen aus Musengärten und Bergschluchten die Lieder pflücken und uns bringen, wie die Bienen und auch umherflattern – und sie sagen dies wahrheitsgemäß).« Ähnlich bringt Varro die Bienen mit blumenreichen und entlegenen Bergen in Verbindung, die er mit dem Olymp oder dem Helikon vergleicht, weshalb er die Tiere auch als ›Vögel der Musen‹ (Musarum volucres) bezeichnet (rust. 3.16). Lukrez vergleicht sich sicher aufgrund dieser traditionellen Assoziationen mit der Poesie und dem Territorium der Musen mit einer Biene. Epikurs ›Garten‹, der ›Kepos‹ (Κῆπος), der als metonymische Bezeichnung der epikureischen Schule galt, verwandelt sich damit in einen ›Garten der Musen‹ (Μουσῶν κῆπος) – ganz im Sinne der besprochenen antiken Dichterweihe.411 Darüber hinaus lässt sich Lukrez’ Bienen-Vergleich aber als eine Art Bescheidenheitstopos lesen, da die Biene ein viel kleineres Tier ist als der zuvor genannte Schwan. Diese Opposition von Schwan und Biene, die bei Lukrez nur implizit angelegt ist, wird in einer Ode des Epikureers Horaz explizit (carm. 4.2.25–32): »Multa Dircaeum levat aura cycnum, | tendit […] quotiens in altos | nubium tractus: ego apis Matinae | more modoque, | grata carpentis thyma per laborem | plurimum, […] operosa parvos | carmina fingo (Mächtiger Lufthauch hebt Dirkes Schwan [ = Pindar] empor, so oft er […] zu den hohen Wolkenzügen strebt: Ich [Horaz] aber, nach Art und Weise der Biene vom Matius, die viel angenehmen Thymian mit Mühe pflückt, bilde […] bescheiden [meine] mühsam erarbeiteten Lieder).«412 So wie sich Horaz vom griechischen Schwan Pindar abgrenzt und sich in autochthonen Gefilden verortet, unterscheidet sich Lukrez vom Schwan Epikur und stellt seine Arbeitsmühe (labor) als kleine und be410 Zur antiken Symbolik der Biene und des Honigs: Jan Hendrik Waszink, Biene und Honig als Symbol des Dichters und der Dichtung in der griechisch-römischen Antike, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1974, S. 6–20. Außerdem: Thomas Bounas, »Weder den Honig noch die Biene begehr ich. Die Biene in der griechischen Dichtung von der archaischen Zeit bis zum Ende des Hellenismus«, in: Ille operum custos. Kulturgeschichtliche Beiträge zur antiken Bienensymbolik und ihrer Rezeption, hg. v. David Engels, Hildesheim u. a.: Olms, 2008, S. 60– 81. 411 So auch: Glei, »Erkenntnis als Aphrodisiakum«, S. 89. Über Epikurs Garten: Clay, »The Athenian Garden«, insb. S. 9f. 412 Horaz bezieht sich hier auf Lukrez: Vgl. Hardie, Lucretian Receptions, S. 208–212.
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scheidene Biene ganz in den Dienst der epikureischen Lehre.413 Dadurch wird die Biene bei Lukrez erstmals in der römischen Literatur zum Symbol eines intertextuellen Verhältnisses, ein Topos, der dann besonders ausführlich von Seneca ausgearbeitete wurde,414 der in seinem bereits zitierten Brief schreibt (epist. 84.3): »Apes, ut aiunt, debemus imitari, quae vagantur et flores ad mel faciendium idoneos carpunt, deinde quidquid attulere, disponunt ac per favos digerunt […] (Wir müssen die Bienen, wie man sagt, imitieren, die umherflattern und die Blumen [Worte oder Texte], die zur Herstellung des Honigs [eines neuen Textes] ideal sind, aussaugen [pflücken], dann alles, was sie herangeschafft haben, ablegen und auf die Waben verteilen […]).« Lukrez’ imitatio nimmt einen ähnlichen Umweg und imitiert die Bienen, um schließlich Epikur zu imitieren. Während Seneca dazu aufruft, die besten Blüten verschiedener und nicht näher genannter Autoren eklektisch auszuwählen – eine Art Anthologie, ›Blütenlese‹ –, behauptet Lukrez, dass er alle unsterblichen aurea dicta seines Meisters aufsammelt und sie in den Waben seiner Dichtung aufbewahrt.415 Werden aber Epikurs aurea dicta im Zuge von Lukrez’ Tätigkeit bloß konserviert oder transformiert? Seneca wirft eine analoge Frage auf, wenn er sich im Zuge seines eigenen Bienen-Gleichnisses fragt, ob die Bienen den Honigsaft einfach direkt aus den Blüten saugen, oder ob sie zunächst einen Rohstoff (Blütenstaub) sammeln (collegere), der nachträglich durch ihre Verdauung in Honig verwandelt wird (mutare oder vertere). Seneca lässt dies bezüglich der Bienen offen, plädiert aber hinsichtlich der Literatur eindeutig dafür, dass die gelungene imitatio nicht ohne ein Ferment funktioniert, das die diversen Ausgangsmaterialien der imitierten Autoren zur Einheit des Honigs zusammenwachsen lässt (non sine quodam … fermento, quo in unum diversa coalescunt) (epist. 84.4).416 Damit bricht Seneca mit der alten Tradition, die den Honig als vorgefertigtes Produkt ansah, das sich in Form des Honigtaus, der vom Himmel kommt, in den Blüten ablagert. Lukrez selbst scheint zunächst eher zur traditionellen Auffassung zu tendieren, da er im dritten Proömium keine Transformation der aurea dicta erwähnt, die überdies schon honigfarben sind.417 Dem 413 Paradoxerweise imitiert Horaz Pindar in seiner Ode, in der er zugleich die Unmöglichkeit dieser Imitation betont. Zu diesem Paradox: Gregory Nagy, »Copies and Models in Horace Odes 4.1. and 4.2«, in: The Classical World, 87, Nr. 5 (1994), S. 415–426, insb. S. 416. 414 Vgl. Jürgen von Stackelberg, »Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Imitatio«, in: Romanische Forschung, 68 (1956), S. 271–293, insb. S. 273f. 415 Hierzu der Kommentar von Cox: »[…] like a bee he [Lucretius] has sipped the aurea dicta of Epicurus […], and even if the resultant honeycomb (the intricate structure of De Rerum Natura) is of Lucretius’ own making, the material of it was the unaltered teaching of his master.« A. S. Cox, »Lucretius and His Message: A Study in the Prologues of the De Rerum Natura«, in: Greece & Rome, 18, Nr. 1 (Apr. 1971), S. 1–16, S. 9. 416 Vgl. Stackelberg, »Das Bienengleichnis«, S. 275–277. 417 Vgl. Waszink, Biene und Honig als Symbol des Dichters und der Dichtung, S. 6f.
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widerspricht aber seine Dichterweihe, die den Musenhonig (musaeum dulce mel) seiner Dichtung mit der bitteren und prosaischen Lehre Epikurs kontrastiert, um sie mit seinem Honig-Becher-Gleichnis zu versöhnen. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich teilweise lösen: Verstehen wir unter dem Honig bloß ein Symbol des Inhalts der wahren Lehre, möchte Lukrez diesen sammeln und konservieren. Betrachten wir den Honig hingegen als Symbol der poetischen Form, dann muss er Epikurs aurea dicta erst in das musaeum dulce mel transformieren. Somit präsentiert sein Bienen-Gleichnis die gesamten griechischen Schriften Epikurs als Musengärten, aus denen er den Honig der epikureischen Lehre schöpft, um ihn zugleich in den Honig seiner römischen Dichtung zu überführen. Insofern Lukrez als emsige Biene zwischen zwei unterschiedlichen Sprachen und literarischen Formen verkehrt, muss auch sein imitari im Sinne Senecas, wie es im letzten Kapitel noch im Detail zu beweisen gilt, eine grundlegende Verwandlung, ein künstlerisches – dädalisches – mutare oder vertere, sein. Alle sechs poetologischen Vergleiche beleuchten unterschiedliche Aspekte der Nachahmung und Nachfolge, des imitari und sequi, und markieren sowohl eine Ähnlichkeit als auch eine unüberwindbare Differenz zwischen Epikur und Lukrez. Ihre doppelte Funktion führt zu Paradoxien, welche die gesamte Poetik von Lukrez durchziehen: Epikurs inlustrare entzündet ein Licht, das heller als alles andere strahlt, und dennoch sind seine Entdeckungen obscura reperta, die auf Lukrez’ inlustrare harren. Lukrez steigt in die vorgeprägten vestigia Epikurs und betritt simultan Neuland, avia Pieridum loca. Er vergleicht Epikur mit einem Schwan oder einem Pferd und macht ihn zu einer Art Dichter, mit dem er als Schwalbe und Böcklein nicht mithalten kann, obwohl er es offensichtlich tut, was sich spätestens in seiner Selbstdarstellung als Schwan zeigen wird. Dann bezeichnet er Epikur als pater, was der vorangehenden Gattungsunterscheidung offensichtlich widerspricht und den griechischen Philosophen mit der eigenen römischen Vatersprache (patrius sermo) assoziiert. Außerdem stellt er ihn als uneinholbaren primus und göttlichen rerum inventor dar, um sich selbst als primus und als Entdecker oder Erfinder zu stilisieren, dem schließlich eine ähnliche Unsterblichkeit zukommt, obwohl dies der epikureischen Lehre widerspricht. Nicht zuletzt vergleicht er sich mit einer Biene, die Epikurs aurea dicta bloß konserviert, um sie in das musaeum dulce mel seiner Dichtung zu transformieren, das in der Dichterweihe mit dem bitteren Inhalt der epikureischen ratio kontrastiert. Diese Paradoxien und oberflächlichen Ungereimtheiten leben allesamt davon, dass Lukrez Epikur zugleich zum unerreichbaren Gott und zu seinem eigenen poetologischen Modell erklärt. Lukrez’ imitari setzt eine wesentliche Differenz voraus, die es selbst kontinuierlich unterminiert. Schließlich koinzidiert Lukrez mit seinem Vorbild, wenn alle poetologischen Modelle gegen Ende der Passage im hedonistischen Ziel der epikureischen Ethik
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und lukrezischen Poesie kulminieren, das selbst als gemischter Affekt beschrieben wird (3.28–30): »his ibi me rebus quaedam divina voluptas | percipit atque horror, quod sic natura tua vi | tam manifesta patens ex omni parte retecta est (Deshalb erfasst mich da eine gewisse göttliche Lust und ein Schauer, weil derart die Natur durch deine Macht so greifbar offensteht in jedem Teil entblößt.).« Indem Lukrez Epikur folgt, erblickt er durch Epikurs philosophische Offenbarungsmacht, vis, unter seinen eigenen Füßen – Schriftzeichen bzw. Versfüßen – die unendliche Leere und wird von einer divina voluptas gepackt, der allerdings eine gewisser horror beigemischt ist.418 Damit beschreibt er nicht nur seine Beziehung zu Epikur, sondern zugleich die Wirkungsästhetik seines eigenen Textes: Das De rerum natura möchte beim Leser dieselben Affekte hervorrufen, die Lukrez bei seiner Lektüre Epikurs erfassten. Der alte horror der religio wird durch eine kosmische und poetische Vertigo ersetzt, die auch die voluptas des Lesers steigern soll.419 Damit ähnelt aber die divina voluptas atque horror der Verbindung der Süße des Honigs von Lukrez’ Dichtung, die durch ihren musaeus lepos alles berührt, und der Bitternis des Wermuts der epikureischen Lehre, vor der das einfache Volk zurückschreckt (volgus abhorret). Wenn Lukrez die unverblümte Wahrheit Epikurs in den Honig seiner Dichtung verwandelt, dann bleibt ein bitterer Beigeschmack der prosaischen aurea dicta Epikurs haften.
2.
Chartae: Querelen der Quellenfrage
Von welchen chartae, ›Papyrusblättern‹, ›-rollen‹, ›Schriften‹, Epikurs spricht Lukrez eigentlich, wenn er aus ihnen gleich einer Biene die aurea dicta abweidet, um aus ihnen das musaeum dulce mel seiner Dichtung zu gewinnen? Diese berüchtigte ›Quellenfrage‹, die schon viele Philologen beschäftigte, lässt sich nicht abschließend beantworten. Denn von Epikurs umfänglichen Schriften – Diogenes 418 Bailey bezeichnet den Asudruck divina voluptas atque horror als »[…] a peculiary Roman expression for the religious emotion, in which horror, the religious awe, which was probably the original meaning of religio, was a strong element […].« Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 992. Auch wenn Lukrez gegen den horror der religio ankämpft, mischt sich ein gewisser religiöser Schauer in seine Betrachtung der Unendlichkeit, was an Pascals Schrecken angesichts des Schweigens der unendlichen Räume erinnert. Siehe: Boyancé, Lucrèce et l’Épicurisme, S. 194. 419 Darum nennt Schrijvers das dritten Proömium zurecht »[…] prélude plein de souvenirs du langage religieux et même mystique […].« Schrijvers, Horror ac divina voluptas, S. 340. Ähnlich betont Fauth, dass Lukrez’ horror an die Initiation in einen Mysterienkult erinnert: Wolfgang Fauth, »Divus Epicurus: Zur Problemgeschichte philosophischer Religiosität bei Lukrez«, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 1, Bd. 4 (1973), S. 205–225, hier S. 220f.
Chartae: Querelen der Quellenfrage
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Laertios erwähnt über 40 Titel (vit. 10.27f) – sind nur die Wenigsten erhalten, von denen wiederum viele nur bruchstückhaft überliefert sind.420 Auch von Epikurs Nachfolgern sind nur Fragmente überliefert, die sich oftmals nur mit Mühe einordnen und rekonstruieren lassen. Damit sind die meisten epikureischen Quellen heute entweder gänzlich versiegt oder großteils verschüttet, weshalb wir bei der Beantwortung der Quellenfrage auf bloße Mutmaßungen angewiesen sind. Dennoch lassen sich aus dem Vergleich zwischen Epikurs spärlich erhaltenen chartae und Lukrez’ lateinischen patriae chartae allgemeine Schlussfolgerungen ziehen, die für ein näheres Verständnis von Lukrez’ imitatio entscheidend sind. Seitdem Jan Woltjer erstmals einen systematischen Vergleich zwischen Epikur und Lukrez anstrebte, wurden in der Forschung zahlreiche Positionen vertreten. Während Woltjer annahm, dass sich Lukrez ausschließlich an Epikur orientierte, ohne sich dabei aber auf eine einzelne Quelle festzulegen,421 haben andere Forscher den Fokus auf bestimmte Werke Epikurs gerichtet oder verschollene Werke Epikurs und seiner Nachfolger als Hauptquelle in Erwägung gezogen. Die komplexen Hypothesen der Quellenforschung lassen sich im Wesentlichen auf vier Thesen reduzieren, die hin und wieder kombiniert wurden.422 Erstens könnte Epikurs sogenannte Epistola ad Herodotum die wichtigste Quelle von Lukrez sein. Dieser Lehrbrief, der nur wenige Seiten umfasst, wurde gemeinsam mit anderen Briefen Epikurs von Diogenes Laertios überliefert und fasst die gesamte epikureische Physik für Eingeweihte zusammen. Er ist neben De rerum natura die einzige vollständig erhaltene und zusammenhängende Darstellung von Epikurs Naturphilosophie. Sein Aufbau ähnelt in mancher Hinsicht der Architektur von Lukrez’ Gedicht, was bereits von humanistischen Editoren und Kommentatoren im 16. Jhd. bemerkt wurde.423 Ebenso geht die moderne Forschung von zahlreichen strukturellen Korrespondenzen zwischen den beiden Texten aus: Epikurs Brief umfasst hauptsächlich den Stoff der ersten vier Bücher von Lukrez (ontologische Grundprinzipien, Kinetik der Atome, Psychologie, simulacra-Lehre), streift aber auch in Ansätzen das fünfte Buch (Kulturgeschichte und Himmelsphänomene). Im Unterschied zu Lukrez handelt die Epistola ad Herodotum allerdings die Psychologie vor der simulacra-Lehre ab, führt Details aus, die Lukrez überspringt, und gibt nur ansatzweise Auskunft über die 420 Als umfangreichste Fragmentsammlungen gelten immer noch: Hermann Usener, Epicurea, hg. u. komm. v. dems., Leipzig: Teubner, 1887; Graziano Arrighetti, Epicuro, Opere, hg., übs. u. komm. v. dems., Turin: Einaudi, 1960. 421 Woltjer berief sich u. a. auf den Eklektizismus von Lukrez’ Bienengleichnis: Jan Woltjer, Lucreti philosophia cum fontibus comparata, Groningen: Noordhoff, 1877, insb. S. 176–186. 422 Einen guten Überblick über die Quellenforschung bietet: Michael Erler, »Lukrez«, in: Die Philosophie der Antike, Bd. 4, Halbb. 1, S. 381–490, hier. S. 414–416. Sowie: Jürgen Schmidt, Lukrez, der Kepos und die Stoiker. Untersuchungen zur Schule Epikurs und zu den Quellen von De rerum natura, Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang, 1990, S. 12–23. 423 Vgl. Clay, Lucretius and Epicurus, S. 17f.
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Kulturgeschichte und die Lehre von den Himmelsphänomenen, die Lukrez in den letzten beiden Büchern detailiert darstellt.424 Trotzdem entsprechen einige Passagen der Epistola ad Herodotum gewissen Lukrez-Stellen fast im Wortlaut, weshalb der Kommentator Cyril Bailey sogar an ihre direkte Übersetzung durch Lukrez denkt, obwohl er die Epistola ad Herodotum nicht für die einzige und wichtigste Quelle von Lukrez hält: »[…] his [Lucretius’] relation to it [the Epistola ad Herodotum] is so close that it is almost impossible to resist the conclusion that he was translating it.«425 Darüber hinaus finden sich vereinzelte Überlegungen Lukrez’ in anderen Lehrbriefen Epikurs, die kürzer als die Epistola ad Herodotum sind, etwa in der Epistola ad Menoeceum (ethische Gedanken) oder der Epistola ad Pythoclem (multiple Erklärungen der Himmelsphänomene), wobei die Authentizität des letzten Briefs allerdings umstritten ist.426 Doch selbst wenn wir die Epistola ad Herodotum durch weitere Briefe ergänzen, ergibt sich ein entscheidendes Problem: Die genannten Lehrbriefe sind nur wenige Seiten lang und in einer esoterischen Prosa verfasst, die sich oftmals nur unter Bezugnahme auf De rerum natura verstehen lässt. Seltsamerweise ist es darum einfacher, Lukrez als Quelle für Epikur zu benutzen als umgekehrt. Sollten diese spärlichen Briefe Epikurs wirklich die chartae sein, die Lukrez im dritten Proömium vor Augen hat, dann ist die Ausbeute ihrer aurea dicta, ihr Honig oder Blütenstaub, zu gering, um die Waben des gesamten De rerum natura auszufüllen. Die erste These beantwortet die Quellenfrage darum nur unzulänglich, weshalb sie nur selten in ihrer absoluten Reinform vertreten wurde. Deshalb schlugen einige Forscher zweitens vor, dass sich Lukrez in seiner Darstellung an einer umfangreichen Quelle orientiert, die später verloren ging. Epikur selbst bezeichnet in seiner Epistola ad Pythoclem – falls diese überhaupt echt ist – seine Epistola ad Herodotum rückblickend als ›Kleiner Aufriss‹ (Μικρὰ ἐπιτομή) (Phyt. 85), womit er sie offensichtlich als bündige Zusammenfassung seiner Naturphilosophie begreift. Dahingegen erfahren wir aus fragmentarischen Scholien, dass Epikur auch einen ›Großer Aufriss‹ (Μεγάλα ἐπιτομή) verfasste, der heute verschollen ist.427 Sofern diese Μεγάλα ἐπιτομή existierte, ähnelte sie vermutlich der Epistola ad Herodotum, war jedoch umfangreicher. Wichtige Forscher wie Adolf Brieger, Carlo Giussani oder Cyril Bailey hielten diese für Lukrez’ bedeutendste Quelle, obschon sie andere (Neben)Quellen nicht prinzi-
424 Zu den Parallelen und Differenzen zwischen Epistola ad Herodotum und De rerum natura: Carlo Giussani, T. Lucreti Cari De rerum natura libri sex. Studi Lucreziani, hg. u. komm. von dems., Turin: Ermanno Loescher, 1896, Bd. 1, S. 1–6. 425 Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 1, S. 25. 426 Die Echtheit der Epistola ad Pythoclem wurde von Usener bezweifelt, dem viele Forscher folgten: Usener, Epicurea, S. XXXVIIf. 427 Vgl. Clay, Lucretius and Epicurus, S. 28–30.
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piell ausschlossen.428 Das Problem an dieser durchaus plausiblen These ist, dass wir keine einzige Zeile dieser Μεγάλα ἐπιτομή besitzen. Das gilt auch für die alternative These, dass Lukrez’ eigentliche Quelle ein Text von Epikurs Nachfolgern sei, der nicht mehr näher bestimmbar ist. Eine solche Position wurde erstmals von Hermann Usener angedeutet429 und dann von Hermann Diels aufgegriffen, der annimmt, dass sich Lukrez in De rerum natura hauptsächlich an den Vorlesungen zeitgenössischer Epikureer wie Zeno oder Phaidros orientierte.430 Diese Argumention wurde u. a. von Werner Lück weiterentwickelt, der in den letzten beiden Bücher des Lukrez einen indirekten Einfluss der mittleren Stoa – insbesondere von Poseidonios – vermutet, der wiederum durch zeitgenössische Epikureer vermittelt wurde. Lück schließt aus dieser fragwürdigen Hypothese ingesamt auf jungepikureische Quellen bei Lukrez.431 Auch Forscher wie Phillip Howard De Lacy oder Jürgen Schmidt sehen im De rerum natura eine unausgesprochene Auseinadersetzung mit der Stoa und Spuren späterer Entwicklungen der epikureischen Schule (Epikur selbst setzte sich wahrscheinlich nicht mit der Stoa auseinander), weshalb sie davon ausgehen, dass sich Lukrez nicht allein auf die Schriften Epikurs bezieht.432 Im Kontext der jungepikureischen Schule wurde das Augenmerk der Forschung auf den Umkreis von Philodemos von Gadara gerichtet, eines Epikureers, der ungefähr zu Lukrez’ Zeit in Süditalien lebte und dort die bedeutende epikureische Bibliothek von Herculaneum leitete. Möglicherweise befand sich sogar ein Exemplar von De rerum natura in dieser Bibliothek.433 Philologen wie Beate Beer spekulieren über einen persönlichen Kontakt zwischen Lukrez und Philodemos.434 Der Vergleich zwischen den Fragmenten des Philodemos und Lukrez erwies sich in der For-
428 Vgl. Adolf Brieger, Epikurs Brief an Herodot 68–83, Halle: Heynemannsche Buchdruckerei, 1882, S. 6; Giussani, T. Lucreti Cari De rerum natura, Bd. 1., S. 10f; Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 1, S. 24f. 429 Vgl. Usener, Epicurea, S. XXXVI. 430 Diels schließt diese weittragende Hypothese daraus, dass Lukrez das Wort στοιχεῖον als elementum wiedergibt, obwohl στοιχεῖον in Epikurs erhaltenen Fragmenten nicht vorkommt. Στοιχεῖον taucht allerdings in der Epistola ad Pythoclem auf, die Diels für eine jungepikureische Kompilation hält: Diels, Elementum, S. 9f. 431 Vgl. Werner Lück, Die Quellenfrage im 5. und 6. Buch des Lukrez, Dissertation, Universität Breslau, 1932, S. 182f. Eine frühe Kritik dieser fragwürdigen Position findet sich z. B. in der Rezension von Reitzenstein: Erich Reitzenstein, »Die Quellenfrage im 5. und 6. Buch des Lukrez by Werner Lück«, in: Gnomon, 9, Nr. 10 (Oktober 1933), S. 542–549. 432 Vgl. Phillip Howard De Lacy, »Lucretius and the History of Epicureanism«, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association, 79 (1948), S. 12–23; Schmidt, Lukrez, der Kepos und die Stoiker, insb. S. 223f. 433 Dies vermutet Obbink anhand einiger Fetzen lateinischer Buchstaben, die in Herkulaneum gefunden wurden: Dirk Obbink, »Lucretius and the Herculaneum Library«, in: The Cambridge Companion to Lucretius, S. 33–40. 434 Vgl. Beate Beer, Lukrez und Philodem. S. 13–24.
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schung als äußerst produktiv,435 trägt aber nichts zur Quellenfrage bei, da sich Philodemos’ erhaltene Texte zwar mit Ethik, Rhetorik, Poetik, Methodologie, usw. beschäftigen, nicht aber mit der Naturlehre (φυσιολογία) im strengen Sinn. Wir kennen bislang kein Werk von Philodemos oder von irgendeinem anderen Epikureer, das dem Inhalt und Aufbau von De rerum natura entspricht. Nicht zuletzt muss die sogenannte ›jungepikureische‹ These ignorieren, dass Lukrez explizit nur von den chartae Epikurs spricht und keinen anderen Epikureer erwähnt. Natürlich können wir nicht ausschließen, dass Lukrez auch sekundäre Quellen anderer Epikureer benutzte. Es wäre jedoch zumindest verwunderlich, wenn er nicht primär aus den Schriften Epikurs schöpft, den er wie einen Gott verehrt.436 Demgegenüber wurde drittens mit Epikurs ›Über die Natur‹ (Περὶ φύσεως) ein Werk aus der Hand des Meisters vorgeschlagen, von dem immerhin Fragmente überliefert sind. Titel und Inhalt von Περὶ φύσεως, das als Epikurs Hauptwerk gilt, entsprechen Lukrez’ Gedicht. Papyrusfetzen der chartae dieses Werkes wurden ab dem 18. Jhd. bei den Ausgrabungen der Bibliothek von Herculaneum entdeckt und in einer langwierigen Puzzlearbeit zusammengesetzt.437 Wir können Epikurs Epistola ad Herodotum sowie die verlorenene Μεγάλα ἐπιτομή als Zusammenfassung dieses großangelegten Werkes lesen, das im Unterschied zu ersterem in einer exoterischen Prosa, d. h. im Stil mündlicher Unterweisungen, verfasst ist. Dabei umfasste Περὶ φύσεως ursprünglich 37 Bände und war schätzungsweise zehnmal so lang wie Lukrez’ De rerum natura.438 Davon sind heute nur wenige Fragmente aus den Schlusspartien von Buch 2, 11, 14, 15, 21, 25 und 28 erhalten. Die Edition und Neuedition der Fragmente ist teilweise immer noch im Gange. Die These, dass Epikurs Περὶ φύσεως die Hauptquelle von Lukrez ist, wurde schon von Johannes Mewaldt439 vertreten und in neuerer Zeit von David Sedley aufgegriffen, der seine eigene Position so zusammenfasst: »Lucretius’ sole Epicurean source […] was Epicurus’ On nature [Περὶ φύσεως], and of that mainly the first fifteen of its thirty-seven books. Initially he followed its sequence of topics very closely, indeed almost mechanically. But to some extent as he proceeded, and to a greater extent during a phase of rewriting, he developed a radically revised 435 So gibt es interessante Überschneidungen, aber auch Unterschiede zwischen Lukrez’ und Philodemos’ Verteidigung der Dichtung. Auch Philodemos schrieb Gedichte, betrachtet die Poesie jedoch im Unterschied zu Lukrez eher als angenehmen Zeitvertreib und nicht als philosophisches Medium: Vgl. Asmis, »Epicurean Poetics«, S. 26–34. 436 Darauf macht schon Boyancé aufmerksam: Boyancé, Lucrèce et l’Épicurisme, S. 53–56. 437 Eine Zusammenfassung der Entdeckungsgeschichte der Bibliothekt von Herkulaneum in: Stephen Greenblatt, The Swerve. How the World Became Modern, New York/London: Norton & Company, 2011, S. 63–80. 438 Diese Schätzung folgt: Sedley, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, S. 102f. 439 Vgl. Johannes Mewaldt, »Eine Dublette in Buch IV des Lucrez«, in: Hermes, 43, Nr. 2 (1908), S. 286–295, hier S. 295.
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structure for the whole.«440 Um diese These zu stützen, muss Sedley den Aufbau der ersten fünfzehn Bücher von Περὶ φύσεως rekonstruieren, von denen nur wenige Bruchstücke aus vier Büchern erhalten sind. Er tut dies mithilfe von Epikurs Epistola ad Herodotum und Lukrez’ eigenem Werk, womit er sich teilweise in eine zirkuläre Argumentation verstrickt. Denn die Rekonstruktion von Περὶ φύσεως unter Bezugnahme auf Lukrez setzt bereits voraus, dass dieses die Quelle von jenem ist.441 Überdies versucht Sedley die strukturellen Unterschiede, die sich zwischen Περὶ φύσεως und De rerum natura ergeben, zu glätten, indem er bei Lukrez (aufgrund gewisser Ungereimtheiten im vierten Proömium) zwei unterschiedliche Bearbeitungsphasen unterscheidet. Doch diese textgenetische Lektüre, die ebenfalls auf Mewaldt zurückgeht,442 reicht kaum für weittragende Behauptungen. Die angeblichen Spuren einer früheren Textschicht sind viel zu gering, um zu folgern, dass Lukrez seinem postulierten ›Original‹ in einem ersten Arbeitsschritt gleichsam ›mechanisch‹ folgte. Würde es sich bei Περὶ φύσεως tatsächlich um die chartae handeln, an denen sich Lukrez orientiert, dann setzt allein ihr enormer Umfang von Anfang an eine strukturelle und nicht bloß eine stilistische Umarbeitung voraus. Nicht zuletzt tut sich Sedley schwer, poetologische Passagen von Lukrez zu erklären, für die er Empedokles als entscheidendes Modell anführt. Der Anfang, das Venus-Proemium, und der Schluss, die Beschreibung der Pest von Athen, von De rerum natura sind für ihn bloß ein empedokleisches ›Sandwich‹, das mit dem epikureischen Inhalt von Περὶ φύσεως gefüllt wird, wobei die Poetik der Philosophie in zentralen Punkten widerspricht.443 Diese dritte These ist fruchtbar, insofern sie eine vergleichende Lektüre der Fragmente von Περὶ φύσεως mit De rerum natura anregt, die immer wieder neue Korrespondenzen aufzudecken vermag.444 Im Großen und Ganzen ist sie jedoch äußerst spekulativ und muss Lukrez’ Poetik tendenziell zu einer reinen Äußerlichkeit erklären. Darum haben manche Forscher viertens versucht, die Quellenfrage gleichsam zu umgehen, indem sie behaupteten, dass sich Lukrez nicht an einem bestimmten Text, sondern auf freie Weise an Epikurs φυσιολογία orientierte. Diese These, die Lukrez’ Unabhängigkeit unterstreicht, wurde von Diskin Clay ausgearbeitet, der an pointierter Stelle schreibt: »[…] Lucretius finally depended on 440 Sedley, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, S. 134. 441 Clay spricht darum in seiner Kritik an Sedley von einem »pain of circularity«: Diskin Clay, »Recovering Originals: Peri Physeos and De Rerum Natura«, in: Apeiron, 33, Nr. 3 (2000), S. 259–271, hier S. 267. 442 Vgl. Mewaldt, »Eine Dublette in Buch IV des Lucrez«, insb. S. 289f. 443 Vgl. Sedley, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, insb. S. 203. 444 So hat z. B. Leone zahlreiche Parallelen zwischen der Metaphorik der εἴδολα im zweiten Buch von Epikurs Περὶ φύσεως und im vierten Buch von Lukrez’ De rerum natura aufgezeigt: Giuliana Leone, »Εἴδολα e nuvole: Su alcune metafore e simulitudini in Epicuro«, in: Cronache Ercolanesi, 44 (2014), S. 5–18.
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no written text or texts for the philosophy he expounded in De rerum natura. He made Epicurus’ philosophy his own and his preservitude to this thought seems to have made him free of any slavish attachment to a handbook survey of Epicurus’ physiology.«445 Clay macht darauf aufmerksam, dass Epikur zu Beginn der Epistola ad Herodotum seine Schüler dazu auffordert, die erstrangigen Zusammenhänge (κυριώτατα) bzw. die elementaren Grundsätze (στοιχειώματα) seiner φυσιολογία auswendig zu lernen (Her. 35–36). Er versucht zu zeigen, dass Lukrez mindestens zehn dieser Elementarsätze (στοιχειώματα), die in der Epistola ad Herodotum genannt werden, und darüber hinaus zwei Weisungen aus einer ethischen Spruchsammlung Epikurs, den sogenannten ›Entscheidenden Lehrsätzen‹ (Κύριαι δόξαι), in De rerum natura übersetzt.446 Damit ähneln seine Ausführungen denjenigen der Vertreter der ersten These, betonen aber, dass Lukrez Epikurs φυσιολογία nicht ›mechanisch‹ von einem Text in einen anderen übertrug: »[…] he did not mechanically transfer the dense formulation of Epicurus’ Greek from a papyrus roll into Latin hexameter.«447 Stattdessen ›übersetzte‹ Lukrez keine konkreten chartae, sondern las Epikurs gesamtes Werk, um die epikureische Lehre als Ganzes zu verstehen und um sie sich frei anzueignen, wobei er im Zuge seiner eigenen Darstellung hin und wieder Epikurs aurea dicta aus dem Gedächtnis übersetzt und zitiert. Diese Vorstellung gewinnt an Plausibilität, wenn wir bedenken, dass antike Autoren oftmals aus der Erinnerung zitieren und sogar ganze Texte aus dem Gedächtnis heraus übersetzten.448 Obwohl Clay Περὶ φύσεως als Quelle methodisch ausschließt und sich in seinen eigenen Analysen hauptsächlich auf die Epistola ad Herodotum bezieht, ist sein Ansatz prinzipiell für alle anderen möglichen Quellen offen. Diese vierte These bleibt allerdings sehr vage, weil sie die traditionelle Quellenfrage letztlich marginalisiert und suspendiert. Die vier Thesen schließen sich, wie vorrausgeschickt, nicht zwangsläufig aus, sondern lassen sich in unterschiedlichen Varianten versöhnen: Vielleicht hat Lukrez in Herculaneum Epikurs Περὶ φύσεως studiert und mit zeitgenössischen Epikureern (z. B. mit Philodemos) diskutiert, bei seiner Arbeit jedoch nur die Μεγάλα ἐπιτομή, die Epistola ad Herodotum oder persönliche Exzerpte zur Hand? Vielleicht hat er Epikurs Gesamtwerk und die Werke späterer Epikureer in seinem Gedächtnis völlig neu reorganisiert und schöpft zusätzlich aus mündlichen Überlieferungen? Oder er hat neben Epikurs chartae irgendeine uns unbekannte Quelle genutzt, z. B. eine griechische Vorlage, von der wir nichts wissen, oder einen lateinischen Prosatraktat eines römischen Epikureers, von dessen 445 446 447 448
Diskin Clay, Lucretius and Epicurus, S. 31. Vgl. a. a. O., S. 55. a. a. O, S. 31. Vgl. McElduff, Roman Theories of Translation, S. 9.
Imitari: Von der griechischen Mimesis zur römischen Imitatio
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Existenz Cicero berichtet? … Keine dieser oder alternativer Möglichkeiten lässt sich stichhaltig beweisen oder widerlegen. Halten wir uns jedoch an die wenigen positiven Quellen, die uns heute zugänglich sind, und schließen aus, dass sich Lukrez an einer verschollenen Quelle bedient, die dem Inhalt und Aufbau seines De rerum natura mehr oder weniger entspricht (2. These), dann zeigt sich, dass unsere Quellen entweder zu klein (1. These) oder viel zu groß (3. These) sind, um an ihre wortwörtliche Übersetzung und/oder ihre bloße Versifizierung zu denken. Solange wir keine neue Quelle entdecken, deuten alle Anzeichen darauf hin, dass Lukrez seine Quelle(n) grundlegend verwandelt, weshalb wir mit wesentlichen Abweichungen rechnen müssen (These 4), egal ob wir diese wie Sedley durch ›mechanische‹ Zwischenschritte, oder wie Clay eher durch eine ›organische‹ literarisch-rhetorische Gedächtnisleistung erklären. Darum bedeutet die Verbindung von Stoff und Form für Lukrez etwas völlig Neues und nur darum kann er im dritten Proömium erklären, dass sein Material aus Epikurs chartae stammt, obwohl er in seiner Dichterweihe aus unberührten Quellen (integri fontes) schöpft. Um noch einmal auf Senecas Frage zurückzukommen: Lukrez’ imitari erweist sich auch vor dem Hintergrund der Querelen der Quellenfrage als eine Umwandlung (vertere), die Epikurs aurea dicta schließlich durch Prozesse, die sich nur noch ansatzweise rekonstruieren lassen, in Lukrez’ musaeum dulce mel transformiert.449
3.
Imitari: Von der griechischen Mimesis zur römischen Imitatio
Wenn Lukrez sein Verhältnis zu Epikur als imitari bestimmt, berührt er ein komplexes Begriffsfeld. Der schillernde Begriff der imitatio ist das römische Pendant der griechischen Mimesis (μίμησις), die bekanntlich in der antiken Pädagogik, Ethik, Ästhetik, Rhetorik, Literaturtheorie, Epistemologie und Ontologie eine kaum überschaubare Rolle spielte: Μίμησις leitet sich vom reflexiven Verb μιμεῖσθαι, ›darstellen‹, ›imitieren‹ ab. Ursprünglich stammt der Ausdruck aus dem Bereich der Musik und des Schauspiels. Ein μῖμος ist zugleich ein
449 Auch wenn Bailey die Bedeutung der Μεγάλα ἐπιτομή in seiner Darstellung der Quellenfrage möglicherweise überschätzt, scheint mir seine folgende Charakterisierung unübertroffen: »He [Lucretius] was not a mere poetaster turned on to versify the speculations of his fellowEpicureans, but a great poet, endowed with far-reaching faculty of observation, who thought out the Epicurean theories for himself and illustrated them from what he saw about him. It may well be that he was in close contact with Epicurean thinkers of the time and here and there he may have taken a hint from them and incorporated it into his poem. But again and again he proclaims his close adherence to his master, Epicurus, and it was from him that the whole main substance of the poem was derived.« Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 1, S. 28.
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Schauspieler und eine dramatische Gattung.450 Μίμησις bezeichnete die Dreiecksbeziehung zwischen einem Darsteller, seiner Darstellung (Rolle) und seinem Publikum, wobei der Fokus ursprünglich auf dem performativen Effekt lag. Dahingegen rückte mit Platon die zweistellige repräsentative Relation zwischen einem Nachahmer (μιμητής = imitator) und seinem Vorbild (παράδειγμα = exemplum) zunehmend in den Vordergrund und bestimmte die Tradition.451 Ganz grundsätzlich lässt sich das Begriffsfeld der μίμησις-imitatio, das in der Antike kaum systematisch verwendet wurde, grob in drei Teilbereiche gliedern, die untereinander zusammenhängen.452 Erstens und im weitesten Sinn meint μίμησις eine Nachahmung der Wirklichkeit oder der Natur (imitatio naturae). Dieses Konzept wurde in der Philosophie bekanntlich v. a. von Platon und Aristoteles ausgearbeitet. Platon entwickelt seinen Begriff der μίμησις im Rahmen seiner pädagogischen und ästhetischen Reflexionen über den Nutzen der musischen Künste, insbesondere der Dichtung: In seiner Politeia führt er ihn zur Definition der poetisch-dramatischen Darstellung ein, d. h. zu Kennzeichnung der direkten Rede in einer Dichtung, die er von der unpersönlichen Darstellung oder Erzählung (διήγησις) abgrenzt (392d). Im Laufe des Dialogs weitet er ihn auf alle bildenden und darstellenden Künste (Malerei, Plastik, Musik, Schauspiel und Dichtung) aus, wobei die Analogie, die er zwischen Dichtung und Malerei zieht, dazu führt, dass er die μίμησις als technische Erzeugung von Bildern (τῶν ει᾿δώλων δημιουργία) versteht (rep. 599a).453 Der Dichter wie der Maler gleicht einem Menschen, der einen Spiegel vor sich trägt, in dem sich die außerliterarische Wirklichkeit spiegelt (rep. 596d-e). Ganz ähnlich bestimmt der Dialog Sophistes die μίμησις als Bildproduktion (ει᾿δωλοποιικὴ τέχνη) (265b): »Ἡ γάρ που μίμησις ποίησίς τίς ἐστιν, ει᾿δώλων μέντοι, φαμέν, ἀλλ’ οὐκ αὐτῶν ἑκάστον (Die Mimesis ist freilich eine Erzeugung [Poiesis], nämlich von Bildern, sagen wir, und nicht von den jeweiligen Dingen [Wirklichkeiten] selbst).« Damit wird die ästhetische μίμησις zu einem ontologischen Problem: Sie ahmt nämlich laut Platon nicht unbedingt die höchste Wirklichkeit (die Ideen) nach, sondern produziert zumeist nur Schattenoder Spiegelbilder (εἴδωλα = simulacra) der vergänglichen Erscheinungswelt (φαινόμενα), die uns um zwei Stufen von den Ideen und ihrer Erkenntnis entfremdet. Die Künstler und Dichter, aber auch die Sophisten, die rhetorische 450 Über den Ursprung der μίμησις in Tanz und Musik: H. Koller, Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, Bern: Francke, 1954, insb. S. 119f. Zur Deutung des μῖμος: Göran Sörbom, Mimesis and Art. Studies in the Origin and Early Development of an Aesthetic Vocabulary, Uppsala: Scandinavian University Books, 1966, S. 37–40. 451 Vgl. Jean-Pierre Vernant, »Naissance d’images«, in: Ders., Religions, histoires, raisons, Paris: Maspero, 1979, S. 105–137, S. 106f. 452 Diese Unterscheidung folgt der Darstellung von: Kaminski/Rentiis, »Imitatio«, Sp. 235f. 453 Vgl. Sörbom, Mimesis and Art, S. 133–138.
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Wort-Bilder (εἴδωλα λεγόμενα) erzeugen (soph. 234c-e), gaukeln uns Trugbilder von Erscheinungen vor, wie sie auch den gefesselten Menschen im Schattentheater des berühmten Höhlengleichnis erscheinen: An den Höhlenwänden spiegel sich Attrappen, welche die gefesselten Höhlenbewohner für die Wirklichkeit selbst halten (rep. 514b). Die Gruppe der falschen μιμηταί wird somit zum Feindbild des wahren Philosophen, weshalb Platon in seinen Dialogen die Sophisten bekämpft und die Dichter in seiner Politeia teilweise aus dem idealen Staat verbannt.454 Doch diese Kritik der ›schlechten‹ μίμησις schließt nicht aus, dass es in Platons Werk auch Spuren einer ›guten‹ μίμησις gibt, die sich nicht an den Erscheinungen, sondern den Ideen orientiert: So sind z. B. laut Sophistes alle Erscheinungen (φαινόμενα) und Bilder (εἴδωλα), die uns in der Natur begegnen, Produkte einer göttlichen Kunst (θεία τέχνη) (265e). Dies wird im Timaios damit erklärt, dass der gesamte Kosmos ein Ebenbild (ει᾿κών) (29b) bzw. eine Nachahmung der ewigen Natur (διαιωνίας μίμησις φύσεως) (39e) ist, die ein rätselhafter Handwerker-Gott (Demiurg) herstellt.455 Auch wenn der sichtbare Kosmos im Vergleich zur wahren Natur minderwertig ist, so ist er dennoch göttlich und partizipiert an den Ideen, womit sich der Begriff der μίμησις ansatzweise mit demjenigen der ontologischen Teilhabe (μέθεξις) vermischt.456 Darüber hinaus beschreibt Platon im Kratylos das Wesen der Sprache (die elementaren Grundwörter) als eine μίμησις, die nicht nur die oberflächlichen Erscheinungen – etwa im Sinne der Lautmalerei –, sondern auch das Wesen und die Bedeutung (οὐσία) der Dinge zu imitieren vermag (423e), womit sie uns einen Zugang zur Wirklichkeit ermöglicht.457 Obwohl Platon die μίμησις zumeist negativ als Produktion einer Schein- und Unwirklichkeit thematisiert, kann sie bei ihm durchaus ein positives Verhältnis zur Wirklichkeit herstellen. Vor diesem Hintergrund erscheint sogar der platonische Philosoph als eine Art von μιμητής, der durch seine Rede und sein Verhalten im Unterschied zu den Sophisten oder Dichtern nicht äußerlich die sinnlichen Erscheinungen, sondern innerlich die ideelle-göttliche Natur, die wahrhaftige Wirklichkeit,
454 Nach Havelocks einflussreicher Deutung wendet sich Platon damit nicht nur gegen die Dichter, sondern allgemein gegen die beherrschende orale Kultur seiner Zeit: Eric A. Havelock, Preface to Plato, Cambridge Mass. u. a.: Harvard University Press, 1963, insb. S. 41–49. 455 Vgl. Francis MacDonald Cornford, Pato’s Cosmology. The Timaeus of Plato, Indianapolis u. a.: Bobbs-Merrill, 1957, S. 27f. 456 Koller bemerkt: »Nur insofern das Nachgeahmte (μίμημα) noch teilhat μετέχει an der Idee, ist es für den Philosophen von Bedeutung.« H. Koller, »Mimesis«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1971, Sp. 1396–1399, hier Sp. 1398. 457 Vgl. Gérard Genette, Mimologiken. Reise nach Kratylien, übs. v. Michael von Killisch-Horn, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001, S. 35.
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nachahmt,458 wodurch er schließlich selbst einem Gott ähnlich wird (ὁμοιοῦσθαι θεῷ) (rep. 613b). Aristoteles knüpft an Platons Theorie der μίμησις an: Während Platon jedoch die μίμησις meist abwertet, unterstreicht Aristoteles von Anfang an ihren Nutzen für die Erkenntnis der Wirklichkeit und schreibt ihr in seiner Poetik einen anthropologischen Status zu (1448b): »Τό τε γὰρ μιμεῖσθαι σύμφυτον τοῖς ἀνθρώποις ἐκ παίδων ἐστί καὶ τούτῳ διαφέρουσι τῶν ἄλλων ζῴων ὅτι μιμητικώτατόν ἐστι καὶ τὰς μαθήσεις ποιεῖται διὰ μιμήσεως τὰς πρώτας καὶ τὸ χαίρειν τοῖς μιμήμασι πάντας (Denn sowohl das Nachahmen ist den Menschen von Kind auf angeboren – und dieser [der Mensch], so heißt es, unterscheidet sich von allen anderen Lebewesen darin, dass er äußerst nachahmungsfähig ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmungen erzeugt – als auch das Sich-Freuen, das alle bei Nachahmungen empfinden).« Der angeborene Nachahmungstrieb des Menschen erzeugt (ποιεῖν) ein gewisses Wissen (μαθήσις) und löst Freude aus.459 Beides machen sich die Dichter zunutze, wenn sie im Medium der Sprache und des Rhythmus als Nachahmer handelnde Menschen nachahmen (μιμοῦνται οἱ μιμούμενοι πράττοντας) (poet. 1448b).460 Da Aristoteles die Dichtung auf die μίμησις menschlicher Handlungen einschränkt, muss er Naturphilosophen (φυσιολόγοι), die wie Empedokles, die in Versen den Kosmos beschreiben, aus der Dichtkunst ausschließen (poet. 1447b).461 Dabei stellen die Dichter im strengen Sinn aber nicht unbedingt wirkliche handelnde Charaktere dar, sondern einen wahrscheinlichen Handlungsverlauf, den Aristoteles als Mythos (μῦθος) bezeichnet (poet. 1450a). Die Dichtung imitiert weniger Lebenswirklichkeiten als Lebensmöglichkeiten, d. h. das Potenzielle (τὰ δυνατά), das sich gemäß dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit innerhalb der Sphäre des Menschseins ereignen könnte (poet. 1451a). Damit wendet Aristoteles Platons Konzept der μίμησις ins Positive. Er schreibt ihr eine anthropologische Rolle und ein gewisses Wissen zu, das in seiner Allgemeinheit das Tatsachenwissen der Geschichtsschreibung übertrifft (poet. 1451b).462
458 Vgl. Vernant, »Naissance d’images«, S. 136. 459 Ausführlich hierzu: Stavros Tsitsiridis, »Mimesis and Understanding: An Interpretation of Aristotle’s Poetics 4. 1448B4–19«, in: The Classical Quarterly, 55, Nr. 2 (Dez. 2005), S. 435– 446. 460 Aristoteles versteht hier unter Handlungen in erster Linie bewusst gewählte Handlungen, weshalb seine Theorie der μίμησις von Anfang an eine moralische Komponente innewohnt: Vgl. Cynthia A. Freeland, »Plot Imitates Action: Aesthetic Evaluation and Moral Realism in Aristotle’s Poetics«, in: Essays on Aristotle’s Poetics, hg. v. Amélie Oksenberg Rorty, Princeton: Princeton University Press, 1992, S. 111–132, insb. S. 115f. 461 Vgl. Gale, Myth and Poetry in Lucretius, S. 101. 462 Vgl. David Gallop, »Poetry versus History in Aristotle’s Poetics«, in: Philosophy and Literature, 42, Nr. 2 (Okt. 2018), S. 420–433, insb. S. 426f.
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Doch auch der aristotelische Begriff der μίμησις lässt sich keinesfalls auf die Dichtkunst einengen: Aristoteles erklärt durch ihn nämlich alle menschlichen Künste oder Techniken (τέχναι = artes), wovon die Dichtung nur ein Teilbereich ist. So heißt es in seiner Physik (199a): »ὅλως δὲ ἡ τέχνη τὰ μὲν ἐπιτελεῖ ἃ ἡ φύσις ἀδυνατεῖ ἀπεργάσασθαι, τὰ δὲ μιμεῖται (Allgemein gesprochen, die Kunstfertigkeit [des Menschen] bringt teils zur Vollendung, was die Natur nicht zu Ende bringen kann, teils ahmt sie [die Natur] nach).« Jede erlernbare Kunstfertigkeit (τέχνη) orientiert sich an der Natur (φύσις), indem sie entweder ihr noch unverwirklichtes Potenzial (δύναμις) ausschöpft oder ihre bereits verwirklichten Phänomene reproduziert. Im ersten Fall ahmt sie ihre produktive Tätigkeit nach, im zweiten ihre Produkte (sie bezieht sich entweder auf die natura naturans oder die natura naturata). Deshalb kann Aristoteles an anderer Stelle behaupten, dass jede τέχνη ihrem Wesen nach eine μίμησις der Natur sei (phys. 194a). Diese Behauptung ist, obwohl sie eher beiläufig fällt, paradigmatisch für die antike Ontologie, welche die τέχνη, sei es nun die Dichtung oder irgendeine technische Errungenschaft, nicht als Gegenbild der φύσις betrachtete, sondern als mimetische Verwirklichung der Natur. Seneca wird dies auf eine Formel bringen, die für die gesamte Antike exemplarisch ist – nicht nur für sein stoisches Weltbild (epist. 65.3): »Omnis ars naturae imitatio est (Jede Kunst ist Nachahmung der Natur).« Die imitatio naturae lässt sich als doppelter Genetiv verstehen: Als Nachahmung der gewordenen Natur durch den Menschen sowie als schöpferische Tätigkeit der Natur selbst, die sich auch im Bereich der menschlichen Künste ausdrückt. Neben diesem umfassenden Konzept der imitatio naturae können wir die μίμησις zweitens und in einem spezifischeren Sinn als eine Nachahmung von Verhaltensweisen gewisser Individuen und moralischer Verhaltensweisen (imitatio morum) verstehen, wobei beide Konzepte in einem Zusammenhang stehen. Das zeigt sich deutlich in Platons Politeia, welche die μίμησις im Kontext der Erziehung der Staats-Wächter diskutiert: Von Geburt an ahmen alle Menschen andere Menschen als ihr Vorbild nach und übernehmen hierbei deren Verhaltensweisen, die schließlich in ihren eigenen Habitus (ἔθος) und natürlichen Charakter (φύσις) eingehen (395c-d). Angesichts dieser Wirkmacht der μίμησις ist es Ziel der platonischen Pädagogik, dass die Bürger des idealen Staates von Kindheit an nur tapfere, gerechte und besonnene Vorbilder nachahmen und keine schlechten. Da dies nicht nur für reale, sondern auch für literarische Vorbilder gilt, legt Platon in der Politeia weitschweifig dar, warum die Dichter im Gegensatz zu Homer alle Heroen und Götter als moralisch vollkommen darstellen müssten. Die literarische μίμησις hat einen direkten Einfluss auf das moralische Verhalten der Menschen, und zwar sowohl auf ihre Rezipienten als auch auf die Performer selbst (rep. 397a–398b).463 Darum verweist Platon die 463 Vgl. Havelock, Preface to Plato, S. 24–26.
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Dichter aus seinem Staat und beschränkt die poetische μίμησις – insofern sie überhaupt zulässig ist – auf den Bereich des Vorbildlich-Sittlichen. Dieser direkte Zusammenhang zwischen einer literarischen imitatio naturae und einer moralischen imitatio morum wurde in der Tradition immer wieder hervorgehoben:464 Cicero schreibt im Zuge seiner Verteidigung der Dichtkunst (Arch. 6.14): »Quam multas nobis imagines non solum ad intuendum, verum etiam ad imitandum fortissimorum virorum expressas scriptores et Graeci et Latini relinquerunt (Wie viele Vorbilder haben doch die griechischen und römischen Schriftsteller hinterlassen, die nicht bloß zur Betrachtung, sondern auch zur Nachahmung der stärksten Männer dargestellt wurden).« Eine wesentliche Funktion der Literatur besteht nach Cicero darin, dass sie vorbildliche Personen – seien sie nun historisch oder fiktiv – imitiert und ihre imagines, d. h. ihre ›Ahnenbilder‹ oder ›Totenmasken‹ konserviert, die es in der Gegenwart nachzuahmen gilt. Darum wurde auch die gängige rhetorische Praxis der imitatio von Redeweise und Gestik konkreter Charaktere (die sogenannte Ethopoiie)465 als ein Mittel moralischer Vervollkommnung gesehen: Da die Ethopoiie den Charakter des Redners affiziert, empfiehlt Cicero, dass sie vornehmlich die positiven Eigenschaften eines vorbildlichen Individuums imitiert, die sich auf den Nachahmer übertragen (de orat. 2.90–92).466 Ciceros normative Sicht, die charakteristisch für die antike Literatur und Rhetorik ist, versucht jede Bildproduktion – im Sinne der platonischen ει᾿δωλοποιικὴ τέχνη – in den Dienst einer imitatio morum zu stellen. Auch die dritte und spezifischeste Art der μίμησις, die rhetorisch-literarische Nachahmung anderer Autoren (imitatio auctorum), steht im Zeichen des Vorbildlichen. Diese Nachahmung der Sprech- und Schreibweise mustergültiger Autoren kann man als einen Sonderfall der imitatio morum betrachten. Sie durchzieht von Anfang an die antike Rhetorik und Dichtung, wurde aber v. a. in hellenistischer Zeit theoretisiert: Dabei wurde die innerliterarische μίμησις nicht als bloßes Kopieren eines vorbildlichen Textes verstanden, sondern als ein Verfahren, das auch einen gewissen Wett- und Nacheifer (ζῆλος = aemulatio) impliziert. Dionysios von Halikarnassos definiert beide Aspekte in einem Fragment (imit. Fr. 2): »μιμήσις ἐστιν ἐνέργεια διὰ τῶν θεωρημάτων ἐκματτομένη τὸ 464 Ein Beispiel hierfür ist Plutarchs Schrift De audiendis poetis (Wie man Dichter hören [rezipieren] soll), welche die moralische Wirkung der Dichtung auf den Lesenden unterstreicht und dabei die platonische und aristotelische Konzeption der μίμησις zu versöhnen sucht. Hierzu: Malcolm Heath, Ancient Philosophical Poetics, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 2013, S. 104–111. 465 Schon die Rhetorica ad Herennium bezeichnet die Ethopoiie als imitatio und definiert sie so (1.3): »Imitatio est, qua inpellimur cum diligenti ratione, ut aliquorum similes in dicendo valeamus esse (Die [rhetorische] Nachahmung ist [dasjenige Verfahren], durch das wir mit gewissenhafter Überlegung dazu angetrieben werden, dass wir anderen in unserer Rede ähnlich sein können).« 466 Vgl. Kaminski/Rentiis, »Imitatio«, Sp. 290f.
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παράδειγμα {…} ζῆλος δε ἐστιν ἐνέργεια ψυχῆς πρὸς θαῦμα τοῦ δοκοῦντος εἶναι καλοῦ κινουμένη (Nachahmung ist die Aktivität der Nachmodellierung eines Vorbildes gemäß theoretischer Vorschriften {…}, Wetteifer aber die Aktivität der Seele, die auf die Bewunderung einer Sache abzielt, die schön zu sein scheint).« Während die μίμησις für Dionysios eher den technisch-theoretischen Aspekt der Reproduktion eines literarischen Modells (παράδειγμα) hervorhebt, bezeichnet der ζῆλος ihre psychologische Motivation, d. h. die erwartungsvolle Bewunderung eines fremden Autors. Dieser Aspekt des seelischen Enthusiasmus (ἐνθουσιασμός) wurde auch von Pseudo-Longinus hervorgehoben, der in seiner Schrift Vom Erhabenen (Περὶ ὕψους)467 die μίμησις bzw. den ζῆλος zu einem möglichen Weg erklärt, der zu einem erhabenen Stil führt: Die literarischen Nachahmer werden von ihren Vorbildern wie von einem Gott besessen, weshalb sie der Orakelpriesterin Pythia ähneln, die von einem göttlichen Hauch (πνεῦμα) inspiriert wird (sublim. 13.1). Mit diesem Vergleich versöhnt Longinus aber die Lehre des dichterischen und prophetischen ἐνθουσιασμός, die uns bei Platon begegnet ist, mit derjenigen der literarischen μίμησις, die jener selbst heftig kritisierte.468 Die Vorbildlichkeit der großen Autoren besteht laut Longinus darin, dass sie durch ihren Stil die Natur abzubilden wissen, womit sich φύσις und τέχνη wechselseitig durchdringen.469 Ein ähnlicher Gedanke begegnet uns schon bei Cicero, der über die klassischen attischen Redner schreibt (de orat. 2.94): »[…] omnes sunt in eodem veritatis imitandae genere versati, quorum quam diu mansit imitatio, tam diu genus illud dicendi studiumque vixit ([…] sie alle sind in derselben Art der Nachahmung der Wahrheit bewandert; solange ihre Nachahmung andauerte, so lange blieb ihre Sprechweise und ihr Eifer lebendig).« Ein Stil ist lebendig und nachahmenswert, weil er selbst die nachzuahmende Wahrheit oder Wirklichkeit (veritas imitanda) nachahmt. Aus dieser Perspektive entpuppt sich jede imitatio auctorum als indirekte Form der imitatio naturae. Das Konzept der imitatio auctorum wurde in der antiken Literaturtheorie sehr weitläufig gefasst und auf das gesamte Feld innerliterarischer Referenzen angewandt, die wir heute unter den Begriff der Intertextualität subsumieren: Sie reicht von der formalen Nachahmung des Stils oder der Metrik eines oder mehrerer Autoren bis zur Anspielung auf den Inhalt eines konkreten Werks, von der Paraphrase bis zum direkten Zitat oder bis zur Übersetzung eines ganzen Tex-
467 Der wirkliche Name des Autors und die genaue Datierung des Werks sind umstritten: Vgl. Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – Longin. Eine Einführung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992, S. 162–165. 468 Hierzu: Hellmut Flashar, »Die klassizistische Theorie der Mimesis«, in: Le Classicisme à Rome: Aux Iers siècles avant et après J.-C., Vandœuvres-Genève, 21–26 août 1978, hg. v. dems., Genf: Fondation Hardt, 1979, S. 79–111, hier S. 90. 469 Vgl. a. a. O., S. 92f.
