Das wissenschaftliche Werk: III Deutschland und Spanien [Reprint 2010 ed.] 9783110811995, 9783110145472


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German Pages 810 [812] Year 1996

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Table of contents :
Über die Konstellation der deutschen Aufklärung
Der Weg der deutschen Aufklärung nach Frankreich während des 18. Jahrhunderts
Eine Verteidigungsschrift des Materialismus in der deutschen Aufklärung
Entwicklungstendenzen der Akademien im Zeitalter der Aufklärung
Eine politische Preisfrage im Jahre 1780
Ein Akademiesekretär vor 200 Jahren: Samuel Formey
Französische Aufklärung und deutsche Romantik
Die französische Aufklärung und die deutsche Geisteswelt
Karl Marx und die Aufklärung
Zur Bezeichnung einiger philosophischer Grundbegriffe der deutschen und französischen Aufklärung
Zur Theorie und Praxis des Übersetzens im Frankreich und Deutschland des 18. Jahrhunderts
Gottsched als Übersetzer französischer Werke
Goethe und die Französische Revolution
Sobre el destino español de la palabra francesa „civilisation“ en el siglo XVIII
Sobre el concepto de decadencia en el siglo ilustrado
Die Aufklärung in Spanien, Portugal und Lateinamerika [Kapitel I-IV]
I. Die spanische Aufklärung
II. Gesellschaftlichkeit und Geselligkeit im Spanien der Aufklärung
III. Die Stände
IV. Wissen und Wissenschaften
Der komparatistische Aspekt der Aufklärungsliteratur
Comparatisme et dix-huitiémisme français
Ausgewählte Rezensionen
Rezensionen zu Band 5
Rezensionen zu Band 6
Rezensionen zu Band 7
Anhang
Nachwort. Von Martin Fontius
Zu dieser Ausgabe
Editorische Anmerkungen
Personenregister
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Das wissenschaftliche Werk: III Deutschland und Spanien [Reprint 2010 ed.]
 9783110811995, 9783110145472

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WERNER KRAUSS Das wissenschaftliche Werk 7

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WERNER KRAUSS Das wissenschaftliche Werk Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Manfred Naumann

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1996

WERNER KRAUSS Aufklärung III Deutschland und Spanien Herausgegeben von Martin Fontius Textrevision und Editorische Anmerkungen von Renate Petermann und Peter-Volker Springborn

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1996

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnähme Krauss, Werner: Das wissenschaftliche Werk / Werner Krauss. Hrsg. im Auftr. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Manfred Naumann. — Berlin ; New York : de Gruyter. Teilw. hrsg. von Werner Bahner. — Teilw. im Akad.-Verl., Berlin und Aufbau-Verl., Berlin, Weimar ISBN 3-05-000850-4 (Akad.-Verl.) ISBN 3-351-00627-6 (Aufbau-Verl.) NE: Bahner, Werner [Hrsg.]; Naumann, Manfred [Hrsg.]; Krauss, Werner: [Sammlung] Bd. 7. Aufklärung. — 3. Deutschland und Spanien / hrsg. von Martin Fontius. Textrev. und ed. Anm. von Renate Petermann und Peter-Volker Springborn. - 1996 ISBN 3-11-014547-2

© Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung und Schutzumschlag: Rainer Engel, Berlin Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Über die Konstellation der deutschen Aufklärung Wir hatten nie Auguste und Mäzene. Das, was wir sind, sind wir allein durch uns. Goeckingk

Bürgerliche Dichter und höfische Dichtung Während unter den besonderen Bedingungen des höfischen Absolutismus im 17. Jahrhundert vor allem in Frankreich und in Spanien eine Nationalliteratur entstand, an der die Intelligenz aller Stände teilhatte, waren in Deutschland die herrschenden Schichten in derselben Periode weder befähigt noch auch gewillt, eine Literatur zu fördern, die außerhalb ihrer besonderen Zwecke gelegen war. Die Dichtung des 17. Jahrhunderts verfällt in Deutschland der höfischen Knechtschaft: sie muß zur Verklärung des fürstlichen Alltags dienen. Die Auftraggeber sind weit entfernt davon, den Dichtern Kredit einzuräumen und ihre Existenz zu unterhalten. Es wird nur Stücklohn für die bestellte Arbeit gewährt, die das Gepräge ihrer Herkunft keinen Augenblick verleugnet. Es waren meist bürgerliche Dichter, die ihre Muse in dieser Weise verdingten und dienstbar machten. Erhaben sind alle großen und kleinen Ereignisse im fürstlichen Dasein, im Dasein der höfischen Satelliten bis zu den „Geheimderäten". Die großen Gegenstände der Dichtung sind hochfürstliche Verlöbnisse, Verbindungen und Vermählungen und ebenso natürlich das Absterben und der Hintritt der irdischen Götter, dem die Verklärung, die Himmelfahrt, der Übertritt in die Unsterblichkeit des Ruhmes anhängt. Daß all dies todernst gemeint war, das wird durch die uns schon beim Überlesen der Titel anwandelnde Heiterkeit nicht entkräftet: „Die dreifache Glücks- und Ehrenkrone beim seligen Hintritt der Frau von ..."; „Die mit der himmlischen verwechselte Weltmuse bei Beerdigung der Frau von ... fürgestaltet"; dazu die Briefe aus dem Jenseits: „Der selige Oberhofmarschall von G. an seine Gemahlin über seine plötzliche Todesfahrt, da er in seinem Wagen eingeschlafen und den bei ihm Sitzenden unvermutet verschieden". Neben diesem sublimen Genre bleibt dem dichterischen Erlebnis nur eine bescheidene Stelle, und nur in der Verwandlung in einen Gegenstand der allerhöchsten Lustbarkeit über-

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Über die Konstellation der deutschen Aufklärung

lassen. Die schelmische Selbstironie (das sogenannte Badinage) kann diesen Ansprüchen nicht genügen, sondern nur die schamlos preisgegebene Intimität, die Exhibition der erotischen Abenteuer. Das dauernde, um nicht zu sagen planmäßige Ausgleiten in die Obszönität stammt nicht aus poetischer Lizenz, sondern ist durch die Lüsternheit der Besteller zu erklären. Auch das Leben und Treiben der untersten Stände kann Gegenstand der allergnädigsten Lustbarkeit und Erheiterung werden. Der einzige Sinn, den die nutzlose Mühsal und das vergebliche Opfer der Unterdrückten erhält, ist eben die Ergötzung der Herrschaft. Das ganze untere Stockwerk der barocken Literatur ist in Deutschland von dieser Sorte Humor durchwaltet. Bald übt man seinen Witz an den Nöten eines von Zwangseinquartierung heimgesuchten Bauern: Schlag die Kapaunen tot, so wirst du nicht geschlagen. Laß Wildpret auf den Tisch mit Wein und Biere tragen. Setz Hecht und Karpfen vor, aufs beste zugericht'. Die Teufel dieser Art vertreibt kein Fasten nicht. 1

Sardonischer Trost wird den verkrüppelten Kriegsopfern gespendet: Wo Krieg und Krüge sind, da fehlt's an Scherben nicht. 2 Den Bettlern zu geben erübrigt sich, wenn man bedenkt: Die Betteljungen sind die allerreichsten Knaben, Weil sie vor jeder Tür etwas zu fordern haben.3

Mancher ehrliche Handwerker darf mit einem satirischen Grabspruch noch über den Tod hinaus dem Ergötzen der Herrschaft dienen: ein Sackpfeifer, ein Schuster, ein Kammacher und so weiter.4 Eine unerschöpfliche Quelle der Erheiterung sind zur Befriedigung makabrer Wollust in die Länge gezogene Hinrichtungen. Kritik an der höfischen Welt stand denen nicht zu, die als Dichter sich ihr willenlos übereigneten. Dagegen findet ein Junker wie Friedrich von Logau manches kräftige Wort gegen die Höfe, an denen nicht Verdienst, sondern allein Fürstenhuld den Ausschlag gibt. Trotz seines außenseiterischen Wesens bleibt aber Logau ganz und gar der Gesetzlichkeit dieser Welt gehorsam. Von ihm ist zuallerletzt der Durchbruch zur bürgerlichen Weltordnung zu erwarten: Das bürgerliche Recht gilt sehr jetzt in der Welt, Weil Vorteil, Nutz, Gewinn für Recht ein jeder hält, Was ehr- und christlich ist, weit hinten aber stellt.5

Bürgerliche Dichter und höfische Dichtung

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Nur zaghaft und sehr vereinzelt ist die spätere Thematik der Aufklärung in der deutschen Dichtung des 17. Jahrhunderts zu vernehmen: das Motiv des Tyrannenhasses lodert aus den Märtyrertragödien eines Lohenstein hervor. Die Rückbesinnung der höfischen Gegenwart auf die altgermanische Freiheit vermeidet sichtbar, den anstoßerregenden Kontrast in den gesellschaftlichen Verhältnissen zu berühren. Eine Ausnahmestellung gebührt in der dreibändigen Anthologie Hofmannswaldaus und seiner Zeitgenossen den adelsfeindlichen Tiraden eines nur einmal vertretenen Poeten mit den Namensinitialen B. S.: Was nützt der bunte Kram geerbter Ritterfahnen, Was dient der Büffelskopf, der euer Wappen ziert, Was helfen Helm und Schild von längst verfaulten Ahnen Und der polierte Stahl, den euer Harnisch führt Von tausend Jahren her? Ein Kluger macht den Schluß, Daß dieser Hausrat noch den Trödel füllen muß.6

Die Wendung zur Aufklärung war vor allem bedingt durch die allmähliche wirtschaftliche Festigung der bürgerlichen Verhältnisse und durch den unentwegten Machtzuwachs der deutschen Landesfürsten. Für die bürgerlichen Dichter eröffnet sich der Ausblick auf ein gleichgesinntes Publikum, das die Kaufkraft besaß, seinen erwachenden literarischen Bedürfnissen Genüge zu tun. Auf der anderen Seite wird diese Entwicklung zur Emanzipation einer bürgerlichen Literatur durch das völlige Erkalten des höfischen Interesses an der deutschen Dichtung beschleunigt. Mit dem ihr verbliebenen provinziellen Unterton kann sie den kulturellen Ambitionen ihrer bisherigen Auftraggeber nicht mehr entsprechen. Durch den Verlust ihres höfischen Auftrags wurde die Literatur endgültig auf sich selbst gestellt. Unter solchen Verhältnissen ist im 18. Jahrhundert in Deutschland aus einer von Bürgern getragenen höfischen Literatur eine bürgerliche Literatur hervorgegangen. Noch ehe die literarische Aufklärung sich in Deutschland bemerkbar machte, wird das erstaunliche Wachstum der literarischen Produktion gemeldet. Eine chaotische Bucherzeugung entspricht dem ersten Verlangen der zu Wohlstand gelangten Bürgerklasse nach beliebiger Unterrichtung. Bald wird auch in Anbetracht dieser nicht mehr zu übersehenden Fülle von Neuerscheinungen das Bedürfnis nach einer normativen Buchkritik erwachen: „Weil die Anzahl der Bücher täglich wächst", schreibt Benjamin Schmolck 1725, „muß ein Liebhaber derselben ihren Wert wohl beurteilen, damit er nicht statt des köstlichen Goldes verächtliche Kohlen sammle. Es ist ja nichts Neues, daß reiche Titel, bösen Schuldnern ähnlich, so nur wenige Heller bezahlen und hochmütige Vorreden der Autoren

Über die Konstellation der deutschen Aufklärung ungeheure Berge vorstellen, welche nichts als lächerliche Geburten zur "Welt bringen. Ein jedweder Kaufmann lobet seine Ware, und viele Skribenten setzen durch kraftlose Prahlereien ihre Namen in die Rolle der gelehrten Marktschreier. Sie lieben ihre Einfalle wie der Affe seine Jungen, ohngeachtet selbige zum öftern sehr ungestalt aussehen. Goldene Berge zeigen sich auf der Überschrift, und bleierne Hügel findet man in der elenden Ausarbeitung."7

Um die Wende des 17. und 18. Jahrhunderts lassen sich schon zwei Sammelpunkte des literarischen Lebens erkennen: Hamburg und Leipzig. In beiden Handelsemporien hatte die Konzentration der bürgerlichen Wirtschaftskraft schon beachtliche Fortschritte erzielt. In beiden waren Hochburgen der literarischen Journalistik erwachsen. In Hamburg und in Leipzig entstehen die ersten Muster einer satirischen Gesellschaftskritik, die den gesellschaftlichen Standort der deutschen Bewegung von Anfang her aufzeigen: Christian F. Hunold hatte in seinem „Satirischen Roman" 1705 das hanseatische Großbürgertum so scharf beleuchtet, daß ihm die Republik das Gastrecht kündigte. In Leipzig hatte Christian Reuter mit seinem „Schelmuffsky" (1696) ein realistisches Gemälde einer kleinbürgerlichen Familie entrollt, und zwar aus der Perspektive des der Umstrickung sich mit letzter Kraft erwehrenden möblierten Zimmerherrn. Trotz formeller Anlehnung an den alten Schelmenroman sind diese Schöpfungen schon durch die Verwandlung des Schauplatzes geeignet, den Übergang von der barocken Literatur zur bürgerlichen Aufklärung sichtbar zu machen. Der besondere Charakter der deutschen Aufklärung läßt sich damit im Gegensatz zu allen anderen gleichzeitigen Bewegungen der benachbarten Nationen kennzeichnen. Während die herrschende Schicht in Deutschland von der geistigen Bewegung im eigenen Land keine Kenntnis nahm, sind die privilegierten Stände an der englischen, französischen, italienischen und spanischen Aufklärung durch eine geistig aufgeschlossene intellektuelle Vorhut mitbeteiligt. Für die französische Entwicklung ist es immerhin bezeichnend, daß der erste Anstoß zur Aufklärung von einer oppositionellen Gruppe des alten Feudaladels (dem Kreis um Fenelon) ausging. Die geistigen Repräsentanten dieser Kreise verstanden es freilich von vornherein, mit mehr oder weniger Recht, im Namen der gesamten Nation den ideologischen Kampf zu eröffnen. Auch im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts wurde der Standpunkt der verschiedenen Fraktionen des Adels mit Nachdruck im Sinne der Aufklärung vertreten. Dem Schwertadel gehörten der Herzog von Saint-Simon, ein d'Argens und ein Vauvenargues an; zum Dienstadel rechneten der Marschall Richelieu und die d'Argensons. Die seit dem 16. Jahrhundert geadelte Magistra-

Bürgerliche Dichter und höfische Dichtung

tur der Krongerichte, die sogenannte Noblesse de robe, erweist sich noch immer als geistig unerschöpftes Potential: aus ihren Reihen stammen Montesquieu, Buffon, Dancourt, Marivaux und viele andere. Ihnen folgt die bürgerliche Hochfinanz (Helvetius), die Advokatur und die mittlere Gerichtsverwaltung (zur ersten gehörten Linguet und Fontenelle, zur letzteren Voltaires Vater, Arouet). Sehr stark vertreten ist das Handel treibende Bürgertum, während das Handwerk in der Hauptsache erst am Schluß der Jahrhundertbewegung literarisch und philosophisch hervortritt (Diderot und Rousseau). Man sollte meinen, daß gegenüber einer solchen Vielfalt der in den Kampf verwickelten Stände und Gruppen der einheitlich bürgerliche Charakter der deutschen Aufklärung zur größten Schlagkraft und politischen Wirksamkeit verhelfen mußte. Tatsächlich ist die adelsfeindliche Grundgesinnung der deutschen Literatur und Dichtung in diesem ganzen Zeitraum deutlich vernehmbar. Aber der größere soziale Purismus der deutschen Aufklärung wurde allzu teuer erkauft mit dem vollständigen Verzicht auf jede praktische Einflußnahme, auf jede politische Wirksamkeit. Die deutsche Aufklärung verstand es wohl, sich mit der deutschen Nation, mit dem deutschen Volk zu solidarisieren. Sie war weiterhin zu der Überzeugung gekommen, daß das Schicksal der Nation durch die Unternehmungen der Obrigkeit und Kabinette nicht mehr betroffen würde, daß das wirkliche Leben der Nation erst auf den Trümmern der alten Regierungsmaschinen beginnen werde. Kein anderer Deutscher hat dieser radikalen Meinung so häufig und mit solchem Nachdruck seine Stimme geliehen wie Herder: „Liegt ein Land nicht ruhig neben dem ändern? Kabinette mögen einander betrügen; politische Maschinen mögen gegeneinandergerückt werden, bis eine die andre zersprengt. Nicht so rücken Vaterländer gegeneinander; sie liegen ruhig nebeneinander und stehen sich als Familien bei."8

Die Nation und die Aufklärung als ihre vorgeschobenste intellektuelle Spitze standen also in der Erwartung der Selbstaufhebung des Ancien regime, das unfehlbar an seinen äußeren Widersprüchen zerschellen mußte. Die Aufklärung ist die Epoche der geistigen Sammlung und Bewußtseinsbildung des deutschen Bürgertums. Diese Haltung des Verzichts auf allen Anteil an der ihr wesensfremden Politik der Kabinette kam aber nur den herrschenden Mächten zugute. Um etwas zu erreichen, hätte das Bürgertum wie in Frankreich aus seiner Isolation heraustreten müssen. Nur durch ihre systematische Zusammenarbeit mit allen anderen Klassen vermochte die französische Bourgeoisie den Zweifel in die Reihen der Herrschenden selbst

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zu tragen. Man kann im übrigen darüber streiten, ob der Purismus, die Gesinnungstreue und Integrität des deutschen Bürgertums in diesem Zeitraum nur der Vorzug seines fundamentalen Mangels an Aktivität war oder ob umgekehrt der gänzliche Verzicht auf alle politische Wirkung nur der Ausdruck des hohen Selbstbewußtseins der einzigen Klasse war, die den Namen der deutschen Nation im Munde zu führen wagte.

Nationalgeist und Patriotismus Der völlige Bruch der bürgerlichen Intelligenz mit einer übermächtigen, aber seelenlosen Staatlichkeit tritt in der Bedeutung der modisch gewordenen Begriffe „patriotisch", „Patriotismus", „Nationalgeist" seit den sechziger Jahren offen zutage. „Patriotisch" und „demokratisch" sind in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Wechselbegriffe. Der Ruhm des Patriotismus wird einem Lebensretter als Bürgerkrone verliehen; zuweilen wird er einem fortschrittlichen Beamten oder Magistrat zuerkannt — kaum einem Fürsten oder Minister. „Dieses große Prinzip" des Patriotismus kann, Wekhrlins „Chronologen" zufolge, „nirgends statthaben als bei Freiheit und Eigentum". Aus einer Äußerung Georg Forsters läßt sich ersehen, wie sich der Begriff des Patriotismus im vorrevolutionären Deutschland als Gegenpol aller Staatlichkeit (selbst der josefinisch aufgeklärten) befestigt hatte: „Überhaupt wird im Österreichischen noch wenig für die Wissenschaften von Seiten des Kaisers getan, alles Bisherige sind Privatbemühungen aus Patriotismus."9 Im selben Jahr bemerkt Riesbeck in seinen „Briefen eines reisenden Franzosen", der Wiener Hof hätte „einen Aufstand in seiner Hauptstadt nicht zu befürchten". Dazu seien die Wiener zu entnervt. Sie wüßten „nichts von dem warmen patriotischen Gefühl, welches alle Londoner und Pariser begeistert"10. Die offenbar schon landläufig gewordene Staats- und fürstenfeindliche Bedeutung des Patriotismus versucht Gleim durch seine besondere loyalistische Anschauung umzuwerten: Der ist ein Patriot, der, wenn er Unverstandes Und Stolzes bittre Klagen hört, Die Klagen widerlegt und seines Vaterlandes Zufriedene vermehrt! Der nicht, der in die lauten Klagen, Von Unzufriedenen vorgebracht, Einstimmt, und Hagelschlag und andere Landesplagen Dem Fürsten zum Verbrechen macht!11

Nationalgeist und Patriotismus

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Durch die holländische Revolution wird die Bedeutung patriotisch gleich republikanisch, das heißt anti-orangistisch, so sehr zugespitzt, daß das Wort für den Konstitutionalisten Schlözer einen negativen Nebensinn erhält. So rezensiert er die politische Broschüre „Le despotisme de la maison d'Orange" (1785) als „Lästerschrift eines wütenden Patrioten in vormaliger holländischer Bedeutung"12. Der enge Zusammenhang von Nationalgeist und republikanischer Bürgertugend erklärt es, daß die Probleme des deutschen Patriotismus zuerst und mit dem größten Nachdruck nicht in Deutschland, sondern auf eidgenössischem Boden aufgegriffen und ausgesprochen werden. Von der Aufklärung hatte das freiheitliche Selbstbewußtsein der Schweizer neue Impulse bezogen. Freilich war es unausbleiblich, daß dieses Selbstbewußtsein im Angesicht des unerquicklichen Machtgebrauchs und -mißbrauchs durch die oligarchisch regierenden Patrizierfamilien alsbald in radikale Selbstkritik umschlug. Aus den kantonalen Zellen der zurückeroberten altgermanischen Gemeinfreiheit war die bedrückende Miniaturausgabe einer despotischen Klassenherrschaft geworden. Trotz der zersetzenden Kontakte mit den die Schweizer Freiheit seit vier Jahrhunderten unverrückbar umstellenden feudalabsolutistischen Monarchien blieben die republikanischen Institutionen bestehen. Die Aufklärung konnte sich ihrer bedienen, um aus dem locker gefügten Gemeindewesen und Staatenverband den eidgenössischen Bundesstaat zusammenzuschweißen. Nirgends konnte die Aufklärung schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts so unverhohlen ihrer politischen Zielsetzung nachgehen. Daß ihr Blick immer wieder die Enge der kantonalen Gemeinschaft mit dem Ausblick auf Deutschland zu durchbrechen suchte, ist nicht minder kennzeichnend als die unentwegte Orientierung der aufklärerischen Definitionen des deutschen Nationalgeistes an der eidgenössischen Freiheit. Schon 1744 hatte der Luzerner Ratsschreiber Franz Urs von Balthasar in einer programmatischen Schrift die Erneuerung der Eidgenossenschaft aus patriotischem Geist gefordert. Die Schrift machte ihren Weg, obwohl eine gedruckte Ausgabe erst 1758 unter dem Titel „Patriotische Träume eines Eidgenossen von einem Mittel, die veraltete Eidgenossenschaft wieder zu verjüngen" erschien. Die Bewegung griff bald vom Osten auf den Westen über. Der Baseler Ratsschreiber Iselin, der Spiritus rector der Helvetischen Gesellschaft, war selbst mit einer Proklamation der neuen Gedanken vor die Öffentlichkeit getreten, und zwar 1755 in seinen „Philosophischen und patriotischen Träumen eines Menschenfreundes". Dieser symptomatisch bedeutsamsten Schrift aus dem Kreise der Schweizer Patrioten folgt 1758 Jo-

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Kann Georg Zimmermanns „Vom Nationalstolze". Der in Brugg geborene Verfasser avancierte als Leibarzt Friedrichs II. [vgl. EA, S. 647] durch das von Goethe entworfene Charaktergemälde zu Weltruhm. Von seiner Ausgangsstellung, die er mit Iselin und mit der Schweizer Reformpartei gemeinsam hatte, wird er sich in späteren Jahren bis zum Selbstverrat als ein Renegat der Aufklärung entfernen ... Weder Iselin noch Zimmermann sind geneigt, den Zustand der heimischen Republiken als einzige Sicherung der Freiheit und Menschenwürde hinzunehmen. „Ich halte davor", sagt Iselin in seinen „Philosophischen und patriotischen Träumen", „daß man unter einem König frei und in einer Republik ein Sklave sein kann."13 Und Zimmermann stellt fest: „Unter den Palmen der bürgerlichen Freiheit ist man in Republiken und in Monarchien glücklich."14 Mit dieser grundsätzlichen Ausweitung des politischen Horizontes bleibt Isaak Iselin — sehr im Gegensatz zu Zimmermann — doch ganz und gar im Dienst der großen Reformen, aus denen die Erneuerung der eidgenössischen Konföderation hervorgehen sollte. Seine erste theoretische Bemühung muß daher in der Ermittlung der zur Verwirklichung eines solchen Vorsatzes unumgänglichen Prinzipien eines neuen Patriotismus gipfeln. Isaak Iselin war das Glück beschieden, daß er sich lange und gründlich in Frankreich umsehen konnte, bevor die Vaterstadt seine Dienste in Anspruch nahm. Er lernte Grimm, Rousseau und Buffon kennen — die kundigsten Führer in der Mustermesse von Theorien, in die sich das geistige Frankreich verwandelt hatte. Die Neigung Iselins zum einfachen Leben, seine Bauernfreundschaft und seine erklärte Abneigung gegen die Komplikationen der städtischen, von Handel und Gewerbe getragenen Kultur wurden zweifellos durch Jean-Jacques Rousseau bestärkt und gefestigt, so heftig er dessen wissenschaftsfeindliche Thesen verneinte. Die präphysiokratische Grundrichtung der vorgeschlagenen Reformen wirkt wie ein Vorgriff auf die erst in den sechziger Jahren veröffentlichten Theorien der Schule Mirabeaus und Quesnays. Dagegen spricht Iselin mit unverhohlenem Entsetzen von der immer offenkundigeren Zuwendung der aufgeklärtesten Franzosen zu materialistischen und atheistischen Theorien. Die „Philosophie", zu der auch er sich bekennt, muß sich „mit furchtsamen und behutsamen Schritten dem Tempel der Wahrheit nähern"15. Der Patriotismus Iselins glaubt alles von einer Revolution der Gesinnung erhoffen zu können. Er weiß, was er der geistigen Aufgeschlossenheit seiner Landsleute zumuten kann und was nicht. Das Prinzip der bürgerlichen Frei-

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heit muß mit dem bestehenden Unterschied der Stände vereinbart werden. Die Hauptsorge der Regierung soll dahin gehen, „daß in dem Staat kein einziger Mensch elender sein soll, als er in dem Stand der Natur würde gewesen sein ... daß, je mehr der Wohlstand unter vielen Familien der Bürger in einer gewissen Gleichheit ausgeteilet werde, der Staat desto blühender und vollkommener sei und daß der geringste Bürger zu der Glückseligkeit eben das Recht habe wie der vornehmste"16.

Die Entwicklung zur Großstadt ist für Iselin die Quelle alles Verderbens: „Also werden endlich diese Städte der Sitz der schlimmsten und verderbtesten Menschen, die man sich vorstellen kann. Auf einer Seite der mutwilligsten und der lasterhaftesten Reichen und auf der ändern der ruchlosesten und der niederträchtigsten Armen. Ein jeder kann leicht sehen, was für ein abscheuliches Volk daraus werden muß."17 Eine Aussiedelung aller Edelleute und Rentner sowie aller derer, die „auf dem Land dieselben Dienste leisten können" wie in der Stadt, soll dem Übel steuern.18 Iselin ist sich bewußt, in welchen Gegensatz ihn seine Handelsfeindschaft zu den Grundinteressen des Basler Regiments bringen mußte: Er ist sich darüber im klaren, daß der Handel „als das Palladium meines Vaterlandes die Verehrung, die Liebe und die Bewunderung aller meiner Mitbürger besitzt"19. Das hindert Iselin nicht, den Erwerbstrieb im Tonfall der Homilie als „die niedrigste und schlechteste Neigung der menschlichen Seele"20 zu verdonnern. Das Prinzip der Konkurrenz ist mit dem Bürgerfrieden unvereinbar. Die Akkumulation von Kapital in einer einzigen Hand ist mit einer auf Ausgleich und Harmonie bedachten Staatlichkeit unvereinbar. Was folgt daraus? Natürlich nicht, daß „wir alle Handelschaft aus unseren Staaten verbannen" 21 . Tatsache ist, daß die Kaufleute nicht nur in Basel, sondern in der ganzen Welt „sich in den ersten und in den wichtigsten Rang erhoben haben". Es bleibt nur die Hoffnung auf einen Gesinnungswandel im Herzen der mächtigen Handelsherren, auf daß ihre Reichtümer „Liebe und Freundschaft und nicht die Furcht um die Knechtschaft ihrer Mitbürger erwerben"22. Der Enthusiasmus Iselins hat in der politischen Praxis Früchte getragen, die über die Banalität seiner theoretischen Konzeption hinwegsehen lassen. Die Aufklärung allein verbürgt ihm die Erwartung, daß im Konflikt zwischen Eigennutz und Gemeinsinn sich eine versöhnliche Lösung durchsetzen werde. Gerade in diesem Punkt ist Zimmermanns Denken weit konsequenter. Für ihn ist der Patriotismus nicht erst mit der bezwungenen Eigenliebe möglich, sondern er beherrscht schon alle kollektiven Gruppierungen, die sich gerade in ihren gegen eine Welt verteidigten Besonderheiten zum „National-

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stolz" bekennen. Wie das Leben der einzelnen Menschen, so sind auch die sozialen Gebilde von Egoismus durchwaltet. Es sind dieselben Überzeugungen, die Helvetius in seinem „De l'esprit" ein Jahr nach dem Erscheinen der Erstauflage von Zimmermanns „Vom Nationalstolze" vorbringt. Das Übergreifen der Diskussion um den Nationalgeist auf reichsdeutschen Boden wurde durch die aufwühlenden Wirkungen der Ereignisse des neuentbrannten siebenjährigen Weltkrieges begünstigt. Nicht als ob der Siebenjährige Krieg in politischer, strategischer oder irgendeiner anderen Hinsicht den hergebrachten Typus der Kriegführung durchbrochen hätte — Franz Mehring hat das Anachronistische einer solchen Auffassung schlagend bewiesen. Der Verlauf der Ereignisse war auch diesmal der gleiche wie in den früheren großräumigen Kriegsunternehmungen — dem Österreichischen Erbfolgekrieg und so weiter. Dagegen ist die Ausweitung des Siebenjährigen Krieges durch die Eröffnung eines Kriegsschauplatzes in der Neuen Welt, seine Verknüpfung mit den kriegerisch ausgetragenen Gegensätzen im Lager des Kolonialismus vielleicht der originellste Aspekt, der Deutschland freilich nur mittelbar und von ferne berührte. Immerhin war der konzentrische Aufmarsch der feindlichen Armeen im Herzen Deutschlands ein Vorgang, der die noch kaum vernarbten Wunden des Dreißigjährigen Krieges wieder aufzureißen drohte. Wirklich entscheidend ist aber die tief veränderte Einstellung der bürgerlichen Objekte der Staatsführung. In den hundert Jahren seit dem Abschluß des Westfälischen Friedens war aus Simplizius Simplizissimus ein Candide geworden, also ein Mensch, der es wagte, Konsequenzen zu ziehen, der mit den Überlebenden der Kriegskatastrophe sich so weit fort begab, daß die Regierung gezwungen sein würde, den nächsten Krieg ohne ihn auszutragen. Wie wir aus Goethes „Dichtung und Wahrheit" wissen, kam es seit dem Beginn des Siebenjährigen Krieges zu leidenschaftlichen Diskussionen, die selbst im kaiserlich-republikanischen Frankfurt die einzelnen Familien ergriffen und entzweiten. Die Regierungen mußten dem Rechnung tragen und ihre Aktionen durch die Eröffnung eines weiteren, psychologischen Kriegsschauplatzes verstärken. Gerade auf diesem Kriegsschauplatz erwies sich die Überlegenheit der preußischen Argumentierung. Die preußische Regierung verstand es, die Angst aller aufgeklärten Menschen vor einer neuen Gegenreformation zu entfachen. So unsinnig ein solcher Vorsatz der katholischen Koalition gewesen wäre, die Josefinische Ära war noch fern, die etwas anderes von Wien erwarten ließ als Tarnungskunststücke einer Interessengemeinschaft, die durch die katholische Hausmacht gebildet wurde. Dazu kam die geistige Überlegenheit des Preußenkönigs, die vor dem Eintritt Josephs II. in die politische Arena alle

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europäischen Throne überstrahlte. All diese Umstände konnten die Überzeugungen dennoch nicht widerlegen, daß dieser Krieg ein Kabinettskrieg wie alle war, daß aber mit jedem weiteren Krieg der Zustand näher rückte, der zur Zersprengung der überheizten Maschinen führen mußte. Das ist die Einsicht, die am kühnsten und offensten von Herder im fünften Kriegsjahr ausgesprochen wurde („Haben wir noch das Publikum der Alten?" 1764) [vgl. EA, S. 647]. Die nationalbewußte Gesinnung der bürgerlichen Intelligenz tritt dem französisch und kosmopolitisch orientierten höfischen Weltbild entschlossen gegenüber: Die Deutschen müssen den nationalen Stolz aufbringen, „sich nicht von ändern einrichten zu lassen, sondern sich selbst einzurichten, wie andre Nationen es von jeher taten; Deutsche zu sein auf eignem wohlbeschütztem Grund und Boden". Dieser Grund und Boden ist für Herder vor allem die Sprache. Was der nationalen Bildung entgegenwirkte, war nicht nur der regionale Zerfall der Sprache, sondern nicht minder der Abfall des tonangebenden Standes von der Muttersprache: die Französierung des Adels. Deutschland hat eine Aufgabe nachzuholen, deren vollendete Lösung schon die klassischen Völker zu ihrer nationalen Vollendung emporgeführt hatte. Dennoch kann dieses Vorbild eines selbstbewußt in sich abgeschlossenen oder welterobernd ausgreifenden nationalen Zustands den Maßstab für Deutschlands Geltendmachung nicht geben. Einziger Maßstab ist das Gesetz der Epoche. Denn „die Weltepochen bilden eine ziehende Kette, der zuletzt kein einzelner Ring sich widersetzen mag, wenn er auch wollte". Machterfüllung kann heute nur noch Erziehung zu geistiger Selbstmacht verheißen. „Alle Völker Europas (andere Weltteile nicht ausgeschlossen) sind jetzt im Wettstreit, nicht der körperlichen, sondern der Geistes- und Kunstkräfte miteinander. Wenn eine oder zwei Nationen in weniger Zeit Vorschritte tun, zu denen sonst Jahrhunderte gehörten, so können, so dürfen andre Nationen sich nicht Jahrhunderte zurücksetzen wollen, ohne sich selbst dadurch empfindlich zu schaden." Nationale Bestimmtheit wirkt nicht mehr trennend, sondern verbindend. Sie „knüpft das Menschengeschlecht in eine Kette fortgehender Glieder", und mit demselben Bande umschlingt sie die zeitlich nebeneinander bestehenden Nationen, die durch die Gegensätze zwischen ihren Regierungen nicht mehr berührt werden können. Somit hätte der Nationalgeist alles von den Völkern und nichts von ihren Regierungen zu erwarten? Demgegenüber mußte der Ausblick auf die Wiederkehr einer augusteischen goldenen Literaturzeit in der klassischen Literaturepoche Ludwigs XIV. den Deutschen ein Bewußtsein dessen vermitteln, was sie von ihren Fürsten zu verlangen hatten. Nur die Förderung von Kunst und Wissenschaft kann

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den anachronistischen Zwang der Regierungsgewalt entschuldbar machen. Daher haben Gleim und Ramler ihr Gewissen entlastet, wenn sie als lästige Mahner den preußischen König an seinen deutschen Beruf erinnerten. Solche Gedanken mochten auch Lessings Publikation der Gleimschen Soldatenlieder begleitet haben. Mit der soldatischen Kostümierung des frömmelnden Kirchenrats und der Anlehnung seiner patriotischen Gegenwartsgesänge an die heroische Vorzeit der Barden hatte Lessing die Umdeutung des Kabinettskriegs zum Nationalkrieg vollzogen. Besser ließ sich die Stunde nicht nutzen als durch diesen Versuch, den verborgenen, einzig denkbaren Sinn einer kriegerischen Unternehmung an die mächtig erregte Oberfläche zu bringen. Jedenfalls kann man in der Publikation der Gleimschen Soldatenlieder keine Stütze für die Annahme finden, daß sich Lessing in irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens über die wirkliche Rolle Friedrichs II. Illusionen gemacht habe. Dasselbe gilt für die Panegyrik Ramlers, der seine Würde und die Würde des Dichtertums auf gleichsam verlorenem Posten verteidigt: Und des Dichters Allerhöchster Triumph ist, Diesen König besingen. Drum schweige du nie von ihm, mein Lied, Keinem Golde feil, Auch selbst dem seinigen nicht. Und ob er auch diesen Triumph verdenkt, Und, deiner Töne nicht gewohnt, Sein Ohr zu Galliens Schwänen neigt: So singe du doch den Brennussöhnen Ihren Erretter unnachgesungen.23

Lessing wäre nicht der unvergleichliche Polemiker gewesen, hätte er die Gelegenheit nicht ergriffen — ähnlich wie Ramler —, den in den Krieg mit Frankreich verwickelten König in seiner frankophilen Gesinnung bloßzustellen. Nur die Kenntnis der ursprünglich deutschen Denkungsart kann — Lessing zufolge — ein sachliches Urteil über die vorgelegten Schöpfungen begründen. „Andere Beurteiler, besonders wenn sie von derjenigen Klasse sind, welcher die französische Poesie alles in allem ist, wollte ich wohl für ihn verbeten haben." Ein boshafter Zufall will es, daß auch für die Gleimschen „Grenadierlieder" das französische Vorbild nicht fehlt, Saint-Gilles' „Muse mousquetaire" von 1709 unterscheidet sich allerdings darin von der Scharade Gleims, daß dieser französische Dichter wirklich ein Soldat war: er hatte als Feldwebel in einem Musketierregiment gedient und an allen großen Schlachten im Spanischen Erbfolgekrieg teilgenommen. Zweifellos

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ist die geistige Spannung, die der Siebenjährige Krieg in Deutschland hervorrief, an der Fortführung der Reflexionen über den Nationalgeist in hohem Maße beteiligt. Die endgültige Überführung der Diskussionen nach Deutschland ist erfolgt mit der Schrift Friedrich Karl Mosers „Von dem deutschen Nationalgeist". Allerdings blieb die eidgenössische Freiheit ein Haftpunkt auch für Mosers Denken. Im übrigen wurde der generöse Irrtum, der in dem Abwehrkampf des Preußenkönigs die Quelle einer patriotischen Erneuerung zu erschließen wähnte, von der Mehrheit der freiheitsliebenden Deutschen nicht geteilt. Der Ansbacher Johann Peter Uz, der anfänglich selbst in preußischen Diensten stand, bekennt es in einer an Gleim gerichteten Ode mit Freimut: Die Siege Friedrichs und wie mit güldnen Schwingen Der Sieg an seiner Seite glänzt, Wird Kleist, mit Lorbeern selbst bekränzt, In seine kühne Leier singen. Mein schüchtern Saitenspiel sträubt in verwöhnten Händen, O Gleim, sich wider kriegrisch Lob Und traurt, seit Zwietracht sich erhob Und Helden edles Blut verschwenden. Die deutsche Muse soll nicht jauchzen, sondern klagen: Denn Deutschland fühlt der Waffen Wut. Mars donnert wild einher, und Blut Umfließet seinen ehrnen Wagen. Gewaltige der Welt, ihr führet mit Entzücken Das rauschende Verderben an? Und euer lächelnd Auge kann Die Furien des Kriegs erblicken? Seht! Eures Volkes Blut raucht strömend von der Erden! Ach! Dies betrogne Volk ergab Sich unter euern Hirtenstab, Geweidet, nicht gewürgt zu werden.24

Der Siebenjährige Krieg droht Deutschland in die Nacht des Dreißigjährigen Krieges zurückzustoßen: Wie lang zerfleischt mit eigner Hand Germanien sein Eingeweide? Besiegt ein unbesiegtes Land Sich selbst und seinen Ruhm, zu schlauer Feinde Freude? Sind, wo die Donau, wo der Main Voll fauler Leichen langsam fließet, Wo um den rebenreichen Rhein Sonst Bacchus fröhlich ging und sich die Elb' ergießet:

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Über die Konstellation der deutschen Aufklärung Sind nicht die Spuren unsrer Wut Auf jeder Flur, an jedem Strande? Wo strömte nicht das deutsche Blut? Und nicht zu Deutschlands Ruhm, nein, meistens ihm zur Schande! Wem ist nicht Deutschland Untertan? Es wimmelt stets von zwanzig Heeren: Verwüstung zeichnet ihre Bahn; Und was die Armut hat, hilft Übermut verzehren. Vor ihnen her entflieht die Lust; Und in den Büschen, in den Auen, Wo vormals an geliebter Brust Der satte Landmann sang, herrscht Einsamkeit und Grauen. Der Adler sieht entschlafen zu Und bleibt, bei ganzer Länder Schreien, Stets unerzürnt in träger Ruh, Entwaffnet und gezähmt von falschen Schmeicheleien. O Schande! Sind wir euch verwandt, Ihr Deutschen jener bessern Zeiten, Die feiger Knechtschaft eisern Band Mehr als den härtsten Tod im Arm der Freiheit scheuten?25

Uz hat die Illusion des aufgeklärten Absolutismus schon immer durchschaut. Das Bild des Patriotismus wird durch seinen Fürstenhaß bestimmt, der nur von Klopstock noch überboten werden konnte: Von allen Helden, die der Welt Als ewige Gestirne glänzen, Durch alle Gegenden bis an der Erde Grenzen, O Patriot, bist du mein Held: Der du, von Menschen oft verkannt, Dich ganz dem Vaterlande schenkest, Nur seine Leiden fühlst, nur seine Größe denkest, Und lebst und stirbst fürs Vaterland! Umsonst sucht von der Tugend Bahn Der Eigennutz dich zu verdrängen, Und führet wider dich, mit Jauchzen und Gesängen, Die lockende Verführung an; Und ihr Gefolg, die güldne Pracht, Den stolzen Reichtum, mit der Ehre, Die Pfauenflügel schwingt, und einem Freudenheere, Das um die süße Wollust lacht. Siegprangender, als Cäsar war, Schlägt sich durch diesen furchtbarn Haufen Die große Seele durch, mit Gold nicht zu erkaufen, Nicht zu erschüttern durch Gefahr.

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Denn wie ein Fels, der unbewegt, Wann Wogen sich auf Wogen türmen, Im Ozeane steht und ruhig in den Stürmen Den ganzen Zorn des Himmels trägt: So stehest du mit festem Mut Und trotzest, ohne Freund, verlassen, Dem Grimm der Mächtigen, der Bösen, die dich hassen, Und ihrer ungerechten Wut.26

Der deutsche Patriotismus war in diesem stolzen Entwurf der hoffnungslosen Vereinsamung überlassen. Die Diskussion um den deutschen Nationalgeist konnte nur da auf festen Boden geraten, wo sie sich der zeitgenössischen Vorbilder einer freiheitlichen Verfassung bemächtigte. Die eidgenössische Freiheit ist eine Grunderfahrung für Friedrich Karl Moser, den Sohn des heldenhaften schwäbischen Landschaftskonsulenten, dessen Schrift „Von dem deutschen Nationalgeist" (1765) der ganzen Diskussion die bestimmende Richtung gab. Seltsamerweise vermochte die auch in Deutschland sich ausbreitende Erkenntnis, daß hinter der Fassade der republikanischen Konföderation eine fortschrittsfeindliche und der Orthodoxie mit Haut und Haaren verschriebene Oligarchie sich versteckte, die Orientierung der politischen Schriftsteller nicht in andere Bahnen zu lenken. Zu groß war das Bedürfnis nach einem ideellen politischen Haftpunkt. Christian Friedrich Daniel Schubart rühmt in einem Brief von 1767 den „patriotischen Sinn der Schweizer", ihren „mannhaften und nervigten Stil". Er findet bei ihnen sogar Eigenschaften, die man gemeinhin mit Recht oder Unrecht den Schweizern abzusprechen pflegte: die „Eleganz des Äußeren und viel griechische Feinheit"27. Schubart hält diesem republikanischen Ideal zeitlebens die Treue. Ein Jahr vor Ausbruch der Französischen Revolution liest man in seiner Zeitung: „Glückliche Schweiz, die du so wenig neuen Geschichtsstoff lieferst! Dich umgürten deine Alpen; und deine Einfalt, dein Biedersinn, dein Gottvertrauen wird dich schützen und wahren, daß der marklose Arm der Fürstenknechte dich nie aus deiner häuslichen Ruhe reiße!"28

Während aber Schubart das schwere Gepäck des Reichspatriotismus längst über Bord geworfen hatte und in Preußen ohne nähere Kenntnis der politischen Wirklichkeit die Schutzmacht der schwäbischen Freiheit zu finden glaubte, war für den weitgereisten und im Staatsgetriebe hin und her geworfenen jüngeren Moser der Despotismus der militärisch organisierten preußischen Staatlichkeit eine sehr reale Gefahr. Im ganzen Zusammenhang

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seiner Schrift eröffnet der Hinweis auf die freiheitliche Tradition in den benachbarten Republiken gewiß nur eine Nebenlinie; es ist jedoch das erste Mal, daß dieses Wunschbild an den Horizont der deutschen Aufklärung gebannt wird. Seine Wirksamkeit sollte sich bis zu Schillers „Wilhelm Teil" beständig verstärken. Der reichspatriotische Standpunkt der Moserschen Schrift wurde nicht mit Unrecht als ihr im Grunde auswegloses Ergebnis bezeichnet. Indessen sollte man nicht übersehen, daß Mosers Patriotismus die Aufhebung aller Klassenprivilegien voraussetzt und daß sein Haß auf den territorialen Despotismus in all seinen Formen letzten Endes das monarchische Prinzip aus den Angeln hebt. So klingt schon bei Moser die später die Diskussion beherrschende Frage an, ob unter den bestehenden Verhältnissen in Deutschland überhaupt ein Boden für patriotische Gefühle bestehe! Zum mindesten kann man — Moser zufolge — von den Opfern der deutschen Fehlentwicklung, von den einfachen Menschen ein Interesse an der deutschen Sache nicht mehr erwarten. Das unterscheidet Deutschland in unvorteilhafter Weise von Ländern mit ungebrochener freiheitlicher Tradition, zu denen die Schweiz, Großbritannien und Schweden gerechnet werden: „Nicht nur bei dem großen Haufen des gemeinen deutschen Manns, welcher nur den Strich Erde, worauf er geboren und erzogen ist, vor sein wahres und alleiniges Vaterland hält; es ist vielleicht nie stark genug dagewesen oder doch schon allzu lang erloschen, als daß man auch bei dem gemeinen Deutschen eine solche Nationaldenkungsart, eine allgemeine Vaterlandsliebe suchen sollte, wie man sie bei einem Briten, Eidgenossen, Niederländer oder Schweden usw. antrifft. Wenn man in Engelland Kohlenbrenner und in Holland Karrenschieber, in Schweden den Bauern und in der Schweiz den Schäfer von Nationalrechten mit Vernunft und Enthusiasmus sprechen hört, so ist in Deutschland nur etwa noch hie und da ein Reichsstädtischer Bürger, der an seinen Nachbarn mit einer gewissen Angelegenheit des Gemüts die Frage ergehen läßt: Wie sieht's jetzt in Deutschland aus?"29

Die deutsche Reichsstadt wird also noch immer als ein Palladium freiheitlichen Denkens geachtet. Im übrigen aber sind die noch vorhandenen Spuren der alten deutschen Freiheit so schwer zu erkennen, daß Moser eine Expedition von angehenden Staatsbeamten zur Entdeckung des inneren Deutschlands finanziert haben möchte. Sie würden ausfindig machen, „daß der Schwächere ... doch nicht so zwischen Abend und Morgen verschlungen oder in das Depot eines monarchischen Magens genommen werden könne; daß von Gesetzen, von Freiheit, von gemeinschaftlichen Schlüssen doch noch die Rede ist ... er wird noch Spuren eines Nationalgeistes, er wird Ursache finden, zu wünschen, daß sein Vaterland auch noch zum deutschen Reich gehören möge"30.

Indessen kann in Anbetracht der Deutschland völlig beherrschenden „separatistischen" Tendenzen (Moser gebraucht — soviel ich sehe — das Wort

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zum erstenmal in seiner heutigen politischen Bedeutung, ebenda, S. 36) nur eine völlige Revolution der Gedanken die Wendung zum Besseren erhoffen lassen. Das Gemälde jener deutschen Verhältnisse, wie sie sich in der Zeit des Siebenjährigen Krieges herausgebildet hatten, ist düster genug. Mit dem Sieg der preußischen Sache sieht Moser den Militarismus und im Militarismus die fatalste moderne Deformierung einer despotischen Staatsgewalt siegen: „Der militärische Geist unserer Zeit" hat alle anderen Sorgen „verdrungen und verschlungen: sein Vaterland zu lieben ist keine Ehre mehr, es zu verheeren und zu verwüsten ist der einzige, der große Beruf auf der zum Tempel des Ruhmes leitenden Bahn des Helden. Der Heldenglaube unserer Zeit, mit dem Schwert an der Seite, hat sehr wenige und gemächliche Gebote: den Kaiser zu fürchten, wenn man muß, zu tun, was einem beliebt, und es darauf ankommen zu lassen, wie weit es reicht."31

Der schwäbische Pietist Moser ist sich insoweit mit Voltaire einig, als militärisches Heldentum und wirkliche menschliche und politische Größe sich nicht miteinander vereinbaren lassen. Spezifisch aufklärerisch ist vor allem die außerordentlich hohe Bewertung des pädagogischen Faktors. Die größte Verheerung gehe von den Staatslehrern aus, die sich nicht Professoren, sondern Hofräte titulieren lassen und die im fürstlichen Auftrag die Rechtsverdrehung zum System erheben.32 Wenn Moser mit der schlechten Erziehung die Quelle der ärgsten Übel zu erschließen glaubt, so kann die rettende Lösung nur bei einem erzieherischen Vorbild liegen. Von außen kann die Rettung nicht kommen. Wie die Franzosen ihrer Verpflichtung zum Schutz der deutschen Freiheit gewaltet haben? So vortrefflich, „daß in manchen Gegenden oft nahehin nur der freie Himmel, darunter gemeinschaftlich zu schlafen, noch übrigbleibe"33. Das Beispiel, das Mosers Pessimismus zum Schluß doch noch überwindet, hat die freie Schweiz gegeben: das Heil verspricht er sich von einer Vereinigung und einem Zusammenschluß der „wohlgesinnten Staatsmänner, Minister und Räte der verschiedenen deutschen Höfe, ohne Ansehen der Religion ... die Gelegenheiten lassen sich nicht erzwingen, nicht einmal suchen, sondern nur finden und ergreifen; die Patriotenstunde muß gekommen sein. Ein solcher Tag des Heils wirkt alsdann schneller und gewisser als alle erkünstelte Anstalten; die verehrungswürdigen Mitglieder der Helvetischen Gesellschaft waren oft vorher beisammen, ehe sie in dem Hause eines Iselin der patriotische Geist mit einem so mächtigen Enthusiasmus durchwehte, der nachher den Grund zu ihrem so wichtigen und erweiterten Bunde gelegt hat."34

Die Wirkung der Moserschen Schrift war ungeheuer. Es ist nicht weiter erstaunlich, daß in Berlin besoldete und nicht besoldete Federn die Antwort

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gaben. Den Standpunkt des friderizianischen Preußens verfochten die in den folgenden Jahren erschienenen Gegenschriften „Neue politische Kleinigkeiten", „Reliquien unter moralischer Quarantäne", „Gerettete Vernunft". Es versteht sich von selbst, daß die Aufklärung als der gemeinsame Boden auch von dieser Polemik festgehalten wurde und daß niemand sich den Anschein geben wollte, hinter Mosers radikalsten Formulierungen zurückzustehen. Diese in Deutschland herrschende Grundstimmung kommt auch in der ablehnenden Rezension von Justus Möser zum Ausdruck. Was Justus Möser gegen Friedrich Karl Moser vor allem einwendet, das ist der höfische Schauplatz, der zwar auch von Moser einer vernichtenden Kritik unterzogen wird, aber doch als Ort der Entscheidung nicht aufgegeben wird: „Allein, wo finden wir die Nation?" fragt Justus Möser. „An den Höfen? Dies wird niemand behaupten. In den Städten sind verfehlte und verdorbene Kopien, in der Armee abgerichtete Maschinen, auf dem Lande unterdrückte Bauern. Die Zeit, wo jeder Franke oder Sachse paterna rura ... baute und in eigener Person verteidigte ... diese Zeit war imstande, uns eine Nation zu zeigen. Allein die gegenwärtige ist es nicht."35

Wenn Justus Möser somit die völlige Abkehr vom höfischen Deutschland für die Entfaltung eines deutschen Nationalgefühls fordert, so hatte er im Augenblick der Abfassung seiner Rezension des Moserschen Werkes zugleich die weit radikalere Antwort und Gegenschrift in seinem Gesichtskreis, die in der freien Reichsstadt Lindau unter dem Titel „Noch etwas zum deutschen Nationalgeist" als das Werk eines angeblichen Landpfarrers erschienen war. Der anonyme Verfasser, vermutlich ein schon verstorbener anhaltischer Hofrat Bülow oder Bülau, geht davon aus, daß Nationalgeist und Klassenherrschaft eine unversöhnliche Alternative bilden. Das wirkliche Problem liege nicht — wie für Moser — im Verhältnis der separatistischen Gewalten zur kaiserlichen Zentralmacht, sondern in der bestehenden Herrschaft und Ausbeutung schlechthin: „Der bedauernswürdige Zustand Deutschlands kann auf seine Fürsten, Grafen und Reichsstände wohl keine genaue Anwendung leiden. Die leben alle gar artig und wohl zufrieden. Sie haben, was ihr Herz wünschet, und wenn ja einer unter ihnen unzufrieden ist, so kann er es nur über den Mangel des Kredits sein. Der wirft aber allezeit den Anlaß der Unzufriedenheit auf ihn zurück. Wer hieß ihn, seinen Schafen das Fell auf einmal abziehen und das Fleisch in die Scharrnbank verkaufen, wenn er nicht vorher Sicherheit hatte, daß er im folgenden Jahre keiner Wolle und keiner Milch bedürfen würde? Diese armen Schafe sind es, die Mitleid verdienen. Die Landstände, wo welche noch unaufgefressen oder unausgekauft vorhanden sind, und in deren Ermangelung der Landadel, die Landstädte, der Bürger, Kaufmann, Handwerker und Ackersmann."36

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So hätte denn Moser „vom Nationalgeist der Deutschen nichts, gar nichts Triftiges gesagt. Von der Untertänigkeitspflicht der Deutschen Reichsstände gegen ihren Kaiser sollte der Titel heißen, wenn er dem Inhalte hätte entsprechen wollen. Von der handelt er vorzüglich, und dem Anscheine nach setzt er das, was andere Patriotismus nennen, lediglich hierin. Selbst unter der Gefahr, daß er mich für einen mutwilligen Verführer schelte, bekenne ich meinen feierlichen Widerspruch. Ja, sobald unsere Reichsstände die Landeshoheit nicht mehr haben, sobald wir Untertanen durch Lehens- und Huldigungspflicht an sie nicht mehr gebunden sind, sobald der Kaiser, entweder unmittelbar oder durch die Hilfe schneller, unbezahlter und unbestechlicher Gesetze, von ihren Überlasten uns befreiet und sein dadurch erworbener Ruhm aus dem Munde seiner Erbländer zuerst erschallet, sobald will ich und werden mit mir alle freien Deutschen den Gesinnungen der beiden Grafen Friedrichs und Anshelms beitreten. Solange aber - über alles dies noch Folianten mit unwiderleglichen Gründen angefüllt werden können, so wird er nach seiner Einsicht einem armen alten Dorfpfarrer vergeben, der den Befehl des Apostels Paulus in Demut vorzieht: Sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über dir hat."37

In diesem sardonischen Ende verbirgt sich eine noch nicht publikable, noch nicht offen aussprechbare, aber trotzdem schon allenthalben in Deutschland zu belegende Revolutionsbereitschaft. Was aus der anonymen Feder des schon verstorbenen Autors nicht zu erwarten war, das konnte natürlich auch der von tausend Rücksichten gefesselte Justus Möser sich nicht von den Lippen brechen. Im Schlußteil seiner Rezension wird denn auch der Radikalismus der Bülowschen Schrift als eine schon geläufige Zeittendenz verurteilt. „Wir glauben, um auch unsere Meinung hierüber zu sagen, daß das beste Mittel sein würde, alle Könige und Fürsten gar abzuschaffen, den Adel aus dem Lande zu jagen, Städte und Festungen niederzureißen, alles Geld ins Meer zu werfen, alle Gelehrten nach Lappland zu schicken und fünf Sechstel aller Deutschen an die Bäume zu knüpfen, damit der übrige Teil einzeln, weit genug auseinander, bei Kartoffeln und Gerstenbier ruhig auf der Bärenhaut liegen könne. Dann komme Rousseau oder Tacitus und schildere unseren Nationalgeist!"38

Was Justus Möser wirklich dachte, kann hier nicht ergründet werden. Für die in Deutschland herrschende Stimmung ist es aber wiederum bezeichnend, daß er in einem Schreiben an Nicolai vom 30. September 1767 sein zweideutiges Verfahren als Ausfluß des Zensurdrucks hinzustellen versuchte: „Ich sende jedoch endlich die Rezension vom ,Deutschen Nationalgeist' hierbei und habe zugleich ein anderes Stück, welches der Pendant zum ,Nationalgeist' ist, beurteilt. In dieser Beurteilung sind einige starke Züge, welche ä costi anstößig sein könnten, mit eingeflossen. Doch habe ich ihnen am Ende ein Korrektiv beigefügt."39

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Wenn man dem Brief an Nicolai Glauben schenken könnte, so wäre die Verurteilung der radikalen Tendenzen in der Lindauer Schrift nur ein taktischer Schachzug Mösers gewesen. Justus Mösers Opportunismus kommt jedoch in einem anderen Schreiben an Nicolai noch krasser zum Ausdruck: „... und ich würde gewiß dem Leibeigentum einen offenbaren Krieg angekündigt haben, wenn nicht das hiesige Ministerium und die ganze Landschaft aus lauter Gutsherren bestände, deren Liebe und Vertrauen ich nicht verscherzen kann, ohne allen guten Anstalten zu schaden ..."40

Eine Apologie des Leibeigentums war freilich im 18. Jahrhundert ein Salto mortale, zu dem sich wohl niemand ohne innere Überzeugung nötigen ließ. Die taktische Rücksichtnahme übt Justus Möser nicht gegenüber den Mächtigen, sondern gegenüber der Aufklärung, die ihre schreibenden Zeitgenossen immer stärker nach dem Kampfwert ihrer Schriften beurteilte. In derselben Zeit, in der die Problematik des erneuerten deutschen Nationalbewußtseins sich der deutschen Aufklärung bemächtigte, trat der junge, aus der Reichsstadt Ulm gebürtige Thomas Abbt mit einer kleinen Schrift „Vom Tode für das Vaterland" (1761) vor sein Publikum. Es ist sicher, daß auch diese Arbeit von den Erlebnisspuren des Siebenjährigen Kriegs geprägt ist. Der Ausklang in die Apotheose Friedrichs II. war dem dreiundzwanzigjährigen Autor nicht nur durch die in jenen Jahren vorherrschende Meinung der deutschen Allgemeinheit aufgenötigt: in dem besonderen Wirkungskreis, den er in Bückeburg durch die freundschaftliche Zuwendung des dort regierenden Reichsgrafen von Schaumburg-Lippe gefunden hatte, war diese Blickrichtung eine unvermeidliche Gegebenheit. Das kleine Land, das seine Unabhängigkeit weder mit eigenen noch mit fremden Kräften hätte schützen können, war auf das Wohlwollen seines übermächtigen Nachbarn angewiesen. So kann es nicht befremden, daß in der Erstschrift des neugebackenen Schaumburg-Lippeschen Hofrats mit Rühmungen der preußischen Heldentaten nicht gespart wird [vgl. EA, S. 647]. Wir müssen demgegenüber schon auf den Ausgangspunkt der Abhandlung achten, auf die Konstatierung einer in Deutschland offenbar schon herrschenden Meinung, „daß nur ein Republikaner auf sein Vaterland stolz sein könne und daß es in Monarchien nichts weiter als ein bloßer Name, eine leere Einbildung sei"41. Auch für Thomas Abbt kann ein von Despoten regiertes Land niemandem Vaterland heißen. Die Liebe zum Vaterland kann nur in Republiken zur Leidenschaft werden — in Monarchien aber müssen besondere Umstände mitwirken, damit in ihrer Atmosphäre ein solches Ge-

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fühl gedeihen kann. Was aber die Grundgesinnung von Thomas Abbt verrät, ist die Feststellung, in einem Land könne es nur eine einzige politische Tugend geben. „Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, verschwindet der Unterschied zwischen Bauer, Bürger, Soldat und Edelmann. Alles vereinigt sich und stellt sich unter dem vormals so herrlichen Namen eines Bürgers dar. Dann ist jeder Bürger ein Soldat, jeder Soldat ein Bürger und jeder Edelmann Soldat und Bürger, wie man will."42

Die normale Praxis der feudalabsolutistischen Staatlichkeit ist durch die Trennung der Stände bedingt — nur außergewöhnliche, krisenhafte Ereignisse können allen Bewohnern eines solchen Landes das vorübergehende Gefühl der Zusammengehörigkeit verschaffen. In der unter solchen Auspizien begonnenen und weitergetragenen Diskussion über den Patriotismus meldet sich schließlich auch noch die jüngste Aufklärung zu Wort, der Josefinismus, und zwar durch seinen berufensten Mann: Sonnenfels. Die Broschüre „Über die Liebe des Vaterlandes" (1771) beschränkt sich darauf, diese Bedingungen aufzuzeigen, unter denen Patriotismus möglich wird. Auch der Patriotismus baut sich auf Eigennutz auf. Die Antike hatte es durch Erziehung verstanden, im Selbstbewußtsein der Bürger den Patriotismus zu verankern. An der Staatsform ist nichts gelegen, alles hängt davon ab, wie verwaltet wird. Sonnenfels ist sichtbar bemüht, die Stellung des Bürgertums zu heben und den Adel zu dämpfen. Gibt es einen deutschen Patriotismus? Gibt es eine deutsche Nation? Sonnenfels nähert sich nur behutsam diesem Grundproblem, für das die politischen Verhältnisse noch keine Lösung bereithalten konnten. Zwei Deutsche aus verschiedenen Staaten werden am ehesten im Ausland die Entdeckung ihrer Gemeinsamkeit machen. „Der Deutsche von den Küsten der Ostsee nennt in Frankreich einen Bayern, einen Österreicher seinen Landsmann, sie berühren sich nur an dem äußersten Punkt durch die Sprache."43 Der Patriotismus der Aufklärung gilt der Sache des Volkes gegenüber der privilegierten Klassenherrschaft; das trifft auch für den Josefinismus zu, der seiner Grundgesinnung nach das Interesse und die Anteilnahme des Staatsoberhauptes an der Beseitigung der drückenden Klassenherrschaft bekundet. Was will demgegenüber die immer wieder begegnende Behauptung besagen, die Aufklärung sei wesentlich nicht eine patriotische, sondern eine kosmopolitische Bewegung? Der Patriotismus der Aufklärung ist nicht nur volksverbunden, sondern völkerverbindend. Im Gegensatz zu der feindseligen Isolation der Regierungen besteht zwischen den Völkern Eintracht und Sympathie. Der Patriotismus im eigenen Land sieht sich durch den Patrio-

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tismus der Nachbarländer gefördert. Dementsprechend ist in der ganzen Epoche der Patriotismus fast immer mit einer pazifistischen Gesinnung verschwistert. Nur ausnahmsweise taucht die Überzeugung auf, daß durch den Pazifismus der Kabinettskrieg wohl moralisch geächtet, doch nicht verhindert wird. Der Patriotismus der deutschen Aufklärung hat nichts zu tun mit Heimatliebe oder mit dem Gefühl der staatlichen und politischen Zugehörigkeit noch gar mit der Loyalität gegenüber dem angestammten Herrscherhaus und dergleichen. Unter Patriotismus der deutschen Aufklärung verstehen wir eine gehobene, zum Handeln befähigende Stimmung, die eine Gemeinschaft ergreift oder die den solidarischen Ansatz für eine noch ungeborene Gesellschaft bildet. Der Patriotismus der deutschen Aufklärung unterscheidet sich aber von all dem, was insbesondere sich im späteren Deutschland unter diesem Namen verbergen konnte. Die Hochstimmung des aufgeklärten Patriotismus wird nicht von Stolz auf eine ruhmreiche und wiederzubringende Vergangenheit getragen; er haftet vielmehr an jenen gegenwärtigen Symptomen einer kollektiven Gesinnung und Initiative, die in der Erwartung einer neuen künftigen Gesellschaftsordnung sich bilden konnte. In der Sturm-und-Drang-Zeit erscheint der deutsche Patriotismus nicht selten in teutomanischen Zügen. Es handelt sich weniger um den Anspruch der deutschen Nation auf bevorzugte Geltung als um die Intention einer demokratischen deutschen Lebensordnung, die nur als die äußerste Verneinung der französisch parlierenden und sich gerierenden Hof- und Adelsgesellschaft begriffen werden kann. Schon im vorrevolutionären Deutschland war patriotische Gesinnung und politische Opposition so gut wie gleichbedeutend. Wenn es dafür noch eines Beweises bedürfte, so braucht man nur die wichtigsten Thesen aus einer 1779 erschienenen Schrift von Embser herauszugreifen. In dieser Schrift wird vor allem untersucht, inwieweit der Patriotismus an einer pazifistischen Regelung aller Konflikte interessiert sei. Für den Autor ist nun allerdings die Frage von vornherein utopisch, da der Wechsel von Krieg und Frieden doch immer das Schicksal der Völker wäre. Unter diesen Umständen müßte man sich eher fragen, ob nicht die Sache des Patriotismus gerade durch die kriegerische Mobilisierung und Bewaffnung des ganzen Volkes gefördert würde. Doch ist Krieg und Krieg nicht immer dasselbe. Der Krieg, der die feudalabsolutistische Gegenwart beherrscht, muß als die Umkehr des Volkskrieges gelten, der dazu dient, die Freiheit einer Nation zu erkämpfen oder zu erhalten. Wenn nur ein einziger vom Kriegsgeist erfüllt ist, nämlich der Despot, kann natürlich keine patriotische Gesinnung um sich greifen.

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„Niemals haben wir größere, besser disziplinierte Truppen gehabt als jetzt, und doch, wer leugnet es, niemals hat kriegerischer Geist weniger in jeder Brust geflammt als jetzt. Unsere Armeen bestehen aus Mietlingen und Sklaven, die man entweder mit List und Gewalt wegnahm oder die durch Mangel, Faulheit, Zügellosigkeit oder Ehrgeiz, da wo dieser Stand geehrt ist — und wo ist er's nicht? —, zu diesem Schritte getrieben wurden. Alle diese verschiedenen Triebe und Leidenschaften, die immer Folgen jenes Luxus sind, haben dieses Heer von Sklaven zusammengejagt, die unter der Peitsche eines kriegerischen Oberhauptes als Werkzeuge behandelt werden. Ersetzen soll der Kriegsgeist den kriegerischen Geist? Sowenig als ein Funke Feuer den Ozean in Flammen setzen kann. Wir haben durch alle unsere Anstalten jenen Geist erstickt. Er fordert so wie eigenes Gefühl also auch eigene Handlung. Alle unsere Handlungen sind abgezirkelt. An Feinden darf sich niemand rächen — die Gesetze sollen es tun. Wer es selbst tun will, fällt unter ihre Geißel. Gesetzgebung und Polizei ist ein Damm gegen die Ausbrüche des kriegerischen Geistes und in gewisser Absicht Hindernis seiner Übung."44

Es konnte nicht deutlicher unterstrichen werden, daß der Patriotismus den Herrschenden nicht nur unerwünscht ist, sondern daß sie ihn als die gefährlichste Waffe zur Beseitigung ihrer Herrschaft fürchten.

Revolutionsbereitschaft Schon in seiner ersten Ode von 1747 hatte Klopstock die Stellung der neuen deutschen Dichtung zu ihren vormaligen Zwingherren unzweideutig festgelegt. Der Dichter tritt nicht neben den Thron, sondern erhebt sich über ihn, um aus unbeteiligter Höhe mit dem Richtmaß der Nachwelt das Urteil zu sprechen: Wenn das Schicksal ihn ja Königen zugesellt, Umgewöhnt zu dem Waffenklang, Sieht er, von richtendem Ernst schauernd, die Leichname Stumm und seelenlos ausgestreckt.45

In Klopstocks Dichtung wird deutlich, bis zu welchem Grad die neue deutsche Literatur die Verneinung und Aufhebung der aus der Vergangenheit fortwirkenden deutschen Wirklichkeit darstellt. Wenn sich der Fürstenhaß in den Unmutsäußerungen des Odendichters immer mehr verschärft, so will er nicht nur die Korruption des höfischen Lebens, sondern auch den Beruf der militärischen Führung als einen permanenten und unerträglichen Widerspruch zu der friedlichen Sendung des deutschen Geistes treffen. Der Fürstenhaß und das Freiheitsverlangen sind somit der deutschen Dichtung schon in die Wiege gelegt. Durch die Auseinandersetzung mit der Problematik des deutschen Nationalbewußtseins wird eine Epoche der politisch-geschichtlichen Hochspan-

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nung vorbereitet. Seit Mitte der siebziger Jahre greift eine Stimmung um sich, die wir nicht anders denn als „Revolutionsbereitschaft" bezeichnen können. Die Erwartung einer totalen Wende verknüpft sich mit dem deutschen Schicksal, dessen unerträglich gespannte Widersprüche zu einer Krise ohnegleichen zu drängen scheinen. Während noch in dem 1887 erschienenen Werk von Wenck die wichtigsten Zeugnisse für diese die deutsche Intelligenz beherrschenden Strömungen mit vorbehaltloser Sachtreue zusammengetragen wurden, geht die geistesgeschichtlich orientierte Historic Meineckes mit souveräner Handbewegung über solche Stimmungen hinweg, die in nichts die für Meinecke so zukunftswendige Hinneigung zum organischen Leben der nationalen Staatlichkeit ahnen lassen. Um so wertvoller und willkommener muß uns die bald nach Kriegsende erschienene Arbeit des bedeutenden Germanisten Wolfgang Stammler „Politische Schlagworte in der Zeit der Aufklärung" 46 erscheinen. Der schon von Wenck („Deutschland vor 100 Jahren", 2 Bde., Leipzig 1887 und 1890) aus den Quellen erschlossene Tatbestand wird hier durch eine Fülle semantischer und lexikalischer Belege gestützt, Begriffe oder, wie Stammler sich ausdrückt, Fahnenwörter wie „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" zirkulieren schon lange vor der Französischen Revolution in der deutschen Geisteswelt. Es leuchtet ein, daß solche Richtpunkte einer politischen Weltanschauungsbildung unmittelbar durch den Ausblick auf eine abgründige Realität gefordert waren. Aber Schlagworte sind nur Richtpunkte der Weltanschauungsbildung. Stammler begeht den Irrtum, sie mit den weltanschaulichen Konzeptionen gleichzusetzen und damit den Beweis eines von Frankreich unabhängigen deutschen Geisteslebens für erbracht zu halten. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade die Erkenntnis der Unhaltbarkeit der deutschen Verhältnisse trieb die Deutschen zur theoretischen Aneignung der in Frankreich ausgearbeiteten Theorien. Erst die Verarbeitung der Theorien Voltaires, Montesquieus, Rousseaus, Helvetius' und anderer gab diesen Richtpunkten das volle Gewicht, erst sie ermöglichte den Schlagworten der Opposition ein begriffliches Leben in einer geschlossenen Gedankenführung. Ähnlich wie Abbt hatte auch Klopstock den generösen Irrtum geteilt, die Hoffnung auf Erneuerung in den Preußenkönig zu setzen. Noch war Friedrichs Schmähschrift auf die deutsche Literatur nicht erschienen, noch war der Kontrast seiner Person zu dem Deutschland für immer entehrenden Kapo auf dem preußischen Thron in aller Augen. Immer noch hoffte man, daß die deutsche Dichtung und Literaturbewegung, in Frankreich begeistert aufgenommen, auch vor Friedrich würde bestehen können. Aber die preußi-

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sehe Expansionslust, der brutale Militarismus und die mehr als je befestigte Junkerherrschaft konnten in dem freiheitlichen Klima, das Klopstock zum Leben benötigte, auf die Dauer keine Illusion mehr erregen. 1773 verkündigt er in einer den Stolbergs gewidmeten Ode: Frei, o Deutschland, Wirst du dereinst! Ein Jahrhundert nur noch; So ist es geschehen, so herrscht Der Vernunft Recht vor dem Schwertrecht!47

Die tumultuarische Jugend der aus dem gräflichen Gehege in Wernigerode ausgebrochenen Brüder Stolberg entsprach den Wünschen ihres großen Freundes. Juveniler Enthusiasmus zerbricht nicht, sondern durchglüht die neugeschaffene antikisierende Formensprache. Dichterischer Enthusiasmus kann niemals den Rückweg zur höfischen Enkomiastik finden: Ha! wie den Fremdling staunet an Der Unterirdischen schüchternes Geschlecht! So staunet an der Maulwurf das gezeigte Licht, So staunet an der Pöbel, Pöbel in Purpur und gehüllt in Schulstaub, Den erdehöhnenden Gesang Der Begeisterung und des Dichters, den nur sie gebar!48

Der Pöbel, als Zeuge der neuen Herrlichkeit aufgeboten, trägt den Purpur oder den Rock der Gelehrten, die berufen waren, im Dschungel ihrer Erudition den Sinn für Recht und Unrecht zu ersticken und für jede Gewalttat ihrer fürstlichen Auftraggeber einen Rechtsgrund zu finden. Das Deutschland, das die jugendlichen Brüder Stolberg im Herzen tragen, kämpft nicht auf eigene Rechnung. Die deutsche Art wird auch durch Emigranten in fremdem Land vorgelebt: Kolumbia, du weintest, gehüllt In Trauerschleier, über den Fluch, Welchen der lachende Mörder Öden Fluren zum Erbe ließ; Da sandte Deutschland Segen und Volk; Der Schoß der Jammererde gebar, Staunte der schwellenden Ähren Und der schaffenden Fremdlinge! Nach fernem Golde dürstete nie Der Deutsche; Sklaven fesselt' er nicht! Immer der Schild des Verfolgten Und des Drängenden Untergang!49

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Zu prophetisch revolutionären Tönen erhebt sich die Stolbergische Stimme im „Freiheitsgesang aus dem zwanzigsten Jahrhundert": Wir sahen dich einst, Rauschender Strom, Mitten im fliegenden Laufe gehemmt! Bebend und bleich, Wehend das Haar, Stürzte der Tyrannen Flucht Sich in deine wilden Wellen; In die felsenwälzenden Wellen Stürzten sich die Freien nach; Sanfter wallten deine Wellen! Der Tyrannen Rosse Blut, Der Tyrannen Knechte Blut, Der Tyrannen Blut! Der Tyrannen Blut! Der Tyrannen Blut! Färbte deine blauen Wellen, Deine felsenwälzenden Wellen ... Nicht einer entrann Von der Sklaven Heer! Wie der Sturm mit herbstlichem Laube Quellen des Tales bedeckt, So bedeckte lang und breit den Strom Des Sklavenheeres Leichnam! Die Sonne war gesunken; der Abend Kühlte mit rötenden Flügeln Den alten Rhein; Noch donnerte laut, noch blitzte die Schlacht! Von Zinnen des Himmels Schauten, durch pupurne Wolken, Hermann freudig und Teil, Luther und Klopstock freudig herab auf unser Heer! Atmeten uns zu Festen Entschluß, Stärke der Götter und deutschen Mut! Du bist frei! Du bist frei! Deutschland, frei! Stolz stehest du da unter den Nationen um dich her! Wie der Brocken stolz, wenn der Morgenröte Licht Seine Scheitel rötet, noch finster unter ihm Liegen die Tale, und nur dämmern die Gipfel um ihn her!

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Willkommen, Jahrhundert der Freiheit! Großes Jahrhundert, willkommen! Du schönste Tochter der spätgebärenden Zeit! Donner entrollen deinem Fußtritt, und es stürzen dahin Die Throne, in die goldnen Trümmer Tyrannen dahin! Du gießest aus mit blutiger Hand der Freiheit Strom! Es ergeußt sich über Deutschland; Segen blüht An seinen Ufern wie Blumen an der Wiese Quelle.50

Die plebejische und patriotische Muse Schubarts war auf reichsstädtischem Boden erwachsen. Von 1774 bis 1777 (dem Jahr seiner Verhaftung auf württembergischem Boden) leitet er die „Deutsche Chronik"; der Kampf mit den Totengräbern der deutschen Freiheit erreicht eine noch nie gehörte Schärfe. Schubart und Bürger gebührt das Verdienst, die deutsche Volksballade geschaffen zu haben. Alle poetischen Formen, die Schubart meistert, müssen der Verbreitung und, wo es nötig oder zweckmäßig erscheint, auch der durchsichtigen Verhüllung seiner freiheitlichen Ziele dienen. Schubart versteht es, selbst in der einfachsten Parodie, dem Angriff auf den verhaßten Adel eine aufreizende Tonart zu geben: An Ihro Gnaden Es kennen Ihro Gnaden Redouten, Maskeraden, Die Prüden und Koquetten An ihren Toiletten. Sie sprechen mit der Base Französisch durch die Nase; Sie können Deutschland schimpfen, Vornehm, mit Naserümpfen; Den Bürger stolz verachten, Und die nach Weisheit trachten, Bestraft Ihr kühner Tadel Mein' Seel! Sie sind von Adel!51

Oder in der Weise der allbeliebten Tierfabel: Drum bist du Wolf; ich Hund! Du frei, Ich aber in der Sklaverei. Und die Moral? Oh, die ist jedermann bekannt, In Deutschland und in Engelland.52

Wo immer der Kampf der Freiheit einen Kriegsschauplatz eröffnet, da ist Schubart als sympathisierender Berichterstatter zugegen. Er vermeidet es, sich wie Wekhrlin in einen verwirrenden Gegensatz zu den recht und

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schlecht noch bestehenden Bastionen der deutschen Freiheit manövrieren zu lassen: zur freien Reichsstadt, zur eidgenössischen Schweiz. „Die Schweiz, dieser Sitz der heiligen Freiheit und des republikanischen Mutes ,.."53 Und nach 1789: „Wie Choralgesang tönt mir die Stimme der Freien, zu einer Zeit, wo über Freiheit so viel Schreiens und so wenig Freiheitsgenuß ist. Indem alle übrige europäische Staaten, wie Eilande aus ihren Sitzen gerissen, auf dem Zeitmeere schwanken, so bildet das glückliche Helvetien ein Eden, vor dem ein flammender Cherub steht, der jedem Despoten, Tyrannen und Fürstenknechte den Eingang verbeut."54

Der leidenschaftlich begrüßte Befreiungskampf der Amerikaner gibt den Ausblick auf eine endgültige Abschüttelung aller die Menschheit bedrükkenden Fesseln: Aussicht in die Zukunft Zerreiß, o Vorhang! der du die Zukunft deckst, Kühn, wie des Adlers Äug durch die Wolken dringt, Der Sonne Herrlichkeit zu sehen, Will ich die glückliche Zukunft schauen. Schon seh ich dich, o Retter der neuen Welt! Wie Cäsar tapfer, furchtbar wie Mahomet, Wie die empörten Fluten Länder, Fürchterlich brausend einher, vertilgen, Und wie der Strahl des Himmels, der Welten hebt, Und wie des bangen Erdballs Erschütterung, Die plötzlich ganze Königreiche Tief in den Abgrund hinunterschleudert ...55

1777, das Jahr der Verhaftung, ist ein Schicksalsjahr auch für die dichterische Entfaltung Schubarts. Nur vereinzelte Impulse verraten den ungebrochenen Geist. So entstand in der Haftzeit „Die Fürstengruft", diese schaurige Abrechnung mit den gekrönten Barbaren: Da liegen Schädel mit verloschnen Blicken, Die ehmals hoch herabgedroht, Der Menschheit Schrecken! — Denn an ihrem Nicken Hing Leben oder Tod. Nun ist die Hand herabgefault zum Knochen, Die oft mit kaltem Federzug Den Weisen, der am Thron zu laut gesprochen, In harte Fesseln schlug. Zum Totenbein ist nun die Brust geworden, Einst eingehüllt in Goldgewand, Daran ein Stern und ein entweihter Orden Wie zween Kometen stand.