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tes.470 Da die Übersetzung und Bearbeitung griechischer Texte ein wesentliches Element der römischen Literatur ist, überschneidet sich in ihr das Verfahren der imitatio mit demjenigen der Übersetzung im weitesten Sinn, welche u. a. als transferre, ›übertragen‹, vertere, ›verwandeln‹, interpretari, ›vermitteln‹, exprimere, ›ausdrücken‹, reddere, ›wiedergeben‹ usw., verstanden wurde.471 Die Römer begriffen ihre Übersetzungstätigkeit als Unterart der imitatio auctorum, weshalb sich ihr Vokabular für inter- und intralinguale Übersetzungen dermaßen mit dem allgemeinen Vokabular für intertextuelle Relationen verquickte, dass sich beide im Nachhinein kaum differenzieren lassen.472 Diese tendenzielle Verschmelzung von imitatio und Übersetzung ist der Grund, warum sich die römische imitatio schließlich von der griechischen μίμησις unterscheidet: Wenn erste als Übersetzung der zweiten gelten kann, dann knüpft sie nicht nur an die griechische Philosophie, Literatur und Rhetorik an, sondern beschreibt zugleich den Prozess ihrer Rezeption, Übersetzung und produktiven Aneignung.473 Im Gegensatz zur μίμησις beinhaltet die imitatio eine interkulturelle Dimension, die sich entlang einer griechisch-römischen Achse entfaltet. Beide Begriffe treffen sich aber darin, dass sie zwischen dem Pol einer ›sklavischen‹ Nachahmung und einer ›freien‹ Umgestaltung oszillieren. Der zweite Pol, die ›kreative Imitation‹, wurde insbesondere in der hellenistischen Literatur betont und von den römischen Autoren aufgegriffen:474 So kann z. B. Horaz in einem Brief die SklavenHerde seiner literarischen Nachahmer verspotten (o imitatores, servom pecus) und gleichzeitig – in einer Nachahmung von Lukrez’ Dichterweihe – parado470 Die intertextuelle Referenz hängt nicht unbedingt von der Intention eines Autors ab, sondern vom kollektiven ›poetischen Gedächtnis‹ einer bestimmten Kultur, in das sich jeder Autor, wie Conte vorschlägt, notwendigerweise einschreibt: Gian Biagio Conte, The Rhetoric of Imitation. Genre and Poetic Memory in Virgil and Other Latin Poets, übs. v. Charles Segal, Ithaca u. a.: Cornell University Press, 1986, insb. S. 28–30. 471 Einen kleinen Überblick über dieses Vokabular bietet: Hans Eberhard Richter, Übersetzen und Übersetzungen in der römischen Literatur, Dissertation, Universität Erlangen, 1938, S. 10–15. Siehe auch: McElduff, Roman Theories of Translation, S. 189–196. 472 So auch Vardie: »[…] the Romans’ comments on inter-lingual translations are seldom distinguishable from their approach of literary texts in general, and in particular to the wide complex of intertextual relations covered by all-embracing terms like imitatio or sequi […].« Amiel Vardie, »The Reception of Literary Translations in Rome: Critics, Grammarians and Rhetoricians«, in: Übersetzung. Translation. Traduction: Ein internationales Handbuch der Übersetzungsforschung, hg. v. Harald Kittel, Berlin/Boston: De Gruyter, 2011, Bd. 2, S. 1150–1157, hier S. 1151. 473 Im Unterschied zur römischen Kultur war der griechischen das systematische Übersetzen anderer Sprachkulturen eher fremd. Das imitari im Sinne einer Übersetzung scheint damit ein spezifisch römisches Phänomen zu sein: Vgl. Arnaldo Momigliano, Alien Wisdom. The Limits of Hellenization, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 1971, insb. S. 12–21. 474 Vgl. D. A. Russel, »De Imitatione«, in: Creative Imitation and Latin Literature, hg. v. David West u. Tony Woodman, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 1979, S. 1–16, insb. S. 1–4.
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xerweise behaupten, dass er literarisches Neuland betritt (libera per vacuum posui vestigia princeps, | non aliena meo pressi pede), obwohl er sich ausdrücklich in die metrisch-stilistische Tradition der griechischen Lyrik von Archilochos, Sappho und Alkaios stellt (epist. 1.19.19–34). Wenn Horaz als Römer neue vestigia prägt, heißt das nicht, dass er sich in einem literarischen Vakuum bewegt, sondern, dass er seine literarischen Vorbilder anders als die sklavischen imitatores auf eine freie und kreative Weise imitiert.475 Darum empfiehlt er in seinem sogenannten Lehrbrief De arte poetica, dass wir uns zwar bei Tag und bei Nacht den griechischen Mustern (exemplaria Graeca) zuwenden sollen (epist. 2.3.267f), sie jedoch niemals als bloßer imitator und brav-vertrauenswürdiger Dolmetscher (fidus interpres) Wort für Wort wiedergeben (nec verbum verbo … reddere) dürfen (epist. 2.3.133f.). Wie auch immer wir diese berüchtigte und einflussreiche Wendung Horaz’ interpretieren, sie macht deutlich, dass die Forderung nach einer kreativen Imitation auch für den Bereich des Übersetzens (reddere) Geltung beanspruchen kann.476 Selbst eine Übersetzung im engen Sinn muss teilweise von ihrem Original abweichen, um dessen Glanz in einer fremden Sprache aufleuchten zu lassen, wie Aulus Gellius bemerkt (noct. 9.9.1): »Quando ex poematis Graecis vertendae imitandaeque sunt, insignes sententiae, non semper aiunt enitendum, ut omnia omnio verba, in quem dicta sunt, modum vertamus (Wenn wir ausgezeichnete Sätze griechischer Gedichte übersetzen und nachahmen sollen, so sagt man, dass es nicht immer hervorleuchten muss, wenn wir alle Worte gänzlich auf die Art übersetzen, in der sie gesagt wurden).« Diese Passage ist bemerkenswert, weil sie imitari und vertere nahezu synonym benutzt und beweist, wie eng Übersetzung und imitatio in der römischen Vorstellung zusammenhängen.477 Kommen wir nach diesem groben literaturhistorischen Überblick über das vielfältige Bedeutungsspektrum von imitatio/μίμησις zurück zu Lukrez: Obwohl dieser keine explizite Theorie der imitatio formuliert, streift er am Rande alle drei skizzierten Ebenen der imitatio. Zunächst überträgt er das Verb imitari auf gewisse Naturphänomene, wenn er etwa schreibt, dass Spiegel scheinbar unsere Gesten nachahmen (gestum imitari) (4.343) und auch Schatten, die unserer Fußspur folgen (vestigia nostra sequi gestum imitari) (4.365) (der Spiegel und der Schatten sind uns bereits bei Platon begegnet). Weiter spricht er davon, dass die Atome, die alle Lebewesen durch die Nahrung aufnehmen, deren seelische Le475 Horaz imitiert hier Lukrez’ Dichterweihe, wie Hardie zeigt: Hardie, Lucretian Receptions, S. 54f. 476 Vgl. Rita Copeland, Rhetoric, Hermeneutics and Translation in the Middle Ages, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 1991, S. 29f. Siehe auch: Denis Feeney, Beyond Greece, S. 47f. 477 Vgl. Leofranc Holford-Strevens, »An Antonine Littérateur: The Case of Aulus Gellius«, in: Übersetzung. Translation. Traduction, Bd. 2, S. 1143–1150, insb. S. 1146.
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bensbewegung imitieren (vitalis motus imitari) (2.717), dass Hunde beim Spiel wirkliche Bisse andeutend imitieren (suspensis imitantur dentibus haustus) (5.1068) oder, dass ein gewöhnlicher Wind einen besonderen Feuersturm nachahmen und vortäuschen kann (quasi praestera imitetur) (6.445). In all diesen Fällen beschreibt Lukrez eine imitatio naturae im Sinne einer natürlichen Tätigkeit, die sich auch innerhalb der Natur und ohne menschliche Akteure vollzieht, wobei er zumeist den Aspekt der Täuschung betont. Anders verhält es sich, wenn er an entscheidender Stelle behauptet, dass die Urmenschen die Gesänge der Vögel mit dem Mund nachahmten (avium voces imitarier ore) (5.1379), worin er einen Ursprung der Musik und Dichtung sieht. Diese Stelle, auf die wir in den folgenden Unterkapiteln zurückkommen werden, ist neben dem dritten Proömium die einzige in De rerum natura, in der das imitari der platonischaristotelischen Bestimmung der μίμησις als menschlicher τέχνη nahekommt. Darüber hinaus taucht das Verb auch im Sinne einer imitatio morum auf, die bei allen Lebewesen zu finden ist, wie Lukrez am Beispiel von Pferden, Schafen und Ziegen feststellt (2.665f): »[…] dissimili vivont specie retinentque parentum | naturam et mores generatim quaequae imitantur ([…] sie [die genannten Tiere] leben in unterschiedlichen Formen und sie behalten die Natur ihrer Eltern und alle ahmen ihr Verhalten gattungsgemäß nach).« Das imitari ist ein natürlicher Nachahmungstrieb, der nicht spezifisch menschlich ist und sich grundsätzlich innerhalb aller Gattungen (generatim) von Lebewesen abspielt. Wenn Lukrez schließlich sagt, dass er Epikur folgt und imitiert, dann ist dies zugleich als imitatio auctorum und als imitatio morum zu verstehen: Einerseits imitiert er den philosophischen Inhalt der Schriften seines Vorbildes, andererseits dessen philosophische Lebensweise, worin die ethisch-praktische Stoßrichtung der epikureischen Lehre zum Ausdruck kommt. Darin folgt Lukrez pater Epikur wie alle Wesen gattungsgemäß – generatim. Da er aber zugleich ein Dichter ist und die Dichtkunst der Nachahmung der Vögel entspringt, sprengt sein imitari diese Gattungsgrenze in Richtung einer imitatio naturae, welche die nicht-menschliche Natur umfasst. Ein Echo der Vogelstimmen mischt sich folglich in seine Nachahmung der Stimme Epikurs. Als imitatio auctorum ist Lukrez’ imitari vor dem Hintergrund der rhetorischpoetologischen Diskurse der Zeit zu sehen. Auch wenn die meisten Reflexionen über das Verfahren der literarischen imitatio, die wir erwähnt haben, von Autoren stammen, die später als Lukrez lebten, lassen sich ihre Einsichten rückblickend für De rerum natura fruchtbar machen: Lukrez’ Praxis der imitatio ist offensichtlich wie diejenige der Dichter vor (Naevius, Plautus, Ennius) und nach ihm (Horaz, Vergil, Manilius) eklektizistisch und orientiert sich an unterschiedlichen Vorbildern (Homer, Epikur, Empedokles, Ennius usw.). Wie bei den meisten römischen Autoren überschneidet sich Lukrez’ imitari mit dem römi-
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schen Vokabular der rhetorischen Paraphrase und literarischen Übersetzung.478 Obschon Lukrez im dritten Proömium einen Wettstreit (certare, contendere) mit Epikur vordergründig ausschließt, impliziert sein imitari eine aemulatio im Sinne einer psychologischen Bewunderung, wie sie von Dionysios und Longinus verstanden wurde. Darüber hinaus erweist sich sein imitari als aemulari, insofern es Epikurs dunkle Funde (obscura reperta) in lateinischen Versen erleuchten (inlustrari) und insgeheim übertreffen will. Nicht zuletzt verschmilzt Lukrez wie Longinus die imitatio auctorum auf diffuse Weise mit dem traditionellen Konzept des ἐνθουσιασμός, wobei freilich Epikur sein Gott ist, der ihn beseelt.479 Der amor Epicuri und der amor Musarum verschränken sich im inspirativen ἐνθουσιασμός, der im scharfen Kontrast zu Epikurs Nüchternheit steht.480 Dabei folgt Lukrez inhaltlich fast ausschließlich der Philosophie Epikurs, aber stilistischformal orientiert er sich an zahlreichen Dichtern, deren Sprache er in seinem Werk fusioniert. Die philosophische imitatio auctorum und imitatio morum bleibt einem einzigen Vorbild treu, die dichterische Darstellung ist hingegen promiscue. Die Spannung, die sich aus diesem doppelten Verfahren ergibt, spiegelt sich auch im mehrfach erwähnten poetologischen Paradox, das typisch für die römische imitatio ist: Wie Horaz oder Manilius imitiert er exemplaria Graeca, insbesondere folgt er den vestigia Epikurs, und betritt dennoch poetisches Neuland (avvia Pieridum loca). Auch Lukrez’ imitatio Epikurs erweist sich damit als kreative Imitation im Sinne der hellenistischen Theorie und Praxis der imitatio-aemulatio.
4.
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Zu Beginn des dritten Proömiums findet sich zweimal der Ausdruck vis: Wie wir gesehen haben, vergleicht Lukrez Epikurs vis mit der eines Pferdes, seine hingegen mit der eines Böckleins, weshalb er sich mit ihm vorgeblich auf kein 478 Dies bemerkt auch Milazzo: Antonio M. Milazzo, »Traduzioni e parafrasi nelle antiche scuole di retorica«, in: Del tradurre, hg. v. Maurizio Bettini u. a., Rom/Padova: Editrice Antenore, 2011, S. 71–86, hier S. 75. 479 Vgl. Fauth, »Divus Epicurus«, insb. S. 214–216. 480 Gale spricht in diesem Zusammenhang treffend von einem »clash between Epicurean sobriety and Dionysiac inspiration in Lucretius’ programme« und zeigt, dass Lukrez in seiner Dichterweihe die hellenistische Gegenüberstellung von Wein- und Wassertrinken – d. h. die Opposition zwischen enthusiastischem ingenium und nüchternen ars der Dichter – aufhebt: Monica Gale, »Lucretius and Previous Poetic Traditions«, in: The Cambridge Companion to Lucretius, S. 59–75, hier S. 71f. Über Lukrez’ ἐνθουσιασμός siehe auch: Gian Biago Conte, »῞ΥΨΟΣ e diatriba nello stile di Lucrezio (De rer. nat. II 1–61)«, in: Maia, 18 (1966), S. 338– 368, insb. S. 361f.
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Kräftemessen einlässt. Sodann rühmt er Epikurs vis dafür, dass sie die gesamte Natur eröffnet (patefacere) und entblößt (retegere), wodurch sie bei Lukrez starke Affekte auslöst. Epikurs Vorbildlichkeit hängt daher wesentlich mit seiner unübertrefflichen vis zusammen, welche einerseits die natura rerum ontologisch erschließt und andererseits zum hedonistischen Ziel, voluptas, der epikureischen Ethik führt. Doch was ist unter dem kleinen, aber mächtigen Wörtchen vis zu verstehen? Vis meint zunächst eine rein physische ›Macht‹, ›Kraft‹, ›Stärke‹ oder ›Gewalt‹, kann aber auch den geistigen ›Gehalt‹, ›Sinn‹ oder die ›Bedeutung‹ eines einzelnen Wortes bzw. einer ganzen Rede bezeichnen. Ihr Fokus liegt weniger auf der rein semantischen Bedeutung von Sprache – sie werden die Römer significatus nennen –, sondern zielt eher auf ihre pragmatische Wirkung, d. h. auf die intellektuell-affektiven Effektivität und Überzeugungskraft eines Diskurses.481 Darum spielt sie auch in der römischen Rhetorik eine gewichtige Rolle, wie sich am Beispiel von Ciceros Schriften deutlich zeigen lässt. Cicero kommt im Zuge seiner Überlegungen zur imitatio in seinen rhetorischen und philosophischen Dialogen wiederholt auf die vis zu sprechen: So beruft er sich in den Academici libri auf die vis der poetischen und rhetorischen imitatio seiner Vorgänger. Während Varro im Dialog behauptet, dass man nur auf Griechisch philosophieren soll, einer Sprache, die ohnehin alle Gebildeten beherrschen, ist Cicero von der Latinisierung der Philosophie, die er selbst betreibt, überzeugt und fragt (1.10): Quid enim causae est cur poetas Latinos Graecis litteris eruditi legant, philosophos non legant? An quia delectat Ennius Pacuvius Accius multi alii, qui non verba sed vim Graecorum expresserunt poetarum – quanto magis philosophi delectabunt, si ut illi Aeschylum Sophoclem Euripidem sic hi Platonem imitentur Aristotelem Theophrastum. Oratores quidem laudari video si qui e nostris Hyperidem sint aut Demosthenem imitati. Was ist denn der Grund, dass sie [die Römer], die in der griechischen Literatur bewandert sind, zwar die lateinischen Dichter lesen, nicht aber die [lateinischen] Philosophen? Wenn ihnen Ennius, Pacuvius, Accius und viele andere, die nicht die Worte sondern die vis der griechischen Dichter ausdrückten, gefallen, um wieviel mehr werden sie die Philosophen erfreuen, die – so wie jene Aischylos, Sophokles oder Euripides – Platon, Aristoteles oder Theophrast imitieren. Auch unsere Redner werden ja, wie ich sehe, gelobt, wenn sie Hypereides oder Demosthenes imitiert haben.
Römische Dichter wie Ennius, Pacuvius oder Accius erfreuen (delectare) schon lange das gebildete Publikum, wenn sie in ihren lateinischen Bühnenwerken die 481 Hierzu Bettini: »[…] la vis di una parola ne definisce il senso o significato nei termini della sua capacità di produrre un determinato effetto. Si potrebbe quasi dire che, se il significatus (o la capacità di significare) definisce una parola dal punto di vista della semantica, la vis la definisce invece da quello della pragmatica […].« Bettini, Vertere, S. 105.
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klassischen griechischen Tragödiendichter imitieren (imitari). Ebenso werden die römischen Redner gelobt, wenn sie ihre großen attischen Vorbilder, etwa Hypereides oder Demosthenes, imitieren (imitari). Warum sollte es also verpönt sein, auf Latein zu philosophieren und griechische Philosophen wie Platon, Aristoteles oder Theophrast zu imitieren (imitari)? Da die Philosophie – so das implizite Argument – eine ernstere Angelegenheit als die Dichtkunst ist, müsste die imitatio der griechischen Philosophen die Römer eigentlich noch viel mehr als die der griechischen Dichter erfreuen (delctare). So legitimiert Cicero seine eigenen lateinischen philosophischen Dialoge, indem er sie mit der poetischen und rhetorischen imitatio vergleicht, die gemeinhin von der römischen Elite anerkannt wurde. Dabei unterstreicht er, dass die römischen Dramatiker nicht bloß die Worte, sondern die vis ihrer griechischen Vorbilder (non verba sed vis Graecorum) auf Latein auszudrücken bzw. zu übersetzen (exprimere) wussten. Das entspricht der Tatsache, dass ihre Dramen (soweit wir das angesichts der wenigen Bruchstücke beurteilen können) nicht dem Wortlaut der griechischen Originale folgten, sondern in erster Linie auf eine Wirkungsäquivalenz abzielten.482 Die vis ist nämlich keine Frage der wortwörtlichen Semantik, sondern der poetischen und rhetorischen Praxis. Auch in seinem moralphilosophischen Dialog De finibus bonorum et malorum rekurriert Cicero auf die poetische imitatio, wobei er neben den Komödien des Terenz wieder die Tragödien von Ennius und Pacuvius erwähnt. Seltsamerweise bezeichnet er aber nun ihre Theaterstücke als Fabeln (fabellae),483 die dem Wortlaut gemäß aus dem Griechischen übersetzt wurden (Latinae ad verbum e Graecis expressae) (1.4). Dahingegen möchte er selbst die griechische Philosophie nicht als wortwörtlicher Übersetzer oder Dolmetscher (interpres) darstellen, sondern ihre Äußerungen (dicta), die seine Zustimmung finden, durch seine Urteilskraft und seine eigene diskursive Schreib-Ordnung so neu organisieren (nostrum iudicium et nostrum scribendi ordinem adiungere), dass die griechischen Originale schließlich überflüssig werden (fin. 1.6).484 Selbst wenn Cicero gesteht, dass er hin und wieder ganze Passagen griechischer Autoren übersetzt (loci transferre), unterscheiden sich seine Dialoge doch als Ganzes von bloßen Übersetzungen (fin. 1.7): »Quamquam, si plane verterem Platonem aut Aristotelem ut verterunt nostri poetae fabulas, male, credo, merere de meis civibus, si ad eorum cognitionem divina illa ingenia transferrem (Würde ich gleichwohl Platon oder Aristoteles schlicht übersetzen, wie unsere Dichter die Fabeln 482 Dies gilt für alle römischen Dramatiker, insbesondere jedoch für die Komödie. Siehe: Seele, Römische Übersetzer, S. 6f. 483 Der Diminutiv fabellae signalisiert, dass das Theater im Vergleich zur äußerst schwerwiegenden Aufgabe der Philosophie – Cicero nennt sie gravissimae res – eine bloße Spielerei ist: Vgl. Traina, »Le traduzioni«, S. 100. 484 Vgl. Bettini, Vertere, S. 76f.
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[Theaterstücke] übersetzten, dann würde ich meinen Mitbürgern, glaube ich, einen schlechten Dienst erweisen, wenn ich jene göttlichen Geister in ihre Vorstellungswelt [Kenntnis] übersetzte).« Cicero begreift seine philosophischen Dialoge zwar als interkulturelle Verwandlung (vertere) und Übertragung (transferre), nicht jedoch als eine schlichte Übersetzung oder Bearbeitung (plane vertere), wie er sie den römischen fabellae unterstellt. Damit verwickelt er sich in einen Widerspruch, der seine Kommentatoren bis heute irritierte:485 Während er in den Academica sagt, dass seine poetischen Landsmänner nicht die verba, sondern die vis ihrer griechischen Vorbilder ausdrückten, kritisiert er sie in De finibus dafür, dass sie diese angeblich bloß ad verbum übersetzen. Gleichgültig, ob er sie eher als freie Nachahmer oder sklavische Übersetzer betrachtet, beide Mal benutzt er sie, um sein eigenes philosophisches Werk als kreative Übersetzung und Nachahmung zu profilieren, die er von einer unreflektierten Reproduktion ad verbum abgrenzt.486 Da es in der römischen Vorstellung, wie gesagt, keine definitive Grenze zwischen dem engeren Bereich der Übersetzung und dem weiteren der intertextuellen imitatio gibt, entsteht eine gewisse terminologische Verwirrung, die zum genannten Widerspruch führt. Trotz – oder gerade wegen – dieser Verwirrung wird klar, dass die Formel non verba sed vim nicht für die römischen Fabeln (fabellae), sondern für Ciceros eigene Dialoge gilt. Wie fließend die Grenzen zwischen vertere und imitari sind, geht auch aus Ciceros kurzer Abhandlung De optimo genere oratorum hervor. Diese war als Vorwort seiner eigenen Übersetzungen von Reden des Aischines und Demosthenes gedacht, die allerdings nie geschrieben wurden oder zumindest nicht überliefert sind. In seinem Vorwort stellt Cicero die beiden griechischen Redner als Maßstab des attischen Stils dar, auf den sich der sogenannte rhetorische Attizismus berufen wird.487 Ciceros vertere steht dabei auf doppelte Weise im Dienst des imitari: Mit seinen Übersetzungen möchte er ein exemplum für jene römischen Rhetoren liefern, welche die Griechen nachahmen, wie er es in den Academica beschreibt. Gleichzeitig präsentiert er seine eigene Übersetzungstätigkeit als nachahmenswertes exemplum, das er folgendermaßen charakterisiert (op. gen. 4.14):
485 Vgl. Alfonso Traina, Vortit barbare. Le traduzioni poetiche da Livio Andronico a Cicerone, Rom: Edizioni dell’Ateneo, 1970, S. 59. 486 Wie Powell bemerkt, handelt es sich hier um eine gezielte Übertreibung: »[…] Cicero is here exaggerating, for the purpose of his own argument, the closeness of the dramatists’ translations. He is contrasting the works of the dramatists, which were at all events fairly close adaptions of identifiable Greek plays, with his own philosophical works, which were neither translations nor adaptions of particular Greek works, but expositions of Greek philosophical thought in Ciceros’ own order of presentation.« Powell, »Cicero’s Translations from Greek«, S. 277. 487 Vgl. McElduff, Roman Theories of Translation, S. 110f.
Vis: Rhetorische und natürliche Macht der Sprache (Cicero, Epikur)
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Converti enim ex Atticis duorum eloquentissimorum nobilissimas orationes inter seque contrarias, Aeschini et Demostheni; nec converti ut interpres, sed ut orator, sententiis iisdem et earum formis tamquam figuris, verbis ad nostram consuetudine aptis; in quibus non verbum pro verbo necesse habui reddere, sed genus omne verborum vimque servavi; non enim ea me adnumerare lectori putavi oportere, sed tamquam appendere. Denn ich übersetzte von den zwei redegewandtesten [Männern] unter den Attikern, Aischines und Demosthenes, die edelsten und gegeneinander gerichteten Reden. Und ich übersetzte sie nicht wie ein Dolmetscher, sondern wie ein Redner mit denselben Gedanken und gleichsam in deren Wort- und Gedankenfiguren, obwohl ich die Worte an unseren Gebrauch anpasste; dabei hielt ich es nicht für nötig, Wort für Wort wiederzugeben, sondern bewahrte die ganze Redegattung und vis der Worte; ich glaubte nämlich, dass ich diese [griechischen Reden] für den Leser nicht einzeln auszählen, sondern sie gleichsam abwiegen müsse.
Cicero versteht sich nicht als bloßer interpres, der die Streitreden des Aischines und Demosthenes Wort für Wort (verbum pro verbo) wiedergibt, sondern als orator,488 der den gedanklichen Inhalt und die rhetorische Form des Originals übersetzt (convertere), wobei er deren Art und Bedeutung (genus verborum visque), d. h. deren Stil und Wortmacht imitiert. So verändert er zwar die Worte, bewahrt aber ihre vorbildliche formale Struktur und erneuert ihre vis, die rhetorische Überzeugungskraft der ursprünglichen Reden. Cicero veranschaulicht dies, indem er auf ein ökonomisches Modell des (con)vertere anspielt: Die Römer bezahlten nämlich vor der Einführung des geprägten Münzgeldes mit Bronzestücken, die nicht gezählt, sondern abgewogen wurden. Analog will Cicero die Worte seines griechischen Originals abwiegen (appendere), anstatt sie wie Münzen auszuzählen (adnumerare), um sie schließlich mit seinen lateinischen Übersetzungen aufzuwiegen.489 Weil er sich solcherart an einem qualitativen und nicht an einem quantitativen Tausch beteiligt, kann er ein griechisches Wort durch mehrere lateinische Worte und umgekehrt wiedergeben. Damit wird er jedoch selbst zu einer Art interpres im ursprünglichen Wortsinn, den man etymologisch als Figur begreifen kann, die zwischen (inter) einem Preiswert (pretium) vermittelt.490 Cicero ist für den Leser ein ökonomisch-linguistischer Zwischenhändler, der im Unterschied zu den schlechten interpretes nicht bloß den konventionellen Wert der Worte, sondern ihren Rohstoffwert kennt. Zuletzt will er sogar hinter seiner Übersetzung verschwinden, wenn seine Stimme im 488 Die interpretes hatten in der Antike meist keinen besonders hohen sozialen Status, was sicher ein Grund ist, weshalb sich Cicero, der als novus homo in die Elite kam, von ihnen abgrenzt: Vgl. Siobhán McElduff, »Living at the Level of the Word. Cicero’s Rejection of the Interpreter as Translator«, in: Translation Studies, 2, Nr. 2 (2009), S. 133–147, insb. S. 135f. 489 Ausführlich über dieses monetäre Modell Ciceros: Bettini, Vertere, S. 98–104. 490 Vgl. Clara Montella, »Etimologia e traduzione: Le parole latine del tradurre«, in: Aion, 15 (1993), S. 313–321, hier S. 313f. Siehe auch Bettini, a. a. O., S. 96f.
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Schlusswort von De optimo genere in einer imitatio (Ethopoiie) mit derjenigen von Aischines verschmilzt (7.23): »Sed de nobis satis. Aliquando enim Aeschinem ipsum Latine dicentem audiamus (Doch genug von uns! Lass uns endlich Aischines selbst auf Latein sprechen hören).«491 Nachdem Cicero also zuerst als rhetorischer orator-imitator in den Vordergrund rückt, zieht er sich zunehmend als interpres zurück, um schließlich Platz für das Vorbild anderer Nachahmer, d. h. für seine Leser, zu schaffen. In allen drei Konstellationen, die von der Positionierung des Übersetzers als Autor bis zur Ausblendung seiner Autorschaft reichen, bleibt eine Konstante: Die vis, die er in die Waagschale wirft, ist das wahre Gewicht der Worte. Auch bei Lukrez taucht die vis an unzähligen Stellen auf, wobei sie zumeist natürliche Triebe und Gewalten bezeichnet: So heißt es z. B., dass die Rückkehr der Zugvögel im Frühjahr Venus’ Ankunft bezeichnet (significare), da sie von ihrer vis (1.14) erschüttert werden, die alle Lebewesen zur Fortpflanzung treibt; dass die unsichtbare vis des Windes (1.271) Meereswogen und Schiffe bewegt, aber auch Bäume entwurzelt; dass sich die vis von Rennpferden (equorum vis) (2.265) anstaut, bevor sie aus den Ställen drängt; oder, dass die vis des Weins (3.476) in den menschlichen Körper eindringt und ihn betäubt, usw. Die vis beschreibt den Sexualtrieb, Naturgewalten, Körperkräfte und physiologische Wirkungen. Wenn Lukrez freilich behauptet, dass Epikurs lebendige Geisteskraft, vivida vis animi, die Mauern der Welt sprengt und die Unendlichkeit erobert, oder, dass Epikurs vis die gesamte Natur offenbart, dann meint vis eine Erkenntnismacht, welche den Naturkräften gleichkommt, die sie durchschaut. Dieser Übergang von einer physisch-affektiven zu einer intellektuell-diskursiven vis wird ausdrücklich in einer Passage des fünften Buchs beschrieben, die im Zentrum von Lukrez’ Sprachphilosophie liegt (5.1028–1045): At varios linguae sonitus natura subegit mittere, et utilitas expressit nomina rerum, non alia longe ratione atque ipsa videtur protrahere ad gestum pueros infantia linguae, cum facit ut digito quae sint praesentia monstrent. sentit enim vis quisque suas quod possit abuti. cornua nata prius vitulo quam frontibus extent, illis iratus petit atque infestus inurget. at catuli pantherarum scymnique leonum unguibus ac pedibus iam tum morsuque repugnant, vix etiam cum sunt dentes unguesque creati. alituum porro genus alis omne videmus fidere et a pinnis tremulum petere auxiliatum. proinde putare aliquem tum nomina distribuisse 491 Vgl. McElduff, Roman Theories of Translation, S. 119–121.
Vis: Rhetorische und natürliche Macht der Sprache (Cicero, Epikur)
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rebus et inde homines didicisse vocabula prima, desiperest. nam cur hic posset cuncta notare vocibus et varios sonitus emittere linguae, tempore eodem alii facere id non quisse putentur? Aber verschiedenste Töne der Zunge [Sprache] hervorzubringen, das zwang die Natur [die Menschen] und das Bedürfnis [oder die Nützlichkeit] drückte die Namen der Dinge aus, nicht viel anders, wie auch die Sprachlosigkeit selbst die Kinder zur Geste hinzieht, wenn sie bewirkt, dass sie mit dem Finger auf anwesende Dinge zeigen. Denn es spürt jeder, wozu er seine vis benutzen kann. Noch bevor dem Kalb die Hörner, die von der Stirn ragen, gewachsen sind, greift es mit jenen zornig an und erhebt sich angriffslustig. Auch die Jungen der Panther und Welpen der Löwen wehren sich schon dann mit Krallen, Pranken und Bissen, wenn ihnen noch kaum Zähne und Krallen entstanden sind. Weiter sehen wir das ganze geflügelte Geschlecht ihren Flügeln vertrauen und zittrigen Beistand von den Schwingen erbitten. Daher ist zu glauben, dass irgendwer damals Namen an die Dinge verteilt hätte, Unsinn. Denn warum sollte dieser es vermocht haben, alles mit Stimmen [Worten] zu bezeichnen und die verschiedensten Töne der Zunge hervorzubringen, wobei man glaubt, dass andere zur selben Zeit dies nicht machen konnten?
Die Natur zwang die Menschen zur Artikulation, damit sie Zungenlaute (linguae sonitus) von sich geben und die nomina rerum nach dem pragmatischen Gesichtspunkt des Bedürfnisses oder Nutzens (utilitas)492 formen oder ausdrücken (exprimere). Die menschliche Zunge ist dabei, wie wir im ersten Kapitel zitiert haben, ein künstlerisch-kreatives Organ, eine daedala lingua, die den Luftstrom plastisch zu gestalten vermag. Sie formt diesen gemäß einer natürlichen vis, die den möglichen Gebrauch der nomina rerum vorgibt (posse abuti). Diese vis ist eine vorsprachliche Macht oder ein angeborener Instinkt, wie Lukrez am Beispiel von sprachlosen Kindern – infantia bezeichnet ›Kindheit‹, aber auch ›Sprachlosigkeit‹ – und Tieren ausführt: Noch bevor Kinder die Sprache erlernen, deuten sie mit Gesten und Fingern auf Dinge. Diese deiktischen Akte bilden eine Vorstufe oder Analogie der nomina rerum. Genauso wollen Jungtiere ihre Extremitäten benutzen, noch ehe diese voll entwickelt oder gewachsen sind. Die vis der 492 Reinhardt versteht utilitas in Analogie zur später genannten Sprachlosigkeit (infantia) als ›Bedürfnis‹ oder ›Notwendigkeit‹ und nicht als ›Nützlichkeit‹, um teleologische Konsequenzen zu umgehen (ein bewusster Nutzen existiert schon vor den nomina rerum), die der epikureischen Lehre widersprechen: Tobias Reinhardt, »Epicurus and Lucretius on the Origins of Language«, in: The Classical Quarterly, 58, Nr. 1 (Mai 2008), S. 127–140, hier S. 131. Dahingegen liest Schrijvers die utilitas als ›Nützlichkeit‹: Petrus Hermanus Schrijvers, »La pensée de Lucrèce sur l’origine du langage (DRN 5.1019–90)«, in: Mnemosyne, 27, Nr. 4 (1974), S. 337–364, hier S. 342f. Für welche Lesart wir uns entscheiden, hängt davon ab, ob wir linguae sonitus und nomina rerum als Opposition zwischen rohem Laut und referentieller Wortbedeutung verstehen oder nicht. Wenn utilitas ›Nützlichkeit‹ bedeutet, müssen die nomina rerum eine spätere Entwicklungsstufe als die linguae sonitus darstellen. Wir lassen diese schwierige Frage, die für unsere Untersuchung nicht entscheidend ist, offen.
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utilitas kommt früher als die natürlichen und künstlichen Organe, wobei Lukrez die Worte indirekt mit Krallen, Zähnen oder Flügeln vergleicht. Die zitierte Formel ›mit Worten, nicht Waffen‹ (dictis, non armis) (5.50) findet hier eine konkrete evolutionäre Erklärung. Worte substituieren im Laufe der kulturellen Entwicklung natürliche Waffen. Da die menschliche Sprache einer vis entspringt, die sich bei allen Lebewesen äußert, wäre es verwunderlich, wenn die nomina rerum von gewissen ausgezeichneten Individuen eingeführt worden wären.493 Damit entscheidet Lukrez die traditionelle Frage, die seit Platons Kratylos wiederholt aufgeworfen wurde, ob der Ursprung der Sprache in der Natur (φύσις) oder in der konventionellen Festsetzung (θέσις) liegt, zugunsten der φύσις (383a– 385a). Auch wenn umstritten ist, gegen wen Lukrez hier eigentlich polemisiert – gegen Platon oder Demokrit?494 –, wendet er sich eindeutig gegen eine bestimmte Variante der θέσις-Theorie. Das heißt nicht unbedingt, dass er der Sprache jede konventionelle Dimension abspricht, doch betrachtet er sie nahezu ausschließlich aus der Perspektive der natürlichen vis.495 Dies zeigt sich auch in der anschließenden Passage, in der Lukrez ausführlich beschreibt, wie das lautliche und gestische Verhalten von Tieren auf komplexe Weisen ihre Affekte widerspiegelt, ohne dass er jedoch auf die Spezifika der menschlichen Sprache näher eingeht (5.1059–1090).496 Die menschliche Sprache erscheint im fünften Buch bloß als Sonderfall animalischer Expressivität, die von Affekten und natürlichen Instinkten gesteuert wird.497
493 Ganz ähnlich äußert sich Diogenes Oinoanda in einem Fragment, in dem er gegen die Vorstellung polemisiert, dass Hermes oder irgendwelche Namensgeber in der Urzeit die Worte einführten. Ausführlich zu diesem Fragment siehe: C. W. Chilton, »The Epicurean Theory of the Origin of Language: A Study of Diogenes Oinoanda frs. X and XI (W)«, in: The American Journal of Philology, 83, Nr. 2 (Apr. 1962), S. 159–167, insb. S. 162f. 494 Beide Möglichkeiten sind plausibel: Gordon Campell, Lucretius on Creation and Evolution. A Commentary on De Rerum Natura 5.772–1104, Oxford u. a.: Oxford University Press, 2003, S. 289f. 495 Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 3, S. 1488. 496 Ein möglicher Unterschied liegt darin, dass Tiere tendenziell nur körperliche Affekte ausdrücken, wohingegen Menschen auch äußere Objekte mit ihrer Stimme bezeichnen können. Diese Differenz könnte man mit Stevens – gemäß einer anachronistischen Terminologie – als Unterscheidung von indexikalischen Schreien und symbolischer Sprache interpretieren: Benjamin E. Stevens, »Symbolic Language and Indexical Cries: A Semiotic Reading of Lucretius 5.1028–90«, in: The American Journal of Philology, 128, Nr. 4 (2008), S. 529–557, insb. S. 548–551. Sollte diese Deutung stimmen, wird sie jedoch dadurch unterwandert, dass Hunde laut Lukrez im Spiel auch Affekte vortäuschen können und Vögel durch ihre Stimmen scheinbar auf das Wetter reagieren. 497 Durch diese ursprüngliche Instinktivität grenzt sich die epikureische Sprachtheorie von ihren teleologischen Konkurrenten ab: Vgl. Reinhardt, »Epicurus and Lucretius on the Origins of Language«, S. 136. Wie dieser Instinkt in einen intentionalen und kommunikativen Zeichengebrauch umschlägt, bleibt sowohl bei Epikur als auch bei Lukrez offen. Vgl. Catherine Atherton, »Lucretius on What Language is Not«, in: Language and Learning.
Vis: Rhetorische und natürliche Macht der Sprache (Cicero, Epikur)
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Dies ist umso erstaunlicher, als Epikur in seinen sprachphilosophischen Ausführungen φύσις und θέσις versöhnen wollte. So schreibt er in einer besonders dichten Stelle der Epistola ad Herodotum, die als wichtigstes überliefertes Zeugnis der epikureischen Sprachtheorie gilt (75f): Ὅθεν καὶ τὰ ὀνόματα ἐξ ἀρχῆς μὴ θέσει γενέσθαι, ἀλλ’ αὐτὰς τὰς φύσεις τῶν ἀνθρώπων καθ’ ἕκαστα ἔθνη ἴδια πασχούσας πάθη καὶ ἴδια λαμβανούσας φαντάσματα ι᾿δίως τὸν ἀέρα ἐκπέμπειν στελλόμενον ὑφ’ ἑκάστων τῶν παθῶν καὶ τῶν φαντασμάτων, ὡς ἄν ποτε καὶ ἡ παρὰ τοὺς τόπους τῶν ἐθνῶν διαφορὰ εἴη. ὕστερον δὲ κοινῶς καθ’ ἕκαστα ἔθνη τὰ ἴδια τεθῆναι πρὸς τὸ τὰς δηλώσεις ἧττον ἀμφιβόλους γενέσθαι ἀλλήλοις καὶ συντομωτέρως δηλουμένας. Τινὰ δὲ καὶ οὐ συνορώμενα πράγματα ει᾿σφέροντας τοὺς συνειδότας παρεγγυῆσαί τινας φθόγγους τοὺς {μὲν} ἀναγκασθέντας ἀναφωνῆσαι, τοὺς δὲ τῷ λογισμῷ ἑλομένους κατὰ τὴν πλείστην αι᾿τίαν οὕτως ἑρμηνεῦσαι. Deshalb sind auch die Benennungen [Namen] ursprünglich nicht durch Festsetzung entstanden, sondern die Naturen der Menschen selbst, die gemäß ihrer Ethnie [Kultur] ihre eigentümlichen Affekte litten und ihre eigentümlichen Vorstellungsbilder empfingen, haben auf je eigentümliche Weise den Luftstrom entsandt, der von den Affekten und Vorstellungsbildern geformt wurde, je nach den möglichen Unterschieden der Ethnien, die von deren jeweiligen Lebensräumen abhängen. Später aber wurden in jeder Ethnie die besonderen Benennungen gemeinsam festgesetzt, damit sie untereinander von Ambivalenzen geklärt und klarer gefasst werden. Auch haben manche, die noch undurchschaute Sachen verstanden, diese dargelegt und Stimmen [Wörter] für sie eingeführt, wobei einige [von der Natur] gezwungen wurden, sie zu äußern, einige jedoch sie [die Ausdrücke] wählten gemäß der stärksten Ursache, um sie zu vermitteln.
Beleuchten wir nur einige Aspekte dieser schwierigen wie vieldiskutierten Passage, in der Epikur drei Phasen der Sprachentwicklung zu unterscheiden scheint:498 Erstens entstehen die Bezeichnungen (ὀνόματα = nomina rerum) aus der φύσις (natura) der Menschen, da sie deren inneren Affekte (πάθαι) und Vorstellungs- oder Wahrnehmungsbilder (φαντάσματα = simulacra) unmittelbar ausdrücken, indem sie den Luftstrom formen. Weil es offenkundig nicht nur eine natürliche Sprache, sondern unzählige Sprachen gibt, muss Epikur in einem ethnolinguistischen Ansatz auf die Differenzen der Kulturen oder Ethnien (ἔθνη) verweisen, die jeweils entsprechend ihrer unterschiedlichen Lebensräume eine eigentümliche Natur besitzen. Darum spricht er nicht im Singular von der φύσις, sondern im Plural von den φύσεις der Menschen.499 Zweitens wird die Benennung durch die ethnischen φύσεις später von einer kollektiven θέσις ergänzt, welche die natürliche Sprache überformt, um Ambivalenzen zu tilgen und die Kommunikation ökonomischer zu gestalten. Zuletzt und drittens werden besondere Philosophy of Language in the Hellenistic Age, hg. v. Dorothea Frede u. Brad Inwood, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 2005, S. 101–138, insb. S. 115–122. 498 Diese Gliederung folgt: Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 3, S. 1487f. 499 Vgl. Giussani, T. Lucreti Cari De rerum natura, Bd. 1., S. 277f.
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Fachbegriffe von herausragenden Individuen eingeführt, welche den Wortschatz erweitern und neue Wortlaute (φθόγγοι = linguae sonitus) einführen, die entweder einem natürlichen Zwang (ἀναγκάζειν = natura subegit) oder der Vernunft (λογισμός) gehorchen. Somit wird die Sprache, deren Ursprung (ἀρχή) die menschliche φύσις ist, im Laufe ihrer Entwicklung durch kollektive und individuelle θέσις verfeinert,500 wobei letzte wohl auch auf Epikurs eigenes philosophisches Vokabular verweist. Epikur erkennt durch seine φυσιολογία (eine Kombination aus φύσις und λόγος) undurchschaute Sachverhalte (οὐ συνορώμενα πράγματα), nämlich die unsichtbaren Zusammenhänge (ἄδηλα) der Atome und ihre Dynamik, und will sie uns durch seine Fachprosa und seine neuen Wortprägungen klar vor Augen stellen, um seine Begriff-Vorstellungen dem Publikum zu vermitteln (ἑρμηνεύειν entspricht dem lateinischen interpretari). Auch für Lukrez drückt die Sprache-Zunge subjektive seelische Affekte und objektive Vorstellungsbilder aus, weshalb er sie, wie bereits erwähnt, als Übersetzerin oder Vermittlerin der Seele (animi interpres) bezeichnen wird (6.1149). Er schildert außerdem, wie die daedala lingua den Luftstrom formt, wobei er Worte in vager Analogie zu den simulacra als Wortbild (imago verbi) begreift (5.571). Wie dies genau zu verstehen ist bleibt unklar, jedenfalls legt das künstlerischbildnerische Vokabular nahe, dass das Verhältnis von simulacrum und verbum mimetisch ist, d. h. dass die Sprache die simulacra mehr oder weniger direkt imitiert. Während Lukrez im vierten Buch die Sprache hinsichtlich der simulacra betrachtet, die Epikur vermutlich in seinem Begriff der Vorstellungsbilder (φαντάσματα) inkludiert,501 betont er im fünften v. a. ihren affektiven Aspekt, den er durch genaue Tierbeschreibungen illustriert. Anstelle der ethnolinguistischen Überlegungen Epikurs finden wir eine Veranschaulichung der Bandbreite der Stimmen der Natur.502 Nicht die unterschiedlichen Naturen der Menschen, sondern die der biologischen Gattungen rücken in den Vordergrund. Vergleichen wir Lukrez’ Sprachphilosophie mit derjenigen Epikurs, so fällt auf, dass dieser nur die erste Phase von Epikurs Entwicklungstheorie thematisiert: Obwohl Lukrez seine Reflexionen über den Ursprung der Sprache im Kontext der Entstehung von 500 Giussani fasst diesen Prozess gut zusammen: »La dottrina di Epicuro, infatti, è che l’embrione del linguaggio è stato φύσει, ossia i primi suoni espressivi furon naturali, emessi per fisiologica necessità; ma questo embrione gli uomini, all’intento di farsi un utile strumento di comunicazione, l’hanno sviluppato a vero linguaggio, ponendo (θέσει) dei nomi alle cose; ma nel porre questi nomi non hanno punto proceduto ad arbitrio, ma ragionando (λογίσμῳ), e dietro certe analogie.« a. a. O., S. 271f. Siehe auch: Taylor, Lucretius and the Language of Nature, insb. S. 16–31. 501 Vgl. Campell, Lucretius on Creation and Evolution, S. 291. Wie die spärlichen Fragmente aus dem 28. Buch von Epikurs Περὶ φύσεως nahelegen, spielen auch die bildhaften Vorbegriffe (προλήψσεις) eine entscheidende Rolle: Vgl. Long, »Aisthesis, Prolepsis and Linguistic Theory in Epicurus«, S. 122–128. 502 Vgl. Atherton, »Lucretius on What Language is Not«, S. 105.
Contendere: Notwendiger Wetteifer der Nachahmung (Quintilian)
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Freundschaft, Familie und Gesellschaftsverträgen (foedera) – drei Formen sozialer θέσις – einführt (5.1019–1027) und obwohl sich in seinem Hinweis auf die utilitas möglicherweise ein Echo der zweiten Phase versteckt,503 so finden wir bei ihm doch keine einzige Darstellung einer kollektiven sprachlichen θέσις. Seine ganze philosophische und poetische Energie konzentriert sich auf den Aspekt der φύσις. Sollte die Epistola ad Herodotum (zumindest) eine Quelle von De rerum natura sein, dann sehen wir, dass Lukrez in seiner Sprachphilosophie wie Cicero keinesfalls den verba, sondern der vis seines griechischen Vorbildes folgt. Genau in dieser vis trifft sich aber der Ursprung der Sprache mit Epikurs und Lukrez’ philosophisch-rhetorischer Überzeugungskraft, welche die natura rerum, der sie entspringt, entblößt, so dass uns höchste Lust und kosmischer Schauer (divina voluptas atque horror) gleichzeitig erfassen.
5.
Contendere: Notwendiger Wetteifer der Nachahmung (Quintilian)
Neben Cicero und Seneca gilt Quintilian als einflussreichster römischer Theoretiker der imitatio. Quintilian versuchte im Anschluss an Cicero und Dionysios von Halikarnassos in seinem monumentalen Werk Institutio oratoria die rhetorische und poetische Praxis seiner Zeit zu systematisieren und optimieren. Dazu stellt er erstmals dem Kanon griechischer Autoren, der von alexandrinischen Gelehrten geschaffen wurde, einen Kanon römischer Autoren gegenüber,504 der die augusteischen Dichter enthält (inst. 10.1.85–131). Vor dem Hintergrund seiner klassizistischen Galerie nachahmenswerter Autoren betont Quintilian die unüberwindbare Distanz zwischen literarischem Vorbild und Nachahmung, um einen Wetteifer (aemulatio) zwischen beiden zu fordern. Sein Hauptargument lautet so (inst. 10.2.9–11): Sed etiam qui summa non adpetent, contendere potius quam sequi debent. Nam qui hoc agit, ut prior sit, fortisan, etiam si non transierit, aequabit. Eum vero nemo potest aequare, cuius vestigiis sibi utique insitendum putat: necesse est enim semper sit posterior qui sequitur. Adde quod plerumque facilius est plus facere quam idem: tantam enim difficultatem habet similitudo ut ne ipsa quidem natura in hoc ita evaluerit, ut non res, quae simillimae quaeque pares maxime videantur utique discrimine aliquo discernantur. Adde quod quidquid alteri simile est necesse est minus sit eo, quod 503 Diese umstrittene Hypothese wurde erstmals von Giussani vorgeschlagen: Giussani, T. Lucreti Cari De rerum natura, Bd. 1., S. 283. Sie gilt jedoch nur, insofern wir unter utilitas ein Bewusstsein der Nützlichkeit (Schrijvers) und nicht bloß ein unbewusstes Bedürfnis (Reinhardt) verstehen und zwischen nomina rerum und linguae sonitus strikt unterscheiden. 504 Zu diesem Prozess der Kanonbildung: Flashar, »Die klassizistische Theorie der Mimesis«, S. 84–88.
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imitatur, ut umbra corpore et imago facie et actus histrionum veris adfectibus. Quod in orationibus quoque evenit. Namque iis quae in exemplum adsumimus subest natura et vera vis, contra omnis imitatio facta est ad alienum propositum commodatur. Aber auch die, die nicht nach dem Höchsten begehren, sollten vielmehr [mit ihrem Vorbild] wetteifern, als ihm zu folgen. Wer es nämlich darauf anlegt, weiter vorne zu sein, wird vielleicht [diesem] gleichkommen, auch wenn er es nicht überholt. Niemand kann es freilich einholen, der glaubt, unter allen Umständen in dessen Fußspuren treten zu müssen. Notwendigerweise muss derjenige, der bloß nachfolgt, immer hinten bleiben. Außerdem ist es auch viel leichter, mehr zu leisten als dasselbe: Denn es liegt so viel Schwierigkeit darin, Gleichheit zu erzielen, dass sogar die Natur selbst dazu nicht so mächtig ist, dass sich die Dinge, die am ähnlichsten sind und sich zu gleichen scheinen, sich nicht doch immer durch irgendeinen Unterschied scheiden ließen. Weiter ist alles, was einem anderen ähnlich ist, zwangsläufig minderwertig bezüglich dem, was nachgeahmt wird, wie der Schatten im Vergleich zum Körper, das Bild [die Totenmaske] gegenüber dem Gesicht und der Auftritt der Schauspieler gegenüber den wahren Affekten. In den Reden geschieht dasselbe. Denen nämlich, die wir uns als Vorbild nehmen, liegen Natur und wahre vis zugrunde, wohingegen jede Nachahmung [künstlich] gemacht ist und einem fremden Plan angepasst ist.
Quintilian kontrastiert wie Lukrez das demütige sequi mit einem kompetitiven contendere, hebt allerdings im Gegensatz zu diesem die Notwendigkeit des contendere hervor.505 Er begründet dies mit der zwiespältigen Wesensart der imitatio: Einerseits ist die Nachahmung ein willkommenes pädagogisches Mittel, das für das Erlernen zahlreicher artes unentbehrlich ist und in der Rhetorik den Wortschatz (verborum copia), die Fülle der Wortfiguren (varietas figurarum) und die Kompositionskunst (componendi ratio) des angehenden Redners steigert (inst. 10.2.1f).506 Andererseits ist die Nachahmung ein Zeichen eines faulen Geistes (pigrum ingenium) und bleibt immer der genuinen Erfindung (invenire) unterlegen, ohne die es in den artes keinen Fortschritt gibt (inst. 10.2.4–8). Denn wer einem Vorbild treu folgt (sequi) und brav in dessen Fußspuren (vestigia) tritt, der wird diese nicht einmal reproduzieren, sondern notwendigerweise hinterherhinken und zweitrangig (posterior) bleiben. Quintilian schreibt dieser ›pessimistischen‹ Sicht sogar einen naturgesetzlichen Status zu: Selbst die Natur besitzt nicht die Macht, das Identische (similitudo meint hier totale Ähnlichkeit) herzustellen, weshalb alle res, selbst wenn sie sich auf den ersten Blick zu gleichen scheinen, sich durch eine gewisse Differenz (discrimen) unterscheiden. Ganz ähnlich schreibt Lukrez, dass es in der Natur kein Individuum – nicht einmal ein Getreidekorn oder eine Muschel – gibt, das einem anderen völlig 505 Vgl. Reiff, Interpretatio, imitatio, aemulatio, S. 12f. 506 Darum ist die imitatio für Quintilian ein ethisch gerechtfertigtes und motiviertes Mittel, um rhetorische virtus zu erreichen, wie Terrill zeigt: Robert E. Terrill, »Reproducing Virtue: Quintilian, Imitation, and Rhetorical Education«, in: Advances in the History of Rhetoric, 19, Nr. 2 (2016), S. 157–171, insb. S. 161–164.
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ähnlich wäre. Doch Lukrez begründet diese Varianz der Erscheinungen (variantia rerum) damit, dass die Natur nichts nach einer definitiven Form (certa forma) (2.371–380) oder nach einem präexistenten Vorbild (exemplum) (5.181) produziert. Dahingegen deutet Quintilian an, dass die Natur nach dem Identischen strebt, womit er impliziert, dass sie ein exemplum im Sinne von Platons Idee imitiert, ohne diese je zu erreichen. Diese platonistische Tendenz507 wird auch in seinen folgenden Beispielen deutlich: Im Vergleich zum Nachgeahmten bleibt die Nachahmung minderwertig (minus) sowie der Schatten dem Körper, das Spiegelbild bzw. die Totenmaske (imago) dem lebendigen Gesicht und die Simulation des Schauspielers den wahren Affekten unterlegen sind. Genauso erscheint die literarische Nachahmung neben der natura et vera vis ihres Vorbildes zwangsläufig als blasser, künstlicher und entfremdeter Abklatsch. Indem Quintilian die imitatio auctorum mit der imitatio naturae vergleicht, wird diese zu einem ontologischen Problem, zu einer graduellen Degeneration von Wirklichkeitsgehalt, Lebendigkeit und Autonomie.508 Darum muss dieser platonische ›Fluch‹, der auf der μίμησις/imitatio lastet und der die gegenwärtigen – oder genaugenommen alle – Dichter und Rhetoren als Zuspätgekommene verdammt, durch ein contendere gebrochen werden, das die degenerative Richtung des sequi in eine (re)generative umlenkt. Während das sequi bloß das literarische Niveau eines exemplum erreichen möchte und daran unausweichlich scheitert, womit es zweitrangig (posterior) bleibt, möchte das contendere dieses überschreiten (transire) und erstrangig werden (prior), wodurch es ihm im Endeffekt gleichkommt (aequare) oder es gar – diese Möglichkeit bleibt durchaus offen – übertrifft. Folglich zielt das contendere weniger auf die imitatio eines konkreten Autors als auf die imitatio eines stilistischen Ideals, das noch niemals verwirklicht wurde, weil es selbst bei den besten Schriftstellern der Vergangenheit Fehler oder Mängel gibt. Und diese Mängel können wir nicht beseitigen, wenn wir bloß ein oberflächliches simulacrum oder eine imago der Vorzüge eines Autors produzieren, wie Quintilian mit einem Seitenhieb auf die epikureische Lehre sagt (inst. 10.2.15): »Nec vero […] sufficiat imaginem virtutis effingere et solam, ut {ita} dixerim, cutem vel potius illas Epicuri figuras, quas e summis corporibus dicit effluere (Nicht freilich […] ist es 507 Hierzu die knappe Bemerkung von Fantham: »The old Platonic antithesis of truth and imitation is revived, and, while the reader is urged to reproduce his model, it is recognized that any reproduction is inherently inferior to the original.« Elaine Fantham, »Imitation and Decline: Rhetorical Theory and Practice in the First Century after Christ«, in: Classical Philology, 73, Nr. 2 (1978), S. 102–116, hier S. 112. 508 Dies ist zugleich eine Ontologisierung eines kulturellen Dekadenzdiskurses innerhalb der rhetorischen Theorie, der nach Cicero und der augusteischen ›Klassik‹ floriert. Über diesen Diskurs, der sich u. a. auch bei den beiden Senecas und Tactitus findet: a. a. O, insb. S. 111– 116.
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genug, ein Abbild der guten [literarischen und moralischen] Qualität zu bilden und allein, wie ich sagen könnte, eine Haut oder besser jene Formen [Bilder] Epikurs, von denen er behauptet, dass sie von den Oberflächen der Körper ausströmen).« Die gelungene imitatio strömt nicht von der Oberfläche eines Textes aus, sondern beruht auf der tieferen Kenntnis, die begründet, das ein Text überhaupt nachahmenswert ist. Deshalb dürfen wir nicht bloß die verba unserer Vorbilder – die überdies ein Ablaufdatum haben und schnell veralten (inst. 10.2.13) – imitieren, sondern müssen mit unserer eigenen Urteilskraft seine vis der Beweisführung (vis probandi), sein Wissen um die Steuerung der Affekte (adfectibus movendis scientia) und seinen öffentlichen Nutzen (utilitas) studieren (inst. 10.2.27).509 Auch wenn wir die vis, die Quintilian im Sinne der griechischen ›Dynamis‹ (δύναμις) versteht, d. h. als ›elementare Kraft‹, ›Macht‹, ›Fähigkeit‹ oder als ›Bedeutung‹,510 aber auch das ingenium eines exemplum nicht direkt nachahmen können (imitabila non sunt) (inst. 10.2.12), müssten wir durch deren Studium doch unsere eigenen Anlagen steigern. Weil sich das Gute nicht nur in einem einzigen Autor äußert und wir niemals etwas vollkommen nachahmen können, müssen wir eklektisch verfahren (inst. 10.2.26): »[…] cum totum exprimere quem elegeris paene sit homini inconcessum, plurimum bona ponamus ante oculos, ut aliud ex alio haereat, et quo quidque loco conveniat aptemus ([…] da es dem Menschen gänzlich verwehrt ist, das [ein Vorbild], das du ausgewählt hast, in seiner Gänze [in deiner Sprache] auszudrücken, sollen wir uns das Gute vieler [Autoren] vor Augen stellen, damit eines aus dem anderen hängen bleibt und wir es an einer Stelle, wo es angemessen ist, anwenden können).«511 Unterschiedliche Stärken finden sich in allen kanonischen Autoren, weshalb wir sie immer vor 509 In diesem Hinweis auf die utilitas kann man ein Echo der epikureischen Theorie der Kulturgeschichte und Sprachentwicklung sehen. Wie Baier zeigt, betrachtet Quintilian die utilitas als einen Motor des Fortschritts und bezieht sich wohl auch auf Lukrez: Thomas Baier, »Quintilian’s Approach to Literary History via Imitatio and Utilitas«, in: The Literary Genres in the Flavian Age: Canons, Transformations, Reception, hg. v. Federica Bessone u. Marco Fucecchi, Berlin u. a.: De Gruyter, 2017, S. 47–61, inbs. S. 75–60. Dies verhindert freilich nicht, dass Quintilians utilitaristisches Fortschrittsmodell von einem platonischen Idealismus überschattet wird. 510 Quintilian bevorzugt diesen griechischen Begriff. Aber auch die lateinischen Äquivalente, die er erwähnt (potestas und facultas), zeigen die pragmatische Stoßrichtung der vis an (inst. 2.15.3): »Quod ego vim appello, plerique potestatem, nonulli facultatem vocant: quae res ne quid adferat ambiguitatis, vim dico δύναμιν (Was ich vis nenne, bezeichnen die meisten als Macht, einige als Fähigkeit: Damit diese Sache nicht etwas an Mehrdeutigkeit mit sich bringt, definiere ich vis als δύναμις).« Δύναμις ist kaum weniger ambivalent als seine lateinischen Konkurrenten. 511 Der Streit, ob man in der Rhetorik ein Vorbild oder mehrere imitieren soll, ist alt. Quintilian schlägt sich hier eindeutig auf die Seite der Eklektizisten: Donald Lemen Clark, »Imitation: Theory and Practice in Roman Rhetoric«, in: Quarterly Journal of Speech, 37, Nr. 1 (1951), S. 11–22, insb. S. 14f.
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unserem geistigen Auge parat haben sollten, um ihre Qualitäten im passenden Moment zu imitieren und uns dadurch der Idee des guten Stils anzunähern. Quintilian begreift es als eine Chance, dass er in einer Zeit lebt, in der es so viele hervorrragende exempla gibt wie noch nie. Obwohl er wehmütig auf die heroische Zeit eines Cicero und die Hochblüte der augusteischen ›Klassiker‹ zurückblickt, verkehrt er seine Melancholie der Posteriorität durch seine Theorie des contendere in eine Möglichkeit der Priorität. Die Letzten werden in literarischer Hinsicht die Ersten sein, wie auch Seneca bemerkt (epist. 79.6): »Praeterea condicio optima est ultimi: parata verba invenit, quae aliter instructa novam faciem habent (Außerdem ist die Situation des Letzten am besten: Er findet Worte [Texte] vor, die anders angeordnet ein neues Gesicht zeigen).« Die kreative imitatio erschafft auf eklektische und kombinatorische Weise das lebendige Gesicht (facies) der Zukunft und kein totes simulacrum, keine Totenmaske, kein imago der Vergangenheit.512 Nun lehnt Lukrez, wie zu Beginn des Kapitels gezeigt, im dritten Proömium bezüglich seines eigenen Werkes jede Form des contendere (oder certare) mit Epikur ab (3.5–8): »[…] non ita certandi cupidus […] quid enim contendat hirundo | cycnis, aut quidnam tremulis facere artubus haedi | consimile in cursu possint et fortis equi vis? ([…] nicht so begierig nach Wettstreit […] Was sollte denn die Schwalbe mit dem Schwan eifern, oder was könnten Böcklein in ihrem Lauf mit zittrigen Gliedern es gleichtun der vis des energischen Rosses?).« Folglich präsentiert er sein imitari als sequi, wobei seine und Epikurs vestigia auf syntaktischer Ebene bis zur Ununterscheidbarkeit verschmelzen. Diese Haltung lässt sich durch unterschiedliche Ansätze erklären: Zunächst schreibt Lukrez ein Jahrhundert vor Quintilian, d. h. in einer Phase der römischen Literatur, in der die Philosophie als nahezu unbetretenes Gebiet galt. Selbst Cicero, dessen philosophischen Dialoge vermutlich kurz nach De rerum natura entstanden, fühlt sich als ein Pionier, wenn er auf Latein philosophiert. Außerdem steht Lukrez in seinem Genre der lateinischen philosophischen Epik außer Konkurrenz. Der einzige römische Konkurrent, den Lukrez ausdrücklich anerkennt, ist Ennius, von dem er sich, wie im vorherigen Kapitel dargestellt, abgrenzt, was man als eine Art von contendere begreifen mag.513 Ansonsten kann er seine Verbindung von griechischer Philosophie und römischer Dichtung als absolute Neuheit begreifen 512 Vgl. Christopher Trinacty, »Imago res mortua est: Senecan Intertextuality«, in: Brill’s Companion to the Reception of Senecan Tragedy. Scholary, Theatrical and Literary Receptions, hg. v. Eric Dodson-Robinson, Leiden/Boston: Brill, 2016, S. 11–33, hier S. 14f. 513 Neben Ennius kannte Lukrez vermutlich auch Ciceros Aratea, eine Übersetzung von Aratos astronomischem Lehrgedicht, die kurz vor De rerum natura enstand und die Lukrez möglicherweise in seiner Diktion und Metrik beeinflusste: Vgl. Kenney, »Lucretian Texture«, S. 95. Da der philosophische Gehalt der Aratea aber – trotz ihrer stoischen Einsprengsel – eher mager ist, scheint diese für Lukrez keine nennenswerte Konkurrenz darzustellen.
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und sich als erster Römer porträtieren, der Epikurs vestigia folgt und zugleich in seiner Muttersprache avvia Pieridum loca betritt, ohne andere Anwärter auf die Liebe seiner epikureischen Musen zu fürchten.514 Auch wenn sich Lukrez bewusst ist, dass er als Philosoph zu spät kommt (die gesamte natura rerum wurde bereits offenbart), so ist er sich als Dichter-Philosoph seiner Priorität sicher. Darum gibt es bei ihm keine drückende Melancholie des Zuspätgekommenseins, das durch ein contendere mit Epikur oder konkurrierenden römischen Dichter-Philosophen erst kompensiert werden müsste. Quintilians contendere entspringt aber nicht nur einer gewissen schöpferischen Melancholie, sondern auch einer platonischen Verlustangst, welche die ontologische Differenz (discrimen) zwischen Vor- und Abbild als Wirklichkeitsverlust empfindet. Lukrez’ Ontologie ist dahingegen durch und durch antiplatonisch: Nirgends wird in ihr festgeschrieben, dass die Nachahmung oder das simulacrum einer Sache eine Degeneration sei. Die simulacra sind grundsätzlich Ebenbilder, die, wie im zweiten Kapitel rekonstruiert, erst in zweiter Linie durch Deformationen oder falsche Kombinationen zu Trugbildern werden. Darum braucht es Lukrez nicht zu beunruhigen, dass De rerum natura eine Nachahmung Epikurs und in gewisser Weise – die Analogie ist freilich äußerst vage – ein simulacrum der natura rerum ist. Quintilians Befürchtung, dass die imitatio auctorum einem toten simulacrum gleicht, ist unbegründet, solange Lukrez’ Werk wie das Epikurs die natura rerum korrekt darstellt. Angesicht der philosophischen Wahrheitsfrage verblasst der Anspruch auf Priorität und Originalität. Darüber hinaus ist De rerum natura sicherlich kein oberflächliches simulacrum der Schriften Epikurs, da es weniger deren verba als deren vis folgt, die wiederum einer vorsprachlichen vis der Natur entspricht. Die Differenzen, die sich zwischen Lukrez’ und Epikurs verba zeigen, könnte man in ontologischer Hinsicht als Ausdruck der unaufhörlichen Differenzierung der Natur selbst, als Wirkung der lukrezischen variantia rerum verstehen, welche die Kreativität von Natur und Sprache, natura daedala rerum und daedala lingua, verbindet. Das discrimen, das, wie Quintilian zurecht bemerkt, jedes sequi voraussetzen und erzeugen muss, muss keine Degeneration sein, sondern könnte ebenso als eine Regeneration verstanden werden. Wenn das sequi aber ontologisch für eine kreative Imitation offen ist, dann muss es gar nicht von einem contendere verdrängt werden. Lukrez’ literaturhistorische Situation, seine Ontologie und sein philosophischer Wahrheitsanspruch unterscheiden sich von denjenigen Quintilians und verleihen dem contendere folglich keine besondere Dringlichkeit. Das heißt aber nicht, dass wir in Lukrez’ Poetik nicht doch Funken des contendere aufspüren können. Lukrez möchte immerhin, wie im ersten Kapitel gezeigt, Epikurs obscura 514 Hierzu auch: Clay, Lucretius and Epicurus, S. 40.
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reperta in der lateinischen Sprache erleuchten (inlustrare), womit er sich aus dem Schatten seines Vorbildes befreit und dieses möglicherweise sogar an Strahlkraft übertreffen will. Zudem unterscheidet sich seine Praxis der imitatio kaum von Quintilians Forderungen. Schlussendlich ist Lukrez’ sequi ähnlich eklektisch, kreativ und selbstreflexiv wie Quintilians contendere.515 Vor diesem Hintergrund lässt sich der Beginn des dritten Proömiums auch als ein rein konventioneller Bescheidenheitstopos lesen, der ein contendere verneint, das er insgeheim betreibt. Die Betonung des sequi gegenüber dem contendere (aemulari) ist in der römischen Literatur ein gängiger Topos, wie z. B. eine Briefstelle bei Plinius dem Jüngeren belegt. Plinius vergleicht seine eigene Rede mit einer Rede von Demosthenes, wobei er beteuert, dass er sie nur verfasste (epist. 7.30.5): »[…] non ut aemularer (improbum enim ac paene furiosum), sed tamen imitarer et sequerer, quantum […] diversitas ingeniorum, maximi et minimi […] pateretur ([…] nicht um mit [Demosthenes] zu wetteifern – das wäre nämlich unverschämt und nahezu wahnsinnig –, sondern um ihn nachzuahmen, soweit […] es die Unterschiede unserer Geisteskräfte, der größten und der kleinsten, […] erlauben).« Das ist zwar ein Bescheidenheitstopos, aber keinesfalls bescheiden. Denn Plinius vergleicht sich hier mit dem berühmtesten Redner der Antike. Auch wenn er das aemulari gegen das sequi austauscht und sich selbst mit übertriebener Ironie als das kleinste und Demosthenes als das größte ingenium darstellt, rückt er auf paradoxe Weise in die Nähe des Größten. Dem Bescheidenheitstopos wohnt eine gewisse Megalomanie inne, die der Unverschämtheit und dem Wahnsinn (improbus ac furiosus) – denken wir an den platonischen ἐνθουσιασμός! – ähnelt, den Plinius allzu offensichtlich ablehnt.516 515 Man könnte mit Heinze sagen, dass Lukrez’ imitari hinsichtlich des philosophischen Gehalts ein sequi, aber hinsichtlich der literarischen Form ein contendere ist: »Als imitari bezeichnet L[ukrez] seine dichterische Thätigkeit mit einem in der römischen Poetik technischen Ausdruck; er verzichtet damit auf die Selbstständigkeit im Stoff, aber durchaus nicht auf die Selbständigkeit der Arbeit [Form], die ihn im Gegenteil mit höchstem Stolz erfüllt; der amor Musarum, quo nunc instinctus mente vigenti avia Pieridum peragro loca nullius ante trita solo (I 924) steht neben dem amor Epicuri, der ihn nur in den Spuren des Meisters zu gehen heißt.« Heinze, T. Lucretius Carus De rerum Natura Buch III, S. 49. Da Lukrez Epikur als inspirierenden Gott und als dichterisches Vorbild präsentiert, überlagert sich der amor Musarum unaufhörlich mit dem amor Epicuri. Sequi und contendere lassen sich darum rückwirkend nicht eindeutig scheiden. 516 Vogt-Spira bemerkt hinsichtlich der Plinus-Stelle zurecht, dass man solche Äußerungen immer im Rahmen einer größeren Strategie interpretieren muss: »Derartige Äußerungen sind nicht isoliert zu betrachten oder gar im Sinne eines Dekadenzgefühls des Nachgeborenen zu interpretieren; vielmehr stellen sie das notwendige Komplement eines in seiner Tiefenstruktur paradoxalen und eben dadurch dynamischen Textproduktionssystems dar.« Gregor Vogt-Spira, »Die Selbstinszenierung des jüngeren Plinius im Diskurs der literarischen Imitatio«, in: Plinus der Jüngere und seine Zeit, hg. v. Luigi Castagna u. Eckard Levère, Berlin u. a.: De Gruyter, 2003, S. 51–65, hier S. 61. Diese paradoxale Struktur, die allgemein
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Ebenso können wir Lukrez’ sequi als eine Anmaßung sehen: Epikur ist nämlich ein Gott, der Ceres, Bacchus oder Herkules übertrifft, weil er die natura rerum enthüllte, das Unermessliche vermaß, das Leben der Menschen von den Ängsten und Begierden reinigte und die religio unter seinen Füßen zermalmte, usw. Ist es nicht durchaus vermessen, in die Fußstapfen eines solchen Gottes zu treten? Lukrez erhöht Epikur in seinen Proömien dermaßen, dass sein sequi jegliche Bescheidenheit verlieren muss und zur Hybris tendiert. Dabei zielt das sequi nicht mehr auf einen konkreten Menschen und Autor, sondern wie Quintilians contendere auf ein darüberstehendes Ideal, das er – so legt die rhetorische Frage des fünften Proömiums nahe – erreichen will, um selbst unsterblich und göttlich zu werden (nemo … mortali corpore cretus) (5.6). Diese und ähnliche Bestrebungen, die alles andere als bescheiden sind, lassen vermuten, dass Epikurs Vergöttlichung eigentlich der Verschleierung des contendere mit dem menschlichen Autor Epikur dient. Sollte sich dieser Verdacht erhärten, impliziert das sequi ein contendere und unterscheidet sich damit in der Praxis kaum von der rhetorischen und poetischen aemulatio, wie sie von späteren römischen Autoren unter völlig anderen Vorrausetzungen theoretisiert wurde.
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Ein weiteres Beispiel für eine Zurückweisung des aemulari finden wir bei Gellius, der seine Übersetzung einer Passage aus Platons Symposion kommentiert (noct.17.20.8): »[…] atque uti quaedam animalium parva et vilia ad imitandum sunt, quas res cumque audierint viderintue, petulantia, proinde nos ea, quae Platonis oratione demiramur, non aemulari quidem, sed lineas umbrasque facere aus sumus ([…] aber so wie gewisse kleine und minderwertige Tiere die Frechheit haben, alle Dinge zu imitieren, sobald sie sie hören oder sehen, genauso habe ich das, was wir an der Rede Platons bewundern, nicht zu übertreffen, sondern nur [dessen] Umrisse und Schatten zu machen gewagt).« Gellius wendet die platonische Hierarchie von Vor- und Abbild auf seine eigene Übersetzung Platons an, indem er sie als bloße Umrisslinien (lineae) und Schattenrisse (umbrae) des Originals bezeichnet.517 Damit imitiert er auch in seinem Kommentar Platon, der die Abbilder wiederholt mit Schatten und die μίμησις mit einer Art von Schattenmalerei (σκιαγραφία) vergleicht (z. B. Krit. 107d). Weiter den Diskurs der imitatio bestimmt, zeigt sich nicht nur im Vergleich mit anderen Briefstellen von Plinius, welche die aemulatio propagieren, sondern ist bereits unserer zitierten Stelle inhärent. 517 Vgl. Holford-Strevens, »An Antonine Littérateur«, S. 1144.
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stellt sich Gellius als niedriges und freches Tier dar, das alles nachahmen (übersetzen) muss, was es hört und sieht. Um welches Tier es sich handelt, bleibt offen, aber vermutlich denkt er an ein Äffchen, da schon Plautus, Ennius, Horaz usw. den imitator als Affen vorstellen.518 So oder so, Gellius stellt sich in seinem platonisierenden Bescheidenheitstopos als tierischer und schattenhafter ›Nachäffer‹ Platons dar. Analog vergleicht sich Lukrez mit einem kleinen Tier und präsentiert sich als Schwalbe, die nicht mit dem Schwan Epikur wetteifern kann, bzw. als Böcklein, das mit Epikurs Rennpferd-vis nicht mitzuhalten vermag. Schließlich poträtiert er sich, wie gesagt, als Biene, die emsig alle aurea dicta seines Vorbildes sammelt und in den Honig seiner Dichtung verwandelt. Die aemulatio, die er vordergründig ablehnt, ist für ihn ein Gesangs- oder Laufwettbewerb ungleicher Gattungen, wohingegen die imitatio eine demütige Arbeit ist. Seine Nachahmung Epikurs ist jedoch kein Schatten, sondern ein Licht, welches das dunkle Original schrittweise erleuchtet. Die platonische Hierarchie von Licht und Schatten, die wir bei Gellius finden, wird durch das inlustrare aufgehoben und umgekehrt. Der Vergleich von Vogelgesang und Dichtkunst ist ein gängiger Topos und geht auf die älteste Dichtung zurück.519 Lukrez’ Vergleich mit einer Schwalbe ist jedoch ungewöhnlich, da das Geschrei der Schwalbe (χελιδών = hirundo) von den Griechen als ›barbarisch‹ empfunden wurde. Das Verb χελιδονίζω, ›wie eine Schwalbe zwitschern‹, wurde mit βαρβαρίζω, ›barbarisch sprechen‹, ›ein Kauderwelsch reden‹, gleichgesetzt.520 Darum taucht die Schwalbe zwar in der griechischen Lyrik häufig als Botin des Frühlings auf (so wie alle Zugvögel laut Lukrez im Frühjahr die vis der Venus verkünden), seltener jedoch als Sinnbild des Dichters. Möglicherweise spielt Lukrez mit der Schwalbe ironisch auf seine lateinische Sprache an, welche die Griechen als barbarisch bezeichneten.521 Jedenfalls siedelt er seinen eigenen Gesang weit unterhalb desjenigen seines Vorbilds an. Denn der Schwan wurde von den Griechen zum Inbegriff des schönen Gesangs der Dichter verklärt, obwohl Schwäne meist stumm sind.522 Vermutlich 518 Dieser Vergleich beruht im Lateinischen auf einem Wortspiel, der Ähnlichkeit von simia, ›Affe‹, und similis, ›ähnlich‹: Vgl. Catherine Connors, »Monkey Business: Imitation, Authenticity, and Identity from Pithekoussai to Plautus«, in: Classical Antiquity, 23, Nr. 2 (Okt. 2004), S. 179–207, insb. S. 189f. Über das Fortleben des Affen-Imitator-Topos in der nachantiken Literatur siehe auch: Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Berlin: Francke, 1948, S. 522f. 519 Hierzu: Bruno Gentili, Poesia e pubblico nella Grecia antica. Da Omero al V secolo, Mailand: Feltrinelli, 2011, S. 89f. 520 Vgl. D’Arcy W. Thompson, A Glossary of Greek Birds, Hildesheim: Georg Olms, 1966, S. 320f. 521 Diese Vermutung wurde erstmals von Heinze geäußert: Heinze, T. Lucretius Carus De rerum Natura Buch III, S. 49f. Siehe auch: Kenney, Lucretius, De rerum natura Book III, S. 75. 522 Nur eine nordische Art, der sogenannte Singschwan (cycnus musicus), der manchmal in Südeuropa überwintert, gibt kurze abgehakte und trompetende Laute von sich. Über die
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wurde der Schwan weniger wegen seines Gesangs als wegen seines lauten Flügelschlages, der schon in einem homerischen Hymnus erwähnt wird, mit der Musik und Dichtung in Verbindung gebracht. Sicherlich wurde er aufgrund seiner Seltenheit, der strahlenden Weiße seines Gefieders und seines majestätischen Äußeren mit Venus und Apollon assoziiert und über diesen Umweg schließlich in die poetische Symbolik der Griechen integriert.523 Lukrez knüpft an diese Symbolik an und führt den Schwan – soweit wir wissen – als erster in die römische Dichtung ein. Auch er assoziiert den Schwan mit der Dichtkunst und Apollon, wie eine Passage aus dem zweiten Buch zeigt (2.504–506): »[…] mellisque sapores, | et cycnea mele Phoebeaque daedala chordis | carmina […] ([…] und der Geschmack des Honigs, der schwänische Gesang und die apollinischen dädalischen Lieder von den Saiten [der Lyra] […]).« Das Zitat stammt aus einer Auflistung von Superlativen (extrema), in denen Lukrez den Wohlklang der Dichtung neben anderen sinnlich wahrnehmbaren und exotischen Qualitäten aufzählt, etwa der Purpurfarbe von Gewändern, dem Liebreiz (lepos) des goldenen Pfauengefieders, dem Geruch der Myrrhe, dem Geschmack des Honigs (2.500–507). Diese extrema sollen beweisen, dass es nicht unendlich viele Atomformen gibt. Wären die Gestalten der Atome nicht beschränkt, so argumentiert Lukrez, könnte es auch keine unüberbietbaren Qualitäten in der phänomenalen Welt geben (2.512–514). Die Schwanen-Gesänge, cycnea mele, und die dädalischen Lieder-Gedichte des Apollon, Phoebaeque daedala carmina, markieren für ihn ein akustisches extremum, so wie die anderen Beispiele ein visuelles oder olfaktorisches exemplifizieren.524 Das seltene Adjektiv daedalus verweist hierbei, wie wiederholt gesagt, auf die schöpferischmimetischen Fähigkeiten des mythischen Dädalus. Das Adjektiv Phoebus (φοῖβος), ›strahlend‹, ›rein‹, ›hell‹, ist hingegen ein traditioneller Beiname des Apollon, des Gottes der Dicht- und Wahrsagekunst. Dadurch verquickt Lukrez die Qualitäten der Gesänge sowohl mit der schöpferischen vis der natura daedala rerum und daedala lingua als auch mit der Helligkeit seiner eigenen Dichtung (lucida carmina) und seiner eigenen daedala carmina. Sein eigenes inlustrare ist lichtvoll-apollinisch und prophetisch, weshalb er sich selbst in die Nähe der vates rückt und sich an entscheidender Stelle mit der Apollon-Priesterin Pythia vergleicht. Da der Honig (mel) überdies unmittelbar vor dem Gesang (melos) aufgezählt wird, zeigt sich ihre phonetische Nähe, die bereits die Griechen zur symbolischen Identifikation von Gesang und Honig (μέλος – μέλι) führte und die Stummheit/Musikalität der Schwäne: Harold Donohue, The Song of the Swan. Lucretius and the Influence of Callimachus, Lanham (Md.) u. a.: University Press of America, 1993, S. 19– 21. 523 Vgl. Thompson, A Glossary of Greek Birds, S. 180–186; John Pollard, Birds in Greek Life and Myth, Plymouth: Thames and Hudson, 1977, 144f. 524 Vgl. Edwards, »Aeternus Lepos«, S. 72f.
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in Lukrez’ Honigbecher- und Bienengleichnis wiederkehren wird.525 Der Schwan wird Teil dieser komplexen Verschränkung poetologischer Attribute, die Lukrez teilweise auf sein eigenes Werk anwendet. Wenn er Epikur folglich als Schwan bezeichnet, setzt er ihn unausgesprochen mit einem Dichter gleich und positioniert ihn zugleich als ein extremum, das innerhalb der atomaren Verfassung und der Möglichkeiten der natura rerum unüberbietbar ist. Epikurs cycnea mele schließt jede aemulatio scheinbar naturgesetzlich aus. Trotz dieser vordergründigen Unmöglichkeit der aemulatio nimmt Lukrez den Schwanengesang im Laufe seines Gedichts für sich selbst in Anspruch. Er porträtiert sich nicht nur als barbarische Schwalbe, sondern auch als majestätischer Schwan. So wiederholt er im vierten Buch gleich zweimal die folgenden Verse (4.180–183, 4.909–911): »[…] suavidicis potius quam multis versibus edam; | parvus ut est cycni melior canor, ille gruum quam | clamor in aetheriis dispersus nubibus austri ([…] [das] will ich eher in süßklingenden als mit vielen Versen verkünden, so wie der kurze [feine] Gesang des Schwans besser ist als das Geschrei der Kraniche, das sich in den ätherischen Wolken des Südwinds zerstreut).« Wie schon die Renaissance-Kommentatoren wussten, übersetzt bzw. imitiert Lukrez hier die beiden letzten Verse eines Epigramms des hellenistischen Dichters Antipater von Sidon,526 das folgendermaßen lautet (Anth. Gr. 7.713): Παυποεπής Hριννα καὶ οὐ πολύμυθος ἀοιδαῖς, ἀλλ’ ἔλαχεν Μούσας τοῦτο τὸ βαιὸν ἔπος. τοιγάρτοι μνήμης οὐκ ἤμβροτεν οὐδὲ μελαίνης Nυκτὸς ὑπὸ σκιερῇ κωλύεται πτέρυγι, αἱ δ’ ἀναρίθμητοι νεαρῶν σωρηδὸν ἀοιδῶν μυριάδες λήθῃ, ξεῖνε, μαραινόμεθα. λωίτερος κύκνου μικρὸς θρόος ἠὲ κολοιῶν κρωγμὸς ἐν ει᾿αριναῖς κιδνάμενος νεφέλαις. Von wenigen Gesängen [Versen] war Erinna und wortkarg, aber dieses kleine Epos [Werk] vermachten die Musen. Darum wurde sie weder der Erinnerung entzogen noch vom schattig-schwarzen Flügel der Nacht gehindert. Doch wir, Fremder, zahllose Myriaden von neuen [ jungen] Sängern, wir fallen bald zu Haufen in Vergessenheit. Besser der kurze Gesang des Schwans als das Geschrei der Dohlen, das sich in den Frühlingswolken zerstreut.
Das Epigramm verherrlicht die griechische Lyrikerin Erinna, die biografischen Legenden zufolge eine Schülerin Sapphos war und bereits mit neunzehn Jahren
525 Vgl. Waszink, Biene und Honig als Symbol des Dichters und der Dichtung, S. 8f. 526 Über die Rezeptionsgeschichte dieser Verse, anhand derer immer wieder das hellenistischalexandrinische Erbe von Lukrez diskutiert wurde: Vgl. Donohue, The Song of the Swan, S. 2–18.
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verstarb.527 Antipater, der etwa eine Generation vor Lukrez in Rom lebte, spricht hinsichtlich des frühen Tods der Dichterin (der schwarze Flügel der Nacht) von ihrem kurzen und schönen Schwanengesang (μικρὸς θρόος), wobei θρόος einen schmerzvollen Aufschrei oder Klagelaut bedeutet, der sie aus dem Vergessen reißt. Damit knüpft das Epigramm an den Topos an, dass Schwäne kurz vor ihrem Tod besonders ergreifend singen. Dieser Topos, der sich erstmals bei Aischylos findet, wurde in der Antike häufig aufgegriffen, u. a. von Platon, der Sokrates mit einem sterbenden Schwan vergleicht: Sokrates, der auf seine Hinrichtung wartet, ähnelt einem Schwan, der als wahrsagender Vogel Apollons und in freudiger Erwartung des Jenseits noch einmal seinen Gesang anstimmt (Phaid. 84e–85b). Dies ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass er im Gefängnis – von Apollon durch einen Traum dazu ermahnt – zu dichten beginnt und behauptet, dass die Philosophie die beste Art der Musik sei (Phaid. 60c–61a).528 Cicero, der Platons Vergleich kannte und ihn in einem seiner Dialoge paraphrasierte (Tusc. 1.73), wendet diesen Topos auf Crassus an, wenn er die Sprachgewalt des kürzlich verstorbenen Politikers als schwanenhafte Stimme (cycnea vox) in Erinnerung ruft (de orat. 3.6). Nicht nur die Philosophie und die Dichtung, auch die Rhetorik kann zu einem göttlichen Schwanengesang werden, der vor dem Hintergrund des Todes umso heller strahlt. Doch Antipater spielt nicht nur auf Erinnas kurzes Leben an, sondern auch darauf, dass sie nur wenige und kurze Lieder dichtete.529 Er selbst gilt als Verfechter der Poetik des Kallimachos, ein alexandrinischer Dichter und Bibliothekar, der bekanntlich dicke Bücher verachtete und literarische Kurzformen bevorzugte. Überhaupt waren geschliffene kleinere Texte wie Epigramme oder Mini-Epen (Epyllia) bei Kallimachos und seinen Nachfolgern beliebt. Der μικρὸς θρόος ist folglich ein Sinnbild von Antipaters Vorliebe für exquisite Kürze und Dichte, die er mit den alexandrinisch-kallimacheischen Dichtern teilte.530 Der kurze und seltene Todesgesang des Schwans, der von den 527 Diese Legenden sind historisch zweifelhaft: Vgl. Otto Crusius, »Erinna«, in: Paulys RealEncyclopädie, Bd. VI, 1, Sp. 455–458. 528 Vgl. David Gallop, »The Rhetoric of Philosophy: Socrates’ Swan-Song«, in: Plato as Author. The Rhetoric of Philosophy, hg. v. Ann N. Michelini, Leiden u. a: Brill, 2003, S. 313–332, hier S. 314f. 529 Antipater spricht vermutlich mit dem βαιὸν ἔπος auf Erinnas Epyllion Die Spindel an. Mehrere hellenistische Gedichte spielen auf den geringen Umfang von Erinnas Werk an: Alexander Sens, »One Thing Leads (Back) to Another: Allusion and the Invention of Tradition in Hellenistic Epigrams«, in: Brill’s Companion to Hellenistic Epigram, hg. v. Peter Bing u. Jon Steffen Bruss, Leiden u. a.: Brill, 2007, S. 373–390, insb. S. 376–379. 530 So wird von Kallimachos der Spruch überliefert: »μέγα βιβλίον μέγα κακόν (Ein großes Buch, ein großes Übel)«, und auch im Prolog seines Hauptwerks Aitia (Ursprungserzählungen) beruft sich der alexandrinische Dichter auf das Ideal der Kürze, obwohl sein Buch selbst nicht gerade kurz ist: Vgl. Jason S. Nethercut, »The Alexandrian Footnote in Lucretius’ De Rerum Natura«, in: Mnemosyne, 71 (2018), S. 75–99, S. 76. Möglicherweise änderte Kalli-
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Musen inspiriert wird, steht im Gegensatz zum vulgären Geschrei der Dohlen, dem Geschwätz der jungen und aktuellen Dichter, unter die sich Antipater in einem Bescheidenheitstopos selbst rechnet. Während die wenigen Verse der Erinna in Erinnerung bleiben und Unsterblichkeit beanspruchen, verliert sich der Großteil der erzählfreudigen (πολύμυθος) Dichtung in den Wolken des Vergessens und wird vom schwarzen Flügel der Nacht verschlungen. Antipaters eigenes Epigramm – auch dies können wir unter dem βαιὸν ἔπος verstehen – entkommt dem Vergessen, weil es an Erinnas Unsterblichkeit indirekt partizipiert. Lukrez dekontextualisiert in seiner imitatio Antipaters die beiden letzten Verse des Epigramms und verpflanzt sie in einen völlig neuen Kontext. Dabei tilgt er die Motive der poetischen Unsterblichkeit und des Todes und ersetzt den affektiven Trauergesang (κύκνου θρόος) des Schwans durch seinen neutraleren Gesang (cycni canor). Überdies verwandelt er die Frühlingswolken (ει᾿αριναὶ νεφέλαι), die bei Antipater lautlich auf Erinnas Namen anspielen, zu ätherischen Wolken des Südwinds (aetheriae nubes austri), was diese in Bewegung versetzt und zudem ihre meteorologische Ursache spezifiziert.531 Warum er darüber hinaus die Dohlen (κολοιοί) durch Kraniche (grues) ersetzt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht orientiert er sich an einer ähnlichen Formulierung Homers (κλαγγὴ γεράνων οὐρανόθι πρό) (Il. Γ 3)532 oder er fällt eine rein metrische Entscheidung, da das lateinische Wort für Dohle (graculus bzw. monedula) länger als grus wäre.533 Jedenfalls greift er Antipaters qualitative Antithese von Klang (canor = θρόος) und Lärm (clamor = kρωγμός) auf und deutet sie quantitativ, wenn er behauptet, dass wenige süß-redende und wohl-klingende Verse (suavidici versus) besser als viele misstönende sind. Der parvus canor, den er selbst anstimmt, bezeichnet also wie bei Antipater zunächst einen ›kurzen‹ und ›wortkargen Gesang‹. Wie kann sich aber Lukrez, der das längste erhaltene didaktische Epos der Antike schrieb, auf ein (alexandrinisches) Ideal der Kürze berufen? Dies lässt sich nur im Kontext der Verse verstehen: Das erste Mal leitet Lukrez durch sie seine Erklärung der Geschwindigkeit der simulacra (4.180–183), das zweite Mal seine Theorie des Schlafs ein (4.909–911), die jeweils etwas weniger als hundert Verse machos im Laufe der Zeit seine eigene Position und seine römischen Nachfolger (v. a. Horaz und Properz) nahmen das Stilideal der Kürze ernster als er selbst. Hierzu: Walter Wimmel, Kallimachos in Rom. Die Nachfolge seines apologetischen Dichtens in der Augusteerzeit, Wiesbaden: Franz Steiner, 1960, insb. S. 75–78. 531 Vgl. Donohue, The Song of the Swan, S. 30f. 532 Zu dieser Vermutung: Hugh Andrew J. Munro, Titi Lucretii Cari De rerum natura libri sex, hg. u. komm. v. dems., Cambridge: Cambridge University Press, 1864, S. 283f. 533 Vielleicht greift Lukrez hier auf Kallimachos Gegenüberstellung von Kranichen und Nachtigallen zurück, die den Unterschied zwischen der alten und neuen Epik signalisieren soll: Brown, »Lucretius and Callimachus«, S. 339.
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umfassen. Der parvus canor bezieht sich somit in erster Linie auf bestimmte Passagen und nicht auf das ganze Werk, wobei Lukrez seine relative Kürze durch das Antipater-Zitat zu rechtfertigen sucht. Dabei beeinflusst der Kontext der simulacra-Lehre die Lektüre des Zitats und ladet es mit neuer Bedeutung auf: Kurz bevor Lukrez erstmals von seinem cycni canor spricht, vergleicht er die simulacra, die sich spontan in der Atmosphäre (aether) bilden, mit Wolken, in denen schreckliche Fratzen erscheinen (4.131–142). Dadurch rücken die Wolken (aetheriae nubes), die sein Gesang durchschneidet, in die Nähe der falschen und furchteinflößenden simulacra, die, wie im ersten Kapitel gezeigt, eng mit der religio assoziiert sind. Antipaters Wolken des Vergessens und des Todes werden zu Wolken aus Trugbildern, zu denen auch die irreführenden Phantasmen eines Lebens nach dem Tod gehören. Während sich der Lärm der Kraniche in den vagen Trugbildern verliert, durchdringt Lukrez’ Schwanengesang diese und lässt sich nicht von ihnen verwirren. Der parvus canor lässt sich aber auch auf die Qualität von Lukrez’ Verse anwenden. Parvus meint nicht nur ›klein‹ oder ›kurz‹, sondern auch ›fein‹ und ›melodisch‹ (im Sinne von λεπτός).534 In diesem Sinn entspricht der parvus canor der Feinheit der Spuren, den vestigia parva, die der Leser, wie im ersten Kapitel gezeigt, durch seinen Scharfsinn (animus sagax) in De rerum natura und in den natürlichen Phänomenen selbst aufspüren soll.535 Dieser feine Spürsinn, den Lukrez immer wieder betont, ist charakteristisch für den Geruchsinn der Hunde, Aasgeier und Gänse, aber auch der Bienen, die den Honig, wie er schreibt, bereits aus weiter Distanz riechen können (mellis apes quamvis longe ducuntur odore) (4.678–683). Daher verweist der parvus canor indirekt auf die Feinheit der epikureischen Methode und auf das Feingefühl, das Lukrez als Bienen-imitator braucht, um die aurea dicta Epikurs, d. h. die wichtigsten Textstellen, aufzuspüren, aus denen er den süßen Honig und die süßklingenden Verse (suavidici versus) seiner Dichtung gewinnt. Die Feinheit seiner Dichtung und ihr lepos, der mit diesem Spürsinn korreliert, muss laut Lukrez’ konsequentem Materialismus wiederum auf der atomaren Struktur der Klänge beruhen, wie eine nur schwer
534 Hierzu der Kommentar von Thury: »The relevant difference between the cranes and the swan is surley not that cranes honk all the time and swans not, but that the effect of the song of cranes is merely cumulative, not melodious. Cranes do not produce a wide range of sound from which they can develop an ordered, coherent melodic line. Lucretius’ song will be fine, parvus, because it will be coherent and therefore will seem to be limited in time – shorter because it will have an end, whereas the song of cranes has no cadence: Lucretius’ song will be properly ordered like the images firmly founded in the rerum natura.« Thury, »Lucretius’ Poem as a Simulacrum of the Rerum Natura«, S. 275. Parvus entspricht Kallimachos’ Ideal der λεπτότης, ›Feinheit‹, ›Subtilität‹, ›Delikatheit‹, und dem Augenmerk auf die Geschliffenheit der einzelnen Worte: Vgl. Wimmel, Kallimachos in Rom, S. 83–87. 535 Vgl. a. a. O., S. 276f.
Cycni canor: Alexandrinischer, epikureischer Schwanengesang (4.180–183)
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lesbare Stelle aus dem vierten Buch belegt, die Lärm und Musik kontrastiert (4.551–546): Asperitas autem vocis fit ab asperitate principorum, et item levor levore creatur. nec simili penetrant auris primordia forma, cum tuba depresso graviter sub murmure mugit et reboat raucum {retro} cita barbara bombum, et {validis necti tortis} ex Heliconis cum liquidam tollunt lugubri voce querellam. Die Rauheit der Stimme entsteht aber aus der Rauheit der ersten Prinzipien [Atome] und genauso wird die Glätte aus der Glattheit erschaffen. Und nicht von ähnlicher Form durchdringen die Uranfänge die Ohren, wenn die Kriegstrompete heftig unter tiefem Gemurmel aufbrüllt und das barbarische [Horn?] bewegt ein raues Brummen {zurück} schallt und {– – –} vom Helikon mit trauriger Stimme ein helles [flüssiges] Klagelied erheben.536
Die Passage ist korrupt und alle Kommentatoren schlagen textuelle Änderungen vor und stellen Verse um (darum beginnt sie hier mit Vers 551 und endet mit 546). Dennoch ist ihr Grundgedanke lesbar: Die Rauheit (asperitas) der Töne oder Stimmen besteht aus rauen, d. h. eckigen oder hakigen, Atomen, wohingegen ihre Sanftheit und Glätte (levor) aus glatten und runden Atomen besteht. Ähnlich sagt Lukrez an früherer Stelle, dass das schneidende Geräusch einer Säge im Unterschied zu musischen Melodien (musaea mele) einer Lyra nicht aus glatten und runden Atomen besteht, sondern aus rauen, die wohl so zackig und scharf wie die Zähne der Säge sind (2.410–414). Genauso veranschaulicht er in zitierter Stelle die unterschiedliche Atomstruktur gegensätzlicher Klänge, die jeweils ein extremum des Wohl- und Missklangs markieren. Hierbei ist umstritten, ob Lukrez die römische Kriegstrompete (tuba) mit barbarischen Instrumenten vergleicht (man könnte an eine Schlacht zwischen Barbaren und Römern denken),537 oder ob er allgemein den Lärm der Kriegsmusik, den er onomatopoetisch schildert, mit den poetischen und flüssigen Klagelauten vom Helikon konfrontiert.538 Die größte 536 Ich folge hier ausnahmsweise der Edition von Rouse/Smith, welche die Probleme der Lesbarkeit deutlicher macht als die geglättete Variante von Deufert, der, obwohl er sonst gerne Verse einklammert, den Text hier als relativ unproblematisch darstellt. 537 So die Lesart von Büchner, der barbara durch ein Substantiv ergänzt und retro durch buxos ersetzt, d. h. durch ein ›phrygisches Horn‹, das aus Buchsbaumholz (buxus) besteht. Damit liest Büchner hier einen Kontrast zwischen römischen und barbarischen Kriegsinstrumenten heraus: Karl Büchner, »Präludien zu einer Lukrezausgabe«, in: Ders., Studien zur römischen Literatur, Bd. 1 (Lukrez und die Vorklassik), Wiesbaden: Franz Steiner, 1964, S. 121–160, hier S. 138f. 538 Rouse und Smith beziehen barbara in ihrer Übersetzung zurück auf tuba und sehen hier gar keinen Gegensatz zwischen unterschiedlichen Instrumenten: »The elements that penetrate the ear are not of like shape when the barbarous horn bellows with low and hollow roar is re-
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textuelle Schwierigkeit besteht in der Frage, wer eigentlich die angenehmen Laute am Helikon produziert: Die zitierte Überlieferung validis necti tortis (bzw. die Alternative validis nete tortis) macht weder grammatikalisch, noch semantisch Sinn, weshalb sie von allen modernen Editoren ausgeklammert und durch Konjekturen ersetzt wird, wobei einige Editoren in der Lücke Schwäne (cycni) oder zumindest Vögel (volucres) vermuten.539 Das ist freilich philologische Phantastik, weist aber zu Recht darauf hin, dass Lukrez den Helikon mit den Musen und die Dichtkunst mit den Singvögeln assoziiert. Die Verse ziehen offensichtlich eine Grenze zwischen der Musik aus dem Territorium der Musen und dem barbarischen Schlachtenlärm politischer Machtkämpfe, deren Klangwirkung schlussendlich auf unterschiedlichen Atomformen beruht. Während die sanften Klänge aus runden Atomen bestehen und auf die Musik und die Philosophie verweisen, entspringen die rauen Klänge aus eckigen Atomen und bezeichnen das Laster und den lärmenden Unsinn. Dass sich die Schwäne bei manchen Editoren in die Textlücke einschleichen, liegt sicherlich an der vorherigen Gegenüberstellung des Gesangs der Schwäne mit dem Geschrei der Kraniche, das eine analoge poetologische Rolle spielt. Denn auch Lukrez’ cycni canor ist kein rauer Gesang, sondern beschreibt suavidici versus, weshalb er aus runden, glatten und besonders kleinen Atomen geformt sein muss. In diesem Punkt gleicht er den rätselhaften Trauergesängen, die in unserer korrupten Passage auf rätselhafte Weise vom Helikon erklingen. Anhand von Lukrez’ Antipater-Intertext wurde vielfach über Lukrez’ alexandrinisches Erbe diskutiert, das nicht zu unterschätzen ist.540 Wichtiger ist allerdings, dass Lukrez durch seine imitatio Antipaters den Bescheidenheitstopos aus dem dritten Proömium revidiert: Lukrez selbst wird zum Schwan, weshalb er Epikur gleichkommt und das extremum klanglichen Wohllauts erreicht, das auf runden Atomformen beruht, die – wie auch die Seelenatome beweisen – äußerst echoed with a hoarse reverberating boom […].« Rouse/Smith, Lucretius, De Rerum Natura, S. 319. Dahingegen ersetzt Deufert – wie schon Lachmann – retro durch regio und deutet die Szene im Sinne eines Widerhalls der römischen Kriegstrompete im feindlichen Barbarenland (regio barbara): Vgl. Deufert, Kritischer Kommentar zu Lukrezens ›De rerum natura‹, S. 234f. 539 Bereits Lambinus vermutete hier Schwäne, die in kühlen Tälern beim Helikon geboren wurden (vallibus & cycni gelidis orti ex Heliconis) und ebenso erfinden Isaac Vossius und Karl Lachmann Schwäne in starken Strömen (validis cycni torrentibus) oder Schwäne in gewundenen Tälern (cycni tortis convallibus) hinzu: Vgl. Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 3, S. 1246. Hermann Diels schlägt vor, dass Vögel in der Nacht in den kühlen Gärten am Helikon (volucres gelidis nocte hortis ex Heliconis) liquida querella anstimmen, ein Vorschlag, der jüngst zum Teil von Marcus Deufert verteidigt wurde: Hermann Diels, Lukrez, Von der Natur, hg. u. übs. v. dems., Berlin: Weidmann, 1924, S. 334; Deufert, Kritischer Kommentar zu Lukrezens ›De rerum natura‹, S. 236. 540 Siehe z. B.: Kenney, »Doctus Lucretius«, S. 306. Und: Brown, »Lucretius and Callimachus«, S. 336.
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beweglich und flüssig sind. Seine imitatio wird damit zu einer Art aemulatio, die Epikur ein- oder vielleicht sogar überholen will. Sollte sich Lukrez in De rerum natura phasenweise an einem langen Prosatraktat Epikurs orientieren (etwa dem Περὶ φύσεως oder der Μεγάλα ἐπιτομή), dann möchte er durch seinen parvus canor schwierige Details der simulacra-Lehre abkürzen und gleichzeitig den falschen simulacra entkommen. Damit rückt er aber sein Vorbild in gefährliche Nähe zum Lärm der Kraniche, auch wenn er dies nicht bewusst intendiert. Epikurs Philosophie ist zwar – ähnlich wie in Platons Schwanenvergleich – die schönste Musik, doch Lukrez scheint diese durch seine Verbindung von Philosophie und suavidici versus noch zu überbieten, wenn er in seiner Dichterweihe den ultimativen Gipfel des Wohlklangs – den Helikon – erreicht und nicht nur im metaphorischen Sinn singt. Da der cycni canor ein Kennzeichen der Musik und Dichtung ist, das sie von der Prosa unterscheidet, kann Lukrez in Epikurs philosophischen Schwanengesang einstimmen, um gleichzeitig als Dichter neue Wege und Gebiete (avvia Pieridum loca) zu betreten. Ein altes Wortspiel, das in der Rhetorica ad Herennium überliefert ist, gilt für Lukrez (4.21): »Hinc avium dulcedo ducit ad avium (Von hier führt der süße Gesang [Zauber] der Vögel ins Unwegsame).«
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Tatsächlich sieht Lukrez neben einem symbolischen auch einen kausalen Zusammenhang zwischen Dichtung und Vogelgesängen. Gegen Ende des fünften Buchs stellt er im Rahmen seiner Rekonstruktion der Kulturgeschichte die Entstehung und Entwicklung der Musik und Poesie dar, die er beide – wie in der Antike üblich – als unauflösbare Einheit denkt.541 Höhepunkt der skizzierten Entwicklung ist die Tradierung historischer res gestae in epischen Gesängen (carmina), die mit der Erfindung der Buchstaben (elementa reperta) verschriftlich wurden, so dass sie vestigia der Vergangenheit konservierten. Lukrez scheint diese Tradition, mit der das fünfte Buch endet, zu überbieten, indem er in seinen eigenen carmina die Ursachen und die Vorgeschichte der res gestae und ihrer epischen Überlieferung, die mit Homer beginnt, aufdeckt.542 Dabei wendet
541 Vgl. Gentili, Poesia e pubblico nella Graecia antica, insb. S. 48–56. 542 Da die res gestae (eventa) der traditionellen Epik den epikureischen Seelenfrieden stören, möchte Lukrez ihre tieferliegenden Ursachen ergründen, wie Wardy schreibt: »[…] Lucretius, as a good Epicurean, is attacking the ethic of personal corporate ambition vividly evoked by the words res gestae […]. Furthermore, we might suppose that Lucretius is at the same time pursuing his personal, literary polemic, denigrating the entire epic tradition that
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er sich gegen volkstümliche Mythen, die einen göttlichen Ursprung der Dichtung imaginieren und die vom Echo zur irrigen Vorstellung verleitet werden, dass Pan und sein Gefolge an Faunen und Nymphen in den Wäldern musizieren und eine waldige Muse (silvestris Musa) produzieren. Lukrez möchte die musischen Künste demythologisieren und auf eine rein rational-natürliche Weise, d. h. ohne Intervention von Göttern, erklären. Musik und Dichtung entstanden, wie im zweiten Kapitel zitiert, aus den archaischen Bauerntänzen der Urmenschen, dem cantus und dem Flötenspiel der Wächter (Hirten), die sich den Schlaf vertrieben (5.1398–1409).543 Die Voraussetzung dieser ländlichen Musik und agrestis Musa, die zur Herausbildung der Metrik (numerum servare genus) führt, liegt noch weiter in der Urzeit zurück, nämlich in der menschlichen Nachahmung von Naturphänomenen. Da Lukrez’ kulturgeschichtliche Darstellung chronologisch verfährt, beschreiben folgende Verse die älteste Vorstufe der Dichtkunst (5.1379–1391): At liquidas avium voces imitarier ore ante fuit multo quam levia carmina cantu concelebrare homines possent aurisque iuvare. et zephyri, cava per calamorum, sibila primum agrestis docuere cavas inflare cicutas. inde minutatim dulcis didicere querelas, tibia quas fundit digitis pulsata canentum, avia per nemora ac silvas saltusque reperta, per loca pastorum deserta atque otia dia. {sic unum quicquid paulatim protrahit aetas in medium ratioque in luminis eruit oras.} haec animos ollis mulcebant atque iuvabant, cum satiate cibi; nam tum sunt omnia cordi. Aber die hellen [flüssigen] Stimmen der Vögel mit dem Mund nachzuahmen, das war viel früher, als dass Menschen es vermochten, durch Gesang glatte Lieder zu beleben und damit die Ohren zu erfreuen. Und zuerst hat das Pfeifen des Zephyrs, das in den Hohlkörpern der Schilfrohre [erklingt], den Landmenschen gelehrt, in die hohlen Rohrpfeifen zu blasen. Daher haben sie langsam die süßen Klagen erlernt, die die Flöte, wenn sie von den Fingern der Sänger angeschlagen wird, auf weglosen Hainen verströmt, mitten in Wäldern oder im Waldgebirge, in den verlassenen Gegenden der Hirten und in göttlicher Muße erfunden. {So zieht langsam die Zeit ein jedes langsam hervor in die Mitte und die Vernunft hebt es empor in die Zonen des Lichts.} Diese [Lieder] beruhigten ihre Geister und erfreuten sie, wenn sie satt von der Speise; denn dann hat die Herzenslust alles.
records and glorifies mere eventa rather than explaining the nature of what is per se, as he himself does.« Wardy, »Lucretius on What Atoms are Not«, S. 118. 543 Vgl. Buchheit, »Lukrez über den Ursprung von Musik und Dichtung«, S. 143–147.
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Noch bevor die Menschen glatte Lieder oder Gedichte, levia carmina, sangen, ahmten sie mit ihrem Mund flüssige bzw. helle Vogelstimmen, liquidae avium voces, nach (imitari). Kurz darauf lernten sie, das Säuseln und Pfeifen des Westwindes, der durch hohle Schilfrohre streift, zu imitieren, indem sie in Rohrpfeifen bzw. Panflöten (cicutae) bliesen, die sie aus unterschiedlich langen Rohren bastelten.544 Dann erfanden sie (reperire) die Flöte, die nur aus einem durchlöcherten Rohr bestand, wobei sie in ihrem Spiel die Löcher mit ihren Fingern öffneten und verschlossen. So lernten sie Schritt für Schritt (minuatim) angenehme Klagelaute (dulcis querellae) hervorzubringen, die ihnen Lust bereiteten und ihre Seelen besänftigten, bezauberten und erfreuten. Die anschließende Schilderung einer urzeitlichen Idylle, in der Musik, Scherz und Gelächter vorherrschten, sind als ein Sinnbild des epikureischen Seelenfriedens und der voluptas zu lesen (5.1392–1398).545 Die Wohllaute der avium voces, carmina und querellae, die als liquidus, ›flüssig‹, ›hell‹, ›heiter‹, levis, ›glatt‹, ›sanft‹ und dulcis, ›süß‹ beschrieben werden, tragen zu diesem Hedonismus bei. Ihre physischen Qualitäten erinnert an die flüssigen Gesänge (liquida querella) vom Helikon und verweisen wie diese auf ihre besonders glatte und feine Atomstruktur, die auch den lepos und die suavidici versus von Lukrez selbst kennzeichnet. Weiter finden wir in den weglosen Wäldern oder Hainen (avia nemora) eine entfernte Anspielung auf die weglosen Musengefielde, avvia Pieridum loca, die Lukrez in seiner Dichterweihe betritt. Die lose Assoziation der Vögel (aves oder volucres) mit avia nemora, die wir in der zitierten Passage finden und die dem oben genannten Wortspiel (avis-avius) zugrunde liegt, taucht auch an anderen Stellen von De rerum natura auf (2.145f): »[…] et variae volucres nemora avia pervolitantes | aera per tenerum liquidis loca vocibus opplent […] ([…] und verschiede Vögel, die weglose Haine durchfliegen, erfüllen mit ihren hellen [flüssigen] Stimmen durch die sanfte Luft den Raum […]).« Analog (2.344–346): »[…] et variae volucres […] | quae pervolgant nemora avia pervolitantes […] (… und verschiedene Vögel … bevölkern durchfliegend weglose Haine … ).«546 Die Vögel können in ihrem Flug avia nemora erreichen, die Lukrez’ avvia Pieridum loca gleichen. Damit wird der lukrezische cycni canor sowohl mit dem Territorium der Musen als auch mit den Anfängen der Dichtung verknüpft. De rerum natura, das gemeinsam mit anderen künst544 Die Natur ersetzt als Lehrmeisterin (natura magistra) den Gott Pan, der in der herkömmlichen Mythologie als Erfinder der Panflöte galt: Vgl. Monica Gale, Lucretius, De Rerum Natura V, hg., übs. u. komm. v. ders., Oxford: Oxbow Books, 2009, S. 211. 545 Die Verse wiederholen teilweise eine analoge idyllische Schilderung aus dem Proömium des zweiten Buchs, welche ebenfalls den Zustand des epikureischen Seelenfriedens versinnbildlicht (2.29–33). Die Echtheit dieser Wiederholung wurde allerdings bestritten: Vgl. Deufert, Pseudo-Lukrezisches im Lukrez, S. 40–51. 546 Vgl. Buchheit, »Lukrez über den Ursprung von Musik und Dichtung«, S. 154.
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lerischen und technologischen Errungenschaften am höchsten Gipfel (summum cacumen) der kulturellen Entwicklung steht, ist voller Echos dieses poetologischen Ursprungsszenarios, das Menschen- und Vogelstimmen versöhnt. Lukrez’ Vorstellung, dass die Dichtung der Nachahmung von Vogelstimmen entspringt, war in der Antike verbreitet und wurde auch in der modernen Dichtung immer wieder aufgegriffen.547 Schon der archaische griechische Lyriker Alkman behauptete in einem vieldiskutierten Fragment, dass er die Stimme eines Vogels, des Rebhuhns, in seiner Dichtung nachbildet.548 Und einer antiken Legende zufolge hatte Homer bereits als Kind Vogelstimmen imitiert und in der Nacht die Laute von Schwalben, Pfauen, Tauben, Krähen, Rebhühnern, Blässhühnern, Staren, Nachtigallen und Amseln ausgestoßen.549 Der Philosoph Demokrit, auf den wahrscheinlich nicht nur der epikureische Atomismus, sondern auch die epikureische Kulturentstehungslehre aufbaut,550 hat solche und ähnliche Vorstellungen theoretisiert, wenn er Plutarch zufolge sagt (DK 68 B 154): »[…] μαθητὰς ἐν τοῖς μεγίστοις γεγνόντας ἡμάς· ἀράχνης ἐν ὑφαντικῇ καὶ ἀκεστικῇ, χελιδόνος ἐν οι᾿κοδομίᾳ, καὶ τῶν λιγυρῶν, κύκνου καὶ ἀηδόνος, ἐν ᾠδῇ κατὰ μίμησιν ([…] dass wir in den wichtigsten Dingen ihre [der Tiere] Schüler wurden: Von der Spinne im Weben und Stopfen, von der Schwalbe im Hausbau, von den Hellklingenden [den Singvögeln], vom Schwan und der Nachtigall, im Gesang durch Nachahmung).« Die menschliche τέχνη (ars) entsteht teilweise aus einer μίμησις von Tieren, d. h. einer spezifischen Form der imitatio naturae. Damit bekommt der Gedanke, der später von Aristoteles formuliert wurde, dass jede τέχνη eine μίμησις der φύσις sei, einen ganz konkreten Sinn: Die Urmenschen verdankten die Webekunst den Spinnen, den Hausbau den Schwalben und die Dicht- und Gesangskunst (ᾠδή = carmen) den Nachtigallen und Schwänen, Vögeln, die bei den Griechen und Römern als besonders musikalisch galten.551
547 Zur Gegenwärtigkeit der Singvögel in der modernen englischsprachigen Dichtung siehe z. B.: John Bourroughs, »Birds and Poets«, in: The Writings of John Bourroughs, Bd. 3, Boston u. a.: Houghton Mifflin, 1877, S. 3–48. 548 Über diese berühmte Äußerung von Alkman: Carlo Brillante, »Il canto delle pernici in Alcmane e le fonti del linguaggio poetico«, in: Rivista di Filologia e Istruzione Classica, 119 (1991), S. 150–163. 549 Hierzu: Maurizio Bettini, Voci. Antropologia sonora del mondo antico, Turin: Einaudi, 2008, S. 45. 550 Vgl. Thomas Cole, Democritus and the Sources of Greek Anthropology, Cleveland: Western Reserve University, 1967, insb. S. 131–147. 551 Plinus der Ältere schreibt der Nachtigall in seiner Naturalis historia (Naturgeschichte) sogar ein perfektes musikalisches Wissen (perfecta musica scientia) zu und behauptet, dass in den kleinen Kehlen der Vögel bereits alles liegt, was die menschliche Kunst (ars) im Flötenspiel jemals erdachte. Die Vögel wetteifern dabei untereinander (contendere) und lernen gleich Schülern die Modulation des Gesangs (versus) von den älteren Artgenossen (10.81f.). Siehe auch: Bettini, Voci, S. 41f.
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Von Epikurs eigener Kulturtheorie ist kaum etwas erhalten, aber wir können annehmen, dass sie – insofern ihr Lukrez im fünften Buch folgt – derjenigen Demokrits ähnelt. In der Epistola ad Herodotum finden wir nur einen sehr allgemeinen Satz, der die Kulturentwicklung schildert (75): »Ἀλλὰ μὴν ὑποληπτέον καὶ τὴν φύσιν πολλὰ καὶ παντοῖα ὑπὸ αὐτῶν τῶν πραγμάτων διδαχθῆναί τε καὶ ἀναγκασθῆναι, τὸν δὲ λογισμὸν τὰ ὑπὸ ταύτης παρεγγυηθέντα ὕστερον ἐπακριβοῦν καὶ προσεξευρίσκειν ἐν μέν τισι θᾶττον, ἐν δε τισι βραδύτερον […] (Man muss auch annehmen, dass die Natur vieles und vielfältiges von den Dingen selbst lernte und dazu gezwungen wurde, später dann der Verstand diese, die ihm [von der Natur] weitergegeben wurden, verfeinert und [neues] herausfindet, manches schneller und manches langsamer […]).« Dieser Satz überschneidet sich inhaltlich mit Lukrez’ wiederholtem Einschub, der uns bereits begegnet ist (5.1454f): »sic unum quicquid paulatim protrahit aetas | in medium ratioque in luminis eruit oras (So zieht die Zeit ein jedes langsam hervor in die Mitte und die Vernunft hebt es empor in die Zonen des Lichts).« Diese Verse werden in der oben zitierten Passage von manchen Editoren (Bailey und Deufert) aus- oder eingeklammert,552 obwohl sie hier durchaus am Platz sind. Epikurs ›herausfinden‹ oder ›dazu erfinden‹ (προσεξευρίσκειν) entspricht dem lateinischen reperire, das Lukrez, wie gesagt, als Prozess der Lichtwerdung vorstellt. Der langsame Fortschritt (paulatim oder minuatim) der artes, der die Menschheit ans Licht führt, entspringt der φύσις/natura und dem vernünftigen Denken λογισμός/ratio,553 die sich in der imitatio naturae verschränken: Die Menschen erlernen alle artes von der natura, um sie im Laufe der Zeit durch ratio zu vervollkommnen. So schreibt Lukrez z. B. angesichts des Ursprungs der Kulturtechniken der Aussaat und des Pfropfens (sationis et insitionis origo), dass die Natur die erste Schöpferin oder Erfindern aller Dinge (rerum primum natura creatrix) ist, weshalb sie den Menschen ursprünglich als Vorbild (specimen) diente (5.1361f). Doch indem die Menschen in ihrer Agrikultur dem Vorbild der Natur folgen, verwandeln sie schließlich ihr Angesicht und gestalten die Landschaft um, der sie einen neuen Liebreiz (lepos) verleihen (5.1370–1378). Imitation und Kreation schließen sich in der Landschaftsgestaltung nicht aus, sie bedingen sich wechselseitig. Dieses Prinzip gilt für alle artes und damit auch für die Dichtung und die epikureische Naturlehre, naturae species ratioque (φυσιολογία), die natura und ratio verbindet. Jede technische, wissenschaftliche und kulturelle Errungenschaft entspringt einer kreativen imitatio naturae, die, wie im ersten Kapitel ausgeführt, nicht nur die sichtbaren Erscheinungen der Natur (species = natura naturata), sondern 552 Bailey klammert die Verse ein, wohingegen sie Lachmann gänzlich streicht: Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 3, S. 1542. 553 Vgl. Emidio Spinelli/Francesco Verde, Epistola a Erodoto, hg., übs. und komm. v. dens., Rom: Carocci, 2010, S. 215f.
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auch ihre zugrundeliegende unsichtbare Dynamik (ratio = natura naturans) imitiert und verlängert. Wenn Demokrit oder Lukrez den Ursprung der Dichtung in der Nachahmung von Vogelstimmen verorten, referieren sie nicht nur auf ein rein hypothetisches Szenario. Antiken Berichten zufolge gab es nämlich Imitatoren von Naturlauten und Tierstimmen, die damals eine gewisse Popularität besaßen.554 Schon Platon spielt im Zuge seiner Kritik der poetischen μίμησις auf solche Performer an (rep. 397a): Οὐκοῦν, ἦν δ’ ἐγώ, ὁ μὴ τοιοῦτος αὖ, ὅσῳ ἄν φαυλότερος ᾖ, πάντα τε μᾶλλον μιμήσεται καὶ οὐδὲν ἑαυτοῦ ἀνάξιον οι᾿ήσεται εἶναι, ὥστε πάντα ἐπιχειρήσει μιμεῖσθαι σπουδῇ τε καὶ ἐναντίον πολλῶν, καὶ ἃ νῦν δὴ ἐλέγομεν, βροντάς τε καὶ ψόφους ἀνέμων τε καὶ χαλαζῶν καὶ ἀξόνων καὶ τροχιλιῶν, καὶ σαλπίγγων καὶ αὐλῶν καὶ συρίγγων καὶ πάντων ὀργάνων φωνάς, καὶ ἔπι κυνῶν καὶ προβάτων καὶ ὀρνέων φθόγγους, καὶ ἔσται δὴ ἡ τούτου λέξις ἅπασα διὰ μιμήσεως φωναῖς τε καὶ σχήμασιν, ἤ σμικρόν τι διηγήσεως ἔχουσα. Wer aber nicht ein solcher ist [ein Erzähler, der kaum nachahmt], fuhr ich fort, wird wiederum, je schlechter er ist, um so mehr alles nachahmen und nichts seiner für unwürdig halten, so dass er unweigerlich alles im Ernst und vor vielen imitieren wird, auch das, was wir eben aufgezählt haben: Donner und das Geräusch von Wind und Hagel, von Wagenachsen und von Rädern, die Laute von Trompeten, Flöten, Panflöten und aller anderen Instrumente, auch die Stimmen von Hunden, Schafen und Vögeln; Und sein Vortrag wird also Stimmen und Gebärden nachahmen und nur wenig reine Erzählung beinhalten.
Platon baut hier auf seine genannte Unterscheidung von unpersönlicher Erzählung (διήγησις), die Ereignisse aus einer gewissen Distanz schildert, und direkter μίμησις, die sich mitten ins Geschehen stürzt. Nach seiner normativen Sicht soll das poetische Schauspiel hauptsächlich aus διήγησις bestehen und möglichst wenig direkte μίμησις beinhalten.555 Denn die effekthascherische μίμησις von Gesten und Stimmen gefährdet die Würde und die Moral der Vortragenden und ihrer Zuhörer, weshalb Platon die lautliche Imitation von physikalischen Phänomenen, Instrumenten und Tierstimmen ablehnt: Der Darsteller, der alles wahllos imitiert, nähert sich dem Dargestellten an und verliert seinen festen Charakter. Er wird selbst naturhaft, dinghaft, animalisch und zu einer proteushaften Gestalt, einem zwitterhaften (διπλοῦς) oder vielgestaltigen Mann (πολλαπλοῦς ἀνήρ), der im platonischen Staat, der jedem Individuum eine feste Rolle zuschreibt, keinen Platz hat (rep. 397d-e). Sollten die Dichter nicht die polymorphe und affektive Gewalt ihrer μίμησις zügeln und sie auf die Rede von rationalen Subjekten (Menschen und Göttern) beschränken (Platons eigene 554 Vgl. Bettini, Voci, S. 49–51. 555 Platon sagt das zwar nicht ausdrücklich, scheint aber einen rein deskriptiven Stil zu bevorzugen: Vgl. Havelock, Preface to Plato, S. 11.