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Vertrocknet und verschrumpft sind die Kanäle, Drin geiles Blut wie Feuer floß, Das schäumend Gift der Unschuld in die Seele Wie in den Körper goß. Sprecht, Höflinge, mit Ehrfurcht auf der Lippe, Nun Schmeichelein ins taube Ohr! — Beräuchert das durchlauchtige Gerippe Mit Weihrauch wie zuvor! Er steht nicht auf, euch Beifall zuzulächeln, Und wiehert keine Zoten mehr, Damit geschminkte Zofen ihn befächeln, Schamlos und geil wie er. Sie liegen nun, den eisern Schlaf zu schlafen, Die Menschengeißeln, unbetraurt! Im Felsengrab, verächtlicher als Sklaven, In Kerker eingemaurt.56

Tyrannenhaß ergreift wie ein verzehrendes Feuer die deutsche Dichtung. Das Motiv der Fürstengruft, das schon bei Seneca und dann bei den spätmittelalterlichen Totentänzen anklingt, begegnet uns im Zeichen der Youngschen Gräberromantik in den poetischen Reflexionen Friedrich Karl Kasimir von Creutzens: Tyrannen! würgt dann nur, bannt aus der Welt den Frieden! Macht alles öd, entthronte Fürsten blind! Seid grausamer als Pest und Meer und Flammen sind! Von Menschenköpfen baut euch Pyramiden! Zieht unsers Elends Vorhang auf! Kein beßres Los ist uns beschieden! Von Menschenköpfen baut euch Pyramiden! Mit Leichen hemmt der Ströme Lauf! Ach, alles eilet ja, Zerstörung, dir entgegen! Den heut des Wütrichs Schwert entleibt, Ist er unglücklicher, als den auf längern Wegen Des Todes Schrecken vor sich treibt? Der Sorgen Stachel, der durch Helm und Panzer dringet, Wird von Tyrannen auch gefühlt: Ein Tod erwartet sie, der langsam sie verschlinget, Wie Ceylons Schlange dort mit ihrem Tiger spielt.57

Diese Verse waren 1759, also zwanzig Jahre vor der berühmten „Fürstengruft" des gefangenen Schubart entstanden. In dieser Zeit war das Motiv bereits zum Repertoirestück der deutschen Dichtung geworden. Sicherlich wurde das schon von Haus aus kühle Verhältnis der deutschen Fürsten zur deutschen Dichtung durch eine solche Thematik nicht verinnigt. Das

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Motiv war aber schon viel zu verbreitet, als daß die Behauptung, der Herzog Karl Eugen sei gerade durch diese Verse zu einer Verschärfung der Haft Schubarts aufgereizt worden, glaubwürdig erscheinen könnte. Die Ausgabe, in die Schubart das Gedicht einfügte, war auf dem Hohenasperg, sozusagen unter den Augen des Herzogs, veranstaltet worden. Schubart war nicht der Mann, der durch plumpe Provokation sein freudloses Martyrium hätte verlängern wollen. Seine Erkenntnis, daß nur im Stande der Freiheit der Kampf erfolgreich fortgeführt werden kann, beschattet die langen Kerkerjahre: Deutsche Freiheit Könnten Tränen dich rühren, Ach, du kämst zum Fesselbeladenen, Dem schon neun schreckliche Jahre Zährenfeuer die Wange sengt. Aber hier bist du nicht, wo Gallioten, Wie Vieh an Karren gespannt, Mit Ketten vorüberrasseln; Hier, Göttin, bist du nicht, Wo die starre Verzweiflung Am Eisengitter schwindelt; Wo des Langgefangnen Flüche Fürchterlich im Felsenbauche hallen.58

Der Geniekult und die im Sturm und Drang der Persönlichkeit beigemessene erhöhte Bedeutung führten keineswegs zu einer Abschwächung des Fürstenhasses. Es ist nicht der geschichtemachende Held, sondern die kühn vorgreifende Tat des berufenen Vertreters der Gemeinschaft, der Nation, des Volkes, auf die sich die Erwartung der neuen Generationen richtet. Mit größerer Energie und Bestimmtheit als Schubart nannte Bürger das Gesetz einer Generation, die sich durch den Negativismus der rationalistischen Aufklärung beengt sah und in der Annäherung an die Wahrheit der Natur einen neuen Maßstab menschlicher Größe ertastete: Es ist ein Ding, das micht verdreußt, Wenn Schwindel- oder Schmeichelgeist Gemeines Maß für großes preist. Du, Geist der Wahrheit, sag es an: Wer ist, wer ist ein großer Mann? Der Ruhmverschwendung Acht und Bann! Der, dem die Gottheit Sinn beschert, Der Größe, Bild, Verhalt und Wert Und aller Wesen Kraft ihn lehrt;

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Des weit umfassender Verstand, Wie einen Ball die hohle Hand, Ein ganzes Weltsystem umspannt; Der weiß, was Großes hie und da, Zu allen Zeiten, fern und nah, Und wo, und wann, und wie geschah; Der Mann, der die Natur vertraut, Gleich wie ein Bräutigam die Braut, In ganzer Schönheit nackend schaut; Und warm an ihres Busens Glut, Vermögen stets und Heldenmut Und Lieb und Leben saugend, ruht; Und nun, was je ein Erdenmann Für Menschenheil gekonnt und kann, Wofern er will, desgleichen kann; Dabei in seiner Zeit und Welt, Wo sein Beruf ihn hingestellt, Durch Tat und Kunst die Waage hält: Der ist ein Mann, und der ist groß! Doch ringt sich aus der Menschheit Schoß Jahrhundertlang kaum einer los.59

In diesem Persönlichkeitsideal ist nicht nur die Kluft zur wirklichen Menschheit überwunden, sondern die Bestimmung zum gesellschaftlichen Leben in der Fähigkeit zur Erfüllung der Kräfte und Werte und in der verpflichtenden Macht des Berufs verwirklicht. Bürgers Meisterung der volkstümlichen Formen war schon durch Herder und Schiebeier vorbereitet worden. Im Bänkelton hatte Schiebeier so urtümliche Formen wie die Pastorelle wieder ins Leben gerufen. Für Bürger ist die Dichtung der geradeste Weg zur Beteiligung am Leben des Volkes. Die Dichtung muß wirken. Der Mangel an Neuheit und Originalität kann nicht als ein Fehler gelten. Wenn Bürger die ganze Hierarchie der poetischen Stile und Gattungen einreißt, so nicht, um ihrer Vermischung im Sinne der Shakespeare-Nachfolge das Wort zu reden, sondern um den Raum für die einzige wertbeständige Volkspoesie zu gewinnen. Bürger versuchte die balladeske Form seiner Dichtung in der von Herder unter anderem vorgezeichneten Weise aus einer freiheitlichen Urvergangenheit abzuleiten. Dessen unbeschadet kann es nur ein einziges Thema für die lebendige Volksdichtung geben: den verzweifelten Kampf der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker. Diese Sozialrevolutionäre Substanz der Bürgerschen Dichtung ist in den neueren Arbeiten Paustians, Reimanns und Lore Kaims gebührend zum Ausdruck gekommen.

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Bürger geht weit hinaus über alle traditionellen Motivationen der Berechtigung und Verpflichtung zum Tyrannenmord, die aus dem Bund der natürlichen und göttlichen Satzungen erwachsen. Sakrilegische Willkür liegt nicht nur im Abfall des Fürsten von seiner Sendung, sondern auch in der Usurpation der göttlichen Gnade, die als Segen der Natur die Arbeit der Unterdrückten befruchtet: Der Bauer an seinen durchlauchtigsten Tyrannen Wer bist du, Fürst, daß ohne Scheu Zerrollen mich dein Wagenrad, Zerschlagen darf dein Roß? Wer bist du, Fürst, daß in mein Fleisch Dein Freund, dein Jagdhund, ungebläut Darf Klau' und Rachen haun? Wer bist du, daß durch Saat und Forst Das Hurra deiner Jagd mich treibt, Entatmet wie das Wild? — Die Saat, so deine Jagd zertritt, Was Roß und Hund und du verschlingst, Das Brot, du Fürst, ist mein. Du, Fürst, hast nicht bei Egg' und Pflug, Hast nicht den Erntetag durchschwitzt. Mein, mein ist Fleiß und Brot! — Ha, du wärst Obrigkeit von Gott? Gott spendet Segen aus: du raubst! Du nicht von Gott, Tyrann!60

Despotismus und Klassenherrschaft sind von Anfang an die Verkehrung und Verneinung der Gesellschaftsordnung. Sie sind Teufelswerk im Sinne der christlichen Mythologie. Als Höllenspuk endet der Wilde Jäger, der letzte Nachkömmling einer barocken Kavaliersgesellschaft, wie ihn Mozarts Don Giovanni und Schillers Franz Moor noch einmal in schaurig-burlesker Inkarnation darstellten. Die Radikalisierung der Gesinnung ergreift seit dem Ende des 18. Jahrhunderts alle literarischen Formen und Gattungen. Kein Dichter kann sich dem Druck des verwandelten Zeitgeistes entziehen. Sicher hätte ein Dichter wie Goeckingk in anderen Zeiten seine Muse aus dem unbewegten Gewässer der Anakreontik gar nicht herausgeführt. Auch sein frommes Gemüt wird auf den Kriegspfad gezwungen. Die Entrechtung des Volkes, der Über-

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mut der Bedrücker lasten wie ein Alpdruck auf seinen Versen. Er wird zur Fürstengeißel, zum Schrecken solcher Fürsten, Die nach dem letzten Ei Des Tagelöhners dürsten.

Er schleudert seine Blitze Auf das Tyrannenvolk, das barsch vom Thron gebeut, Und wähnt, der Rest der Menschheit sei nichts nütze, Als Sklav zu sein von ihrer Herrlichkeit.

Bezeichnend ist der Goeckingk nachhängende Ausspruch, „es sei sehr schimpflich für die deutsche Nation, daß sie noch keinen gehängten oder geräderten Fürsten auf zuweisen habe"61. Wer anders als „die Deutschen sind dazu gemacht, das Joch zu zerbrechen, das von Zeit zu Zeit der Menschheit aufgelegt wird?"62 Es ist wichtig, hier festzustellen, daß an der Polemik mit dem deutschen Ancien regime keineswegs nur die großen oder bekannteren Namen der deutschen Aufklärung beteiligt sind. Der obskure Autor des Aphorismenbandes „Antiquitäten", ein entfernterer Geistesverwandter des jüngeren Moser, dem der Band gewidmet ist, sieht in den ästhetischen Bestrebungen von Klopstock, Gleim, Klotz, Lessing und Herder eine unerhebliche und wesenlose Modeerscheinung. Schon die Zusammenstellung offenbart das völlig mangelnde Verständnis der gewaltigen deutschen Literaturbewegung. Aber derselbe Autor hat eine sehr beachtliche soziologische Analyse der den verhaßten Despotismus stützenden gesellschaftlichen Kräfte angestellt: „Die willkürliche Gewalt und der Despotismus ist heutigen Tages fast aufs höchste gestiegen und auf seilen der Niedrigen in eine völlige Sklaverei übergegangen. Der vornehmste Endzweck der Großen oder vielmehr ihrer Ministerien scheint einzig und allein darauf gerichtet zu sein. Man rechnet es sich zur Pflicht an, solche immer weiter zu treiben. Alles, was noch einigermaßen einige Hinderung abgeben kann, sucht man aus dem Wege zu räumen. Man muß den Leuten den Mut zu widersprechen benehmen. Auch bloß zu bitten ist nicht mehr erlaubt. Es ist strafbar und ein Verbrechen wider den Staat, wenn man um Abstellung der Beschwerden demütig anfleht. Eine Bittschrift selber aufzusetzen wird nicht gestattet, es muß sie ein einheimischer Anwalt oder Prokurator unterschrieben haben. Dieser wird sich aber wohl hüten, solche zu unterschreiben, aus Furcht, die Praxis zu verlieren oder sich wohl gar einer schlimmeren Begegnung auszusetzen. Es heißt die Untertanenpflicht übertreten, wenn der Supplikant auch gleich nur um Erlassung einiger unerschwinglicher Abgaben fußfällig ansucht. Es ist wider das Interesse des Landesherrn. Was aber wider das Interesse des Landesherrn ist, das ist ein Verbrechen wider den Staat und strafbar. Von einem auswärtigen Anwalt wird die Unterschrift nicht angenommen; folglich ist jedem, seine Not anzubringen, abgeschnitten und also kein anderes Mittel übrig, als sich

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Über die Konstellation der deutschen Aufklärung die Haut geduldig über die Ohren ziehen zu lassen. Armselige Geschöpfe, denen nicht einmal zu bitten erlaubt ist, welches doch sowohl nach göttlichen als weltlichen Gesetzen den allerelendesten Sklaven nicht einmal verwehrt sein sollte! — Man nimmt den Untertanen, den Gemeinden und milden Stiftungen ihr Vermögen und ihre Grundstücke ab, ohne daß diese im geringsten nur eine saure Miene dazu machen dürfen. Denn auch dieses würde ein Staatsverbrechen sein. Man sucht Regalien und Reservaten hervor, wo keine sind; man kauft den Leuten und Gemeinheiten ihr Vermögen und ihre Grundstücke mit Gewalt ab, oder sie werden mit Gewalt gezwungen, dem Landesherrn solche selbst anzutragen. Um den Schein des Rechts zu haben, wird das Gutachten der Collegiorum gefordert. Diese müssen votieren und stimmen, wie es der Herr haben will, sonst werden sie auf die Finger geklopft, und ihre geleistete Pflicht zur Gerechtigkeit kann sie nicht schützen. Endlich nach allen diesen Vorspiegelungen kommt die Resolution: der Herr habe in höchsten Gnaden geruht, den Untertanen die besondere Gnade zu tun und die Grundstücke oder Gerechtsame erb- und eigentümlich zu übernehmen. Diese müssen sich wohl noch dazu bedanken und es als eine zum Besten des Landes ausgeübte Handlung rühmen. Will jemand so unartig sein und diese gnädige Wohlmeinung nicht einsehen, der ist ein unruhiger Untertan, ein Rebell; man fällt mit der Inquisition über ihn her; man macht ihm begreiflich, daß er gesündigt habe, und bringt ihn dahin, daß er um Vergebung bitten muß, ob er gleich nicht gesündigt hat. Wie froh muß er noch dazu sein, wenn er ohne Beschimpfung, ohne Mißhandlung davonkommt! Wer wollte da nicht klug und vernünftig werden, das heißt: das Seinige sich gutwillig nehmen lassen? — Doch die Stände und die Diener der gemeinen Güter, die Ratleute in den großen Städten und dergleichen sind öfters unseren Absichten noch entgegen. Sie haben nicht selten die Verwegenheit, zu widersprechen und sich auf ihre Immunitäten, Freiheiten, Privilegien und Gerechtsame zu berufen. Sie sind zu ungläubig, als daß sie diese auf das Wohl des Landes abzielenden Absichten einsehen könnten. Das steht uns aber nicht an; man muß auch diese Steine des Anstoßes wegzuräumen suchen. Mit den Gemeindedienern, den Ratleuten, Bürgermeistern, Schultheißen, Vorstehern, und wie sie sonst alle heißen, wird man bald fertig. Man spielt ihnen nach und nach ihre Privilegien mit guter Manier aus den Händen; man nimmt ihnen die Wahlfreiheit, ihre Einkünfte, ihre Justiz und andere Gerechtsame, oder man kauft ihnen diese Stücke wider ihren Willen ab; man läßt die Alten aussterben, die Mittel eingehen und schiebt endlich lauter solche Kreaturen ein, die nach unserer Pfeife tanzen müssen und nicht mucksen dürfen, auch noch dazu von dem Himmel mit Dummheit reichlich gesegnet sind. Sich des Besten der Gemeinde annehmen wollen, das hieße wider die Pflicht gehandelt, worauf die Absetzung und wohl noch etwas Schlimmeres erfolgt. Man setzt ihnen Aufseher, Präsidenten, Revisoren etc. auf die Nase, welche in allen Dingen den Ton des Hofes angeben müssen. So werden sie aus Gemeindedienern Diener des Staates und wahre Jaherren, welche mit den Ratsherren Synonyma sind. — Nun sind die Stände, die Ritterschaft noch übrig. Mit diesen wird man zwar nicht so bald fertig, man weiß aber andere Mittel, sich diese naseweisen Widersprecher vom Halse zu schaffen. Man muß sie auskaufen und ihre Nester zu zerstören suchen. Wollen sie nicht? Die Untertanen und Hintersassen wider sie aufgehetzt, sie mit fiskalischen Klagen gepeinigt und ihnen allen nur möglichen Verdruß angetan, daß sie es nicht länger ausstehen können, sondern gezwungen werden, die Güter zum Kauf selbst anzubieten und aus dem Lande zu wandern. — Auf solche Art ist also niemand mehr vorhanden, der sich unsern Absichten widersetzen darf und kann. Die Vornehmen, die Stände, die Adligen, ja die begüterten Bürger und Bauern sind ausgekauft; sie haben die Nahrung mit aus dem Lande genommen und lauter Tagelöhner und Handwerks-

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leute zurückgelassen, welchen, da sie bloß um das liebe Brot besorgt sein müssen und als wahre Tagelöhner des Hofes, welcher fast alle Grundstücke und Gewerbe des Landes in Besitz hat, anzusehen sind, der Kitzel zu murren ebensogut vergeht wie einem armen Gefangenen, der über ein Jahr nichts als Wasser und Brot genossen hat, die Wollust. So hat man seinen Endzweck erreicht, man herrscht nicht mehr über Untertanen, sondern über ein Land voller elender Sklaven, die zu vernünftig sind, als daß sie sich weigern sollten, sich nicht nur den Rock vom Leibe, sondern auch die Haut über den Kopf gutwillig abziehen zu lassen." (S. 246 ff.)

Der Zeitpunkt der Revolutionierung der öffentlichen Meinung in Deutschland wird von Schubart in die Jahre seiner Gefangenschaft auf dem Hohenasperg verlegt. In einem Brief an den Flügeladjutanten des Herzogs schreibt er, für seine Zeitung volle Zensurfreiheit fordernd: „Der Herzog, mein Herr, sind mit den Fortschritten der deutschen Literatur viel zu sehr vertraut, als daß es einem so tiefen und erleuchteten Forscher entgehen könnte, wie seit meiner Gefangenschaft die Freiheit im Schreiben so gewaltig zugenommen und welch ein kühner Ton jetzt in allen Provinzen Deutschlands herrsche."63

Der Grundton der achtziger Jahre, die Revolutionsbereitschaft, ist auch in die Belletristik gedrungen. Salzmanns Briefroman mit dem heraldischen Titelhelden Carl von Carlsberg lieferte schon mit dem Untertitel „Über das menschliche Elend" die von dem Lesepublikum jener Zeit verlangte Gesinnungsprobe. Salzmann geht aus von dem bereits in der Debatte um das deutsche Nationalbewußtsein zum Durchbruch gelangten Motiv: „Sollten wir denn nun nicht teilnehmender sein gegen die Leiden unserer Mitbürger und Mitbürgerinnen als gegen das harte Schicksal der Afrikaner?" 64 Der Protest gegen die Versklavung der Neger, von Asmus in den ehrwürdigen Strophen festgehalten, und gegen die Ausbeutung der Indios in den spanischen Silberbergwerken läßt zu leicht die Bedrückung im eigenen Land vergessen. Neben der feudalen Knechtung fordert die verzweifelte Lage der von den kapitalistischen Verlegern ausgebeuteten Handarbeiter große Beachtung: „ ,Meine Kinder kann ich nicht verhungern lassen.' — ,Weiß Er denn gar kein Mittel, Seine Umstände zu verbessern?' — ,Das wüßte ich wohl, wenn ich für mich arbeiten und meine Ware selbst verkaufen dürfte.' - ,Warum darf Er denn das nicht?' - Ja, wenn ich Geld in Händen hätte, daß ich mir Garne einkaufen und meine Ware liegenlassen könnte, bis sie gesucht wird.' — ,Und wieviel müßte das wohl sein?' - ,Wenigstens dreihundert Taler.' "6S

Ohne Rücksicht auf zartbesaitete Nerven werden die düstersten Farben der sozialen Elendsmalerei aufgetragen: „Stellen Sie sich ein kleines, niedriges Stübchen vor, wo ein Mensch von meiner Länge kaum aufrecht stehen kann, aus dem der stinkende Qualm einer eingeschlossenen, durch die Ausdünstungen der Speisen, Öllampen und Menschen verunreinigten Luft jedem Ein-

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Über die Konstellation der deutschen Aufklärung tretenden entgegendampft, dessen zwei kleine Fenster halb aus Glasscheiben, halb aus Papier bestehen, wo ein Weberstuhl und zwei Betten stehen, in deren einem ein kranker, schwacher Mann in einigen Lumpen liegt, die ehemals Kissen waren, neben sich einen Topf mit dünnem Biere und eingeweichtem Brot stehen hat, vor dem zwei Kinder und ein entehrtes Mädchen sitzen, das dem Zeugen seiner unglücklichen Liebe die Brust reicht, so haben Sie ein Bild von dieser Wohnung des Elends ..."66

Mit verlorener Menschenwürde ist der letzte Rest von Selbstachtung geschwunden: „... ich habe es oft gesehen, daß vornehme Frauen ihren Hund oder ihre Katze auf dem Schoß gehabt und sie aus ihrer Tasse haben fressen lassen. Aber wenn unsereins kommt, da wird Tür und Fenster zugemacht. Mit genauer Not, daß man uns ein paar Pfennige zuwirft! Meiner Seele! wir sind doch schlimmer dran als das Vieh. Ich habe mir tausendmal gewünscht, ein Mops oder ein Bologneser zu sein, da hätten mich Hunde und Menschen gern. Aber so — so bellen mich alle Hunde an, und die Menschen spucken vor mir aus."67

Gegenüber den naturalistisch ausgepinselten Szenen des Elends kann die Erwartung einer besseren Zukunft nur in der Form des prophetischen Traumes bekundet werden. Das Maschinenzeitalter wird die Mechanisierung der menschlichen Arbeit, wird den Maschinenmenschen überwinden: „Hörst du, wie aus allen Orten das Geschrei von Erfindungen neuer Maschinen erschallt? Dadurch bekommt der Arm des Knaben die Kraft eines Starken und die weiche Hand der Jungfrau die Stärke eines Engels Gottes. Bald, bald wird der Mensch aufhören, Maschine zu sein, bald wird die drückende Last der Arbeit, unter der alle Söhne Adams krächzten wie eine Gebärerin, wenn ihre Stunde gekommen ist, von ihnen genommen werden, und sie werden Zeit und Raum haben, sich alles dessen zu freuen, was der Herr gemacht hat, und es zu genießen. Und alle Lande werden ihm lobsingen, wenn er sie aus dem Diensthause geführt und ihr Elend geendigt hat."68

Mit den ökonomischen und politischen werden auch die moralischen Fesseln fallen, die dem Aufstieg des Menschen zu neuer Schönheit und zur verklärten Diesseitigkeit im Wege standen: „Und nach diesen Geschichten brach ein großes Volk hervor und bedeckte den Erdkreis. Sie waren männiglich schön und lieblich anzusehen. Ich sah braune Jünglinge, die in ihren Armen hielten Jungfrauen, deren Wangen lieblich waren wie die Morgenröte und deren Augen funkelten wie die Sterne Gottes. Auch sah ich Weiber, die waren alle voll Kraft, jede hielt den Säugling im Arm, der holdselig am vollen Busen spielte, auf den die Haarlokken wallten. Und die Blicke, die sie warfen auf die Säuglinge, waren wie die Blicke der Engel Gottes. Neben ihnen standen nervigte Männer, die ihre Augen an dem Anblicke weideten. Auch sah ich Gebärende, die in wenigen Minuten, ohne fremde Hilfe, ihre Kinder zur Welt brachten. Und ich sähe mich umher weit und breit, und siehe da, da ward unter allen Menschenkindern nicht gefunden ein Buckliger oder Pockengrübiger noch ein solcher, dessen Schenkel krumm gewachsen waren, noch ein Mensch ohne Nase. Auch

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ward nicht gefunden ein Bleicher, man sah nirgends Sorge und Gram und hörte nicht Zank und Streit, sondern sie waren allesamt munter und guter Dinge. Und ich fragte den, der mit mir redete: ,Herr! sind das Engel?' Und er antwortete und sprach zu mir: ,Mitnichten. Sondern es sind die besseren Menschen, die hervorkommen werden, wenn der Herr sein Werk vollendet und das Reich der Unwissenheit, Dummheit und Bosheit zerstört hat.' "69

Industrialisierung, aber nicht industrielle Agglomeration! Die Durchdringung von Stadt und Land in diesem uns wie ein Wahrtraum berührenden prophetischen Bild bezeugt das Kompromiß der radikalen, rousseauistisch-pessimistischen Strömung mit der fortschrittsgläubigen Geschichtsauffassung. „Und die Menschen zerstreuten sich auf den Erdboden und fingen an zu arbeiten kräftiglich. Galgen und Rabensteine, Hospitäler, Waisenhäuser und Kasernen und Zuchthäuser und alle anderen Wohnungen des Elends wurden niedergerissen; Paris mit seinen Schwestern ward öde und eine Wohnung der Nachteulen und Rohrdommeln. Und man machte um jede Hauptstadt einen Raum bei 200 Feldweges und zog ein Gehege darum, damit niemand sich nahen und sehen möchte die Überbleibsel von den Rasereien des menschlichen Verstandes. Aber alle Wüsteneien wurden Lustgärten und alle Sandberge Wälder und Weinberge. Und es ward da nicht mehr gefunden ein Bettler, sondern jeder hatte Überfluß, jeder saß unter seinen Kindern und verzehrte ein Wildbret oder ein gemästetes Kalb und trank seinen Becher Wein und ließ sein Herz guter Dinge sein."70

Während Schiller in den „Räubern" — Rousseauist von reinstem Wasser — die modernen Erfindungen Buchdruck, Pulver und so weiter für die Entartung der Menschheit verantwortlich machte, ist für Salzmann wie für die Mehrheit seiner Zeitgenossen die fortschreitende Naturerkenntnis Bürgschaft der künftigen Beherrschung der Naturgewalten: „Was in gewissen Weltaltern dem menschlichen Verstand Zauberei schien, das ist ihm in einem anderen Spielwerk. Wenn jemand dem Vater Noah gesagt hätte, ob es wohl möglich sei, daß ein Mensch von seinem Zimmer aus in tausend Orten zugleich wirken, daß er dem Donner seine Kraft benehmen, daß er selbst donnern und blitzen, mit seinem Donner die Mauern niederstürzen, die Erde bebend machen und in einem Hui Tausende seiner Mitmenschen in Stücke schlagen könne? Er würde die Achseln gezuckt und gesagt haben, ohne Hilfe des Satans ist dies unmöglich. Und gleichwohl, ohne den Satan zu Hilfe zu nehmen, wirkt der Kaufmann, von seinem Kontor aus, in allen vier Erdteilen, und mancher Gelehrte wirkt durch halb Europa, ohne sich weit von seiner Studierstube zu entfernen. Ohne den Satan zu Hilfe zu nehmen, weist der Naturkündiger dem Blitze seine Laufbahn, und Elliot donnert von seinem Felsen herab und zerschmettert und sprengt in die Luft alles, was ihm nahe kommt. Und gleichwohl sind wir mit Untersuchung der Natur noch nicht weiter als bis an die Küsten gekommen. Wieviel Kräfte wohl in dem Innersten noch sein mögen, und was wohl aus unseren Nachkommen werden mag, wenn sie dieselben entdecken und brauchen lernen!"71

Im prophetischen Ausblick auf eine von Genuß und Arbeit durchpulste, dem Menschen gehorsame Welt kann kein Bruch mehr im Verhalten der

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Menschen zueinander bestehen. Der Adel wird als anachronistische Hinterlassenschaft aus dunkelster Zeit aufgehoben oder verallgemeinert werden: „Und ich fragte weiter und sprach: ,Aber, Herr! ich sehe ja keinen Adel mehr, sondern alles arbeitet, wie wenn es bürgerlich wäre?' Und er antwortete und sprach zu mir: ,Der Adel ist in der Nacht erzeugt worden und hört auf, sobald der Tag anbricht. Von nun an wird jeder sich schämen des Müßigganges und wird sich keiner mehr rühmen dessen, daß sein Vater edel gewesen ist, sondern ein jeder wird sich rühmen dessen, daß er selbst edel ist.' "72

Der deutsche Adel hatte in Wahrheit zuwenig Anteil an der Aufklärung genommen, um der Feindschaft des zum Selbstbewußtsein erwachten Bürgertums die Spitze abzubrechen. Während der französische Adel von einem enthusiastischen Flügel vorangerissen wurde und im ganzen ohne Widerstreben in die Revolution eintrat, wurden die Klassengegensätze in der vorrevolutionären deutschen Literatur immer offener ausgetragen. Selbst ein sonst so progressives Organ wie die „Berlinische Monatsschrift" sieht diese Tendenz nicht ohne Bedenken um sich greifen: „Komödien und Romane wimmeln von Deklamationen gegen den Adel. Alle Ehre des Standes und der daher entspringende ,esprit de corps' soll bei uns niedergerissen werden. Allgemeine Maximen sollen jetzt den Menschen treiben, und eifrige, feste Anhänglichkeit an Familie wird als eingeschränkter, unerleuchteter Trieb behandelt."73

Ebenso bemerkte Schlözer in seinen „Staatsanzeigen", daß „seit einiger Zeit viele Schriftsteller zwischen dem Adel seine Arroganz und Impertinenz nehmen und ihn ganz vernichten, kein Drittes zu kennen scheinen"74. Wie die erwartete gesellschaftliche und politische Umwandlung sich abspielen soll, darüber scheinen in Deutschland keine geklärten Vorstellungen zu bestehen. Reformation oder Revolution? Georg Forster ist wohl der erste, der die beiden geschichtlichen Wege voneinander scheidet. Forster hatte schon 1779 in einem Brief an Jacobi den Umschwung für unumgänglich, ja für wünschenswert angesehen: „Wie wahr ist alles, was Sie vom deutschen literarischen Parteigeist schreiben! Mir ist es ein nicht zweideutiges Vorzeichen einer wahren gänzlichen Veränderung von Grund aus. Es kann so nicht bleiben. Alle Symptome sind da, und zwar nicht nur in der gelehrten, sondern auch in der theologischen und politischen Welt. Sosehr meine Seele sonst Ruhe wünscht, so wünscht sie diese Krisis herbei, worauf sie eine große Hoffnung gebaut hat."75

Und vier Jahre später schreibt Forster wieder an Jacobi: „Ich glaube, dem Erdball und seinen Bewohnern steht einst, wann? — das weiß Gott! eine Veränderung, du tout au tout, bevor, und das ist eben die Ursache, warum ich an dem vollkommen glücklichen Erfolg aller Reformatoren zweifle. Das, was Sie verpestete Luft

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nennen, wird nie aufhören zu sein, bis die jetzige Beschaffenheit der Dinge geändert wird — aber freilich können Umstände bisweilen, auf eine Zeitlang, einen Wetterwechsel verursachen, der doch verhindert, daß nicht alles verlorengeht."76

Wo die Josefinische Aufklärung keinen Boden hatte, wurde das fortschrittlich eingestellte Bürgertum immer mehr von dem Gedanken an eine republikanische Staatsform bezaubert. Schubart macht als Journalist keinen Hehl aus seiner Vorliebe für den Freistaat, was ihn nicht hindert, dem Preußenkönig bei jeder Gelegenheit zu huldigen. Um Schubarts Enthusiasmus für Friedrich II. richtig einzuschätzen, muß man die besondere Lage des Herzogtums Württemberg im Auge haben. Preußen konnte seinen Einfluß im Süden Deutschlands nur durch die offene Unterstützung der evangelischen Stände gegen den Despotismus Karl Eugens geltend machen. Der preußische Gesandte in Stuttgart hatte schon 1764 offen für den rebellischen Landtag Partei ergriffen. Für die gesamtdeutsche Politik Friedrichs II., die selbstverständlich alles andere als deutschbetont oder nationalbewußt war, ist nichts bezeichnender als der von Zimmermann hinterbrachte Ausspruch des Königs, Deutschland (das Deutschland des Fürstenbundes!) sei eine Republik. An der deutschen Peripherie im Süden erwies sich dieses Bonmot als ein wirkliches Unterpfand in der Niederwerfung des herzoglichen Despotismus. Das Wort von der „deutschen Republik", das Schillers „Räuber" zuerst in die deutsche Öffentlichkeit geworfen hatten, bildet in den achtziger Jahren den mehr oder weniger sichtbaren Mittelpunkt aller ernsthaften politischen Diskussionen. Die „Berlinische Monatsschrift" bringt im März 1785 einen aufsehenerregenden Aufsatz mit dem sardonischen Titel „Neuer Weg zur Unsterblichkeit der Fürsten". Die Aussichten der dreihundert deutschen Fürsten, in die Geschichte einzugehen, werden äußerst gering veranschlagt: „Es geht zu unsern Zeiten mit den Fürsten wie mit den Gelehrten. So wie es diesen jetzt leicht wird, ein Büchlein zusammenzuschreiben, zur Messe zu schicken und in Zeitungen und Journalen gelobt zu sehen, so kann auch jeder kleine Fürst seinen Namen im Staatskalender lesen, und man kann ihm fast Gewähr dafür leisten, daß man in tausend Jahren noch wissen werde, wie er geheißen und wann er geboren, vermählt und begraben worden. Die Beherrscher der entferntesten Weltteile können ihr Haupt nicht mehr ruhig niederlegen, ohne daß irgendein europäischer Geschichtsforscher solches bemerkte. — Aber wie viele von allen den Herren, deren Heiraten und Begräbnisse in dem Journale von und für Deutschland angezeigt werden, dürfen sich Rechnung machen, in dem Andenken der Nachwelt zu leben? Es wäre denn, daß man mit dem Namen des Lebens den Schlummer beehren wollte, in welchem die Geschichtsschreiber den Hochseligen nur stören werden, um sich nach dem Tage der Niederkunft irgendeiner Dero Mätressen zu erkundigen oder um die Stunde zu erfahren, in welcher Höchstdieselben geruhet haben, von diesem Schauplatze

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Über die Konstellation der deutschen Aufklärung abzutreten. Wie soll es nun unter solchen Umständen ein Fürst anfangen, wenn er nicht bloß in Geschlechtsregistern paradieren, sondern unter den vielen Tausenden, die, wie er, Soldaten exerzieret, Füchse gejagt oder neue Steuern erfunden haben, als besonders merkwürdig genannt und geschätzt werden will? Was kann ein Fürst, nachdem Friedrich schon mit ganz Europa sieben Jahre lang siegreich gekämpft hat, nun noch Merkwürdiges tun? ... Wodurch kann er alle seine Vorgänger verdunkeln und seinen Nachfolgern sogar die Möglichkeit entziehen, ihn jemals zu übertreffen? Welchen großen Gedanken kann er hegen, von dem sogleich der Augenschein lehrte, daß er nicht in dem kleinen Gehirn irgendeines Hofschmeichlers entsprungen, von keiner Hofkabale genährt und von keinem despotischen Schwachkopf ausgebrütet worden sei? Wie kann er machen, daß alles, was seine Vorfahren Großes getan haben, vergessen wird und seine Nachkommen ihn, solange die Nation Nation ist, täglich im Munde führen müssen? Welches Mittel kann er brauchen, um seine Macht weit über die Grenzen des Lebens hinauszudehnen?"77

Die Antwort ist verblüffend. Die einzige geschichtliche Tat, die einem Fürsten noch zu tun bleibt, ist seine Abdankung — die Begründung der Republik: „Dagegen hilft kein Mittel als — die Veränderung der Regierungsform selbst. Will ein Fürst seinen Gesetzen, wo nicht eine ewige, doch eine ungewöhnliche Dauer verschaffen, so muß er dem Staate eine Verfassung geben, wodurch es seinen Nachfolgern unmöglich wird, die von ihm eingeführten Gesetze willkürlich abzuändern. Er muß bewirken, daß von nun an keine Gesetze anders als mit Einwilligung des gesamten Staates gegeben werden können; mit einem Worte, er muß den Staat in eine Republik verwandeln, in welcher das Haupt der regierenden Familie den bloßen Vorsitz hat. Wenn irgendeine republikanische Verfassung von Dauer sein könnte, so wäre es eine solche, welche nicht in der Gärung bürgerlicher Unruhen durch den Zufall gebildet, sondern von einem weisen Manne ruhig entworfen, bedächtig geprüft und von ihm selbst vorbereitet, durchgesetzt und befestigt worden. Freiheit, dürfte man vielleicht einwenden, müsse nicht geschenkt, sondern erkämpft werden. Das will nun aber nicht so viel sagen, als ob das Land, auf welchem die Glückseligkeit eines Volkes emporwachsen soll, schlechterdings mit Blut gedüngt werden müßte. Nur als Beweise einer edeln Freiheitsliebe können bürgerliche Unruhen Wert haben. Wenn nun der Fürst selbst sein Volk nach und nach an eine freiere Denkungsart gewöhnte, so würde sich der Segen der Freiheit auch ohne Wetter und Wolkenbrüche durch die ihm angewiesenen Kanäle über sein Land verbreiten. Deswegen müßte der Fürst das Volk zur Teilnehmung an den öffentlichen Geschäften stufenweise gewöhnen und Männer zu bilden suchen, welche fähig wären, als Repräsentanten das Wohl der Nation zu besorgen."78

Es fehlte nicht an warnenden Stimmen. 1786 erschien Göchhausens „Enthüllung des Systems der Weltbürgerrepublik". 1787 wird im „Deutschen Zuschauer" auch der Kaufpreis einer Revolution für die Republik als angemessen erachtet: „Republiken erleben bisweilen Revolutionen, aber diese Unannehmlichkeiten sind vorübergehend; ganze Generationen genießen eine Glückseligkeit, von der man in monarchischen Staaten keinen Begriff hat."

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Das bedeutsamste Forum, das die deutsche Aufklärung in ihrer letzten und höchsten Phase besaß, war die schon mehrfach erwähnte, von Biester und Gedike zielbewußt gesteuerte „Berlinische Monatsschrift". Diese Zeitschrift verstand es, den Kampf auch in die entferntesten Bereiche der Wissenschaft hineinzutragen. Gerade in solchen Rezensionen gelehrter Werke kommt die aktivistische Note der Zeitschrift zum Durchbruch. 1780 hatte ein gewisser Busch ein Buch mit dem Titel „Von dem Ursprung der Knechtschaft in der bürgerlichen Gesellschaft" veröffentlicht [vgl. EA, S. 647]. Darin wurde zunächst der Versuch unternommen, Knechtschaft und Feudalismus kontraktuell zu erklären und somit auf einen Rechtszustand zurückzuführen. Trotz dieser Verbeugung vor den bestehenden Mächten war der Verfasser kein Freund des Feudalismus; vielmehr vertrat er die Überzeugung, daß die wachsende Verdinglichung der Geldwirtschaft von selbst zu einer Aufhebung der personellen Abhängigkeit führen werde. Demgegenüber wird in der Zeitschrift hervorgehoben, eine rechtliche Quelle für die Knechtschaft könne nicht existieren. Diese sei auf Gewalttat gegründet, und nur gewaltsam werde sie wieder aufgehoben werden! Geldwirtschaft schlösse die Sklaverei nicht aus, sondern begünstige sie. Aber auch abgesehen von den Sklavenjagden der Kolonialisten hätten sich gerade mit der Geldwirtschaft Abhängigkeitsverhältnisse herausgebildet, die nur ein wirklichkeitsfremder Formalismus von der Knechtschaft zu unterscheiden vermöge: „Der Sklavenname ist in Europa selten — aber auch die Sklaverei selbst? Die Kette bleibt Kette, man vergolde oder versilbere sie, wie und so viel man will."79 Schon in der nächsten Nummer wird ein Problem von ähnlicher Tragweite aufgeworfen: Der Entstehungsgrund der Gesellschaft steht nunmehr zur Debatte. Nach dem Vorgang Rousseaus war auch in Deutschland die Anschauung durchgedrungen, die Gesellschaftsbildung habe den Naturzustand des vereinzelt lebenden Menschen aufgehoben und damit die fatale Entwicklung zum Despotismus angebahnt. Demgegenüber wird in der Monatsschrift betont, gerade die Gesellschaftlichkeit sei die menschliche Natur. Der Despotismus ist die Korruption der Gesellschaft und nicht die notwendige Erscheinungsform einer den Menschen korrumpierenden Entwicklung zur Gesellschaft. Die „Berlinische Monatsschrift" ist der philosophisch-idealistischen Auffassung Mendelssohns ebenso geöffnet wie dem Josefinismus Alxingers. Sie gibt aller oppositionellen Überzeugung Raum, selbst der in Preußen unüberbietbaren Häresie, die eine Zertrümmerung der großen Staaten anstrebt:

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Aber die größte Sensation war die im selben Jahrgang anonym erschienene Ode eines deutschen Professors auf die Freiheit Amerikas. Entscheidend ist nicht die auch sonst zu belegende Stellungnahme für die Freiheit der jungen Republik. Vielmehr wird von den Errungenschaften der amerikanischen Revolution der Anstoß eines weltenweiten Prozesses erwartet. Strafend tritt der Schutzgeist Britanniens vor die besiegte und von ihrer freiheitlichen Sendung so schmählich abgefallene Nation. Du wähltest Krieg. — Die Menschheit bebte; Selbst der blutatmende Sohn der Wüste, Der Wilde, starrte, fluchte dem neuen Greuel, Als Brüder (Schande!) Brüder bekämpften, Die Freien Freie. — Ha! wie würdig Sklaven zu sein, welche Sklaven heischten, Statt gleiche Bürger friedlich zu leiten, gern Ihr Recht zu schirmen, liebend zu pflegen, die Noch zärtlich, da du würgtest, flehten, Tränend den Stahl, der sie schützte, zückten.

Trotz eines riesigen Aufgebots an Truppenmacht wurden die Briten geschlagen. Vergebens hatte England die von den treu sorgenden Landesvätern gegen Barzahlung zu beliebigem Gebrauch veräußerten deutschen Rekruten in die Schlacht geschickt. Nichts halfen deine Scharen, gesandt zum Mord Auf hundert ehrnen Kielen, und zahlenlos Geheurte deutsche Sklaven, Zeugen Tobender Ohnmacht, beschämten Dräuens. Verstummt sind deine Donner; dein Krieger traurt In drei gefangnen Heeren. — Du bist besiegt.

Mögen alle Tyrannen zittern: die Freiheit in der Neuen Welt kann allen unterdrückten Völkern als ein Unterpfand der nahenden Befreiung gelten. ... Dein Frevel sei Der Nachwelt ernste Lehre: Wenn ein Tyrann Nach freier Menschen Habe geizet, Denk er Britanniens Los, und zittre!

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Und du, Europa, hebe das Haupt empor! Einst glänzt auch dir der Tag, da die Kette bricht, Du, Edle, frei wirst; deine Fürsten Scheuchst und, ein glücklicher Volksstaat, grünest.

Was sich in Amerika abspielte, war ein weltenumspannender

Vorgang.

Wer nie gejauchzt hat, jauchze! Dein Beispiel ruft Laut den entferntsten Nationen: „Frei ist, wer's sein will und wert zu sein ist!" Noch immer schreckt die rasende Despotie, Die, Gottes Rechte lügend, nur Großen frönt, Den Erdkreis. — Wie sie kämpft, die Hyder! Wie sie die schuppichten Nacken windet Und Flammen sprüht! Doch Herkules-Washington, Der Freiheit Schutzgott, stemmte den starken Arm Ihr kühn entgegen; lehrt, das Scheusal Mutig in jeglicher Zone fällen.

Die befreiten Amerikaner sind, wie wenige Jahre später die jakobinischen Franzosen, die „Hellenen unsrer Tage": Euch preist noch oft mein schüchternes Saitenspiel, Hellenen unsrer Tage! Der Fabelzeit Erstandne Helden, kühn und bieder, Arm, aber frei; ohne Prunk, doch glücklich!

Aber die goldene Brücke des Gesangs kann den Weg aus der verfinsterten Gegenwart nicht weisen. Und so endet der Hymnus mit einem Mißklang. O nehmt, Geliebte! nehmet den Fremdling auf, Den müden Fremdling; laßt mich an eurer Brust Geheimer Leiden bittre Schmerzen, Langsam verzehrenden Kummer lindern. Was säum ich? — Doch die eiserne Fessel klirrt Und mahnt mich Armen, daß ich ein Deutscher bin. Euch seh ich, holde Szenen, schwinden, Sinke zurück in den Schacht, und weine. J. F. H-l81

1786 war Friedrich II. gestorben. Der neue König war für das Publikum ein Unbekannter. Die Apostrophe des josefinischen Dichters Alxinger gilt nicht Friedrich Wilhelm II., sondern dem neuen preußischen Staatsoberhaupt:

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Über die Konstellation der deutschen Aufklärung An den König von Preußen, Friedrich Wilhelm Groß war Dein Oheim; herrlich spielt' er manche Szene Des königlichen Schauspiels. Doch er sprach Der deutschen Muse höhn; drum schweige sie; ihm töne Nie ihre Leier nach. Dir aber, edler Fürst, Dir töne sie entgegen! Du winkst: die Göttin naht, umflicht Dein Haar Mit unbeträntem Lorbeer, bringet ihren Segen Und ihren Dank Dir dar. Denn Du vergaßest selbst an Deiner Herrschaft Morgen, Der einen göttlich heitern Tag verspricht, Vergaßest, überall von neuen Königssorgen Bestürmet, ihrer nicht. Du lohntest, ehrtest sie in dem, aus dessen Spiele Schon dazumal ein süßer Zauber klang, Als er mit Weisheit und prophetischem Gefühle Bei Deiner Wiege sang. Vollende denn, o Fürst, was Du so schön begonnen: Begünstige der Musen Reihentanz; Dem deutschen Genius, dem gönne, sich zu sonnen An deutschem Fürstenglanz! Dann werden wir (mein Lied darf kühne Wahrheit singen, Dein Ohr beleidigt nicht ihr rauher Ton), Wir, die von unsern Purpurträgern nichts empfingen Als Undank oder Hohn, Wir werden dann zur Spree in Feierkleidern wallen Und jubilieren, bis die Welt es hört: Du seist — nicht viele sind's von Deutschlands Fürsten allen — Des deutschen Namens wert!82

Der König von Preußen ist berufen, als Schützer der deutschen Literatur zu wirken und nicht, wie der vergangene König, als ihr Verleumder. Das ist der Sinn der Ode, und die Empörung, die sie bei den Anhängern des alten Königs erregte, beweist nur, daß Alxinger ausgezeichnet verstanden wurde. — In Wirklichkeit war Friedrich Wilhelm II. entschlossen, die in den letzten Jahren unter Zedlitz eingerissene Preßfreiheit zu widerrufen. Die reaktionären Wöllnerschen Edikte erregten in der Schriftstellerwelt die bangsten Befürchtungen. Die „Berlinische Monatsschrift" ließ sich davon nicht berühren. Ihre unbeirrbare Haltung war ein Beweis für die Macht der öffentlichen Meinung, die weder des Zuspruchs bedurfte noch durch Drohungen erschüttert werden konnte.

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1788 glaubt Nicolaus Vogt im zweiten Teil seiner „Europäischen Republik" den herrschenden Despoten verwarnen zu müssen. Die Verschwendung des Volksvermögens für private Zwecke, die Übertragung der Regierungsgewalt an despotische und jeder Rechenschaft und Verantwortlichkeit überhobene Minister sind Handlungsweisen, die den mißhandelten Bürger von seiner Gehorsamspflicht entbinden: „Wenn aber oft der größte Teil des Volkes nicht satt zu essen hat, indes der Fürst den Schweiß seiner Arbeit mutwilligerweise verschwelget, wenn der Fürst über dem unmäßigen Genuß aller Wollüste und bei kindischen Tändeleien die Verwaltung des Staates gänzlich hintansetzt oder das Volk den Bedrückungen und Ungerechtigkeiten seiner Lieblinge und Minister überläßt, dann sollte das Volk doch auch eine Stimme haben: Herr, du bist nicht mehr unser Fürst; wir sind nicht mehr deine Untertanen." 83

Es mußte nur noch die Feststellung getroffen werden, die man im Januar 1789 in einer niederrheinischen Tageszeitung finden konnte: „Die Menschheit ist zu einer Revolution reif."84 Soviel steht fest: das Wort von der deutschen Republik ist nicht bloß ein Kraftwort, das Schiller in der für die Konstituierung der Räubergemeinschaft grundlegenden Szene aufgebracht hatte. Vielmehr ist diese Konzeption für die Bewegung der deutschen Geister im letzten vorrevolutionären Jahrzehnt durchaus symptomatisch. Aber welche Konzeption? Eine solche Frage müßte befremdlich erscheinen, wäre nicht in der neuesten, in vielfacher Hinsicht der Kompetenz nicht entratenden Schiller-Biographie Benno von Wieses der Versuch unternommen worden, im radikalen Gegensatz zu der einhelligen Meinung der Mit- und Nachwelt die Jugendschöpfung Schillers zu einer barocken theologischen Staatstragödie umzudeuten. In dieser neuesten Auslegung der „Räuber" ist von dem kollektiven Helden, der noch das Feld des Dramas bis zum Schluß als einzig unbesiegte Kraft behauptet, überhaupt nicht mehr die Rede. Dagegen wird die episodisch angelegte Figur des Pfarrers Moser in eine wahre Schlüsselstellung gehoben, die vorwärts und rückwärts den ganzen Verlauf und den theologischen Sinn des dramatischen Ablaufs zu beleuchten hätte. In dem Gespräch wird der Materialismus Franz Moors und mit ihm die eigentlich schuldhafte Grundauffassung der Aufklärung zu Gericht gezogen. Der Widerspruch zwischen der Weltauslegung der Herrschenden und ihrer politischen Sendung und Verpflichtung gegenüber einer gottgewollten Ordnung führt hier genauso zur Katastrophe wie in dem Versuch Karl Moors, ein Programm der utopischen Menschenbeglückung in einer räuberischen Praxis zu verwirklichen. So sind die tragischen Helden vor allem durch die Aufklärung und durch ihren Abfall vom Christentum schuldig

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geworden: mit der Sühne dieser Schuld, das heißt mit dem kathartischen Prozeß des Dramas, ist die Wiederherstellung der göttlichen Ordnung angebahnt, für die der reuig gewordene Karl Moor das letzte Wort und damit ein Zeugnis von unzerstörbarem Wert ablegt. Die Paradoxie dieser These ist mit der sonst so behutsamen Darstellung schlechthin unvereinbar. Zum ersten Mal in einer Schiller-Biographie wird die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts im breitesten Ausmaß als eine Quelle ersten Ranges vernommen. Demgegenüber hätte die unzulängliche Einschätzung der machtvollen Wirkung Rousseaus und vor allem Cervantes' auf Schillers Erstling nicht allzuviel zu bedeuten, wenn nicht die Gegenwart dieser Vorbilder in den Hauptgestalten der Räuber auf Schritt und Tritt sich aufdrängen würde. Um nur den zeitlich entfernteren Cervantes zu nennen: Schiller hat im Vorwort zu den „Räubern" ausdrücklich des Cervantesschen Romanes und seines Räuberhelden Roque Guinart Erwähnung getan. Aber der Zusammenhang beschränkt sich nicht nur auf die Figur des Edelräubers, der in Karl Moor neue Gestalt annahm. Die gesamte Konzeption der Räubergilde als einer Naturgesellschaft mit den verführerischen Zügen einer Freiheit und Solidarität verbindenden Gemeinschaft, deren utopische Existenz in vollem Gegensatz zu der bestehenden Klassengesellschaft erlebt wird, ist in der Cervantesschen Darstellung der Gilden und Bruderschaften vorgebildet, die ihre kollektive Freiheit am Rand der Gesellschaft behaupten. Wie bei Cervantes ist auch in Schillers Jugendtragödie die Gemeinschaftsbildung der Boden gegensätzlicher Haltungen. Zwischen Roque Guinart, dem Verbrecher aus verlorener Ehre, und den zynischen Hochstapeleien eines Gines de Pasamontes klafft der gleiche Abgrund wie zwischen dem amoralistischen Phantasten Spiegelberg und dem unbestechlichen, von Treue und Gerechtigkeitssinn durchdrungenen Schweizer. Gewiß war auch für Schillers Jugend der schwäbische Pietismus ein nicht zu unterschätzendes Bildungselement. Gerade diese Erscheinung ist aber in dem neuesten Schiller-Bild nicht richtig eingezeichnet. Der schwäbische Pietismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts hat überhaupt nichts gemein mit der mystischen Bewegung, die das Luthertum in der Zeit vor Gryphius und Lohenstein erfaßte. Die Häupter des schwäbischen Pietismus waren seit der Jahrhundertmitte der ältere Moser und Bengel, die beide an dem Freiheitskampf der württembergischen Stände entscheidenden Anteil nahmen. Auch in Schubart wird der Pietismus zum Stachel der Auflehnung und des Kampfes mit einer despotischen Staatsgewalt. Gerade Schubarts Einfluß auf den jungen Schiller ist unermeßlich. Die neueste Auffassung der „Räuber" setzt sich bedenkenlos hinweg über eine mehr als hundertfünfzigjährige, tief in unserer Nation

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verwurzelte Schiller-Tradition. Sie nötigt uns zu glauben, daß das während der Uraufführung von einem Fieber der Begeisterung geschüttelte Publikum die wirkliche Absicht des Dichters ebenso grausam verkannte wie auch der eigentliche Entdecker der „Räuber", der Mannheimer Intendant von Dalberg, der es nicht nötig gehabt hätte, die Zurückverlegung der Handlung in eine längst entschwundene Zeit vom Dichter zu fordern, wenn diese Handlung nur eine Läuterung der sittlichen Natur des bestehenden Ständestaates bezweckt hätte. Der Dichter der „Räuber" verdankt, wie der gesamte deutsche Sturm und Drang, sein ästhetisches Bewußtsein den Schriften Louis-Sebastien Merciers, der für das bürgerliche Drama ein theoretisches Fundament geschaffen hat. Es ist bezeichnend, daß Schiller Teile dieser Mercierschen Dramaturgie übersetzte. Bei Mercier fand Schiller die lebenslänglich festgehaltene Verpflichtung des Theaters auf die Moralisierung der Nation. Hier fand er außerdem die Verpflichtung des dramatischen Dichters, vor allem die literarisch sonst schwer erreichbaren Massen zu ergreifen. Dramatische Kunst ist Volkskunst. Schiller hat gerade diese Forderung Merciers in allerdings abgeschwächter und verkürzter Form übernommen. Sebastian Mercier, Du theatre, ou Nouvel essai sur l'art dramatique, Amsterdam 1773.

Schiller, Die Schaubühne als eine moralisehe Anstalt betrachtet, 1784.

„Ein Drama, das vollkommen sein soll, kann nicht genug dem Verständnis des Volkes zugänglich gemacht werden; es kann überhaupt nur eine Vollendung erreichen, wenn es überzeugend zu den Massen zu sprechen versteht. Das Volk wartet nur auf den Samen einer wirklichen Handlung, der durch die Flamme des Genies entwickelt wird. Das Volk braucht durchaus nicht in den Tiefsinn der Metaphysik, in das unermeßliche Chaos der Geschichte, in die neuartigen Wunder der Physik und der Astronomie eingeweiht zu werden; aber es fühlt lebhaft, es geht auf jedes Ding ein, es entdeckt die geheimen Beziehungen zwischen den Dingen und ist einer lebendigen und selbst feinfühligen Wahrnehmung fähig."

„Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchem von dem denkenden bessern Teile des Volkes das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet. Richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle fließen von hier durch alle Adern des Volkes; der Nebel der Barbarei, des finstern Aberglaubens verschwindet, die Nacht weicht dem siegenden Licht."

Was der jugendliche Schiller außerdem bei Mercier finden konnte, das war die Forderung, die niedersten Klassen des Volkes (les conditions les plus basses) darzustellen und den Abscheu vor dem Despotismus und vor

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seinen beflissenen Sklaven zum dramatischen Fanal zu machen. Mercier sagt dieserhalb: „Der Dichter muß den Despotismus verabscheuen und in all seinen Erscheinungsweisen bloßstellen, er muß seinen Haß vor allem auf diejenigen ausdehnen, die nicht genug Willenskraft und Rechtlichkeit besitzen, um zu empfinden, daß ein solches System die völlige Umkehr der menschlichen Grundrechte bedeutet. Er muß ebenso gegen den Tyrannen wie gegen seine Sklaven wüten, denn nur die Feigheit dieser macht es möglich, daß sich das Ungeheuer über ihre Häupter erhebt."85

Mit den „Räubern" war Schiller zweifellos so weit gegangen, als es die mangelnde politische Erfahrung seiner Jugendjahre überhaupt zuließ. Vor Schiller lagen die Versuche Diderots, Merciers, Lessings und anderer radikaler Spätaufklärer. In Diderots dramatischen Experimenten wird es besonders deutlich, daß der bürgerliche Konflikt zwischen Pflicht und Gefühl dadurch nicht tragischer wird, daß man ihm einen Kothurn verleiht. Lessing war in der „Emilia Galotti" entschieden weiter gegangen: der Konflikt entsteht jetzt zwischen den elementaren bürgerlichen Interessen und den korrupten Praktiken der absolutistischen Staatsführung. Das Ganze endet mit einem vernichtenden Urteil über eine Staatlichkeit, die einen Marinelli erzeugte — aber solch ein Urteil kann doch nicht gleichbedeutend sein mit der Aufhebung der bedrohlichen politisch-staatlichen Sphäre. Nicht die Verachtung der hierarchischen Macht, nur ihre Bezwingung hätte das Tor zum bürgerlichen Drama geöffnet. Aber wie sollte man sich vor dem Ausbruch der bürgerlichen Revolution eine dichterische Behandlung denken? Durch dieses unlösbare Problem wird auch die Schranke der Möglichkeiten des jungen Schiller sichtbar: Was er darstellt, ist auf der einen Seite die innere Zersetzung und völlige Vernichtung der despotischen Familie, nicht minder durch den Schwachsinn und die Romantik ihrer generösen Vertreter als durch den tyrannischen Egoismus ihres einzig energischen Repräsentanten — auf der anderen Seite zeigt Schiller alle Konsequenzen aus der Erkenntnis seines Helden, daß die Sache der Gerechtigkeit nur durch die Vernichtung der rechtlich bestehenden Gewalten gerettet werden kann. Damit ist der Weg zu der Kampfgemeinschaft der „Räuber" freigegeben. Doch wird es sich bald erweisen, daß eine solche Gemeinschaft in dem ihr überall aufgezwungenen Kampf nicht eben berufen ist, Blumen zu streuen, sondern Blut und Tränen und Ruinen auf ihrem Weg zurückzulassen. Die Kampfgemeinschaft der „Räuber" ist selbstverständlich nicht das Prinzip, das unangetastet, siegreich und zukunftsweisend aus dem Debakel des Despotismus hervorgeht. Sie ist selbst eine Erscheinungsform des Despotismus, von dessen Boden sie in ihren Kampfbewegungen nicht loskommt. Was werden

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würde, konnte im Jahr der „Räuber" auch Dichtermund nicht künden. Jedoch sind die überlebenden Räuber durch eine neue Erfahrung befähigt worden, sich in den Dienst einer neuen Unternehmung zu stellen, wer weiß, ob zum guten Ende! Die Repräsentanten des zur Freiheit und Selbstmacht gelangten französischen Volkes, die Monsieur Gilles in Weimar als Dichter der Freiheit mit einer Auszeichnung ehrten, waren sicher keine besonderen Kenner der deutschen Literatur. Und doch war ihre Entscheidung kein Fehlgriff! Als diese Botschaft verfaßt und abgeschickt wurde, war Frankreich bei Tag und Nacht von den in Brand gesteckten Herrenschlössern illuminiert. Nicht irgendwo in der französischen Provinz, sondern in den Kulissen eines deutschen Theaters war die erste Fackel in eine Zwingburg geworfen worden! In den letzten Jahren vor der Französischen Revolution war es vor allem ein Ereignis, das die Geister in Deutschland aufs stärkste beschäftigte: die Unterdrückung der von Weishaupt-Spartakus begründeten Illuminatenloge durch die kurbayrische Regierung. Es war seit langen Jahren die erste Gewalthandlung des deutschen Ancien regime gegenüber der Aufklärung. Die öffentliche Meinung begünstigte von vornherein die Sache der Verfolgten. Während Adam Weishaupt zuerst nach Regensburg und von dort nach Gotha floh, war die kurfürstliche Regierung nicht müßig geblieben. Durch einen glücklichen Griff hatte sich die Polizei der von Weishaupt mit den obersten Graden seiner Loge geführten Korrespondenz bemächtigt und dieses nur notdürftig gesichtete Material kommentarlos der Öffentlichkeit vorgelegt (1787). Die Wirkung auf die aufgeklärte deutsche Meinung scheint aber keineswegs den Erwartungen des Münchner Hofes entsprochen zu haben. Weishaupt wurde in seinem neuen Wohnsitz nicht belästigt und konnte ganz der Ausarbeitung seines Weltbildes und damit der Rechtfertigung seiner gewaltsam unterbundenen Praxis obliegen. Die Affäre der bayrischen Illuminaten ist jedenfalls eine der aufschlußreichsten Episoden in der Geschichte des vorrevolutionären Deutschlands. Wenn man der berühmt-berüchtigten Darstellung des Abbe Barruel („Memoires pour servir a Phistoire du jacobinisme", 1801) Glauben schenken dürfte, so wäre den bayrischen Illuminaten sogar die entscheidende Verantwortung für die Vorbereitung und für den Ausbruch der Französischen Revolution zuzuschreiben. Die gesamte französische Aufklärung — sagt Barruel einmal — sei nur ein Kinderspiel, gemessen an der Unterminierungsarbeit der deutschen Loge. Die These des Abbe Barruel würde unserem nationalen Selbstbewußtsein schmeicheln, wenn sie etwas anderes wäre als eine Probe des unerhörten Kombinationsvermögens und der außerordentlichen

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Befähigung zur konsequenten Systembildung, die ein hochgradiger Beziehungswahn für die Verwebung und Verstrickung eines immensen Materials in einen Zusammenhang von lückenloser Folgerichtigkeit aufbringt. Trotz all dieser sichtbaren Schwächen und inneren Unmöglichkeit ist auch dieses Zeugnis eines unmittelbaren Zeitgenossen wertvoll: als ein erregender Reflex der Atmosphäre politischer Hochspannung, in der sich das deutsche Geistesleben im neunten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts abspielte. Die politischen Hauptziele der bayrischen Bewegung hat Barruel aus dem gedruckten Aktenmaterial der bayrischen Regierung erschlossen. Kein Zweifel, daß Weishaupt letzten Endes den Abbau der Staatsgewalt in allen Ländern und die Entmachtung der Zwischengewalten erstrebte. Der Anarchismus ist die letzte politische Konsequenz dieser Reformgedanken, die ursprünglich nur Selbsthilfe und Bewahrung einer organischen Gesellschaft gegenüber dem Unvermögen einer staatlichen Zwangsordnung bezweckte. Als Endziel hat ein Zustand zu gelten, in dem die „Fürsten und Nationen ohne Gewalttätigkeit von der Erde verschwinden. Allgemeine Aufklärung und Sicherheit machen Fürsten und Staaten entbehrlich. Das Menschengeschlecht wird eine Familie und die Welt der Aufenthalt vernünftiger Menschen sein."86

In einem an die obersten Grade seiner Loge gerichteten Schreiben aus dem Jahre 1778 nennt Spartakus-Weishaupt seine Vorbilder. Platons Idealstaat, Thomas Morus' Utopie, der pazifistische „Weltbund des Abbe de Saint-Pierre sind die erhabenen Träume, deren Verwirklichung das Bekenntnis aller Menschen zum Kult der Natur voraussetzt. Das ist das letzte Ziel meines Unternehmens!"87 Denselben Sinn hat das Zitat Raynals, mit dem sich Weishaupt 1776 an seine Logenbrüder wendet: „Philosophen aller Nationen, ihr seid berufen, die Gesetze zu machen und sie euren Mitbürgern zu erklären. Habt den Mut, eure Brüder aufzuklären. Die Menschen werden in ihrer Hoffnung auf Glück euch begierig zuhören. Klärt sie über die Geheimnisse auf, die das menschliche Leben in der Knechtschaft und im Dunkel belassen, auf daß den Völkern allzumal die Augen aufgehen über das Spiel, das man mit ihrer Leichtgläubigkeit getrieben hat, und auf daß sie die Ehre des Menschengeschlechts rächen!"88

In all diesen Äußerungen erscheint die Erleuchtung und Aufklärung nur als Mittel zum höheren, politischen Zweck der allgemeinen Vereinigung. Daran hat Weishaupt auch in seinen nach der Unterdrückung der Loge verfaßten Schriften mit Nachdruck festgehalten — nur daß jetzt für ihn der Zeitraum der Verwirklichung in eine unbestimmbare Ferne entrückt ist. Nach wie vor bekennt er sich zu jenem Ziel, auf das die Tätigkeit des

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Ordens gerichtet war. Der Einwurf, daß dieses Ziel nicht ohne allgemeine Gärung und Verwirrung erreicht werden könnte, bestand nur so lange zu Recht, als der Plan einer revolutionären Verwirklichung der „allgemeinen Aufklärung" ins Auge gefaßt war: „Freilich, wenn das morgen schon und auf einmal geschehen sollte, da würde ganz gewiß die Verwirrung sonderbar werden. Da nun aber dies alles eine Sache ist, welche nie anders als nach und nach und vermutlich erst nach Jahrtausenden durch eine lange Reihe vieler auseinander entstehender Bedürfnisse geschehen kann, so ordnen sich in der Mittelzeit alle Dinge und Vorfälle auf eine Art, welche die wenigste Verwirrung nach sich zieht. Alles, was nicht bleiben soll, stirbt unmerklich dahin; alles ist in der Mittelzeit so vorbereitet und gestimmt, daß es diese Abänderung von selbsten verlangt."89

Zur Lokalisierung der deutschen Aufklärung Das Problem der Lokalisierung der deutschen Geistesbewegung hat keine lange Vorgeschichte. Sie reicht nicht weiter als bis zu Nadlers „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften", deren unhaltbare methodologische Voraussetzungen und Ergebnisse hier nicht mehr diskutiert zu werden brauchen. Nadlers Behauptung, die Aufklärung sei vom Osten ausgegangen, ist mit dem wirklichen Sachverhalt unvereinbar. Wir müssen vielmehr von einem simultanen Einsatz in Leipzig, in Hamburg und in Zürich sprechen. Mit diesem Beginn an drei dem höfischen Einfluß mehr oder weniger entrückten Punkten erledigt sich schon der erste nähere Bestimmungsversuch der Ausfallstellungen der neuen Bewegung: die Theorie des fürstlichen Ursprungs der Aufklärung. Sie konnte nur in flagrantem Widerspruch zur deutschen Wirklichkeit formuliert werden — ein Widerspruch, der allenfalls durch die kulturelle Tradition der Wettiner auf einem Punkt der deutschen Entwicklung durchbrochen wurde. Bei näherer Betrachtung muß aber festgestellt werden, daß in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht Dresden, sondern Leipzig die Hochburg der deutschen Aufklärung bildet. In Leipzig war aber der Einfluß des sächsischen Hofes so gut wie gar nicht zu spüren. Als kommerzielles Zentrum und als Mittelpunkt des über ganz Deutschland verzweigten Buchhändlervereins war Leipzig berufen, den Anstoß zur Entfaltung einer bürgerlichen und nationalen Literatur zu geben. In Leipzig hatte sich die deutsche Aufklärung das Instrument einer wissenschaftlichen Journalistik geschaffen, die in den Händen der Menckes neben Le Clerc und Bayle in Ehren bestehen konnte.

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Wie wenig Anteil die Fürsten an der literarischen Bewegung nahmen, das wurde 1784 von Riesbeck, dem „reisenden Franzosen", mit dürren Worten ausgesprochen: „Nichts hemmt die Entwicklung des Genies der Deutschen so stark als die Gleichgültigkeit der Fürsten gegen die deutsche Literatur."90 Ein Knotenpunkt der deutschen Aufklärung liegt in Leipzig und nicht in Dresden, in Berlin und nicht in Potsdam, in Stuttgart und in Tübingen und nicht in Ludwigsburg, in Hamburg und nicht in Kopenhagen, in Göttingen, nicht aber in Kassel oder in Hannover. Die Aufklärung ist unter den Augen, doch außerhalb des Gesichtsfelds und der Interessensphäre der deutschen Despoten emporgewachsen. Es war unausbleiblich, daß unter den tausend Despoten, die im 18. Jahrhundert über Deutschland regierten, sich dann und wann eine das Mittelmaß überragende Intelligenz durchzusetzen versuchte. Aber das Beispiel Josephs II. verrät, wie wenig ein guter Wille zu erreichen vermochte. Der Josefinismus ist niemals Verwaltungspraxis geworden. Die drei Mainzer Kurfürsten, die im 18. Jahrhundert gewählt wurden, waren von dem Gedanken der Aufklärung durchdrungen. Ihre Wirkung beschränkte sich aber auf den protestantischen Außenstand, den das kurmainzische Erfurt bildete. Für den Durchschnittsfürsten ist das Beispiel Karl Theodors von der Pfalz bezeichnend, der in Mannheim die Bestrebungen der Aufklärung mit allen Mitteln fördert und, nach München berufen, zum Mittelpunkt des bayrischen Zelotentums wird. Vor der Jahrhundertmitte konnte die deutsche Aufklärung schon darum keine Förderung an den Fürstenhöfen finden, weil sie noch kein vernehmliches Sprachrohr besaß, weil eine erwähnenswerte deutsche Literatur noch nicht oder nicht mehr existierte. Aber seit 1760 gab es eine deutsche Literatur, die im zeitgenössischen Frankreich gewürdigt, anerkannt und selbst gefeiert wurde. Die Aufklärung existierte nunmehr in Deutschland, aber die Fürsten (bis auf gezählte Ausnahmen) verstanden es nicht einmal, sich der neuen Kräfte in ihrem eigenen Interesse zu versichern, geschweige denn ihnen und damit der Zukunft der deutschen Nation in selbstloser Weise zu dienen. Wenn man von den haltlosen Versprechungen absieht, die Friedrich I. Leibniz machte, so gab es keinen preußischen König, der die deutsche Aufklärung ermutigt hätte. Friedrich Wilhelm II. besaß den traurigen Mut, ihr offen den Krieg zu erklären. Aber wie der Ausgang dieses Kampfes beweist, reichte die Macht des mächtigsten Souveräns nicht mehr aus, die Aufklärung mundtot zu machen. Wie eine nachträgliche Korrektur an dem von der Aufklärung offen bekundeten Mißverhältnis des geistigen Lebens der Nation zu ihren gekrönten

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Häuptern erscheint am Vorabend der endgültigen Liquidation der Revolution die enkomiastische Schrift eines kursächsischen Pastors: „Welche Verdienste erwerben sich noble (! — W. K.) Fürsten um die Wissenschaft?" Bezeichnenderweise muß der Verfasser auf die grellen Dissonanzen eingehen, die sich im Verhältnis der Wissenschaften zu den deutschen Potentaten herausgebildet hatten: „Ein sonderbares Vorurteil hatte vor wenig Jahren den größten Teil der gebildeten Menschheit ergriffen. Man glaubte, daß die monarchische Verfassung den Wissenschaften nachteilig sei. So manche Gelehrte wurden dadurch heimliche oder öffentliche Gegner der Alleinherrschaft im Staate und suchten sie durch Schriften und Deklamationen herabzusetzen. Weit mehr noch indessen als dieses wirkliche Gelehrte, Männer, die einen reinen Eifer für die Wissenschaften und ihre Fortbildung hatten, taten, geschah es von unruhigen Köpfen, welche jenes Vorurteil zum Vorwande bei ihren Angriffen auf die Monarchie brauchten. Dies brachte von der anderen Seite den Monarchen und ihren Freunden ein gegenseitiges Vorurteil bei. Sie glaubten, daß die Wissenschaften der monarchischen Verfassung nachteilig wären. Sie sahen in jedem Gelehrten einen heimlichen Feind aller Alleinherrschaft und aller Fürsten. Sie ahndeten sogar ein heimliches Bündnis, welches die Gelehrten untereinander geschlossen haben sollten, den monarchischen Verfassungen entgegenzuarbeiten und sie womöglich zu stürzen. Sie sahen zum Teil den Fall der Monarchie in einem der größten Länder Europens für eine Folge der Wirksamkeit dieses Bündnisses an. In jeder noch so unschuldigen Verbindung gelehrter oder gebildeter Männer glaubten sie Beziehungen darauf zu finden oder fürchten zu müssen. Nur wenige der gebildeten Fürsten Europens blieben ganz von diesem Vorurteile frei; die meisten wurden dadurch wenigstens kaltsinnig gegen die Wissenschaften und ihre Verehrer; und nur allein der Bildung, welche die meisten Fürsten selbst besitzen, haben wir es zu verdanken, wenn dies Vorurteil nur selten wirkliche Verfolgungen der Wissenschaften und der Gelehrten bewirkte."91

Die höfischen Mittelpunkte waren nicht die ersten Sammelpunkte der Aufklärung, sowenig sie sich der triumphierenden Bewegung verschließen konnten. Viel näher liegt es, an jene republikanischen Traditionsbereiche zu denken, in denen der Feudalismus schon Jahrhunderte vorher zurückgewichen war. Die Rolle der freien Reichsstadt in der deutschen Aufklärung ist ein Thema, das bisher keiner zusammenhängenden Untersuchung gewürdigt wurde. In Anbetracht der mangelnden Vorarbeiten beschränkt sich dieser Beitrag darauf, den Umriß einer neuen Fragestellung aufzuzeichnen. Von den 133 urkundlich ermittelten reichsunmittelbaren Städten waren im 18. Jahrhundert noch 51 vorhanden. Ihr innerpolitisches Regime war sehr unterschiedlich, ihre außenpolitische Macht war durch das von Karl V. erlassene Koalitionsverbot gebrochen. Im Gegensatz zu den italienischen hatten die deutschen Stadtrepubliken verabsäumt, ihre Macht durch planmäßigen Gebietserwerb zu vermehren. Daher gerieten sie durch den Aufstieg der Territorialfürsten in eine eiserne Umarmung. Der Innungszwang

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wirkte ebenso wie das patrizische Regiment der kapitalistischen Entwicklung entgegen. Das Verlangen nach einem möglichst ausgedehnten, innerlich geschlossenen Handelsraum fand in den eigenwilligen souveränen Zwerggebilden nur Hindernisse. Dennoch war in fast allen freien Städten im Laufe des 18. Jahrhunderts neues Leben erwacht. Der Kampf der Bürgerschaft mit der städtischen „Ehrbarkeit" wurde unter neuen Auspizien aufgenommen. Die sich mehrenden Übergriffe der benachbarten Territorien führten zu einer gewissen Verjüngung des republikanischen Widerstandsgeistes, der zwar das politische Schicksal der Reichsstädte nicht mehr aufhalten konnte, wohl aber der Aufklärung zugute kam. Die großen publizistischen Organe konnten zumeist nur auf reichsstädtischem Boden erscheinen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts nahmen Frankfurt und Nürnberg Fühlung miteinander auf, um — wie dies in den Glanzzeiten der reichsstädtischen Entwicklung an der Tagesordnung war — einer gemeinsamen Lage solidarisch zu begegnen. Der besondere Gegenstand eines diesbezüglichen Notenwechsels war die seit der Französischen Revolution in Deutschland wieder akut gewordene Frage einer Bücherzensur. Nachdem auch die protestantischen Staaten zu einer Präventivzensur zurückgekehrt waren, wurde die Druckfreiheit in den reichsstädtischen Enklaven von ihren mächtigen Nachbarn aufs schärfste angegriffen. Der Nürnberger Magistrat nahm es auf sich, den fortgesetzten Drohungen der zensurwütigen kurbayrischen Behörden zu widerstehen. Nürnberg galt als der wichtigste Stapel- und Umschlagplatz der revolutionären Literatur in Deutschland. Welche Stellung der Nürnberger Rat zu den Zeitereignissen einnahm, geht aus dem schneidenden Bescheid hervor, mit dem die Zusendung der gegenrevolutionären Schrift „An Teutschlands Bürger von allen drei christlichen Religionen über die französische Freiheitstyrannei" zurückgewiesen wurde. Der Verfasser wird vom Nürnberger Rat als ein „religiöser Fanatiker" bezeichnet, der „gegen politische Fanatiker zu Feld zieht".92 Nicht minder bezeichnend für die in Nürnberg herrschende Mentalität ist die Abweisung einer Denunziation, die dem Rat über eine im Druck erschienene Kritik an den Einrichtungen der freien Stadt vorlag. Der Magistrat kann in einer solchen Schrift „zumalen in Hinsicht der heutzutage fast in allen Staaten stattfindenden Preßfreiheit weiter nichts Ahndungswürdiges"93 finden. Die Einschätzung der deutschen Reichsstadt durch die deutsche Aufklärung war uneinheitlich. Während bei Nicolai, bei Wieland und vor allem bei Wekhrlin der satirische Tonfall überwiegt, während Klinger in seinem „Faust"-Roman die reichsstädtischen Sitten und Institutionen verhöhnte,

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waren Schlözer und Schubart sichtlich bemüht, jeden Fortschritt, gerade auf reichsstädtischem Boden, herauszustreichen. So berichten die „Staatsanzeigen" aus Memmingen über „ein ehrenvolles Beispiel, wie auch in den Reichsstädten, wo die Aufklärung doch mehr und mächtigere Widersacher wie anderswo hat, von einem entschlossenen Magistrat neue Verbesserungen alter verdorbener Stiftungen durchgesetzt werden können"94. Für Schubart war das nicht aufzuhaltende Schicksal der Stadtrepubliken ein nationales Verhängnis: „Wenn ich bedenke, daß Deutschlands Herrlichkeit erst aus den Reichsstädten aufstieg, und die Verdienste Nürnbergs, Augsburgs, Ulms, Hamburgs und Frankfurts um unser Vaterland in Rücksicht auf Wissenschaft, Kunst, Erfindungsgeist, Gewerbefleiß, Religion und erhaltner ernster Sitte auf die Waage lege; so möchte ich weinen, daß es vielleicht schon im nächsten Jahrhundert — keine Reichsstadt mehr gibt."95

Die Republiken Frankfurt und Hamburg sind die deutschen Hochburgen des Bürgertums: „Man denke nur an Hamburg und Frankfurt, wo sich unter der trefflichsten Regimentsverfassung Reichtum und Bürgerwohl gleich einem hellwogigten Strome verbreitet. Von Hamburg kam jüngsthin eine treffliche Beschreibung heraus, die die Größe und Glückseligkeit dieser Stadt mit einer Meisterhand zeichnete. Auch Fabers schöne Beschreibung von Frankfurt verdient von den Freunden des Vaterlandes vorzüglich geschätzt zu werden."96

Auch die ins einzelne gehenden Reportagen in Schubarts Journal ergeben ein günstiges Bild. So heißt es über Aalen: „Die Reichsstadt Aalen hat ihren ältesten Mann, der zugleich erster Bürgermeister war, namens Veyl, ein Sprößling des berühmten D. Veyl in Ulm, dicht an der Schwelle des 90sten Jahres verloren. Ein ehrlicher, altdeutscher Mann war er; lebte schlecht und recht und war Patriot und Christ, und das ist mehr, als hätt' er vergängliche Bücher geschrieben und als Kreisgesandter geschimmert. - Aalen hat sich seit langer Zeit durch seine treffliche Ökonomie, Gewerbsamkeit, Redlichkeit im Handel und Wandel, Barmherzigkeit bei einheimischer und fremder Not (man sehe die Listen der Kollekten! So fand ich noch nicht lange Augsburg mit 12 fl. und Aalen — mit 100 fl.) rühmlich ausgezeichnet, ob es gleich als ein kleines Städtgen nicht ausposaunt wird, auch nicht einmal Liebhaberin ist von Posaunenton." 97

Schubart hatte selbst entscheidende Jahre seines Lebens auf dem reichsstädtischen Boden von Aalen und in dem zu Ulm gehörigen Geislingen verbracht. Als er dem Anschlag des württembergischen Herzogs zum Opfer gefallen war, beklagte er das Schicksal seiner Geburt im Fürstenland; Schubart war überzeugt, daß eine Reichsstadt ihre Bürger noch zu schützen verstand.