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Dialoge sind im Kern eine μίμησις der Rede des weisen Sokrates), werden sie aus der idealen Polis vertrieben (rep. 398a).556 Was Platon als eine gefährliche Abirrung der Dichtung betrachtet, ist für Lukrez ihr eigentlicher Ursprung: Die Dichtung entspringt der Nachahmung von Naturphänomenen und ist in ihrem Wesen selbst naturhaft, da sie Ausdruck einer vis ist, die sich nicht zuletzt in Tierstimmen und Naturgewalten äußert. Zwar lässt sich die platonische Unterscheidung von διήγησις und μίμησις nur mit Mühe auf Lukrez’ De rerum natura anwenden, doch finden wir in ihm mimetische Elemente, die auf die Darstellung der nicht-menschlichen Natur zielen: So lassen sich die zahlosen Assonanzen und Lautmalereien, die phonetischen und rythmischen Parallelismen, die für Lukrez’ Dichtung und überhaupt für die frührömische Literatur charakteristisch sind, vielleicht als ein Echo einer ursprünglichen und unmittelbaren imitatio naturae verstehen.557 Lukrez möchte in seiner Sprache teilweise als Autor hinter der anonymen Autorität der natura rerum verschwinden. Dies zeigt sich deutlich in einer berühmten Ethopoiie (genauer Prosopoiie) aus dem dritten Buch, in dem Lukrez einen Dialog zwischen sterbenden Menschen und der Stimme der Natur, die sich plötzlich erhebt (vocem rerum natura repente mittat), fingiert: Die Natur führt in persona ein Art von Prozess gegen die Menschen (iusta lis/causa) und klagt sie an, dass sie weder das Leben genießen, noch aus diesem zum rechten Zeitpunkt scheiden wollen (3.931–962).558 Während Platon in seiner Politeia nicht-menschliche und nicht-göttliche μίμησις aus dem Staat verbannt und Aristoteles, wie erwähnt, in seiner Poetik die didaktische Epik, deren Gegenstand sich nicht auf die μίμησις handelnder Menschen beschränkt, aus der Dichtkunst ausschließt, steht für Lukrez am Beginn und am Ende seiner Poetik eine imitatio naturae, welche die Vielfalt der Stimmen der Natur beschreiben oder nachahmend einfangen will. Damit sprengt er den anthropozentrischen Rahmen der Dichtkunst und weitet sie auf das imitari der gesamten natura rerum aus. Die avvium voces, welche die Urmenschen erstmals nachahmten und die in Lukrez’ eigenem cycni canor wiederkehren, sind zweifellos Ausdruck dieser naturalistischen Auffassung des Dichtens und Singens. 556 Hierzu auch: Vernant, »Naissance d’images«, S. 126. 557 Nach Bettini evozieren die phonetischen Redundanzen in der frührömischen sakralen und rechtlichen Sprache, die sich auch in der Dichtung finden, eine überindividuelle Autorität (die Götter, das römische Volk, der mos maiorum): Maurizio Bettini, »Authority as ›Resultant Voice‹: Towards a Stylistic and Musical Anthropology of Effective Speech in Archaic Rome«, in: Greek and Roman Musical Studies, 1 (2013), S. 175–194, insb. S. 189–191. Wenden wir diesen Gedanken auf Lukrez’ archaische (ennianische) Lautmalereien und Wortspiele an, könnte man sagen, dass diese die Autorität der Natur performativ inszenieren. 558 Ausführlich zu dieser Prosopoiie, die in der Forschung leider nur selten genauer analysiert wird: Tobias Reinhardt, »The Speech of Nature in Lucretius’ De Rerum Natura 3.931–71«, in: The Classical Quarterly, 52, Nr. 1 (2002), S. 291–304, insb. S. 394–398.
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Lukrez folgt (sequi) in seinem De rerum natura nicht nur Epikur, sondern auch den Musen und der natura rerum selbst. So spricht er neben seiner Liebe (amor) zu Epikur auch von seiner Liebe zu den Musen, amor Musarum, wobei er insbesondere Kalliope, die er, wie gesagt, als Führerin oder Wagenlenkerin (dux) bezeichnet, namentlich hervorhebt und mit der voluptas assoziiert. Im ersten Proömium ruft er überdies Venus als voluptas der Menschen und Götter (hominum divomque voluptas) und als Regentin der natura rerum an. Er fleht sie an, dass sie ihm beim Schreiben seiner Verse als Gefährtin (socia) beistehe, weil sie durch ihren lepos alle Lebewesen zwingt, ihr zu folgen (sequi). An anderer Stelle bezeichnet er Venus als göttliche voluptas und als Lebensführerin (dux vitae dia voluptas) (2.172), der er offenkundig gehorchen will. In der voluptas verschmelzen die Musen teilweise mit der natura rerum, der auch Epikur folgt. Epikurs Autorität liegt genau darin, dass er als Erster die natura rerum entdeckte und uns die ars der wahren Philosophie lehrte (5.10), die zu einem naturgemäßen Leben und zur voluptas führt. Deshalb gibt es keinen Widerspruch zwischen der Nachfolge der Natur, der Musen und der imitatio Epikurs. Die imitatio naturae, imitatio morum und imitatio auctorum, die wir in unserem Überblick künstlich getrennt haben, konvergieren schließlich in Lukrez’ hedonistischer Poetik und Ethik. Die Lektüre der vestigia der Schriften Epikurs und der vestigia der Naturphänomene lassen sich darum, wie wiederholt hervorgehoben, kaum oder aber nur mit Mühe trennen. Nun folgt aber Lukrez hinsichtlich der imitatio auctorum nicht ausschließlich Epikur. Wie wir gesehen haben, imitiert er zahlreiche andere Autoren in seinem Werk: Er übersetzt, zitiert, modifiziert und dekontextualisiert, u. a. Passagen von Homer, Leonidas von Tarent, von Antipater von Sidon und polemisiert gegen Ennius, den er immer wieder paraphrasiert und dessen Metrik und Stilistik er weitgehend adoptiert. Weiter übersetzt Lukrez am Ende des sechsten Buches mehr oder weniger detailgetreu die umfangreichen Schilderungen der Pest in Athen des griechischen Historikers Thukydides, die er für seine eigenen Zwecke instrumentalisiert.559 Darüber hinaus wurden in De rerum natura auch Spuren 559 Für Lukrez sind die Leiden der Athener nicht nur eine Illustration der verhängnisvollen Wirkung von Krankheitskeimen, sondern auch ein Bild der unerlösten Menschheit, die ihr Dasein ohne den Trost der epikureischen Lehre fristen musste. Hierzu: Edith Foster, »The Political Aims of Lucretius’ Translation of Thukydides«, in: Complicating the History of Western Translation. The Ancient Mediterranean in Perspective, hg. v. Siobhán McEllduff u. Enrica Sciarrino, Manchester u. a: St. Jerome Publishing, 2011, S. 88–100; H. S. Commager, »Lucretius’ Interpretation of the Plague«, in: Oxford Readings in Classical Studies. Lucretius, S. 182–198, S. 193.
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von Hesiod, Sappho, Kallimachos und Catull gefunden560 und diese Liste ist prinzipiell für weitere Intertexte offen. Nicht zuletzt paraphrasiert Lukrez die Lehren einiger Vorsokratiker, die er vermutlich durch ihre polemische Darstellung von Epikur kannte,561 wobei er neben Demokrit, Heraklit und Anaxagoras insbesondere Empedokles erwähnt, dessen didaktische Epik er, wie wir gesehen haben, rühmt und wiederholt imitiert. Der Einfluss von Empedokles wurde bereits von dem humanistischen LukrezHerausgeber Dionysius Lambinus bemerkt, der im Vorwort seiner Ausgabe schreibt: »[…] Lucretius sese ad scribendum de natura rerum contulit, scribendi quidem genus et figuras et grandiloquentiam Empedoclis secutus, materiam vero et res ab Epicuro, cuius disciplinam et decreta adamerat, mutuatus ([…] als Lukrez sich dem Schreiben von De rerum natura widmete, folgte er zwar der literarischen Gattung, den [rhetorischen] Figuren und der Wortgewalt des Empedokles, entlehnte allerdings den Stoff und die Dinge von Epikur, dessen Philosophenschule und Lehrmeinung er liebte).«562 Lukrez entlehnt (mutuari) zwar seinen materia von Epikur, folgt (sequi) aber stilistisch-rhetorisch Empedokles. Diese alte These wird von der modernen Forschung bestätigt, etwa von Sedley, der zahlreiche Parallelen zwischen De rerum natura und den Fragmenten des Empedokles entdeckte.563 Sicherlich betrachtet Lukrez selbst Empedokles neben Ennius als wichtigstes stilistisches Vorbild, was aber, wie mehrfach gezeigt, zahlreiche andere Vorbilder nicht ausschließt. Deshalb kann Obertus Giphanius, ein Zeitgenosse und Konkurrent von Lambinus,564 im Vorwort seiner eigenen Lukrez-Ausgabe behaupten: »Hîc enim videre licet, quanta elegantia & arte, Graeca Epicuri, aliorúq; philosoph. ac poëtarum decreta & seténtias poëta Lat. verbis expressa reddiderit: adeo ut vel hic liber exéplo nobis esse possit ad optimú interpretándi genus cóparandum (Hier nämlich wird ersichtlich, mit wieviel Eleganz und Kunstfertigkeit der Dichter [Lukrez] das Griechische Epikurs und anderer, d. h. die Lehren und Gedanken 560 Vgl. Gale, »Lucretius and Previous Poetic Traditions«, S. 59–75. 561 Viele Forscher gehen wie Rösner davon aus, dass Lukrez die Vorsokratiker nicht aus erster Hand, sondern nur durch die Vermittlung Epikurs kannte, der sich wiederum an Theophrasts oder Aristoteles’ Doxografie orientierte: Wolfgang Rösler, »Lukrez und die Vorsokratiker: Doxographische Probleme im I. Buch von De rerum natura«, in: Hermes, 101, Nr. 1 (1973), S. 48–64. Allerdings ist umstritten, ob sich Lukrez an Epikurs Περὶ φύσεως oder einer anderen Schrift bediente. Zu dieser umstrittenen Quellenfrage: Francesco Montarese, Lucretius and his Sources: A Study of Lucretius, De Rerum Natura I 635–920, Berlin u. a.: De Gruyter, 2012, insb. S. 11–35. 562 Zit. in: Giuseppe Solaro, Lucrezio. Biografie umanistiche, hg. v. dems., Bari: Dedalo, 2000, S. 78f. 563 Siehe z. B.: Sedley, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, S. 1–34. 564 Giphanius plagiierte großteils die Edition von Lambinus, woraufhin jener mit heftiger Polemik reagierte: Vgl. David Butterfield, »Lucretius in the Early Modern Period. Texts and Contexts«, in: Lucretius and the Early Modern, S. 45–68, S. 58f.
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anderer Philosophen und Dichter, in lateinischen Worten wiedergab: So sehr, dass dieses Buch [De rerum natura] für uns ein Vorbild zur Erlangung des besten Stils des Übersetzens ist).«565 Lukrez gab also die Gedanken und Ausdrucksweisen unterschiedlicher griechischer Autoren frei wieder (reddere) und drückte sie in der lateinischen Sprache elegant und kunstvoll aus (exprimere), weshalb ihn Giphanius sogar zum exemplum der besten Art des Übersetzens (optimus genus interpretandi) erklärt. Diese Festellung entspricht der rersümierten römischen Vorstellung vom Übersetzen, die alle möglichen Formen der Intertextualität umschließt und sich dadurch mit der rhetorischen und poetischen imitatio vermischt. Lukrez’ Praxis der imitatio ist genauso eklektisch und kompetetiv wie diejenige, die Seneca oder Quintilian in ihren Theorien fordern werden. Angesichts der Pluralität intertextueller Referenzen in De rerum natura trifft folgender Satz, den der spätantike Gelehrte Makrobius über Vergil äußert, auch auf Lukrez zu (Sat. 5.17.4): »[…] non de unius racemis vindemiam sibi fecit, sed bene in rem suam vertit quidquid ubicumque invenit imitandum ([…] er pantschte sich seinen Wein nicht nur aus den Trauben von einem, sondern er verwandelte [übersetzte] alles in seine Sache, wo auch immer er etwas Nachahmenswertes fand).« Laut Saturnalia bedient sich Vergil in seinem Werk nahezu am gesamten Kanon der vorangegangenen griechisch-römischen Literaturgeschichte: Vergil imitiert und übersetzt Verse von Homer, Hesiod, Pindar, den griechischen Lyrikern und Trägodiendichtern usw., übernimmt und modifiziert aber auch Verse und Ausdrücke von Ennius, Pacuvius oder Lukrez.566 Überdies schöpft er aus der Religionswissenschaft, Philosophie und Geschichtschreibung der Antike und überbietet die berühmtesten Redner durch seine rhetorische Eloquenz. Gerade weil Vergil solchermaßen alle Stile und Werke seiner Epoche imitiert, so Makrobius, stellt sein Werk ein Abbild der natura rerum dar (Sat. 5.1.18–20): Vidisne eloquentiam omnium varietate distinctam? Quam quidem mihi videtur Vergilius non sine quodam praesagio, quo se omnium profectibus praeparabat, de industria permiscuisse idque non mortalis sed divino ingenio praevidisse: atque adeo non alium secutus ducem quam ipsam rerum omnium matrem naturam, hanc pertexuit velut in musica concordiam dissonorum. Quippe si mundum ipsum diligenter inspicias, magnam similitudinem divini illius et huius poetici operis invenies. Nam qualiter
565 Giphanius, Lucretii De rerum natura, S. 12. Auf diese Stelle macht auch Clay aufmerksam: Clay, Lucretius and Epicurus, S. 54. 566 Makrobius benutzt neben dem Verb imitari die Ausdrücke sequi, transferre, inferre, aemulari, convertere, mutuari, usurpare, um Vergils Verhältnis zu seinen Vorbildern zu charakterisieren: Vgl. Anna A. Novokhatko, »On the Use of Literary Borrowing in Macrobius«, in: Quaderni Urbinati di Cultura Classica, 95, Nr. 2 (2010), S. 29–41, insb. S. 37. Damit versöhnt Makrobius zahlreiche Ausdrücke, die uns in anderen Kontexten der römischen imitatio begegnet sind.
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eloquentia Maronis ad omnium mores integra est, nunc brevis, nunc copiiosa, nunc sicca, nunc florida, nunc simul omnia, interdum lenis aut torrens: sic terra ipsa hic laeta segetibus et pratis, ibi silvis et rupibus hispida, hic sicca harensi, hic irrigua fontibus, pars vasto aperitur mari. Ignoscite nec nimium me vocetis, qui naturae rerum Vergilium comparavi. Siehst du nicht, dass sich seine Eloquenz durch Vielfalt von der aller anderen abzeichnet? Mir scheint freilich, Vergil hat nicht ohne eine gewisse Vorahnung, wegen der er sich für den Vorteil aller rüstete, diese [Vielfalt] voller Eifer gemischt und dies nicht mit sterblichem, sondern mit göttlichem Geist vorausgesehen: Denn er folgte keinem anderen Führer als der Natur selbst, der Mutter aller Dinge, die er verwob, wie in der Musik Harmonie aus dissonanten Klängen [entsteht]. Allerdings, wenn du die Welt selbst genau betrachtest, wirst du große Ähnlichkeit zwischen diesem göttlichen und dessen poetischen Werk entdecken. Wie nämlich die Eloquenz Vergils ganzheitlich ist und allen Sprechweisen entspricht, nun knapp, bald wortreich, bald trocken, nun blühend, nun alles gleichzeitig, manchmal sanft oder reißend, so ist die Erde selbst hier üppig an Feldern und Wiesen, dort borstig von Wäldern und Felsen, hier trocken vom Sand, dort feucht von Quellen und ein Teil öffnet sich dem Meer. Verzeiht und nennt mich nicht maßlos, der ich Vergil mit der Natur der Dinge verglich!
Vergils Werk ist für Makrobius ein ›Hypertext‹567, ein enzyklopädisches Ensemble der gesamten antiken Literatur, das alle Rhetoren und Dichter der Vergangenheit imitiert und synthetisiert. Dennoch behauptet Makrobius, dass Vergils divinum ingenium allein der Führerin und Mutter aller Dinge, der Natur selbst, der dux rerum omnium mater natura, folgte (sequi), die er in seinen Versen hineinwob (pertexere), so dass aus ihren dissonanten Klängen wie in der Musik im Endeffekt ein harmonischer Einklang resultiert (concordia dissonorum). Die unterschiedlichen rhetorischen Stilebenen werden mit den unterscheidlichen Landschaften der Erde verglichen, weshalb Vergils poetische Schaffenskraft, die alle vereint, der Erdoberfläche und damit – auch wenn Makrobius vor dieser Konklusion vorgeblich zurückschreckt – der natura rerum selbst gleicht. Diese kosmische Auffassung des Dichtens mag Makrobius’ neoplatonischen Tendenzen geschuldet sein,568 lässt sich aber in den Gründzügen auf 567 Wir benutzen diesen Ausdruck hier nicht im technischen Sinne von Genette, der zwischen Inter- und Hypertextualität unterscheidet. Es sei nur darauf hingewiesen, dass Genette seinen Begriff der Hypertextualität u. a. am Beispiel von Vergil Aeneis, die Homers Odyssee auf komplexe Weise nachahmt und transformiert, entwickelt: Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, übs. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 14–17. 568 Laut Curtius ist die Gleichsetzung von Dichtung und Kosmos, wie wir sie bei Macrobius finden, der klassischen Antike fremd: Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 441. Sie findet sich jedoch teilweise bereits bei Platon angelegt, wie Coulter zeigt: James A. Coulter, The Literary Microcosm. Theories of Interpretation of the Later Neoplatonist, Leiden: Brill, 1976, insb. S. 95–100. Nun ist eine solche platonische Auffassung, die mit dem Konzept einer göttlichen Weltschöpfung zusammenhängt, Lukrez sicherlich fremd.
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Lukrez anwenden: Bereits er ahmt in seinem Werk viele griechische und römische Schriftsteller nach, beherrscht die Rhetorik und eine Vielfalt von Stilregistern. Obwohl er ausdrücklich nur Epikurs chartae zu seiner ›Quelle‹ erklärt, imitiert er wie nach ihm Vergil unzählige Autoren, die er teils mehr oder weniger wörtlich übersetzt (Homer, Thukydides), teils bloß anklingen lässt, wobei er ihre stilistischen und lexikalischen Eigenheiten übernimmt (Ennius, Empedokles) oder parodiert, wie etwa die sprachliche Imitation der obscuritas des Heraklit. Das imitari verwandelt (vertere) unterschiedlichste Blüten in den Honig bzw. viele Trauben in den Wein seiner Dichtung. Doch diese plurale imitatio auctorum schließt für Lukrez wie für Makrobius eine imitatio naturae nicht aus, sondern bedingt sie: Indem Lukrez Epikur und anderen Autoren folgt (sequi), folgt er zugleich wie Vergil der dux rerum mater natura selbst, deren vielstimmigen Chor er in seinem Werk verwebt (pertexere). Wie im ersten Kapitel erwähnt, spielt die Metaphorik des pertextere in Lukrez’ Poetik eine gewisse Rolle und der wiederholte Vergleich zwischen den Atomen und den Buchstaben (elementa) verstärkt die Analogie zwischen Text und Kosmos. Zudem verleiht der Aufbau des De rerum natura, das vom Mikro- (Buch 1–2) zum Meso- (Buch 3–4) und zum Makrokosmos (Buch 5–6) forschreitet und vom Venus-Proömium (die Geburt) und der Pestschilderung (der Tod) gerahmt wird, diesem eine kosmische Dimension.569 Nicht nur Vergils Werk, auch De rerum natura lässt sich somit als eine Art simulacrum der natura rerum interpretieren. Wenn Makrobius Vergils Dichtung mit einer concordia dissonorum vergleicht, dann greift er auf einen Gedanken zurück, der sich schon bei Seneca findet. Das ist kein Zufall, denn Makrobius plagiiert schon in der Einleitung seiner Saturnalia ausführlich Senecas Brief über die imitatio, um sein eigenes eklektisches Verfahren zu rechtfertigen und zugleich anzuwenden (praef. 5–8).570 Ohne seine Quelle zu nennen, übernimmt er Senecas Bienengleichnis und zitiert wortwörtlich folgende Passage aus Senecas genanntem Brief (epist. 84.9–10): Non vides quam multorum vocibus chorus constet? Unus tamen ex omnibus redditur. Aliqua illic acuta est, aliqua gravis, aliqua media; accedunt viris feminae, interponunt tibiae: singulorum illic latent voces, omnium apparent. […] fit concentus ex dissonis. Talem animum esse nostrum volo: multae in illo artes, multa praecepta sint, multarum aetatum exempla, sed in unum conspirata. Siehst du nicht, aus wie vielen Stimmen ein Chor besteht? Dennoch wird aus allen eine Einheit entstehen. Eine [Stimme] ist darin hoch, eine andere tief, eine andere [liegt]
Dennoch finden wir in Lukrez’ De rerum natura zahlreiche Analogien zwischen Kosmos und Text, die uns berechtigen, auch bei ihm von einer kosmischen Konzeption des Dichtens zu sprechen. 569 Vgl. Farrell, »Lucretian Architecture«, S. 79f. 570 Vgl. Stackelberg, »Das Bienengleichnis«, S. 277f.
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dazwischen; Frauen kommen zu den Männern hinzu, dazwischen treten Flöten: Die Stimmen der Einzelnen verstecken sich darin, alle zusammen treten in den Vordergrund. […] es entsteht eine Harmonie aus Dissonanzen. So will ich auch, dass unser Geist sei: In ihm sollen viele Künste [bzw. Wissenschaften], viele Vorschriften sein, Vorbilder vieler Zeiten, doch im Einklang [zusammengehaucht].
Seneca vergleicht die literarische und intellektuelle imitatio nicht bloß mit der Arbeit der Bienen, sondern mit derjenigen eines Chors: Das Werk eines Dichters bzw. sein Geist besteht wie ein Theaterchor aus vielen voces von Menschen und Instrumenten in verschiedenen Tonlagen. Wie bei einem Musikstück scheinen die Einzelstimmen zu verschwinden, sie verstecken sich und werden latent (latere), während das Ganze als eine Einheit aus allen Tönen (unus ex omnibus) in den Fokus der geistigen Aufmerksamkeit rückt. Die ursprünglichen Dissonazen werden in einer Art Zusammenklang oder Harmonie, concentus ex dissonis, aufgehoben, was für Seneca ein Sinnbild des idealen imitator ist, der die Künste oder Wissenschaften (artes), die moralischen Vorschriften (praecepta) und Vorbilder (exempla) der Vergangenheit und Gegenwart kompiliert und versöhnt (das conspirare, ›zusammenhauchen‹, erinnert an die stoische Lehre vom πνεῦμα, dem ›göttlichen Atem‹, der alles durchdringt). Da Makrobius diese Passage aufgreift und plagiiert, macht er Seneca zu einer Stimme in seinem eigenen Chor, die in seinem Werk anonym in den Hintergrund tritt. Doch er wendet dieses Konzept nicht nur auf das eklektische Verfahren seiner Saturnalia an, sondern auch auf Vergil, dessen Werk die Stimmen und Stile unterschiedlichster Autoren in einer concordia dissonorum aufhebt. Hierbei beleuchtet er aber einen Punkt, der bei Seneca nur angedeutet wird: Der concentus ex dissonis oder die concordia dissonorum ist keine persönliche Stimme, sondern die überzeitliche und unpersönliche Stimme der natura rerum.571 Nun ist Lukrez’ imitari genauso vielstimmig wie die literarischen Verfahren, die Seneca und Makrobius beschreiben. Auch er komponiert einen Chor aus unterschiedlichen Stimmen, in denen die patria praecepta Epikurs nur eine Leitstimme bilden. Wie wir im folgenden und abschließenden Kapitel sehen werden, möchte er die epikureische Philosophie in einen Chor väterlich-römischen Stimmen (patriae voces) verwandeln (vertere). Lösen sich aber alle Stimmen, wie es Seneca und Makrobius fordern, in einer concordia oder einem concentus, d. h. in einer harmonia auf ? Das könnte man bezweifeln, da sich Lukrez gegenüber dem Begriff der harmonia skeptisch zeigt und ihn, wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, aus seiner Psychologie und Ontologie verbannt. Und 571 Man könnte mit Bettini in Anlehnung an einen Ausdruck der neueren Musik von einer ›resultant melody‹ sprechen, die sich nicht auf die Melodie der einzelnen Instrumente (Stimmen) reduzieren lässt, aus deren Zusammenspiel sie entsteht: Bettini, »Authority as ›Resultant Voice‹«, S. 189f.
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Imitari
tatsächlich finden wir in De rerum natura zahlreich Dissonanzen, die sich nicht aufzulösen scheinen: So haben wir z. B. bereits einen Widerspruch zwischen der biologischen und sozialen Metaphorik der Atome und ihrer Unbelebtheit sowie zwischen Epikurs bzw. Lukrez’ Anspruch auf Unsterblichkeit und der radikalen Sterblichkeit aller Dinge bemerkt. Darüber hinaus zeigten sich viele Kommentatoren beunruhigt, dass Lukrez’ Gedicht mit einer Anrufung von Venus beginnt, obwohl uns die Götter laut epikureischer Lehre nicht erhören,572 und dass es mit der trostlosen Schilderung der Pest in Athen endet, welche die Seelenruhe des durchschnittlichen Lesers wohl eher stört als erbaut.573 Diese und ähnliche Widersprüche und Diskontinuitäten574 haben dazu geführt, dass die Forschung lange Zeit von einem Anti-Lukrez in Lukrez sprach und von einer Art schizophrener Spaltung und geistiger Gleichgewichtsstörung des Autors ausging.575 Dahingegen wurde in neuer Zeit meist Lukrez’ Einheitlichkeit betont und versucht, die scheinbaren Widersprüche im De rerum natura als bewusste didaktische und rhetorische Strategien zu entlarven. Seltsamerweise hat sich in der Forschung die Mehrstimmigkeit Vergils, der auf den ersten Blick einheitlicher erscheint, teilweise etabliert,576 wohingegen die Anti-Lukrez-in-Lukrez-Theorie heute verpönt ist,
572 Vgl. James J. O’Hara, Inconsistency in Roman Epic. Studies in Catullus, Lucretius, Vergil, Ovid and Lucan, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 2007, S. 57–69. 573 Aus diesem Grund wurde in der Forschung oftmals angenommen, dass die Pestschilderung nicht das geplante Ende des De rerum natura sei und dass auf sie noch ein Happy End – etwa die Schilderung der Göttersitze, die Lukrez an früherer Stelle ankündigt – folgen sollte. Man kann die Pestschilderung aber auch als ein offenes Ende interpretieren, das den Leser auf die Probe stellt, wie u. a. Fowler argumentiert: Petra Fowler, »Lucretian Conclusions«, in: Oxford Readings in Classical Studies. Lucretius, S. 199–233, insb. S. 232. 574 Zu den Diskontinuitäten in Lukrez’ Metaphorik, die nicht unbedingt Widersprüche darstellen: Anderson, »Discontinuity in Lucretian Symbolism«, insb. S. 23–29. 575 Der Ausdruck Anti-Lukrez geht auf Polignacs Anti-Lucretius sive de Deo et Natura (AntiLukrez oder über Gott und die Natur) zurück, ein Lehrgedicht, das 1744 (posthum) erschien und in dem sich der französische Kardinal polemisch gegen den damaligen Materialismus wandte. Der Philologe Patin bezog Polignacs Wortprägung auf unwillkürliche Widersprüche innerhalb von Lukrez’ Gedicht, insbesondere auf den Kontrast zwischen religiöser Bildsprache und anti-religiöser Lehre, und prägte dabei die Formel vom ›L’Anti-Lucrèce chez Lucrèce‹: Vgl. Henri Patin, »Du poëme de la nature. L’Anti-Lucrèce chez Lucrèce«, in: Ders., Études sur la poésie latine, Bd 1., Paris: Librairie Hachette, 1875, S. 118–137. Diese Formel ist symptomatisch für zahlreiche psychologistische Deutungen, die auf den Mythos von Lukrez’ Wahnsinn und seinem angeblichen Selbstmord rekurrierte, den der Kirchenvater Hieronymus in Umlauf brachte. Einen Überblick über die Forschungstradition des ›L’Anti-Lucrèce chez Lucrèce‹, die bis zu Beginn des 20. Jhd. vorherrschend war, bietet: Lorenz Rumpf, Naturerkenntnis und Naturerfahrung. Zur Reflexion epikureischer Theorie bei Lukrez, München: C. H. Beck, 2003, S. 19–28. Über den Mythos von Lukrez’ seelischer Zerrissenheit siehe: W. Ralph Johnson, Lucretius and the Modern World, London: Duckworth, 2000, insb. S. 103–134. 576 So ging die sogenannte Harvard Schule davon aus, dass es in Vergil neben einer propagandistisch-imperialistischen auch eine regimekritische Stimme gibt. Hierzu: W. R. John-
Dux natura: Vielstimmigkeit der Natur (Macrobius bzw. Seneca)
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obwohl die Widersprüche bei Lukrez viel offensichtlicher sind. Wir müssen jedoch weder Lukrez’ Dissonanzen wegerklären noch sie psychologistisch deuten und Lukrez zu einem platonischen ›vielgestaltigen Mann‹ (πολλαπλοῦς ἀνήρ) erklären.577 Die Dissonanzen lassen sich zum Teil auf ein rhetorisches und literarisches Verfahren einer eklektischen imitatio zurückführen, das in der Antike (insbesondere im Hellenismus) üblich war: Mit seiner Allegorie von Venus und Mars ruft Lukrez, wie gesagt, Empedokles’ dualistisches Konzept der kosmischen Aphrodite und des Streites auf und schafft damit vielleicht ein Gegenstück zum stoischen Zeus-Hymnus. Die Beschreibung der Pest übersetzt eine Passage von Thukydides und der Anspruch auf Unsterblichkeit folgt allgemein der epischen Tradition, wie wir sie bei Ennius finden. Die metaphorische Sprache leitet sich wiederum von Empedokles und anderen Vorsokratikern ab (der Ausdruck der semina rerum geht auf Anaxagoras zurück, der Krieg aller Dinge erinnert u. a. an Heraklit, die Lichtmetaphorik an Parmenides). Der Anti-Lukrez-in-Lukrez entpuppt sich auch als ein Epikur, Empedokles, Anaxagoras, Thukydides, Ennius, Homer, usw. in Lukrez und lässt sich als Ausdruck einer imitatio verstehen, welche die Einzelstimmen der Stimme Epikurs zwar meist unterordnet, ohne sie aber völlig einer Harmonie zu unterwerfen. Überhaupt gilt es zu bedenken, dass vormoderne Texte viel weniger den Gesetzen einer kohärenten Einstimmigkeit gehorchen, wie es modernen Kritikern lieb wäre. Widersprüche innerhalb antiker Epen lassen sich nicht nur auf Interpolationen578 oder biografisch-psychologische Umstände zurückführen, sondern spiegeln auch eine andere Auffassung von Literatur wider.579
son, Darkness Visible. A Study of Vergil’s Aeneid, Berkeley u. a: University of California Press, 1976, S. 11f. 577 Obwohl der Ansatz des ›L’Anti-Lucrèce chez Lucrèce‹ in der zeitgenössischen Forschung gemeinhin für tot erklärt wird, lässt er sich – abseits psychologistischer Schlüsse – als eine Art dekonstruktivistisches ›reading for inconsistency‹ fruchtbar machen: Vgl. Alison Sharrock, »Introduction«, in: Lucretius: Poetry, Philosophy, Science, S. 1–24, insb. S. 6f. Auch Rumpf gewinnt der Tradition von Patin als Gegengewicht zu einer rein didaktischen Lektüre positive Aspekte ab: Rumpf, Naturerkenntnis und Naturerfahrung, S. 28. 578 So versucht Deufert die Formel ›L’Anti-Lucrèce chez Lucrèce‹ durch diejenige des ›PseudoLukrezischen im Lukrez‹ zu ersetzen und die Widersprüche durch Streichungen angeblicher unechter Verse zu glätten: Deufert, Pseudo-Lukrezisches im Lukrez, insb. S. 22–26. Doch selbst Deuferts Analysen vermögen die grundsätzlichen Spannungen innerhalb des De rerum natura nicht zu tilgen. 579 Hierzu die Bemerkung von O’Hara: »I think we are dealing […] with writers who know that texts tend to fly apart, and that they therefore work with inconsistencies, instead of vainly trying to produce the kind of single-voiced, unified work demanded by many twentiethcentury critics. It may well be that these polytheistic, non-Christian writers saw poems with multiple voices and inconsistent attitudes and even variant versions in one text as the best way to represent their view of the complexitiy of the world as they saw it.« O’Hara, Inconsistency in Roman Epic, S. 6.
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Imitari
Das passt zu Lukrez’ Konzept der natura, die selbst keinem platonischen Vorbild (exemplum) oder einer prästabilierten stoischen Harmonie folgt, wie sie Seneca und Makrobius voraussetzen. Darum ist De rerum natura eine unvorhersehbare Polyphonie,580 die sich nicht totalisieren lässt, womit es mehr oder weniger bewusst die natura rerum imitiert, deren variantia rerum Lukrez wiederholt beschwört (3.337–341): »nec mirum: nam cum sit eorum copia tanta, | ut neque finis, uti docui, neque summa sit ulla, | debent nimirum non omnibus omnia prorsum | esse pari filo similique adfecta figura (Das ist nicht verwunderlich: Denn weil ihre [der Atome] Fülle so groß ist, dass es weder ein Ende [Ziel], wie ich lehrte, noch irgeneine Summe [der Natur] gibt, müssen sie freilich nicht ganz und gar alle mit allen mit gleichem Gewebe [Faden; hier wieder die Metaphorik des pertextere] und selber Gestalt begabt sein).« Vor dem Hintergrund dieser Ontologie ist es nicht verwunderlich (nec mirum), dass Lukrez’ Text so heterogen und überdies unabgeschlossen ist. Denn die Natur selbst ist unabschließbar und bildet keine summa. Lukrez folgt zweifelslos der dux vitae dia voluptas, doch diese immanente Teleologie muss das Resultat und nicht die transzendente Ursache seiner Fülle (copia) an Stimmen und Stilen sein. Sein sequi folgt allein der dux natura, die selbst keiner Intention und keinem übergeordneten Ziel gehorcht.
580 Schon Regenbogen spricht von einer Polyphonie bei Lukrez, führt diese allerdings auf dessen existenzielle Situation zurück: »Die rings umdrohte Existenz des tief Einsamen kontrastiert schneidend mit dem inneren Befreitsein und Sicherfühlen des Erlösten. Andere treten hinzu. Der Erlöste und der Pessimist, der Dichter und der Rationalist: alle solche Formeln umschreiben nur mit schwacher Kraft ihrer Paradoxie Jubel und Angst, Sicherheit und Unruhe, Glück und Bedrohung, die aus der einzigartigen Polyphonie des Gedichtes zum Leser reden.« Regenbogen, Lukrez, S. 16.
»We seem to be reading not the poetry of a poet about things, but the poetry of things themselves. That things have their poetry, not because of what we make them symbols of, but because of their own movement and life, is what Lucretius proves once for all to mankind.« George Santayana
IV.
Vertere
1.
Novitas: Neuheit der Welt und der wahren Dichtung (5.324–337)
Im fünften Buch wendet sich Lukrez dem Makrokosmos zu, der Geburt der Welt, dem Aufbau des Kosmos, der Entstehung der Lebewesen, der Entwicklung der menschlichen Kultur. Im Rahmen seiner Darlegung der Geburt und Sterblichkeit der Welt kommt er auf die Geburtsstunde bzw. den Zeugungsursprung (genitalis origo) von Erde und Himmel zu sprechen und argumentiert für eine relative novitas unserer Welt. Inmitten seiner Argumentation rekurriert er auf seine eigene Tätigkeit als Übersetzer, seine Verwandlung der epikureischen Lehre in väterliche Stimmen (in patrias vertere voces), die er zugleich als Ausdruck und Anzeichen der novitas der Welt versteht. Sein poetisches ego taucht somit an der Schnittstelle von Kosmologie und Kulturgeschichte auf, den beiden großen thematischen Blöcken, die das fünfte Buch umspannt (5.324–337): Praeterea si nulla fuit genitalis origo terrarum et caeli semperque aeterna fuere, cur supera bellum Thebanum et funera Troiae non alias alii quoque res cecinere poetae? quo tot facta virum totiens cecidere neque usquam aeternis famae monimentis insita florent? verum, ut opinior, habet novitatem summa, recensque naturast mundi neque pridem exordia cepit. quare etiam quaedam nunc artes expoliuntur, nunc etiam augescunt: nunc addita navigiis sunt multa, modo organici melicos peperere sonores, denique natura haec rerum ratioque repertast nuper, et hanc primus cum primis ipse repertus nunc ego sum in patrias qui possim vertere voces. Außerdem, wenn es keinen Zeugungsursprung der Erde und des Himmels gab und sie immer ewig bestanden, warum haben nicht andere Dichter andere Dinge vor dem
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Vertere
Thebanischen Krieg und dem Untergang [Begräbnis] Trojas besungen? Wohin sind so oft so viele Taten der Männer gefallen, ohne jemals in ewigen Monumenten des Ruhms gepflanzt zu blühen? Doch das Gesamte, so meine ich, hat Neuheit, und die Natur der Welt ist jung und nahm nicht vor langer Zeit ihren Anfang. Deshalb werden auch jetzt erst gewisse Künste verfeinert [geglättet], jetzt erst gedeihen sie auch: Erst jetzt wurde nämlich in der Schifffahrt vieles verbessert; eben erst gebaren die Künstler melodische Klänge; und schließlich wurde erst vor Kurzem die Natur der Dinge und Lehre gefunden und ich wurde selbst jetzt als Erster unter Ersten gefunden, der es vermag, diese in väterliche Stimmen zu wenden.
Die Passage bildet eine Digression – ›außerdem‹ (praeterea) – innerhalb einer größeren Argumentation und verwebt zwei argumentative Stränge, die aus unterschiedlichen Perspektiven die novitas der aktuellen Weltnatur (recens natura mundi) verdeutlichen sollen. Für sich genommen sind beide Argumente philosophisch nicht sehr überzeugend,581 aber zusammen sind sie bedeutsam, da sie ein neues Licht auf Lukrez’ poetisches Selbstbewusstsein werfen. Beide verbinden nämlich auf komplexe Weise Welt-, Kultur- und Literaturgeschichte, um De rerum natura selbst schließlich als Höhepunkt der Menschheitsgeschichte zu profilieren. Lukrez’ Tätigkeit, sein ›wenden‹ und ›verwandeln‹ (vertere), erscheint als Teil des kosmischen Wandels (vertere), womit seine Kosmologie, wie es in diesem abschließenden Kapitel zu zeigen gilt, mit seiner Poetik verschmilzt. Der erste der beiden Argumentationsstränge beruft sich auf die Beschränktheit unseres poetisch-historischen Gedächtnisses: Wäre unsere Welt ewig, müsste die Menschheitsgeschichte ziemlich – eigentlich unendlich – weit in die Vergangenheit reichen und die Dichter müssten res erinnern, die sich noch vor dem Thebanischen oder Trojanischen Krieg ereigneten.582 Doch die ältesten Epen der Griechen wie die Ilias oder die Thebais583 berichten keine viel frühere Ereignisse, weshalb sich ihre Dramen nicht allzu ferne in der Vergangenheit abspielen. Darum kann auch unsere Welt nicht seit Ewigkeiten bestehen. Ganz im Gegenteil müssen ihre Anfänge (exordia) vergleichsweise rezent sein, ihre Natur muss novitas besitzen.
581 Die Argumente dienen eher der rhetorischen inlustratio als einer systematischen Beweisführung, wie auch Bailey bemerkt: »The argument is popular, not technical, and set out with Lucr.’s picturesque skill.« Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 3, S. 1370. 582 Schon Theophrast referiert ein ähnliches Argument, dass von Aristoteles’ Gegnern gegen dessen Vorstellung eines ewigen Kosmos formuliert wurde: Ettore Bignone, L’Aristotele perduto e la formazione filosofica di Epicuro, Florenz: La nuova Italia, 1973, Bd. 2, S. 461–464. 583 Der Sagenkreis des thebanischen Krieges wurde in der Antike mehrfach literarisch verarbeitet. Da Lukrez auf den Beginn der griechischen Epik referiert, bezieht er sich vermutlich auf die Thebais aus dem Epischen Zyklus, die in der Antike manchmal Homer zugeschrieben wurde: Vgl. Joachim Latacz, »Thebais«, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. v. Hubert Cancik, Helmuth Schneider, Manfred Landfester, Stuttgart: Metzler, 2007, Bd. 12, Sp. 294f.
Novitas: Neuheit der Welt und der wahren Dichtung (5.324–337)
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Diese Konklusion beruht auf mehreren Prämissen: Zunächst versteht Lukrez hier unter res offensichtlich historische Ereignisse, res gestae,584 und keine kosmologisch-mythologischen Ursprungserzählungen. Er spricht von den männlichen Taten (facta virum), welche die Dichter überliefern, was der homerischen Rede vom Ruhm der Männer (κλέα ἀνδρῶν) entspricht,585 und blendet theologische Ursprungserklärungen aus, wie wir sie in den homerischen Epen, insbesondere jedoch in Hesiods Theogonie finden. Analog wird Lukrez, wie im ersten und dritten Kapitel erwähnt, gegen Ende des Buchs die Entwicklung von Musik und Poesie in der Tradierung der res gestae gipfeln lassen. Lukrez scheint damit kaum zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung zu differenzieren, weil das poetische Gedächtnis für ihn – wie für die meisten Epiker – in erster Linie ein heroisches Gedächtnis ist.586 Überdies geht er von einer relativen Unsterblichkeit der Dichtung aus, die er teilweise für sich selbst in Anspruch nehmen wird. Während er wenige Verse zuvor die Vergänglichkeit der Steindenkmäler großer Männer (monimenta virum) schildert, die im Laufe der Zeit wie Felsen, Tempel oder Götterbilder zerbröckeln (5.306–317), schreibt er der Literatur die Fähigkeit zu, ewige Denkmäler des Ruhms (aeternis famae monimenta) zu errichten, wobei das literarische Gedächtnis im Unterschied zu den toten Steinen lebendig zu blühen vermag (florere).587 Deshalb kontrastiert er das Singen (cecinere) der Dichter in einem Wortspiel mit dem In-Vergessenheit-Fallen (cecidere) der facta virum.588 Nicht zuletzt setzt Lukrez’ Argumentation eine Parallelisierung von Menschheits- und Weltgeschichte voraus und schließt scheinbar aus, dass die Welt sehr lange (ewig) ohne Menschen bestehen könnte. Die Möglichkeit des Menschseins, die in der atomaren Konstitution der Welt begründet liegt, müsste sich angeblich eher früher als später realisieren. Unter diesen Voraussetzungen sprechen die aeternis famae monimenta der epischen Literatur paradoxerweise gegen die Ewigkeit (aeternitas) der natura mundi. Die Geburtsstunde, genitalis origo, der Literatur und Geschichte verweist folglich auf die genitalis origo unserer Welt.
584 Auch Cicero definiert die historia als res gesta (inv. 1.27): »Historia est gesta res, ab aetatis nostrae memoria remota (Die Geschichte ist eine Tatsache, die dem [unmittelbaren] Gedächtnis unseres Zeitalters entrückt ist).« 585 Vgl. Gale, Myth and Poetry in Lucretius, S. 105. 586 Vgl. a. a. O., S. 151f. 587 Hierzu West: »When men erect monuments they are grafting their deeds on to a durable stock, the eternal monuments of fame, in this case poetry. This is full of poetry, including the juxtaposition of stone and flower, the fragility of fame and flower, the seeming durability of monuments, the immortality of poetry, and man’s elaborate operations to produce immortality for himself.« West, The Imagery and Poetry of Lucretius, S. 2. 588 Durch dieses Wortspiel unterstreicht Lukrez die Unvergänglichkeit der Poesie: Vgl. Gale, Lucretius, De Rerum Natura V, S. 133.
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Vertere
Demgegenüber blickt der zweite Argumentationsstrang, der sich als Konsequenz (quare) des ersten präsentiert, nicht in die (prä)historische Vergangenheit, sondern in die Gegenwart: Die Entwicklung der menschlichen Künste und Techniken (artes) begann erst kürzlich und ist noch immer im vollen Gange. Jetzt (nunc) werden die artes verfeinert, jetzt (nunc) wachsen sie, jetzt (nunc) wurde in der Schiffsfahrt vieles hinzuerfunden, kürzlich (modo) erzeugten die Künstler (organici), d. h. Musiker und Dichter, melodische Klänge. Ebenso wurde die wahre natura rerum und ihre ratio erst neulich (nuper) entdeckt (reperire) und jetzt (nunc) wurde Lukrez selbst gefunden (repertus ego sum), der diese durch sein vertere als Erster unter Ersten (primus cum primis) in der lateinischen Sprache (patriae voces) auszudrücken vermag. Diese gedrängte Skizze der Geschichte der artes ist zugleich ein Ausblick auf den letzten Abschnitt des fünften Buchs, in dem Lukrez die Entwicklung der artes von den Anfängen der Menschheit bis in die Gegenwart verfolgen wird. Doch das gesamte Buch endet mit dem zivilisatorischen Fortschritt (Befestigungen, Schiffsbau, soziale Verträge), der schriftlichen Tradierung der res gestae, der Vervollkommnung der carmina und den bildenden Künsten (daedala signa) (5.1440–1457), wohingegen unsere Digression in den Errungenschaften von Epikur und Lukrez, der Entdeckung der natura rerum sowie der adäquaten Darstellung ihrer ratio in der römischen Dichtung gipfelt.589 Außerdem wird der Fortschritt der artes, der später schrittweise expliziert wird, in einer kosmischen Gegenwärtigkeit geschildert, die Vorgänge, die mehrere Jahrhunderte auseinanderliegen, simultan erscheinen lässt. Die vierfache Wiederholung (Anapher) des ›jetzt‹, nunc,590 erzeugen eine ›Weltminute‹, die weite Zeiträume der Kulturgeschichte kontrahiert.591 So werden Epikur und Lukrez, obwohl zwischen ihnen beinahe zwei Jahrhunderte liegen, gleichsam als Zeitgenossen vorgeführt.592 Epikurs reperire scheint gleichsam nahtlos in Lukrez’ poetische Tätigkeit, das vertere, überzugehen, weshalb die historischen und kulturellen Differenzen im emphati589 Ähnlich Schrijvers: »[…] Lucrèce indique le fait historique des découverts d’Epicure et le fait historique de leur expression poétique comme des points culminantes et des points d’aboutissement d’un mouvement historique […].« Schrijvers, Horror ac divina voluptas, S. 83. 590 Vgl. Ernout/Robin, Lucrèce, De rerum natura, Bd. 3, S. 44. 591 Bignone zufolge stellt hier Lukrez nur Entwicklungen als neu dar, die zur Zeit Epikurs neu waren: Bignone, L’Aristotele perduto, Bd. 2, S. 465f. Doch Lukrez’ Schilderung des Fortschritts ist so vage, dass sie auch spätere Entwicklungen umfassen könnte. Durch das vertere wird die aktuelle Gegenwart in Epikurs Kosmologie eingeschrieben. 592 Clay spricht von einer »conception of history in which events more than two centuries old can be regarded as recent«, durch die Lukrez seine Distanz zu Epikur verringert. Clay, Lucretius and Epicurus, S. 52. Zu Lukrez’ Geschichtsauffassung, die sich in den Zeitadverbien kondensiert, siehe auch folgenden Artikel: Pierre-François Moreau, »Nunc, tum, nuper: Lucrèce et l’histoire«, Aitia, 10 (2020), online unter: http://journals.openedition.org/aitia /8096 (Zugriff 02/05/2022).
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schen nunc verschwimmen. Lukrez verbindet zwei entscheidende Entwicklungslinien der Menschheitsgeschichte, die Entdeckung der wahren Philosophie und die melodischen Erfindungen der griechischen Musiker-Dichter (der sogenannten organici), die uns im zweiten Kapitel am Helikon (im Kontext der Zurückweisugn der harmonia) begegnet sind. Das deiktische nunc der Passage erschafft eine uns bereits vertraute poetische Simultanität, die auch den Leser involviert: Der Leser, der sie nunc liest, befindet sich nämlich gleichzeitig mit dem Autor am höchsten Punkt, dem summum cacumen der Welt- und Kulturgeschichte, welches auch das Ende des fünften Buchs markiert. Die novitas des De rerum natura ist selbst ein Beweis der novitas der Welt. Der Zusammenhang beider Argumente, der in Lukrez’ Darstellung etwas unterbelichtet bleibt, wird durch eine Stelle bei Makrobius veranschaulicht, der in seinem Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis ein verblüffend ähnliches Argument konstruiert. Tatsächlich liest sich folgender Auszug daraus weniger als Kommentar zu Ciceros Kosmologie, denn als Analyse der zitierten LukrezPassage (somn. 2.10.6–9):593 Nam quis facile mundum semper fuisse consentiat, cum et ipsa historiarum fides multarum rerum cultum emendationemque vel ipsam inventionem recentem esse fateatur […]? Ac […] quis non hinc aestimet mundum quandoque coepisse et nec longam retro eius aetatem, cum abhinc ultra duo retro annorum milia de excellenti rerum gestarum memoria ne Graeca quidem extet historia? […] Si enim ab initio immo ante initum fuit mundus ut philosophi volunt, cur per innumerabilem seriem saecolorum non fuerat cultus, quo nunc utimur inventus? Non litterarum usus, quo solo memoriae fulcitur aeternitas? […] Haec omnia videtur aeternitati rerum repugnare dum opinari nos faciunt certo mundi principio paulatim singula quaequae coepisse. Denn wer würde leichtfertig zustimmen, dass die Welt schon immer bestanden habe, wenn die Vertrauenswürdigkeit der Geschichtswerke selbst uns versichert, dass der Gebrauch, die Verbesserung oder selbst die Entdeckung zahlreicher Dinge rezent ist […]? Und […] wer würde es daher wohl nicht anerkennen, dass die Welt irgendwann begann und zwar nicht lange vor diesem Zeitalter, wenn nicht einmal die griechische Geschichte eine Erinnerung der Besonderheit historischer Ereignisse besitzt, die ungefähr mehr als zweitausend Jahre zurück [liegen]? […] Wenn nämlich die Welt von Anfang an, ja sogar vor dem Anfang, wie die Philosophen wollen, existierte, warum gab es in der zahllosen Abfolge der Zeitalter nicht die Lebenseinrichtung [Kultur], der wir uns jetzt, nachdem sie erfunden wurde, bedienen? [Warum gab es] nicht den Gebrauch der Buchstaben, durch den allein die Ewigkeit der Erinnerung gestützt wird? […] Dies alles scheint der Ewigkeit der Dinge zu widersprechen, unterdessen man uns glauben macht, dass alle einzelnen [Entwicklungen] schrittweise und ausgehend von einem fixen Ursprung der Welt begannen.
593 Schon Bailey verweist in seinem Kommentar auf folgende Textstelle, um Lukrez’ Argument zu untermauern: Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 3, S. 1370.
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Vertere
Schenken wir der Geschichtsschreibung Vertrauen – und Lukrez betrachtet die Epik als eine Form der Tradierung der historia (res gestae) –, entstanden und entwickelten sich viele unserer Kulturtechniken (cultus = artes) in jüngster Zeit (recens). Selbst die ältesten res gestae, an die sich griechischen Historiker (oder Dichter) erinnern, liegen laut Makrobius nicht weiter als ungefähr zwei Jahrtausende in der Vergangenheit. Wenn die Welt- und damit die Menschheitsgeschichte ewig wäre, dann müssten die Kulturtechniken, deren wir uns erst jetzt – nunc! – bedienen, schon viel früher entdeckt worden sein. Auch der Gebrauch der Buchstaben (litterarum usus), welcher der Erinnerung Ewigkeit (aeternitas) verleiht, ist eine rezente Erfindung. Diese Begrenztheit des historischen Gedächtnisses und die Neuheit zahlreicher artes sprechen gegen die Ewigkeit der Welt, die folglich einen festen Zeugungsursprung (certum principium = genitalis origo) haben muss. Wer die Reichweite der schriftlichen Überlieferung in Frage stellt, den verweist eben ihre Beschränktheit, die ihrer kulturellen novitas entspricht, wiederum auf die genitalis origo unserer Welt. Makrobius’ Kommentar macht damit einen Aspekt deutlich, der auch Lukrez’ Argumentation innewohnt: Die Schrift bildet das doppelte Bindeglied zwischen res gestae und ars, deren jeweilige novitas gemeinsam auf die novitas der Welt zurückzuführen ist. Die Entdeckung der Schrift (elementa reperta), die Lukrez erst gegen Ende des Buchs erwähnt und die den Beginn der Überlieferung der Geschichte darstellt (carminibus cum res gestas coepere poetae tradere) (5.1444–1447), bildet das geheime Zentrum, in dem seine Poetik und Kosmologie konvergieren.594 Lukrez’ Digression handelt allgemein von der Verschriftlichung der Vergangenheit, aber auch insbesondere von seiner eigenen Verschriftlichung und Verdichtung der Welt. Weil er mit Epikur die natura rerum entdeckt, kann er die Grundlage und Vorgeschichte der tradierten res gestae in seiner Dichtung verschriftlichen. Die res gestae, welche die anderen Dichter überlieferten, stellen nämlich aus der Perspektive der epikureischen Ontologie oberflächliche Phänomene dar, die Epikur als ›Symptome‹ (συμπτώματα) (Her. 70) und Lukrez als ›Ereignisse‹ (eventa) kategorisieren,595 die wie alle Phänomene auf den tieferliegenden Körpern (Atomen) und dem Raum (Leere) beruhen: Wenn sich Atome und Leere zu zusammengesetzten Raum-Körpern (coniuncta = συμβεβηκότα) verbinden, weisen sie sekundären Qualitäten auf (die Schwere eines Steins, die Hitze des Feuers, die Flüssigkeit des Wassers), die substanziell zu ihrem Wesen gehören. Dahingegen sind eventa, wie Lukrez im ersten Buch schreibt, gleichsam 594 Die Erfindung des Alphabets bildet den Höhepunkt von Lukrez’ kulturgeschichtlicher Rekonstruktion, auch wenn die Anordung der Verse gegen Ende des Buchs teilweise umstritten ist: Vgl. Adelmo Barigazzi, »Sulla chiusa del libro V di Lucrezio«, in: Prometheus. Rivista di studi classici, 15, Nr. 1 (1989), S. 67–79, insb. S. 70f. Mit den elementa reperta skizziert Lukrez die historischen und medialen Voraussetzungen seiner eigenen Dichtung. 595 Vgl. Wardy, »Lucretius on What Atoms are Not«, S. 117f.
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tertiäre Qualitäten, die den zusammengesezten Atomen, den coniuncta, akzidentiell zukommen, da sie sich von diesen lösen lassen, ohne sie zu zerstören (1.449–454).596 Als eventa nennt Lukrez Phänomene aus der menschlich-moralischen Sphäre (Knechtschaft und Freiheit, Armut und Reichtum, Krieg und Frieden) sowie die phänomenale und historische Zeit (tempus), die wir nur anhand der Körper und nicht per se, d. h. unabhängig von deren Bewegung (semotum ab rerum motu), wahrnehmen können (1.455–463).597 Genauso ist für Epikur die Zeit nicht von den συμπτώματα zu trennen (Her. 72f), weshalb er sie – laut Sextus Empiricus – als ›Symptom aller Symptome‹ oder ›Ereignis aller Ereignisse‹ (σύμπτωμα συμπτωμάτων) definierte (adv. math. 10.219). Epikurs Zeittheorie lässt sich aufgrund unserer schlechten Quellenlage kaum rekonstruieren und es ist umstritten, inwieweit Lukrez ihr überhaupt folgt.598 Viele Details der epikurischen eventa-Lehre bleiben daher im Dunkel. Entscheidend ist, dass Lukrez’ Darstellung im Unterschied zu Epikurs Epistola ad Herodotum die historische Zeit, die res gestae, eindeutig zu den eventa zählt.599 Lukrez’ Beispiel ist der Trojanische Krieg, den er als eventum von Städten und geografischen Regionen (aliud tectis, aliud regionibus ipsis eventum) (1.469f) versteht. Die ausführliche Schilderung lautet bei Lukrez (1.471–482): Denique materies si rerum nulla fuisset nec locus ac spatium, res in quo quaeque geruntur, numquam Tyndaridis forma conflatus amoris ignis, Alexandri Phrygio sub pectore gliscens, clara accendisset saevi certamina belli, nec clam durateus Troiianis Pergama partu inflammasset equos nocturno Graiiugenarum; perspicere ut possis res gestas funditus omnis non ita uti corpus per se constare neque esse, 596 Ausführlich über diese Unterscheidung von coniuncta (συμβεβηκότα) und eventa (συμπτώματα), die in der Epistola ad Herodotum nicht immer eindeutig ist: Giussani, T. Lucreti Cari De rerum natura, Bd. 1., S. 32–38. 597 Lukrez spielt damit, dass er das reflexive Pronomen se in per se mit dem Präfix in semotum kontrastiert, das er etymologisierend als se … motu zusammensetzt. An anderen Stellen trennt er das Präfix se von Worten ab (Tmesis), um ihren Status als abhängiges coniunctum oder eventum zu illustrieren: Vgl. Stephen Hinds, »Language at the Breaking Point: Lucretius 1.452«, in: The Classical Quarterly, 37, Nr. 2 (1989), S. 450–453. 598 So vermutet Bailey, dass Lukrez hier von Epikurs Epistola ad Herodotum abweicht, um gegen die Stoiker zu polemisieren, welche die Zeit als körperlos (ἀσώματον) bezeichneten: Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 2, S. 459f. Möglicherweise bezieht sich aber Lukrez auf Epikurs Περὶ φύσεως oder irgendeine verlorene Quelle. 599 Zinn bemerkt zu Recht: »Whereas Epicurus focuses the discussion on atoms and their movements, Lucretius focuses on the res gestae of living creatures, indicating that his concern lies as much with the perception of time as it does with the nature of time.« Pamela Zinn, »Lucretius on Time and Its Perception«, in: Kriterion. Journal of Philosophy, 30, Nr. 2 (2016), S. 125–151, hier S. 129.
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Vertere
nec ratione cluere eadem qua constet inane, sed magis ut merito possis eventa vocare corporis atque loci, res in quo quaeque gerantur. Wenn es endlich keine Materie der Dinge gegeben hätte und weder Ort noch Raum, in dem sich alle Dinge abspielen, dann wäre niemals das Feuer der Liebe, das im phrygischen [trojanischen] Herzen des Alexander [Paris] entbrannte, durch die Wohlgestalt der Tyndarostochter [Helena] entfacht worden und hätte die hellen [berühmten] Kämpfe des wilden Krieges entfacht, noch hätte das hölzerne Pferd, unbemerkt von den Trojanern, durch die nächtliche Geburt der Griechen die Festung Pergama [Troja] entflammt; so dass du durchschauen kannst, dass alle res gestae in der Tiefe nicht existieren wie der Körper für sich besteht, noch sagst, dass sie auf dieselbe Weise wie die Leere bestehen, sondern vielmehr so, dass du sie zurecht nennen kannst eventa des Körpers und des Ortes, in dem sich alle Dinge abspielen müssen.
Die Geschichte Trojas vom Raub der Helena bis zur Zerstörung der Stadt wird gleichsam als historisches Faktum in wenigen Versen resümiert.600 Das Augenmerk liegt auf der affektiven Ursache der res gestae, auf dem Feuer (ignis) der irrationalen Leidenschaft des Paris, das heftige Kämpfe entzündet, die hell und berühmt (clara certamina) aufleuchten und schließlich die Festung Trojas in einem Meer aus Flammen versinken lassen (inflammare).601 Insofern gebiert das trojanische Pferd gleichzeitig mit den Griechen die verborgene Macht der menschlichen Leidenschaften, die aus dem dunklen Versteck der Nacht ins Helle tritt und ihr wahres Gesicht zeigt. Das Wesen der Geschichte scheint aus dieser Perspektive tragisch und widerspricht der epikureischen ἀταραξία, die alles aus sicherer Distanz betrachtet. Der epikureische Weise vermag sich von den historischen eventa zu distanzieren, indem er erkennt, dass diese nicht per se wie Körper (corpus) oder Leere (inane) existieren, die den Mutterstoff (materies) bzw. den unverrückbaren Schauplatz (locus) und Raum (spatium) erzeugen, in dem sich alle res vollziehen.602 Darum wählt Lukrez für die eventa ausschließlich Beispiele aus dem Bereich einer menschlich-moralischen Sphäre. Die eventa sind ein verhängnisvolles affektives Geschehen, aus dem der Philosoph in lichtvolle Tempel (templa serena) flüchten muss, um sie lustvoll zu betrachten, wie jemand, der die Schiffsnot anderer vom Festland aus erblickt (2.1–3). Wenn Lukrez den Trojanischen Krieg als Beispiel für eventa anführt, dann degradiert er dieses heroische Ereigniss zu einem akzidentiellen Geschehen. 600 In Lukrez’ Zeit ging man gemeinhin von einem historischen Kern der homerischen Epen aus. Auch Lukrez behandelt den Trojanischen Krieg als res gesta und blendet dabei dessen mythischen Komponenten aus. Ausführlich über die Rezeption des Trojanischen Kriegs bei den Römern und bei Lukrez: Erich Ackermann, Lukrez und der Mythos, Wiesbaden: Steiner Verlag, 1979, S. 46–53. 601 Vgl. West, The Imagery and Poetry of Lucretius, S. 86. 602 Vgl. James Warren, »Epicureans and the Present Past«, in: Phronesis, 51, Nr. 4 (2006), S. 362– 387, S. 371.
Novitas: Neuheit der Welt und der wahren Dichtung (5.324–337)
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Eines der wichtigsten Themen der griechischen Epik, das auch den Ausgangspunkt der römischen Ursprungsmythen bildet, die Naevius, Ennius und später Vergil besangen, wird zu einem nebensächlichen Effekt der natura rerum erklärt,603 deren verborgenes Wesen Lukrez in seiner eigenen philosophischen Epik erkundet: So schildern seine ersten beiden Bücher die Atome und die Leere, welche die Grundlage aller res und damit der res gestae bilden. Die Kinetik der Atome ist ein physikalisches Geschehen – eine ›Atomzeit‹ –,604 welche die historische Zeit erst ermöglicht und Atomverbindungen, coniuncta, hervorbringt, an denen sich die eventa vollziehen. Die genitalis origo und die exordia der Welt, ihre schöpferische Quelle und ihr Anfangsgewebe, entstehen somit aus den corpora genitalia bzw. den primordia der Atome, welche die eigentlichen Helden der lukrezischen Epik darstellen. Das dritte und vierte Buch erklärt die Natur der menschlichen natura animai sowie die Ursachen der Erkenntnis und der Affekte. Dabei warnt Lukrez v. a. vor erotischen Leidenschaften, die auf simulacra beruhen und deren destruktiver Charakter sich nicht zuletzt in der Geschichte Trojas zeigte. Das fünfte Buch erzählt schließlich die Entstehung der Menschen und ihrer Kulturgeschichte, die in der Erfindung von Waffen, des Festungsbaus und der Schifffahrt, mündet, ohne die eventa wie der Trojanische Krieg unmöglich wären. Wenn Lukrez sagt, dass es keine anderen Dichter (alii poetae) gibt, welche andere Dinge (aliae res) vor dem Thebanischen oder Trojanischen Krieg besangen, dann meint er andere frühere Dichter als Homer, aber auch andere Dichter als sich selbst. Denn im Gegensatz zu seinen poetischen Vorgängern, die bloß Episoden der Menschheitsgeschichte verewigen, verschriftlicht Lukrez als poeta die Weltgeschichte von ihren Anfängen bis in die Gegenwart und erklärt – anders als Homer oder Ennius – ihre wahren Ursachen.605 Er geht sogar über die aktuelle Gegenwart hinaus, indem er, wie wir noch sehen werden, wiederholt den künftigen Untergang der Welt verkündet und beschreibt. Die 603 Hardie bringt diesen polemischen Aspekt der Passage auf den Punkt: »Lucretius argues that time has no existence in itself separate from bodies and their motion. Events in the past have no per se existence, but are accidents of the places where they occurred, and of the bodies and the spaces once occupied by those bodies. In one of his most brutal acts of reduction, Lucretius presents five lines of richly imagistic and epicizing summary of the Trojan War from the Rape of Helen to the Sack of Troy: all this, the stuff of traditional epic, the narrative that lies at the origin of the foundation and history of Rome, vanishes into insubstantiality compared with the reality of atoms and space.« Hardie, Lucretian Receptions, S. 5. Das heißt jedoch nicht, dass Lukrez in philosophischer Hinsicht unbedingt ein Präsentist ist, der die Existenz der Vergangenheit leugnet, wie Warren unterstreicht: a. a. O., insb. S. 374–377. 604 Es ist umstritten, ob diese Zeit selbst diskontinuierlich (atomar) oder, wie Zinn meint, kontinuierlich ist. Jedenfalls muss es eine Unterscheidung zwischen einer physikalischen und phänomenalen Zeit geben. Obwohl Lukrez die Zeit in Bezug auf unsere Wahrnehmung (sensus) thematisiert, muss diese auch unabhängig von ihrer Wahrnehmung existieren: Zinn, »Lucretius on Time and Its Perception«, insb. S. 135f. u. S. 140. 605 Vgl. Gale Myth and Poetry in Lucretius, S. 109f.
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Vertere
Gleichsetzung der Literatur- und Weltgeschichte, auf der die Digression über die novitas der Welt beruht, verwirklicht sich daher erst in seinem eigenen Werk. Die Grenzen des De rerum natura bedeuten gleichsam die Grenzen unserer Welt.606 Nun ist unsere Welt nur ein winziger Teil des unendlichen Kosmos, dem omne immensum, in dem es nach epikureischer Kosmologie unzählige Welten gibt, die unserer gleichen müssen und die wie diese von unterschiedlichen Lebewesen bevölkert werden (2.1067–1089).607 Diese Einsicht ist für die uneingeweihten Menschen eine nova res und ein neuer Anblick, nova species (2.1024f), weshalb Lukrez seinen Leser auffordert, sich von der novitas seiner Kosmologie nicht abschrecken zu lassen (exterrere) (2.1040). Wie er von Anfang an sagt, hat sein Werk mit nova verba und rerum novitas zu tun (1.138f), was sich auch in den neuen Blüten (novi flores), mit denen er in seiner Dichterweihe von den Musen gekrönt wird (1.927f), zeigen wird. Diese novitas seines Werks resultiert sowohl aus der novitas unserer Welt als auch daraus, dass es ihre Grenzen sprengt, sei es durch die Beschreibung des Weltuntergangs oder die der Unendlichkeit der Welten. Deshalb stellt De rerum natura nicht nur die Grenzen unserer Welt, sondern auch die Grenzen des Kosmos dar, den alte terminus haerens, der, wie gesagt, das gesamte kosmischen Werden einschränkt. Darum entsprechen die Buchstaben (elementa) seines Werks den Grundelementen der Welt (elementa), die sich wie die Buchstaben der Sprache nicht völlig willkürlich kombinieren lassen. Wir dürfen uns nicht – allein auf das leere Wort der novitas gestützt (nixus in hoc uno novitatis nomen inane) – irgendwelche beliebigen Dinge vorstellen (fingere) (5.908–910), denn wir müssen uns an das halten, was gemäß der atomistischen Ontologie möglich ist. Die novitas ist weder leer noch unbegrenzt, da sie durch einen terminus beschränkt wird, der zugleich den Anfang und das Ende unserer Welt bestimmt. Die Einzigartigkeit und relative Unsterblichkeit von Lukrez’ Dichtung besteht gerade darin, dass sie die Einzigartigkeit und Unsterblichkeit unserer Welt bestreitet. Das schließt nicht aus, dass es nicht in irgendeiner anderen Welt irgendeinen anderen Dichter – ein alter ego von Lukrez – gibt, der sich ebenfalls der Übersetzung (in patrias vertere voces) der wahren Lehre widmet.608 Die novitas besteht 606 Schiesaro treibt dieses Argument auf die Spitze, wenn er die Entstehung des Gedichts im Geist des Lesers und dessen Anfang (Venushymnus = Geburt) und Ende (Pest in Athen = Tod) mit der zyklischen Entstehung und Vernichtung der Welten vergleicht: Schiesaro, »The Palingenesis of De Rerum Natura«, insb. S. 90–93. Selbst wenn diese Deutung spekulativ ist, weist sie doch auf den kosmischen Charakter von Lukrez’ Gedicht, das mit Epikur die Grenze dessen, ›was entstehen kann und was nicht‹ (quid possit oriri, quid nequeat), bestimmen will (1.75f). 607 Vgl. James Warren, »Ancient Atomists on the Plurality of Worlds«, in: The Classical Quarterly, 54, Nr. 2 (2004), S. 354–365, insb. S. 359f. 608 Montaigne merkt in seinem Exemplar des De rerum natura an, dass die Kombinationen der Atome nach lukrezischer Lehre so vielfältig sind, dass es nicht unwahrscheinlich wäre, wenn
Repertus sum: Selbst(er)findung des Übersetzers (5.336f)
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nicht in ihrer prinzipiellen Unwiederholbarkeit, sondern in der unaufhörlichen Neukombination der Atome. Das Neueste ist zugleich das Uralte.609 Wer dies durchschaut, den bringt nichts mehr aus der Ruhe. Die Einsicht in die novitas, die uns zunächst erregt, führt seltsamerweise zum Seelenfrieden, zur ἀταραξία.610 Denn dem wahren Philosophen ist wie den Göttern, die in den lichten Zwischenwelten leben, jede Neuerungssucht oder Liebe zur Neuheit, amor novitas, zutiefst fremd (5.173). Lukrez’ Stolz auf seine unerhörte novitas muss darum der epikureischen ἀταραξία weichen, die aus der Perspektive des ewigen Kosmos – sub specie aeternitatis – alle eventa als Effekt der unendlichen Wiederholung der immergleichen elementa betrachtet.
2.
Repertus sum: Selbst(er)findung des Übersetzers (5.336f )
Lukrez führt in seiner diskutierten Digression sein poetisches ego als Entdeckung ein: »denique natura haec rerum ratioque repertast | nuper, et hanc primus cum primis ipse repertus | nunc ego sum in patrias qui possim vertere voces (Schließlich wurde vor kurzem diese Natur der Dinge und Lehre gefunden und ich wurde selbst jetzt als Erster unter Ersten gefunden, der es vermag, diese in väterliche Stimmen zu wenden).« Ipse repertus nunc ego sum heißt passiv verstanden ›ich selbst wurde jetzt entdeckt‹, ›gefunden‹, lässt sich aber auch mediopassiv lesen: ›ich selbst erschien jetzt‹ oder ›ich (er)fand mich jetzt selbst‹.611 Egal wie wir die Konstruktion auflösen, Lukrez vollzieht hier eine außergesie in einer anderen Welt einen anderen Montaigne hervorbrächten, eine Bemerkung, die übrigens zur Identifizierung des unsignierten Exemplars beitrug: Greenblatt, The Swerve, S. 248f. 609 Diese ontologische Konsequenz entspricht der antiken Ästhetik, die im Unterschied zur modernen das Neue in der Regel weniger als Bruch oder Negation, sondern als kreative Umdeutung und Überformung der Tradition auffasst: Vgl. Wolfram Kinzig, »Die Kategorie des Neuen in der alten Literatur. Anmerkungen zur literaturästhetischen Verwendung des Neuheitsbegriffes in der lateinischen Antike«, in: Arcadia, 25, Nr. 2 (1990), S. 113–126, insb. S. 117. 610 Der Schock der novitas wird durch das epikureische Verbot des Staunens – siehe Horaz’ berühmtes nil admirari (epist. 1.6.1), das vermutlich auf Demokrit zurückgeht – zurückgenommen und neutralisiert. Dennoch gibt es in Lukrez’ Gedicht eine Spannung zwischen Rationalismus und Staunen, »a certain tension between the constant reassurance that the world is not full of mirabilia and the poetic interest in the strange and marvelous«, wie Fowler formuliert: Fowler, Lucretius on Atomic Motion, S. 386. 611 Während sich die meisten Übersetzer wie Bailey für das Passiv entscheiden, »[…] and I myself was found the very first of all […]«, wählt Büchner das Mediopassiv, »[…] und ich erfand mich als erster mit ersten […]«: Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 1, S. 449; Büchner, Titus Lucretius Carus, Welt aus Atomen, S. 377. Büchners Übersetzung ist, wie wir bald sehen werden, hinsichtlich der relativierenden Deutung des primus cum primus eine durchaus gangbare Alternative.
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Vertere
wöhnliche Selbstsetzung. Dies ist nämlich die einzige Stelle in De rerum natura, in der die Verbform sum auftaucht, dessen Betonung durch die doppelten Pronomen ipse/ego und ihre Sperrstellung (Hyperbaton) verstärkt wird. Die Demonstrativpronomen (haec … hanc) sowie die Verdoppelung des Verbs reperire setzen Lukrez’ ego in Verhältnis zu Epikur: So wie diese wahre Natur und ihre Lehre, natura haec rerum ratioque, kürzlich von Epikur entdeckt wurden (reperire), wurde Lukrez erst jetzt entdeckt, bzw. entdeckte er sich selbst (reperire), der diese in die lateinische Sprache zu übersetzen vermag: et hanc … possim in patrias vertere voces. Dadurch wird Lukrez’ vertere selbst zu einer Wirkung oder Folgeerscheinung von Epikurs reperire, das nicht nur die natura rerum ratioque, sondern zugleich ihren römischen Übersetzer-Dichter mitentdeckt. Natura rerum ratioque ist eine Zwillingsformel, die analog der im ersten Kapitel besprochenen ›Betrachtung und Lehre der Natur‹, naturae species ratioque, die epikureische φυσιολογία bezeichnet, die Tätigkeit und Theorie der natura rerum, wobei sich das eingeschobene haec sowohl auf deren Darstellung durch Epikur wie Lukrez bezieht. Darum ist nicht klar, wer in dieser Konstellation eigentlich wen entdeckt. Entdeckt Epikurs reperire Lukrez oder Lukrez’ reperire Epikur? Wird Lukrez von den Musen, dem römischen Volk, dem Leser entdeckt,612 oder entdeckt er sich selbst? Jedenfalls erscheint das reperire als ein historisches und kosmisch anonymes Geschehen, das Epikur und Lukrez Rücken an Rücken rückt.613 Die beiden Philosophen werden durch die Konstruktion wie in einer Doppelherme verbunden, in der Epikur auf das einmalige reperire der natura rerum in der Vergangenheit blickt, während sich Lukrez’ repertus sum auf die Zukunft bezieht (die Konversion der Römer zum Epikureismus). Denn das vertere der natura rerum ratioque zielt auf die trostspendende Verbreitung der epikureischen Lehre unter den Völkern, die, wie es im fünften Proömium heißt, erst gegenwärtig im Gange ist (NUNC etiam per magnas didita gentis | dulcia […] solacia vitae) (5.20f) und die auch die Römer nunc von irrationalen Ängsten und Begierden befreien wird. 612 Die beiden Möglichkeiten zieht Eckerman in Erwägung, der das repertus sum als Passiv deutet: »Emphatically enjambed at the beginning of 337 nunc and ego are sandwiched between repertus and sum, which together form the periphrastic perfect passive indicative. The position of nunc and ego, between participle and sum, stresses that Lucretius sees himself as ›now too‹ being found as one who is able to translate Epicureanism into Latin. Interestingly, it is not clear why Lucretius chooses the passive repertus sum. Who found him? He does not tell, but he may envision himself here as one found by the Muses or as one, capable of performing the task at hand, found among Roman society.« Chris Eckerman, »Lucretius’ Self-Positioning in the History of Roman Epicureanism«, in: The Classical Quarterly, 63, Nr. 2 (2013), S. 785–800, S. 793f. 613 Hierzu Segal: »The parallelism of ratio repertast and ipse repertus nunc / ego presents Lucretius himself as the final ›invention‹ in the progress of human history. Like Epicurus, he becomes both a part of the movement from the past to the present and a fact of man’s life in the present moment.« Segal, Lucretius on Death and Anxiety, S. 216f.
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Das reperire spielt in Lukrez’ Vokabular eine ausgezeichnete Rolle. Wie mehrfach gesagt, spricht er von Epikurs obscura reperta und beteiligt sich selbst aktiv am reperire der natura rerum, weshalb er sein Gedicht als Entdeckung, carmina reperta, bezeichnet, die durch ihre rhetorisch-poetischen Qualitäten des inlustrare Empedokles’ strahlenden Funden, praeclara reperta, gleichkommen will. Deshalb zählt sich Lukrez auch selbst, wie gezeigt, zu den repertores doctrinarum atque leporum, an deren Spitze er Epikur stellt, der sogar Homer überstrahlt. Reperire kann hierbei sowohl das ›Auf-‹ und ›Wiederfinden‹ bereits existierender Dinge wie das ›Erfinden‹ von etwas völlig Neuem bedeuten. Die Vorstellung, dass das Dichten in erster Linie ein Auffinden von Themen und Ausdruckformen ist, reicht bis in die archaische griechische Lyrik zurück,614 wohingegen die Betonung der Neuschöpfung eher ein Topos der hellenistischen Literatur ist. Beide Vorstellungen schlagen sich in Lukrez’ Poetik nieder: Lukrez entdeckt die natura rerum, die vor ihm entdeckt wurde und seit Ewigkeiten existierte. Gleichzeitig erfindet er eine neue sprachliche Form, das lateinische didaktische philosophische Epos, weshalb er auf der novitas seiner Dichtung beharrt.615 Dieses Spannungsverhältnis antizipiert die späteren Reflexionen über die ›kreative Imitation‹ bei den augusteischen Dichtern, die, wie im zweiten und dritten Kapitel ausführlich dargelegt, wie Lukrez Innovation und Tradition zu versöhnen trachten. Das Besondere von Lukrez’ Konzeption liegt jedoch darin, dass sie den Prozess des reperire in einen kosmologisch-kulturgeschichtlichen Rahmen einbettet: Die repertores werden im Laufe der Welt- und Kulturgeschichte selbst entdeckt oder erfunden.616 Dadurch werden Möglichkeiten (Autoren), die seit jeher in der atomaren Konstitution angelegt sind, durch das reperire der großen Entdecker, die zugleich die Bedingung der Möglichkeit des reperire offenbaren, entbunden. Denn repertus sum beschreibt die Entdeckung eines Entdeckers und genauso wird Epikur zu Beginn des sechsten Proömiums als ›entdeckter Mann‹ (vir repertus) eingeführt (6.1–8): Primae frugiparos fetus mortalibus aegris dididerunt quondam praeclaro nomine Athenae et recreaverunt vitam legesque rogarunt,
614 Vgl. Gentili, Poesia e pubblico nella Grecia antica, S. 87–93. 615 Das reperire weist in diesem Sinn einen konstruktivistischen Aspekt auf, wie Kennedy betont: »Lucretius may see his task merely as that of translation into Latin of ›things uncovered‹ (reperta) already by the Greek atomists, but in certain respects, the challenges he faces can be regarded as comparable as he seeks to re-present these ›discoveries‹ in a language which has no ready-made vocabulary for atomism. His task may be viewed as one of contruction […].« Kennedy, Rethinking Reality, S. 67. 616 So auch Clay: »By this view of history, discoverers are themselves discovered.« Clay, Lucretius and Epicurus, S. 52.
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Vertere
et primae dederunt solacia dulcia vitae, cum genuere virum tali cum corde repertum, omnia veridicio qui quondam ex ore profudit; cuius ex extincti propter divina reperta divolgata vetus iam ad caelum gloria fertur. Als Erste hatte fruchtbringende Saat den leidenden Menschen ehemals gespendet Athen, [die Stadt] mit dem strahlenden Namen, und das Leben erquickt und Gesetze gestiftet; und als Erste spendete [sie] dem Leben süße Trostworte, als sie den Mann, der mit solchem Herzen entdeckt wurde, gebar, der ehemals alles aus wahrsagendem Mund verkündete; dessen Ruhm, auch wenn [sein Lebenslicht] erloschen ist, wurde längst aufgrund seiner göttlichen Entdeckungen unter das Volk gebracht, jetzt [aber] wird er zum Himmel getragen.
Das letzte Buch eröffnet mit einem Lobpreis Athens, derjenigen Stadt, mit deren Heimsuchung durch die Pest es enden wird.617 Athen hat den Menschen als erste (primae) Wiege der Zivilisation den Ackerbau und die Rechtsprechung gelehrt. Insbesondere hat sie aber als Erste (primae) dem menschlichen Leben die süßen Trostworte, solacia dulcia, der epikureischen Lehre gespendet, da sie den Mann Epikur gebar und ihn mit einem solchen Herzen (Geist) vorfand und entdeckte (reperire), dass er alles, die ganze natura rerum, enthüllen und verkünden konnte. Das Lob Athen ist ein bloßer Vorwand, um die gloria Epikurs unter dem Volk zu verbreiten (divolgare), der schon längst wegen divina reperta bekannt war, aber erst jetzt (iam) durch Lukrez’ Dichtung in den Himmel erhoben wird.618 Indem sich Lukrez selbst an der Popularisierung – dem divolgare der epikureischen Botschaft – beteiligt, verschafft er Epikur eine poetische Unsterblichkeit, die der epikureischen Lehre von der Vergänglichkeit aller Dinge augenscheinlich widerspricht.619
617 Anfang und Ende des sechsten Buchs bilden eine organische Einheit, wie nicht nur Farrell bemerkt: »The proem celebrates Athens as a parent that gave ›fruitful progeny‹ (frugiparos fetus, 1) to mortals and that ›remade life‹ (recreaverunt vitam, 2) when it ›gave birth‹ (genuere, 5) to Epicurus. But the book concludes with the ghastly image of that city in the grip of plague. This contrast endows the book with an organic shape modelled on that of human lifespan.« Farrell, »Lucretian Architecture«, S. 79. Darüber hinaus knüpft das sechste Proömium auch an das fünfte Buch an, wenn es Athen als einen Höhepunkt der zuvor geschilderten Kulturentwicklung feiert. Hierzu: Francesco Giancotti, L’ottimismo relativo nel De rerum natura di Lucrezio, Turin: Loescher, 1968, S. 180f. 618 Ich lese das iam wie Rouse und Smith in ihrer Übersetzung nicht als Verstärkung von vetus (›schon längst‹), sondern als Gegensatzt (›längst … jetzt‹): »[…] his divine discoveries has been long since published abroad and is now exalted to the skies.« Rouse/Smith, Lucretius, De Rerum Natura, S. 493. 619 Vgl. Myrto Garani, »The Negation of Fame: Epicurus’ Meta-fama and Lucretius’ Response«, in: Libera Fama. An Endless Journey, hg. v. Stratis Kyriakidis, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing, 2016, S. 28–44, hier S. 41–44.
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Das primus-Motiv wird dabei von Athen auf Epikur übertragen, der, wie wir gesehen haben, im ersten Proömium als primus einführt wird, der die religio zerstört, und im dritten als rerum inventor und als primus, der die wahren Güter des Lebens zu erleuchten (inlustrare) vermag. Epikur, so das fünfte Proömium, erfand als erster die Lebens-Lehre, die man jetzt (nunc) Weisheit (Philosophie) nennt (princeps vitae rationem invenit eam quae NUNC appelantur sapientia) (5.9f), und überstrahlt durch seine divina reperta alle anderen alten göttlichen Erfindungen, divina aliorum antiqua reperta, bei weitem (5.13–46). Die epikureischen reperta beruhen auf dem reperire Epikurs, das in Athen begann und sich mit Lukrez in Rom fortpflanzt. Epikurs Entdeckung ist ein historisch einmaliges und lokales eventum, das mithilfe von Lukrez’ vertere die zeitlichen und geografischen Schranken durchbricht und alle eventa transzendentiert. Das ›Hineingehen‹, invenire, in die verborgene natura rerum ist eine Gegenbewegung zum evenire, dem ›Hervorgehen‹ der eventa. Darum ist die Bezeichnung Epikurs im letzten Proömium als vir repertus kein akzidentielles Attribut, sondern substantieller Bestandteil einer philosophischen und poetologischen Heuristik, die das gesamte De rerum natura grundlegend durchzieht.620 Die Geschichte des reperire, an deren Höhepunkt sich Lukrez gemeinsam mit Epikur verortet, ist eine zwiespältige Angelegenheit:621 Einerseits stellt Lukrez die Entwicklungen der Kulturgeschichte, z. B. die sukzessive Entdeckung der Metalle (aes atque aurum ferumque reperta) (5.1241), die Erfindung der Rohrflöte (tibia reperta) (5.1385), der Fellbekleidung (vestis ferina reperta) (5.1419) oder der Buchstaben (elementa reperta) (5.1445), als einen Fortschritt dar, einen lichtvollen Prozess, der die menschliche Zivilisation schrittweise zum summum cacumen führt. Andererseits beschreibt er, wie der technologisch-kulturelle Fortschritt die Menschheit schrittweise ins Verderben stürzt: Die Erfindung der religio versetzt die Menschen in permanente Furcht und Angst und verführt sie zu blutigen Opfern (5.1161–1203). Die Erfindung der Kleidung schürte den Neid und führte zu Totschlag (5.1419–1422). Die Entdeckung des Goldes nahm den Starken und Schönen die Ehre und verleitete sie zu Habgier und Ehrsucht. Die Entdeckung neuer Kulturtechniken bewirkt Verdruss gegenüber dem Alten und schafft neue Begierden, welche die Menschen in Unruhe versetzen (4.1412–
620 Wenn Bailey in seinem Kommentar behauptet, dass repertus nicht anderes als das Partizip von sum bedeutet, dann übersieht er, wie Duban zeigt, die zentrale Bedeutung der Heuristik des reperire: Duban, »Ratio divina mente coorta«, S. 50f. Ebenso macht Gale auf den Paralellismus von Lukrez’ repertus sum und Epikurs vir repertus aufmerksam: Gale, Lucretius, De Rerum Natura V, S. 134f. 621 Allgemein über Lukrez’ ambivalente Haltung gegenüber dem kulturellen Fortschritt: Segal, Lucretius on Death and Anxiety, S. 214–225.
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1415).622 Insbesondere geißelt Lukrez in seiner pessimistischen Sicht das reperire der Metalle und die darauffolgende Erfindung von Waffen, die schließlich zur Brutalisierung des Kriegs beitragen, der sich täglich vermehrt (5.1305–1307): »sic alid ex alio peperit discordia tristis, | horribile humanis quod gentibus esset in armis, | inque dies belli terroribus addidit augmen (So gebar die triste Zwietracht eins aus dem anderen, damit sie furchtbar in den Kämpfen der Menschenvölker sei, und täglich trug sie durch diese Schrecken zum Wachstum des Kriegs bei).« Das alid ex alio führt also nicht nur – wie mehrfach zitiert – in die Zonen des Lichts (… in luminis erigit oras; alid ex alio clarescere corde videbant …) (5.1455f), sondern auch in die Schattenseite der Menschheitsgeschichte, die Erweckung der Zwietracht (discordia), deren Fratze sich auch im römischen Bürgerkrieg zeigen wird.623 Wie Lukrez anhand seines berüchtigten Exkurses über den Einsatz von Löwen, Elefanten und Wildschweinen im Krieg veranschaulicht, wenden sich die wildgewordenen Bestien am Schlachtfeld wahllos gegen alle Beteiligten – die lebendigen Waffen richten sich gegen ihre eigenen Herren (5.1308–1349).624 Der technologische und kulturelle Fortschritt geht für ihn folglich mit einer moralischen Dekadenz einher, die in der Gegenwart ihren Tiefpunkt erreicht. Überdies ist die Erde, die in den Anfängen der Menschheit alle Nahrungsmittel von selbst (sponte sua) üppig spendete, jetzt vom Alter erschöpft, weshalb sie nun im Schweiße unseres Angesichts beackert werden muss.625 Diese Altersschwäche der Welt, die Lukrez wiederholt anspricht (2.1157–1174 u. 5.826– 836) und mit ihrer ehemaligen blühenden Jugend (novitas florida mundi) (5.943) kontrastiert, ist nicht unbedingt ein Widerspruch zur novitas der Welt. Das Alter bzw. die Neuheit der Welt ist eine Frage der Perspektive: Hinsichtlich der Kosmologie ist die Welt jung, obwohl sie hinsichtlich der kurzen Menschheitsgeschichte alt erscheinen mag.626 Der Gipfel der Zivilisation ist der höchste Punkt, von dem aus es in kosmologischer Weise nur noch abwärts gehen kann (2.229– 233). Was bleibt, ist allein die moralische Rettung der Menschheit in der Ge622 Vgl. E. R. Dodds, The Ancient Concept of Progress and other Essays on Greek Literature and Belief, Oxford: Clarendon Press, 1973, S. 20f. 623 Vgl. Martha Nussbaum, The Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton u. a. Princeton University Press, 2009, insb. S. 259–264. 624 Zur Funktion dieses Exkurses, der oftmals als bizarr und überflüssig angesehen wurde: Charles Segal, »War, Death and Savagery in Lucretius: The Beasts of Battle in 5.1308–49«, in: Ramus, 15, Nr. 1 (1986), S. 1–34, insb. S. 1–4. 625 Lukrez rationalisiert in seiner Kulturgeschichte den Mythos eines goldenen Zeitalters, wie wir ihn bereits bei Hesiod finden. Darum entwickelt Vergil in seinen Georgica seine eigene Vorstellung eines goldenen Zeitalters in Auseinandersetzung mit Lukrez: Emanuele Castorina, »Sull’età dell’oro in Lucrezio e Virgilio«, in: Studi di storiografia antica. In memoriam di Leonardo Ferrero, hg. v. Carlo Gallavotti u. Leonardo Ferrero, Turin: Bottega d’Erasmo, 1971, S. 99–114. 626 Vgl. Gale, Lucretius, De Rerum Natura V, S. 133f.
Vertere: Übersetzung als Verwandlung (von Plautus bis Hieronymus)
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genwart. So wechselt Lukrez geschickt von der Jugend zum Alter und zum Untergang der Welt, vom technologischen Fortschritt zum moralischen Rückschritt, und erwähnt die gegenwärtigen politischen Unruhen in Rom (patriai tempus iniquum) (1.41), um sein eigenes vertere als einen Wendepunkt darzustellen. Diese Dialektik von Optimismus und Pessimismus, die früher hin und wieder einer geistigen Gleichgewichtsstörung des Autors zugeschrieben wurde627 – dem im dritten Kapitel genannten Anti-Lukrez im Lukrez –, können wir aber auch abseits psychologistischer Spekulationen deuten, nämlich als Ausdruck des poetologischen Chiaroscuro, das den didaktischen Plot des Werks dramatisiert: Je düsterer Lukrez den Zustand der Welt und der Menschheit schildert, umso dringlicher erscheint sein eigenes vertere und umso heller leuchten die praeclara reperta seiner Dichtung, die dem Leser moralische Erneuerung versprechen. Der heuristische Aspekt seines inlustrare, das philosophische und poetische reperire, kompensieren – auch wenn es die Degeneration der Welt nicht aufhalten kann – die Kollateralschäden unserer Zivilisation.628
3.
Vertere: Übersetzung als Verwandlung (von Plautus bis Hieronymus)
Wenn Lukrez seine eigene Tätigkeit als in patrias vertere voces, ›in väterliche Stimmen wenden‹, bestimmt, bedient er sich eines Verbs, das tief in der römischen Literaturgeschichte verwurzelt ist. Das vertere gehört zum Vokabular der weitgefassten römischen Übersetzungstätigkeit und taucht in diesem Kontext in den ältesten Werken der römischen Literatur auf. Seine Geschichte und Metaphorik inkludieren eine Transformation und einen radikalen Wandel: Erstmals begegnet uns das Verb als Bezeichnung einer poetischen Tätigkeit bei den
627 So führt Giussani, der Lukrez’ Pessimismus mit demjenigen von Leopardi vegleicht, diesen auf die politischen Umstände und Lukrez’ Charakter zurück: »La epicurea commedia della natura quasi diventa in Lucrezio una tragedia. Egli che canta il meno pessimista fra tutti gli antichi sistemi filosofici, ben di rado sorride; spesso iroso, ci ricorda talora il pessimismo leopardiano. Ma si avverta bene: è una questione di temperamento, non di dottrina, non di dottrina. […] La tristezza del suo canto viene dal suo carattere, dalle sue sventure, dai gravi pensieri per la patria.« Giussani, T. Lucreti Cari De rerum natura, Bd. 1., S. XXIII. Der Vergleich mit der Komödie und Tragödie spielt freilich auf Demokrit an, der, wie gesagt, die Atome mit Buchstaben verglich und betonte, dass so unterschiedliche Texte wie eine Komödie oder Tragödie aus denselben Buchstaben bestehen. Nehmen wir diese Anspielung ernst, dann scheint sowohl der Optimismus als auch der Pessimismus, die Giussani für reine Charaktersache hält, bereits in der atomistischen Lehre angelegt. 628 Vgl. Margaret Taylor, »Progress and Primitivism in Lucretius«, in: The American Journal of Philology, 68, Nr. 2 (1947), S. 180–194, inbs. S. 184f.
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frührömischen Komödiendichtern,629 die in den Prologen ihrer Komödien ihre eigene schriftstellerische Rolle reflektieren. Plautus schreibt etwa im Vorwort seines Trinummus (prol. 19): »Philemos scripsit, Plautus vortit barbare (Philemos schrieb [dieses Stück], Plautus wendete es barbarisch).« Ganz ähnlich sagt er in seiner Asinaria (prol. 11): »Demophilus scripsit, Maccus vortit barbare (Demophilos schrieb [dieses Stück], Maccus [Plautus]630 wendete es barbarisch).« Vortit barbare – dies ist der älteste überlieferte Versuch, die römischen Übersetzungstätigkeit auf eine Formel zu bringen, wobei vortere, die archaische Form von vertere, die griechischen Komödien von Philemos oder Demophilos in römische Stücke ›wendet‹ oder ›verwandelt‹ und zwar barbare, ›auf barbarische‹, ›fremdländische Weise‹. Das Adverb barbare bezieht sich hier auf die lateinische Sprache, die den Griechen bekanntlich als ›barbarisch‹ galt, und beschreibt gleichzeitig die Art und Weise von Plautus’ Übersetzung selbst, die ironisch verfremdet wird. Mit diesem Kunstgriff ›wendet‹ Plautus, der – wie die meisten Pioniere der römischen Literatur – nicht aus Rom stammt,631 den römischen Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Griechen ins Ironische und reflektiert seine eigene Literatursprache aus einer hellenisierenden Perspektive.632 Er betrachtet sein eigenes vortere gleichsam von außen, um es zum inneren Prinzip seines Schreibens zu machen, das seine griechischen Vorlagen romanisiert, ohne ihnen ihre Fremdheit völlig zu nehmen.633
629 Genaugenommen versteckt sich das vertere bereits im ersten Vers der Übersetzung der homersichen Odyssee durch Livius Andronicus, der, wie zitiert, Odysseus, den ›vielgewandten Mann‹ (ἀνήρ πολύτροπος), als ›gewandten‹, d. h. ›listigen Mann‹ (vir versutus), übersetzt. Vor dem Hintergrund der besonderen Bedeutung des vertere, können wir nicht ausschließen, dass Livius auf listige Weise zugleich einen ins Lateinische ›gewendeten‹ und ›übersetzten Mann‹ meint: Hinds, Allusion and Intertext, S. 61. 630 Der Name Titus Maccius Plautus ist ein sprechender Name, wobei man Maccius etwa mit ›Hanswurst‹ und Plautus als ›Plattfuß‹ übersetzen könnte: Vgl. Adrian Gratwick, »Titvs Maccivs Plavtvs«, in: The Classical Quarterly, 23, Nr. 1 (1973), S. 78–84. Der Autor tritt damit in der Maske eines Pseudonyms selbst als komische Figur auf und steht nicht über, sondern mitten in seiner eigenen Komödie. 631 Latein war wahrscheinlich weder die genuine Muttersprache von Livius Andronicus, Naevius, Ennius, Pacuvius, noch von Plautus, Statius Caecilius und Terenz. Die lateinische Literatur entstand in einem mehrsprachigen Umfeld und entwickelte sich großteils aus der kulturellen Peripherie: Vgl. Feeney, Beyond Greece, S. 65–69. 632 Vgl. Fögen, Patrii sermonis egestas, S. 44–46. 633 Plautus und zahlreiche andere frührömischen Autoren stehen damit, um mit Lotman zu sprechen, an der Grenze der römischen Semiosphäre: »Eine Grenze grenzt immer an etwas und gehört folglich gleichzeitig zu beiden benachbarten Kulturen, zu beiden aneinandergrenzenden Semiosphären. Die Grenze ist immer zwei- oder mehrsprachig. Sie ist ein Übersetzungsmechanismus, der Texte aus einer fremden Semiotik in die Sprache ›unserer eigenen‹ Semiotik überträgt; sie ist der Ort, wo das ›Äußere‹ zum ›Inneren‹ wird, eine filternde Mebran, die die fremden Texte so stark transformiert, dass sie sich in die interne Semiotik der Semiosphäre einfügen, ohne doch ihre Fremdartigkeit zu verlieren.« Jurij M.
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Auch der Komödiendichter Terenz spricht – circa eine Generation später – von einem vortere. Allerdings charakterisiert er damit nicht unmittelbar seine eigene Tätigkeit, sondern diejenige seines Konkurrenten Luscius Lanuvinus, gegen den er im Vorwort seines Eunuchus polemisiert (prol. 7f): »Qui bene vortendo et easdem scribendo male | ex Graecis bonis Latinas fecit non bonas […] (Dieser [Luscius] war gut beim Wenden [Übersetzen] und schlecht beim Schreiben derselben [Komödien], er machte aus guten griechischen schlechte lateinische [Stücke] […]).« Wie Plautus etabliert er eine Opposition von scribere und vortere, bezieht sie jedoch auf ein und denselben Autor und unterstreicht, dass ein vorgebliches bene vortere, eine Übersetzung, die allzu treu der Handlung des Originals folgt, noch kein bene scribere ausmacht, d. h. einen guten und wirksamen Text.634 So wirft Terenz Luscius in seiner Andria eine dunkle Beflissenheit (obscura diligentia) gegenüber seinen Modellen vor, wohingegen er selbst mit einer ungezwungenen Nachlässigkeit (neglegentia) unterschiedliche griechische Komödien kombiniert (prol. 9–21), ein Verfahren, das er, wie im zweiten Kapitel erwähnt, als transferre oder scherzhaft als ›Verunreinigung‹, contaminari bezeichnet. Selbst wenn Terenz anscheinend ganze Passagen griechischer Komödien Wort für Wort übersetzt (verbum de verbo expressum extulit), wie er im Stück Adelphoe gesteht (prol. 11), erweisen sich seine Komödien als Ganzes als freie Bearbeitungen.635 Sein contaminari, das zunächst ein pejorativer Begriff ist, der von seinen Gegnern vorgebracht wird und der u. a. ›beflecken‹, ›unsittlich berühren‹ bedeutet, wird dabei wie Plautus’ vortit barbare positiv aufgewertet und als selbständiges poetisches Verfahren profiliert, was sich deutlich im Prolog des Stücks Heautontimoroumenos zeigt (prol. 16–19): »Nam quod rumores distulerunt malevoli | multas contaminasse Graecas, dum facit | paucas Latinas: factum id esse hic non negat | neque se pigere et deinde facturum autumat (Denn obschon die Übelwollenden [Terenz’ Kritiker] das Gerücht verbreiten, dass er [Terenz] viele griechische [Komödien] verunreinigte, indes er wenige lateinische [aus ihnen] macht, leugnet er weder, dass er dies gemacht habe, noch schämt er sich, [sondern] beteuert, dass er dies weiterhin machen wird).« Anstatt Reue zu zeigen, besteht Terenz auf seinem ›unsittlichen‹ contaminari.636 Die römischen Komödien mögen zwar im Vergleich zu ihren Originalen als ›schmutzig‹ oder gar Lotman, Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, übs. v. Gabriele Leupold u. Olga Radetzkaja, Berlin: Suhrkamp, 2010, S. 182. 634 Vgl. Bettini, Vertere, S. 67–70. 635 Dies wird durch einen Vergleich mit den fragmentarisch überlieferten Originalen bestätigt: Vgl. Traina, Vortit barbare, S. 167–180. 636 Man kann bezweifeln, dass contaminari bei Terenz bereits ein technischer Ausdruck ist, der, wie spätere Kommentatoren meinen, die Kombination mehrerer Originale bedeutet: Vgl. William Beare, The Roman Stage. A Short History of Latin Drama in the Time of the Republic, London: Methue, 1955, S. 89–92. Dennoch ändert dies nichts daran, dass sich Terenz hier einen pejorativen Begriff, mit dem ihn seine Kritiker verleumden wollen, positiv aneignet.
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als ›barbarisch‹ erscheinen, sind aber umso komischer und effektiver. Das bene scribere ist im Endeffekt wichtiger als das bene vertere. Rückblickend wurde dann auch Terenz’ eigenes Verfahren als (con)vertere verstanden, wenn Sueton, der sich auf die Autorität Ciceros beruft, in De poetis (Über die Dichter) behauptet, dass Terenz sogar 108 Komödien von Menander ins Lateinische ›gewendet‹ habe (conversis a Menandro) (vita Ter. 5). Dass Terenz Luscius’ Art und Weise des vertere kritisiert, heißt nicht unbedingt, dass seine eigenen Komödien nicht nachträglich selbst als eine Sonderform des vertere begriffen werden können. Das vertere gilt in den Augen späterer Autoren nicht nur für die römische Komödie, sondern auch für die römische Tragödie, deren Werke nur äußerst bruchstückhaft überliefert sind.637 Horaz schreibt in einem seiner Kunstbriefe (epist. 2.1.161–164): »Serus enim Graecis admovit acumina chartis | et post Punica bella quietus quaerere coepit | quid Sophoclem et Thespis et Aeschylos utile ferrent. | Temptavit quoque rem si digne vertere posset […] (Denn erst spät widmete man [in Rom] griechischen Schriften scharfe Aufmerksamkeit und begann in der Ruhe nach den Punischen Kriegen zu forschen, was Sophokles und Thespis und Aischylos Nützliches bieten. Man unternahm auch den Versuch, ob man sie auf würdige Weise [ins Lateinische] wenden könne […]).« Sollte Livius Andronicus, der, wie gesagt, Homers Odyssee übersetzte, tatsächlich erstmals im Jahr 240 griechische Dramen638 für das Festival der Ludi Romani639 latinisiert haben, dann bezieht sich Horaz hier möglicherweise auf den ersten Punischen Krieg. Doch egal wie wir Horaz’ Datierung deuten,640 sie macht deutlich, dass die römische Übersetzung und Bearbeitung griechischer Texte – chartae Graecae – noch vor den Komödien des Plautus, den er im zitierten Brief erwähnt, aber nicht sonderlich zu schätzen scheint (epist. 2.1.170–176), mit dem vertere der griechischen Tragödien und der homerischen Epen begann. Dieses vertere, das im 3. Jhd. mit Livius, Naevius und Ennius einsetzte, entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem poetologischen Schlüsselbegriff, den die Römer immer wieder im Zusammenhang mit der Produktion und Rezeption ihrer Bühnenwerke nannten. Lukrez knüpft durch seine Tätigkeit des in patrias vertere voces bewusst an diese Ursprünge der römischen Literatur an und erweitert sie durch seine eigene poetische ›Hinwendung‹ zu den chartae Epikurs. 637 Vgl. a. a. O., S. 60f. 638 Laut Cassiodor handelte es sich dabei um eine Tragödie und eine Komödie: Vgl. Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, Bd. 1, S. 92 (Fn. 2). Die genaue Datierung dieses Ereignisses ist jedoch seit Cicero umstritten (Brut. 72f). 639 Zur politischen Bedeutung der Ludi Romani, in denen bereits seit 364 unter etruskischem Einfluss Theaterstücke aufgeführt wurden: Feeney, Beyond Greece, S. 105–110. 640 Post Punica bella quietus könnte prinzipiell die ›Ruhe nach dem Ende aller drei Punischen Kriegen‹, die ›Ruhe nach den ersten beiden‹, ›die Ruhe nach einem der Kriege‹ oder ›eine Ruhephase innerhalb eines der Kriege‹ bedeuten: Vgl. Brink, Horace on Poetry, Bd. 3, S. 205f.
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Spätestens in der Zeit der späten Republik verlässt das vertere den engeren Kontext der Bühne und dringt in neue Bereiche ein. Das Verb wird zu einem der geläufigsten Ausdrücke für die römische Übersetzungstätigkeit, die sich nun auch auf griechische Rhetorik, Philosophie und Geschichtsschreibung erstreckte.641 Der Autor der Rhetorica ad Herennium spricht von seinem vertere der rhetorischen Fachausdrücke der Griechen, die für römische Ohren noch ungewohnt sind (nomina rerum Graeca, quae vertimus, ea remota sunt a consuetudine) (4.7). Besonders Cicero benutzt das Verb häufig und erwähnt etwa, dass er Xenophon ins Lateinische ›wendete‹ (e Graeco in Latinum convertimus) (off. 2.87) oder Aratos astronomisches Lehrgedicht auf jugendliche Weise ›übersetzte‹ (carminibus Arateis, quae a te admodum adulescendo conVERSA) (nat. 2.104). Oder er sagt, kurz bevor er einige Verse von Euripides auf Latein zitiert, dass solche Teilübersetzungen für ihn eine gängige literarische Praxis sind (licet enim, ut saepe facimus, illa in Latinum convertere) (Tusc. 3.29). Diese Praxis gehörte sicherlich standardmäßig zur rhetorischen Ausbildung, wie Quintilian unter Bezugnahme auf Cicero bemerkt (inst. 10.5.2): »Vertere Graeca in Latinum veteres nostri oratores optimum iudicabant (Das Wenden griechischer [Vorbilder] ins Lateinische hielten unsere alten Redner für die beste [Übung]).«642 Ciceros (con)vertere ist jedoch mehr als eine rhetorische Übung, die auf die Übersetzung bestimmter Autoren oder Passagen zielt. Es widmet sich allgemein und im ganzheitlichen Sinne einer Darstellung und Nachahmung (imitatio) der griechischen Philosophie und Rhetorik für römische Zwecke. So schreibt Cicero in seinem Dialog De legibus, der seine persönliche imitatio von Platons Nomoi darstellt, dass er mit seinem Werk nicht dasselbe mit denselben Worten ›übersetzen‹ (eadem propre verbis isdem conversa dicere), sondern die Art und Weise des platonischen Diskurses ›nachahmen‹ möchte (imitari orationis genus) (leg. 2.17). Wie im dritten Kapitel ausführlich zitiert und analysiert, versteht er sein eigenes imitari dennoch als eine spezielle Form des vertere: Er vergleicht seine eigene philosophische Schriftstellerei wiederholt mit dem vertere der griechischen Bühnenstücke (fabulae), wobei er v. a. an die Tragödien von Ennius, Accius und Pacuvius oder an Terenz’ Komödien denkt. Er folgt dem vertere dieser römischen Dramatiker, insofern er gleich ihnen die Wirkmacht (vis) und nicht bloß die Worte (verba) seiner Vorbilder ausdrückt (exprimere), kritisiert sie aber, da ihre Übersetzungen in seinen Augen noch zu schlicht und flach sind 641 Ein kleiner Überblick über das literarische vertere der Römer findet sich in: Traina, »Le traduzioni«, S. 102–114. 642 Übersetzungen spielten sowohl im grammatischen als auch im rhetorischen Unterricht der Römer eine entscheidende Rolle. Die rhetorischen Theoretiker betonen meist einen freien und produktiven Umgang mit den literarischen Vorbildern, um sich von dem rein linguistischen und interpretativen Zugang der Grammatiklehrer abzugrenzen: Vgl. Copeland, Rhetoric, Hermeneutics and Translation in the Middle Ages, insb. S. 11–21.
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(plane vertere). Um nicht plane, ›schlicht‹ und ›flach‹ zu übersetzen, grenzt er sich in seinen philosophischen Dialogen von ihnen ab und distanziert sich in seinen Übersetzungen der attischen Redner von reinen Dolmetschern (nec converti ut interpres), die für ihn ein falsches ökonomisches Modell des Übersetzens verkörpern (op. gen. 4.14). Sein eigenes vertere ist kein konventionelles und oberflächliches interpretari, das Wort für Wort die Worte wie Münzen auszählt. Es möchte den Stoff schließlich völlig neu organisieren und sich nur auf die rhetorische vis seiner Vorbilder konzentrieren. Genauso lässt sich auch Lukrez’ vertere als ein Verfahren verstehen, das – soweit die Quellenfrage diesen Schluss erlaubt – erheblich von Epikurs chartae abweicht, da es der vis seines Meisters und der natura rerum und nicht bloß den verba der epikureischen Schriften folgt. Mit Lukrez, Cicero und ihren Nachfolgern entfaltete sich im 1. Jhd. die volle Spannweite des vertere, die von der dramatischen Adaption griechischer Bühnenwerke, der Übersetzung von Fachbegriffen, einzelnen Textstellen und ganzen Werken bis zur freien und kreativen Rezeption der griechischen Wissenschaften reicht, die man mit einem modernen Ausdruck als ›rewriting‹ bezeichnen könnte.643 Das vertere umfasst alle Bereiche der literarischen Rezeption der chartae Graeca. Damit überschneidet es sich mit dem inlustrare, interpretari, transferre, reddere, exprimere, imitari und aemulari, den wichtigsten Verben des Übersetzens, die, wie gezeigt, verschiedene Aspekte der römischen Übersetzungskultur und Intertextualität konnotieren. Obwohl diese Verben teilweise als Synonyme fungieren, wohnt ihnen wie allen Verben des Übersetzens eine spezifische Metaphorik inne, die jeweils andere Auffassungen des Übersetzens konnotiert.644 Inlustrare, das, wie gesagt, v. a. bei Lukrez, Cicero und Quintilian eine wichtige Rolle spielt, betrachtet das Übersetzen als einen aufklärerischen Prozess, der teleologisch von der Dunkelheit ins Licht führt. Hierbei spricht es den Sehsinn an, der auch für die rhetorische Erzeugung von Evidenz wie für die Metaphorik vom Licht der Wahrheit tragend ist. Interpretari, das uns bei Cicero und Horaz begegnet ist, stammt hingegen aus dem Bereich der religiösen, diplomatischen und ökonomischen Vermittlung und involviert eine Vermittlerfigur (interpres), die wie der Götterbote Hermes zwischen zwei Sphären, Werten, Medien oder Sprachen mediiert.645 Die Figur des interpres wurde gemeinhin mit einer besonderen Treue gegenüber dem Original assoziiert und von Cicero und Horaz, wie gezeigt, 643 Zu diesem Ausdruck, der in der kulturwissenschaftlich orientierten Übersetzungstheorie populär ist: André Lefevere, Translation, Rewriting and the Manipulation of Literary Fame, London u. a.: Routledge, 1992, insb. S. 1–8. 644 Vgl. Theo Hermans, »Metaphor and Image in the Discourse on Translation: A Historical Survey«, in: Übersetzung. Translation. Traduction, Bd. 1, S. 118–128. 645 Vgl. Bettini, Vertere, S. 88–96.
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als alltäglicher und sklavischer Übersetzer abgelehnt. Diese Ablehnung entspringt vermutlich einer aristokratischen Haltung, da die interpretes als Dolmetscher meist einem niederen Stand angehörten. Transferre stellt sodann einen relativ abstrakten Begriff dar und beschreibt allgemein die horizontale Bewegung eines Objekts oder einer Bedeutung von einem Ort oder Zeitraum an einen anderen, wobei sich diese nicht unbedingt qualitativ verändern müssen.646 Dass das transferre kein neutraler Begriff ist, haben wir im zweiten Kapitel am Import der Musen nach Rom sowie anhand von Lukrez’ deferre gesehen, einer Sonderform des transferre, die ein vertikales Gefälle zwischen dem mythischen Helikon und der historischen Gegenwart imaginiert, das wiederum auf einem realen (politischen) Machtgefälle beruht. Weiter meint reddere ein Wieder- oder Zurückgeben, so als wäre die Übersetzung eine Schuld, die zurückgezahlt werden muss,647 eine Antwort auf eine Frage, ein Echo oder Spiegelbild (imago verbi), das in einer anderen Sprache wiederkehrt.648 Exprimere, das schon bei Terenz als Übersetzungstätigkeit auftaucht, bedeutet ein Ausdrücken, bei dem das Original wie eine Olive oder Traube – die Metapher der Weinherstellung ist uns bei Makrobius begegnet – ausgequetscht wird oder sich wie ein Siegelring im Wachs abdrückt.649 Schließlich umfasst imitari, wie im dritten Kapitel ausführlich dargelegt, den weiten Bereich der griechischen μίμησις, der ursprünglich aus dem Bereich des Schauspiels kommt und die Nachahmung von Gesten und Stimmen bezeichnet. Das imitari hängt außerdem mit dem Kult der römischen Totenmasken (imagines), mit den bildenden Künsten oder allgemeiner mit den simulacra zusammen, die auch Skulpturen und künstlerische Bildwerke bezeichnen können. Das aemulari, das zuletzt als eine Sonderform des imitari verstanden werden muss, drückt überdies einen kompetitiven Wettstreit, ein contendere, mit dem Original aus, das die Übersetzung oder Imitation, wie am Beispiel Quintilians gezeigt, rhetorisch überbieten oder zumindest einholen will. Auch wenn sich all diese Verben hinsichtlich ihrer metaphorischen Konnotationen unterscheiden, zeigt dieser kleine Über- und Rückblick, dass sie sich in einem wesentlichen Punkt berühren: Der Großteil des lateinischen Überset646 Vgl. a. a. O., S. 35. 647 Die ökonomische Konnotation des reddere zeigt sich insbesondere bei Cicero, der unter seinen eigenen Übersetzungen einen aristokratischen Gabentausch versteht: Vgl. McElduff, Roman Theories of Translation, S. 113. 648 Vgl. Traina, »Le traduzioni«, S. 97. 649 Hierzu Bettini: »Questo verbo indica propriamente l’atto di produrre un’immagine da uno stampo, ›premendola via‹ (ex-primo), ovvero quello di lasciare un segno imprimendo il sigillo sulla cera o, più in generale, quello di riprodurre qualcosa utilizzando qualcos’altro come modello. Allorché dunque a Roma si dice che una traduzione è stata realizzata alla maniera dell’exprimere, si intende sottolineare la congruenza che esiste fra testo di partenza e testo di arrivo.« Bettini, Vertere, S. 34. Dieser konservative Zug des exprimere wird durch Makrobius’ Vergleich geschickt unterwandert.
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zungsvokabulars betont eine optische, akustische oder gestische Ähnlichkeitsrelation, die das semantische Objekt, egal ob es nun beleuchtet, bewegt oder gesteigert wird, in gewisser Weise konserviert. Sein Augenmerk ruht daher tendenziell auf einer gleichbleibenden Identität des Ausgangstextes, obschon dessen Raum-Zeit, Medium, Sprache, kultureller Kontext, rhetorischer Ornat usw., grundlegend modifiziert werden. Dahingegen akzentuiert das vertere in verstärktem Maße die Differenz zwischen Übersetzung und Original. Denn seine eigentümliche Metaphorik radikalisiert den Aspekt der qualitativen Veränderung, der in allen anderen Verben – insbesondere jedoch im inlustrare und aemulari – mitschwingt. Vertere hat eine Vielzahl von Bedeutungen, von denen sich die wichtigsten am Beispiel von De rerum natura explizieren lassen: Ursprünglich bezeichnet vertere wohl die Rotation eines Objekts um seine eigene Achse.650 So spricht Lukrez z. B. wiederholt vom ›Wenden‹ der Scholle durch den Pflug (glebas vomere vertere) (1.211 u. 5.210), von Kindern, die sich ›im Kreis drehen‹, bis ihnen schwindelt (pueri ipsi verti) (4.401), von der ›Kreisbewegung‹ der Gestirne in der Luft (globi verti in auris) (5.472), von fiktiven Giganten, die so gewaltig sind, dass sie mit ihren Händen den Himmel ›herumdrehen‹ können (manibus totum circum se vertere caelum) (5.915) oder von den Jahreszeiten, die sich ›zyklisch bewegen‹ (annorum tempora verti) (5.1438). Von dieser Grundbedeutung ausgehend leitet sich auch der versus ab, der entsteht, wenn das Schreibgerät am Ende eines Verses wie ein Pflug ›umkehrt‹ und ›wendet‹, um eine neue Zeile zu beginnen.651 Insofern Lukrez Epikurs natura rerum ratioque versifiziert, hängt sein vertere nicht nur etymologisch mit dem versus zusammen. Darüber hinaus lässt sich die physische Bewegung des vertere aber auch auf den Bereich des Seelisch-Intellektuellen übertragen. Wiederum finden sich hierfür Beispiele bei Lukrez, der schreibt, dass die fiktiven Träume der vates unsere gesunde Lebenshaltung ›umstürzen‹ und ›pervertieren‹ (somnia, quae vitae rationem evertere possint) (1.105)652 oder dass die ›verdrehten‹ Worte Heraklits (inversa verba) den Verstand oberflächlicher Geister zu täuschen vermögen (1.642). Hier meint e- bzw. in-vertere die ›Umkehrung‹ einer natürlichen Werte- oder Wortordnung, die eine intellektuelle Verwirrung stiftet. Wenn es in De rerum natura freilich heißt, dass sich die Körper unserer geistigen Auffassung ›zuwenden‹ (corpora posse vorti in notitiam) (2.745), dass wir unseren Blick auf etwas ›wenden‹ (speciem quo vertimus) (4.242), bzw. dass sich ein Phänomen 650 Über die etymologische Ursprungsbedeutung von vertere und seiner indoeuropäischen Wurzel *wert: Montella, »Etimologia e traduzione«, S. 318. 651 Vgl. Ernout/Meillet, Dictionnaire étymologique de la langue latine, S. 725. 652 Der Ausdruck rationes vertere im Sinne von ›umstürzen‹ ist ungewöhnlich, weshalb Deufert die Korrektur rationes evertere vorschlägt: Deufert, Kritischer Kommentar zu Lukrezens ›De rerum natura‹, S. 7.
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unseren offenen Augen ›zuwendet‹ (ad speciem vertit nobis oculosque patentis) (5.724), bezeichnet es wie im lateinischen Kompositum animad-vertere, ›die Seele‹ (anima) bzw. ›die Aufmerksamkeit auf (ad) etwas wenden‹, eine geistige Bewegung, die entweder von den Dingen oder von uns selbst ausgeht. Diese und ähnliche sprachliche ›Wendungen‹ sind unserer modernen Metaphorik nicht fremd. Doch anders als das deutsche ›wenden‹ kann das lateinische vertere eine genuine Zustandsveränderung, einen ›Wandel‹ oder eine ›Verwandlung‹ bedeuten. Die Präposition in + Akkusativ zeigt in Verbindung mit dem Verb nicht nur den Ort oder die Ausrichtung einer Drehbewegung an, sondern auch den Zustand, in den sie etwas überführt. Diese semantische Besonderheit wird bei Lukrez ausgeschöpft, wenn er behauptet, dass sich Vogeleier in Küken ›verwandeln‹ (in pullos verti ova) (2.927), dass sich der flüssige Anblick und die Formen der Wolken unaufhörlich ›verändern‹ und ›wandeln‹ (nec speciem mutare suam liquidam cessant et cuiusque modi formarum vertere in oras) (4.141f) oder dass jemand sein väterliches Erbe gegen luxuriöse Kleidung ›umtauscht‹ (parta patrum in pallam vertere) (4.1129f).653 Vertere wird in diesen Beispielen gleichbedeutend mit mutare, ›verändern‹, ›wechseln‹, ›umwandeln‹ und bezeichnet einen materiellen und ökonomischen Austausch von Gegenständen und ihren Qualitäten. Dieses vertere betrifft die ganze Natur, wie Lukrez, ausgehend von der spontanen Urzeugung, durch die sich Schlamm in lebendige Würmer verwandelt, schreibt (2.871–882): quippe videre licet vivos existere vermes stercore de taetro, putorem cum sibi nacta est intempestivis ex imbribus umida tellus; praeterea cunctas itidem res vertere sese. vertunt se fluvii frondes et pabula laeta in pecudes, vertunt pecudes in corpora nostra naturam, et nostro de corpore saepe ferarum augescunt vires et corpora pennipotentum. ergo omnes natura cibos in corpora viva vertit et hinc sensus animantium procreat omnes, non alia longe ratione atque arida ligna explicat in flammas et {in} ignis omnia versat. Allerdings kann man sehen, dass lebendige Würmer aus ekligem Kot entstehen, wenn die feuchte Erde in sich Fäulnis durch unzeitige [exzessive] Regengüsse geboren hat. Außerdem wandeln sich alle Dinge auf dieselbe Weise: Es verwandeln die Flüsse, Laub und fruchtbare Weiden sich in Vieh, es verwandelt das Vieh die Natur in unsere Körper und aus unserem Körper wachsen oftmals die Kräfte und Körper der Wildtiere und der 653 (Con)vertere gehört wie mutare prinzipiell zum römischen Vokabular des ökonomischen Tauschgeschäftes: Vgl. Maurizio Bettini, Il dio elegante. Vertumno e la religione romana, Turin: Einaudi, 2015, S. 125.
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Flügelmächtigen. Daher verwandelt die Natur alle Nahrung in lebendige Körper und hieraus schafft sie alle Empfindungen der beseelten Wesen, nicht viel anders, wie sie trockene Hölzer in Flammen entfaltet und in Feuer alles wendet.