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Geradezu enthusiastisch war Schubart von seinen letzten Reiseeindrükken in Ulm und Aalen angetan: „Schwer ging's von Ulm; denn in dieser Stadt herrscht eine Traulichkeit, die so ganz an den Brudersinn der Christusjünger grenzt. Das Wort Bruder und Schwester träuft von allen Lippen, und die Grenzlinien der verschiedenen Stände schlingen sich im herzigen Du wie Efeu und Rebenranken zusammen ,.."98

Auch in Aalen wird Schubart von der Erhöhung des ganzen Lebenstones ergriffen: „Das Posthaus war gedrängt voll, und auf der Straße war Menschengewimmel. Da lebt ich denn so ganz nach meines Herzens Lust unter Menschen, die sich auf dem Wipfel ihrer Eiche stark wiegten, die an dem Katarakte der Natur den Hut füllen und Mannkraft saufen, deren Selbstheit so fest gewurzelt ist wie die Berge, die sie umgürten, und die so laut sprechen, als wenn sie den Donner überschreien müßten."99

Im deutschen Süden waren reichsstädtische Siedlungen am dichtesten, im Gebiet des heutigen Württembergs und des bayrischen Landesteils Schwaben. Während das Bürgertum im Herzogsland den mutigen Kampf mit dem Despotentum aufgenommen hatte, erwuchsen auf reichsstädtischem Boden die neuen Impulse, die dann nach dem errungenen Sieg der landständischen Freiheit zu ihrer vollen Auswirkung gelangten. Von den freien Städten des Nordens gebührt Hamburg die wichtigste Stelle. Hamburg hatte seine ökonomische Bedeutung durch alle Krisen der Hanse hindurchgerettet. Hier wie auch in Frankfurt hatte das Patriziertum noch genügend geistige Beweglichkeit, um auch in Fragen der Literatur und der allgemeinen Aufklärung mit der Zeit zu gehen. In Hamburg konnte der erste Durchbruch einer neuen Geistesrichtung noch in der Formensprache der spätbarocken Lyrik erfolgen. Die Blüte von Oper und Schauspiel beweist, wie wenig die Entwicklung des Theaters an ein höfisches Medium gebunden war. Was Hamburg für Lessing und Klopstock bedeutet hatte, ist hinlänglich bekannt. In Hamburg wurde durch das radikale und republikanische Illuminatentum Knigges der Boden für eine Rezeption der Französischen Revolution vorbereitet. Der Hamburger Büchermarkt ist nach dem Ausbruch der Revolution dem politischen Schrifttum aus Frankreich ebenso geöffnet wie zuvor der französischen Aufklärung. Wo der Geschäftssinn des Großbürgertums die Enge des Kreises nicht durchbrechen konnte, war freilich die Aufklärung ebenso wie jede andere schöngeistige Regung verbannt. Das ist der Eindruck, den uns die Verhältnisse in Bremen am Ende des

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18. Jahrhunderts hinterlassen und den Knigge mit dem Versuch einer Ehrenrettung eher bestätigt: „Es ist eine Zeitlang wirklich Ton gewesen, in manchen Journalen von der Reichsstadt Bremen wie von einem Orte zu reden, wohin die Aufklärung noch gar nicht gedrungen wäre und wo die Menschen für nichts wie Geldgewinn, Essen und Trinken und alten reichsstädtischen Bocksbeutel Sinn hätten. Ich weiß nicht, ob irgendein paar schöne Geister, deren großen Verdiensten man hier vielleicht nicht volle Gerechtigkeit hat widerfahren lassen wollen, sich durch dergleichen Schmähungen an dem Publico zu rächen gesucht haben; aber das weiß ich, daß die guten Bremer, teils aus Bescheidenheit, teils weil sie es nicht für der Mühe wert gehalten, auf jene Beschuldigungen nicht viel geachtet haben und ihren stillen Gang fortgegangen sind. - Wenn wahre Aufklärung darin besteht, daß die Menschen bei Ausbildung ihres Verstandes vorzüglich die Anwendung ihrer Kenntnisse auf ihren Beruf im bürgerlichen Leben vor Augen haben; wenn man einer Stadt nicht den Vorwurf von Barbarei und Verfinsterung machen darf, wo es eine Menge wahrhaftig gelehrter und in allen Zweigen nützlicher Wissenschaften erfahrener Männer gibt; wenn derjenige Grad von Kultur der wünschenswerteste ist, welcher nicht auf Unkosten der Sittlichkeit und echter teutscher Redlichkeit erkauft wird, so gehört Bremen gewiß unter die aufgeklärten Städte. Allein durchreisende Fremde haben oft gesagt, daß sie hier in Gesellschaften einen gewissen leichten Ton im Umgange, Lebhaftigkeit und Witz in der Unterhaltung vermissen — und sie haben recht gehabt. Indessen ist diese Erscheinung nicht schwer zu erklären. Ein geschärfter Witz und eine gewisse angenehme Geschwätzigkeit sind Kinder des Müßiggangs, des vervielfältigten Studiums der schönen Wissenschaften und des häufigen Umgangs mit Fremden, die bloß aus Vergnügen reisen. Nun gibt es hier wenig untätige Menschen, wenige, welche Schöngeisterei und Modelektur zu einem Hauptgegenstande ihres Bestrebens machen; endlich liegt Bremen so außer dem Striche, den die durch Europa kutschierenden müßigen Zugvögel zu nehmen pflegen, daß mehrenteils nur solche Fremde hierherkommen, die Handlungsgeschäfte führen. Folglich werden die Köpfe der hiesigen Einwohner nicht häufig mit jenen angenehmen Kleinigkeiten und lustigen Schwanken angefüllt, sondern sind mehr auf ihre Berufsgeschäfte und auf ernsthafte Gegenstände gerichtet."100

Noch günstigere Voraussetzungen als die freien deutschen Städte gewährten der Aufklärung die außerhalb der deutschen Staatsgrenzen gelegenen Schweizer Kantone. Der Beitrag der literarisch und wissenschaftlich tätigen Schweizer gehört zu den stärksten Aktivposten der deutschen Geistesbewegung. Von einer zusammengefaßten Wirkung der Schweizer Literatur auf die deutsche ist allerdings keine Rede. Das literarische Ambiente verschiebt sich von einer Stadt zur ändern, von einem Kanton zum ändern. Im konservativen Bern ist Albrecht von Haller verwurzelt, unter dessen Bann noch der junge Lessing stand. In Basel dominiert das wissenschaftliche Interesse (Bernoulli, Euler, Merian, Beguelin, Iselin); von Zürich gehen die entscheidenden Impulse auf die deutsche Dichtung aus. Bodmer und Breitinger erlangen durch ihr Bündnis mit Hamburg eine deutsche Groß-

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machtstellung. Das volle Bürgerrecht in der literarischen Republik war Klopstock erst durch die Wallfahrt nach Zürich zugefallen. Und noch ein halbes Jahrhundert später hofft Knigge die innere Legitimierung für die Illuminaten durch ein anerkennendes Wort Lavaters zu gewinnen. Im Gegensatz zur äußerst aktiven und vielfach richtunggebenden Beteiligung der Schweizer an der deutschen Literatur und am wissenschaftlichen Leben konnten sie in philosophischer Hinsicht nur die empfangenen Einflüsse weitergeben und verstärken. Die deutsche Philosophie, das heißt der Wolffianismus, herrschte in der deutschen und teilweise auch in der französischen Schweiz. In dem geistig aufgeschlossenen Neuchätel sind die Traditionen der deutschen Philosophie durch Vattel vertreten. Dagegen wird in dem orthodoxen Lausanne ein ähnlicher Kampf mit dem Wölfischen Rationalismus geführt, wie ihn die Pietisten in Halle entfesselt hatten. Bei dem Versuch, die deutsche Aufklärung in ihrer zeitlich-räumlichen Konfiguration herauszuarbeiten, wird man den Einfluß der Konfessionen und ihrer ganz Deutschland zerklüftenden Gegensätze nicht umgehen können. Ist nicht die Aufklärung überhaupt verweltlichtes religiöses Denken (Säkularisation)? Wir glauben die gesellschaftliche Wurzel der deutschen Aufklärung hinlänglich aufgedeckt zu haben, um uns der Suggestion einer so maßlos vereinfachten Erklärung zu erwehren. Das Phänomen der Säkularisation ist mindestens seit dem Humanismus in allen Geistesbereichen ein konstantes. Die Aufklärung hat weder in England noch in Frankreich und am allerwenigsten in Deutschland die Religion beseitigt. Wir müssen uns vielmehr fragen, welche gesellschaftliche Funktion der Religion im 18. Jahrhundert überlassen blieb ... Dazu tritt ein anderer Gesichtspunkt: die Aufklärung ist ihrem Wesen nach Oppositionsliteratur. Mit ihrem Erscheinen ist eine mehr als tausendjährige Überlieferung des geistigen Konformismus durchbrochen. So ist es nicht verwunderlich, daß sich die Aufklärung zunächst in der einzig zulässigen und überlieferten Diskussion hervorwagte, daß sie zunächst im Kielwasser der religiösen Kontroversen einhertreibt. Das Eröffnungsgespräch der Aufklärung wird in Frankreich durch den Jansenismuskonflikt bestimmt, in Deutschland durch die Kontroverse zwischen Katholiken und Protestanten und innerhalb des Protestantismus durch den Kampf der mystisch-pietistischen und der orthodoxen Richtung. An und für sich betrachtet, ist es nicht möglich, in der einen oder anderen Konfession den Keimpunkt einer aufklärerischen Meinungsbildung herauszufinden. Man hat versucht, die Aufklärung als eine Fortführung der Reformation zu begreifen. Wie aber erklärt sich dann die Macht, die diese Bewegung in den nichtrefor-

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mierten Ländern, in Frankreich und Toskana erlangte? Der protestantischen Ursprungstheorie ließ sich die katholische entgegensetzen, die in der Aufklärung gerade die nachgeholte Reformation der katholischen Nationen erkennen möchte. Die Aufklärer selbst konnten an der auffälligen Verschiedenheit von Gebieten mit unterschiedlichen Konfessionen nicht vorbeigehen. Aber sowohl Nicolai als auch Riesbeck dachten nicht daran, den Reichtum ihrer Beobachtungen über die deutschen Verhältnisse in ein so grob geflochtenes Netz zu schütten. Auf seiner Reise nach Süddeutschland sieht sich Nicolai gezwungen, trotz theoretischer Ablehnung aller Vorurteile gegen die Katholiken, auf protestantischen Gebieten immer wieder größere Aufgeschlossenheit und bürgerliche Regsamkeit festzustellen. Die Unterschiede in der gesamten Entwicklung ließen sich im Übergang von Sachsen nach Bayern, von Bamberg nach Erlangen nicht wohl in Abrede stellen. Nicolai geht so weit, von einer Verschiedenheit der Nationalphysiognomien zu reden. Schlözer bezieht sich in seinen „Staatsanzeigen" auf Nicolais Bemerkung in seiner Reisebeschreibung: „Über den Unterschied in der Gesichtsbildung katholischer und protestantischer Einwohner in Deutschland unter den niederen Volksklassen". Die katholischen Frauen seien liebenswürdiger und verliebter als die protestantischen, was damit zusammenhinge, daß ihre Andacht ein „verliebter Affekt" sei. Dagegen „sehen die Mannspersonen finstrer, drohender, melancholischer, verdrießlicher aus als ihre protestantischen Geschlechtsgenossen".101 Es fehlte ihnen ein entsprechendes Kultobjekt — die Jungfrau Maria stehe zu hoch, um verliebte Empfindungen zu erregen. Naturgemäß führten die religiösen Gegensätze und Kontroversen nur dort zum Ausbruch aus dem Kreislauf der religiösen Gedanken, wo ein gemeinsamer Boden bestand, um den man kämpfte. Im Verhältnis von Protestantismus und Katholizismus blieb nichts Gemeinsames übrig, um das gerungen werden konnte. Die Kontroverse steigerte nur den Fanatismus der unversöhnlichen Konfessionen. Viel wichtiger ist die Zersetzung der einzelnen Konfessionen, die selbst von Widersprüchen zerrissen wurden. In Frankreich fällt seit dem Ende des 17. Jahrhunderts der Streit zwischen den Jansenisten und den Jesuiten, den Quietisten und den Rigoristen, den Gallikanern und den Ultramontanen mit den ersten Regungen der Aufklärung zusammen. Es ist nicht nur die Auflösung der kirchlichen Gläubigkeit in einem Kampf von Weltanschauungen, sondern die fortwährende Infragestellung eines bis dahin unbestrittenen, geruhsamen Besitzes an religiösen Grundüberzeugungen, die eine der Aufklärung günstige Atmosphäre der Spannung und der Beunruhigung erzeugte.

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Die Weltanschauung In Deutschland sind in derselben Zeit aus dem Luthertum Gedanken hervorgewachsen, von denen gewaltige Wirkungen auf den Kampf der Aufklärung ausgehen mußten. Mit der Erstarkung des Bürgertums verstärkt sich die kritische Haltung der Gläubigen gegenüber der ganz dem autoritären Stil der absolutistischen Staatlichkeit verfallenen Kirche. Die scholastische Erstarrung der Orthodoxie rief neue Kräfte auf den Plan, die später im Pietismus das Kirchenleben zu aktivieren versuchten. Das Verhältnis von Pietismus und Aufklärung ist oft behandelt worden. Entscheidend sind aber die mächtigen Wirkungen, die vorher von der 1699 erschienenen „Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie" Gottfried Arnolds ausstrahlten. Gottfried Arnold geht als ein Vorläufer dem Pietismus voraus, den er jedoch mit dem Radikalismus und der Geschlossenheit seiner wagemutigen Gedanken weit hinter sich läßt. In Gottfried Arnolds Werk, besonders aber in seiner „Kirchen- und Ketzerhistorie", ist der Gegensatz zwischen Kirchentum und Christlichkeit bis auf die Spitze getrieben; er führt zur völligen Verneinung des religiösen Charakters der kirchlichen Institutionen, die nur noch das negative Interesse einer satanischen Schöpfung verdienen. Der Name Gottfried Arnolds gehört auf die erste Seite einer jeden geschichtlichen Darstellung der deutschen Aufklärung. Die Forderung der Toleranz ist bei ihm — wie in Frankreich bei Bayle — zu einer geistigen Schlüsselstellung geworden. Gottfried Arnold ist Mystiker und Spiritualist; jedoch erschließt er der Mystik und dem Spiritualismus eine neue Dimension. Bis dahin beschränkte sich die mystische Verneinung der äußeren Zeremonien und der kirchlichen Praxis auf einen individuellen Rückzug in eine hermetische Innerlichkeit; Gottfried Arnold unternimmt dagegen den offenen Angriff auf den gesamten vergangenen und gegenwärtigen Bestand der kirchlichen Einrichtungen und Traditionen: ihrem Satanismus steht die ganze Phalanx der in hoffnungsloser Vereinzelung kämpfenden Verfechter der menschlichen und christlichen Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber. In dieser Ketzergeschichte wird über die Kirche aller Jahrhunderte Gericht gehalten; die freien und verfolgten Geister aus allen Zeiten erscheinen als Kläger. Sie sind zugleich die Träger der wahren Kirche, die Verkörperung des wirklichen Christus, die Gegenwart der wahren und wirklichen Menschheit. Die Heterodoxen selbst sind allerdings keineswegs vor dem niedergehenden und die Ursprünglichkeit der Botschaft verratenden und verfälschenden Schicksal einer jeden Massenbewegung gesichert. Solange die Gemeinschaft durch soli-

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darische Impulse zusammengehalten wird, ruht aller Segen auf ihr. Indessen wurden die meisten Bewegungen durch äußere Expansion zur Gewalttätigkeit und zur Parteienbildung verführt. Das gilt auch für die einzelnen Denker, die, durch Hybris aus der Bahn gedrängt, in innere Widersprüche verfallen. Gottfried Arnold weicht nicht vor der äußersten Konsequenz seiner kirchenfeindlichen Einstellung zurück: die wahre Kirche ist überall da zu suchen, wo gegen die Kirche gekämpft wird, auch wenn dieser Kampf von einem außerkirchlichen Raum aus erfolgt und im weltanschaulichen Atheismus endet: so Servet, so Vanini, so Spinoza. Man muß hier freilich fragen, in welchem Sinn von Atheismus gesprochen werden kann, wenn doch der eigentliche Atheismus bei den zelotischen Hütern der Kirchlichkeit liegen soll. Tatsächlich ist der weltanschauliche Atheismus für Gottfried Arnold nur durch ein verfehltes Selbstverständnis zu erklären. Der Kampf mit dem satanischen Prinzip der Kirche wird niemals ohne göttliche Inspiration begonnen. Das wird besonders an der Darstellung der inneren Widersprüche Spinozas hervorgehoben. In jedem Fall ist angesichts der Alternative von kirchlichem Fanatismus und Atheismus die Entscheidung Gottfried Arnolds zugunsten des letzteren getroffen. Das ist die gleiche Position, die Bayle in seinem fast gleichzeitigen „Dictionnaire" (1697) einnimmt. Die Konsequenzen einer solchen Haltung sind unermeßlich. In Arnolds Ketzergeschichte wird über die Hussiten, Wiedertäufer, Sozinianer und Atheisten ohne Groll, ja sogar mit einer gewissen Bereitschaft zu ihrer Rehabilitierung gesprochen. Man fragt sich, wie es möglich war, daß solch ein Buch unwidersprochen oder unverfolgt in deutschen Landen erscheinen konnte. Das Buch wurde angefochten, doch ohne daß die Person des Verfassers gefährdet war. Er starb in Perleberg, von der Liebe einer Gemeinde getragen, die ihn einmütig zum Pastor gewählt und dafür die Bestätigung vom preußischen König erhalten hatte. Die unbedingte Konsequenz in der Lebensführung Arnolds, seine völlige Mißachtung aller äußeren Ehrungen und Würden entwaffneten die Feindschaft auch derer, die in seiner Ketzergeschichte die gefährlichsten Zündstoffe aufdeckten. Sie nannten ihn „Antichrist", „haereticorum defensor perpetuus", „Anhänger des völligen Indifferentismus" gegenüber allen religiösen Satzungen und Geboten. Man stellte fest, daß alles Kultische, das doch den Inbegriff des Religiösen bildet, von ihm mißachtet wurde: „Religionem coluit miscellaneam aut nullam." Vor allem aber wurde ihm seine unterschiedslose Vorliebe für alle Häretiker vorgeworfen. Die rationalistische Doktrin der Sozinianer war ja mit ebensolcher Hochachtung behandelt wie die quietistische Praxis der modernen

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Mystik vom Typus des Molinos und der Madame Guyon. Tatsächlich berühren sich in Gottfried Arnolds Theologie die Gegensätze der radikalen Mystik und des extremen Rationalismus. Die Innerlichkeit, die jede Symbolik und alles kultische Wesen von sich weist, wird schließlich auf die bloße Erkenntnis des außer ihr Seienden, das heißt auf den Ausgangspunkt der Cartesianischen Cogitatio, zurückgeworfen. Die orthodoxe Verurteilung konnte die Wirkung der „Ketzerhistorie" auf die Mit- und Nachwelt in keiner Weise beeinträchtigen. Für Christian Thomasius war der Haß der protestantischen Dogmatiker nur eine Empfehlung. Er bekennt sich zeitlebens zu Gottfried Arnold. Auf Arnold beruft sich Dippel; aber auch Mosheim, der erste Verfasser einer aufklärerischen Kirchengeschichte, konnte seine Abhängigkeit von Arnolds „Ketzerhistorie" nicht verleugnen. Gewiß sind in Arnolds Werk Intentionen einer wahren Geschichtlichkeit nicht zu verspüren. Da mit der beginnenden Kristallisierung von Überzeugungen zu kirchlichen Institutionen und kultischen Überlieferungen schon der Weg des Verderbens beschritten wird, muß sich der Mensch, der sich von den Impulsen seiner ursprünglichen Reinheit leiten läßt, in fortgesetztem Kampf mit den konkreten Bindungen der geschichtlichen Welt bewähren. Trotzdem war eine so radikale Kritik an allen Formen des religiösen Lebens die wichtigste Voraussetzung für das Gelingen einer wahrhaft historischen Konzeption der Kirchengeschichte. Die Sprengkraft der Arnoldschen Gedanken wird in Johann Christian Edelmanns Schriften offenkundig. Auf der anderen Seite blieb die Aufklärung durch den Pietismus auf die traditionellen Formen des christlichen Denkens verpflichtet. Während Fontenelle, Freret und Voltaire bei ihrer Auslegung der menschlichen Frühgeschichte den biblischen Bericht mit einer ironischen Gebärde beiseite schieben, bleibt die Anschauung Edelmanns und Lessings ganz und gar in den von Luther gewiesenen Bahnen einer kritischen Bibelbetrachtung befangen. Auch der von Edelmann und von dem später spinozistischen Lessing vertretene Atheismus wird noch theologisch verrechnet. Edelmann hatte alle weltanschaulichen Fesseln bis auf die letzte gesprengt, die seinen Gedankenflug an eine obsolete Begrifflichkeit kettete. Dem geoffenbarten Glauben an die göttliche Transzendenz setzt er die Immanenz der Gottheit in allem Sein gegenüber. Für Edelmann gibt es nur eine einzige Dimension der Erfüllung, die unsere Wirklichkeit selbst ist. Aber das Bekenntnis zur Diesseitigkeit erscheint noch immer in der Terminologie der religiösen Apologetik verschlüsselt. Das Wort Atheismus kennzeichnet für Edelmann nicht das schlichte Bekenntnis zum Diesseits,

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sondern die gauklerische Gottesvorstellung der Pfaffen und Priester, die ihre erschlichene Macht nur durch den Jenseitsglauben befestigen können. Edelmann sieht im Christentum den ärgsten Verrat an der Lehre Christi. Was ihm Christus bedeutet, wird klar und bündig gesagt: die Forderung, immer die Wahrheit zum Richtmaß des Denkens zu nehmen — die Verwerfung der Intoleranz und aller theologischen Totalitarismen: „Er war sanftmütig, sie (die christliche Lehre — W. K.) ist unfreundlich; er war demütig, sie ist hochmütig; er war leutselig, sie ist feindselig; er war gelind, sie ist grausam; er liebte, sie hasset; er überzeugte die Leute, sie zwingt sie, blindlings zu glauben; er machte nichts aus Zeremonien, sie gibt sie für unentbehrliche Mittel zur Seligkeit aus; er machte keine Ketzer, sie alle Tage neue; er stützte sich auf keinen weltlichen Arm, sie kann ohne denselben nicht bestehen; er verfolgte niemand, sie, wo sie nur kann und mag. Ei, ist denn so gar niemand unter so viel tausend vernünftigen und klugen Leuten, der einmal auch öffentlich zum Preise Gottes und der Wahrheit und zur Rettung der Ehre unseres unschuldigen Jesu mit bezeugte, wie schändlich wir bisher unter dem Namen einer von ihm gestiftet sein sollenden Religion von eigennützigen und herrschsüchtigen Menschen betrogen worden? Kann man denn so gar nicht sehen, daß, wann der Herr Jesus mit dergleichen Dingen schwanger gegangen wäre, er seine Sachen notwendig anders angestellt haben würde und müßte, als er wirklich getan? — Wir sehen ja aber aus seinem, von uns selbst kanonisierten Lebenslaufe gar zu deutlich, daß ihm sonst nichts den Hals gebrochen, als weil er den betrügerischen Pfaffen seiner Zeit keine Herrschaft über die menschlichen Gemüter einräumen wollen. Wenn er nun andere Pfaffen gemacht hätte, die er den damals herrschenden seines Volkes mit ebensolcher Gewaltsamkeit entgegengesetzt hätte, wie es lange nach seinem Tode seine vermeinten Nachfolger getan, so würde er freilich den Namen des Stifters einer neuen Religion mit allem Rechte tragen müssen. Da er aber eben um deswegen, weil er die Menschen von dem unerträglichen Pfaffenjoche zu erlösen gesucht, sein edles Leben darangewagt, so verdienet ja wahrlich diese heroische und mit Verlust seines Lebens versiegelte Aufführung noch wohl so viel Aufmerksamkeit von einem vernünftigen Gemüte, daß es einen Mann, der von allem, was unsere dermaligen Pfaffen tun, gerade das Gegenteil getan und eben um deswillen von diesen Unholden aufgeopfert worden, nicht für einen Stifter und Urheber einer gleichmäßigen mörderischen Rotte ansehe. Denn er hätte ja als ein von dem politischen Regimente selbst für unschuldig erklärter Mann sich gar mit leichter Mühe aus dem ganzen Handel wickeln können, wenn er hätte heucheln und der herrschenden Klerisei seiner Zeiten nur im geringsten nachgeben wollen. Gleichwie er aber damit alles wieder verdorben haben würde, was er bei denen, die ihn fassen konnten, gut gemacht, also ist auch offenbar, daß er durch diese Beständigkeit weit mehr getan als alle Pfaffen, die sich rühmen, seine Nachfolger zu sein. Denn keiner derselben hat noch um der Wahrheit willen sein Leben gelassen oder nur begehrt zu lassen, wie unser Jesus getan, und darum ist auch offenbar, daß ihrer keiner mit Recht sich rühmen kann, sein Nachfolger zu sein."102

Hatte Gottfried Arnold die wahre Gotteskindschaft in jedem Abfall von der herrschenden Kirchlichkeit zu finden geglaubt, so fordert die Wahrheit Edelmanns die Verwerfung des Glaubens an und für sich, da jeder Glaube

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seinem Wesen nach intolerant ist. Die Emanzipation des menschlichen Lebens von aller übermenschlichen Bestimmung, die endgültige Befreiung des Denkens von allen theologischen Restbeständen war das unausweichliche, aber lange verzögerte Ergebnis dieser ganzen Gedankenbewegung. Was im verweltlichten Denken der französischen Aufklärung den Grundstein und Ausgangspunkt für den gedanklichen Ausbau der „civitas humana" bildet, das erscheint in der deutschen Ideologie erst als das Endresultat, um das immer von neuem gekämpft werden muß. Der Pietismus, der Gottfried Arnold als seinen Patriarchen verehrte, hatte schon in der folgenden Generation seine Herkunft so sehr vergessen, daß er seine philosophischen Gegner mit den altbewährten Methoden des Ketzermachens, mit Denunziationen und höfischen „Kabalen" bekämpfte. Der Gegensatz zum Rationalismus, der in Arnolds „Kirchen- und Ketzerhistorie" durchaus beseitigt war, wird nunmehr von den pietistischen Theologen mit aller Schärfe im Bündnis mit der orthodoxen Dichtung ausgetragen. Der vorübergehende Erfolg der Vertreibung Christian Wolffs aus Halle konnte jedoch den Siegeslauf dieser Philosophie nicht mehr aufhalten. Der Rationalismus Wölfischer Prägung entsprach dem Bedürfnis der deutschen Mentalität, die nicht zum Bruch von Wissen und Glauben, sondern zu ihrer systematischen Verbindung drängte. Sicher besaß Christian Wolff alle Eigenschaften, um seinem Denken die Schlüsselstellung in der deutschen Geisteswelt zu erkämpfen. Kaum je ist der Anspruch auf die gedankliche Bezwingung von Gott und Welt und all dem, was die Menschen angeht, mit einer so unerschütterlichen Selbstsicherheit erhoben worden. Sachlichen Widerspruch kann es gegen seine Lehre nicht geben. Eines Tages wird die ganze Welt so urteilen müssen, „wie jetzund Gelehrte von Einsicht urteilen, die kein widriger Affekt antreibt, anders zu reden, als sie gedenken"103. Ein so triumphalisches Selbstbewußtsein verschmäht die Krücken fremder Autoritäten. Christian Wolff zitiert in seinen zahlreichen Werken nur Christian Wolff. Sicher ist dieses Selbstbewußtsein so tief von der Berufung zur Wahrheitsfindung durchdrungen, daß sich der Vorwurf einer maßlosen Eitelkeit erübrigt. Vielmehr kam es in dem von törichtem Adelsstolz regierten Deutschland darauf an, die Achtung vor dem Wissen und den Wissenschaftlern mit allen Mitteln zu befestigen. Wie in allen rationalistischen Systemen kann auch für Wolff nur die mathematische Methode Gewißheit bringen. Sie beruht auf dem einzigen Grundsatz des ausgeschlossenen Widerspruches. Ihr Objekt ist alles Mögliche — alles Mögliche zunächst im verwegensten und dann in der Auswir-

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kung im trivialsten Sinn dieses Wortes. Das Kriterium der Erkenntnis bleibt die Cartesianische Evidenz, die aber nicht erst durch Zweifel gewonnen werden muß, sondern ihr Licht auf die Siegesstraße der Wahrheitserkenntnis vorauswirft. In diesem Sinn sagt Gottsched, für die Bemühung eines Descartes und eines Spinoza sei „auch der Name einer Morgenröte noch viel zu rühmlich, wenn man sie mit dem hellen Tag der Wolffischen Lehrart vergleicht"104. Das Übergreifen des philosophischen Verstandes auf den gesamten Glaubensbereich mußte indessen über kurz oder lang zur Auseinandersetzung mit der Orthodoxie und dem Pietismus führen. Den letzten Anlaß zum Ausbruch der Feindseligkeiten hatte Wolff bei der Übergabe des Prorektorates mit einer Rede über die Moral der Chinesen gegeben. Die Tendenz des Vertrags ergab sich schon aus dem Thema sowie aus der jesuitischen Quelle, in der schon das „lumen naturale" der klassischen chinesischen Moralisten verherrlicht war. In dem über Wolff von seinen pietistischen Gegnern entfesselten Sturm erbrachte die philosophische Aufklärung ihre erste Bewährungsprobe. „Wolff ist", wie Hegel sagte, „der Lehrer des Verstandes unter den Deutschen gewesen ... Für Deutschland hat er die Welt des Bewußtseins definiert."105 Die Befestigung der philosophischen Grundbegriffe in den Köpfen der Deutschen war aber vor allem das Ergebnis der sprachlichen Arbeit, die in den Augen der Nachwelt Christian Wolffs philosophisches Verdienst noch überstrahlt. Mit Recht wird dieser Aspekt in Buhles Philosophiegeschichte hervorgehoben: „Auch ist er in der Tat bei seiner Erfindung einer deutschen Terminologie überaus glücklich gewesen, denn bei weitem die meisten seiner Kunstwörter sind in der Folge beibehalten worden, ob man gleich oft den Sinn anders als er bestimmt hat."106 Noch in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts erfolgte die Eroberung der wichtigsten deutschen Bildungsstätten durch den Wolffianismus. Bilfinger trug die Lehre nach Tübingen, übernahm den vom Meister selbst in Marburg bekleideten Lehrstuhl, während dieser, durch den Thronwechsel ermuntert, nach Halle, der Stätte seiner ersten Siege und Niederlagen, zurückkehrte. Die Bollwerke des pietistischen und orthodoxen Widerstandes waren damit bezwungen. In Göttingen (durch Riebow), in Braunschweig (durch Harenberg), in Kassel (durch Thümmig), in Leipzig (durch Ernesti), in Jena (durch Rensch), in Frankfurt (durch Heineccius), in Erlangen und Helmstedt wurde die Lehre Christian Wolffs verbreitet. Sie war die Philosophie des protestantischen Deutschlands; ihre Herrschaft wurde durch den Platonismus Mendelssohns erneuert und erst durch die kritische

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Philosophie nach langen und zähen Verteidigungskämpfen endgültig gebrochen. Der Wolffianismus hat die Entrümpelung der deutschen Gehirne vom Sperrgut der Scholastik herbeigeführt. Die Disziplinierung dreier Generationen, die durch diese Schule gegangen waren, hat als eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Gedeihen einer klassischen und nationalen Literatur zu gelten. So ist der besondere Weg der deutschen Geistesentwicklung im 18. Jahrhundert durch die Konjunktion von Rationalismus und Aufklärung vorgezeichnet. Die rationalistische Oberströmung sollte die Tonart des geistigen Durchschnitts in Deutschland bis in die Zeit der Weimarer Klassik bestimmen. Bis zur Jahrhundertwende blieb es bei dieser weltanschaulichen Konstellation, die auch vereinzelter Widerspruch noch nicht zu durchbrechen vermochte. Gewiß war es unausbleiblich, daß auch im wolffianischen Deutschland die wirklichkeitsnähere Methode des Sensualismus einzelne Anhänger fand. Andreas Rüdiger, Mediziner und Philosoph, bekämpft als erster die unangemessene Übertragung der mathematischen Methode auf die Philosophie. Nicht das Mögliche, sondern das Wirkliche bildet für ihn den Gegenstand aller Erkenntnisbemühungen, da wir nicht zuerst das Wesen der Dinge begreifen. Erst wo die Begriffe sich mit den sinnlichen Wahrnehmungen decken, ist Wahrheit gesichert. Trotz solcher und anderer Symptome eines sensualistischen Widerstandes war die Ästhetik das einzige Gebiet, auf dem der Rationalismus in die Enge getrieben wurde. Der entscheidende Anstoß kam hier aber aus Frankreich, von Dubos' „Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture", wo der Nachweis der Unzulänglichkeit der „geometrischen Methode" für die Beurteilung der Kunst erbracht war. Dennoch versuchte Baumgarten das Wolffianische Fundament auch für die Ästhetik zu retten, indem er die Geschmacksurteile aus einem spezifischen „sensitiven" Erkenntnisvermögen ableitet. Während die deutsche Ästhetik durch Baumgarten auf den Wolffianismus verpflichtet wurde, zeigt der deutsche Anteil an der Ausarbeitung des geschichtlichen Weltbildes die Schranke des Wolffianischen Rationalismus. Nicht als ob aller Rationalismus geschichtsblind wäre, wurde doch der Cartesianismus der erste Entwurf einer Fortschrittstheorie. Für Christian Wolff bleibt dagegen die Welt der Geschichte, was sie schon für die Humanisten gewesen war: eine Faktensammlung, die nur durch paradigmatische Einzelzüge einen höheren Zweck, den Zweck der Moralisierung, erfüllen kann. Wenn Christian Wolff bei einer Gelegenheit das Geständnis macht, über die nötigen Geschichtskenntnisse für die Illustration seiner philosophischen

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Thesen nicht zu verfügen, so soll damit die philosophische Irrelevanz des geschichtlichen Weltbildes bekundet werden. Der Gedanke der Perfektibilität wird nur im individuellen Leben des Einzelmenschen, nicht im geschichtlichen Leben der Menschheit verwirklicht. Unter diesen Umständen ist es nicht erstaunlich, daß der Historic eine feste Stellung im Lichte der Wissenschaften von den Wolffianern nicht zugesprochen wurde. Mendelssohn besaß kein besseres Verständnis für die Welt der Geschichte. Auch er gibt ganz offen zu, daß er für alles, was Geschichte heißt, nicht das geringste Interesse aufwenden kann. Auch für ihn kann der Fortschritt nur in der Ausbildung der Einzelseele bestehen. Der Anspruch der Wolffischen Philosophie auf schlüssige Ergebnisse eröffnet allerdings den Ausblick auf ein Teilgebiet der Geschichte, auf die Geschichte der philosophischen Meinungen. Die Denkresultate an den Meinungen der Vorwelt zu messen war eine Verpflichtung, die von den Schülern Wolffs anerkannt wurde und der noch jungen Gattung der Philosophiegeschichte zu einer raschen Blüte in Deutschland verhalf. Das erste Modell stammt aus Frankreich von dem verschämten Materialisten Boureau-Deslandes. Bei seinem ersten Nachahmer, Brucker, ist das behandelte Material schon verdoppelt. Hermann, Ludovici, Walch, Zimmermann, Adelung, Büsching, Stäudlin, Garve, Glasey, Meiners, Buhle sind die Verfasser von mehr oder weniger spezifischen Philosophiegeschichten. Es ist klar, daß mit dem Fortschreiten des Jahrhunderts der Wolffianismus den differenzierten geistigen Bedürfnissen der deutschen Intelligenz in nur sehr unzulänglicher Weise Genüge tat. Einzelne Ansätze zu einer sensualistischen Opposition (Feder, Basedow und andere) konnten jedoch die Schlüsselstellung der Leibniz-Wölfischen Philosophie im Herzen der deutschen Aufklärung nicht aufrollen. Eine erstaunliche Probe ihrer Lebenskraft gab diese Philosophie noch bei der Verteidigung des Illuminatenordens. Adam Weishaupt war sich nach der Aufdeckung des Geheimbundes klargeworden, daß in den Augen der deutschen Öffentlichkeit alles bis auf den Materialismus entschuldbar war. Die Weltanschauung, zu der sich Weishaupt als Ordensleiter bekannte, ist nicht leicht aus den aufgefundenen Ordenspapieren zu rekonstruieren. Fest steht aber, daß Weishaupt, ein Schüler Feders, schon früh Gelegenheit hatte, seine geistige Nahrung aus einem „Giftschrank" zu beziehen, in dem die französische Aufklärung in ihrer materialistischen Komponente entscheidend vertreten war. Weishaupt wußte sehr wohl, daß ein offenes Bekenntnis zum Materialismus und Atheismus den Orden aufs schwerste belastet hätte. Daher blieb diese Lektüre nur den höchsten Graden als Privileg vorbehalten. Sie war die Krönung

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der ganzen Lehre, zu der die Illuminaten erst nach Bewährung aller Prüfungen berufen waren. Nach der Katastrophe suchte Weishaupt zu retten, was noch zu retten war: vor allem die Reputation des Philosophen. Weishaupt macht sich nunmehr mit zähem Fleiß die Denksysteme zu eigen, von denen er früher nur flüchtig Kenntnis genommen hatte. Kant reicht keineswegs aus, um Schutz vor der überall lauernden Gefahr einer materialistischen Abweichung zu gewähren. Eine ganze Serie von Publikationen entstand, denen als zuverlässigste Bürgschaft des Idealismus die Hauptmotive der Leibniz-Wolffschen Philosophie zugrunde liegen. Offenbar war es die Riegelstellung gegenüber dem Materialismus, die diesem philosophischen System zum Überleben verhalf. Der Wolffianismus wurde sogar durch die höchste wissenschaftliche Körperschaft in Deutschland ausdrücklich empfohlen. Gegen Holbachs „Systeme de la nature" hatten sich empörte Stimmen erhoben; die Preußische Akademie konnte und wollte in dieser Debatte nicht neutral sein, zumal nachdem der König und Schutzherr die ganze Richtung wegen ihrer nicht mehr verhehlten politischen Konsequenz verabscheute. Als dann Castillon mit wolffianischen Argumenten die materialistische Lehre auseinandergenommen hatte, ergriff die Akademie die Gelegenheit zu einem einzigartigen weltanschaulichen Bekenntnis. Die Lehre von Castillon wurde durch einen empfehlenden Vermerk des Direktors der Philosophischen Klasse, Samuel Formey, als akademieoffiziöse Weltanschauung gekennzeichnet. Trotz des französischen Sprachgebrauchs hatte die Preußische Akademie hinlänglich Fühlung mit dem Leben der deutschen Intelligenz, um ihre geistige Repräsentationspflicht erfüllen zu können. Der Kampf mit dem Materialismus stand mehr als je auf der Tagesordnung. Noch immer war das deutsche Bürgertum entschlossen, die Versuchung der Macht von sich zu weisen und seinen Raum in den Wolken der Spekulation zu suchen.

Zur Periodisierung: Aufklärung, Sturm und Drang, Weimarer Klassik Durch das Problem der Periodisierung der deutschen Aufklärung, das heißt durch den Versuch einer Festlegung der zeitlichen Grenzen des ganzen Prozesses und seiner Unterteilung in verschiedene Phasen, sind wir von neuem vor die Frage gestellt, ob die Aufklärung als eine Nationen übergreifende kosmopolitische Bewegung anzusehen ist oder ob sie infolge der nationalen

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Differenzierung und der geschichtlichen Niveauverschiedenheit in eine Vielheit von ungefähr gleichzeitigen Bewegungen mit verschiedenem Verlauf zerfällt. Kein Zweifel, daß sich in der Literatur und Geistesbewegung des 18. Jahrhunderts verbindende Züge entdecken lassen. In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts verdichten sich allenthalben die Zeugnisse über ein erstaunliches, ja unbegreifliches Wachstum der Buchproduktion, das in den verschiedensten literarischen und wissenschaftlichen Sparten von aufmerksamen Beobachtern in Frankreich, Deutschland, Spanien, Italien und so weiter festgestellt wurde. Zunehmender Wohlstand breiterer Schichten verstärkte das Bedürfnis nach Unterhaltung und Unterrichtung, dem eine Flut von Neuerscheinungen zunächst nur auf eine sehr unvollkommene Weise Genüge tat. Es liegt auf der Hand, daß dieser überall erkennbare Aufschwung in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auf eine Änderung der gesamteuropäischen Lage zurückgeht. Wir können hier flüchtig nur den einen oder anderen Faktor berühren: die kolonialen Unternehmungen, an denen der Handel aller wirtschaftlich entwickelten Länder, wenn auch nur mittelbar, beteiligt war, begannen nun endlich, nach einem der militärischen Sicherung und Abwehr gewidmeten Jahrhundert, Früchte zu tragen. Die Erschöpfungskriege, die bis zum Ende des 17. Jahrhunderts um die universale Hegemonie geführt worden waren, hatten kein entscheidendes Ergebnis hinterlassen. Die Mächte mußten sich mit dem bestehenden Gleichgewicht abfinden. Wenn es zwischen 1715 und 1740 gelang, den Frieden in Europa zu wahren, so war das eine Parenthese der Vernunft und der Entfaltung neuer wirtschaftlicher Initiative, die weit über die Dauer der vorher erlebten Intervalle der Kriegführung hinausging. Die nach diesem Zeitpunkt geführten Kriege, das heißt die Kriege des niedergehenden Ancien regime, werden von allen Beteiligten nur in Ansehung des für gefährdet gehaltenen Gleichgewichts unternommen und in keinem Fall von der Erwartung gestachelt, das bestehende Gleichgewicht durch eine hegemoniale Lösung aufheben zu können. Die Rede vom „Gleichgewicht der Mächte" blieb fürderhin die letzte außenpolitische Weisheit der Kabinette. Nicht zu verkennen ist, daß mit der Anerkennung eines solchen Sachverhalts eine früher unbekannte Friedensbereitschaft die Träger der Staatsgewalt beseelte. Im 16. und 17. Jahrhundert drohte jeder Kabinettskrieg in einen Volkskrieg auszuarten — von einer solchen Entwicklung war selbst im Siebenjährigen Krieg nicht mehr die Rede. Die Masse der Bevölkerung und die Mehrheit der Intelligenz stand unberührt und unberührbar beiseite.