Die Entstehung (existere) der Würmer aus dem nassen Schlamm ruft bei Lukrez eine ganze Kette von organischen Verwandlungen ins Bewusstsein. So verwandeln sich (vertere) Wasser, Laub und Gras als Nahrung in die Körper der Tiere, die, wenn wir uns von ihnen ernähren, sich in unsere Körper verwandeln (vertere), die wiederum den wilden Tieren – Wölfen oder Geiern – als Nahrung dienen. Die Natur erscheint als ein gewaltiger ökologischer Metabolismus, in dessen Fressen-und-gefressen-werden sich organische und anorganische Stoffe in lebendige Körper verwandeln (vertere). Dadurch werden, wie Lukrez betont, aus empfindungslosen Atomen (ex insensilibus) (2.866) lebendige Empfindungen (senus) erschaffen (procreare), die plötzlich wie Feuer (ignis) aus Holz (lingis) entflammen und die leblose Materie ins Lebendige wenden (versare ist mit vertere verwandt).654 Das Wortspiel (l)ignis ist uns bereits bekannt und verdeutlicht, dass ein geringer Austausch von Atomen wie bei Buchstaben (elementa) auf der Ebene der Erscheinungen (Bedeutungen) einen substanziellen Wandel bewirken kann. Res vertere sese, d. h. alle Dinge verwandeln sich auf der Grundlage der Kombinatorik der Atome von selbst. Während ›übersetzen‹ und seine modernen Verwandten (translate, traducir, traduire, tradurre, usw.), die sich von transferre oder transducere655 ableiten, eine räumliche Metapher darstellen, die eine lineare Bewegung von einem Ort zu einem anderen vollziehen, beschreibt vertere eine lokale zyklische Bewegung, eine Konzentration der geistigen Aufmerksamkeit sowie eine qualitative Transformation, die irreversibel ist. Diese Semantik des Wandels zeigt sich nicht nur in Lukrez’ Wortgebrauch, sondern auch darin, dass vertere ein essenzieller Bestandteil des römischen Vokabulars der magisch-göttlichen Metamorphose ist:656 Schon Plautus beschreibt mit dem Verb in seinem Stück Amphitruo Jupiters Verwandlung in die menschliche Gestalt Amphitruos (in Amphitruonis vertit sese imaginem) (121). Es ist naheliegend, dass er sein eigenes vortit barbare als eine analoge Formverwandlung versteht. Ebenso spricht Vergil von einem vertere, um Proteus zu charakterisieren, der sich nicht fassen lässt, weil er sich unaufhörlich in 654 Lukrez spielt an anderen Stellen mit den Worten sensus und accendere und vergleicht damit die bewusste Empfindung wiederholt mit einer Flamme: Vgl. Clay, Lucretius and Epicurus, S. 168. 655 Die Bedeutung von transducere im Sinne einer sprachlichen Übersetzung lässt sich für die Antike nicht nachweisen. Ironischerweise fand das transducere vermutlich erst durch einen Übersetzungsfehler des italienischen Humanisten Leonardo Bruni, der eine Stelle von Gellius falsch verstand, Eingang in das Übersetzungsvokabular der modernen Sprachen. Hierzu: Bettini, Vertere, S. VII–IX. 656 Vgl. Traina, »Le traduzioni«, S. 97f. Sowie: a. a. O., S. 37–41.
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alle möglichen Gestalten ›verwandelt‹ (formas se vertit in omnis) (georg. 4.411). Selbstverständlich taucht das Verb außerdem an unzähligen Stellen in Ovids Metamorphosen auf, die, wie es bereits in den ersten beiden Versen heißt, in neue Körper verwandelte Gestalten (In nova fert animus mutatas dicere formas | corpora …)657 besingen (1.1f): So spricht Ovid in ihnen z. B. davon, dass Jupiter das Blut der gefallenen Giganten in Menschen ›verwandelt‹ (cruorem … in faciem vertisse hominum) (met. 1.159f), dass Merkur einen verlogenen Bauern zur Strafe in Stein ›verzaubert‹ (periuraque pectora vertit in silicem) (met. 2.705f) oder dass Caesar aufgrund seiner heroischen Taten nach seinem Tod zu einem Kometen ›vergöttlicht‹ wird (in sidus vertere novum stellamque comantem) (met. 15.749).658 Die Verbindung des vertere mit der göttlichen Sphäre drückt sich nicht zuletzt in der Tatsache aus, dass die Römer den Gott ›Vertumnus‹ verehrten, der für den Wechsel der Jahreszeiten, das pflanzliche Wachstum, den Wandel der Flussläufe und für Tauschgeschäfte verantwortlich war. Dieser Gott, den Properz als Verwandlungskünstler beschreibt (quod formas unus vertebar in omnis) (eleg. 4.2.47), wurde von den Römern etymologisch mit dem vertere assoziiert und lässt sich als dessen mythologische Personifikation begreifen.659 All diese Beispiele rücken die Übersetzungstätigkeit der Römer in eine gewisse Nähe zur Metamorphose und verleihen ihrem vertere eine magische Dimension, welche die griechischen Texte auf gleichsam göttliche Weise in römische verwandelt, um ihr Publikum zu verzaubern.660 Weil die Römer ihre Übersetzungen von Anbeginn als mehr oder minder radikale Verwandlungen begriffen, hatten sie kaum einen Begriff für das wortwörtliche Übersetzen. Alle ihre Verben des Übersetzens – mit Ausnahme des interpretari, das nicht primär zur literarischen Welt gehört – schließen erhebliche Veränderungen ein und müssen in der Regel um die Wendung ›dem Wortlaut gemäß‹ (ad verbum) oder ›Wort für Wort‹ (verbum de verbo) ergänzt werden, um zu signalisieren, dass diese vergleichsweise gering ausfallen.661 Obwohl die Römer
657 Das Hyperbaton nova … corpora erzeugt einen semantischen Freiraum, der die novitas von Ovids eigener Dichtung betont: Vgl. Barbara Feichtinger, »Ovids Metamorphosen oder der totale Text«, in: Vergil und das antike Epos. Festschrift für Hans Jürgen Tschiedel, hg. v. Stefan Freund u. Meinolf Vielberg, Stuttgart: Franz Steiner, 2008, S. 295–320, hier S. 301. 658 Man könnte mit Farrell Ovids Metamorphosen selbst als Teil der nova corpora verstehen, dessen Textkörper durch die Schilderungen zahlloser Verwandlungen unsterblich wird: Joseph Farrell, »The Ovidian Corpus: Poetic Body and Poetic Text«, in: Ovidian Transformations. Essays on the Metamorphoses and Its Reception, hg. v. Philip Hardie, Alessandro Barchiesi u. Stephen Hinds, Cambridge: Cambridge Philological Society, 1999, S. 127–141, insb. S. 128–133. 659 Vgl. Bettini, Il dio elegante, insb. S. 74f. 660 Vgl. Bettini, Vertere, S. 41–44. 661 So bemerkt Richter, dass transferre an sich nicht ›wörtlich übersetzen‹ bedeuten muss, weil sonst gängige Zusätze wie ad verbum, paene adverbum, verbum ex verbo, totidem verbis
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– zumindest aus europäischer Sicht – als ›Erfinder der Übersetzung‹ gelten, sind literarische Übersetzungen, die wir heute als solche bezeichnen könnten, in ihrer Literatur rar und wurden manchmal nicht einmal als solche markiert. Übersetzungen verbum de verbo beziehen sich meistens nur auf Teilübersetzungen von Passagen, die als Zitate, Imitate oder Plagiate in einen neuen Kontext integriert wurden.662 Das römische Vokabular für Übersetzungen und Intertextualität lässt sich deshalb, wie gesagt, weder systematisch trennen noch eindeutig rekonstruieren. Für diesen befremdenden Sachverhalt lassen sich mindestens fünf Gründe anführen, die aus der spezifisch römischen Situation resultieren. Erstens schrieben die römischen Autoren vorrangig für ein gebildetes Publikum, das bilingual erzogen wurde und die griechischen Originale oft kannte oder zumindest lesen konnte. Der Reiz der lateinischen Übersetzungen und Bearbeitungen bestand zum Großteil in ihren Abweichungen von den Originalen, mit denen man sie vergleichen konnte.663 Zweitens waren die römischen Übersetzungen ziel- und nicht ausgangssprachlich orientiert. Die römischen Bühnenwerke bemühten sich um eine Wirkungsäquivalenz, weshalb sie die griechischen Tragödien und Komödien verändern mussten, damit sie in einem veränderten kulturellen Kontext einen ähnlichen Effekt beim Publikum erzielten konnten.664 Auch in der Prosa zählte aufgrund des Primats der Rhetorik die unmittelbare Wirkung der Texte, die als natürliche vis theoretisiert wurde, die jenseits der verba liegt. Drittens war die Mnemotechnik in der Antike wichtig und substituierte teilweise den mangelnden Zugang zu Bibliotheken. Es gab damals überdies keine Wörterbücher, Interlinearversionen oder zweisprachige Ausgaben. Texte waren nur schwer zugänglich und Papyrusrollen äußerst unhandlich. Viele Autoren zitierten und übersetzten darum wahrscheinlich nicht selten auf der Basis von Exzerpten oder frei aus ihrem Gedächtnis, was zu unfreiwilligen Abweichungen führen konnte.665 Viertens hatten die Römer wenig Skrupel gegenüber den Originalen einer Kultur, die sie politisch und militärisch zunehmend kontrollierten. Ihre sukzessive Anwandlung und Einverleibung der griechischen
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usw., überflüssig wären: Richter, Übersetzen und Übersetzungen in der römischen Literatur, S. 11. Trotz einiger Ausnahmen lässt sich mit McElduff folgende grobe Regel aufstellen: »Roman literary translation, as a general rule, dismembered a Greek text and scattered it within a larger work. As a result, in Rome there was rarely anything we would call faithful translation. The overriding concern of Roman translation was not fidelity or free translation, but control. Roman translators were supposed to dominate and manage their Greek sources, and translate them in ways that showed that control and enabled their own voice to be heard through their new text.« McElduff, Roman Theories of Translation, S. 10. Seele spricht treffend von einem »[…] gängigen Bilingualismus, der die römischen Leser einer Übersetzung aus dem Griechischen befähigte, diese nicht als Substitut für das Original, sondern als ›Metatext‹ zu lesen.« Seele, Römische Übersetzer, S. 10. Vgl. a. a. O., insb. S. 8. Vgl. McElduff, Roman Theories of Translation, S. 9f.
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Texte lässt sich mit Nietzsche – der angesichts der römischen Übersetzungen ausruft »In der Tat, man eroberte damals, wenn man übersetzte […]«666 – teilweise durch eine imperialistische Haltung erklären.667 Dieser kulturelle Imperialismus zeigt sich, wenn Cicero, wie zitiert, die Römer dazu aufruft, dem erschlafften Griechenland den Ruhm der Philosophie zu entreißen, um ihn nach Rom zu überführen (ut laudem iam languenti Graeciae eripiant et transferant in hanc urbem) (Tusc. 2.5). Zuletzt und fünftens entspringt diese Haltung aber generell einem anderen kulturellen Horizont, da Texte in der heidnischen Antike tendenziell nicht als sakrosankt galten. Denn die Idee heiliger Bücher, die möglichst treu zu übersetzen sind, weil Gott in ihnen spricht, taucht in Europa erst mit dem jüdisch-christlichen Monotheismus auf. Das moderne hermeneutische Gewissen und die damit verbundene Vorstellung der Unübersetzbarkeit waren zuvor undenkbar.668
666 Der Kontext des Zitats lautet: »Man kann den Grad des historischen Sinns, welchen eine Zeit besitzt, daran abschätzen, wie diese Zeit Übersetzungen macht und vergangene Zeiten und Bücher sich einzuverleiben sucht. […] Und das römische Altertum: wie gewaltsam und naiv zugleich legte es seine Hand auf alles Gute und Hohe des griechischen älteren Altertums! Wie übersetzten sie in die römische Gegenwart hinein! Wie verwischten sie absichtlich und unbekümmert den Flügelstaub des Schmetterlings Augenblick! So übersetzte Horaz hier und da Alkäus oder Archilochus, so Properz den Kallimachus und Philetas […]. Sie scheinen uns zu fragen: ›Sollen wir das Alte nicht für uns neu machen und uns in ihm zurechtlegen? Sollen wir nicht unsere Seele diesem toten Leibe einblasen dürfen? […]‹. Sie kannten den Genuß des historischen Sinns nicht; das Vergangene und Fremde war ihnen peinlich, und als Römer ein Anreiz zu einer römischen Eroberung. In der Tat, man eroberte damals, wenn man übersetzte, – nicht nur so, daß man das Historische wegließ: nein, man fügte die Anspielungen auf das Gegenwärtige hinzu, man strich vor allem den Namen des Dichters hinweg und setzte den eigenen an seine Stelle – nicht im Gefühl des Diebstahls, sondern mit dem allerbesten Gewissen des imperium Romanum.« Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, Stuttgart: Kröner Verlag, 1986, S. 97f. Auch wenn Nietzsche die Römer für seine Polemik gegen den zeitgenössischen Historismus instrumentalisiert, trifft er einen entscheidenden Punkt: Die römischen Autoren kannten noch kein hermeneutisches Gewissen im modernen Sinn. Die Vorstellung vom lebendigen Atem, der den toten Texten eingehaucht wird, erinnert an die Darstellung der Übersetzung als Metempsychose, die Lukrez, wie gezeigt, ablehnt. 667 Dies betont McElduff v. a. hinsichtlich der römischen Komödiendichter und Cicero: McElduff, Roman Theories of Translation, insb. S. 76–78 u. S. 101–103. Bezeichnenderweise beginnt ihr Buch mit dem oben genannten Zitat von Nietzsche. 668 Über die religionsgeschichtlichen Ursprünge der Unübersetzbarkeit von Götternamen, die mit einer magischen Sprachauffassung verbunden ist: Assmann, »Translating Gods«, S. 28– 31. In den jüdisch-christlichen Kulturen drängt sich die Frage der Unübersetzbarkeit im Kontext der Übersetzungen heiliger Schriften auf, in denen sich Gott selbst ausdrückt, eine Vorstellung, die der heidnischen Antike tendenziell fremd war: Vgl. Bettini, Vertere, insb. S. 187–197. Wenn Benjamin seinen berühmten Übersetzer-Aufsatz mit dem Satz beschließt: »Die Interlinearversion des heiligen Textes ist das Urbild oder Ideal aller Übersetzung«, dann verortert er seinen eigenen Begriff der Unübersetzbarkeit in einem religiös-kulturellen Paradigma, das mit dem römischen vertere unvereinbar ist: Walter Benjamin, »Die Aufgabe
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Dieser letzte Punkt lässt sich durch die berühmte Epistola ad Pammachium des Kirchenvaters Hieronymus – dem offiziellen ›Heiligen der Übersetzer‹ – verdeutlichen. In diesem Brieftraktat, der auch De optimo genere interpretandi tituliert wurde, begegnen sich die heidnische und jüdisch-christliche Auffassung des Übersetzens, wobei Hieronymus die römische Übersetzungskultur als ein Vorbild präsentiert, um sie gleichzeitig von der Aufgabe der Bibelübersetzer zu scheiden (epist. 57.5.2–7): Ego enim non solum fateor, sed libera voce profiteor, me in interpretatione Graecorum absque scripturis sanctis, ubi et verborum ordo mysterium est, non verbum e verbo, sed sensum exprimere de sensu. Habeoque huius rei magistrum Tullium, qui Protagoram Platonis, et Oeconomicon Xenophontis et Aeschini ac Demosthenis duas contra se orationes pulcherrimas transtulit. Quanta in illis praetermiserit, quanta addiderit, quanta mutaverit, ut proprietates alterius linguae, suis proprietatibus explicaret, non est huius temporis dicere. Sufficit mihi ipsius translatoris auctoritas, qui ita in prologo earumdem orationum locutus est: »[…] Converti enim ex Atticis duorum eloquentissimorum nobilissimas orationes, inter seque contrarias, Aeschini et Demosthenis: nec converti ut interpres, sed ut orator, sententiis isdem et earum formis tam quam figuris, verbis ad nostram consuetudinem aptis. In quibus non verbum pro verbo necesse habui reddere: sed genus omne verborum vimque servavi. […].« Sed et Horatius vir acutus et doctus, hoc idem in Arte poetica erudito interpreti praecipit: »Nec verbum verbo curabis reddere fidus interpres.« Terentius Menandrum, Plautus et Caecilius veteres comicos interpretati sunt: numquid haerent in verbis ac non decorem magis et elegantiam in translatione conservant? Quam vos veritatem interpretationis, hanc eruditi κακοζηλίαν nuncupant. […] cum Eusebii Χρονικὸν in Latinum verterem, tali inter cetera praefatione usus sum: »Difficile est alienas lineas insequentem, non alicubi excedere, arduum, ut, quae in alia lingua bene dicta sunt, eundem decorem in translatione conservent. Significatum est aliquid unius verbi proprietate: non habeo meum, quo id efferam, et, dum quaero inplere sententiam, longo ambitu vix brevis vitae spatia consummo. Accedunt hyperbatorum anfractus, dissimilitudines casuum, varietates figurarum: ipsum postremo suum et, ut ita dicam, vernaculum linguae genus: si ad verbum interpretor, absurde resonant; si ob necessitatem aliquid in ordine, vel in sermone mutavero, ab interpretis videbor officio recessisse.« Ich bekenne es nicht nur, sondern gestehe es mit freier Stimme [öffentlich], dass ich bei meiner Übersetzung griechischer Autoren – außer bei den heiligen Schriften, wo die Anordnung der Worte ein Mysterium ist – nicht Wort für Wort, sondern den Sinn gemäß dem Sinn ausdrücke. Bei dieser Vorgehensweise habe ich Tullius [Cicero] als Lehrmeister, der Protagoras, Platon, den Oikonomikos Xenophons und die beiden wunderschönen Streitreden des Aischines und Demosthenes übersetzte. Wie viel er in jenen [Übersetzungen] ausließ, wie viel er hinzudichtete, wie viel er veränderte, so dass er das Eigentum einer fremden Sprache im Eigentum der eigenen entfaltete, darüber zu sprechen ist keine Zeit. Es reicht mir die Autorität des Übersetzers selbst, der im Prolog des Übersetzers«, in: Ders., Baudelaire, Ausgewählte Gedichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970, S. 7–25, hier S. 25.
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[seiner Übersetzungen] der Reden dieser [Aischines und Demosthenes] sagte: »[…] Denn ich übersetzte von den zwei redegewandtesten [Männern] unter den Attikern, Aischines und Demosthenes, die edelsten und gegeneinander gerichteten Reden. Und ich übersetzte sie nicht wie ein Dolmetscher, sondern wie ein Redner mit denselben Gedanken und gleichsam in deren Wort- und Gedankenfiguren, obwohl ich die Worte an unseren Gebrauch anpasste. Dabei hielt ich es nicht für nötig, Wort für Wort wiederzugeben, sondern bewahrte die ganze Redegattung und vis der Worte […].« Aber auch Horaz, ein scharfsinniger und gelehrter Mann, erteilt dem gebildeten Übersetzer in seiner Ars poetica denselben Rat: »Du sollst dich nicht darum kümmern, Wort für Wort wiederzugeben [wie] ein vertrauenswürdiger Dolmetscher.« Terenz hat Menander, Plautus und Caecilius die alten Komödiendichter übersetzt. Hängen sie etwa an den Worten [ihrer Vorlagen] und bewahren sie etwa nicht Reiz und Eleganz in ihren Übersetzungen? Was ihr die Wahrheit [Treue] der Übersetzung nennt, nennen die Gebildeten κακοζηλία [üblen Wetteifer]. […] als ich die Chronik des Eusebius [von Caesarea] ins Lateinische wendete, gebrauchte ich u. a. [folgende Worte] in meinem Vorwort: »Es ist schwierig, wenn man fremden Zeilen folgt, nicht irgendwo etwas wegzulassen, und es ist hart, dass [Zeilen], die in einer fremden Sprache gut geschrieben wurden, denselben Reiz in einer Übersetzung bewahren. Jedes einzelne Wort besitzt eine [bestimmte] Bedeutung und ich besitze kein eigenes [Wort], durch das ich dieses [in meiner Sprache] austragen könnte: Während ich den Gedanken [Satz] auf weitschweifigem Umweg darstelle [ausfülle], verbrauche ich mühevoll [lange] Zeiträume des kurzen Lebens. Hinzu kommen die Winkelzüge der Hyperbata [Sperrstellungen], die Unterschiede des Kasussystems, die Verschiedenheit der [rhetorischen] Figuren und schließlich ihre Eigenart und, wie ich sie so nenne, die Haussklaven-Art [unserer gesprochenen] Sprache. Wenn ich dem Wort nach übersetze, dann klingt es absurd; wenn ich aber aus Notwendigkeit irgendetwas in der Wortfolge oder in einer Rede veränderte, dann sollte es scheinen, dass ich mich vom Amt des Übersetzers zurückzog.«
Hieronymus, dem von seinen Feinden vorgeworfen wurde, dass er einen Brief eines griechischen Bischofs schlampig ins Lateinische übersetzte, verteidigt sich hier, indem er sich auf heidnische Autoritäten beruft:669 Er zitiert berühmte Passagen aus Ciceros De optimo genere oratorum und Horaz’ Ars poetica, die uns bereits vertraut sind, und verweist überdies auf die römischen Komödiendichter, die ihre griechischen Vorbilder veränderten (mutare), aber dennoch deren stilistische Eleganz und rhetorischen Schmuck bewahrten (conservare). All diese vorbildlichen Autoritäten lehnten angeblich den ›üblen Wetteifer‹ oder die ›pedantische Imitation‹ (κακοζηλία) vehement ab (man denke an Terenz’ Spott über die obscura diligentia), welche die rhetorische Effektivität der Zielsprache stö-
669 Zum historischen Kontext der Epistola ad Pammachium: G. J. M. Bartelink, Hieronymus, Liber de optimo genere interpretandi (Epistula 57), hg. u. komm. v. dems., Leiden: Brill, 1980, S. 1–7.
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ren.670 Darum muss auch Hieronymus in seinen Übersetzungen Zeilen weglassen, Worte umständlich paraphrasieren und die syntaktische und grammatische Struktur seiner Originale entschieden verändern, wie er unter Rückbezug auf sein eigenes Vorwort seiner Teilübersetzung eines griechischen Geschichtswerks erklärt. Doch anders als den erwähnten römischen Schriftstellern geht es ihm nicht nur um die Bewahrung des rhetorisch-stilistischen Effekts, der von den Römern als vis verstanden wurde, sondern um die ursprüngliche Bedeutung (sensus = significatus) des Originals. Die vis, die reine Ausdruckskraft, wird hermeneutisch gebändigt und teilweise vom sensus verdrängt. Deshalb sagt Hieronymus in einer wirkmächtigen Formel, dass er sein Original zwar nicht verbum e verbo, aber sensus de sensu ausdrücken will (exprimere). Dieses ›sinngemäße Übersetzen‹, das den heidnischen Theoretikern der imitatio noch weitgehend unbekannt war (nirgends finden wir bei ihnen die Formulierung sensus de sensu), wird nun im selben Atemzug von den Übersetzungen der heiligen Schriften abgegrenzt, bei deren Übersetzung man nicht einmal die Wortfolge ändern darf, die ein Mysterium ist, weil sie von Gott – der Autorität aller Autoritäten – stammt.671 Hieronymus’ ›profane‹ Übersetzungen von menschlichen Worten (Briefen, Geschichtswerken) stehen damit im krassen Gegensatz zu ›sakralen‹ Übersetzungen des göttlichen Wortes.672 Diese Opposition wirkt sich aber auch auf das profane Übersetzen aus, das von der Sorge um den sensus angesteckt wird und dadurch gleichsam auf halben Weg zwischen den umformenden Übersetzungen der heidnischen Römer und der rein imitativen Übersetzungen der heiligen Schriften steht. Nicht zufällig benutzt Hieronymus, obschon er nahezu das gesamte römische Übersetzungsvokabular aufruft – exprimere, transferre, (con)vertere, reddere –, mit Vorliebe den Ausdruck interpretari, den die römischen Schriftsteller, wie die Zitate von Cicero und Horaz belegen, eher verachteten. Sein Brief 670 An anderen Stellen kontrastiert Hieronymus die κακοζηλία mit der εὐφωνία, dem ›Wohlklang‹, womit die rhetorisch-ästhetische Dimension seiner Polemik noch deutlicher wird: Vgl. a. a. O., S. 58f. 671 Ein mysterium ist für Hieronymus ein sacramentum, eine geheimnisvolle Teilhabe am Göttlichen. Paradoxerweise überschneiden sich damit verbum und sensus in den heiligen Schriften, obwohl Hieronymus’ gesamte Argumentation auf deren Gegensatz beruht: Vgl. Clara Montella, »›Et verborum ordo mysterium est‹. Dialettica e paradosso nel De optimo genere interpretandi di Girolamo«, in: Aion, 9 (1987), S. 253–267, hier S. 265f. 672 Das heißt aber nicht, dass Hieronymus in seiner eigenen Bibelübersetzung immer verbum e verbo übersetzt. Tatsächlich beruft er sich in Hinsicht auf heilige Schriften immer wieder auf das Prinzip sensus de sensu und meint etwa, dass auch die Septaguinta und die Autoren des Neuen Testaments legitimerweise sinngemäß aus dem Alten Testament ins Griechische übersetzen. Die Unterscheidung von sakralen und nicht-sakralen Übersetzungen ist demnach bei Hieronymus weniger radikal durchgeführt als es die zitierte Passage der Epistola ad Pammachium nahelegt: Vgl. Bartelink, Hieronymus, Liber de optimo genere interpretandi, insb. S. 46f.
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wurde darum im Nachhinein – in Anspielung auf Ciceros De optimo genere oratorum –, wie gesagt, auch De optimo genere interpretandi genannt.673 Das Paradox der zitierten Passage besteht darin, dass sich Cicero und Horaz, die hier als Autoritäten herangezogen werden, gerade nicht als interpretes verstanden. Auch wenn Hieronymus zum Schluss gesteht, dass er in gewisser Weise selbst vom Amt (officium) eines interpres abweicht, durchdringt die Vorstellung des treuen Übersetzens und Vermittelns eines biblichen Originalworts sein gesamtes Übersetzungsbewusstsein. Hieronymus’ Brief markiert somit den Beginn einer Verdrängung der römisch-heidnischen Auffassung des vertere, die in der modernen Opposition von Wortsinn und Wortlaut münden wird.674 Lukrez, der in einer Hochphase des vertere schreibt, ist diese Opposition noch fremd. Er möchte Epikur, den er wie einen Gott verehrt, weder verbum e verbo übersetzen noch sensus de sensu. Für ihn zählt allein die vis, die natürliche Ausdruckskraft, die sich bei allen Lebewesen und in der gesamten Natur äußert. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Lukrez – wie Hieronymus von Cicero sagen wird – seine Vorlagen kürzt, erweitert und verändert. Wenn er die aurea dicta Epikurs wie eine Biene sammelt, verwandelt er sie – ähnlich wie Seneca, der, wie zu Beginn des dritten Kapitels zitiert, in seiner Adaption des Bienengleichnisses explizit von einem mutare und vertere spricht (epist. 84.4). Lukrez’ vertere bezieht sich auf die chartae Epikurs und überhaupt auf die Betrachtung und Lehre der Natur (naturae species ratioque), die sowohl die epikureische Lehre wie das Wesen der natura rerum selbst bezeichnet. Darum wird es als Ausdruck des vertere des gesamten Kosmos begriffen, das sich auch in der Menschheits- und Kulturgeschichte niederschlägt. Nicht nur das organische Werden, die gesamte natura mundi ist dem permanenten vertere unterworfen, wie es im fünften Buch heißt (5.828–831): mutat enim mundi naturam totius aetas, ex alioque alius status excipere omnia debet, nec manet ulla sui similis res: omnia migrant omnia commutat natura et vertere cogit. Denn die Zeit verändert die Natur der Welt völlig und muss alles in einen Zustand aus einem anderen überführen, kein Ding bleibt sich selbst ähnlich: Alles wandert, alles verändert die Natur und zwingt es, sich zu verwandeln.
Die natura mundi, die nach atomistischer Lehre selbst aus einer Art Kreisbewegung, nämlich einem Wirbel der Atome – man könnte von einem vertex sprechen – entsteht (5.436–457), wird im Laufe der Zeit verwandelt und ver673 Schon Hieronymus bezeichnet die Epistola ad Pammachium rückblickend in einem Brief an Augustinus als liber de optimo genere interpretandi: Montella, »›Et verborum ordo mysterium est‹«, S. 257. 674 Vgl. Bettini, Vertere, insb. S. 200f.
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wandelt sich selbst.675 Das vertere, das etymologisch mit dem deutschen ›Werden‹ verwandt ist,676 ist für Lukrez ein passives und aktives kosmisches Werden, ein mutare der atomaren Struktur aller Dinge, das noch unterhalb der Ebene der eventa angesiedelt ist und alle Dinge affiziert, so dass keine res im Laufe der Zeit sich ähnlich oder gar identisch (similis) bleibt. Damit radikalisiert Lukrez das traditionelle Konzept der Metamorphose, das von den Römern von Anbeginn mit ihrem literarischen vertere assoziiert wurde und das gemeinhin auf einer gleichbleibenden Identität der verwandelten Objekte beharrt: Proteus oder Vertumnus bleiben dieselben (unus), selbst wenn sie unendlich viele Formen (formae) annehmen, Jupiter bleibt Jupiter, wenn er in die Gestalt Amphitruos wie in eine Maske (imago) schlüpft, und die Helden der griechischen Tragödien und Komödien lassen sich immer noch als solche identifizieren, wenn sie auf der römischen Bühne erscheinen. Darum deutet auch Ovid die Metamorphose, wie im zweiten Kapitel zitiert, in seiner Rede des Pythagoras als Metempsychose um, als Wanderung der anima, bei der eine psychische Identität bewahrt wird, während sich die Körper wandeln. Solche konservativen Deutungen mindern die Reichweite des vertere und schränken sein Werden auf den Bereich des Körperlichen ein, demgegenüber sie einen autonomen Bereich des Seelisch-Semantischen etablieren (insofern ist die anima mit dem sensus verwandt). In Lukrez’ Materialismus gibt es jedoch keine göttliche Intervention, keine Unveränderlichkeit und Unsterblichkeit der Seele und es herrscht die unermüdlich wiederholte zitierte Formel (u. a. 1.670f): »[…] nam quodcumque suis mutatum finibus exit, | continuo hoc mors est illius quod fuit ante ([…] was nämlich auch immer verwandelt seine Grenzen verlässt, ist fortwährend der Tod dessen, was vorher war).« Gilt die Formel nicht auch für Lukrez eigenes vertere, das Epikurs Schriften verwandelt und gleichzeitig ersetzt? Das Wesen aller Dinge verwandelt sich vollkommen und was bleibt sind die Elemente der empfindungsund sinnlosen Atome. Vor dem Hintergrund dieser Ontologie müssen wir auch Lukrez’ eigenes vertere als radikale Verwandlung begreifen. So wie sich die elementa der Atome vertauschen, um immer neue Welten hervorzubringen, spielt Lukrez mit den elementa der Buchstaben und ordnet die elementa Epikurs, die Grundgedanken seiner Lehre (στοιχειώματα), neu an, um eine poetische und philosophische novitas zu schaffen.
675 Diese epikureische Wirbeltheorie, die Lukrez kurz schildert, geht auf Demokrit zurück. Ein Versuch einer wissenschaftshistorischen Einschätzung und Würdigung dieser Theorie findet sich in: Michel Serres, La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce. Fleuves et turbulences, Paris: Editions de Minuit, 1977, insb. S. 20ff. 676 Vgl. Ernout/Meillet, Dictionnaire étymologique de la langue latine, S. 726.
Primus cum primis: Primat der Latinsierung der Philosophie (Ciceros Taktik)
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Primus cum primis: Primat der Latinsierung der Philosophie (Ciceros Taktik)
Lukrez schreibt sich mit seinem in patrias vertere voces sowohl in die Weltgeschichte als auch in die Geschichte des poetischen vertere ein, in die Anverwandlung griechischer Texte, die bis in die Anfänge der römischen Literatur reicht. Hierbei stilisiert er sich selbst als primus (5.336f): »[…] et hanc primus cum primis ipse repertus | nunc ego sum in patrias qui possim vertere voces ([…] und ich wurde selbst jetzt als Erster unter Ersten gefunden, der es vermag, diese [Lehre] in väterliche Stimmen zu wenden).« Zahlreiche Übersetzer und Kommentatoren verstehen cum primis als bloße Verstärkung von primus, womit primus cum primis so viel wie ›Lukrez als Allererster‹, ›vor allem als Erster‹, ›als Erster von Allen‹ besagen würde.677 Dagegen spricht, dass die Wendung primus cum primis in De rerum natura immer auch wörtlich als inklusiver Vergleich gelesen werden kann.678 Daher müsste primus cum primus in unserem Zitat ›als Erster mit Ersten‹ oder ›Erster unter Ersten‹ bedeuten. Dies wurde bereits von Gilbert Wakefield bemerkt, der in seinem Kommentar die Wendung folgendermaßen paraphrasierte: »[…] i. e. his primis rerum repertoribus ego quoque sum repertor annumerandus ([…] d. h. ich bin als Erfinder auch unter diese ersten Erfinder von Dingen hinzuzuzählen).«679 Lukrez reiht sich als ›Einer unter Anderen‹ in die Geschichte des reperire ein, so wie er sich selbst, wie wiederholt, zu den repertores doctrinarum atque leporum zählt. Doch primus cum primis bezieht sich eher auf das vertere denn auf das reperire, weshalb Clay eine genauere Paraphrase vorschlägt: »And I myself am the first to be found, among the first, who could translate this philosophy into my native tongue […].«680 Wenn diese Lesart stimmt, dann ist Lukrez nicht der Einzige, der ein vertere der epikureischen Lehre in die lateinische Sprache betreibt. Primus cum primus wäre somit ein relatives und kein absolutes primus-Motiv. Diese Differenzierung ist mehr als eine philologische Spitzfindigkeit. Wir erfahren nämlich aus Ciceros Dialogen und seinem Briefwechsel, dass es in Rom 677 So meint Bailey: »cum primis only emphasizes primus ›first of all‹.« Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 3, S. 1371. Diese Lesart wird auch vertreten von: Munro, Lucretii Cari De rerum natura, S. 332; Giussani, T. Lucreti Cari De rerum natura, Bd. 3., S. 39; Rouse/Smith, Lucretius, De Rerum Natura, S. 405; C. D. N. Costa, Titus Lucretius Carus, De rerum natura V, hg. u. komm. v. dems., Oxford: Clarendon Press, 1984, S. 74; Gale, Lucretius, De Rerum Natura V, S. 134, usw. 678 Vgl. Eckerman, »Lucretius’ Self-Positioning in the History of Roman Epicureanism«, S. 789– 792. 679 Gilbert Wakefield, T. Lucreti Cari De rerum natura libri sex, hg., übs. und komm. von dems., Glasgow: Duncan, 1813, Bd. 3, S. 53. 680 Diskin Clay, Lucretius’ Translation of Greek Philosophy, unveröff. Diss., University of Washington, 1967, S. 2.
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noch andere Epikureer gab, die möglicherweise vor Lukrez lateinische Werke verfassten:681 Cicero erwähnt z. B. in einem Brief an den Epikureer Gaius Cassius Longinus (den späteren Caesar-Mörder), dass ein Epikureer namens Catius Epikurs ›Sicht-‹ und ›Gedankenbilder‹ (εἴδωλα) mit dem Ausdruck spectra, der sich von specere, ›sehen‹, ableitet, ins Lateinische übersetzte (fam. 15.18.1).682 Die εἴδωλα, die Lukrez, wie im zweiten Kapitel gezeigt, als simulacra, imagines oder species (ebenfalls von specere) übersetzt, werden durch den Neologismus spectra wiedergegeben, der hier erstmals auftaucht und der im Englischen als spectre, ›Phantom‹, ›Gespenst‹, weitergeistern wird.683 Die ›gespenstische‹ Natur der simulacra ist uns in Lukrez’ wiederholten Schilderungen der Totenerscheinungen begegnet. Cassius wiederum nennt in seinem Brief an Cicero neben Catius einen gewissen Amafinius, wobei er beide Namen als Beispiele für schlechte interpretes Epikurs anführt (fam. 15.19.2): »Ipse enim Epicurus, a quo omnes Catii et Amafinii, mali verborum interpretes, proficiscuntur […] (Epikur selbst nämlich, von dem alle Catier und Amafinier, schlechte Dolmetscher seiner Worte, ausgehen […]).« Indem Cassius die Eigennamen der beiden römischen Epikureer in den Plural setzt, macht er sie zum Allgemeinbegriff einer schlechten Romanisierung der epikureischen Philosophie. Schon der Ausdruck interpres, den er wählt, verweist, wie wir wissen, auf eine niedere und prestigelose Form des Übersetzens, von der sich Cicero selbst abgrenzt. Cicero will sich explizit von den schlechten interpretes Epikurs distanzieren, wie er an anderer Stelle unter Bezugnahme auf einen weiteren römischen Epikureer namens Rabirius schreibt (ac. 1.5): »[…] non posse nos Amafinii aut Rabirii similes esse, qui nulla arte adhibita de rebus ante oculos positis vulgari sermone disputant […] ([…] dass wir den Amafiniern oder Rabiriern nicht ähnlich sein wollen, die ohne Anwendung von Kunstfertigkeit über diejenigen Dinge, die vor den Augen [aller] liegen, in vulgärer Sprache disputieren […]).« Wie Cassius verallgemeinert Cicero die Namen seiner Konkurrenten und erhebt sie zum Typus einer vulgären Philosophie, die ohne rhetorische ars über triviale Dinge in einer trivialen Sprache (vulgaris sermo) spricht.684 Wer aber ohne Rhetorik und Eleganz schreibt, der 681 Vgl. Ettore Paratore, »La problematica sull’epicureismo a Roma«, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 1, Bd. 4 (1973), S. 116–204, insb. S. 149f. 682 Das Suffix -trum im Neologismus spectrum drückt einen instrumentalen Charakter aus, d. h. der Ausdruck unterstreicht, dass wir nur ›durch‹ und ›mittels‹ der spectra (εἴδωλα) sehen und denken können. Gerade diesen Aspekt scheint Cicero heftig zu kritisieren, was wohl einer seiner Gründe ist, weshalb er den Ausdruck ablehnt. Hierzu: Sean McConnell, »Why is Latin spectrum a Bad Translation of Epicurus’ ΕΙΔΩΛΟΝ? Cicero and Cassius on a Point of Philosophical Translation«, in: Mnemosyne, 72 (2019), S. 154–162, insb. S. 157–159. 683 Schon in antiken Inschriften wurde spectrum mit dem Erscheinen von Totengeistern assoziiert: Vgl. Mario Puelma, »Spectrum: Probleme einer Wortgeschichte, vom Altertum zur Neuzeit«, in: Museum Helveticum, 42, Nr. 2 (1985), S. 205–244, hier S. 206–209. 684 Vgl. Howe, »Amafinius, Lucretius, and Cicero«, S. 60.
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vermag laut Cicero seinen Gegenstand nicht zu erleuchten, weshalb die Philosophie für ihn in der lateinischen Sprache immer noch im Dunkeln liegt und auf sein eigenes inlustrare, das er in seinen Dialogen betreiben will, harrt. Diese Situation erläutert Cicero in einer Passage in seinem Dialog Tusculanae disputationes, in der er im Zuge seiner Rekonstruktion der Philosophiegeschichte erneut auf die römischen Epikureer zu sprechen kommt, insbesondere auf Amafinius, den er als einen primus im schlechten Sinn charakterisiert (4.5–7): Qui cum cetera litteris mandarent, alii ius civile, alli orations suas, alii monumenta maiorum, hanc amplissimam omnium artium bene vivendi disciplinam, vita magis quam litteris persecuti sunt. Itaque illius verae elegantisque philosophiae, quae ducta a Socrate in Peripateticis adhuc permansit et idem alio modo dicentibus Stoicis, cum Academici eorum controversias disceptarent, nulla fere sunt aut pauca admodum Latina monumenta […] cum interim illis silentibus C. Amafinius extitit dicens, cuius libris editis commota multitudo contulit se ad eam potissimum disciplinam, sive quod erat cognitu perfacile, sive quod invitabantur inlecebris blandis voluptatis, sive etiam, quia nihil erat prolatum melius, illud quod erat tenebant. post Amafinium autem multi eiusdem aemuli rationis multa cum scripsissent, Italiam totam occupaverunt, quodque maximum argumentum est non dici illa subtiliter, quod et tam facile ediscantur et ab indoctis probentur, id illi firmamentum esse disciplinae putant. Während diese [die Römer] andere Themen literarisch darstellten – die einen das Zivilrecht, andere ihre Redekünste, wieder andere die Erinnerungsmale [historischen Taten] der Vorfahren –, haben sie die umfassendste aller Künste, die Lehre von der guten Lebensführung, mehr durch ihr Leben als durch ihre Schriften verfolgt. Deshalb gibt es von jener wahren und eleganten Philosophie, die von Sokrates eingeführt wurde, die sich bis heute bei den Peripatetikern hielt sowie bei den Stoikern, die dasselbe nur anders ausdrücken, während die [skeptischen] Akademiker die Kontroversen zwischen beiden untersuchen, fast keine oder nur sehr wenige lateinische Denkmäler […]. Unterdessen jene [Philosophenschulen] aber schwiegen, erhob sich C. Amafinius lauthals und die Masse, die durch die Herausgabe seiner Bücher aufgewühlt war, bekannte sich fanatisch zu seiner Lehre, sei es, weil sie leicht zu verstehen war, sei es, weil sie durch die schmeichelnden Lockungen der Lust verführt wurden, sei es auch, dass sie, weil noch nichts Besseres hervorgebracht worden war, sich an das hielten, was es schon gab. Als aber nach Amafinius viele Nacheiferer derselben Lehre vieles geschrieben hatten, besetzten sie ganz Italien; und was der größte Beweis dafür ist, dass jene [Lehre] nicht subtil dargestellt wurde, dass sie nämlich so leicht gelernt wird und auch bei den Ungebildeten Zuspruch findet, das halten jene für ein Befestigungsmittel ihrer Lehre.
Zwar gab es, wie Cicero kurz zuvor bemerkt, bereits in der römischen Frühgeschichte vestiga der Philosophie, welche die Pythagoreer, die bereits im 6. Jhd. in Unteritalien wirkten, hinterließen (Tusc. 4.3),685 doch die Wirkung der Philosophie, die er zunächst als umfassende Kunst (ars) und Lehre vom guten Leben 685 Über den Pythagoreismus in Rom und die angebliche Affinität des römischen Königs Numa zu dieser Philosophenschule: Garbarino, Roma e la filosofia Greca, Bd. 2, S. 222–230.
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(bene vivendi disciplina) begreift, zeigte sich bisher mehr im Leben der großen Römer als in ihrer Literatur. Darum gibt es von der wahren und eleganten Philosophie, der vera elegansque philosophia, noch keine bzw. nur wenige literarische lateinische Monumente, Latina monumenta. Allerdings versteht Cicero unter der vera elegansque philosophia ausschließlich jene Philosophenschulen, die sich im Gefolge von Platon, Aristoteles oder den Stoikern mehr oder weniger direkt auf Sokrates zurückführen lassen, der die Philosophie, wie es an anderer Stelle der Tusculanae heißt, als primus von abgehobenen kosmologischen Spekulationen auf den Boden praktisch-ethischer Fragen stellte (Tusc. 5.10).686 Während nun die Peripatetiker und Stoiker, so Cicero, im Grunde dasselbe meinen, untersuchen die skeptischen Akademiker, zu denen er selbst gehört und die damals die platonische Akademie führten, die theoretischen Kontroversen aller anderen Schulen, ohne ein eigenes Urteil zu fällen. Die skeptischen Akademiker suchen weniger nach der Wahrheit (veritas) als nach Wahrscheinlichkeit (veri simili)687 und konzentrieren sich wie Sokrates vornehmlich auf praktisch-ethische Fragen. Durch dieses Primat der praktischen und politischen Vernunft versuchen sie, das sokratische Erbe in Reinform zu bewahren, das Cicero in seinen Dialogen in rhetorisch-dialektischer Form mustergültig darstellen will.688 Damit versöhnt Cicero den Skeptizismus des Sokrates mit der Rhetorik, der Sokrates feindlich gesinnt war, und betrachtet seine Dialoge sowohl als eine philosophische Fortführung wie auch als eine rhetorischsprachliche Vollendung der vera elegansque philosophia, die angeblich von den Epikureern verraten wurde: Unterdessen nämlich die Vertreter der sokratischen Tradition schwiegen, nutzten Populisten wie Amafinius scheinbar die Situation, um ihre epikureische Lehre unter dem ungebildeten Volk zu verbreiten. Nachdem Amafinius erstmals die Massen durch seine lateinischen Bücher aufwühlte und sie durch seine simple Sprache und hedonistische Lehre verführte, folgten zahlreiche Nacheiferer derselben Lehre (aemuli rationis), d. h. Catius, Rabirius und Konsorten, die ganz Italien durch ihre falsche und plump formulierte (non subtiliter) Lehre wie eine Militärmacht besetzten: Italiam totam occupaverunt. Um diese verbale Okkupation – wir erinnern uns an Lukrez’ Formel dictis, non armis – aufzuhalten, errichtet Cicero die Latina monumenta seiner eigenen Dialoge als 686 Vgl. Andreas Schwab, »Ciceros Proömien als Beginn der Philosophiegeschichtsschreibung in Rom? Beobachtungen zu den Vorreden der ›Gespräche in Tusculum‹«, in: Philologia Classica, 13, Nr. 1 (2018), S. 69–81, insb. S. 77f. 687 Das Konzept des veri simile ist für Cicero sowohl ein skeptisch-epistemologischer als auch ein rhetorischer Begriff, womit er Philosophie und Rhetorik verbindet: Vgl. Therese Fuhrer, »Der Begriff veri simile bei Cicero und Augustin«, in: Museum Helveticum, 50, Nr. 2 (1993), S. 108–125, insb. S. 111–114. 688 Über die Form von Ciceros Dialogen, die teilweise an die einer Gerichtsrede erinnert, und über das Spannungsverhältnis von Rhetorik und Philosophie: Philippa R. Smith, »A selfindulgent misuse of leisure and writing. How not to write Philosophy: Did Cicero Get it Right?«, in: Cicero the Philosopher, S. 301–324.
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Bollwerk gegen den Epikureismus, der die vera elegansque philosophia in eine falsche und trivilae Philosophie (falsa vulgarisque philosophia) zu verkehren droht.689 Angesichts der Epikureer verliert Cicero oftmals seinen vornehmen und zurückhaltenden Skeptizismus. Auch wenn er es prinzipiell in der Schwebe lässt, ob die Platoniker, Aristoteliker oder Stoiker in theoretischen Belangen Recht haben, erklärt er den Epikureismus definitiv als misslungen. Dies liegt vornehmlich an der negativen ethisch-politischen Wirkung, die er dem Hedonismus unterstellt: So beschwert er sich, dass sich die Epikureer aufgrund ihres egoistischen Strebens nach voluptas aus der Politik in ihren Garten zurückziehen und damit zum Verfall des Staates beitragen (de orat. 3.63). An anderer Stelle wettert er besonders heftig gegen den Hedonismus und schreibt, dass die epikureische voluptas wie eine Prostituierte in eine Gesellschaft ehrenwerter römischer Ehefrauen eindringt und ihre Sitten verdirbt (fin. 2.12). Schlussendlich macht er die Epikureer mitverantwortlich für die politischen Wirren des Bürgerkriegs (fin. 2.117): »Nonne videmus quanta perturbatio rerum omnium consequatur, quanta confusio? […] maximas vero virtutes iacere omnis necesse est voluptate dominante (Sehen wir nicht, was für Unordnung aller Dinge, was für ein Chaos daraus folgt? […] Die größten Tugenden werden alle notwendigerweise hinfällig, sobald die Lust dominiert).« Die voluptas ist das diametrale Gegenbild der römischen virtutus und führt zur Zerrüttung des sozialen Gefüges.690 Deshalb sagt Cicero in einem seiner letzten Dialoge, dass die römische Elite gegen die Epikureer und überhaupt alle Exponenten des Hedonismus (etwa die Kyniker) gleichsam mit Infanterie und Kavallerie (viris equisque) vorgehen müsse, um die Ehrenhaftigkeit und moralische Integrität (honestas) der römischen Gesellschaft zu retten (off. 3.116f). Diese militärische Metaphorik ist keinesfalls harmlos, wenn man bedenkt, dass Cicero diese Zeilen in Bürgerkriegszeiten verfasste.691 689 Ciceros Rolle als philosophischer Schriftsteller entspricht einem aristokratischen Habitus: Therese Fuhrer, »Philosophische Literatur in Rom als Medium sozialer Rollen«, in: Philosophie in Rom – Römische Philosophie? Kultur, literatur- und philosophiegeschichtliche Perspektiven, hg. v. Gernot Michael Müller u. Fosca Mariani Zini, Berlin u. a.: De Gruyter, 2018, S. 99–114, hier S. 102–104. 690 Bezeichnenderweise wird Ciceros anti-epikureische Polemik im Laufe der Zeit heftiger, wobei der Bürgerkrieg eine Zäsur darstellt. Während Cicero vor der Schlacht von Pharsalos den Epikureismus als eine Philosophie belächelt, die faulen Optimaten als Ausrede dient, um sich vor ihrer Pflicht zu drücken, erklärt er ihn nach dieser Schlacht zur eigentlichen Ursache der Zerrüttung des Staates: Herbert M. Howe, »Amafinius, Lucretius, and Cicero«, S. 61f. 691 Die politischen Verstrickungen der Epikureer waren alles andere als klar. Sowohl Caesar und einige seiner Parteigänger wie deren Gegner – z. B. der Caesarmörder Cassius – waren Epikureer: Vgl. David Sedley, »Epicureanism in the Roman Republic«, in: The Cambridge Companion to Epicureanism, hg. v. James Warren, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 2009, S. 29–45, hier S. 43f.
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Cicero attackiert nicht nur den Hedonismus der Epikureer, aber auch ihre aufklärerische Rhetorik. Obschon er selbst – zumindest in theoretischer Hinsicht – nicht unbedingt als Verteidiger der traditionellen religio gilt, stellt er den epikureischen Befreiungsschlag gegen die religio und superstitio als bloßen Kampf gegen Windmühlen dar, wobei er offenkundig Lukrez pastichiert (Tusc. 1.48): Quae quidem cogitans soleo saepe mirari non nonullorum insolentiam philosophorum, qui naturae cognitionem admirantur eiusque inventori et principi gratias exultantes agunt eumque venerantur ut deum; liberatos enim se per eum dicunt gravissimis dominis, terrore sempiterno ac diurno ac nocturno metu. quo terrore? quo metu? Quae est anus tam delira quae timeat ipsa, quae vos videlicet, si physica non didicissetis, timeretis, »acherusia templa alta Orci, pallida leti, nubila tenebris loca«? non pudet philosophum in eo gloriari, quod haec non timeat et quod falsa esse cognoverit? E quo intellegi potest, quam acuti natura sint, quoniam haec sine doctrina credituri fuerunt. Wenn ich darüber nachdenke, pflege ich mich oft über die Frechheit einiger Philosophen zu wundern, die die Naturerkenntnis bewundern und deren Erfinder und Pionier [Epikur] überzogen danken und ihn gleichsam wie einen Gott ehren, da sie behaupten, dass sie durch ihn von den schlimmsten Herrschern [den Göttern] befreit wurden, dem ewigen Terror und der täglichen und nächtlichen Angst. Welcher Terror? Welche Angst? Welche alte Frau ist so verrückt, dass sie das fürchtet, was ihr offensichtlich, wenn ihr nicht Physik gelernt hättet, fürchten würdet, »die tiefen Tempel des Acheron [die Unterwelt], die todesbleichen, schattenumwölkten Orte des Orkus«? Schämt sich ein Philosoph nicht, sich deshalb zu rühmen, dass er das nicht fürchtet und als falsch erkannt hat? Daraus kann man erkennen, wie scharfsinnige sie von Natur aus sind, da sie dies ohne ihre Lehre geglaubt haben würden.
Wie im ersten Kapitel erwähnt, nennt Cicero erstaunlicherweise in seinen philosophischen Dialogen, in denen er sich wiederholt mit römischen Epikureern auseinandersetzt, Lukrez nie.692 Dennoch enthalten seine Dialoge zahlreiche lukrezische Echos,693 wie auch vorliegende Passage beweist, die einige wortwörtliche Anspielungen auf De rerum natura enthält: So rühmt Lukrez, wie zitiert, Epikur im dritten Proömium als inventor rerum und bezeichnet ihn im fünften als deus und als Ersten, der die Lebenslehre fand (qui princeps vitae rationem invenit). Sodann erklärt er im zweiten Buch, dass die epikureische Lehre die Natur von den überheblichen Zwingherren der Götter befreit (natura libera dominis privata superbis) (2.1090f), und wendet sich, wie ausführlich im zweiten 692 Die wirkmächtige Bemerkung von Hieronymus, dass Cicero Lukrez’ unvollendetes Werk nach dessen Tod herausgab, ist darum wie Lukrez’ angeblicher Liebeswahn eine unhaltbare Legende: Vgl. Ubaldo Pizzani, »Il problema della presenza lucreziana in Cicerone«, in: Ciceroniana. Rivista del Centro di Studi Ciceroniani, 5 (1984), S. 173–188, hier S. 157f. 693 Eine Auflistung und Analyse zahlreicher möglicher intertextueller Echos findet sich in: Gian Carlo Pucci, »Echi lucreziani in Cicerone«, in: Studi italiani di filologia classica, 38 (1966), S. 70–132.
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Kapitel gezeigt, im Rahmen des ersten Proömiums gegen Ennius’ Behauptung der Existenz Acherusia templa (oder tenebrae Orci). Außerdem kämpft er, wie im ersten Kapitel analysiert, gegen den irrationalen Terror und die Angst der religio, welche die unerleuchteten Menschen bei Tag und bei Nacht heimsuchen. Indem Cicero all diese Passagen kombiniert und parodiert, macht er De rerum natura zum Synonym für die epikureische Aufklärung, die er als irrationalen Kampf gegen bloß literarische und unwürdige Ängste diskreditiert. Nun schrieb Lukrez gewiss nicht im vulgaris sermo und ohne rhetorische ars für die ungebildete Masse, wie dies angeblich Amafinius, Catius und Rabirius taten.694 Cicero selbst gesteht ja in einem Brief an seinen Bruder Lukrez außergewöhnliche Kunstfertigkeit (multa ars) zu (ad Quin. 2.10.3). Lukrez, der Epikurs Lehre durch sein vertere grundlegend sprachlich und gedanklich umarbeitete, war in seinen Augen sicherlich kein schlechter interpres, weshalb er ihn in seinen Darstellungen der Latinisierung der Philosophie konsequent verschweigt. Weil sich Cicero selbst als primus des eleganten vertere der griechischen Philosophie stilisieren will, attackiert er seinen ebenbürtigen epikureischen Konkurrenten nicht offen, sondern bezieht ihn nur auf versteckte Weise in seine anti-epikureische Rhetorik ein.695 Wir sehen im Zerrspiegel von Ciceros Taktik eine epikureische Tradition, die am Anfang der eigentlichen Latinisierung der Philosophie steht und sich in Rom rasant ausbreitet. Obwohl Cicero Lukrez nie erwähnt, benutzt er dessen Text zur Charakterisierung des ideologischen Programms der Epikureer, das er lächerlich machen will. Selbst wenn die genaue Datierung von Amafinius Wirken umstritten ist, kann Lukrez im weiteren Sinn als Teil von dieser Bewegung begriffen werden.696 Egal wie wir Lukrez’ Ausdruck primus cum primis nun lesen, ob als absolutes oder relatives primus-Motiv, Lukrez beteiligt sich mit seinem vertere an der epikureischen Missionierung Italiens, der Popularisierung von Epikurs Lehre, die laut Cicero schon länger im Gange ist. Entweder grenzt er sich als primus von anderen römischen Epikureern ab – wie Cassius von den mali verborum interpretes – oder er sieht sich als Speerspitze einer größeren Tradition, die Italien bereits dictis, non armis erobert hat. In beiden Fällen überlagert sich sein primus-Motiv mit Epikurs Funktion als primus im Kampf gegen die religio 694 Lukrez selbst behauptet, wie gesagt, dass das einfache Volk vor seiner Philosophie zurückschreckt (volgus abhorret), weshalb er seine bittere Botschaft in süßen Versen verpackt. Hierzu: Howe, »Amafinius, Lucretius, and Cicero«, S. 59. 695 Vgl. Pucci, »Echi lucreziani in Cicerone«, insb. S. 71f. 696 Pizzani bemerkt treffend: »La possibilità, quindi, che Lucrezio, nel suo titanico sforzo di piegare la lingua latina ad esprimere gli obscura reperta della filosofia epicurea, abbia, se pur occasionalmente, accolto i suggerimenti di opere latine d’ispirazione epicurea, non può e non deve essere pregiudizialmente escluso. Ancor meno si potrà escludere una certa coincidenza fra certe tematiche lucreziane e quelle di questi autori latini, magari sulla base di fonti comuni, che Cicerone presumibilmente non ignorava.« Pizzani, »Il problema della presenza lucreziana in Cicerone«, S. 180.
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und als Entdecker der natura rerum. Seine poetische Form erscheint als eine absolute novitas, wohingegen seine Latinisierung der naturae species ratioque einer größeren Tradition folgt, die er jedoch – wie Cicero nach ihm – erfolgreich in den Hintergrund drängt.
5.
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Innerhalb der diskutierten Digression unterstreicht das primus-Motiv die novitas von Lukrez’ Dichtung, die, so gezeigt, wiederum auf die novitas der natura mundi verweist. Doch diese poetologische und kosmologische novitas ist nicht der Endpunkt von Lukrez’ Argumentation, in deren größerem Rahmen sie als Hinweis auf die Vergänglichkeit der Welt erscheint. Bereits im Proömium des fünften Buchs kündigt Lukrez an, dass die Welt ein sterblicher Körper (mortale corpus) ist, der geboren wurde (nativus) (5.65f), was er durch eine ganze Reihe teils nur lose verbundener Argumente beweisen will: In einem ersten Schritt argumentiert er dafür, dass die Welt weder göttlich ist noch von den Göttern geschaffen wurde. Das Weltganze ist nicht beseelt und kann kein göttliches Lebewesen sein (5.126–145). Überhaupt leben die Götter friedlich in den Zwischenwelten (μετακόσμια). Darum haben sie kein Bedürfnis, etwas zu schaffen oder in der Welt zu intervenieren, denn jede Liebe zur Neuheit (novitatis amor) ist ihnen fremd. Warum sollten sie auch eine Welt erschaffen, deren NichtExistenz kein Übel wäre (5.146–180)?697 Die Welt ist ohne Musterbild (specimen) allein aus der zufälligen Kombinatorik der Atome in der unendlichen Leere entstanden, welche seit Ewigkeiten eine beständige Erneuerung aller Dinge bewirkt (rerum summa novare) (5.181–194). Weiter ist die Erde ein unwirtlicher Ort, der voller Gebrechen und Schuld (culpa) ist, weil er großteils unbewohnbar und von klimatischen Extremen gekennzeichnet ist. Die Erde wird von gefährlichen Tieren bevölkert und von tödlichen Krankheiten heimgesucht. Hätten die Götter sie für die Menschen geschaffen, würden diese nicht so hilflos auf die Welt kommen und im Unterschied zu den Tieren nicht so stiefmütterlich von der natura daedala rerum behandelt werden (5.195–234).698 Die Welt ist nicht göttlich und folglich, so die implizite Konklusion, kann sie nicht unsterblich sein.699 697 Die Echtheit dieser Verse wurde von Diels bestritten. Da Cicero jedoch einem epikureischen Gesprächspartner eine ähnliche Argumentation in den Mund legt, plädiert Bailey für deren Echtheit, worin ihm die meisten späteren Editoren folgen: Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 3, S. 1347. 698 Die Vorstellung, dass Tiere ein Spiegel der Natur sind und dass sie dem Menschen in gewisser Weise überlegen sind, geht auf die Kyniker zurück: Vgl. Gale, Lucretius, De Rerum Natura V, S. 119.