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In jenen Jahrzehnten stärkte sich aber die "Wirtschaftskraft der bürgerlichen Schichten und mit ihr das Selbstbewußtsein und das Bedürfnis nach literarischer Selbstverständigung. Die Ausweitung der Bucherzeugung wird durch den gesteigerten Bedarf erzwungen. Während bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts die großen literarischen Treffer Kettenreaktionen erzeugten, die dann das Gepräge für lange Zeit bestimmten, muß sich der Autor nunmehr an den Bedürfnissen einer anonymen Leserschaft orientieren und seine Wahrheit dem Standpunkt des Durchschnittsmenschen anbequemen. Während das Formexperiment und das Streben nach einer Modellschöpfung in der klassischen Epoche alles stoffliche Interesse aufzehren, sind es nunmehr die brennenden Probleme und die Gegenwartssorgen, die auf dem Standpunkt des Durchschnittsmenschen, „des Mannes der Straße", in literarischer Form verhandelt werden. Diese Publikumsliteratur setzt nichts voraus als gesunden Menschenverstand. In den meisten Ländern wird diese Wandlung nur widerwillig anerkannt; man hat das Gefühl, daß eine Epoche des unaufhaltsamen literarischen Niedergangs einsetzt. Wie für den Beginn der literarischen Bewegung im 18. Jahrhundert, so läßt sich auch für ihr Ende ein gemeinsames Erlebnis erkennen, auf das die verschiedenen Nationen auf ganz verschiedenartige Weise reagierten. Es ist das Erlebnis der Französischen Revolution. In der unterschiedlichen Stellungnahme zu diesem umwälzenden Ereignis kommt die ungleichartige Klassenlage in den verschiedenen Nationen am deutlichsten zum Ausdruck, wobei die relative Fortgeschrittenheit einer nationalen Gesellschaft nicht immer ein positives Verhältnis zur Französischen Revolution hervorruft. Die englische Bourgeoisie sah mit dem Zusammenbruch der kontinentalen halbfeudalen Systeme ihre besten Felle wegschwimmen. Das Gegenbeispiel, eine auffällige Revolutionsfreundschaft der hochmögendsten russischen Bojaren und Feudalherren, verrät, daß sich der Zarismus von den absolutistischen Systemen westlicher Prägung in seiner zerrüttenden Wirkung auf die herrschenden Klassen in nichts unterschieden hatte. Sosehr wir geneigt sind, die Opferung der Klasseninteressen zugunsten des geschichtlich für notwendig Erkannten im Einzelfall herauszustreichen, so bleibt eine kollektive Klassenflucht doch, als kollektives Phänomen gesehen, ein Zeugnis des Verlustes der politischen Interessen und Energien, die einstmals zur rücksichtslosen Führung der Gesamtheit im Klasseninteresse befähigt hatten. Nicht minder bedeutsam als die Ungleichheit der Klassenlage und darin letzten Endes verwurzelt erscheint der verschiedene Stellenwert der Aufklä-

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rung innerhalb der Gesamtentwicklung der einzelnen Literaturen. Während die Aufklärung für Spanien die völlige Verneinung der ihr vorausgegangenen „Goldenen Literaturepoche" (siglo de oro) herbeiführt, bemüht sich die französische Aufklärung um eine organische Weiterbildung der aus dem klassischen Jahrhundert empfangenen Impulse. Zu beiden Bewegungen stellt die deutsche Aufklärung den extremsten Gegensatz dar, insofern sie zur Vorbereitung einer künftigen Erfüllung in allen Bereichen des nationalen Lebens berufen erschien. Wenn sich dagegen die deutsche und die spanische Aufklärung in ihrer rationalistischen Grundeinstellung wieder nahekommen, so ist diese Abneigung gegenüber allen sensualistischen und materialistischen Positionen doch auf die im Vergleich zu Frankreich und England zurückgebliebenen Verhältnisse des dritten Standes zurückzuführen. Aus all dem läßt sich die eine Folgerung mit Sicherheit ziehen: die Aufklärung ist — trotz minoritärer Strömungen in jeglicher Richtung — eine nationale Bewegung. Solange Nationen und nationale Sprachen bestehen, wird auch die Literatur nicht zu einer kosmopolitischen Einheit zusammenfließen. Der Gedanke der Menschheit lebt in der Gliederung und im wechselseitigen Verhältnis der nationalen Bewegungen. Der Weg der Menschheitsliteratur wird nur mit dem Ausblick auf eine Vielheit von nationalen Literaturen erkennbar. Es versteht sich von selbst, daß auch für die zeitliche Gliederung der Aufklärung ein für alle nationalen Bewegungen des 18. Jahrhunderts gültiges Schema nicht aufgestellt werden kann, obwohl die Einflüsse der als vorbildlich und normativ angesehenen französischen und englischen Geistesbewegungen alle literarischen Räume ergreifen. Wie in der französischen Aufklärung, so tauchen auch in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts Versuche einer Periodisierung auf, in denen der selbsterlebte Prozeß der literarischen Bewegung aufglänzt, in denen an die großen Wendepunkte dieses Geschehens erinnert wird. So verrät zum Beispiel Schubart immer wieder das Bedürfnis nach einer zusammenfassenden Rückschau, nach einer die eigene Verpflichtung erfragenden Rechenschaft über das bisher Erlebte. Noch aus Geislingen stammt dieser Querschnitt von 1768: „Mein Gott, was für Veränderungen hab ich nicht in der kurzen Zeit meines Lebens mit ansehen müssen. Als ich 1750 anfing zu denken, da war Gottsched mein Original und lehrte mich Deutsch wie Wasser. Ich wurde ein Apostat und schlug mich zu den Schweizern, aber als der Buchladen des Nicolai in Berlin zu einem kolossischen Pferde wurde, aus dessen Bauch bewaffnete Kunstrichter hervorsprangen und alle Autoren zittern lehrten, da schlug ich mich zu ihrer Partei und glaubte, sie wären Götter. Und nun da Klotz wie

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Über die Konstellation der deutschen Aufklärung Briareus mit hundert Händen um sich greift, mit fünfzig Geißelschläge und mit fünfzig Olivenkränze ausspendet, so steh ich da, wie wenn ein Wetter vor mich niederschlüge, und weiß nicht, ob ich bei meiner Partei bleiben, ob ich die neue ergreifen oder - ob ich ein Freigeist werden soll. Ich weiß nicht, ob diese Erschütterung der Wissenschaften Fruchtbarkeit oder Zerstörung hervorbringen wird."107

Eine differenzierte Betrachtung der Geistesbewegung mußte in dieser Weise die einzelnen Phasen mit ihren Ursprungs- und Vorzugsgebieten verknüpfen. Archenholtz versucht in den „Annalen der britischen Geschichte" 1788 [vgl. EA, S. 647] die literarische Mode der letzten Jahrzehnte mit kurzen Strichen festzuhalten: „... vor zwanzig Jahren las in Deutschland jedermann bis auf die Schulknaben Kritiken. Diese Kunstrichtermode machte dem Geniewesen Platz; hierauf kam die sentimentalische Stimmung, sodann die physiognomischen Untersuchungen. Alles dieses verschwand, und an deren Stelle trat die Vielwisserei, durch die Journale erzeugt und genährt; eine Mode, die, obgleich sie gründliches Wissen seltener macht, doch nicht die schlechteste ist und die vor anderen, wegen der allen kultivierten Menschen eigenen Liebe zu mannigfaltiger Geistesnahrung, am tiefsten Wurzel geschlagen hat. In den Zirkeln der deutschen feinen Welt, bei den Schönen, bei den Stutzern, ja bei ganzen Ständen, bei Gelehrten, Künstlern, Kaufleuten und Soldaten fängt die englische an, die französische zu verdrängen, ja selbst die Hofleute fangen an, Englisch zu lernen, um sich vor ihren Livreebedienten, die auch französisch reden, auszuzeichnen."108

Der kritischen Richtung der Aufklärung folgt die Sturm-und-Drang-Bewegung, als deren Elemente das „Geniewesen" und die „sentimentalischen Stimmungen" zu gelten haben. Aber vom Standpunkt des endenden neunten Jahrzehnts aus konnte mit Recht der endgültige Untergang auch dieser bedeutsamen Bewegung festgestellt werden. Während in der Zeit der Originalgenies die Zeitschrift als spezifizierte Ausdrucksform zurücktritt, wird sie am Ende der achtziger Jahre eine erhöhte Bedeutung zurückgewinnen. Es ist die Zeit, in der das Problem unserer nationalen Kultur schon richtunggebend und die Unternehmungen der Weimarer Klassik bestimmt hervortreten. Der entscheidende Einschnitt, den die Sturm-und-Drang-Bewegung für den Gesamtverlauf der deutschen Aufklärung bedeutet, fällt erst ins letzte Viertel des 18. Jahrhunderts. Eine ähnlich starke Zäsur läßt sich in der Gliederung der französischen Aufklärung schon um die Jahrhundertmitte vornehmen. Die Aufklärung erlangte zu jenem Zeitpunkt die unbestrittene Herrschaft über die öffentliche Meinung; im Augenblick ihres Sieges aber zerfiel die französische Bewegung in zwei sich erbittert bekämpfende Flügel, in eine „philosophische" voltairianische Fraktion und in die radikalisierte,

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von Jean-Jacques Rousseau geführte Geistesrichtung. Rousseau — das ist die Sezession der kleinen plebejischen Bourgeoisie, die ihre Weltanschauung im hemmungslosen Widerspruch zu allen bisherigen Errungenschaften des Geistes entfaltet. Für sie wurde durch den Fortschritt der Geschichte nur die Klassenherrschaft vertieft und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen verewigt — daher verlangt Rousseau die Rückkehr der Menschheit bis zu dem vorgeschichtlichen Augenblick, wo die natürliche Gleichheit durch die Geschichte verletzt worden war. Trotz der sofort einsetzenden Rezeption Rousseaus im aufgeklärten Deutschland war hier eine tief einschneidende Wendung erst zwei Jahrzehnte später als in Frankreich zu verzeichnen, und zwar mit der Bewegung, die sich selbst im Verlauf ihrer weiteren Entwicklung den Namen Sturm und Drang gegeben hatte. Da der gesellschaftliche Charakter der deutschen Aufklärung von Anbeginn an ein rein bürgerlicher war, war eine plebejische Unterströmung auch von Anfang an vorhanden. Gerade darum aber war sie in Deutschland nicht berufen, eine so mächtige Gegenwirkung mit einem solchen Aufgebot an revolutionärer Dynamik wie in Frankreich auszuüben. Es hält nicht schwer, plebejische Züge in der deutschen Literatur schon vom Anfang des 18. Jahrhunderts her nachzuweisen. Darüber läßt sich Georg Friedrich Meier, ein Schüler Baumgartens, in seiner 1746 erschienenen „Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmackes der Deutschen, in Absicht auf die schönen Wissenschaften" folgendermaßen vernehmen: „Es gibt einige Vorurteile, welche in Deutschland herrschen, wodurch der Geschmack ungemein verdorben wird. Meine Leser, die von der Herrschaft dieser Vorurteile keine historische Nachrichten haben, müssen es auf mein Wort glauben, daß die meisten Dichter in Deutschland durch diese Vorurteile regiert werden und daß sie daher nichts als lauter höchstens mittelmäßige Gedichte und Reden liefern und dadurch die Verbesserung des Geschmacks hindern. Ich rechne hierher folgende Vorurteile. 1. Die Dichtkunst sei für den gemeinen Mann erfunden. Man sucht dieses Vorurteil ohngefähr auf folgende Art auszuschmücken. Gelehrte und scharfsinnige Köpfe müßten die Wahrheit durch eine Wissenschaft lernen, und wenn man sie überzeugen wollte, müsse man den Verstand durch die Vernunftlehre angreifen. Allein der gemeine Mann habe nicht viel Verstand und könne ein logisches Bombardement nicht aushaken, folglich sei die Dichtkunst erfunden worden, demselben die Wahrheiten begreiflich und faßlich zu machen. Daher müsse ein jedes Gedicht von dem gemeinen Manne verstanden werden können. Ich gebe allerdings zu, daß der gemeine Mann einen Anspruch auf die Dichtkunst machen könne und daß einige Arten der Gedichte durch eine Herablassung die Wahrheit demselben begreiflich machen, als wohin ich die Äsopischen Fabeln rechne. Allein es herrscht zum äußersten Verderben des Geschmacks, wenn man die ganze Dichtkunst dergestalt erniedrigen will. Der gemeine Mann besitzt so wenig Kräfte, Geschmack und Einsicht, daß er kaum vermögend ist, die Schönheiten der mittelmäßigen poetischen Gedanken zu schmecken."109

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Zum Bekenntnis und zum gestaltenden Prinzip wird diese plebejische Unterströmung im dichterischen Werk von Bürger und Claudius. Die Zuneigung zur Volkskunst findet im Sturm und Drang ihre erste literarische Erfüllung. Selbst die älteren Repräsentanten der kritischen Richtung der deutschen Aufklärung wurden von dieser Mode ergriffen. Das bezeugt ein Brief Nicolais an Möser aus dem Jahr 1776: „Ich sende Ihnen hiebei einen Almanach von Volksliedern ... die wahre Naivität haben. Könnten Sie mir dazu einige aus den osnabrückschen und anderen westfälischen Gegenden schaffen? Ich dächte, es müßte da schöne Spinnstubenlieder geben."110

Im Sturm und Drang hat die deutsche Aufklärung eine Vorhut von stärkster Sprengkraft gegenüber allen Positionen und Werten der bestehenden Ständegesellschaft gebildet. Der antihierarchische Charakter des Geniekults ist überall zum Greifen deutlich. Die Überhöhung der Persönlichkeit verkörpert den kämpferischen Sinn, durch den sich Gruppen, Klassen, Völker konstituieren. Mit Goethes „Götz" hat sich der Volksheld die deutsche Bühne erobert. In Lenzens „Anmerkungen über das Theater" wird über die Bestimmung des dramatischen Helden folgendes gesagt: „Wir müssen ... den Volksgeschmack der Vorzeit und unseres Vaterlandes zu Rate ziehen, der noch heutzutage Volksgeschmack bleibt und bleiben wird. Und da finde ich, daß er beim Trauerspiel oder Staatsaktion, ist gleichviel, immer drauflosstürmt (die Ästhetiker mögen's hören wollen oder nicht): das ist ein Kerl! Das sind Kerls!"111

Die Gegenwart war zu eng, um einen Rahmen für das Spiel der großen Persönlichkeiten herzugeben. Erst durch die Ausarbeitung des geschichtlichen Weltbildes erhielt die Dichtung einen angemessenen Schauplatz zur Entfaltung ihrer Impulse. Es ist kein Zufall, daß der Geniekult in der dramatischen Historic sich programmatisch zu erkennen gab. Die Herkunft des geschichtlichen Weltbildes aus der französischen Aufklärung gibt einen Gesichtspunkt für den verzögerten Einsatz der deutschen Geistesbewegung. Wie im Jahrhundert zuvor in Frankreich, so bedeutet nunmehr für die Deutschen der siebziger und achtziger Jahre die Eroberung der geschichtlichen Welt zunächst vor allem eine unermeßliche Steigerung des Selbstgefühls und des Bewußtseins ihrer geschichtlichen Sendung. Wie auf der Schwelle der Aufklärung in Frankreich, so wird jetzt in Deutschland die Überzeugung vorgetragen, daß die dichterische Gegenwart zur Überwindung aller Traditionen und aller vergangenen Vorbildkunst berufen sei. Dieser „Modernismus", der alle Bande der Verehrung und Nachahmung der

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klassischen Modellkultur zerreißen möchte, wird von Herder mit allem Nachdruck, aber auch von Claudius durch eine 1774 entstandene Schöpfung bekundet: Ich wüßte nicht warum? Den griechischen Gesang nachahmen? Was er auch immer mir gefällt, Nachahmen nicht. Die Griechen kamen Auch nur mit einer Nase zur Welt. Was kümmert mich ihre Kultur? Ich lasse sie halter dabei Und trotze auf Mutter Natur; Ihr roher, abgebrochner Schrei Trifft tiefer als die feinste Melodei Und fehlt nie seinen Mann. Videatur Vetter Ossian.112

Das Gesetz des geschichtlichen Fortschritts wird von Herder in wörtlicher Anlehnung an den von Perrault aufgebrachten und von Gottsched erwähnten Topos umschrieben: Herder, Sämtliche Werke, hg. von Suphan, Bd. V, S. 143:

Fontenelle, Gespräche von mehr als einer Welt..., übersetzt von Gottsched, Leipzig 1751, S. 570:

„Ist der Zwerg auf den Schultern des Riesen nicht immer größer als der Riese selbst?"

„Das Gleichnis von dem Zwerge, der auf Riesenschultern steht, schickt sich gut hieher. Er sieht seinem Goliath über den Kopf weg: nicht, weil er groß ist, sondern weil er so hoch steht."

Der Zusammenhang des Herderschen Geschichtsbilds mit den in Frankreich seit 1680 gemachten gedanklichen Errungenschaften bedarf einer weit ausgreifenden Untersuchung. Durch die Feststellung einer solchen Abhängigkeit würde das schöpferische Verhältnis des Herderschen Genius zu den Gedanken seiner Vorzeit selbstverständlich nicht angetastet. Wenn der deutsche Sturm und Drang, Herders Initiative folgend, das schon vorher in Frankreich skizzierte geschichtliche Denken entwickelt, so verrät sich darin die innere Zugehörigkeit und die systematische Anknüpfung dieser Bewegung an die großen Fragestellungen der Aufklärung. Gerade von dieser Seite läßt sich die oft wiederholte Behauptung widerlegen, daß sich Sturm und Drang zur Aufklärung verhalte wie der Irrationalismus zum Rationalismus, daß die neue Geistesbewegung die völlige Negation und Verwerfung der Aufklärung darstelle.

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Das Unverständnis der wirklich bestehenden Filiation mußte sich notwendig in einer völligen Verfälschung der Ursprungsimpulse des Herderschen Denkens auswirken. Wenn zum Beispiel Herder den Begriff des Heldischen aus seiner Konzeption der Menschheitsgeschichte ausmerzt, so spricht daraus nicht, wie die geistesgeschichtliche Herder-Forschung behauptet, eine „methodische Ratlosigkeit dem individuellen Moment der Geschichte gegenüber"113. Die Umwertung und Akzentverschiebung von den Einzeltaten der Regierenden zu der kollektiven Leistung der Gemeinschaften und Nationen liegt vielmehr im Ursprung der unter anderen von Voltaire vollzogenen aufklärerischen Zuwendung zum Leben der Geschichte. Die Aufklärung geht im Sturm und Drang nicht zu Ende, sondern sie tritt in ein neues dynamisches Stadium ein, durch das ihre Grundziele keineswegs verändert oder gar umgekehrt werden. Wie in der Aufklärung, so wird auch in der Sturm-und-Drang-Bewegung der Krieg als kultur- und fortschrittshemmender Faktor und daher als ein naturwidriges Element der menschlichen Geschichte verworfen. Im Zeichen des Pazifismus gegenüber den kriegerischen Hegemoniebestrebungen der Regierung Ludwigs XIV. hatten in Frankreich die ersten Regungen der Vor- und Frühaufklärung begonnen. Es braucht nicht gesagt zu werden, wie ein solches Motiv in Deutschland ansprechen mußte. Im Sturm und Drang wird an der Verurteilung des Kriegs im allgemeinen nur festgehalten. Herder betont den unversöhnlichen Widerspruch zwischen dem Friedensbedürfnis und der Friedensbereitschaft der Völker und den kriegerisch ausgetragenen Konflikten der rivalisierenden Kabinette. Charakteristisch ist der drohende Ton, in dem sich 1774 der „Wandsbecker Bote" bei einer vorgespiegelten Audienz gegenüber dem Kaiser von Japan ausläßt: „Ich habe noch eins auf dem Herzen, Sire. Wir haben in Nagasaki so viele Soldaten und Kanonen gesehn. Wenn du irgend umhinkannst, lieber, guter Fürst, so führe nicht Krieg. Menschenblut schreiet zu Gott, und ein Eroberer hat keine Ruhe. Und damit drückte ich ihm seine Hand, bückte mich und ging weg, und die Tränen standen mir in den Augen."114

Die Sturm-und-Drang-Bewegung besitzt einen neuen Sinn für die Lebensbedürfnisse der Nationen und vor allem der eigenen Nation. Der patriotische Charakter der Aufklärung wird jetzt zur Schlüsselstellung. Das Gefühl, daß Deutschland berufen ist, die Aufklärung zum Ziel zu führen, erzeugt in den überschäumenden Köpfen der jungen Generation die „Ausschreitungen der Teutomanie"; in den nachdenklicheren Geistern führt aber die leidenschaftliche Reflexion über unseren Nationalcharakter gerade zum Eingeständnis einer unüberwindlichen nationalen Schwäche, der essentiel-

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len Unfähigkeit der Deutschen zur Ausbildung eines Nationalcharakters, für den die weltbürgerliche Rolle nur einen unzulänglichen Ersatz gewähren konnte. Der Gegensatz dieser Auffassungen läßt sich im innersten Ring der Sturm-und-Drang-Bewegung belegen: in Lenzens rasendem Patriotismus und in Klingers Gedankengängen, die um die Problematik der deutschen Nation lebenslänglich kreisten. Lenz geht so weit, die Überlegenheit der deutschen Sprache bis in den größeren Reichtum der syntaktischen Ausdrucksmittel zu verfolgen.115 Dagegen kann es für Klinger keinem Zweifel unterliegen, daß sich durch einen Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich unausweichlich die Spitzenstellung der französischen Nation und Literatur im Verlauf des ganzen 18. Jahrhunderts von neuem erhärten müßte. Die französische Aufklärung war es gewesen, die den fortschrittlichen Sinn der Französischen Revolution gesichert hatte: „Voltaire, Montesquieu, Rousseau, Mably, Diderot, die Ökonomisten und Enzyklopädisten sollen durch ihre Schriften die Französische Revolution geschaffen haben; so sprechen die Ausgewanderten, und wer nicht denken kann oder mag, ihnen nach. Sie vergessen (die Ausgewanderten wissen warum) die Ränke, den Stolz, die Habsucht und Zügellosigkeit der Großen seit der Minderjährigkeit Ludwigs XV. — Doch wer mag sich hierbei aufhalten? Und was wäre wohl ohne obige Genies am Ende aus der Revolution hervorgegangen? Eben das, was aus der Türkei hervorgehen würde, wenn dort eine politische Revolution statthaben sollte. Noch grausamere Szenen und eine gänzliche Auflösung. Haben diese Genies wirklich etwas zur Entwicklung der Revolution beigetragen — nachdem sie so gut von dem Hofe und vorzüglich von den Großen vorbereitet war —, so haben sie auch den Samen in ihren Schriften hinterlassen, den man wieder aufgehen sieht. Im Wiederaufbauen zeigt sich das aufgeklärte Volk, die ändern können nur niederreißen und dann sich zerstreuen. "116

Diderot wird als der bedeutendste literarische Vertreter der ganzen Epoche angesehen: „Diderot hat den Deutschen gezeigt, wie man über ästhetische Gegenstände schreiben muß. Er entwickelt uns die tiefsten Geheimnisse der Kunst so klar und deutlich, daß sie jeder versteht, sich ihrer jeder erfreuen kann. Das deutsche schwerfällige, systematische, mit Terminologie beladene, auf Stelzen gehende philosophisch-ästhetische Gewäsche, der auf dunstender Kohlenglut aufgewärmte Enthusiasmus, womit sie es nicht vergulden, sondern verkupfern — ist von allem deutschen Gewäsche das unerträglichste für einen Mann, der an Klarheit gewöhnt ist. Diderot hat ihnen, ich sage es noch einmal, gezeigt, wie man mit Feinheit, Wärme und Bestimmtheit über diese Gegenstände schreiben kann, und seine ,Salons' enthalten, nebst seinen Betrachtungen über die Malerei', die erste aller Poetiken und Rhetoriken, nicht der Form nach, sondern des kräftigen, vollen und wahren Inhalts wegen. Der Dichter und der Philosoph gehen hier vertraulich und leicht in der schönsten Verbin-

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Über die Konstellation der deutschen Aufklärung düng zusammen, und keiner schadet dem ändern. Nur Lessing kann neben ihm bestehen; und hätte dieser nicht so viele Streifzüge in die Literatur getan und nicht zuviel Zeit in Scharmützeln mit elenden Geistern verloren, wir hätten so etwas schon längst, und vielleicht vollendeter, gesehen."117

Im Abstand wird auch Voltaire in eine neue Beleuchtung gerückt. Es ist der große Mann, dessen wirkliche Dimension durch den allzu erfolgreichen Kampf Lessings den Deutschen verdeckt worden war: „Wir Deutschen schimpfen indessen immer noch auf Voltaire, und diese literarische Sünde hat sich unser großer Lessing zuschulden kommen lassen, von dem sie sich dann wie eine National-Erbsünde auf Greise und Jünglinge fortgeerbt hat und immer forterben wird, bis wir auch einst Robertsone und Gibbone haben werden, was ich zu unserer Entsündigung von Herzen wünsche. Auf einen Voltaire selbst rechne ich aus verschiedenen Ursachen nicht."118

Die Bemerkungen Klingers entstammen schon seiner russischen Epoche: sie sind zwischen 1801 und 1804 niedergeschrieben. Mit welchem Recht sind diese Reflexionen eines durch weltmännische Praxis geläuterten und gereiften Verstandes als symptomatische Zeugnisse der Sturm-und-DrangBewegung zu verwerten? Die Frage ist schon wegen der großen Bedeutung und wegen des einzigartigen Reichtums dieser Versuche zur Selbstverständigung gewichtig. Man hat in der Tat behauptet, daß die literarische Tätigkeit Klingers von einem bestimmten Zeitpunkt an den Bruch mit dem Jugendstil der Sturm-und-Drang-Zeit verrate; man hat aber nichts darüber verlautbart, in welcher Richtung sich dieser spätere Klinger denn bewegt haben soll. In Wahrheit hat der fast völlige Abbruch der unmittelbaren Kontakte zur deutschen Welt gerade die Kontinuität der einmal ergriffenen Formungsgedanken gesichert. Das anachronistische Überleben des Sturm und Drang ist das Resultat der geistigen Diaspora, in die der späte Klinger durch sein tatenreiches Leben in Rußland versetzt wird. Der Übergang zur Praxis des Lebens, an dem das Dichtertum eines Rimbaud vollkommen versiegte, gehört zu dem elementarsten Erfahrungsbestand, durch den das Gesicht der Sturm-und-Drang-Bewegung geformt war. Die Akzente haben sich vielleicht im ganzen Verlauf des Klingerschen Lebens unmerklich verschoben. Jedoch bleibt das Verhältnis zwischen Dichter und Praktiker, die sich ergänzen und letztlich eins sind, dasselbe. Lenz ist gerade daran gescheitert, während Klinger es verstand, den ursprünglichen Sinn seines Dichtertums auch in der Generalsuniform des Zaren aufrechtzuerhalten. Wenn man den letzten Zweifel über die Zugehörigkeit von Klingers „Betrachtungen" zerstreuen wollte, so müßte man nur auf sein Bekenntnis zu Stil und Schöpfung achten:

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„Der höchste Genuß für mich, in diesem Leben, war bis jetzt die Hervorbringung einiger meiner Schriften; dann ein witziger Einfalt unter munter-geistreichen, sich verstehenden Gästen bei Tische, der das Lachen rechter Art erweckte, oder ein kühnes Bild, ein starker, verwegener Gedanke, die plötzlich, ganz ausgerüstet, dem Geist entsprangen, tiefen Sinn enthielten, die Zuhörer in angenehmes Erstaunen oder mit Furcht vermischte Verwundrung versetzten. Der Augenblick ist voll wahren, ästhetischen Genusses, wenn die Anwesenden nach und nach, mit noch schüchternem Blick, nach dem Manne hinsehen, der die Blitze so kühn über ihre Häupter schleuderte, ohne sie zu versengen."119

Der konvulsivische, in Blitzen sich verschwendende Stil im Gegensatz zu der Ausgewogenheit und Ökonomie der klassischen Prosa! Auf der anderen Seite der völlige Bruch mit dem Streben der Aufklärung nach einer Verdichtung und Festigung der logischen Ordnung, wie sie noch im Satzbau und im Stil der Lessingschen Prosa vorherrscht. Der Zeitstil des Sturm und Drang läßt sich auch in den symbolischen Begegnungen ermessen, in denen Klinger den ganzen Verlauf der Menschheitsgeschichte zusammendrängte. So hatte er, gewiß in stofflicher Abhängigkeit von Schillers „Don Carlos", die Legende des Großinquisitors geschaffen: „Käme Christus heute zur Welt und predigte seine Religion in dem reinen Geist und Sinn, wie er sie einst gepredigt hat, in Rom, die Inquisition würde ihn schnell als Ketzer ergreifen, ihn in die Engelsburg festsetzen, wenn sie nicht, um dem Greuel schneller zuvorzukommen, etwas Ärgeres täte. — In protestantischen Ländern könnte er weder Pfarrer noch Schulmeister werden, denn schwerlich würde er die symbolischen Bücher unterschreiben wollen. Und wie sehr würde er sich wundern, wenn man ihm sagte: er müßte erst nach Halle ziehen, seine Religion studieren, wenn er sie predigen oder lehren wollte."120

Die romantische Weiterbildung der Legende erreichte bekanntlich einen künstlerischen Höhepunkt im „Großinquisitor" Dostojewskis; während aber Klinger den tödlichen Widerspruch der Christusfigur zu aller Kirchlichkeit, ja zu aller Religion auftut, dient die Begegnung in der Fassung von Dostojewski lediglich dem Austrag der innerkirchlichen Gegensätze zwischen Osten und Westen. Der Sturm und Drang ist ebenso in den späten dramatischen Schöpfungen wie in den um die Jahrhundertwende geschriebenen Romanen Klingers lebendig. Die Welt von Schillers „Fiesco" ersteht noch einmal in dem Schauspiel „Der Günstling" (1785), und Schillers „Don Carlos" liegt als Grundstimmung dem Roman „Rafael de Aquileja" (1793) zugrunde. Die Stellung des späten Klinger kommt nahe heran an die Stellung des späten Herder: Das von Sturm und Drang erweiterte Weltbild der Aufklärung wird gegen den doppelten Anspruch ihrer klassischen und philosophischen Überwindung noch einmal als nationales Bildungsvermächtnis den Deutschen vor Augen gehalten:

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Über die Konstellation der deutschen Aufklärung „Wenn aufgeklärte Männer glauben, das, was ich hin und wieder über Vorurteile, Pfafferei und Intoleranz sage, sei außer der Zeit und folglich überflüssig, so denken sie hierbei nur an sich und vergessen, wonach gewisse Leute, auch selbst in den protestantischen Ländern, streben. Gelänge es nur diesen gewissen Leuten, wir würden bald alles Genannte aus den finstern Höhlen hervorbrechen sehen, in welche sie der Geist der Zeit nur verbannt zu haben scheint. Der Kampf für Licht und Recht fordert von ihren Verteidigern beständige Wachsamkeit, und das eben darum, weil der Feind im Finstern schleicht. Stehen nicht mitten unter uns, in unsern sogenannten Philosophen und poetischen Poeten, die Jakob Böhme, Lavater, Gaßner, Swedenborg usw. noch toller auf, als sie in der Wirklichkeit gelebt haben? Der Menschenbeobachter läßt sich nicht von dem Schein des Augenblicks blenden."121

Sturm und Drang ist, wenn man so will, die Vollendung der Aufklärung, in keinem Fall aber eine gegenaufklärerische Bewegung gewesen. Zum ersten Mal hat eine Jugendbewegung die Führung des Zeitgeistes gefordert. Die natürliche Skepsis der älteren Generation wird in dem Urteil Lessings über die Jugendwerke Goethes eindeutig erkennbar. Durch den Charakter der Jugendbewegung war aber dem Sturm und Drang ein zeitliches Maß gesetzt: die Geltung der grundlegenden Ausgangserfahrungen und Urerlebnisse ließ sich gegenüber einer im schnellsten Tempo veränderten Wirklichkeit nicht lange aufrechterhalten. Der Sturm und Drang hatte mit leidenschaftlichem Überzeugungsmut den Weg der politischen und der gesellschaftlichen Reformen betreten. Die Einheit von Dichter und Praktiker erzeugte den enthusiastischen Sinn der Bewegung. Doch gerade auf dem Boden der Praxis war das Scheitern der besten Vorsätze unausweichlich. Die Front der Regierenden und der Privilegierten blieb unverrückbar und undurchdringlich bestehen. Trotz günstigster Voraussetzungen vermochte selbst Goethe in dem seinem Einfluß weitgeöffneten kleinen Land den Widerständen der Tradition nichts abzuringen. Der Ausbruch der Französischen Revolution wurde zwar von der Mehrheit der deutschen Intelligenz mit Begeisterung aufgenommen, jedoch hatte sich im Gefolge dieser Staatsumwälzung in Frankreich die Widerstandshaltung des deutschen Ancien regime versteift und verhärtet. In dieser Konstellation der politischen Entmutigung ist der Erfolg der Weimarer Klassik und der spekulativen Philosophie zutiefst verwurzelt. Der unversöhnliche Widerspruch von Natur und Gesetz spiegelt in der Kantischen Philosophie die unaufhebbare Antinomie zwischen der bestehenden feudalabsolutistischen Staatlichkeit und der denknotwendigen Gesetzlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft wider. Der 1960 erschienene Aufsatz Hans Mayers über „Goethes italienische Reise'" beleuchtet den großen Wendepunkt unserer Literaturgeschichte. Das Gefühl einer katastrophalen Krise treibt Goethe im Herbst 1786 zur

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Flucht nach Italien. Das Scheitern seiner künstlerischen Pläne ist untrennbar verbunden mit der traurigen Bilanz einer zehnjährigen politischen Praxis. Die italienische Reise führt Goethe zu einer neuen Weltbetrachtung. Das historische Weltbild, dem sich die Gestaltenfreude der Sturm-und-DrangZeit einverleibt hatte, muß einer typisierenden, das Wesen der Dinge ergreifenden Betrachtungsweise weichen. In einem Brief an Herder kommt diese grundsätzliche Wendung schon im bewußten Gegensatz zu der geschichtlichen Denkart des Empfängers zum Ausdruck: „Ich bin freilich, wie Du sagst, mit meiner Vorstellung sehr ans Gegenwärtige geheftet, und je mehr ich die Welt sehe, desto weniger kann ich hoffen, daß die Menschheit je eine weise, kluge, glückliche Masse werden könne. Vielleicht ist unter den Millionen Welten eine, die sich dieses Vorzugs rühmen kann; bei der Konstitution der unsrigen bleibt mir so wenig für sie als für Sizilien bei der seinigen zu hoffen." 122

Im „Römischen Karneval" schildert Goethe die immerwährende Gegenwart einer lokalen Überlieferung, die zugleich eine Überlieferung der Aufhebung aller gesellschaftlichen und geschichtlichen Wirklichkeit war. Der tief paganistische Zug des Faschingstreibens kam Goethes antichristlichen Anschauungen entgegen. In dieser äußersten Entfernung von der religiös-politischen Problematik war Goethe durch das große Ereignis der Französischen Revolution nicht mehr zu treffen. Nicht lange gab sich Goethe mit den antirevolutionären Dessins der Weimarer Hofgesellschaft zufrieden. Durch die immer weiter greifende Revolution fanden sich damals viele Deutsche zur Überprüfung ihrer ursprünglichen Sympathien veranlaßt. Auch Schiller wurde in diesem kritischen Augenblick zu einer scharfen Abgrenzung gegen alle seine bisherige Entwicklung bestimmenden Motive getrieben. Der Verzicht auf den historischen Lehrstuhl war mehr als ein biographisches Faktum, das Schiller die Freiheit zur Verwirklichung seiner neuen Pläne sicherte. Die Jahre zuvor begonnene Vertiefung in die historische Welt war unter Herders entscheidendem Einfluß und mit dem symptomatischen Gegenstand der niederländischen Revolution durchaus als eine Fortführung und Erweiterung der Sturm-und-Drang-Epoche zu verstehen. Mit der Absage an die geschichtliche Arbeit vollzieht nun Schiller die gleiche Wendung wie Goethe fünf Jahre zuvor in Italien. Schillers Verzicht auf eine weitere Ausarbeitung der historischen Thematik bedeutete keineswegs den Verzicht auf eine geschichtlich-philosophische Weltbetrachtung. Sie ist der Ausgangspunkt seiner ästhetischen Briefe. Nur als die zwingende Konsequenz des historisch-politischen Schicksals kann für Schiller die Beschäftigung mit dem Problem der ästhetischen Bildung gerechtfertigt werden. Die ästhetische Bildung, das war der einzig rettende

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Weg zur politischen Willensbildung, nachdem sich der Weg der Gewaltanwendung als ungangbar erwiesen hatte. Das Endziel der Französischen Revolution, die Errichtung einer die Freiheit und Würde des Menschen sichernden Gesellschaftsordnung, wird ebenso wie der Ausgangspunkt der Staatsumwälzung, die Erkenntnis der inneren Brüchigkeit und Unhaltbarkeit des Ancien regime, von Schiller mit allem Nachdruck festgehalten: „Erwartungsvoll sind die Blicke des Philosophen wie des Weltmanns auf den politischen Schauplatz geheftet, wo jetzt, wie man glaubt, das große Schicksal der Menschheit verhandelt wird. Verrät es nicht eine tadelnswerte Gleichgültigkeit gegen das Wohl der Gesellschaft, dieses allgemeine Gespräch nicht zu teilen? ... Das Gebäude des Naturstaates wankt, seine mürben Fundamente weichen, und eine physische Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren und wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen."123

Aber diese Erwartung war durch den Gang der Ereignisse in Frankreich grausam Lügen gestraft. Das war die Anschauung, die sich den Miterlebenden aufdrängen mußte. Noch war die sogenannte Terrorepoche der Französischen Revolution vor aller Augen — die Revolution war durch den Triumph der Jakobiner diskreditiert, durch ihren Sturz aber war ihr der Boden der Verwirklichung entzogen. Ein Jahr war seit dem 9. Thermidor verflossen. Wie hätte man damals erkennen können, daß die bleibenden Errungenschaften der Umwälzung schon gesichert waren? Man glaubte vielmehr, daß ihre Niederlage unabwendbar, ihr Scheitern nicht mehr aufzuhalten wäre. Das ist die Lage, für deren Erhellung Schiller seinen ganzen Scharfsinn aufbietet. Nicht nur die Methoden der Revolution waren verkehrt — die Menschen, die ihren Sinn zu verwirklichen hatten, befanden sich in einem verhängnisvollen Rückstand gegenüber einer geschichtlichen Sendung, die das Höchste verlangte. Wie ist diese ungeheure Diskrepanz zu erklären? Die ersten „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen" geben darauf Antwort. Die moderne Entwicklung zum Fortschritt ist durch die Trennung der menschlichen Kräfte, durch die Sonderung nach Ständen, Klassen und Berufen, durch die Arbeitsteilung, Spezialisierung, Vereinseitigung, das heißt durch das Opfer einer harmonischen Ausbildung des menschlichen Wesens ermöglicht worden. Die menschliche Selbstentfremdung, der Verzicht auf das volle Menschsein, tritt somit in einen heillosen Widerspruch zu dem Ziel derselben Entwicklung, das sich auf die Vermenschlichung des Staates, auf eine bessere, menschenwürdigere, die Freiheit und die Entwicklung des einzelnen sichernde Lebensordnung beziffert. Wenn Schiller die Kantische Antinomie zwischen Pflicht und Neigung, zwischen dem geschichtlichen Zustand und dem moralischen Sollstand der

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Menschheit aufzuheben gedachte, so wurde nunmehr die geschichtliche Ebene selbst durch den Widerstreit zwischen den Entwicklungszielen und den Ergebnissen der Entwicklung zerrissen. Nach wie vor steht das Verlangen nach einer tief einschneidenden Änderung des staatlichen Gefüges im Mittelpunkt aller Gedanken. Aber diese Reparatur darf nicht mit der Stillegung des Mechanismus beginnen, wenn nicht alle Bande der Gesellschaft, wenn nicht das Leben der Menschheit aufs schwerste gefährdet werden sollen: „Wenn der Künstler an einem Uhrwerk zu bessern hat, so läßt er die Räder ablaufen; aber das lebendige Uhrwerk des Staates muß gebessert werden, indem es schlägt, und hier gilt es, das rollende Rad während seines Umschwunges auszutauschen. Man muß also für die Fortdauer der Gesellschaft eine Stütze aufsuchen, die sie von dem Naturstaate, den man auflösen will, unabhängig macht." 124

Nun kann diese Stütze nur aus den noch unerschöpften, intakt gebliebenen Bereichen des menschlichen Wesens gebildet werden. Auf diesem Punkt tritt die ästhetische Bildung in ihre Rechte. Nur auf dem Weg des Kunstvermögens läßt sich die geschichtlich verwirkte Menschlichkeit zurückgewinnen. Denn „der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt"125. Mit Schillers ästhetischer Erziehung hat die weimarische Klassik ein Leitmotiv der Aufklärung wieder aufgenommen: die nationale Pädagogik. Ein Höchstmaß von geistiger Sinnkraft war für die Lösung der deutschen Problematik aufgeboten. Wie immer es um die Verwirklichung dieses grandiosen Gedankens bestellt sein mochte, für ihn sprach vor allem die Erfahrung der früher zur Reife gelangten romanischen Nationen, die ihre politische Bewußtseinsbildung weitgehend der Entfaltung einer nationalen Literatur verdankten. Auch im Verhältnis zur Literatur des klassischen Altertums folgt das Programm der deutschen Klassik dem vergangenen Vorbild. Wie durch den Humanismus die Entwicklung der nationalen Literaturen dem normativen Maßstab des klassischen Altertums unterworfen wurde, so ist für Schiller der Grundstein aller ästhetischen Erziehung das Erlebnis und das Verständnis der Zeugnisse des unwiederholbaren Glücksfalls, den die vollendete Darstellung des menschlichen Wesens im alten Hellas für die Geschichte der Menschheit bedeutet. Will das nicht besagen, daß nur der Besitz der philologischen Bildung die Anteilnahme an der modernen literarischen Bewegung gewährleistet? Es war in der Tat eine humanistische Elite, die sich in der Epoche des Absolutismus mit der Grundlegung dieser Literatur befaßte. Demgegenüber wurde schon in der Literatur der Aufklärung der Standpunkt des Durchschnittsmenschen bezogen. Seit der Jahrhundertmitte

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ist die plebejische Strömung unüberwindlich. Wenn in der deutschen Literatur der Weg beschritten werden sollte, den die Französische Revolution verfehlte, so mußte die literarische und ästhetische Erziehung die Gesamtheit der Nation erfassen. Der innere Widerspruch, der zwischen Schillers nationalpädagogischer Sendung und den nur einer Minderheit zugänglichen Bildungsmitteln, trat offen zutage, als Schiller sein Programm in einem publizistischen Unternehmen zu verwirklichen suchte. Die ästhetischen Briefe, die Schiller als die bei weitem bedeutendste Leistung seines bisherigen Lebenswerkes hinstellt, erschienen an programmatischer Stelle im ersten Heft der „Hören". Sie sind das letzte Wort der Politik. Der Ausschluß politischer Beiträge war alles andere als ein Ausdruck der Verzweiflung an unserem politischen Schicksal. Der ästhetische Zustand sollte die Revolution, die auf der Ebene der Gesellschaft scheitern mußte, ins Innere des Menschen tragen: „Kein Vorzug, keine Alleinherrschaft wird geduldet, so weit der Geschmack regiert und das Reich des schönen Scheins sich verbreitet. Dieses Reich erstreckt sich aufwärts, bis wo die Vernunft mit unbedingter Notwendigkeit herrscht und alle Materie aufhört; es erstreckt sich niederwärts, bis wo der Naturtrieb mit blinder Nötigung waltet und die Form noch nicht anfängt; ja selbst auf diesen äußersten Grenzen, wo die gesetzgebende Macht ihm genommen ist, läßt sich der Geschmack doch die vollziehende nicht entreißen."126

Als Goethe das für die „Hören" bestimmte Manuskript mit dem ersten Teil seiner „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" an Schiller geschickt hatte, erhob dieser den Einwand, die Sache des Ancien regime sei in dem dargestellten literarischen Gespräch zu günstig gestellt.127 Die politische Zurückhaltung kann hier nicht politische Indifferenz bedeuten. Der Anschauung Schillers kommt ein poetischer Beitrag Boies am nächsten, der in den „Hören" an sichtbarer Stelle veröffentlicht wurde. Der Inhalt des ersten, „Die Stände" überschriebenen Gedichts zieht das Ergebnis einer vom Kalifensohn unternommenen Erkundungsreise in die entferntesten Provinzen des Reiches. Die ständische Gliederung verwandelt die Gesellschaft in ein Chaos widerstreitender Interessen: Auf den gemeinen Vorteil acht Hat jeder Stand beim eignen Pflanzen; Auf das Erfordernis des Ganzen Nimmt auch kein einziger Bedacht. Ich habe Richter, Priester, Krieger, Die ihren Vorteil nicht verschmähn, Handwerker, Krämer, Zöllner, Pflüger, Und keinen Perser noch gesehn.128

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Die Konsequenz aus dem Beitrag wird im nächsten Gedicht gezogen: „Die Aufklärung". Die Aufklärung ist im Staate Harun al Raschids durchgedrungen, sehr zum Befremden des Großwesirs, der sich keinen Vers darauf machen kann, warum der Kalif ... nur Gelehrten Gunst Erweise? Schulen immer stifte? Und seine Staaten mit dem Dunst Der Alleswisserei vergifte?

Die Aufklärung muß nach der Meinung des Großwesirs zur Entfesselung der Opposition und zu einer auch vor dem Thron nicht haltmachenden Kritik führen: Wie aber, wenn die Lehrer glaubten, Es sei den Augen, so geehrt, Ein Blick ins Innre nicht verwehrt, Und sich den kühnen Blick erlaubten? Wo, hörbar halb, ein Tadel bellt, Wenn dies auch nun zu bessern fänden, Und sich, du Licht der ganzen Welt, Selbst dich zu meistern unterständen? Sie werden mehr, versetzt Harun, Geht es nach meinem Willen, tun: Gemeinsinn werden sie erwecken, Und mir, wo ich gefehlt, entdecken! Erlaubnis ihnen zugestehn Willst du, zu reden, was sie denken? — Nur Freie will ich um mich sehn! Wie kann des Sklaven Rat mich lenken? — Doch mag nicht auch ein weiser Mann Auf Irrtum kommen, ihn verbreiten? — Ein Weiserer wird ihn alsdann Zur Wahrheit, die nur ein' ist, leiten! Ich darf, erwidert der Wesir, Herr aller Herrn, dir nichts verschweigen, Selbst die Gefahren nicht, die mir Sich bei des Volks Erleuchtung zeigen. Kaum beugt's sein Knie dem neuen Gott, So traut es keinem, dem du trauest: Auf den du kaum mit Gnade schauest, Den trifft sein Tadel, trifft sein Spott. Ich selbst, Gebieter! — Ich verstehe, Fällt der Monarch ihm ein, und gehe.129

Diese Verse, an so sichtbarer Stelle abgedruckt, können im mindesten so viel beweisen, daß der Gedanke an eine völlige Liquidierung der ständi-

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sehen Welt für Schiller nichts Erschreckendes hatte. Die Rolle, die er der ästhetischen Erziehung des Menschen zuweist, muß in der an die ältere Aufklärung anklingenden Meinung des Dichters Boie Wissen und Bildung im weitesten Sinn übernehmen. Mit welch überschwenglicher Erwartung Schiller sein publizistisches Ziel verfolgte, das ersieht man schon aus seiner Bereitschaft, seine ganze Zeit auf das Geschäft der Redigierung zu wenden. Den „Hören" sollte eine monopolartige Stellung im deutschen Geistesleben gesichert werden. Schiller dachte sogar daran, Wieland den Vorschlag zu machen, „den ,Teutschen Merkur' eingehen zu lassen". Würde Wieland darauf nicht eingehen, so rechnete Schiller damit, „daß der ,Merkur' nach dem ersten Jahr der ,Hören' von selbst fallen soll, so wie alle Journale, die das Unglück haben, von ähnlichem Inhalt mit den ,Hören' zu sein"130. Um die singuläre Bedeutung der Zeitschrift zur Geltung zu bringen, wurden die bisher üblichen Honorare weit überboten. Es ist auffällig, daß Schiller diesem Motiv eine ausschlaggebende Bedeutung für das Prestige des Unternehmens beimaß. Schiller nennt in diesem Zusammenhang in einem seiner Briefe an den Verleger Goethe „eine zu kostbare Akquisition, als daß man ihn nicht, um welchen Preis es auch sei, erkaufen sollte"131. Keinesfalls durfte das Ansehen der „Hören" einfach dem Zufall der publizistischen Meinungsbildung überlassen werden. Schiller veranlaßte Cotta, die Rezensionen durch Honorierung der Zeitschriften in die Hand zu bekommen. Das Publikum, das die früheren Generationen vergottet hatten, gilt jetzt nur noch als eine blinde, der Lenkung dringend bedürftige Macht. All diese Manipulationen wurden durch die sichere Erwartung gerechtfertigt, daß die Zeitschrift eine einzigartige Rolle im nationalen Leben zu spielen berufen sei. Immer wieder betont der Redakteur in seinen Einladungsschreiben an die verschiedensten Autoren, daß sich „die besten Köpfe der Nation" in dieser Zeitschrift zusammenfänden.132 Auch der Verleger eines solchen Unternehmens kann der Unsterblichkeit gewiß sein: „Was den Verleger betrifft, so zweifle ich, ob ein Buchhändler etwas Ehrenvolleres unternehmen kann als ein solches Werk, das die ersten Köpfe der Nation vereinigt, und wenn dies die einzige Schrift wäre, die Sie verlegten, so müßte schon diese einzige Ihren Namen ... unsterblich machen."133 Schiller war sich im klaren darüber, welche Verpflichtung aus der von ihm beanspruchten Geltung der Zeitschrift erwachsen mußte. Vor allem war eine verbindliche Stellungnahme zu den zeitgenössischen deutschen Geistesbestrebungen gefordert. In der Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung" werden die symptomatischen Vertreter der einzelnen

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Gattungen herausgegriffen und beurteilt. Der Anspruch, gesetzlich gültige Entscheidungen zu bringen, ist auch bei diesem Ausblick auf die literarische Vor- und Mitwelt überall zu spüren. Das besondere Problem der richtunggebenden Beiträge Schillers war jedoch, inwieweit die erstrebte und geforderte Allgemeinverständlichkeit mit einer rigorosen Begrifflichkeit vereinbart werden konnte. Kein Zweifel, daß Schillers sprachlicher Genius sich auch an dieser im Grunde unerfüllbaren Aufgabe glänzend bewährte. Die Exemplare, durch die seine Prosa auf die Höhe der Begrifflichkeit gehoben wurde, standen indessen in einem absoluten Widerspruch zu der Entwicklung des publizistischen Stils im Sinne des sprachlichen Sensualismus und dem Drängen nach Veranschaulichung. Durch Wekhrlin war die nervöse Prosa Voltaires in die deutsche Journalistik gekommen. Diesem Stil wird die Zukunft gehören. Die jungdeutsche Bewegung wird diese wichtigste Errungenschaft der Aufklärung zur Norm erheben. Während die Schillersche Prosa den Leser zu ernster Gedankenarbeit anhält, war das Grundbestreben der Publizistik gerade die Umsetzung des Gedanklichen in die unmittelbar einleuchtende Sprache der Empfindung. Das Publikum war in der Epoche der „Hören" schon zu sehr verwöhnt, um die Mühe eigener Gedankenarbeit überhaupt noch auf sich zu nehmen. Der Gegensatz zwischen Schiller und Goethe war gerade in einem gemeinsamen Unternehmen am wenigsten zu verhehlen. Die schönsten poetischen Gaben Goethes, die „Römischen Elegien", mußten in der von Schillers Gedanken beherrschten Atmosphäre der „Hören" wie ein Fremdkörper wirken. Schon das uneinheitliche Gesicht der Zeitschrift entzog ihrem Anspruch auf eine führende Stellung den Boden. Die Mitarbeiter versagten. Das programmatische Vorbild, das Schiller in seinen beiden ästhetischen Beiträgen hatte geben wollen, mußte jeden entmutigen, der nicht gesonnen oder nicht befähigt war, das geforderte philosophische Pensum sich zu eigen zu machen. Der Niedergang der Zeitschrift wurde offenkundig, seitdem der Redakteur gezwungen war, die monatlichen acht Bogen mit langatmigen, in Fortsetzungen erscheinenden Übersetzungen von sehr ungleichem Wert und Interesse zu füllen. Das Unternehmen wurde endgültig im Januar 1798 von Schiller aufgegeben. Der Vorschlag, den Schiller für die Gestaltung der letzten Nummer machte, „einen tollen politischen Aufsatz" einzurücken, „der ein Verbot der ,Horen' veranlaßt"134 haben würde — dieser sicher halb ernst gemeinte Einfall kann doch als ein neuer Beweis dafür gelten, daß Schiller an dem politischen Ausgangspunkt seiner in den „Hören" bekundeten Zuwendung zur Ästhetik festhielt.

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Das nationalpädagogische Programm war in den „Hören" nicht am passiven Widerstand, sondern am Widerspruch der andersdenkenden Zeitgenossen gegen den Monopolanspruch des geistigen Lebens gescheitert. Daß nicht Indifferenz und Indolenz des Publikums das widrige Schicksal der Zeitschrift verschuldet hatten, das läßt sich auch aus Schillers Beobachtung folgern, es sei „merkwürdig, daß wir es nicht einmal durch den Reiz einer ungewöhnlich großen Honorierung haben dahin bringen können, gewisse Bäche in unser Journal zu leiten, die in anderen Journalen um das halbe Geld so ergiebig fließen"135. Wenn dem so war, so wird man sich mit der alles unerlaubt vereinfachenden Behauptung nicht mehr begnügen, die „Hören" wären der Indolenz und dem Stumpfsinn des deutschen Publikums zum Opfer gefallen. Zum Glück ist uns die Meinung der Durchschnittsleser durch Nicolais „Horen"-Besprechung von 1796 übermittelt. Sie war im elften Band seiner „Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz" erschienen. Lessings Kampfgefährte hielt sich durch eine vierzigjährige literarische Praxis und durch seine allseitige Kenntnis der deutschen Welt für berechtigt, das Urteil der großen Mehrheit der „Hören"-Leser auszusprechen und den Schiller umkleidenden Nimbus der Unnahbarkeit schonungslos zu zerreißen. Die Kanonisierung der Klassik durch unsere Literaturgeschichte verhinderte bisher die sachliche Würdigung der Einwände Nicolais. Die äußerst lebhafte, ja leidenschaftliche Reaktion Goethes und Schillers auf den in maßvollem Ton vorgetragenen Angriff Nicolais wurde nicht als ein unerläßlicher Gegenzug in der literarischen Kriegführung und auch nicht als die Feuerprobe des neu geschlossenen Bundes von Goethe und Schiller angesehen, sondern als das Endgericht über den sich selbst überlebenden Repräsentanten der älteren Aufklärung sanktioniert. In Wahrheit war das Kriterium des gesunden Menschenverstandes, über das Nicolai nicht hinauskam, für die Beurteilung einer die deutsche Allgemeinheit angehenden Sache keineswegs unangebracht. Nicolai geht von den utopischen Versprechungen des Schillerschen Prospektes aus. Die Enttäuschung war schon dadurch unausbleiblich. Den Hauptgrund des Mißerfolges sieht Nicolai aber in der Überflutung der Schillerschen Prosa durch Begriffe und Vorstellungen der modischen kritisch-spekulativen Philosophie. Nicolai hält die Ausbreitung der spekulativen Methode für eine ernste Bedrohung der deutschen Bildung und des deutschen Geisteslebens. Erhebt doch der Idealismus der Kantianer und Fichteaner einen ähnlichen Totalitätsanspruch über alles Wissen wie seinerzeit der Wölfische Rationalismus. Nicolai prophezeit, im Jahre 1840 wäre

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die spekulative Philosophie so veraltet und vergessen wie vielleicht seine eigenen Schriften. Und Nicolai sollte recht behalten. 1844 wurde von Karl Marx die philosophische Situation in ein paar Sätzen umrissen, die eine überraschende Rechtfertigung des von Nicolai gefällten Urteils darstellt: Friedrich Nicolai schrieb 1796 in der „Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz", Bd. XI, Berlin - Stettin 1796, S. 190 f.:

Karl Marx sagt 1844 in der „Deutschen Ideologie", Berlin 1957, S. 196 f.:

„Und könnten oder wollten sie selbst auch alsdann noch keinen Widerspruch hören, nun, so findet dann im Jahr 1840 vielleicht irgendein Liebhaber alter Bücher in irgendeinem bestaubten Winkel einer öffentlichen Bibliothek neben den formalen deduzierenden philosophischen Schriften, welche jetzt mit so vielem Geräusche den menschlichen Verstand, nach abgelaufener präklusivischer Frist, a priori für unfähig erklären, mehr von der Wahrheit zu erkennen, als sie entdeckt zu haben vermeinen, oder auf andere als auf die kritische Art sie zu sehen, auch von ungefähr diese meine geringfügige, bloß empirisch verfaßte Reisebeschreibung, deren Verfasser der Meinung war, daß weder der Grad der zu erfindenden möglichen Wahrheit so leicht zu bestimmen noch die Kräfte des menschlichen Verstandes so leicht auszumessen sein möchten. Und wer kann so genau im voraus wissen, ob der Liebhaber alter verlegener Bücher im J. 1840 über mein Vertrauen zum menschlichen Geiste oder über dieser Herren Vertrauen zur kritischen Philosophie lachen wird? Vielleicht wird er keins von beiden der Mühe wert halten. Vielleicht werden gegen diese Zeit die tiefsinnigen Untersuchungen über bedingt und unbedingt, formal und material, kritisch und dogmatisch, allgemeingültig und gebietend, nebst den jetzt so wichtigen Streitfragen, was an den Vorstellungen etwa Stoff oder Form sei, ob der Kategorien gerade zwölf und nicht mehr und nicht weniger zu rechnen, wievielerlei das Ich sei, und wie sich das NichtIch dagegen verhalte, ob man ohne erstes

„Der Zustand Deutschlands am Ende des vorigen Jahrhunderts spiegelt sich vollständig ab in Kants ,Kritik der praktischen Vernunft'. Während die französische Bourgeoisie sich durch die kolossalste Revolution, die die Geschichte kennt, zur Herrschaft aufschwang und den europäischen Kontinent eroberte, während die bereits politisch emanzipierte englische Bourgeoisie die Industrie revolutionierte und sich Indien politisch und die ganze andere Welt kommerziell unterwarf, brachten es die ohnmächtigen deutschen Bürger nur zum .guten Willen'. Kant beruhigte sich bei dem bloßen ,guten Willen', selbst wenn er ohne alles Resultat bleibt, und setzte die Verwirklichung dieses guten Willens, die Harmonie zwischen ihm und den Bedürfnissen und Trieben der Individuen, ins Jenseits. Dieser gute Wille Kants entspricht vollständig der Ohnmacht, Gedrücktheit und Misere der deutschen Bürger, deren kleinliche Interessen nie fähig waren, sich zu gemeinschaftlichen, nationalen Interessen einer Klasse zu entwickeln, und die deshalb fortwährend von den Bourgeois aller anderen Nationen exploitiert wurden. Diesen kleinlichen Lokalinteressen entsprach einerseits die wirkliche lokale und provinzielle Borniertheit, andrerseits die kosmopolitsche Aufgeblähtheit der deutschen Bürger. Überhaupt hatte seit der Reformation die deutsche Entwicklung einen ganz kleinbürgerlichen Charakter erhalten. Der alte Feudaladel war größtenteils in den Bauernkriegen vernichtet worden; was übrigblieb, waren entweder reichsunmittelbare Duodezfürsten, die sich

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Über die Konstellation der deutschen Aufklärung Prinzip philosophisch atmen könne, und ob ein erstes Prinzip die Philosophie belebe, wenn man beim Bewußtsein stehenbleibt — in Deutschland, auch bei den Gelehrten, nicht mehr so viel Interesse haben als jetzt? Möglich wäre das! In Frankreich und in England sind die Spekulationen der theoretischen Philosophie mit allen ihren scharfsinnigen und spitzfindigen Unterscheidungen, welche dort vor 100 oder 200 Jahren noch weit mehr Aufsehen machten, von Gelehrten und Ungelehrten so ziemlich ganz vergessen; und Frankreich und England besteht doch und hat seit 200 Jahren unstreitig sehr viel an Literatur und an entwickelten Kräften des menschlichen Verstandes gewonnen!"

allmählich eine ziemliche Unabhängigkeit verschafften und die absolute Monarchie im kleinsten und kleinstädtischsten Maßstabe nachahmten, oder kleinere Grundbesitzer, die teils ihr bißchen Vermögen an den kleinen Höfen durchbrachten und dann von kleinen Stellen in den kleinen Armeen und Regierungsbüros lebten — oder Krautjunker, die ein Leben führten, dessen sich der bescheidenste englische Squire oder französische gentilhomme de province geschämt hätte."

Schon Nicolai sah die groteske Selbstüberschätzung der Epigonen des Idealismus, die jeden Winkelzug ihres Denkens für ein welterschütterndes Ereignis hielten. Wie Karl Marx gedachte Nicolai der Engländer und Franzosen, die trotz ihrer Unberührtheit von der deutschen Modephilosophie immerhin ihren geistigen Platz in der Menschenwelt zu behaupten verstanden. Wenn Nicolai im übrigen behauptete, daß er sich um das Verständnis Kants eifrig und nicht ganz erfolglos bemühe und daß er nach wie vor die großen Werke Goethes und Schillers bewundere, so ist das keine bloße Rhetorik. Es ist ganz klar, worin auch die ältere Aufklärung Kant willkommen hieß: in der Begrenzung der Operationen des Verstandes auf den Bereich der Erfahrung. Wenn Nicolai von Kant nur den Kampf mit dem Rationalismus gelten läßt, so mußten ihn Schiller und Goethe gerade in ihrer jüngsten Entwicklung am meisten überzeugen. Nicolai hatte die „Werther"-Mode satirisch befehdet und war durch Schillers Erstling beunruhigt worden. Aber hatten nicht Schiller und Goethe selbst die Exzesse ihrer Geniezeit bereut? Gerade auf dem Weg zu abgeklärteren Schöpfungen wurden Schiller und Goethe auch für die ältere Aufklärung bedeutsam, die durch das Gebaren der Stürmer und Dränger herausgefordert worden war. Viel tiefer als die doch meist an der Oberfläche haftenden Argumente Nicolais greift die Polemik des späten Herder. Für Herders weit ausstrahlenden Historismus ist die von Schiller vorgenommene Reduktion der Menschheitsgeschichte auf Hellas und auf die Moderne eine ungerechtfer-

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tigte Abdankung der Erkenntnis. Mit der Wiedereinführung der Gattungsbegriffe und Gattungsdefinitionen konnte sich Herder, der an der Zerstörung der formalistischen Poetik so entscheidend beteiligt war, nicht gut abfinden. Die Kant-Schillersche Definition der ästhetischen Anschauung als einer uninteressierten Betrachtung erregt Herders entschiedensten und durchaus begründeten Widerspruch. Freilich war seine Besorgnis grundlos, daß durch Schiller die Ästhetik aller Bindungen an die Gesetze der geistigen und der handelnden Menschheit entledigt würde. Auch für Schiller war das Verhältnis von Kunst und Leben der Ausgangspunkt seiner Betrachtungen, die allerdings zu einer dem Sturm und Drang entgegengesetzten Lösung führten: nur dadurch würde die Kunst befähigt, ihre hohe Sendung auszuführen, daß sie die in ihr liegende Gesetzlichkeit erfülle. Erst die Entfaltung des romantischen Kunstabsolutismus ließ den Abgrund erkennen, vor dem die Divergenzen zwischen den verschiedenen Phasen der großen Geistesbewegung des 18. Jahrhunderts verschwanden. Wenn auch die deutsche Klassik einen Höhepunkt oder den Höhepunkt in der großen Bewegung des 18. Jahrhunderts darstellt, so ist es doch nicht an dem, daß die Nachwelt durch die Ergebnisse ihres geistigen Kampfes von jeder erneuten Beschäftigung mit der überwundenen Vorwelt, mit der Aufklärung befreit worden wäre. In den geschichtlichen Wissenschaften gibt es keine Resultate, die unabhängig von dem Prozeß ihres Zustandekommens gelten würden. Ein lebendiges Verhältnis zur deutschen Klassik erfordert das Eingehen auf ihren Kampf, auf ihre Auseinandersetzung mit den Bestrebungen der vor ihr liegenden Geisteswelt und auf die nur im Augenblick des Kampfes verhehlte Erkenntnis ihres Ursprungs in der Aufklärung und ihrer inneren Zugehörigkeit zu der im 18. Jahrhundert in Frankreich und Deutschland einsetzenden Bewegung. Auch Goethe, der dem Autor der „Kalligone" und der „Adrastea" noch die tendenziöse Erhöhung jener vergangenen Epoche vorgeworfen hatte, kam diesem Vermächtnis Herders ein Menschenalter nach dessen Tode in einem seiner letzten Gespräche mit Eckermann noch ganz nahe: „ ,Ich lese jetzt einen Band von Diderot', sagte ich, ,und bin erstaunt über das außerordentliche Talent dieses Mannes. Und welche Kenntnisse und welche Gewalt der Rede! Man sieht in eine große bewegte Welt, wo einer dem ändern zu schaffen machte und Geist und Charakter so in beständiger Übung erhalten wurden, daß beide gewandt und stark werden mußten. Was aber die Franzosen im vorigen Jahrhundert in der Literatur für Männer hatten, erscheint ganz außerordentlich. Ich muß schon erstaunen, wie ich nur eben hineinblicke.' — ,Es war die Metamorphose einer hundertjährigen Literatur', sagte Goethe, ,die seit Ludwig dem Vierzehnten heranwuchs und zuletzt in voller Blüte stand. Voltaire hetzte aber eigentlich Geister wie Diderot, d'Alembert, Beaumarchais und andere herauf, denn um neben ihm nur etwas zu sein, mußte man viel sein, und es galt kein Feiern.'"136

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Anmerkungen 1 Herrn von Hofmannswaldau und anderer Deutschen auserlesene und bisher ungedruckte Gedichte, Bd. VI, Leipzig 1709, S. 51. 2 Ebenda, S. 58. 3 Ebenda, S. 76. 4 Vgl. Hofmannswaldau ... Gedichte, Bd. II, Leipzig 1697, S. 135. 5 Friedrich von Logaus Sämtliche Sinngedichte, Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart, Bd. CXIII, Tübingen 1872, S. 293. 6 Hofmannswaldau ... Gedichte, Bd. I, Leipzig 1697, S. 303. 7 Benjamin Schmolck, Sinnreiche Trost- und Trauerschriften, nebst Jacob Staalkopffs, Pastoris zu St. Georgii in Wismar und des Königl. Consistorii Assessoris, Vorrede von denen Eigenschaften und Kennzeichen eines guten Buches, Bd. II, Leipzig und Wismar 1725. 8 Johann Gottfried von Herder, Haben wir noch das Publikum und Vaterland der Alten? In: Herders sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 17, Berlin 1881, S. 284-319, das Zitat S. 319. 9 Brief vom 25. VII. 1784, Georg Forsters Sämtliche Schriften, hg. von Therese Forster, Bd. VII, Leipzig 1843, S. 251. 10 [Johann Caspar Riesbeck,] Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder zu Paris, Bd. I, o. O. 1784, S. 218 f. 11 Johann Wilhelm Ludwig Gleims Sämtliche Werke, Bd. VII, Halberstadt 1813, S. 104. 12 August Ludwig Schlözer, Staatsanzeigen, Bd. XII, Göttingen 1788, S. 243 f. 13 Isaak Iselin, Philosophische und patriotische Träume eines Menschenfreundes, 2. Aufl., Zürich 1758, S. 129. 14 Johann Georg Zimmermann, Vom Nationalstolze, Zürich 1758, S. 277. 15 Iselin, Philosophische und patriotische Träume, S. 4. 16 Ebenda, S. 109. 17 Ebenda, S. 196. 18 Vgl. ebenda, S. 197. 19 Ebenda, S. 178. 20 Ebenda, S. 179. 21 Ebenda, S. 182. 22 Ebenda, S. 188 f. 23 Karl Wilhelm Ramler, Lyrische Gedichte, Berlin 1772, S. 189 f. 24 Johann Peter Uz, Sämtliche poetische Werke, Bd. I, Biel 1772, S. 141 f. 25 Ebenda, S. 28 f. 26 Ebenda, S. 163 f. 27 David Friedrich Strauß, Schubarts Leben in seinen Briefen, Bd. I, Berlin 1849, S. 142. 28 Schubart, Vaterlandschronik, Stuttgart 1788, S. 804. 29 Friedrich Karl Moser, Von dem deutschen Nationalgeist, Frankfurt a. M. 1765, S. 12 f. 30 Ebenda, S. 98. 31 Ebenda, S. 15 f. 32 Vgl. ebenda, S. 26. 33 Ebenda, S. 54. 34 Ebenda, S. 85 f. 35 Justus Mösers Sämtliche Werke, Bd. IX, Berlin 1843, S. 241. 36 Noch etwas zum deutschen Nationalgeist, Lindau 1766, S. 203. 37 Ebenda, S. 214 f. 38 Mösers Sämtliche Werke, Bd. IX, S. 249. 39 Ebenda, Bd. X, Berlin 1843, S. 151. 40 Brief an Nicolai vom 24.1. 1778, ebenda, S. 170.

Anmerkungen

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41 Thomas Abbt, Vom Tode für das Vaterland, 2. Aufl., Berlin - Stettin 1770, S. 11 (Erstausgabe 1761). 42 Ebenda, S. 16. 43 Joseph Sonnenfels, Über die Liebe des Vaterlandes, Wien 1771, S. 98 f. 44 [Johann Valentin Embser,] Die Abgötterei unseres philosophischen Jahrhunderts, Mannheim 1779, S. 190 f. 45 Klopstock, Der Lehrling der Griechen, 1747. 46 Vgl. Stammler, Politische Schlagworte in der Zeit der Aufklärung, in: Goetz-Festschrift, Marburg/Lahn 1948, S. 203. 47 Klopstock, Weissagung, 1773. 48 Christian und Friedrich Leopold Stolberg, Gedichte, hg. von Heinrich Christian Boie, Karlsruhe 1783, S. 96. 49 Ebenda, S. 61 f. 50 Ebenda, S. 103 ff. 51 Christian Friedrich Daniel Schubarts Sämtliche Gedichte, Bd. III, Frankfurt a. M. 1787, S. 122. 52 Schubart, Der Wolf und der Hund, ebenda, Bd. II, S. 253. 53 Schubart, Deutsche Chronik, 1. Vierteljahr 1774, S. 43. 54 Schubart, Vaterlandschronik, 20. III. 1789, S. 180. 55 Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde, 6. Abt., Leipzig 1776, S. 143. 56 Schubarts Sämtliche Gedichte, Bd. II, Frankfurt a. M. 1787, S. 74 f. 57 Friedrich Karl Kasimir von Creutz, Die Gräber, Frankfurt — Mainz 1760, S. 56 f. 58 Schubarts Sämtliche Gedichte, Bd. II, S. 298 f. 59 Gottfried August Bürger, Sämtliche Werke, Bd. I, Göttingen 1844, S. 256 f. 60 Ebenda, S. 84. 61 Woldemar Wenck, Deutschland vor 100 Jahren, Bd. II, Leipzig 1890, S. 15. 62 Christian Gotthilf Salzmann, Carl von Carlsberg oder Über das menschliche Elend, Bd. I, Karlsruhe 1784, S. 275. 63 Brief vom 14. VII. 1787, Strauß, Schubarts Leben in seinen Briefen, Bd. II, Berlin 1849, S. 341. 64 Salzmann, Carl von Carlsberg, Bd. II, Karlsruhe 1784, S. 13 f. 65 Ebenda, Bd. I, S. 309. 66 Ebenda, S. 232. 67 Ebenda, S. 177 f. 68 Ebenda, Bd. II, S. 210 f. 69 Ebenda, S. 225 f. 70 Ebenda, S. 226 f. 71 Ebenda, S. 16 f. 72 Ebenda, S. 227. 73 Wenck, Deutschland vor 100 Jahren, Bd. I, S. 119. 74 Schlözer, Staatsanzeigen, Bd. I, Göttingen 1782, S. 32. 75 Georg Forsters Sämtliche Schriften, Bd. VII, Leipzig 1843, S. 135. 76 Ebenda, S. 215 f. 77 Berlinische Monatsschrift, hg. von F. Gedike und J. E. Biester, 1. Halbjahr 1785, S. 239 f. 78 Ebenda, S. 241 f. 79 Ebenda, 1. Halbjahr 1783, S. 347. 80 Ebenda, 2. Halbjahr 1783, S. 450 f. 81 Ebenda, 1. Halbjahr 1783, S. 387 ff. 82 Ebenda, 2. Halbjahr 1786, S. 373 ff. 83 Nicolaus Vogt, Über die europäische Republik, Frankfurt a. M. 1788, S. 53 f. 84 Courrier du Bas-Rhin, zitiert nach: Schlözers Staatsanzeigen, Bd. XII, S. 47. 85 Sebastian Mercier, Du theatre, ou Nouvel essai sur Part dramatique, Amsterdam 1773, S. 225 ff.

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Über die Konstellation der deutschen Aufklärung Wende, Deutschland vor 100 Jahren, Bd. I, S. 18 f. Adam Weishaupt, Einige Originalschriften des Illuminatenordens, München 1787, S. 237. Ebenda, S. 135. Weishaupt, Geschichte der Vervollkommnung des menschlichen Geschlechts, Bd. l, Nürnberg 1788, S. 219. [Riesbeck,] Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland, Bd. II, o. O. 1784, S. 154. Welche Verdienste erwerben sich noble Fürsten um die Wissenschaft?, Schneeberg im Erzgebirge 1803, S. 3 f. Johann Goldfriedrich, Geschichte des deutschen Buchhandels 1740-1804, Leipzig 1909, S. 401. Ebenda. Schlözer, Staatsanzeigen, Bd. II, Göttingen 1782, S. 364 ff. Schubart, Vaterlandschronik, 12. V. 1789, S. 317. Ebenda, 11. VIII. 1789, S. 523. Ebenda, 13. II. 1789, S. 104. Brief an den Sohn vom 18. XI. 1787, Strauß, Schubarts Leben in seinen Briefen, Bd. II, S. 357 ff. Ebenda. Adolf Freiherr von Knigge, Briefe, auf einer Reise aus Lothringen nach Niedersachsen geschrieben, Hannover 1793, S. 202 ff. Schlözer, Staatsanzeigen, Bd. X, Göttingen 1787, S. 338 ff. Johann Christian Edelmann, Abgenötigtes, jedoch ändern nicht wieder aufgenötigtes Glaubensbekenntnis, o. O. 1746, S. 187 f. Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen, FrankfurtLeipzig 1736, Vorbericht. Johann Christoph Gottsched, Historische Lobschrift des weiland hoch- und wohlgeborenen Herrn Christian H. R. R. Freiherrn von Wolff, Halle 1755, S. 149. Hegel, Werke, hg. von Hermann Glockner, Bd. XIX, S. 479. Johann Gottlieb Buhle, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Bd. VII, Göttingen 1802, S. 35. Brief vom 1. VI. 1768, Strauß, Schubarts Leben in seinen Briefen, Bd. I, S. 168. Johann Wilhelm Archenholtz, Annalen der britischen Geschichte, 1788 [vgl. EA, S. 647], S. 133. Georg Friedrich Meier, Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmackes der Deutschen, in Absicht auf die schönen Wissenschaften, Halle 1746, S. 34 f. Mösers Sämtliche Werke, Bd. X, Berlin 1843, S. 164 f. Jakob Michael Reinhold Lenz, Gesammelte Schriften, hg. von Ludwig Tieck, Bd. II, Berlin 1828, S. 226 f. Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten, Bd. I, Karlsruhe 1799, S. 123. Rudolf Stadelmann, Der historische Sinn bei Herder, Halle 1928, S. 107. Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten, Bd. II, Karlsruhe 1799, S. 126. Lenz, Über die Vorzüge der deutschen Sprache, Gesammelte Schriften, Bd. II, S. 326 ff. Friedrich Maximilian Klingers Werke, Bd. XI, Leipzig 1832, S. 12 ff. Ebenda, S. 60. Ebenda, S. 66. Ebenda, S. 9. Ebenda, S. 34. Ebenda, Bd. XII, S. 265 f. Goethe, Cottas Jubiläumsausgabe, Bd. XXVII, 1905, S. 4. Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Schillers Sämtliche Werke, Säkularausgabe, Bd. XII, Stuttgart - Berlin 1904/05, S. 6, 14.

Anmerkungen 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136

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Ebenda, S. 9. Ebenda, S. 59. Ebenda, S. 119. Brief an Goethe vom 29. XI. 1794, Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. XXVII, Weimar 1958, S. 93. Die Hören, 1797, 3. Stück, S. 19. Ebenda, 4. Stück, S. l ff. Brief an Cotta vom 10. VII. 1794, Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. XXVII, S. 21. Brief an Cotta vom 9.1. 1795, ebenda, S. 118. Brief an Erhard vom 26. V. 1794, ebenda, S. 4. Brief an Cotta vom 14. VI. 1794, ebenda, S. 15. Brief an Goethe vom 26.1. 1798, Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Bd. II, Leipzig 1912, S. 25. Brief an Goethe vom 30.1. 1798, ebenda, S. 31 f. Goethes Gespräche mit Eckermann, Berlin 1955, S. 625 (Gespräch vom 21. III. 1831).