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Sodann geht Lukrez in einem zweiten Schritt auf die Vergänglichkeit aller Dinge ein: Die großen Glieder unserer Welt (maxima mundi membra), Erde, Wasser, Luft und Feuer, sind – wie überhaupt alle wahrnehmbaren Körper – sterblich, wie unsere Erfahrung lehrt. Die Erde wird von Wind und Regen aufgelöst, das Wasser verdampft in der Hitze, die Luft nährt alle Dinge, in die sie eingeht, und das Licht der himmlischen Feuer zerstreut sich im Raum (5.240– 323). Dies liegt nicht zuletzt daran, dass den Atomen die Leere beigemischt ist und dass sich die Atome jederzeit in der Unendlichkeit des Raums verlieren können (5.351–372). Darum muss unsere natura mundi irgendwann einmal vergehen, wie Lukrez mit einem drastischen Bild schließt (5.373–375): »Haud igitur leti praeclusa ianua caelo | nec soli terraque neque altis aequoris undis, | sed patet immani ac vasto respectat hiatu (Weder ist daher das Tor des Todes dem Himmel verschlossen noch der Sonne, der Erde und den tiefen Wogen des Meeres, sondern es steht offen, lauert mit ungeheurem und sperrangelweitem Gähnen).«700 Zuletzt hebt er in einem dritten Argumentationsschritt den permanenten Kriegszustand aller Dinge hervor: Die elementaren Körper unserer Welt sind nicht nur sterblich, sie befinden sich außerdem in einem gottlosen Bürgerkrieg (pium nequaquam bellum), der bislang noch nicht entschieden wurde (5.380). Zwar mögen Erde, Wasser, Feuer oder Luft in diesem Kampf gegenwärtig die Überhand gewinnen, was Naturkatastrophen erklärt, doch sobald ein Element in unabsehbarer Zukunft den absoluten Sieg erringen wird, muss es die gesamte Welt zerstören (5.381–398). Dies spiegelt sich schon in den Mythen wider, welche die alten Dichter der Griechen besangen (ut veteres Graium cecinere poetae),701 wenn sie z. B. die Geschichte von Phaeton erzählten, der auf seiner Fahrt mit dem Sonnenwagen die Erde in Brand steckte, oder von urzeitlichen Sintfluten be-
699 Mit dieser Polemik wenden sich Epikur und Lukrez gegen eine Kosmologie, wie wir sie in Platons Timaios finden. Wahrscheinlich richtet sie sich aber auch gegen Aristoteles – v. a. gegen dessen verlorenen Dialog De philosophia – sowie gegen dessen Schüler Theophrast: Vgl. Bignone, L’Aristotele perduto, Bd. 2, insb. S. 422–456. Bezüge zur Stoa, die von späteren Epikureern angegriffen wurde, sind nicht auszuschließen: Vgl. Schmidt, Lukrez, der Kepos und die Stoiker, insb. S. 207–211. Der indirekte Einfluss der Stoa ist, so erwähnt, umstritten. Hierzu: Friedrich Solmsen, »Epicurus and Cosmological Heresies«, in: The American Journal of Philology, 72, Nr. 1 (1951), S. 1–23, insb. S. 3–5. 700 Lukrez stellt den Tod wiederholt als eine Pforte oder einen Rachen dar: Vgl. Agnes Kirsopp Michels, »Death and Two Poets«, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association, 86 (1955), S. 160–179, hier S. 162. 701 Mit einer ähnlichen Formel distanziert sich Lukrez von seiner eigenen eindrucksvollen Schilderung des Umzugs der Kybele: Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 3, S. 1378. Aus seiner aufklärerischen Welt blickt Lukrez ironisch und spöttisch auf die mythisch-religiöse Vorstellungswelt der alten Dichter zurück, die er überwunden glaubt.
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richteten.702 Solche und verwandte Mythen sind natürlich falsch, da sie laut Lukrez der epikureischen Lehre widersprechen, die keine Intervention der Götter duldet (5.399–415). Dennoch geben sie uns ein gewisses poetisches Bild vergangener Katastrophen und künden auf allegorische Weise vom möglichen Untergang unserer Welt.703 Im Kontext dieser großangelegten Argumentation, die den gesamten ersten Teil des fünften Buchs dominiert, dient die analysierte Digression über die novitas unserer Welt dem Nachweis ihrer Sterblichkeit: Alles, was eine Geburtstunde, genitalis origo, hat, hat ein zukünftiges Ende (exitium futurum); alles, was novitas besitzen kann, muss altern und schließlich sterben. Insofern erklärt sich der Widerspruch zwischen der Jugend und dem Alter der Welt, die, wie angedeutet, zwei Aspekte ein und desselben Werdens sind. Weil alle zusammengesetzten Dinge und Ereignisse, concilia wie eventa, im Unterschied zu den Atomen selbst einem unaufhörlichen und unabwendbaren vertere unterworfen sind, verschränken sich Tod und Geburt nicht nur im Leben der Menschen, sondern im ganzen Kosmos, in dem zahllose Welten wie Lebewesen geboren werden, um wieder zu sterben.704 Die novitas der Welt und des De rerum natura selbst stoßen daher die Pforten des Todes (leti ianua) noch weiter auf, deren ungeheurer hiatus einmal alles verschlingen muss. Lukrez’ eigenes vertere ist folglich selbst bloß ein Signum der Geborenheit, Sterblichkeit und Gottlosigkeit unserer Welt. So verweisen auch die Verse, die direkt an unsere Digression anschließen und gleichsam eine Digression der Digression bilden, auf den Untergang. Lukrez ist sich bewusst, dass sein Argument für die Jugend der Kultur- und Menschheitsgeschichte anfechtbar ist, und antizipiert einen möglichen Einwand: Sollte der Leser annehmen, dass die kulturellen Errungenschaften der Menschheit immer wieder von Hitzewellen, Erdbeben oder Fluten vernichtet wurden, um erneut bei 702 Diese beiden Beispiele finden sich bereits in Platons Timaios, wo sie ebenfalls als allegorische Einkleidungen kosmologischer Veränderungen gedeutet werden: Vgl. Solmsen, »Epicurus and Cosmological Heresies«, S. 6f. Auch die Stoa deutete den Phaeton-Mythos als Allegorie der Zerstörung der Welt durch den Weltbrand (ἐκπύρωσις). Über Lukrez’ Darstellung des Mythos: Ackermann, Lukrez und der Mythos, S. 94–98. 703 Damit schlägt Lukrez zwei Fliegen mit einer Klappe, wie Gale bemerkt: »[…] he [Lucretius] uses the story of Phaethon with great poetic economy, both to support his own contention that the world will one day perish by fire or water and to attack the world-view which the myth represents, whereby the gods act and suffer and exert their influence to preserve the world for the sake of mankind.« Gale, Myth and Poetry in Lucretius, S. 34. 704 Seltsamerweise übertragen sowohl Lukrez als auch Epikur eine Theorie des biologischen Werdens auf die Welten, obwohl sie die Lebendigkeit des Kosmos bestreiten. Dahingegen vergleicht Platon den Kosmos in seinem Timaios mit einem Lebewesen und behauptet dessen Ewigkeit. Zu diesem Paradox: Friedrich Solmsen, »Epicurus on the Growth and Decline of the Cosmos«, in: The American Journal of Philology, 74, Nr. 1 (1953), S. 34–51, insb. S. 47–50.
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Null zu beginnen, dann beweist die Kurzlebigkeit unseres poetisch-historischen Gedächtnisses nicht die novitas der Welt.705 Doch selbst wenn wir diese Hypothese einer zyklischen Vernichtung der menschlichen Kultur in Erwägung ziehen, müssen wir, so kontert Lukrez, gestehen, dass unsere Welt vergänglich ist: Die Fragilität der Kultur und die Unberechenbarkeit der Naturgewalten, die Krankheiten (morbi) und Gefahren (pericula), die alle Dinge heimsuchen, sprechen nicht unbedingt für die Göttlichkeit und Unsterblichkeit der Welt. Angesichts dieser prekären Umstände bedürfte es nur einer weiteren kleinen und etwas unglücklicheren Ursache (tristior causa), damit unsere natura mundi samt Himmel und Erde eine endgültige Niederlage (clades) erlitte und in den großen Ruin (magnae ruinae) stürzte (5.338–347). Der künftige Untergang, das exitium futurum, ist unausweichlich (5.343f): »[…] tanto quique magis victus fateare necessest | exitium quoque terrarum caelique futurum […] ([…] umso mehr musst du bezwungen gestehen, dass es auch einen Untergang der Länder und des Himmels geben wird […]).« So wechselt Lukrez auf der Mikroebene seiner Argumentation geschickt von der genitalis origo zum exitium futurum der Welt,706 während der gesamte Aufbau des Buchs von der Sterblichkeit zur Geburt und Entwicklung der Welt verläuft, die am Ende in der Gegenwart münden wird. Der künftige Weltuntergang spielt in Lukrez’ Poetik und Kosmologie eine herausragende Rolle. Er scheint – soweit die Quellenlage diesen Schluss zulässt – viel drängender und drohender als für Epikur, der ebenfalls von der Vergänglichkeit der Welt spricht:707 Bereits gegen Ende des zweiten Buchs wird der Weltuntergang angekündigt, wenn Lukrez im Zuge seiner Darstellung der langsamen Erschöpfung aller Dinge, die unaufhörlich Atome verlieren, ausruft (2.1145f): »Sic igitur magni quoque circum moenia mundi | expugnata dabunt labem putrisque ruinas (Demnach werden so auch die ringsum eroberten Mauern der Welt den Zusammenbruch bewirken und den morschen Einsturz).« Das Bild von der Belagerung und Zerstörung der moenia mundi ist uns bereits aus dem ersten Epikur-Enkomion bekannt, in dem Epikur die moenia mundi – wie im ersten Kapitel gezeigt – durchbricht, um den terminus alte haerens des 705 Auch Platon und Aristoteles ziehen eine Unterbrechung des kulturellen Gedächtnisses durch Katastrophen in Erwägung, ohne jedoch daraus auf eine zyklische Vernichtung der Welt zu schließen. Lukrez greift diese Argumentation seiner Gegner auf, um sie gegen diese zu wenden: Vgl. Gale, Lucretius, De Rerum Natura V, S. 135. 706 Bailey zu 5.314–350: »He [Lucretius] thus passed almost imperceptibly from a proof that the world had a beginning to show that it will have an end.« Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 3, S. 1370. 707 Während Epikur laut Zeugnisse keine zeitlichen Angaben über den Weltuntergang macht, stellt ihn Lukrez gegen Ende des zweiten Buchs in naher Zukunft in Aussicht. Die pessimistische Vorstellung von der Erschöpfung der Erde ist möglicherweise eine Besonderheit von Lukrez, wie etwa Green vermutet: William M. Green, »The Dying World of Lucretius«, The American Journal of Philology, 63, Nr. 1 (1943), S. 51–60, hier S. 53f.
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gesamten Kosmos zu entdecken. Das exitium futurum, das Lukrez eindrücklich im Anschluss an das fünfte Proömium beschwört, ist eine konkrete und radikale Konsequenz dieses terminus, der alle Dinge determiniert (5.91–109): Quod superest, ne te in promissis plura moremur, principio maria ac terras caelumque tuere; quorum naturam triplicem, tria corpora, Memmi, tris species tam dissimilis, tria talia texta, una dies dabit exitio, multosque per annos sustentata ruet moles et machina mundi. nec me animi fallit quam res nova miraque menti accidat exitium caeli terraeque futurum, et quam difficile id mihi sit pervincere dictis; ut fit ubi insolitam rem adportes auribus ante, nec tamen hanc possis occulorum subdere visu nec iacere indu manus, via qua munita fidei proxima fert humanum in pectus templaque mentis. sed tamen effabor. dictis dabit ipsa fidem res forsitan, et graviter terrarium motibus ortis omnia conquassari in parvo tempore cernes. quod procul a nobis flectat fortuna gubernans, et ratio potius quam res persuadet ipsa succidere horrisono posse omnia victa fragore. Darüber hinaus, damit wir nicht weiterhin mit unseren Versprechen zögern, betrachte zunächst die Meere, Länder und den Himmel: Deren dreifache Natur, drei Körper, Memmius, drei so unterschiedliche Gestalten, drei solche Gewebe, ein Tag wird sie dem Untergang weihen, die Masse, so viele Jahre aufrechterhalten, wird einstürzen und die Maschine der Welt. Und ich täusche mich nicht, was für eine neue und wunderliche Sache [unsren] Geist mit dem künftigen Untergang des Himmels und der Erde trifft und wie schwierig es für mich ist, davon mit Worten zu überzeugen; wie es geschieht, wenn du den Ohren eine ungewohnte Sache nahebringst und sie dennoch weder unter den Blick der Augen rücken, noch die Hände darauf legen kannst, die befestigte Straße des Vertrauens, die am direktesten in das Herz der Menschen und die Tempel des [ihres] Geistes führt. Aber dennoch werde ich es verkünden. Vielleicht wird Glauben den Worten schenken die Sache selbst und du wirst, wie alles durch entstandene Bewegungen der Erde heftig erschüttert wird, in kurzer Zeit sehen. Das wende weit ab von uns das herrschende Schicksal und davon überzeuge uns lieber die Lehre als die Sache selbst, dass alles besiegt, vernichtet werden kann mit schrecktönendem Krachen.
Lukrez löst endlich sein Versprechen ein, den Untergang der Welt zu schildern. Zuerst ruft er den Leser (Memmius) persönlich an, damit dieser sich den gewaltigen Körper unserer Welt vergegenwärtige. Dieser besteht aus Meer, Erde
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und Himmel, deren Dreizahl wie eine magische Formel wiederholt wird.708 Dann fordert er den Leser auf, sich ihr exitium futurum vorzustellen: Das gesamte Weltgebäude, das unzählige Jahre zusammenhielt, wird innerhalb eines einzigen Tages zugrunde gehen (una dies dabit exitio). Im selben Atemzug betont Lukrez die Schwierigkeit dieser Vorstellung, die er durch die Formel ›und ich täusche mich nicht‹, nec me animi fallit, einleitet, die uns schon in anderen poetologischen Schlüsselstellen begegnet ist. Dadurch steigert er den Heroismus seiner eigenen dichterischen Aufgabe: Denn das exitium futurum lässt sich nur mit Mühe veranschaulichen und sprachlich überzeugend darstellen (pervincere dictis), weil es weder für die Augen sichtbar noch mit Händen greifbar ist. Es ist eine völlig unerhörte und seltsame neue Sache, res nova miraque, welche die Grenzen der rhetorisch-epistemologischen Evidenz zu sprengen droht, die auf möglichst direktem und befestigtem Wege (via munita proxima) von der Sinneserfahrung in die Räume unseres Bewusstseins (templa mentis) führt. Dennoch will Lukrez sie in seiner Dichtung greif-, sicht- und hörbar präsentieren.709 Schon jetzt sollen wir in den Versen den ohrenbetäubenden Schreckensklang (horrisonus fragor) vernehmen, den das exitium futurum hervorrufen wird. Um dieses Ereignis gleichsam taktil und visuell vorwegzunehmen, lässt Lukrez den Leser an ein dreifaches Gewebe (tria talia texta) denken, das zerreißt, an eine rohe Masse, ein Riesengebäude, einen Damm (moles), der einstürzt, oder an eben eine Maschine (machina), die plötzlich in sich zusammenbricht. Die letztgenannte Metapher der ›Weltmaschine‹, der machina mundi, ist außergewöhnlich, da sie hier – soweit wir wissen – erstmals in der europäischen Literaturgeschichte auftaucht:710 Lukrez reagiert, wie er schon im allerersten Proömium ankündigt, auf die rerum novitas mit neuen Worten und Wortbildern, nova verba, um unsichtbare und unbekannte Zusammenhänge zu erleuchten (inlustrare). So antwortet er auch auf die novitas des exitium futurum mit einer neuen Metapher, der eine lange Wirkungsgeschichte vorbehalten ist und die sich v. a. in der Neuzeit rasant entfalten wird.711 Wir wissen nicht, was sich Lukrez unter seiner machina mundi genau vorstellte, doch Passagen, in denen er den 708 Die Dreiteilung der Welt ist ein traditioneller Topos, der sich auch bei Homer und Empedokles findet: Vgl. Gale, Lucretius, De Rerum Natura V, S. 119. 709 Zu diesem Problem der Evidenz-Erzeugung siehe auch meinen Text: »Manifest gegen die Evidenz«, S. 91. 710 Vgl. Giorgio Jackson, Commento a Lucrezio De rerum natura, libro V 1–280, Pisa u. a.: Fabrizio Serra, 2013, S. 148f. 711 Zur Erfolgsgeschichte der Metapher der Weltmaschine siehe: Marcus Popplow, »Setting the World Machine in Motion: The Meaning of Machina Mundi in the Middle Ages and the Early Modern Period«, in: Mechanics and Cosmology in the Medieval and Early Modern Period, hg. v. Massimo Bucciantini, Michele Camerota u. Sophie Roux, Florenz: Olschki, 2007, S. 45– 70; Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, insb. S. 92–109.
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menschlichen Körper mit einer Hebemaschine (4.903–906) und die Bewegung der Gestirne – wenn auch hypothetisch – mit einem Wasserrad (5.514–516) vergleicht, legen nahe, dass er tatsächlich an eine Maschine im engeren Sinn dachte.712 Die Vorstellung einer machina mundi wurde in der Nachfolge von Lukrez öfters aufgegriffen und führte bereits in der römischen Dichtung ein gewisses Eigenleben:713 Manilius, der, wie gezeigt, mit Vorliebe Lukrez imitiert, beschrieb in seinen Astronomica die Welt wiederholt als machina, allerdings um ihre Göttlichkeit (2.60–69), ihre Funktionalität und Stabilität zu charakterisieren (5.514f). Wie häufig später in der Neuzeit und Moderne ist die machina mundi für ihn Ausdruck göttlicher Perfektion – ein Intelligent Design. Dahingegen benutzt Lukrez die Metapher, um ihre Gottlosigkeit und Instabilität zu illustrieren. Sie ist das Sinnbild einer Welt ohne Baumeister und Zweck, die kollabieren wird. Dies hat der neronische Dichter Lukan begriffen, wenn er in seinem historischen Epos De bello civili, in dem die Götter kaum eine Rolle spielen, den Zusammenbruch der römischen Republik mit dem Kollaps der Weltmaschine vergleicht (1.79f): »[…] dedignata diem poscet sibi totaque discors | machina divolsi turbavit foedera mundi ([…] verschmäht wird sie [die Welt] für sich den Tag einfordern und die widersprüchliche Maschine verstört alle Bündnisse [Gesetze] der zerstückelten Welt).«714 Diese Anspielung auf Lukrez715 dient nicht nur dem rhetorischen Pathos Lukans, sondern wirft zugleich eine spannende Frage auf: Sagt Lukrez, dass das exitium futurum bald eintritt, und bittet, dass das Schicksal (fortuna) dies abwenden möge, weil der aktuelle Bürgerkrieg eine Weltuntergangsstimmung verbreitet? Jedenfalls charakterisiert auch Lukrez wie Lukan, der von einem Weltbündnis (foedera mundi) spricht, die Verbindungen der Atome als foedera, d. h. als sozial-politische Bündnisse, die von einem kosmischen Kriegszustand bedroht sind.
712 Möglicherweise denkt Lukrez an eine astronomische Uhr: Markovic´, The Rhetoric of Explanation in Lucretius’ De rerum natura, S. 52 (Fn. 2). Wie Berryman warnt, sollten uns diese oder ähnliche Analogien jedoch nicht dazu verleiten, hier auf anachronistische Weise von einem mechanischen Weltbild zu sprechen: Vgl. Sylvia Berryman, »Ancient Automata and Mechanical Explanation«, in: Phronesis, 48, Nr. 4 (2003), S. 344–369, hier S. 362f. Zum literarisch-philosophischen Kontext der machina mundi siehe die neuere Publikation: Manuel Galzerano, La fine del mondo nel De rerum natura di Lucrezio, Boston/Berlin: De Gruyter, 2020, S. 113–116. Galzerano, der den Ausdruck vor dem Hintergrund kosmologischer Diskurse normalisieren will, scheint die Macht des Metaphorischen zu unterschätzen. 713 Vgl. Gabriele Baroncini, »Note sulla formazione della metafora machina mundi«, in: Nuncius, 4, Nr. 2 (1989), S. 4–30, insb. S. 13f. 714 Auf diese Stelle macht auch Hardie aufmerksam: Philip Hardie, »Lucretius and Later Latin Literature in Antiquity«, in: The Cambridge Companion to Lucretius, S. 111–127, hier S. 117f. 715 Lukan orientiert sich aber in seinen Schilderungen des Weltuntergangs nicht nur an Lukrez’, sondern bedient sich auch des kosmologischen Vokabulars der Stoiker: Vgl. Michael Lapidge, »Lucan’s Imagery of Cosmic Dissolution«, in: Hermes, 107, Nr. 3 (1979), S. 344–370.
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Darüber hinaus finden wir in Lukrez’ Zeitkritik, in der er beklagt, dass früher noch nicht unzählige Soldaten an einem Tag starben, ein direktes verbales Echo des zuvor beschriebenen Weltuntergangs (5.999f): »[…] at non multa virum sub signis milia ducta | una dies dabat exitio […] ([…] aber viele Tausend Männer, die unter dem Feldzeichen geführt wurden, weihte [damals] nicht ein Tag dem Untergang […]).« Die Wendung una dies dabat exitio, ›ein Tag weihte [sie] dem Untergang‹, erinnert wohl nicht zufällig an das una dies dabit exitio des Weltuntergangs (5.59).716 Lukans Kosmologisierung des Bürgerkriegs scheint bereits bei Lukrez angelegt. Die machina mundi ist eine ›Kriegsmaschine‹, die sowohl das exitium futurum der Republik wie der Welt zu versinnbildlichen kann. Die Gottlosigkeit der Welt versteckt sich aber auch in einer intertextuellen Referenz auf Empedokles. Wenn Lukrez die Unvorstellbarkeit des Weltuntergangs mit folgenden Versen beschreibt (5.101–103) »[…] nec tamen hanc possis occulorum subdere visu | nec iacere indu manus, via qua munita fidei | proxima fert humanum in pectus templaque mentis ([…] dass du sie [diese nova res] dennoch weder unter den Blick der Augen rücken, noch die Hände darauf legen kannst, die befestigte Straße des Vertrauens, die am direktesten in das Herz der Menschen und die Tempel des Geistes führt)«, dann imitiert er Empedokles, bei dem es in einem Fragment heißt (DK 31 B133): »τὸ γάρ τοι θεῖον […] οὐκ ἔστιν πελάσασθαι ἐν ὀφθαλμοῖσιν ἐφικτόν | ἡμετέροις ἤ χερσὶ λαμβεῖν, ᾗπέρ τε μεγίστη | πειθοῦς ἀνθρώποισιν ἁμαξιτὸς ει᾿ς φρένα πίπτει (Denn das Göttliche […] kann man weder als unseren Augen erreichbar nahebringen, noch mit den Händen fassen, was eben als wichtigste Straße des Vertrauens in das Herz der Menschen führt).«717 Angesichts der nachfolgenden Argumentation gegen die Göttlichkeit der Welt entbehrt es nicht der Ironie, dass Lukrez hier das Göttliche (τὸ θεῖον) des Empedokles durch den profanen Weltuntergang ersetzt. Dies wird noch deutlicher in den Versen, die auf die Darstellung des exitium futurum folgen und ebenfalls auf Empedokles anspielen (5.110–121): Qua prius adgrediar quam de re fundere fata sanctius et multo certa ratione magis quam Pythia, quae tripode a Phoebi lauroque profatur, multa tibi expediam doctis solacia dictis; religione refrenatus ne forte rearis terras et solem et caelum, mare sidera lunam corpore divino debere aeterna manere, proptereaque putes ritu par esse Gigantum pendere eos poenas inmani pro scelere omnis 716 Auch Bailey weist auf diese Parallele hin, ohne sie allerdings interpretativ zu nutzen: Bailey, Lucreti De rerum natura, Bd. 3, S. 1481. 717 Vgl. Catherine C. Castner, »De Rerum Natura 5.101–3: Lucretius’ Application of Empedoclean Language to Epicurean Doctrine«, in: Phoenix, 41, Nr. 1 (1987), S. 40–49, insb. S. 42f.
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qui ratione sua disturbent moenia mundi praeclarumque velint caeli restinguere solem, immortalia mortali sermone notantes […]. Bevor ich fortfahre, auf solche Weise die Geschicke der Sache [Welt] zu verkünden, heiliger noch und mit viel sichererer Begründung als Pythia, die vom Dreifuß und Lorbeer des Apollo weissagt, will ich dir viel Trost mit gelehrten Worten spenden; damit du nicht, gezügelt von Götterfurcht, etwa denkst, Länder und Sonne und Himmel, Meer, Sterne, Mond müssten mit göttlichem Körper ewig bestehen, und deshalb glaubst, dass all jenen gleich den Giganten nach hergebrachter Weise [Überlieferung] Bestrafungen für ihr ungeheures Verbrechen verhängt sind, die mit ihrer Vernunft [Lehre] die Mauern der Welt erschüttern und die hellstrahlende Sonne des Himmels auslöschen wollen, indem sie Unsterbliches mit sterblicher Rede bezeichnen […].
Ehe Lukrez mit seiner Argumentation für die Sterblichkeit der Welt beginnt, schlüpft er in die Rolle eines vates, eines Dichter-Sehers, wobei er den – im zweiten Kapitel genannten – Vergleich mit dem Orakel von Delphi, mit dem er Empedokles charakterisierte, wortwörtlich zitiert (1.734–741). Damit übernimmt er die Selbstdarstellung seines Vorgängers, unterstreicht aber im Unterschied zu diesem, dass die Welt kein ewiger und göttlicher Körper (corpus divinum) ist.718 Diese düstere Prophezeiung birgt Weisheit und Trost, doctis solacia dictis, da sie die religio verbannt. Deshalb muss der Leser auch nicht fürchten, dass ihn göttliche Strafen erwarten, wenn er mit seiner ratio die moenia mundi zerstört und das baldige Verlöschen der Sonne in seiner Vorstellung antizipiert. Da die Welt kein göttlicher Körper ist, ist die Schilderung des exitium futurum kein Frevel, der Unsterbliches mit sterblichen Worten nennt (immortalia mortali sermone notare). Lukrez vergleicht sein eigenes Unterfangen mit dem Umsturzversuch der Giganten, die einst gegen die olympischen Götter erfolglos aufbegehrten. Die traditionelle Gigantomachie wird für ihn zu einem allegorischen Bild der epikureischen Lehre, die einen emanzipatorischen Kampf gegen die religio und ihre mythisch-rituellen Überlieferungen einleitet,719 der bereits gewonnen ist, weil sein siegreicher Ausgang im ersten Proömium mit Epikurs Durchbrechen der moenia mundi und seinem folgenden Triumph verewigt wurde. Wie kann aber Lukrez vor dem Hintergrund des exitium futurum in seiner zitierten Digression über die novitas der Welt von den literarischen Denkmälern ewigen Ruhms (aeternis famae monimenta) sprechen, im ersten Proömium von Venus ewigen Liebreiz (aeternus lepos) für seine Verse fordern und im fünften mehr oder weniger unverhohlen seine eigene poetische Unsterblichkeit (nemo … 718 Vgl. Campbell, »Oracular Cosmology in Lucretius«, S. 159f. 719 Damit wertet Lukrez den Topos der Gigantomachie um, der traditionellerweise als Sinnbild schändlicher Überheblichkeit und Pietätslosigkeit (Hybris) galt. Dies zeigt sich deutlich in einem Vergleich von Lukrez’ und Vergils Umgang mit dem Topos: Hardie, Virgil’s Aeneid, S. 209–213.
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mortali corpore cretus) verlautbaren? Ovid sucht nach einer Antwort, wenn er in einem Gedicht schreibt (am. 1.15.23f): »Carmina sublimis tunc sunt peritura Lucretii, | exitio terras cum dabit una dies (Die Gesänge des erhabenen Lukrez werden erst untergehen, wenn ein Tag die Erde ihrem Untergang weihen wird).« Das exitio dabit una dies zitiert unverkennbar das una dies dabit exitio aus Lukrez’ Prophezeiung des Weltuntergangs,720 womit Ovid eine poetologische Funktion des exitium futurum errät: Es macht Lukrez’ Dichtung erhaben (sublimis), steigert sie ins Gigantische und verschafft ihr eine relative Unsterblichkeit.721 Solange die Welt besteht, wird sein Werk überleben. Darüber hinaus, so muss man ergänzen, verleiht es seiner Aufgabe eine besondere Dringlichkeit. Umso düsterer das exitium futurum am Horizont erscheint, umso heller leuchten seine Verse, welche die tröstende Heilslehre Epikurs spenden. Lukrez beschreibt also nicht Unsterbliches mit sterblichen Worten, sondern Sterbliches mit unsterblichen Worten. Paradoxerweise fordert er gerade aufgrund seiner Enthüllung der Sterblichkeit der Welt die Unsterblichkeit seines Werks. Sein Werk spricht wie die anderen aeterna monimenta der Dichtkunst gegen die aeternitas von Himmel und Erde. Darum beteiligt sich sein vertere aktiv am evertere, am ›Umsturz‹ der ganzen Welt und hilft (5.161): »[…] verbis vexare et ab imo evertere summa […] ([…] das Höchste [die Welt] mit Worten zu quälen und von unten umzukehren […]),« wie es an anderer Stelle heißt. Kosmisches und poetisches vertere konvergieren damit im exitium futurum unserer Welt.
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Declinare: Physik und Poetik der Abweichung (2.216ff, 2.250ff u. a.)
Das vertere aller Dinge ist Ausdruck der Kinetik der Atome, ihrer Bewegung, Beweglichkeit und Geschwindigkeit (mobilitas), die Lukrez im ersten Abschnitt des zweiten Buchs entwickelt. Lukrez’ Darstellung der Kinetik ist nicht immer ganz übersichtlich, lässt sich aber folgendermaßen rekonstruieren:722 Da der lukrezische Kosmos von drei Bewegungsprinzipien beherrscht wird, gibt es in ihm keine Ruhe (nimirum nulla quies est) (2.95). Denn erstens stürzen alle Atome 720 Vgl. Susanne Gatzemeier, Ut ait Lucretius: Die Lukrezrezeption in der lateinischen Prosa bis Laktanz, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013, S. 106–110. 721 Über das Konzept des Erhabenen in Lukrez’ Philosophie und Stil: James I. Porter, »Lucretius and the Sublime«, in: The Cambridge Companion to Lucretius, S. 167–184, insb. S. 169–174; Conte, »῞ΥΨΟΣ e diatriba nello stile di Lucrezio«, insb. S. 366f. 722 Die Deutung des Aufbaus des zweiten Buchs sowie die Echtheit einiger seiner Verse war lange Zeit umstritten. Im Großen und Ganzen ist seine Struktur aber kohärent, wie schon Müller zeigt: Gerhard Müller, Die Darstellung der Kinetik bei Lukrez, Berlin: Akademie Verlag, 1959, S. 19–31.
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aufgrund ihres eigenen Gewichts (gravitas oder pondus) in die bodenlose Leere (inane), die ihnen keinen Halt bietet (2.83–99). Sie fallen senkrecht nach unten (deorsum),723 weshalb jede wahrnehmbare Aufwärtsbewegung eine Umleitung dieser ursprünglichen Abwärtsbewegung darstellen muss (2.184–215). Ihre Fallgeschwindigkeit entspricht der größtmöglichen Geschwindigkeit, die Lukrez, wie erwähnt, ›viel schneller als das Sonnenlicht‹ (multo citius quam lumina solis) nennt und die Epikur mit der Geschwindigkeit des Denkens (ἅμα νοήματι) vergleicht (Her. 48). Obwohl die Atome hinsichtlich ihrer Größe eine unterschiedliche gravitas aufweisen, bewegen sie sich gleichschnell im leeren Raum (aeque ponderibus non aequis concita ferri), da dieser völlig widerstandslos ist. Die Differenz der gravitas äußert sich nicht in der Leere, sondern nur in Relation zum Widerstand anderer Körper, etwa wenn sich ein Körper (Atom) in einem Medium wie Wasser oder Luft bewegt, das seinen Fall mehr oder weniger behindert (2.225–239).724 Darüber hinaus weisen Atome zweitens eine gewisse Stoßkraft (ictus oder plaga) auf, die sich immer dann äußert, wenn diese aufeinandertreffen. Dieser ictus bewirkt, dass die Atome aneinander abprallen oder/und sich verbinden. So springen manche Atome durch den ictus in großen Abständen (intervalla) voneinander ab, bevor sie durch einen weiteren ictus zur Umkehr gezwungen werden, um erneut zu kollidieren. Sie bilden lose Agglomerate wie Luft oder Licht. Andere hingegen kehren in geringeren Intervallen wieder, um durch die Verflechtung ihrer Gestalten (perplexae figurae) eine dichtere Vereinigung (condensus conciliatus) hervorzubringen, d. h. concilia wie Stein oder Eisen (2.100–108).725 Lukrez wird diese Verflechtung damit erklären, dass manche Atome Haken aufweisen, die sich verzahnen und verbinden können (hamatis inter se nexa) (2.398–406). Neben diesen losen und festen concilia gibt es aber auch ›asoziale‹ Atome (nec consociare), die von allen Formen der concilia verstoßen werden, weshalb sie völlig frei im leeren Raum herumschwirren (2.109– 141). Simulacrum et imago hierfür ist die rastlose Bewegung der Sonnenstäubchen, deren Schilderung wir im ersten Kapitel analysierten. Der verborgene Bürgerkrieg der Atome, der durch die Geschwader der Sonnenstäubchen bezeichnet (significare) wird, gilt nicht nur für die asozialen Atome. Er betrifft alle 723 Wenn es im Kosmos kein Zentrum gibt, dann muss es dennoch ein absolutes ›Unten‹ und ›Oben‹ geben, das durch den Fall der Atome bestimmt wird. Epikur richtet sich damit entschieden gegen Aristoteles’ Theorie der natürlichen Orte: Vgl. David Konstan, »Epicurus on ›Up‹ and ›Down‹ (Letter to Herodotus § 60)«, in: Phronesis, 17, Nr. 3 (1972), S. 269–278, insb. S. 274f. 724 Auch diese Theorie entwickelte Epikur in Auseinadersetzung mit Aristoteles: Vgl. David J. Furley, Two Studies in the Greek Atomists, New Jersey: Princeton University Press, 1967, S. 121f. 725 Vgl. Cyril Bailey, The Greek Atomists and Epicurus. A Study, New York: Russel Russel, 1964, S. 327–330.
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Atome und somit auch die Atome innerhalb der concilia.726 Alle Dinge – selbst Festkörper – sind laut Lukrez dynamische Ansammlungen von Atomen, die er mit Schafherden oder militärischen Truppen vergleicht, die zwar aus der Ferne stillzustehen scheinen, sich aber bei näherer Betrachtung als bewegt erweisen (2.308–332). Stillstand und Ruhe entpuppen sich daher als Wahrnehmungstäuschung, als bloße perspektivische Illusion.727 Auf mikrokosmischer Ebene stürzen alle Atome entweder in den unendlichen Abgrund der Leere oder quälen sich gegenseitig mit Schlägen. Doch wie hängt die Fallbewegung mit dem Zusammenprall zusammen? Warum treffen die Atome bei ihrem senkrechten Fall durch die Leere aufeinander? Gravitas und ictus allein erklären den unaufhörlichen Schlagabtausch der Atome nicht, solange ihre Relation nicht geklärt ist. Darum muss Lukrez drittens eine unbestimmbare Abweichung, Ausbeugung oder Deklination (clinamen = declinare) der Atome annehmen, die er folgendermaßen einführt (2.216–224): Illud in his quoque te rebus cognoscere avemus, corpora cum deorsum rectum per inane feruntur ponderibus propriis, incerto tempore ferme incertisque locis spatio depellere paulum, tantum quod momen mutatum dicere possis. quod nisi declinare solerent, omnia deorsum, imbris uti guttae, caderent per inane profundum, nec foret offensus natus nec plaga create principiis: ita nil umquam natura creata. Wir begehren, dass du Folgendes hinsichtlich dieser Dinge [der Kinetik] erkennst: Wenn die Körper [Atome] aufgrund ihrer eigenen Gewichte im Leeren geradlinig nach unten stürzen, dann treiben sie in der Regel zu ungewisser Zeit und an ungewissen Orten um ein Weniges von ihrer Bahn ab, so viel, dass du [gerade noch] von einer veränderten Bewegung sprechen könntest. Wenn sie es nämlich nicht gewohnt wären zu deklinieren, würde alles wie Regentropfen nach unten in das bodenlose Leere fallen und weder wäre ein Anstoß geboren noch ein Zusammenprall der ersten Prinzipien [Atome] geschaffen worden: So hätte die Natur niemals irgendetwas erschaffen.
Würden die Atome seit Ewigkeit mit gleicher Geschwindigkeit und parallel wie Regentropfen in den leeren Raum stürzen, könnten sie niemals kollidieren und concilia bilden. Darum muss es eine Deklination, ein declinare, geben, das vom
726 Vgl. Fowler, Lucretius on Atomic Motion, S. 164f. 727 Müller zu 5.333–729: »Nicht nur alle Bewegung, sondern auch alle Ruhe der sinnlichen wahrnehmbaren Welt war dort auf unendliche schnelle Atombewegungen zurückgeführt worden. Was wir Ruhe nennen, ist nur Schein.« Müller, Die Darstellung der Kinetik bei Lukrez, S. 32. Dieser ›Schein‹ entsteht, wenn sich die gegenläufigen Bewegungen der Atome innerhalb eines Körpers in einem Gleichgewicht befinden und sich dadurch scheinbar aufheben: Bailey, The Greek Atomists and Epicurus, S. 333.
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rektilinearen Fall der Atome abweicht. Während sich die gravitas der Atome auf die unendliche Leere bezieht und der ictus aus dem Zusammentreffen der Atome resultiert, verknüpft das declinare die Fallbewegungen der Atome miteinander. Das declinare, das Lukrez an einer einzigen Stelle durch den berühmten Neologismus clinamen, ›Neigung‹, ›Beugung‹, substantiiert (2.292),728 ist keine nebensächliche und zufällige Bestimmung der Atome, sondern eine Synthese der beiden ersten Bewegungsprinzipien und stellt somit das Herzstück der epikureischen Kinetik dar.729 Es lenkt die Atome in unbestimmbaren Zeit- und Raumpunkten (incerto tempore incertisque locis) um ein Weniges (paulum) von ihrer vertikalen Bahn (spatium) ab. Diese Abweichung ist so minimal, dass wir sie uns nicht als diagonale Bewegung vorstellen können (nec plus quam minimum, ne fingere motus obliquos videamur) (2.244f). Trotz ihrer Minimalität und Unbestimmtheit findet sie aber beständig statt (ferme) und wird von Lukrez als eine ›Gewohnheit‹ der Atome (solere) geschildert, die untrennbar zu ihrem Wesen gehört.730 Sie ermöglicht erst den ictus, der wiederum den ›Krieg der Atome‹ bewirkt, aus dem auch die temporären Versammlungen der concilia hervorgehen. Ohne declinare könnte die Natur nichts hervorbringen, wodurch das clinamen zum kreativen Prinzip der Natur schlechthin wird (das Verb creare taucht gleich zweimal am Versende auf). Dies ist die kosmologische Funktion des declinare, dass alle res aufblühen (florescere) und altern (senescere), wohingegen die Summe (die Anzahl der Atome) gleich bleibt und sich erneuert (rerum summa novatur) (2.67–75). Diese Kinetik der Atome, die schlussendlich für das vertere des ganzen Kosmos verantwortlich ist, wird durch die epikureische Theorie der Minima (ἐλάχιστον = minimum) verkompliziert, wie sie Epikur in seiner Epistola ad Herodotum 728 Vgl. Fowler, Lucretius on Atomic Motion, S. 366. 729 So spricht Schmidt von einem »Herzstück der epikureischen Naturphilosophie«: Ernst A. Schmidt, Clinamen. Eine Studie zum dynamischen Atomismus der Antike, Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2007, S. 70. Schon für Marx, dessen wenig bekannte philologische Dissertation dem Epikureismus gilt, bildet das clinamen das Zentrum der epikureischen Philosophie: »Die Deklination des Atoms von der geraden Linie ist nämlich keine besondere, zufällig in der epikureischen Physik vorkommende Bestimmung. Das Gesetz, das sie ausdrückt, geht vielmehr durch die ganze epikureische Philosophie hindurch […].« Karl Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Philosophie, in: Ders. u. Friedrich Engels, Werke, Erg.-Bd. 1., S. 282. Auch wenn Marx’ Disseration im Detail spekulativ und hegelianisch ist, so würdigt sie doch als eine der ersten wissenschaftlichen Arbeiten die Bedeutung des clinamen, wie Bailey in seiner kleinen Rezension bemerkt: Cyril Bailey, »Karl Marx on Greek Atomism«, in: The Classical Quarterly, 22, Nr. 3/4 (1928), S. 205f. 730 Vgl. Schmidt, Clinamen, S. 35f. Darum scheint es kaum plausibel, dass das declinare nur bei der Weltentstehung (und beim freien Willen – dazu bald) eine Rolle spielt, wie etwa Long meint, der den Wirkbereich des clinamen möglichst eng verstanden wissen möchte: Anthony A. Long, »Chance and Natural Law in Epicureanism«, in: Phronesis, 22, Nr. 1 (1977), S. 63–88, insb. S. 85–87.
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(55–59) und Lukrez im ersten Buch von De rerum natura (1.599–634) skizziert:731 Die Atome sind zwar praktisch unteilbar, lassen sich aber theoretisch in kleinere Einheiten zergliedern, weil wir uns sonst keine unterschiedlichen Größen und Formen der Atome vorstellen könnten. Diese theoretische Analyse der Atome kann nicht bis ins Unendliche fortschreiten, weshalb es ein absolutes denkbares minimum geben muss, das Epikur als ἐλάχιστον bezeichnet. Das gilt nicht nur für die Atome, sondern allgemein für Raum und Zeit, die sich aus minima zusammensetzen müssen.732 So wie es kleinste wahrnehmbare Raum- und Zeiteinheiten gibt, muss es noch kleinere, bloß denkbare Raum- und Zeiteinheiten geben, die in der kinetischen Theorie der Atome zur Anwendung kommen.733 Diese Differenz zwischen den wahrnehmbaren und denkbaren Minima erklärt, warum die simulacra, die sich, wie wiederholt gesagt, mit derselben Geschwindigkeit wie die Atome in der Leere bewegen, in jedem wahrnehmbaren Moment gleichzeitig vorhanden sind. Darüber hinaus lässt sich die maximale Geschwindigkeit der Atome, ihre Fallgeschwindigkeit, diesem Konzept der minima gemäß als diskontinuierliche und vertikale Bewegung der Atome um ein denkbares Raum- pro Zeitminimum verstehen. Darum entspricht die Fallbewegung nach Epikur der Geschwindigkeit des Denkens, da es keine schnellere denkbare Bewegung gibt. Ebenso kann nun das clinamen als seitliche Verschiebung der Atome um ein Raumminimum pro Zeitminimum gedacht werden,734 die so schnell vor sich geht, dass man sie gerade noch denken kann. Wir können uns diese Bewegung jedoch nicht als schräge Bewegung (motus obliquus) vorstellen, weil diese, wenn der Raum aus minima besteht, sprunghaft sein muss.735 Sie ist ein plötzlicher Seitensprung der Atome aus ihrer vertikalen Linie, der sich durch unser Denken nicht näher bestimmen lässt, aber dennoch den Ursprung der Interaktion der Atome und damit jeder möglichen natura mundi darstellt. Neben dieser kosmologischen Funktion schreibt Lukrez dem declinare auch eine psychologisch-ethische Funktion zu:736 Wenn die Bewegung der Atome nicht 731 Vgl. Noller, Die Ordnung der Welt, S. 151–161. 732 Über den historischen Hintergrund dieses ›mathematischen‹ Atomismus, der im Wesentlichen auf die Paradoxien der Eleaten und Aristoteles’ Antwort auf diese reagiert: Furley, Two Studies in the Greek Atomists, S. 79–101. 733 Bailey, The Greek Atomists and Epicurus, S. 315f. Ob die Leere tatsächlich aus minima besteht, wie Bailey behauptet, oder, ob sie nur aus solchen bestehend gedacht wird, ist umstritten: Vgl. Schmidt, Clinamen, S. 38f. 734 Siehe hierzu die diagrammatischen Darstellungen in: Fowler, Lucretius on Atomic Motion, S. 304. 735 Nach dieser Deutung, die von Sedley vertreten wird, bewegen sich die Atome nicht diagonal, sondern springen von einer vertikalen Bahn auf die andere: David Sedley, »Epicurus and the Mathematicians of Cyzicus«, in Cronache Ercolanesi, 6 (1967), S. 23–54, hier S. 25f. 736 Vgl. Long/Sedley, The Hellenistic Philosophers, Bd. 1, S. 109–112. Für Sedley scheint die kosmologische Funktion im Vergleich zur psychologischen sekundär: David Sedley, »Epicurus’ Refutation of Determinism«, in: ΣΥΖΗΤΗΣΙΣ. Studi sull’epicureismo greco e
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irgendein unbestimmbares Moment enthielte, so argumentiert er, dann müsste jede Bewegung im Kosmos vorherbestimmt sein und unser Wille (voluntas) könnte nicht der voluptas folgen, die, wie wir gesehen haben, Ursprung und Ziel (ἀρχή καὶ τέλος) der epikureischen Ethik ist. Nun folgen aber alle Lebewesen nicht nur dem physikalischen Zwang, sondern freiwillig der voluptas, weshalb es das clinamen geben muss (2.250–262): Denique si semper motus conectitur omnis et vetere exoritur {motu} novus ordine certo, nec declinando faciunt primordia motus principium quoddam quod fati foedera rumpat, ex infinito ne causam causa sequatur, libera per terras unde haec animantibus exstat, unde est haec, inquam, fatis avolsa voluntas, per quam progredimir quo ducit quemque voluptas, declinamus item motus nec tempore certo nec regione loci certa, sed ubi ipsa tulit mens? nam dubio procul his rebus sua cuique voluntas principium dat et hinc motus per membra rigantur. Wenn endlich jede Bewegung immer verknüpft wird und aus einer alten {Bewegung} eine neue in feststehender Ordnung entsteht und die Ursprungskörper nicht durch [ihr] Ausbeugen einen gewissen Anfang der Bewegung machen, der die Bündnisse des Schicksals bricht, damit nicht eine Ursache seit unendlicher [Zeit] auf eine Ursache folge: Woher entstand den beseelten [Wesen] dieser freie, woher dieser, frage ich, Wille, der den Geschicken entrissen [und] durch den wir fortschreiten, wohin die Lust einen jeden führt, [durch den] wir ebenfalls [unsere] Bewegungen ausbeugen weder zu gewisser Zeit noch an gewissem Raumpunkt, sondern wo [uns] der Geist [Gedanke] selbst hintrug? Denn zweifelslos gibt bei diesen Dingen der Wille jedem den Anfang und daher ergießen sich die [willkürlichen] Bewegungen durch die Glieder.
Die Unvorhersehbarkeit des clinamen zerreißt die totale Verkettung aller Ursachen (causae) und sprengt die Bündnisse des Fatums (foedera fati), die unvereinbar mit den epikureischen Naturgesetzlichkeiten, den sogenannten foedera naturai, scheinen. Die Atome werden als primordia bezeichnet, weil sie aufgrund ihres declinare den Neuanfang einer Bewegung (motus principium) setzen können, der keiner vorbestimmten Ordnung oder Reihe (ordo certus) gehorcht. Sie sind corpora genitalia, weil sie eine schöpferische Bewegung (motus genitalis) machen, die dem clinamen entspricht (2.227f). Jedes Atom ist der mögliche Ursprung einer neuen Bewegungsreihe bzw. eines neuen kausalen Gewebes, ordo
romano offerti a M. Gigante, hg. v. Marcello Gigante, Neapel: Macchiaroli, 1983, S. 11–51, insb. S. 13f. Dahingegen glaube ich mit Fowler, dass die beiden Funktionen untrennbar miteinander zusammenhängen: Fowler, Lucretius on Atomic Motion, S. 307f.
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novus, weshalb es eine unendliche Pluralität der Ursachen geben muss, die sich nicht durch ein Fatum totalisieren lässt.737 Diese Einsicht geht nicht nur aus der epikureischen Kinetik hervor, sondern auch aus unserer Erfahrung: Alle Lebewesen – nicht bloß der Mensch – besitzen laut Lukrez einen freien Willen (libera voluntas), der den fatalen Geschicken (fata) entrissen ist und ihre Körper dorthin zu lenken vermag, wohin die voluptas sie führt. Die voluptas ist nämlich die dux vitae dia voluptas in einer entgötterten Welt, die paradoxerweise durch die Göttin Venus verkörpert wird, wie es wenig zuvor in einem Rückgriff auf das Venus-Proömium heißt (2.172f). Deshalb beugen sich auch die Menschen nicht willenlos dem Fatum, sondern beugen ihre Bewegungen freiwillig nach dem Ziel der voluptas, die für Lukrez nahezu ein Synonym für die voluntas ist.738 Declinamus, d. h. nicht nur die Atome, ›wir selbst beugen‹ und ›neigen‹ unsere Körper an einem selbstbestimmten und nicht zu einem determinierten Zeit- und Raumpunkt (nec tempore certo nec regione loci certa). Wir können uns bewegen, wann und wo es unserem animus (mens) zu Erreichung der voluptas günstig scheint. Lukrez präzisiert dies in folgenden Versen, indem er die Erzeugung der Anfangsbewegung im Herzen verortet (initium motus a corde creari), von wo sie sich langsam im ganzen Körper ausbreitet. Es braucht eine gewisse Zeit, bis das declinare der Atome in unserem Herzen die restlichen Körperatome affiziert. Diese Verzögerung der Willensbewegung illustriert Lukrez am Beispiel von Rennpferden, deren Laufkraft, vis, sich nicht sofort entfaltet, nachdem sich die Schranken ihrer Gehege öffnen (2.263– 271).739 Warum aber äußert sich das declinare, das nach epikureischer Kinetik alle Atome gleichermaßen betrifft, vornehmlich im Herzen, dem Sitz der mens? Liegt dies möglicherweise daran, dass die mens bzw. der animus aus besonders feinen und runden Atomen bestehen, die sich nicht verhaken können und darum das declinare nicht behindern? 740 Auch wenn wir dies einräumen, bleibt offen, wie sich das declinare nach der voluptas richten kann. Die epikureische Begründung des freien Willens – eine der ersten der europäischen Philosophiegeschichte – wirft unlösbare Fragen auf: Die Atome für sich können laut Lukrez keine Affekte 737 Vgl. Deleuze, »Lucrèce et le naturalisme«, S. 22f. Epikur selbst richtete sich dabei wahrscheinlich nicht gegen die Stoiker, wie Deleuze meint, sondern gegen Demokrit: Vgl. Long, »Chance and Natural Law in Epicureanism«, S. 74f. Ob Lukrez im Unterschied zu Epikur überhaupt gegen die Stoa polemisiert oder nicht, ist, wie gesagt, umstritten. 738 Hierzu: Schmidt, Clinamen, S. 125–127. 739 Diese Verzögerung bedeutet nicht, dass sie durch einen reflexiven Prozess (eine Zustimmung des animus) bewirkt wird, wie Fowler meint: Vgl. Jeffrey S. Purinton, »Epicurus on ›Free Volition‹ and the Atomic Swerve«, in: Phronesis, 44, Nr. 4 (1999), S. 253–299, hier S. 270f. 740 Diese Deutung legt Long nahe, der das clinamen jedoch zu exklusiv auf die Seelenbewegungen einschränkt: Long, »Chance and Natural Law in Epicureanism«, S. 76.
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und damit keine voluptas empfinden (primordia posse … nullamque voluptatem capere ex se) (2.967f), weshalb man ihnen auch keine voluntas zuschreiben darf. Die ursprüngliche Bewegung der Atome kennt keine Intention. Damit wird einer vitalistischen Deutung des declinare und der Materie von vornherein der Weg versperrt, obwohl das Venus-Proömium und die vitalistische Metaphorik eine solche nahelegen.741 Das clinamen ist aristotelisch gesprochen keine Ziel-, sondern eine Wirkursache. Die Intentionalität der voluntas kann daher selbst nur ein Ergebnis, ein Emergenz-Phänomen des clinamen sein. Sollte aber dieses Emergenz-Phänomen wiederum eine gewisse psychische Autonomie beanspruchen, die das declinare beeinflussen kann? 742 In kosmologischer Hinsicht erscheint das declinare wie die Entstehung der Welt spontan, zufällig (sponte sua) und absichtslos (temere) (2.1059f) – im Sinn von nicht näher bestimmbar –, wohingegen es auf psychologischer Ebene durch die voluntas regiert werden kann. Wie dies möglich ist, wird weder in Lukrez’ Darstellung noch in Epikurs Fragmenten gezeigt und lässt sich folglich nicht mehr rekonstruieren. Nicht nur das clinamen selbst, sondern seine Theorie bleibt daher in vieler Hinsicht selbst ungewiss – ein incertum.743 Trotzdem steht fest, dass das clinamen in der physikalischen Begründung der epikureischen Ethik, die immer wieder auf die Willensfreiheit zu sprechen kommt, eine wesentliche Rolle spielen muss. Epikur schreibt in einem seiner Merksprüche (gnom. 9): »Κακὸν ἀνάγκη, ἀλλ’ οὐδεμία ἀνάγκη ζῆν μετὰ ἀνάγκης (Die Notwenigkeit ist ein Übel, aber es gibt keine Notwenigkeit unter der Not741 Schmidt vertritt eine solche vitalistische Deutung, wenn er den Seelenatomen selbst voluntas und voluptas zuschreibt: »Epikur/Lukrez teilen den Seelenatomen bzw. einem Seelenatom der Lebewesen in deren Willensakten oder Lustbestrebungen mit dem clinamen selbst Wille und Lust zu. Das vitale Spontanitätsprinzip, welches die Abweichung darstellt, ist von dem Willen oder der Lust nicht verschieden, eben weil es sich um ein Seelenatom handelt und die atomare Seele diesem gegenüber keine unabhängige und ihm gegenüberstehende kategorial verschiedene Instanz ist. […] Was allerdings mit dieser Annahme in das epikureische Atom hineingetragen wird, ist dessen Ausstattung mit der bisher noch nicht einbezogenen vierten aristotelischen Ursache, der Finalursache. […] Die Vorstellung, dass Atome gar nicht in der Lage zu Lust und Wollen wären, verkennt ihren vitalistischen Charakter und operiert zu mechanistisch.« Schmidt, Clinamen, S. 135f. Wer aus der voluptas eine aristotelische Finalursache macht, wozu das Venus-Proömium durchaus verführen könnte, der muss Lukrez’ heftige anti-teleologische Polemik verdrängen. 742 So versucht Sedley das Dilemma zu lösen: Sedley, »Epicurus’ Refutation of Determinism«, insb. S. 39–43. Seine Rekonstruktion, die sich auf Epikurs Epistola ad Herodotum und Περὶ φύσεως stützt, lässt sich allerdings bezweifeln: Vgl. Purinton, »Epicurus on ›Free Volition‹ and the Atomic Swerve«, S. 285–294. 743 Purinton gibt einen guten Überblick über verschiedene Rekonstruktionsansätze (Bailey, Furley, Fowler, Sedley, usw.) und erklärt deren Problematik: a. a. O., insb. S. 255–265. Aber auch sein eigener Ansatz – »volitions must be caused from the bottom up by swerves« (S. 254) – ist nicht ganz befriedigend, weil es die Möglichkeit zielgerichteten und freien Handelns nicht erklärt, die so wichtig für die epikureische Ethik scheint.
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wendigkeit zu leben).« Und in seiner Epistola ad Menoeceum stellt er fest, dass es neben der schicksalhaften Notwendigkeit (ἀνάγκη) und dem Zufall oder Glück (τύχη = fortuna), die allesamt außerhalb unserer Verantwortung liegen, einen herrenlosen, nicht-despotischen Bereich (ἀδέσποτον) gibt, den wir selbst kontrollieren können (133). Er sagt sogar, dass der verachtete Mythos und die traditionelle religio einem naturphilosophischen Determinismus vorzuziehen sei (Men. 134): »᾽Επει κρεῖττον ἦν τῷ περὶ θεῶν μύθῳ κατακολουθεῖν ἢ τῇ τῶν φυσικῶν εἱμαρμένῃ δουλεύειν (Besser wäre es sogar dem Mythos der Götter zu folgen, als dem Schicksal der Physiker [der deterministischen Naturphilosophen] sklavisch ergeben zu sein).«744 Die absolute Notwendigkeit – ἀνάγκη oder εἱμαρμένῃ –, die beispielsweise Demokrit oder die Stoiker vertraten, ist der schlimmste Feind des epikureischen Hedonismus. Das clinamen ist eine theoretische Waffe gegen diesen Determinismus wie gegen die religio, die willkürliche Intervention der Götter. Denn egal wie wir das clinamen im Detail interpretieren, es setzt anstelle der göttlichen Schöpfung den Zufall (τύχη) 745 und anstelle des Fatums unsere voluntas, um die voluptas als einziges Lebensprinzip zu inthronisieren. Obwohl die Lehre der Atomabweichung entscheidend für das Verständnis der epikureischen Physik und Ethik ist, wird sie seltsamerweise in den überlieferten Lehrbriefen und Fragmenten Epikurs mit keinem Wort erwähnt. So stellt Epikur die Kinetik der Atome in seiner Epistola ad Herodotum ohne Hinweis auf das clinamen dar (43):746 Κινοῦνταὶ τε συνεχῶς αἱ ἄτομοι {…} τὸν αι᾿ῶνα, καὶ αἱ μὲν ει᾿ς μακρὰν ἀπ’ ἀλλήλων διιστάμεναι, αἱ δὲ αὐτοῦ τὸν παλμὸν ἴσχυσαι, ὅταν τύχωσι τῇ περιπλοκῇ κελειμέναι ἢ στεγαζόμεναι παρὰ τῶν πλεκτικῶν. ἥ τε γὰρ τοῦ κενοῦ φύσις ἡ διορίζουσα ἑκάστην αὐτὴν τοῦτο παρασκευάζει, τὴν ὐπέρεισιν οὐχ οἵα τε οὖσα ποιεῖσθαι· ἥ τε στερεότης ἡ ὑπάρχουσα αὐταῖς κατὰ τὴν σύγκρουσιν τὸν ἀποπαλμὸν ποιεῖ, ἐφ’ ὁπόσoν ἂν ἡ περιπλοκὴ τὴν ἀποκατάστασιν ἐκ τῆς συγκρούσεως διδῷ. ἀρχὴ δὲ τούτων οὐκ ἔστιν, ἀιδίων τῶν ἀτόμων οὐσῶν καὶ τοῦ κενοῦ.
744 Auch Bailey macht im Kontext des clinamen auf diese Stelle aufmerksam: Bailey, The Greek Atomists and Epicurus, S. 318. 745 Es ist umstritten, wie der Ausdruck τύχη, der in epikureischen Texten immer wieder vorkommt, zu deuten ist. Sicher ist, dass die τύχη nicht zielgerichtet sein kann. Möglicherweise ist sie auch spontan und kontigent, auch wenn dies Long bezweifelt: Vgl. Long, »Chance and Natural Law in Epicureanism«, insb. S. 68–74. 746 Die Vermutung von Bignone und Bailey, dass Epikur dieses in verschollenen Absätzen der Epistola ad Herodotum erwähnte, entbehrt jeder Grundlage: Ettore Bignone, Epicuro, opere, frammenti, testimonianze sulla sua vita, hg. u. komm. v. dems., Bari: Laterza, 1920, S. 78f. Bailey, The Greek Atomists and Epicurus, S. 316. Bignone kritisiert in einem späteren Artikel selbst seine frühere Position und nimmt an, dass Epikur die Theorie des clinamen erst später entwickelte: Vgl. Ettore Bignone, »La dottrina epicurea del ›clinamen‹. Sua formazione e sua cronologia in rapporto con la polemica con le scuole avversarie«, in: Atene e Roma, 3, Nr. 8 (1940), S. 159–198, insb. S. 163–168.
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Es bewegen sich die Atome unaufhörlich {…} seit Ewigkeit, und zwar springen die einen weit weg von den anderen, wohingegen die anderen eine eigentümliche Vibration erhalten, wenn es geschieht, dass sie von einer Verflechtung zusammengehalten werden oder von jenen bedeckt werden, die sich zu verflechten vermögen. Denn die Natur der Leere, die jedes einzelne [Atom] für sich abgrenzt, bewirkt dies, da sie keinen Widerstand bietet. Die eigene Solidität [der Atome] bewirkt beim Zusammenstoß den Rückprall, soweit die Verflechtung die Rückkehr aus dem Zusammenstoß in die frühere Position erlaubt. Einen Ursprung dieser [Bewegungen] gibt es nicht, deren Ursachen sind die Atome und das Leere.
Epikur scheint hier zunächst den frühen Atomisten Leukipp und Demokrit zu folgen, die Aristoteles dafür kritisierte, dass sie noch keinen wirklichen Ursprung (ἀρχή) der Atombewegung anzugeben vermochten.747 Er spricht zwar an späterer Stelle von der Stoßkraft (ἀντικοπή = ictus) und vom Gewicht (βάρος = gravitas) der Atome (Her. 61), erklärt die ἀρχή des Zusammenspiels dieser beiden Prinzipien aber nicht. Das clinamen, das in der Epistola ad Herodotum noch nicht genannt wird, würde eine solche ἀρχή darstellen, die aus dem Prinzip der Atome und der Leere resultiert.748 Stattdessen spricht Epikur in der zitierten Passage neben der Fallbewegung vage von einer Vibration (παλμός) der Atome innerhalb der verflochtenen Körper (περιπλοκή = perplexa figura), die er für die Ablösung der simulacra von den Festkörpern verantwortlich macht. Dieser παλμός hat keine wortwörtliche Entsprechung bei Lukrez. Darum ist zu vermuten, dass Epikur den παλμός in späteren Werken durch das clinamen ergänzte und erklärte und dass sich Lukrez an diesen späteren Darstellungen orientierte, weshalb er den παλμός ausblendet. Tatsächlich sprechen andere Epikureer wie Philodemos oder Diogenes Oinoander von Epikurs Theorie der ›Ausbeugung‹ oder ›Deklination‹ (παρέγκλισις) der Atome, die sowohl die zufällige Bewegung der Atome (bei Philodemos heißt es διὰ τὸ τυχηρόν) als auch unsere Willensfreiheit ermöglicht und dem lukrezischen clinamen entspricht.749 Wir wissen nicht, in welchem Werk Epikur die παρέγκλισις einführte, aber wahrscheinlich stellte er sie in den letzten Büchern seines Περὶ φύσεως dar, die möglicherweise erst nach der Epistola ad Herodotum entstanden.750 Alternativ könnte man darüber spekulieren, dass 747 Demokrit ging von einer permanenten und chaotischen Bewegung der Atome aus, ohne diese näher zu begründen. Dies behauptet zumindest Aristoteles in seiner Polemik: Vgl. Adolf Brieger, »Die Urbewegung der demokritischen Atome«, in: Philologus, 63 (1904), S. 584–596, hier S. 594f. Hierzu auch: Giussani, T. Lucreti Cari De rerum natura, Bd. 1., S. 130ff. 748 Hierzu: Tim O’Keefe, »Does Epicurus Need the Swerve as an Archê of Collisions?«, in: Phronesis, 41, Nr. 3 (1996), S. 305–317, insb. S. 313f. 749 Eine Zusammenstellung dieser und zahlreicher anderer Testimonien für Epikurs Lehre der παρέγκλισις in: Schmidt, Clinamen, S. 51–64. 750 Laut Sedley handelt es sich vielleicht um das 25. Buch von Περὶ φύσεως: Sedley, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, S. 127. Doch auch in den Fragmenten des Περὶ φύσεως taucht die παρέγκλισις nirgends auf.
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Epikur die παρέγκλισις in der Epistola ad Herodotum aus didaktischen Gründen wegließ, um den Überblick über seine Naturphilosophie zu vereinfachen.751 Für welche Hypothese wir uns auch entscheiden, Lukrez’ Theorie des clinamen bestätigt, dass De rerum natura außer der Epistola ad Herodotum noch andere schriftliche oder mündliche Quellen benutzte, die sich heute nicht mehr rekonstruieren lassen. Dass die παρέγκλισις eine Erfindung des Meisters und keine nachträgliche Ergänzung von Epikurs Nachfolgern ist, wird von Cicero bestätigt, der in seinen Dialogen wiederholt auf die epikureische Theorie der declinatio zu sprechen kommt. So schreibt er, dass Epikur das declinare der Atome einführt, um zu erklären, warum die Atome, die in der Leere aufgrund ihres Gewichts (pondus) geradlinig nach unten fallen (deorsum ad lineam), überhaupt aufeinandertreffen (fin. 1.19): »Declinare dixit atomum perpaulum, quo nihil posset fieri minus; ita effici complexiones et copulationes et adhaesiones atomorum inter se, ex quo efficeretur mundus omnesque partes mundi, quaeque in eo essent (Er sagte, dass das Atom um ein Weniges – es kann nichts Kleineres geben – dekliniert: So würden die Komplexionen, Paarungen und das Aneinanderhaften der Atome untereinander verursacht, aus denen die Welt, alle Teile der Welt und alles, was darin existiert, entstünde).«752 Cicero skizziert deutlich die kosmologische Funktion des declinare, allerdings um sie in den nachfolgenden Sätzen als kindische Erfindung (tota res ficta pueriliter) zu diskreditieren, da sie ohne Ursachenerklärung (sine causa) bleibe. Ebenso kritisiert er die Lehre des declinare in seinem Dialogfragment De fato als sine causa. Diesmal rückt er jedoch ihre psychologisch-ethische Funktion in den Vordergrund (22): Sed Epicurus declinatione atomi vitari necessitatem fati putat. Itaque tertius quidam motus oritur extra pondus et plagam, cum declinat atomus intervallo minimo (id appelat ἐλάχιστον); quam declinationem sine causa fieri, si minus verbis, re cogitur confiteri. Non enim atomus ab atomo pulsa declinat. […] Hanc Epicurus rationem induxit ob eam rem, quod veritus est, ne, si semper atomus gravitate ferretur naturali ac necessaria, nihil liberum nobis esset, cum ita moveretur animus, ut atomorum motu cogeretur. Id Democritus, auctor atomorum, acipere maluit, necessitate omnia fieri, quam a corporibus individuis naturalis motus avellere. Aber Epikur glaubt, dass durch die Deklination des Atoms die Notwendigkeit des Fatums vermieden werde. Somit entsteht eine Art von dritter Bewegung neben dem 751 Vgl. Purinton, »Epicurus on ›Free Volition‹ and the Atomic Swerve«, S. 295 (Fn. 66). 752 Spielen die complexiones et copulationes auf erotische Umarmungen und sexuelle Kopulationen an? Das können wir nicht ausschließen, da Cicero auch an anderen Stellen den epikureischen Atomen einen ›unanständigen‹ Beigeschmack verleiht, der auch von Augustinus, der die Atome schließlich in seiner Polemik gegen die declinatio mit Prostituierten vergleicht, ausgeschlachtet werden wird: Vgl. Reinhardt, »The Language of Epicureanism in Cicero«, S. 174f.
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Gewicht und der Stoßkraft, sooft ein Atom einen minimalen Abstand – er nennt es ἐλάχιστον [minimum] – abweicht; dass diese Deklination ohne Ursache geschieht, muss er, wenn schon nicht mit Worten, so zumindest der Sache nach gestehen. Denn ein Atom dekliniert nicht gestoßen von einem [anderen] Atom. […] Diese Lehre hat Epikur deshalb eingeführt, weil er fürchtete, dass, wenn das Atom immer nur durch das natürliche und notwendige Gewicht fällt, es für uns keine Freiheit gäbe, weil sich die Seele so bewegen müsste, wie sie von der Bewegung der Atome gezwungen würde. Dies wollte Demokrit, der Erfinder der Atome, lieber akzeptieren, dass alles aus Notwendigkeit geschieht, als den unteilbaren Körpern ihre natürliche Bewegung zu entreißen.
Die Begründung unserer Freiheit und die Vermeidung des Fatums wird hier sogar zur eigentlichen Motivation erklärt, warum Epikur neben gravitas (pondus) und ictus (plaga) die declinatio (παρέγκλισις) als dritte Bewegung (tertius motus) einführte, welche die Atome um ein Minimum – der Fachbegriff ἐλάχιστον verweist auf die genannte Minima-Lehre – von ihrer vertikalen Bahn ablenkt.753 Cicero verspottet die declinatio als willkürliche Ad-hoc-Hypothese, die das natürliche Kausalitätsprinzip verletzt, an dem Demokrit immerhin noch festhielt. Epikur erscheint als Epigone Demokrits, der von dessen Lehre nur abweicht, um sie wesentlich zu verschlechtern.754 Dieser Vorwurf ist leichtfertig und verkennt eine wesentliche Innovation Epikurs gegenüber Demokrit: Die declinatio ist keine nachträgliche Bestimmung der Atome, die eine vorangehende Kausalität bricht, sondern gehört einer primordialen Ebene an, welche das Kausalitätsprinzip erst begründet.755 Sie lässt sich wie die Grundannahmen (ontologischen Axiome) der epikureischen Lehre, die Existenz der Leere und der Atome, nicht auf andere Prinzipien reduzieren. Die Atome sind nämlich nicht nur Prinzip des Seins, sondern auch des Werdens.756 Die declinatio ist nur deshalb sine causa, weil sie selbst eine causa ist, eine ἀρχή, welche die Naturgesetzlichkeit erst ermöglicht. Darum reicht Ciceros Hinweis auf eine scheinbar natürliche Bewegung (naturalis motus) – warum sollte das declinare keine sein? – und auf ein notwendiges Kausalitätsprinzip 753 Auch Cicero lehnt den Determinismus ab und verteidigt in Anlehnung an Karneades die willentliche Seelenbewegung (animi motum voluntarium). Cicero ist den Epikureern dadurch näher als seine heftige Polemik vermuten lässt. Er weigert sich aber, das animi motum voluntarium auf ›mechanische‹ Weise zu erklären und auf das declinare zurückzuführen, das er notorisch fehlinterpretiert, wie Maso zeigt: Maso, Grasp and Dissent, S. 67–71. 754 So schreibt Cicero etwa in (fin. 1.17): »Democritea dicit perpauca mutans, sed ita, quae corrigere vult, mihi quidem depravare videatur (Er [Epikur] spricht [in seiner Naturphilosophie] Gedanken Demokrits aus, die er nur wenig ändert, aber so, dass er, so scheint es mir jedenfalls, das, was er verbessern will, verschlechtert).« Dieser Vorwurf, den Cicero wiederholt, war in der Antike ein Gemeinplatz: Vgl. Pamela M. Huby, »Epicurus’ Attitude to Democritus«, in: Phronesis, 23, Nr. 1 (1978), S. 80–86. 755 Eine genaue Rekonstruktion von Ciceros Argumentation, die das clinamen als sine causa diskreditieren möchte, in: Maso, Grasp and Dissent, S. 72–80. 756 Vgl. Schmidt, Clinamen, S. 69f.
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nicht, um eine völlig andere Auffassung von Kausalität zu verwerfen.757 Eine tiefgreifendere Kritik der declinatio müsste an der Verschränkung ihrer kosmologischen und psychologischen Funktion ansetzen, die, wie gesagt, äußerst fragwürdig und vermutlich unlösbar ist.758 Wenn das clinamen aber sowohl die ἀρχή des Kosmos wie unserer lustgewinnenden Willensbewegung ist, dann muss sie auch die Ursache von Lukrez’ Dichtung sein. Lukrez koppelt, wie im ersten Kapitel dargestellt, die Kreativität der daedala tellus, der natura daedala rerum und der daedala lingua, stellt seine Dichtung in den Dienst der voluptas und versteht überdies, wie in diesem Kapitel gezeigt, sein eigenes vertere als Ausdruck des kosmischen vertere. Auch wenn er diese Konklusion nirgends ausdrücklich zieht, muss seine Schreibtätigkeit vom clinamen abhängen, womit das declinare neben einer kosmologischen und psychologischen auch eine poetologische Funktion erfüllt. Doch wie ließe sich eine solche poetologische Funktion denken? Ein möglicher Hinweis findet sich bei Cicero, der in seinem Dialog De natura deorum im Rahmen seiner Polemik gegen die epikureische Kosmologie einem Stoiker folgendes Argument in den Mund legt (2.93f): Hic ego non mirer esse quemquam, qui sibi persuadeat corpora quaedam solida atque individua vi et gravitate ferri mundumque effici ornatissimum et pulcherrimum ex eorum corporum concursione fortituita? Hoc qui existimat fieri potuisse, non intellego, cur non idem putet, si innummerabiles unius et viginti formae litterarum vel aureae vel qualeslibet aliquo coiciantur, posse ex iis in terram excussis annales Enni, ut deinceps legi possint effici; quod nescio an ne in uno quidem versu possit tantum valere fortuna. Isti autem quamadmodum adseverant ex corpusculis non colore, non qualitate aliqua […], non sensu praeditis, sed concurrentibus temere atque casu mundum esse perfectum, vel innumerabiles potius in omni puncto temporis alios nasci, alios interire […]. Soll ich mich nicht darüber wundern, dass es irgendwen [einen Philosophen] gibt, der sich davon überzeugt hat, dass sich gewisse solide und unteilbare Körper durch ihre Kraft und ihr Gewicht bewegen und dass die schmuckvollste und schönste Welt aus dem zufälligen Zusammenprall ihrer Körper entsteht? Wenn er dies für möglich hält, dann verstehe ich nicht, warum er nicht gleichfalls glaubt, dass, wenn die zahllosen Formen der einundzwanzig Buchstaben – seien sie aus Gold oder sonst einem Material – irgendwo zusammengeworfen würden, aus diesen auf die Erde geschütteten [Buchsta757 Ähnlich Marx: »Dann aber ist das Atom noch gar nicht vollendet, ehe es in der Bestimmung der Deklination gesetzt ist. Nach der Ursache dieser Bestimmung fragen heißt also, nach der Ursache fragen, die das Atom zum Prinzip macht, – eine Frage, die offenbar für den sinnlos ist, dem das Atom Ursache von allem, also selbst ohne Ursache ist.« Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Philosophie, S. 282. 758 Giussani spricht hier zurecht von der Undurchschaubarkeit und Fundamentalität eines Mysteriums, das noch die moderne Philosophie irritiert: Giussani, T. Lucreti Cari De rerum natura, Bd. 1., S. 141.
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Vertere
ben] die Annales des Ennius entstehen könnten, so dass man sie in der Reihenfolge lesen könnte; mir ist es unbegreiflich, ob der Zufall überhaupt bei einem einzigen Vers so viel zustande brächte. Jene aber behaupten auf beliebige Weise, dass unsere Welt aus Körperchen, die nicht mit Farbe, nicht mit gewisser [sekundärer] Qualität […], nicht mit Sinn [Empfindungsvermögen] begabt sind, aber die ziellos und zufällig aufeinandertreffen, vollendet wurde oder vielmehr, dass es unzählige [Welten] gibt, wobei in jedem Zeitpunkt manche geboren werden, andere sterben […].
Cicero wendet die Analogie zwischen Atomen und Buchstaben, die uns bei Lukrez begegnet ist, gegen dessen Kosmologie. Die Welt, so argumentiert er (aus stoischer Perspektive), kann nicht aus einem zufälligen Zusammenprall (concursio fortuita) der Atome entstehen, der aus dem – bereits früher im Text genannten – declinare (nat. 1.69f) resultiert, sowenig wie ein lesbarer Text aus zusammengewürfelten Metallbuchstaben759 besteht, die wie die Lose eines Orakels auf die Erde geworfen werden (conicere).760 Der Zufall oder das Glück (fortuna) würde nicht einmal einen einzigen Vers hervorbringen, geschweige denn einen ganzen Text wie Ennius’ Epos der Annales. Darum muss auch die Welt, die perfekt und wohlgestaltet ist, einen göttlichen Autor haben, dessen Intention (Zielursache) den Kosmos wie einen poetischen Text ordnet, um die Lesbarkeit der Welt zu garantieren. Ein Epikureer könnte jedoch auf dieses Argument antworten: Wenn wir oft genug mit Buchstaben würfeln, dann müssten irgendwann nicht nur Ennius’ Annales entstehen wie überhaupt alle erdenkbaren Texte. Darum bringt auch die concursio fortuita, die seit Ewigkeit unendlich viele Atome im unendlichen Raum kombiniert, alle Kombinationsmöglichkeiten ans Licht, unter denen sich auch unsere Welt befinden muss, die gar nicht so perfekt ist, wie es die Stoiker behaupten. Denn die Welt ist viel chaotischer als es auf den ersten Blick scheint und, so betont Lukrez wiederholt, moralisch unvollkommen und voller Schuld (5.195– 234). Sie ist auch nicht einzigartig, da es unzählige Welten gibt, die teilweise parallel existieren (2.1067–1089), wobei in jedem Augenblick alte Welten vergehen und neue entstehen, wie Cicero selbst einräumt. Wollte man nun einen 759 Dieser erstaunliche Buchstaben-Vergleich, der laut manchen Kommentatoren Gutenbergs bewegliche Lettern zu antizipieren scheint, geht vermutlich auf den Stoiker Poseidonius zurück. Ausführlich: Diels, Elementum, S. 1–5. 760 Die coniectura, die ›Mutmaßung‹, ›Deutung‹, die sich von conicere ableitet, spielt in der römischen Wahrsagung, in der auch Lose und Würfel geworfen wurden, eine besondere Rolle. Cicero thematisiert das Verhältnis von Zufall und (göttlicher) Notwenigkeit auch in seinem Werk De divinatione, worin er u. a. argumentiert, dass der Zufall manchmal Gebilde hervorbringen kann, die Artefakten ähneln. So kann ein Farbklecks wie ein Gesicht aussehen, ein Schwein scheinbar einen Buchstaben in die Erde scharren, oder ein Stein einer darstellenden Skulptur ähneln. Dennoch wird der Zufall immer hinter der wirklichen Schöpfung zurückstehen und es niemals vermögen, die Wahrheit (die notwendige Wirklichkeit) völlig nachzuahmen (ut numquam perfecte veritatem casus imitetur) (1.23).
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poetischen Text rein physikalisch erklären, müsste man diese Analogie umkehren: Insofern Texte ein Teil der Welt sind, könnten wir sie so wie alle anderen res als vorübergehendes und vergängliches Endprodukt des declinare verstehen. Die zufällige Kombination der Atome müsste indirekt auch die Kombination der Buchstaben bewirken, die sich immer wieder neu anordnen, um schließlich auch Lukrez’ De rerum natura hervorzubringen. Freilich erscheint eine solche physikalisch-aleatorische Erklärung von Texten absurd, weil sie die psychologische Ebene völlig ausklammert, die für die epikureische Ethik und lukrezische Poetik entscheidend ist. Das declinare der Atome im Herzen von Lukrez, das seine Seele und seinen Körper in Bewegung setzt und ihn zum Schreiben bewegt, kann nicht nur blindlings der physikalischen ἀνάγκη und der τύχη folgen, sondern muss freiwillig der voluntas gehorchen, die intentional auf die voluptas gerichtet ist. Wäre dem nicht so, könnte Lukrez mit seinem Werk nicht der voluptas folgen, die er bereits in der ersten Zeile seines Werks als Venus, als Schutzgöttin, Gefährtin und Muse personifiziert. Dieses Konzept einer willentlichen declinatio findet eine bemerkenswerte Parallele in der damaligen Sprachwissenschaft,761 die dem declinare ebenfalls eine poetologische Funktion zuschrieb: Varro – mehr oder weniger ein Zeitgenosse des Lukrez – geht in seiner bruchstückhaft überlieferten Abhandlung De lingua latina von zwei Arten der declinatio aus, welche die Entwicklung jeder Sprache bestimmen (8.21–22): »Declinationum genera sunt duo, voluntarium et naturale; voluntario est quo ut cuiusque tulit voluntas declinavit. […] Contra naturalem declinationem dico, quae non a singulorum oritur voluntate, sed a communi consensus (Es gibt zwei Arten der Deklination, die willentliche und natürliche. Die willentliche wird [diejenige genannt], die dahin ausbog, wohin der Wille eines jeden [Einzelnen] führte. […] Dahingegen [ist] die natürliche Deklination [diejenige], so sage ich, die nicht aus dem Willen Einzelner entsteht, sondern aus allgemeiner Übereinstimmung.« Declinatio ist hier viel weiter gefasst als die Deklinationen des Kasussystems, die Beugung der Nomina. Sie bezeichnet auch die Konjugation von Verben und die etymologische Ableitung von Worten aus anderen Worten sowie allgemein morphologische Derivationen.762 Nach Varro besteht die Sprache aus unteilbaren und minimalen Einheiten (pars indivisa et minima) der verba (im Sinne von Wortstämmen),763 aus denen
761 Das gilt nicht nur für die declinatio, sondern für Ausdrücke wie positura, concursus, ordo oder figura, die Lukrez möglicherweise aus der damaligen Grammatik entlehnt, um sein physikalisches Vokabular zu erschaffen: Vgl. Dionigi, Lucrezio, S. 25–31. 762 Vgl. Daniel J. Taylor, Declinatio. A Study of the Linguistic Theory of Marcus Terentius Varro, Amsterdam: Benjamins, 1974, S. 12f. 763 Diese Vorstellung von semantischen ›Atomen‹ der Sprache, die möglicherweise auf die Stoa zurückgeht, taucht immer wieder bei römischen Grammatikern auf: Vgl. Myra L. Uhlfelder,
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Vertere
sich durch declinatio alle sprachlichen Ausdrücke ableiten lassen (l. l. 10.77). Er vergleicht diese Grundbausteine (principia) sogar explizit mit den Atomen Demokrits und Epikurs, aus deren Kombinatorik sich prinzipiell unendlich viele Phänomene produzieren lassen (l. l. 6.39). Damit vertritt er – zumindest methodologisch – einen linguistischen Atomismus, der die Grundlage seiner eigenen semantisch-morphologischen Untersuchungen der lateinischen Sprache bildet.764 Manche Ausdrücke leiten sich durch eine declinatio voluntaria ab, die von der voluntas eines Individuums abhängt, wohingegen andere durch declinatio naturalis entstehen, die einem allgemeinen Konsens (communis consensus) gehorcht. Die declinatio naturalis ist keine willkürliche Setzung. Sie folgt, wie der Name sagt, der Natur, die als analoges System alles durchwaltet (l. l. 9.23–25). Doch sollte diese Terminologie nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die declinatio voluntaria ein natürlicher Prozess ist, der ebenso der allumfassenden Natur gehorcht. Jede Setzung (impositio) und Ableitung (declinatio) eines neuen Worts folgt nämlich indirekt dem Willen der Natur (quemadmodum enim quisque volt, imponit nomen, at declinat, quaemadmodum volt natura) (l. l. 10.52). Darum beruht der Unterschied zwischen declinatio naturalis und voluntaria auf der Analogie bzw. Anomalie der Natur selbst, die man sich als einen kreativen Schöpfungsprozess vorstellen muss, der sich auch in der Sprache mehr oder minder individuell ausdrückt. Die Dichter, die einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Sprache haben, stehen diesem Schöpfungsprozess besonders nahe, weshalb sie eine spezielle Lizenz zur Bildung neuer Worte durch beide Formen der declinatio besitzen (l. l. 9.17). In der Sprache der Dichter spiegelt sich das kreative Potenzial der natura selbst wider.765 Varro möchte durch seine Zweiteilung der declinatio die Spaltung zwischen den beiden großen grammatischen Schulen seiner Zeit – den Analogisten, die an der universellen Regelhaftigkeit der Sprache festalten, und den Anomalisten, die eher die individuelle Freiheit der Sprecher betonen – überwinden. Auch ohne auf »›Nature‹ in Roman Linguistic Texts«, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association, 97 (1966), S. 583–595, hier S. 591f. 764 Taylor bringt das Grundproblem von Varros Linguistik auf den Punkt: »The major concern of Varro’s theory of language is with the dynamic aspects of language, the operations and processes whereby language manipulates its primes [atoms], which are finite in number, and ultimately creates an innumerable and infinite number of entities. The De Lingua Latina is dedicated to the explication to this apparent paradox, this conversion or transformation which renders the finite infinite.« Vgl. a. a. O., S. 10. Die Analogie zwischen einer solchen linguistischen Theorie und der atomistischen Kosmologie liegt auf der Hand. 765 So betont Uhlfelder, dass der linguistische Begriff der natura mit einer organischen Auffassung der kosmischen natura korrespondiert: »Cosmic Nature, the Genetrix rerum, is a living being, the fecund source and paradeigma of all subsidiary natures. […] Finally language, a properly characteristic offshoot of human nature, is itself a kind of metaphorical organism with certain congenital features and with remarkable potency in generating other linguistic forms.« Uhlfelder, »›Nature‹ in Roman Linguistic Texts«, S. 594.
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diese nur mühsam rekonstruierbare Debatte einzugehen, welche die hellenistische Grammatik durchzog,766 lässt sich eine gewisse Affinität zu Lukrez erkennen: Beide Autoren rekurrieren auf die schöpferische Kraft der Natur, um die Kreativität unserer Sprache zu erklären. Die Sprache ist für sie daher eher eine Frage der Natur (φύσις) als der willkürlichen Setzung (θέσις), die von erster abstammen muss. So wie Varro die Analogisten und Anomalisten versöhnen will, will Lukrez durch sein Konzept des clinamen die physikalische Notwendigkeit, die demokritische ›Mechanik‹767 der Atome, und die Freiheit des Individuums, die Spontanität der Atome und der menschlichen und tierischen Akteure, verbinden, ohne den Geltungsanspruch der Natur zu beschränken. Wie und ob das gelingt, ist eine andere Frage. Jedenfalls müsste er dem declinare wie Varro konsequenterweise eine poetologische Funktion zuschreiben, welche die künstlerische und erfinderische Sprache, daedala lingua, begründet, die Lukrez nur phonetisch erklärt. Unter Verweis auf Varro könnte man die daedala lingua aber auch semantisch-morphologisch bestimmen: Die willentliche declinatio der Seelenatome, die vis und voluntas des Sprechers/Schreibers, könnte sich auf der Oberfläche der Sprache als eine Art declinatio voluntaria niederschlagen, die eine individuelle und minimale Abweichung vom bisherigen Sprachgebrauch darstellt. Lukrez’ eigene poetische Tätigkeit, seine Neologismen, Metaphern und Wendungen, die seine eigene daedala lingua kennzeichnen, wären somit ein Ausdruck des declinare der Atome, welches der natura daedala rerum zugrunde liegt. Warum sollte man sich also wundern, dass Lukrez’ vertere – insofern unsere Quellen diesen Vergleich zulassen – immer wieder von Epikurs Original abweicht, wenn die Abweichung das eigentliche schöpferische Prinzip der Natur und des freien Willens ist, die Lukrez mit De rerum natura auf lustvolle Weise verkörpern will? 768
766 Ausführlich zu dieser Debatte: Wolfram Ax, Lexis und Logos. Studien zur antiken Grammatik und Rhetorik, hg. v. Farouk Grewing, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2000, insb. S. 95– 115. 767 Einstein behauptet in seinem kurzen Geleitwort, das in Diels’ Lukrez-Übersetzung erschien, dass Lukrez »den Atomen keine anderen Qualitäten zuschreibt als geometrisch-mechanische.« Albert Einstein, »Geleitwort«, in: Lukrez, Von der Natur, hg. u. übs. v. Hermann Diels, Berlin: Weidmann, 1924, S. 671f. Inwiefern Lukrez’ Physik rein mechanisch ist, lässt sich angesichts der Bedeutung (und je nach Deutung) des clinamen bestreiten. 768 Auch Bloom münzt Lukrez’ clinamen auf die Poetik um, wenn er es zu einem von mehreren Modellen erklärt, durch das sich Dichter – insbesondere romantische – aus dem Bann ihrer Vorläufer befreien, deren Einfluss sie fürchten: Vgl. Harold Bloom, The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, New York u. a.: Oxford University Press, 1997, insb. S. 43–45. Lukrez ist freilich die moderne ›Einfluss-Angst‹ fremd und er hat kein Problem mit Nachahmung. Dennoch könnte man das clinamen auf sein Verhältnis zu Epikur anwenden und sagen, dass es seine imitatio in eine aemulatio verwandelt.
Schluss
Am Höhepunkt von Ciceros Dialog De oratore klagt der Politiker und Redner Lucius Licinius Crassus über das gegenwärtige Missverhältnis von Philosophie und Rhetorik: Seitdem Sokrates und Platon erstmals gegen die sophistische Professionalisierung der Rhetorik zu Felde zogen, so Crassus, herrscht Feindschaft zwischen beiden Disziplinen, gibt es eine absurde Spaltung von Zunge und Herz/Geist (discidium linguae atque cordis), die Sprechen (dicere) und Wissen (sapere), rhetorische Wirksamkeit des Ausdrucks und argumentative Begründetheit des Denkens, voneinander trennt (3.60f). Dieses schändliche Schisma von Redekunst und philosophischer Gedankenführung gilt es laut Crassus zu überwinden, da es die Einheit von philosophischer Theorie und politischer Praxis und damit die Einheit des Staates gefährdet. Würden alle Philosophen wegen ihrer Verachtung der Rhetorik wie die Epikureer, die sich angeblich aus der Politik in ihr Privatleben zurückziehen, die Rednertribünen scheuen, dann ließen sie die römische Republik in einem kritischen Augenblick im Stich (de orat. 3.63), d. h. sie überließen die Bühne der Öffentlichkeit umstürzlerischen Populisten.769 Nun will Cicero, um eine solche Gefahr abzuwenden, die ursprüngliche und wunderbare Verbindung von Sprechen und Verstehen (dicendi et intelligendi societas), die Sokrates’ fehlgeleitete Abkömmlinge laut De oratore einst zerstörten, wiederherstellen (3.72f). Daher sucht Cicero alias Crassus770 im Dialog nach einer Philosophie, die, selbst wenn sie keine philosophia verissima ist, doch dem Redner und seinem Metier am stärksten verbunden ist (philosophia oratori coniuncta maxime) (de orat 3.64). Diese wird einerseits bei den Peripatetikern gefunden, den Anhängern des Aristoteles, die der Rhetorik in ihrem System 769 Solche Schlussfolgerungen werden erst in späteren Dialogen deutlich, in denen sich Ciceros gesellschaftskritische Vorwürfe gegenüber den Epikureern zunehmend verschärfen: Vgl. Herbert M. Howe, »Amafinius, Lucretius, and Cicero«, S. 61. 770 Offensichtlich fungiert Crassus – aber auch Antonius – als Sprachrohr Ciceros: Vgl. Jakob Wisse, »De Oratore: Rhetoric, Philosophy, and the Making of the Ideal Orator«, in: Brill’s Companion to Cicero: Oratory and Rhetoric, hg. v. James M. May, Leiden u. a.: Brill, 2002, S. 375–400, hier S. 377.
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zumindest einen wichtigen Stellenwert zuschrieben, andererseits bei den Akademikern, den Nachfolgern der Schule Platons, die unter der Leitung von Arkesilaos und Karneades – der sogenannten Jüngeren Akademie – zum Skeptizismus übertraten (de orat. 3.67–71).771 Cicero selbst, dessen Dialoge denjenigen Platons und Aristoteles’ formal nachempfunden sind, steht inhaltlich der Jüngeren Akademie nahe, welche die Erkenntnis der Wahrheit (veritas), die sich nicht erreichen lässt, durch ein Streben nach dem Wahrscheinlichen (veri simile oder probabile) ersetzt.772 Weil die Hervorbringung des glaubhaften veri simile – darin waren sich die Sophisten und ihre Widersacher einig – gemeinhin als eine Hauptaufgabe der Rhetorik gilt,773 kann Cicero auf der Grundlage seines gemäßigten Skeptizismus Philosophie und Rhetorik in seinen Dialogen weitgehend verschmelzen und die dicendi et intelligendi societas erneuern, die den Schutz der Republik garantieren soll. Der Preis für diese Rhetorisierung und Politisierung der Philosophie ist freilich, dass die veritas durch das veri simile substituiert und die Frage nach einer endgültigen Realität fernab unserer alltäglichen Geschäftigkeit großteils suspendiert wird.774 Auch Lukrez, der sich etwa zur selben Zeit wie Cicero der Latinisierung griechischer Philosophie verschrieb, versucht mit seinem Werk wirkmächtige Rede und rationale Argumentation auf neuartige Weise zu verbinden, um ein gewisses discidium linguae atque cordis zu überwinden. Auch er greift auf eine ideale Einheit von Zunge und Geist zurück, die historisch gesehen noch vor der sokratisch-platonischen Emanzipation der Philosophie von der Rede- und Dichtkunst liegt. Im Unterschied zu Cicero, der in seinen philosophisch-rhetorischen Dialogen das Ideal eines universell gebildeten Staatsmannes und Redners entwirft,775 der seinen Geist in der Freizeit in philosophischen Gesprächen trainiert, beruft sich Lukrez jedoch in De rerum natura auf die Figur vorsokratischer DichterPropheten (vates), die für ihn von Empedokles verkörpert wird. Lukrez möchte nicht vorsichtig verschiedene Denkmöglichkeiten abwiegen und ihr Pro und Contra taktisch erhellen, sondern möglichst unmittelbar in verzückenden Versen 771 Allgemein zur Entstehung und Entwicklung der Jüngeren Akademie: Woldemar Görler, »Älterer Pyrrhonismus. Jüngere Akademie. Antiochos aus Askalon«, in: Die Philosophie der Antike, Bd. 4, Halbb. 1, S. 717–990, insb. S. 775–785. 772 Vgl. Fuhrer, »Der Begriff veri simile bei Cicero und Augustin«, insb. S. 107–111. 773 Hierzu der Artikel: T. van Zantwijk, »Wahrscheinlichkeit, Wahrheit«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 9, Sp. 1285–1340, insb. Sp. 1290–1296. 774 Cicero beschäftigt sich darum nicht in erster Linie mit Naturphilosophie. Bezeichnenderweise inszeniert er seine großen kosmologischen Entwürfe entweder als Traum – Somnium Scipionis – oder als Übersetzung – Aratea, Timaeus –, wobei schon Platons Timaios die Kosmologie als bloß wahrscheinliche Erzählung präsentierte. Wenn Cicero in seinen Dialogen ontologische Fragen berührt, schließt er zwar Ansichten, die in seinen Augen falsch sind, aus, lässt aber die Frage nach der wahren natura rerum meist offen. 775 Vgl. Wisse, »De Oratore: Rhetoric, Philosophy, and the Making of the Ideal Orator«, S. 380– 383.
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eine übermenschliche Wirklichkeit enthüllen. Darum beteiligt er sich – wenngleich er sich in seiner Dichtung rhetorischer Kunstgriffe und Verfahren bedient – weniger an einer Rhetorisierung als an einer Poetisierung der Philosophie.776 Er stellt seine Übersetzung der epikureischen Lehre und seine Überwindung eines sprachlichen discidium, einer Kluft zwischen Sprache und Geist, in den Dienst der Überwindung eines ontologischen discidium, einer noch gravierenderen Spaltung, die den Bereich menschlichen Sprechens und Denkens überhaupt von der Einsicht in die tieferliegende Natur abschneidet. Anders ausgedrückt: Seine poetische Sprache, seine daedala lingua, verspricht, die natura rerum, die Realität selbst, zu berühren. Wie vorangehende Untersuchungen im Detail gezeigt haben, drückt sich dieses gewagte Versprechen in unterschiedlichen Facetten der lukrezischen Poetik des Übersetzens aus, die alle mehr oder weniger offensichtlich – explizit oder implizit – die epikureische Naturphilosophie widerspiegeln: 1.) So definiert Lukrez seine Aufgabe als inlustrare, was sowohl seiner aufklärerischen Rhetorik entspricht als auch seiner poetischen Praxis, die unsichtbare Zusammenhänge der Realität (natura rerum) – mikro- und makrophysikalische Zusammenhänge – unaufhörlich in sichtbare Analogien und anschauliche Metaphern übersetzt. Diese Metaphorisierung der epikureischen Physik, die ein zentrales Moment von Lukrez’ Poetisierung der Philosophie ist, führt zu einer Belebung und Personifikation der gesamten Natur und dazu, dass sich die Kreativität der natura daedala rerum und daedala lingua in der Lichtmetaphorik von De rerum natura überschneiden. Während Cicero, der gleichfalls das inlustrare griechischer Philosophie für sich beansprucht, ontologische Fragen zumeist offenlässt, beharrt Lukrez auf einer völligen Konvergenz von Dichtung und Naturgeschehen, Sprache und Realität. 2.) Sodann poetisiert Lukrez die Lehre Epikurs, indem er sich selbstbewusst in eine epische Tradition einschreibt und sich von seinem Vorläufer Ennius abgrenzt, dessen deferre vermeintlich erstmals die Insignien unsterblicher Dichtkunst vom griechischen Helikon nach Rom brachte. Lukrez folgt diesem deferre, insofern er Ennius’ Stil und Metrik imitiert, unterbricht es aber, sobald Ennius mittels seiner Verse eine falsche Auffassung der Realität – philosophische Konzepte wie das der pythagoreischen Metempsychose – importiert. Deshalb knüpft er an die linguistische, literarische und kulturelle Übersetzungsleistung seines Vorgängers an, um die beste Dichtung durch die wahre Philosophie zu ergänzen, weshalb er den Topos der Dichterweihe auf den 776 Über rhetorische Elemente in De rerum natura siehe z. B.: Classen, »Poetry and Rhetoric in Lucretius«, S. 331–372; Markovic´, The Rhetoric of Explanation in Lucretius’ De rerum natura, insb. S. 15–46. Rhetorik und Poetik lassen sich natürlich nicht streng scheiden, da sich Rede und Dichtung überschneiden. Meine Gegenüberstellung von Rhetorisierung und Poetisierung ist eine künstliche Zuspitzung, die Unterschiede zwischen Cicero und Lukrez hervorheben soll.
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Kosmos und die avia Pieridum loca teilweise auf die natura rerum überträgt. Der Topos der Dichterweihe wird zu einem Initiationsritus der Erkenntnis der Realität. 3.) Weiter ahmt Lukrez, der seine poetische Tätigkeit ausdrücklich als imitari Epikurs bestimmt, neben seinem philosophischen Meister auch zahlreiche andere Schriftsteller nach. Er steigert seine Sprache dadurch, dass er seiner Dichtung – wie Cicero seinen Dialogen – die vis und nicht unbedingt die verba fremder Texte einverleibt. Vis bedeutet für ihn mehr als eine diskursive Überzeugungsmacht und erscheint in seinem Werk als eine Naturgewalt, die laut epikureischer Sprachphilosophie am Ursprung von Sprache und Dichtung liegt. Da Musik und Dichtung Lukrez zufolge ursprünglich aus dem imitari von Naturphänomenen entstehen, muss seine dichterische Übersetzung Epikurs sowie seine imitatio anderer Autoren schließlich auf einer imitatio der natura rerum beruhen, welche die Übersetzung der Realität garantiert. 4.) Zu guter Letzt koordiniert Lukrez seine Poetik und Ontologie, wenn er seine eigene Übersetzung als ein vertere begreift, das zugleich einen Gipfelpunkt der Kultur- und Weltgeschichte markiert. Denn vertere – ein uraltes Verb des Übersetzens und der Metamorphose – beschreibt eine radikale Verwandlung und taucht in diesem Sinn wiederholt in Lukrez’ Schilderungen des kosmischen Werdens auf. Nach atomistischer Kinetik entspringt der Wandel aller Dinge im Grunde einer irreduziblen Abweichung der Atome vom vertikalen Fall, einem declinare, das im Endeffekt – wenn wir den emphatisch und wiederholt beschworenen Zusammenhang von Physik und Poetik ernst nehmen – für die Entstehung von Lukrez’ Dichtung verantwortlich ist. Natura daedala rerum und daedala lingua, die Realität der Natur und die Realität der naturhaften Sprache, berühren sich also nicht nur in den hellschillernden Oberflächen der poetischen Metaphern und Allegorien, sondern auch in den dunkelsten Tiefen der antideterministischen Physik von De rerum natura.777 Dies zumindest die abschließende Zusammenfassung einiger wesentlicher und verwinkelter Wege, auf denen Lukrez Epik und Epikureismus versöhnt und das sprachliche und ontologische discidium überbrückt. Dabei gehorcht Lukrez, wie wir gesehen haben, durchwegs einem ethischen Impuls: Der Realitätsverlust, gegen den der Dichter, so betont er unermüdlich, mit seinem gigantischen Unternehmen ankämpft, stellt für ihn die Wurzel aller Übel dar, die Ursache aller irrationalen Ängste und Begierden, v. a. der Todes- und Götterfurcht, die wiederum eine ganze Reihe krankhafter Affekte hervorbringen (2.14–54), die sich auf gesellschaftlicher Ebene in Herrschsucht, Habgier, Verrat, Selbst-, Bruder777 Der Kontrast von oberflächlichem Ausdruck und tiefer Bedeutung ist ein Klischee, das Lukrez selbst – z. B. in seinem Honig-Becher-Gleichnis – benutzt. Interessanterweise kombiniert die Stimme nach lukrezischer Physik Oberfläche und Tiefe, da die daedala lingua, wie zitiert, dem Luftstrom, der aus der Tiefe des Körpers dringt, eine oberflächliche Textur verleiht, die als bildhaft, d. h. als simulacrum oder imago, beschrieben wird.
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mord, Bürgerkrieg usw. entladen (3.41–86).778 Angesichts solcher Diagnosen und des düsteren Zeitpanoramas, das Lukrez immer wieder durchblicken lässt, erweist sich De rerum natura – entgegen der anti-epikureischen Polemik von Cicero und anderen Kritikern – durchaus nicht als apolitisch: Lukrez diskreditiert zwar die traditionelle republikanische Ämterlaufbahn als sinnlose Sisyphusarbeit (3.995–1002), bezieht keine eindeutige Stellung zur römischen Republik und folgt somit in der Regel Epikurs berühmter Weisung, dass die Weisen die Mühen der Tagespolitik meiden sollen.779 Dennoch möchte er die Gesellschaft grundsätzlich heilen, allerdings auf einer psychologisch-therapeutischen Ebene, die weit unterhalb aller politischen Institutionen liegt, die – sollte sich die epikureische Heilsbotschaft noch vor dem Weltende verwirklichen – gänzlich überflüssig würden, sobald die Menschen die eigentliche Realität der natura rerum in ihr eigenes Denken, Sprechen und Handeln korrekt übersetzen und umsetzten könnten.780
778 Vgl. Nussbaum, The Therapy of Desire, S. 261f. 779 Lukrez’ Adressierung des Gedichts an Memmius sowie die Bemerkung im ersten Proömium, dass weder er noch Memmius sich in den aktuellen politischen Nöten der Sorge um das Gemeinwohl entziehen können (1.41), scheinen Epikurs Weisung zu widersprechen. Von welchen Nöten Lukrez hier genau spricht und ob er tatsächlich eine politische Parteinahme andeutet, ist umstritten. Abgesehen von dieser interpretationsbedürftigen Ausnahme ist Lukrez, wie Fowler im Detail nachweist, durchgängig skeptisch gegenüber der institutionalisierten Politik: Don Fowler, »Lucretius and Politics«, in: Oxford Readings in Classical Studies. Lucretius, S. 397–431. 780 Laut einem Fragment von Diogenes Oinoanda entwarfen die Epikureer eine Utopie, der zufolge irgendwann alle Menschen zur wahren Lehre bekehrt und in einem so friedfertigen Zustand leben werden, dass sie keine Gesetze und kein Militär, d. h. keinen Staat, mehr brauchen. Die Menschen leben von Subsistenzwirtschaft und widmen sich neben der Landwirtschaft der Philosophie. Trotz dieser utopischen Idyllen steht für die meisten Epikureer und auch für Lukrez die Rettung des Individuums, das sich gegenwärtig in einer feindseligen Umwelt befindet, im Vordergrund. Wie die frühen Christen sind sich die Epikureer bewusst, dass es sich bei ihnen um eine Minderheit handelt. Vgl. a. a. O., S. 430f.
Danksagung
Hiermit möchte ich mich beim IFK Wien (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften), beim Graduiertenkolleg ›Das Reale in der Kultur der Moderne‹ sowie beim Exzellenzcluster ›Kulturelle Grundlagen von Integration‹ der Universität Konstanz bedanken. Ohne die finanzielle Unterstützung und ohne den interdisziplinären Austausch, den mir diese Institutionen ermöglichten, wäre vorliegende Arbeit nie zustande gekommen. Dasselbe gilt für die Universität Wien, die mich in meiner letzten Arbeitsphase durch ein sechsmonatiges Abschlussstipendium unterstützte. Dank gilt auch der ÖAW (Österreichische Akademie der Wissenschaften), die momentan mein neues Forschungsprojekt, das sich – wenn man so will – mit dem dämonischen Fortleben der lukrezischen Simulacra beschäftigt, durch ein APART-GSK-Stipendium fördert. Ganz besonderen Dank gilt selbstverständlich den beiden Betreuern meiner Dissertation, Richard Heinrich (Philosophie Wien) und Barbara Feichtinger (Latinistik Konstanz), die mir jahrelang freundlich, scharfsinnig, geduldig und ermutigend beistanden. Vom Graduiertenkolleg ›Das Reale in der Kultur der Moderne‹ seien Albrecht Koschorke und Alexander Zons namentlich hervorgehoben, die für die fruchtbare Arbeitsatmosphäre während meiner Zeit in Konstanz maßgeblich verantwortlich waren. Nicht zuletz flossen in meine Arbeit die intellektuellen Anregungen und der freundschaftliche Beistand zahlreicher Menschen ein, von denen hier einige erwähnt seien: Elena Balashova, Maurizio Bettini, Elisabeth Flucher, Eva-Maria Hanser, Gerhard Hommer, Helmut Lethen, Christoph Paret, Marc Petersdorff, Alessandro Rossi, Sasha Rossmann, Christian Scherrer, Fabian Schmitz, Philipp Stadelmeier, Ashwin Schuman, Ana-Maria Surugiu. Manuela Tomic und Giorgio Palma sei für die Unterstützung beim Korrektorat gedankt, Ingo Schaaf und Severin Gotz für die Kontrolle meiner Übersetzungen lateinischer und griechischer Zitate. Außerdem sei den externen Begutachtern meiner Dissertation, Stefano Maso und George Karamanolis, wie einem anonymen Gutachten, das der Verlag einholte, für die Verbesserungsvorschläge gedankt.
Abkürzungen antiker Werke
Aristoteles: an. = De anima / phys. = Physica / poet. = De arte poetica. Aulus Gellius: noct. = Noctes Atticae. Catull: carm. = Carmina. Cicero: ac. = Academica / ad Quin. = Epistulae ad Quintum fratrem / Arch. = Oratio pro Archia poeta / Att. = Epistulae ad Atticum / Brut. = Brutus / de. orat. = De oratore / div. = De divinatione / fam. = Epistulae ad familiars / fat. = De fato / fin. = De finibus bonorum et malorum / inv. = De inventione / leg. = De legibus / nat. = De natura deorum /off. = De officiis / opt. gen. = De optimo genere oratorum / rep. = De re publica / Tusc. = Tusculanae disputationes. Cornelius Nepos: Cato = Cato d. Ä. / Them. = Themistokles (in: Vitae). Diogenes Laertius: vit. = Vitae philosophorum. Dionysios von Halikarnassos: imit. = De imitatione. Ennius: ann. = Annales / Epich. = Epicharmus / epig. = Epigrammata (Sk. = Skutsch, Fl. = Flores etc., Vahl. = Vahlen). Epikur: gnom. = Gnomologium Vaticanum / Her. = Epistula ad Herodotum / Men. = Epistula ad Menoeceum / Pyth. = Epistula ad Phytoclem / rat. = Ratae sententiae / Us. = Fragmente und Testimonien hg. v. Usener. Griechische Lyriker: Anth. Gr. = Anthologia Graeca. Hesiod: theog. = Theogonie / op. = Erga. Hieronymus: epist. = Epistulae. Homer: Il. = Illias / Od. = Odyssee. Horaz: carm. = Carmina / epist. = Epistulae. Isidor von Sevilla: ety. = Etymologiae sive origines. Lukan: bell. civ. = De bello civili. Makrobius: Sat. = Saturnalia / somn. = Commentarii in somnium Scipionis. Manilius: astr. = Astronomica. Ovid: am. = Amores / fast. = Fasti / met. = Metamorphoseon libri. Persius: sat. = Saturae. Platon: Krit. = Kriton / Krat. = Kratylos / Phaid. = Phaidon / soph. = Sophistes / rep. = Politeia. / Tim. = Timaios. Plautus: Amph. = Amphitruo / Asin. = Asinaria / Trin. = Trinummus. Plinus d. Ä: nat. = Naturalis historia. Plinus d. J: epist. = Epistulae. Properz: eleg. = Elegiae. Pseudo-Longinos: subl. = De sublimitate. Quintilian: inst. = Insitutio oratoria. Sallust: Cat. = De coniuratione Catilinae. Seneca d. J: epist. = Epistulae morales. Sextus Empiricus: adv. math. = Adversus mathematicos. Sueton: vita Ter. = vita Terentii (in: De poetis). Terenz: Ad. = Adelphoe / Andr. = Andria /Eun. = Eunuchus / Heaut. = Heautontimorumenos. Varro: l. l. = De lingua Latina / rust. = De re rustica. Velleius Paterculus: hist. =
308
Abkürzungen antiker Werke
Historiae.Vergil: Aen. = Aeneis / georg. = Georgica.Vitruv: arch. = De architectura. Vorsokratiker: DK = Fragmente hg. v. Diels und Kranz.
Bibliografie
1.
Primärliteratur
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Stellenregister
Anaxagoras DK 59 A 113
72
Antipater von Sidon Anth. Gr. 7.713 207 Aristoteles an. 407b 110 phys. 193b 75 194a 181 199a 181 poet. 1447b 180 1448b 180 1450a 180 1451a 180 1451b 180 Aulus Gellius noct. 9.9.1 185 17.20.8 204 Catull carm. 16.5–11 Cicero ac. 1.3 34 1.5 35f 1.10 188 1.25 64 2.88 106 ad Quin. 2.10.3 Arch. 6.14 33 8.18 99
83
271
11.27 144 Att. 6.2.3 133 Brut. 71 143 (Fn. 351) 72f 250 (Fn. 638) 72–75 143 75f 100 275 37 177 83 de orat. 1.61 36 1.68 46 2.55 35 2.90–92 182 2.94 183 3.6 208 3.24 36 3.39 37 3.50 36 3.60f 299 3.63 299 3.64 299 3.67–71 300 3.152 36 3.155–160 37 3.170 37 div. 1.23 295 (Fn. 760) 2.4 34 fam. 15.18.1 266 15.19.2 266 fat. 22 291f 25 66 fin. 1.4 189 1.6 189 1.7 189 1.17 66, 292 (Fn. 754)
334 1.19 291 1.37 86 1.68 23 2.12 269 2.15 42 2.16 42 2.20 104 2.31 86 2.70 160 (Fn. 388) 2.117 269 inv. 1.27 233 (Fn. 584) leg. 2.17 251 nat. 1.20 30 1.66 66, 104 1.69f 294 1.71 66 1.105–108 118 2.93f 293f 2.104 251 3.54 150 off. 2.87 251 3.116f 269 op. gen. 4.14 190f, 252 7.23 192 rep. 1.33 33 6.10 106 6.29 110 Tusc. 1.3 34 1.6 36 1.19 132 1.48 270 1.73 208 2.2 34 2.5 133, 259 3.29 251 4.3 267 4.5–7 267 5.10 268 Cornelius Nepos Cato 3.4 48 Them. 1.4 33 Demokrit DK 59 B 21a 58 DK 67 A 9 69
Stellenregister
DK 68 A 77 118f DK 68 B 154 216 Diogenes Laertios vit. 8.54–57 110 (Fn. 257) 10.12 104 10.13 42 10.27f 171 10.136 86 Dionysios von Halikarnassos imit. Fr. 2 182f Empedokles DK 31 A 29 79 DK 31 B 3 147 DK 31 B 8 75 DK 31 B 12 128 DK 31 B 117 109 DK 31 B 131 147 DK 31 B133 279 Ennius ann. 1 Fr. 1 Fl. 140 1 Fr. 2 Fl. 96, 105 1 Fr. 3 Fl. 105 1 Fr. 4 Fl. 105, 138 1 Fr. 5 Fl. 106 1 Fr. 6 Fl. 108 1 Fr. 6. Sk. 108 1 Fr. 7 Fl. 105 1 Fr. 8 Fl. 108 1 Fr. 9 Fl. 109 1 Fr. 10 Fl. 109, 127 1 Fr. 11 Fl 109, 139 1 Fr. 12 Fl. 108 1 Fr. 15 Vahl. 122 6 Fr. 2 Sk. 50 7 Fr. 1 Fl. 136 7 Fr. 1 Sk. 100 7 Fr. 2 Fl. 137 7 Fr. 3 Fl. 138 Fr. 487 Sk. 144 Epich. Fr. 1 Vahl. 107 Fr. 5 Vahl. 109 epig. Fr. 2 Vahl. 113
335
Stellenregister
Epikur gnom. 9 288f 10 104 Her. 35–36 176 37f 44 38 26, 72, 128 43 289f 47–50 114 48 31, 282 49 114 55–59 284f 61 31, 290 63 131 70 236 72f 237 75 217 75f 195f 82 26 Men. 128 23 133 289 134 289 135 25 Phyt. 85 172 rat. 8 86 12 32 27 24 Hesiod theog. 1–18 140 52 u. 75 140 53f 150 op. 1 150 Hieronymus epist. 57.5.2–7
260f
Homer Od. A 1 143 Ζ 42–46 161 Λ 391 97 Il. Α 70 104 Γ 3 209 Horaz carm. 4.2.25–32 167 epist. 1.6.1 141 (Fn. 610)
1.19.19–34 185 2.1.50 122 2.1.52 111 2.1.156f 145 2.1.157–160 142 2.1.161–164 250 2.1.170–176 250 2.3.111 97 (Fn, 218) 2.3.133f 185 2.3.267f 185 Isidor von Sevilla etym. 7.12.15 101 8.7.3 101 11.1.1 75 Lukan bell. civ. 1.79f
278
Lukrez 1.1–25 76f 1.14 192 1.14f 82 1.26–52 23 1.28 82 1.28–37 79 1.31f 79 1.40–45 62f 1.41 247, 303 (Fn. 779) 1.44–49 51 1.50–61 94 1.54–61 67f 1.55 98 1.62–79 47f 1.69f 75 1.70f 79f 1.75f 240 (Fn. 606) 1.76 156 1.80–83 91 1.84–101 91 1.101 91 1.102–106 28 1.102–134 92f 1.105 254 1.112–126 13 1.113–116 127
336 1.115 29 1.120–122 111 1.132f 112 1.132–135 108 1.135 118 1.136–145 15, 21 1.138f 150, 240 1.145 46 1.146f 27 1.150 127f 1.168 71 1.174–183 73 1.196f 69 1.211 254 1.227–229 78 1.240 64 1.243 68 1.250f 71 1.252–264 71 1.271 192 1.277 46 1.311f 54f 1.398–409 55 1.410–417 54 1.418 69 1.449–454 237 1.455–463 237 1.469f 237 1.471–482 237f 1.502f 41 1.533 67 1.586 64 1.596 51 1.599–634 285 1.635–920 47 1.638–644 43 1.642 254 1.645–703 43 1.670f 128f, 264 1.726–733 45 1.734–741 102, 280 1.736 128 1.739f 103 1.742–762 102 1.792f 128f 1.817–829 69f
Stellenregister
1.830–844 135 1.832 22, 165 1.844 67 1.891–896 69 1.927f 240 1.915–920 65 1.921–934 148f 1.931–950 84f 1.933 26, 46 1.1114–1117 56 1.1117 74 2.1–3 238 2.1–14 65, 81 2.7f 26 2.14–46 28 2.14–54 302f 2.29–33 215 (Fn. 545) 2.55ff 27 2.55–61 29 2.67–75 284 2.83–99 282 2.78f 40 2.95 281 2.100–108 282 2.109–124 57f 2.109–141 282 2.125–137 59f 2.142–164 31 2.145f 215 2.162 31 2.263–271 287 2.172 148, 220 2.172f 287 2.180f 128 2.184–215 282 2.216–224 283 2.225–239 282 2.227f 287 2.229–233 246 2.244f 284 2.250–262 286 2.265 192 2.292 284 2.308–332 283 2.317–332 61 2.344–346 215
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Stellenregister
2.371–380 199 2.398–406 282 2.410–414 211 2.434–437 75 2.500–507 206 2.503f 87 2.504–506 206 2.505f 82 2.512–514 206 2.573–580 62 2.646–651 51 2.655–660 71 2.665f 186 2.688–698 69f 2.717 185f 2.719 64 2.730 23 2.745 254 2.753f 128f 2.806f 124 2.866 256 2.871–882 255f 2.926–930 127 2.927 255 2.967f 287f 2.976–979 65 2.991–998 71f 2.1013–1018 69 2.1024f 240 2.1040 240 2.1059f 288 2.1067–1089 294 2.1087 51 2.1090f 270 2.1093f 26 2.1145f 275 2.1157–1174 246 3.1–3 39 3.3f 162 3.1–30 15, 159f 3.5–8 201 3.12 45 3.14–30 56 3.16–22 51 3.18–22 26 3.28–30 170
3.29 166 3.39 29 3.41–86 302f 3.58 48 3.59–78 129 3.77–84 28f 3.79–86 129f 3.87–93 29 3.89 126 3.91ff 27 3.96–134 132 3.130–134 132 3.138f 130 3.161f 131 3.161–188 131 3.184–190 31 3.231–237 131 3.241–245 131 3.258–261 132 3.260 165 3.288–306 131 3.337 41 3.337–341 228 3.370–395 150f 3.371 47 3.388–390 55 3.416 64 3.419f 41 3.476 192 3.519f 128f 3.670–678 126 3.679–685 128 3.698 128 3.711–729 128 3.722 126 3.760–767 126 3.776–784 126f 3.931–962 219 3.995–1002 303 3.1036–1041 87 3.1037f 156 3.1039 47 3.1042–1044 34 4.6–25 84 4.8 26 4.25 85
338 4.29f 112 4.30–42 112 4.33f 112 4.39ff 27 4.54–109 114 4.57–83 87 4.58–62 115 4.104f 117 4.130–142 116 4.131–142 210 4.133–142 49 4.141f 255 4.168–174 49f 4.180–183 207, 209 4.199–208 31 4.242 254 4.292–301 115 4.292–341 116 4.307–311 116 4.312–317 33 4.343 185 4.353–359 116 4.365 185 4.401 254 4.549 9 4.549f 81f 4.551–546 211 4.678–683 210 4.704 214 4.725–743 116 4.726–736 117f 4.732 118 4.757–767 119 4.768–826 117 4.775f 120 4.970 165 4.779f 120 4.788–801 120 4.903–906 277f 4.962–1019 120 4.794–799 120 4.909–911 207 4.969f 25 4.991–997 54 4.1045 71 4.1058–1120 79, 117
Stellenregister
4.1129f 255 4.1208–1217 73 4.1412–1415 245f 5.1–6 166 5.6 204 5.8 165 5.9 166 5.9f 245 5.10 268 5.11f 40 5.13–46 165 5.20f 242 5.24f 33 5.50 30, 194 5.52 128 5.54 98 5.55f 55 5.59 279 5.65f 272 5.75 115 5.79 33 5.91–109 276 5.101–103 279 5.110–116 103 5.110–121 279f 5.111f 103 5.126–145 272 5.146–180 272 5.161 281 5.173 241 5.181–194 272 5.195–234 272, 294 5.198f 128 5.210 254 5.222–234 80 5.240–323 273 5.306–317 233 5.314–350 275 (Fn. 706) 5.324–337 13, 231f 5.333–729 283 (Fn. 727) 5.336f 241, 265 5.337 165 5.338–347 275 5.343f 275 5.351–372 273 5.373–375 73
339
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5.380 273 5.380f 61 5.381–398 273 5.399–415 274 5.416 59 5.419f 65 5.436–457 263 5.472 254 5.514–516 278 5.571 196 5.572–589 141 5.622 47 5.693 33 5.724 254f 5.737–740 78 5.783–815 72 5.826–836 246 5.828–831 263 5.908–910 240 5.915 254 5.943 246 5.999f 279 5.1019–1027 24, 197 5.1028–1045 192f 5.1059–1090 194 5.1068 186 5.1161–1203 245 5.1241 245 5.1257f 87 5.1305–1307 246 5.1308–1349 246 5.1361f 217 5.1370–1378 217 5.1379 184 5.1379–1391 214 5.1385 245 5.1392–1398 215 5.1398–1404 141 5.1398–1409 214 5.1405–1409 142 5.1419 245 5.1419–1422 245 5.1438 254 5.1440–1457 234 5.1444–1447 236 5.1453 82
5.1454f 217 5.1454–457 41, 56 5.1455f 246 6.1–8 40, 243f 6.17–21 29 6.35–41 29 6.42 68 6.47 147 6.66 51 6.77 114 6.81f 38 6.92–95 146 6.250–254 49f 6.419 115 6.445 186 6.1149 196 Makrobius Sat. praef. 5–8 224 5.1.18–20 222f 5.17.4 222 somn. 2.10.6–9 235 Manilius astr. 1.1–6 153f 1.13f 154 1.17 154 1.20–24 155 2.49–56 154 2.57–59 154 2.60–69 278 3.1f 155 3.3f 155 5.514f 278 Ovid am. 1.15.23f 281 fast. 2.683f 52 met. 1.1f 257 1.159f 257 2.705f 257 5.294–317 150 15.165–172 110f 15.749 257
340
Stellenregister
Parmenides DK 28 B 1 147
Pseudo-Longinus sublim. 13.1 183
Persius sat. prol. 1–3 6.9–11 121
Quintilian inst. 3.7.8 166 6.2.32 37f 10.1.85–131 197 10.2.1f 198 10.2.4–8 198 10.2.9–11 197f 10.2.12 200 10.2.13 200 10.2.15 199f 10.2.26 200 10.2.27 200 10.5.2 251 12.10.34 134
139
Platon Ion 534a-b 167 Krat. 383a–385a 194 423e 179 Krit. 107d 204 rep. 392d 178 395c-d 181 397a 218 397a–398b 181 397d-e 218 398a 218f 514b 179 596d-e 178 599a 178 613b 180 soph. 234c-e 178f 265b 178 265e 179 Phaid. 60c–61a 208 84e–85b 208 Tim. 29b 179 39e 179 Plautus Amph. 121 256 Asin. prol. 11 248 Trin. prol. 19 248 Plinius d. Ä. nat. 10.81f 216 (Fn. 551) 35.66 144
Rhetorica ad Herennium 1.3 182 (Fn. 465) 4.7 251 4.21 213 4.23 37 4.32 83 Sallust Cat. 25
83 (Fn. 189)
Seneca d. J. epist. 65.3 181 79.6 201 84.3 168 84.4 168 84.8 164 84.9–10 224f Sextus Empiricus adv. math. 10.219
237
Plinius d. J. epist. 7.30.5 203
Sueton vita Ter. 5
Properz eleg. 3.3.1–6 138 3.3.13–52 139 4.2.47 257
Terenz Ad. prol. 11 249 Andr. prol. 9–21 249 13f 134
250
341
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Eun. prol. 7f 249 Heaut. prol. 16–19 249
Velleius Paterculus hist. 2.66.5 36
Varro l. l. 5.61 79 6.39 296 7.36 100 8.21–22 295 9.17 296 9.23–25 296 10.52 296 10.77 296 rust. 3.16 167
Vergil Aen. 6.735–751 110 georg. 3.8–13 151 2.490–293 152f 2.494–540 153 3.16 152 3.289–293 152 4.411 257 Vitruv arch. praef. 9.16
113 (Fn. 265)