Der Weg der deutschen Aufklärung nach Frankreich während des 18. Jahrhunderts

Deutsche und Franzosen im 18. Jahrhundert Die Zuwendung der deutschen zur französischen Literatur im 18. Jahrhundert blieb in Deutschland ohne unmittelbaren Einfluß auf das Verhältnis zur französischen Nation, das nach wie vor ein äußerst gespanntes war. Man könnte nicht behaupten, daß es die Deutschen im 18. Jahrhundert gegenüber Frankreich an Selbstbewußtsein fehlen ließen. Ganz im Gegenteil — schon bei Gottsched ist ein Ton der Gereiztheit zu spüren, der sich nicht selten zur Francophobie, zum offenen Franzosenhaß, steigerte. Das Bestreben nach Kenntnis und Verständnis der französischen Literatur und Aufklärung war keineswegs von einer verstärkten Bereitschaft zur Verständigung von Nation zu Nation begleitet, sondern lediglich auf Selbstverständnis — auf die Selbstverständigung der eigenen, durch eine Literatur zu einenden Nation gerichtet. Nur auf dem Weg über Frankreich konnte die deutsche Literatur ihre eigenen Probleme auf der Höhe der Gegenwart zu fassen bekommen. Der Bruch mit der barocken Vergangenheit hatte die literarische Kontinuität zerstört und das Verhältnis zur eigenen Vergangenheit aufgehoben. Was hatten Gryphius und Grimmeishausen den Deutschen noch zu sagen, nachdem Klopstock und Lessing mit ihren ersten Werken erschienen waren? Gewiß sehr viel weniger als Voltaire und als Diderot oder Rousseau! Die immerwährende Vorbildstellung der französischen Literatur war alles andere als eine Empfehlung für eine Nation, die immer nur gab und niemals einer Gegengabe zu bedürfen schien. Natürlich ist es viel schwerer, immer nehmen zu müssen, als selbst zu geben! Man könnte sich denken, daß das deutsche Ressentiment gegen die Franzosen gerade mit der Angewiesenheit auf das Vorbild der französischen Literatur zusammenhing. Indessen hat sich mit der grundlegenden Änderung der deutschen Literaturgeltung seit den sechziger Jahren kein Umschwung in der Beurteilung der französischen Nation ergeben. Wir folgern daraus, daß der antifranzösische

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Affekt in unserer bürgerlichen Intelligenz viel tiefer verankert war als in den literarischen Beziehungen, die freilich den Streit mit neuem Zündstoff beständig von neuem entflammten. Wir können hier nur an ein paar schlaglichtartigen Fällen das Mißverständnis zwischen den beiden Nationen zu erhellen versuchen. Der Anlaß des Streites war oft an den Haaren herbeigezogen, oft konnte er überhaupt nur durch eine maßlose Aufbauschung der deutschen Reaktionen entstehen. Selbstquälerisch werden die längst bekannten, gedankenlos weitergetragenen Episoden und Anekdötchen nachgesprochen, die unsere Nation in eine wenig vorteilhafte Beleuchtung versetzen mochten. Empört fragt Justus Möser, ob wir es wirklich noch länger mit Geduld anhören sollen, wenn ein vornehmer Kardinal sich das Bonmot erlaubt: „Ich erkenne die drei Nationen bei einem Glase Wein, worin eine Fliege liegt. Der Italiener gibt das Glas weg; der Franzose nimmt die Fliege heraus, und der Deutsche schluckt sie mit herunter." Häufig wird auch die schon von Brantöme wiedergegebene Anekdote über die vielsprachige Praxis Kaiser Karls V. nacherzählt. Danach soll der Kaiser kastilisch gebetet, französisch mit seinen Mätressen, italienisch mit den Diplomaten und deutsch mit seinem Stallpersonal gesprochen haben. Die Legende wurde im 18. Jahrhundert noch vergröbert: nicht für den Verkehr mit den Stallknechten, sondern für die vierbeinigen Stallbewohner wäre das Deutsche vorbehalten gewesen. Der Marquis d'Argens, der die Anekdote in dieser Fassung wieder auftischt (1738), war allerdings von der Absicht durchdrungen, die humanistische Überbewertung des Sprachlichen durch den offenbaren Widersinn in einem solchen Werturteil ad absurdum zu führen. Für d'Argens ist eine Sprache so gut wie die andere. Nur was gesprochen wird, ist wesentlich und gibt den Anlaß zu Unterscheidungen und Wertungen. Wenn eine Sprache zum Instrument einer großen Literatur wird, so wird sie durch diesen Gebrauch gefestigt und gehoben. Die Sprache kann nur durch das Gesprochene, nicht durch sich selber Wert bekommen. In Deutschland hielt man auch diesmal nur die Anekdote fest und nicht ihre Widerlegung durch den Autor, ganz so, als hätte d'Argens die dem habsburgischen Kaiser unterschobenen zynischen Vorurteile sich zu eigen gemacht und sich daraus seine Anschauung der zeitgenössischen deutschen Sprache gebildet. Nicht anders verfuhr man mit einer dem Jesuiten Bouhours zur Last gelegten Äußerung über das geistferne Wesen der Deutschen: ein geistreicher Deutscher würde in Frankreich wie eine wunderbare Erscheinung bestaunt. In der Tat findet sich in Bouhours' 1671 erschienenem Dialog „Ariste et Eugene" die Wiedergabe eines Ausspruchs des Kardinals

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Du Perron, der über einen deutschen Ordensbruder urteilte, für einen Deutschen müsse er für einen geistreichen Kopf gehalten werden. Das Werk des französischen Jesuiten lag schon mehr als ein halbes Jahrhundert zurück, als Gottsched sich des Falles bemächtigte, als würde er die Gegenwart unmittelbar betreffen. Zur Widerlegung wurde eine ganze Zahl von deutschen Humanisten und von in Deutschland gemachten Erfindungen ins Treffen geführt, damit, wie Gottsched sich ausdrückte, „die französischen Windmacher" beschämt den Rückzug ergreifen. Der „Windmacher" Bouhours war Gottsched nicht unbekannt. Seine ästhetischen und stilistischen Untersuchungen hatten nach den Feststellungen von Waniek einen beträchtlichen Einfluß auf den „Versuch einer kritischen Dichtkunst", der Gottscheds Ruhm in dauerhafter Weise begründet hatte. Wie war es möglich, daß Gottsched die Ärgernis erregende Äußerung eines sonst von ihm geschätzten Autors ungeprüft wiedergab und als Waffe gegen ihn verwertete? Der Pater Bouhours war Jesuit. Den Jesuiten wurden mit mehr oder weniger Recht alle möglichen Verirrungen zur Last gelegt, doch wurden sie niemals des Chauvinismus geziehen, der mit der ultramontanen Grundrichtung des Ordens in einen unhaltbaren Widerspruch geraten wäre. Eine Überprüfung des Sachverhalts führt in der Tat zu dem Ergebnis, daß der Pater Bouhours alles andere erstrebte als die Errichtung eines französischen Monopols auf „esprit" und ein absprechendes Urteil über die geistige Bildung der Frankreich benachbarten Nationen, daß er im Gegenteil die Hybris der klassischen Franzosen gegenüber allen fremden Geisteserzeugnissen aufs schärfste bekämpfte. Um seine wirklichen Gedanken zu fassen, muß man vor allem die dialogische Natur des kleinen Werkes beachten. Die Behauptung, daß wirklicher Geist mit dem Wesen der deutschen wie übrigens aller anderen außerfranzösischen Nationen unvereinbar sei, wird im Lauf des Gesprächs widerlegt. Jede Nation kann unter bestimmten Voraussetzungen zu einer ähnlichen Geistesblüte gelangen, wie sie den Franzosen in der von Bouhours durchlebten Epoche beschieden war. Die mangelhafte Unterrichtung des sonst so gründlichen Gottsched verrät das Übergewicht der Affekte, die den ganzen Komplex der Beziehungen zur französischen Nation schon damals aufs schwerste belasteten. Neben Bouhours spielt in der zeitgenössischen Diskussion der Fall Mauvillon eine beträchtliche Rolle. Eleazar Mauvillon (1712—1779), ein Deutschlandgänger, der schließlich in Braunschweig ansässig wurde, veröffentlichte 1740 seine ersten Reiseeindrücke in den „Lettres francaises et germaniques". Der Zustand der beiden Nationen wird Gegenstand eines

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weitgespannten Vergleiches, der wie ein leidenschaftliches Streitgespräch um den Anteil der beiden Völker an den Errungenschaften des Wissens, um ihre angeborenen und erworbenen Fähigkeiten ausgetragen wird. Dabei erweist sich Mauvillon im Grunde als ein treffsicherer und vorurteilsloser Beobachter. Bei der Musterung der deutschen Sonette verfährt er nicht minder gründlich als bei der Inspektion der weit besser abschneidenden deutschen Rekruten. Es fehlt nicht an überraschenden Beobachtungen, die Scharfsinn und Intelligenz verraten, zum Beispiel, daß die Klassengrenzen in Frankreich rücksichtslos alle menschlichen Bande zerschneiden, daß die feudalistische Hierarchie in Deutschland vielleicht noch ausgeprägter sei und trotzdem die spontane Verbindung zwischen Mensch und Mensch ununterbrochen fortbestehe. Indessen endigt die mutig und ehrlich durchgeführte Enquete mit einer unabwendbaren Fehlanzeige: Die Deutschen sind eine Nation, die offenbar noch keine nationale Dichtung hervorgebracht hat. Bei einer Umfrage nannte man ihm die überragenden Dichter, einen Brockes, einen Canitz. Die Analyse der herausgegriffenen Verse zeigt das Versagen und die Zurückgebliebenheit, die fehlende Formqualität und schließlich den völligen Mangel an Eigengewicht und schöpferischen Impulsen. Der Autor genügte seinen Reporterpflichten, wenn er sich allein an das Verwirklichte und an die vorhandenen Leistungen hielt, nicht aber auf die schon entzündeten Erwartungen und Regungen achtete. Bedenkt man zudem das Stichjahr dieser Diagnose (1740), so ist an der Gültigkeit dieses Urteils nicht mehr zu zweifeln. Es unterscheidet sich nicht von dem, was Gottsched selbst in den letzten Jahrzehnten zu wiederholten Malen festgestellt hatte. Für die empörten Deutschen galt diese Feststellung von unberufener Seite jedoch als eine Kampfansage, als eine Beleidigung der Nation. Das Urteil wurde einfach aus seinem zeitlichen Rahmen herausgenommen, als hätte Mauvillon über die deutsche Literatur im 18. Jahrhundert schlechthin sein Diktum gefällt. Sein Name wurde, wie der von Bouhours, von immer erneuten Wellen der Empörung bis an die Grenze unserer Zeit getragen. Ein Mann wie Gottsched, der seine Schuld gegenüber der französischen Literatur beständig vermehrte, hat seine Geringschätzung der französischen Nation nie verborgen. Die Politik der Franzosen wird mit dem Maßstab von Richelieu als eine Politik der Zerstörung Deutschlands beurteilt. Gottsched gehörte zu denen, die sich durch die Äußerung Mauvillons im tiefsten verletzt fühlten, obwohl seine Diagnose der deutschen Literatur nichts anderes sagte, als was der Meister selbst schon seit Jahrzehnten schmerzlich feststellen mußte. Aber Gottsched hält eben keinen Franzosen für berufen, die

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Wahrheit über Deutschland auszusprechen. Den Franzosen wird verübelt, daß sie sich „für einen geborenen Hofmeister" der ganzen Menschheit halten. 1 Auch die in Frankreich angebahnte Wandlung zugunsten der deutschen Literatur und selbst die Gottsched persönlich zugefallene Anerkennung vermochten seinen Unmut nicht zu zerstreuen. Gerade mit der Verpflichtung der deutsch-französischen Literaturbeziehungen wurde der ausfällige Ton der von Gottsched geschriebenen oder inspirierten Revuen immer peinlicher empfunden. In dieser Lage versuchte Grimm als geborener Vermittler zwischen den beiden Literaturen auf seinen alten Gönner und Lehrer einzuwirken. Der Brief vom 30. November 1757 kann ohne Zweifel als eine autorisierte Verlautbarung der französischen Auffassung gelten. Er schreibt unter anderem: „Nun bitte ich mir meinerseits von Ew. Magnifizenz ein bißchen mehr Freundschaft für meine Franzosen aus. Wer immer Ew. Magnifizenz die Pariser Artikel in den Journal liefert, ich kann versichern, daß sie meist ohne Grund und teils lächerlich sind. Zum Exempel alles, was von der Opera und von Monsieur Rameau gesagt ist. Monsieur Rameau wird von allen Kennern für einen der größten Tonkünstler, die jemals gewesen, gehalten, und mit Recht. Ew. Magnifizenz dürfen nur lesen, was mein sehr guter Freund d'Alembert in der Vorrede zur »Enzyklopädie* von ihm spricht. Die ganze Historic von Monsieur Diderot ist falsch und ehrenrührig für einen Mann, der mit Recht hier unter die Zahl der größten Köpfe gezählet wird. So wollte ich auch Ew. Magnifizenz etwas mehr Freundschaft für den Herrn von Voltaire beizubringen wünschen. Die Franzosen sind an sich so schätzbar und sind uns Deutschen so gewogen, ob es Ew. Magnifizenz nimmer glauben können. Dero Name ist seit einiger Zeit in Paris in solchen Ehren, daß dieses wohl einige Gegenfreundschaft verdient. Wenigstens sollte es mir, der ich mit allen hiesigen Gelehrten in genauer Freundschaft und unter anderen mit der Familie des Herrn von Voltaire — sollte es mir wohl leid tun, wenn man erführe, daß Ew. Magnifizenz so scharf mit der Nation verfahren."2

Grimm war noch Deutscher genug, um sich durch die unbillige Verhaltensweise seiner Landsleute betroffen zu fühlen. Aber eine Entspannung kam nicht zustande. Auch das seit den sechziger Jahren einsetzende Interesse der Franzosen an der deutschen Literatur vermochte keinen Stimmungsumschwung in Deutschland herbeizuführen. Im Gegenteil: die Beschäftigung der Franzosen mit der deutschen Literatur wird als eine Profanation empfunden: Ihr guten Leutchen, übersetzt Mir meinen Klopstock nicht! Ihr werdet Mörder, ihr zerfetzt Ihm seiner Engel Angesicht,

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Und seiner Teufel Wüten oder Klagen Wird unter euren Händen schwach; Und sein Messias — ach! Wird noch einmal geschändet und geschlagen! Da stehn die Gaffer, ha! vor meines Klopstocks Oden Und möchten wissen, was sie sehn: Ob Sonnentempel, ob Pagoden? Ist's häßlich oder schön?3

Der provozierende Tonfall der Gleimschen Verse blieb nicht vereinzelt. „Ich würde über den Beifall der Franzosen erröten" — so äußert sich 1779 der jugendliche Verfasser eines Schauspiels, dessen Mißerfolg übrigens die diesbezüglichen Befürchtungen des Autors bald gründlich zerstreute. Dagegen wurde für den schon berühmten Journalisten Wekhrlin die überhebliche Äußerung zum Anlaß für eine sehr grundsätzliche und bekenntnishafte Auseinandersetzung mit dem „Herostratentum" der deutschen Literaten: „Was ist der neueste Ton der Literatur in Deutschland? Mit Stolz und Verachtung von den Franzosen sprechen und auf Voltairen schimpfen. Unter allen Ursachen, welche sich zusammen vereinigen, sagt Bacon, das irrende Urteil der Menschen zu verblenden und die Seele falsch zu leiten, ist der Hochmut, das unfehlbare Laster der Toren, diejenige, welche schwache Köpfe am strengsten beherrscht. Denn was die Natur am Verdienst versagt hat, ersetzt sie reichlich mit dürftigem Stolz. Niemals hat ein Sinnspruch mehr auf das Beispiel unserer Zeiten gepaßt. Wäre es aus einem Trieb zur Vergeltung, daß wir von den Franzosen verächtlich sprechen, weil sie einst so von den Deutschen gesprochen haben sollen, so ging's noch mit. Eine der menschlichen Natur angeborene Empfindlichkeit würde es entschuldigen, sie würde vielleicht den Beweggrund verschönern. Aber so edel ist der Trieb nicht. Es ist Stolz, der dummgrobe Stolz der Scaliger, der Salmasius, der Laurentius Valla und aller übrigen Pedanten, Vorgänger der deutschen Literatur. Vielleicht ist unter allen wirklichen deutschen Schriftstellern keiner mehr berechtigt, sich dieser Sache anzunehmen, wie ich. Ich habe, wie meine schwachen Versuche zeigen, meinen Geist größtenteils an der Quelle der französischen Pierinnen genährt. Schon sehr früh tränkten sie mich mit ihrer heiligen Milch. Der Muse Galliens bin ich mein weniges Wissen ganz schuldig. Nie werde ich die Dankbarkeit vergessen, die sie meinem Herzen eingegraben hat. Ewig werde ich mich mit der Hochachtung erinnern, die ich dem Namen der Männer von Genie schuldig bin, durch deren Hände sie mir den kastalischen Becher reichte. Ihn sah ich — den Tempel der gallischen Muse. Vielleicht trat keiner meiner Zeitverwandten unter den deutschen Schriftstellern so weit hinein. Ich sah die unsterblichen Reihen der Denksäulen, Descartes, Corneille, Pascal, Bossuet, Moliere, Fenelon, Voltaire, Crebillon, Cresset, Buffon, Fontenelle.

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Der Weg der deutschen Aufklärung nach Frankreich Von einem heiligen Schaur gerührt, hob sich mein Herz. In Entzücken hingerissen, warf ich mich nieder und rief: Heil euch, ihr finstern Wohnungen des ehrwürdigen Phöbus: itzt erkenne ich die Unsterblichen!

Wisset eure Geschichte, Verächter der Franzosen! Eure Väter waren einst so dumm und so pedantisch, als ihr itzt stolz und vielwissend seid. Die französische Nation hatte längst ihre Corneilles, ihre Arnaulds und ihre Bossuets, als jene nach Thesen, Konkordanzen, Kommentaren und Systemen schrieben. Deutschland war längste Zeit das Reich der Schulfüchse, der Silbenrichter und der Mückentöter. Ein Mann, der wahren Anspruch auf die Hochachtung seines Vaterlands hat, dem ihr aber mit Undank begegnet, entstund. Er suchte euch von eurem schwärmerischen Hang an die Schulgelehrsamkeit abwendig und auf die Werke der Neuern aufmerksam zu machen. Mit unermüdeter Faust lieferte er euch Übersetzungen von den berühmtesten Schriftstellern aus dem schimmernden Jahrhundert Ludwigs XIV. Ihr fielet wie die Kinder darauf. Kein Fleck, keine Scharteke war zu elend, daß ihr sie nicht durch die Übersetzerfabriken, die ihr in Menge anleget, ins Deutsche bringen ließet. Die Begierde, womit ihr alles, was aus Frankreich kam, verschlänget, bewies die Armut eures Geistes und den Hunger eurer Seele. Man hatte in Frankreich bereits die ,Briefe' des Pascal, die Oden des Rousseau, die Lustspiele des Moliere, den ,Geist der Gesetze', als ihr noch an den Romanen des Urfe, an der ,Tausendundeine Nacht' und den Märchen des Marivaux hinget. Endlich finget ihr an nachzuahmen. Eure erste Arbeit war Romanen. Zuerst hattet ihr nicht sonderlich Glück, weil sich euer schulgerechter Verstand noch nicht über die Schranken der Logik und der Dialektik zu erheben getraute. Kaum wart ihr glücklicher — dies war ungefähr um die Periode der Canitz, der Hagedorn, der Cronegk —, so zeigte sich eure Unterwerfung unter den französischen Genie sichtbarlich. Alles, was ihr dachtet und schriebet, hatte einen französischen Schimmer. Euer sklavischer Gang auf dem Wege der Franzosen bezeugte, daß ihr sie für eure Meister erkennet ..."4

Wekhrlin war nicht der einzige, der die modischen Kraftsprüche über Frankreich verurteilt. Zwei Jahre später ließ sich Wezel folgendermaßen vernehmen: „... die häufigen Te Deum laudamus, die manche unter unseren Autoren über den Fall der französischen Literatur seit einiger Zeit anstimmen, und die Herabsetzung der französischen Schriftsteller oder gar der ganzen Nation, beides beweist nichts für unsere größere Vortrefflichkeit: wer das Te Deum zuerst singen läßt, hat selten die Schlacht gewonnen; und sind die Franzosen so klein, als man sie seit einiger Zeit ausgibt, so macht es uns ja keine Ehre, sie zu übertreffen." 5

In einem Rückblick Jean Pauls aus dem Jahre 1808 wird an die Haltung der Deutschen im achten Jahrzehnt erinnert: „In den Jahren 1770—1780 hatten wir — nach abgetaner Gallomanie — einige Anglo- und noch mehr

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Germanomanie und schätzten uns höher." Die Gruppe der unentwegten Voltairianer war zu einer kleinen Minderheit zusammengeschmolzen, über die sich die führende „Berlinische Monatsschrift" 1784 in einer redaktionellen Bemerkung folgendermaßen ausläßt: „Aus mehreren ein Exempel ist das /Taschenbuch der Philosophie 1783', wo die Weisheit das Panier trägt: Was weiß ich? Voltaire der Abgott ist, der alle Staaten gebildet haben soll, und im Philosophenmond sich ebensowenig für Moses Mendelssohn als im Dichtermond für Klopstock ein Plätzchen hat finden wollen. Auf dem Titelkupfer kränzen die Grazien Beaumarchais' Büste außerhalb dem dort abgebildeten Tempel, zum Lohn dafür, daß er Voltairen den Tempel erbaut hat. Vermutlich soll doch nun auch der, welcher die Grazien um jene Büste versammelte, wieder einen Lohn dafür haben. Und welchen werden die Deutschfranzosen unter unseren Philosophen ihm zuerkennen?" 6

Die Formen der Francophobie waren durch das neugewonnene literarische Selbstbewußtsein in Deutschland verändert worden — nicht aber die Einstellung selbst, die offenbar aus tieferen Schichten des gesellschaftlichen Bewußtseins kam. Der Franzosenhaß war in den Klassenkämpfen des deutschen Bürgertums begründet. Die zahlreichen deutschen Residenzen sind Mittelpunkte einer französisch parlierenden Kavaliersgesellschaft, die den ganzen Abscheu des ehrsamen Bürgertums bildet. Französisch war die Sprache der Unterdrücker, die allenthalben dem längst verblichenen Stil des französischen Absolutismus zu einem Scheinleben in hundertfacher Brechung verhalfen. Der Größenwahnsinn errichtete in jedem gefürsteten Schrebergarten ein Klein-Versailles, eine Zwingburg, zu der nicht selten die Ludwige von Frankreich den Namen hergaben: „Seit der Errichtung so vieler Ludwigshöfe in hundert Residenzflecken und Dörfern", sagt Herder, „mußte Deutschland sich selbst so fremde, seinem bürgerlichen Charakter, seiner Tugend und seiner Sprache so abtrünnig werden ..." Die Französisierung der herrschenden deutschen Schichten wird in einem Rückblick von Garve überzeugend dargestellt: „In dieser Zwischenzeit, am Ende des vorigen Jahrhunderts, machten unsre westlichen Nachbarn, die Franzosen, auf einmal ein gewaltiges Aufsehen. Sie eroberten und schrieben; und wer durch die Pracht des Königs und den Mut der Truppen auf die Nation war aufmerksam gemacht worden, der fand, wenn er näher mit ihr bekannt ward, Schriftsteller und Künstler, die Hochachtung und Bewunderung verdienten. Die Veränderung war so plötzlich, so groß, daß sie notwendig sowohl die Franzosen selbst als auch ihre Nachbarn in eine Art von Betäubung setzen mußte, in welcher beide nicht wußten, was sie von sich und was sie von den ändern zu halten hätten. Jene glaubten getrost, daß sie die erste Nation auf der Welt wären, und in der Tat hatten sie einigen Anspruch auf diesen Namen. — Die deutsche Nation war damals noch ein so zusammengesetztes, ungleichartiges Ganze, daß das Urteil über jene sehr verschieden ausfiel. Alle, die durch ihren Rang oder ihre Teilnehmung an den öffentlichen Staatsgeschäften den Glanz dieses erobernden und witzigen Volkes mehr in der Nähe sahen und ihn mit der traurigen Dunkelheit ihrer eigenen

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Nation verglichen, welche nichts als Schulgelehrte aufweisen konnte, die alle beeiferten sich, an diesem Glänze teilzunehmen, suchten sich, so viel als möglich, dieser fremden Nation einzuverleiben, sich von ihrer eigenen durch Sprache und Sitten zu unterscheiden; und so waren sie herzlich zufrieden, daß die Deutschen von den Franzosen verachtet wurden, weil sie selbst glaubten, halbe Franzosen zu sein."7

Was aber dem Haß gegen Frankreich die Krone aufsetzen mußte, das waren die als Schnorrer, als Abenteurer und professionale Schuldenmacher von den Duodezpotentaten angezogenen Glücksritter, deren einziger Paß ihre Nationalität war, mit der sie den privilegierten Schichten ohne weiteres gleichgestellt wurden. Schon zu Anfang des Jahrhunderts war ein reuig heimgekehrter protestantischer Emigrant mit einem lesenswerten Rapport über seine zum Teil in Deutschland verbrachte Emigration hervorgetreten. Darin ist von dem abgründigen Franzosenhaß des deutschen Volkes die Rede. Diese Gefühle schlugen Bruys überall entgegen, vor allem in den Wirtschaften, wo er mit Vertretern des deutschen Volks in Berührung kam. Ganz richtig bemerkt der Verfasser, daß diese unergötzliche Haltung fortwährend von den in Deutschland die Höfe und Städte unsicher machenden französischen Abenteurern genährt wird.8 Mehrere Jahrzehnte später hatte Forster Gelegenheit, die Hochstapeleien gewisser, an dem Kasseler Hof wohlangeschriebener Franzosen zu durchschauen. Forster schrieb an seinen Vater: „Wenn Sie einen Franzosen kennen, der geläufig Unsinn reden kann und eine eherne Stirn hat, so senden Sie ihn hierher, und in Jahresfrist wird er ein angesehener Mann."9 Das schlimmste war, daß zu den beutemachenden Abenteurern nicht selten die wirklichen Repräsentanten der französischen Aufklärung stießen. Voltaire war familiärer Gast des Königs von Preußen, des Kurfürsten von der Pfalz, der Herzöge von Württemberg, Sachsen-Meiningen und so weiter. Dieses widernatürliche Bündnis war für das ehrbare deutsche Bürgertum ein Greuel. Die deutsche Literatur war ausgeschlossen von den deutschen Höfen — verdrängt, wie man glaubte, durch das arrogante Gebaren der französischen Gäste. Der schlichte Bürgerstolz der geistigen Jugendblüte Deutschlands begegnete mit tiefer Enttäuschung den Sendungen und Emissären der französischen Aufklärung. Voltaire Arm in Arm mit dem König von Preußen — man kann sich die Wirkung dieses Bildes bei den schnöde verdrängten Repräsentanten der literarischen Zukunft Deutschlands nicht tief genug denken. Wie sollten sie das verwegene Spiel der französischen Aufklärung begreifen, ihr Werben um die Souveräne und Mächtigen der Erde, die ihrer Suggestion über kurz oder lang gehorchen würden. Man ahnte in Deutschland nichts von der in Frankreich schon erreichten

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Unterwühlung des Ancien regime, von den an allen lebenswichtigen Stellen des Staates schon bestehenden Querverbindungen zum Hauptquartier der Aufklärung. Der junge Lessing verschmähte die ihm angebotene Freundschaft Voltaires. Voltaire ist für ihn lebenslänglich die „bete noire", sein Theater der Inbegriff höfischer Unkunst und Unnatur. Aber wollte Lessing mit seiner Verurteilung des klassischen Theaters der Franzosen die Abkehr von der französischen Literatur überhaupt vollzogen haben? Hatte nicht Lessing selbst mit Genugtuung die ersten Zeichen einer Wandlung aufgegriffen, die sich in Diderots Jugendschriften anzubahnen schienen? Lessing mochte sich wohl denken, daß die Erneuerung des klassischen Theaters durch Voltaire nicht das letzte Wort der französischen Dramatiker bleiben würde. Indessen blieb sowohl die politische wie die künstlerische Rolle Voltaires eine schlechte Empfehlung der französischen Aufklärung, die offenbar durchaus nicht gewillt war, sich energisch von der Praxis des herrschenden Despotismus loszusagen. Die Francophilie der höfischen Kreise genügte, um in den unterdrückten Schichten des deutschen Volkes den letzten Rest einer Sympathie für die französische Nation zu ersticken. Wie Georg Forster in seiner berühmten Rede an die Mainzer Jakobiner betonte, wurde das Mißverhältnis zwischen dem deutschen und dem französischen Volk von dem höfischen Deutschland nicht etwa bedauert, sondern in jeder Weise begünstigt. Der Kontakt von Volk zu Volk, den Herder und der deutsche Sturm und Drang zur Losung machten, war für die herrschenden Kreise seit jeher ein Greuel. Indessen änderte sich nichts an ihrer französischen Orientierung. Daß man von den Werken Wielands oder Klopstocks schließlich Kenntnis nahm, war lediglich das Verdienst der französischen Übersetzer. Wie sehr der bürgerliche Klassenkampf mit dem feudalisierenden Despotismus das Verhältnis der deutschen Intelligenz zu Frankreich getrübt und belastet hatte, das wurde erst durch die elektrisierende Wirkung der Französischen Revolution auf alle Deutschen erkennbar. Mit einem Schlag war alles beschattende Mißtrauen zerstreut. Zu Unrecht hatte man an der Tatkraft des französischen Volkes gezweifelt. Dagegen war die beharrliche Zuwendung der deutschen zur französischen Literatur nunmehr nachträglich glänzend gerechtfertigt. Die Zustimmung zur Französischen Revolution beschränkte sich keineswegs auf die künftigen deutschen Jakobiner. Sie war gleichermaßen das Bekenntnis der Romantiker, dieser künftigen Stützen der wiederaufgerichteten feudalen Vorherrschaft im Deutschland der Restaurationszeit. Neben Friedrich Schlegel und Görres war es vor allem Fichte, der noch im Jahr 1793 zu schreiben wagte:

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„Die Zeiten der Barbarei sind vorbei, ihr Völker, wo man euch im Namen Gottes anzukündigen wagte, ihr seiet Herdenvieh, die Gott deswegen auf die Erde gesetzt habe, um einem Dutzend Göttersöhnen zum Tragen ihrer Lasten zu Knechten und Mägden ihrer Bequemlichkeit und endlich zum Abschlachten zu dienen."

Soweit der junge Fichte. So weit und noch weiter reichte die Strahlungskraft einer Nation, der es gelungen war, ihr Wesen mit einem universalen Prinzip zu verschmelzen. Sie drang vor allem in die nächstgelegenen süddeutschen Länder. Christoph Friedrich Cotta, der Bruder des Buchhändlerkönigs, erwarb 1791 die französische Bürgerschaft in Straßburg und erschien als Begleiter General Custines in Mainz, wo er mit Forster den Aufbau der freiheitlichen Verfassung in die Hand nahm. Der Schwabe Gotthold Friedrich Stäudlin führte die von Schubart übernommene „Chronik" in einem so radikalen Geist, daß die Wiener Staatskanzlei das Verbot verhängte. Stäudlin endet, des Landes verwiesen, durch Freitod. Glücklicher war der Stern, der dem Schorndorfer Karl Friedrich Reinhard durch alle Phasen der Französischen Revolution treu blieb. Er diente als Diplomat den Girondisten und Jakobinern. Andere, wie Georg Kerner, folgten dem Beispiel Klopstocks und kämpften für die Sache der Freiheit auch gegen ihre entarteten Söhne. In der Stuttgarter Karlsschule und im Tübinger Stift kam es zur spontanen Bildung von revolutionären Zirkeln. Schelling verdeutschte die „Marseillaise", und mit ihm waren Hegel und Hölderlin im Bunde. Hegel, durch die frühe Lektüre Rousseaus der Revolution gewonnen, predigte Freiheit und Gleichheit im Kreis der Kommilitonen. Ein Freiheitsbaum wird gepflanzt. Man verschafft sich französische Blätter. Nach dem Bericht von Hegels Schüler Rosenkranz fand man in den Stammbuchblättern „fast alle Töne angeschlagen, welche die Begeisterung für jenes gigantische Ereignis in den Jünglingen hervorlocken mußte. ,In tyrannos!' wütet der eine mit Hütten. ,Tod dem Gesindel!' ruft ein anderer, ,Vive la liberte!' ein dritter, ,Vive Jean-Jacques!' ein vierter, ,Et perisse ä jamais l'affreuse politique, qui pretend sur les cceurs un pouvoir absolu!' ein fünfter, ,Vaterland und Freiheit!' ein sechster."

Diese naiven Losungen einer juvenilen Begeisterung verraten doch schon die Vielfalt der bewegenden Motive, mit denen die Revolution der Franzosen auf das deutsche Nationalgefühl einwirkte. Klopstock wird durch das völlig veränderte Verhältnis zwischen den beiden Nationen am tiefsten betroffen. ... O Schicksal! Das sind sie also, das sind sie, Unsere Brüder, die Franken; und wir?10

Klopstock sieht die elementare Verwandlung eines Volkes, das sich „freischuf", das sich „umgeschaffen" hat. Dieses Wort von Klopstockscher Prä-

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gung wird auch Forster im Mainzer Jakobinerklub gebrauchen, um das Mißtrauen gegen den bisherigen Erbfeind zu zerstreuen: „Erst vier Jahre alt ist die Freiheit der Franzosen, und seht, schon sind sie ein umgeschaffenes Volk!"11 Nur eine umgeschaffene Nation konnte den Geist der äußeren Zwietracht bezwingen: ... Sogar das gräßlichste aller Ungeheuer, der Krieg, wird an die Kette gelegt!12

Im Gegensatz zu Klopstock, der über die jakobinische Verletzung der einmalig errungenen Freiheit nicht hinwegkam, begleitete Herders Enthusiasmus die Revolution bis zu ihrem Gipfel. „Denn nur Despotismus oder gemeines Wesen sind die beiden Endpunkte", schreibt Herder in jenen Jahren, „die Pole, um welche sich die Kugel dreht; gemäßigte Monarchie ist bloß das unregelmäßige Wanken von einem zum ändern Pole." Solche Worte sind nicht die Eingebung einer momentanen Berückung durch einen Massenwahn; in ihnen spiegeln sich, um es herderisch zu sagen, die „wirkenden Kräfte" auf dem Gipfel der geschichtlichen Bewußtheit. Die Mehrheit der Deutschen, die 1789 mit begeistertem Beifall nicht kargten, wollte an den grundlegenden Errungenschaften der Revolution zeitlebens festgehalten haben. Nur daß jedes Hinausgehen über den Standpunkt von 1790 von ihnen als Ausschreitung verworfen wurde. Aber wie immer auch die deutschen Zeitgenossen sich im Angesicht der wachsenden Radikalisierung der Revolution und ihres stufenweisen Niederganges verhalten mochten, die hohe Bedeutung der einmütigen Begeisterung auf einem gipfelnden Augenblick der Geschichte bleibt bestehen. Bestehen bleibt auch der durch das Revolutionserlebnis erhellte Ausblick auf das vergangene Verhältnis der deutschen zur französischen Aufklärung. Wenn Klopstock in einer 1766 entstandenen Ode „Wir und Sie" für die deutsche Nation die Ebenbürtigkeit gegenüber den Errungenschaften der westlichen Völker in Anspruch nahm, so wird diese Forderung ein Vierteljahrhundert später unter dem Eindruck der Französischen Revolution widerrufen: „Sie, und nicht wir" (1790): Ach, du wärest es nicht, mein Vaterland, das der Freiheit Gipfel erstieg, Beispiel strahlte den Völkern umher; Frankreich war's! Du labtest dich nicht an der frohsten der Ehren. Brächest den heiligen Zweig dieser Unsterblichkeit nicht!13

Seit dem Ausbruch der Französischen Revolution war die Francophobie, die in der Aufklärungszeit das aufsässige Bürgertum befallen hatte, bei den

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herrschenden Schichten in Deutschland eingezogen. Georg Forster hat in seiner schon erwähnten Rede den Mainzer Jakobinern diesen auffälligen Stimmungsumschwung dargestellt: „... und plötzlich ändert sich der ekle Geschmack des lispelnden und lallenden Aristokraten; die Sprache freier Männer verwundet seine Zunge; gern möchte er uns überreden, daß er durch und durch ein Deutscher, daß er sich sogar der französischen Sprache schäme, um hinterdrein mit dem Wunsch hervorzutreten, daß wir doch nicht den Franken nachahmen sollten..." 14

Unter den zahlreichen Erlebnisberichten von deutschen Zeitgenossen verdienen Joachim Heinrich Campes „Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben" die stärkste Beachtung. Enthusiasmus ist von vornherein die Grundstimmung, in der dieser deutsche Reisende an die französische Umwälzung herangeht. Daß er sich sofort mit der Vorhut der Revolution in Verbindung setzte, war gewißlich dem Glücksfall zuzuschreiben, der Campe einen solchen Cicerone wie Louis-Sebastien Mercier beschert hatte. Aber die Bereitschaft, den Gesichtspunkt der Revolution zu übernehmen, war bei Campe von vornherein vorhanden. Das ergibt sich aus dem Anfang der Betrachtung, der uns zugleich verrät, daß das revolutionäre Frankreich in den Mittelpunkt einer neuen Mythologie einrückt: „Paris, den 4ten August 1789. Ob es wirklich wahr ist, mein lieber T., daß ich in Paris bin? Daß die neuen Griechen und Römer, die ich hier um und neben mir sehe, wirklich vor einigen Wochen noch — Franzosen waren? Daß die großen, wunderbaren Schauspiele, die in diesen Tagen hier aufgeführt worden sind und noch täglich aufgeführt werden, keine Geschöpfe meiner Phantasie, kein Traum, sondern Tatsachen sind? Fast könnte ich diese Fragen allen Ernstes an Sie tun, so wenig stimmt, was ich hier stündlich sehe, höre und empfinde, mit den Begriffen überein, die wir in Deutschland von dieser Stadt und von diesem Volke uns zu machen bisher berechtigt zu sein schienen."15

Was hier angedeutet wird, das erhält seine dichterische Erfüllung in Hölderlins Durchdringung der alten Mythen mit der neuen Geschichtserfahrung der Französischen Revolution.

Das französische Buch und die französische Übersetzungsliteratur auf dem deutschen Buchmarkt So gewiß die Entstehung der literarischen Aufklärung in Deutschland nur aus den besonderen deutschen Verhältnissen, aus den wachsenden Klassengegensätzen und aus der bügerlichen Bewußtseinsbildung erklärt werden

Das französische Buch und die französische Übersetzungsliteratur

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kann, so war doch die deutsche Aufklärung bei der Ausarbeitung ihres theoretischen Weltbildes durchaus auf das Vorbild der in England und vor allem in Frankreich geleisteten Gedankenarbeit angewiesen. Das Verhältnis der beginnenden deutschen Literaturentwicklung zu dem, was das französische Geistesleben auf allen Gebieten schon in verlockender Weise verwirklicht hatte, wird in einer Broschüre von buchhändlerischer Seite kurz vor der Jahrhundertmitte ressentimentfrei und sachlich überzeugend umrissen: „Frankreich wird insgeheim für den Sitz der ingenieusen Menschen gehalten, auch daher zur Imitation mehr als andere Nationen in Teutschland zum Muster gebraucht, dieweilen diese Nation nicht nur alle Wissenschaften in ihrer Muttersprache, sondern auch sehr viele Bücher zum Zeitvertreib darinnen drucken lasset, indem die Nation zum Bücherlesen sehr aufgelegt ist ... Ein solches Beispiel ist jetzo Teutschland auch, und seit der Zeit, da die teutsche Sprache verbessert worden, siehet man fast in allen Wissenschaften und Übersetzungen und Erfindungen in dieser Sprache am meisten Bücher."16

Es darf nicht verwundern, daß im Berichtsjahr (1748) trotz aller erfreulichen Ansätze die deutsche Buchproduktion noch keine im Ausland gängige und abzusetzende Ware darstellte. Auf der Leipziger Messe war die Geringschätzung der deutschen Literatur noch immer offenkundig: „Hier (auf den Frankfurter und Leipziger Messen — W. K.) erscheinen Ausländer ... Das gemeine teutsche Gut sehen sie als eine schlechte Scheidmünze an, die an ihrem Ort keinen Wert hat, unterdessen nimmt doch mancher von unseren Teutschen ihre eigene verlegene und abgewürdigte französische und lateinische Ware für gut Silber an, dieweilen sie so aussiehet. Warum? Die Literatur ist bei uns nicht Mode."17

Die Unterbilanz der deutschen Literatur in der Pflege des Romans wird 1746 in einer Sammlung französischer Übersetzungen, „Buch ohne Titel", hervorgehoben: „Wir empfinden nirgends die Armut unserer witzigen Schriften mehr, als wenn wir unsere Romanschreiber durchzählen wollen. Wir haben weder einen Marivaux noch einen Crebillon, noch einen Prevost, noch einen Mouhy, da Frankreich alle diese Schriftsteller zu einer Zeit hat; ja wir haben nicht einmal Romanschreiber, die nur so gut wären wie diejenigen, deren Namen sich in dem Pöbel von Romanschreibern verlieren. Diese bittere Wahrheit hätte ich verschweigen sollen, wenn ich wegen der Sünde, daß ich zu unsern erfindsamen Zeiten noch übersetzt habe, Vergebung erlangen wollen."

Die französische Literatur erreichte das deutsche Publikum nicht nur in der Umformung deutscher Übersetzungen — sie wurde von einem beachtlichen Teil der Leserschaft im Urtext erworben. Das Französische war im 18. Jahrhundert weit mehr verbreitet als jemals irgendeine fremde Sprache

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in Deutschland. Sie war die Sprache der Bildung schlechthin, so wie die französische Literatur bis über die Jahrhunderthälfte hinaus als die Literatur überhaupt angesehen wurde. Die ungeheure Massierung französischer Bücher in den deutschen Adelsbibliotheken kann gewiß nur ausnahmsweise für das Zeugnis einer literarischen Liebhaberei oder gar echter Kennerschaft genommen werden. Die Ergänzung des ererbten oder schon früher erworbenen Besitzes durch Neuerscheinungen, die wir in vielen Fällen feststellen können, stammte vermutlich aus Ansichtssendungen des für französische Literatur spezialisierten deutschen Sortiments. Der Wunsch, auf der Höhe der Zeit zu bleiben und sich orientiert zu zeigen, entsprach der gesellschaftlichen Konvention, die nicht mit echtem Bildungsverlangen verwechselt werden darf. Die den Einband ausfüllenden eingravierten Wappen ermöglichten zudem ein engeres Besitzverhältnis als die Hortung anderer Kostbarkeiten, denen das unverwischbare Merkmal des Eigentümers nicht so leicht eingegraben werden konnte. Auch für diese Kreise war die französische Literatur weit mehr als irgendeine andere Literatur — auch für sie war sie eine Quelle von wissenswerter Aktualität, aus der die gebildete Konversation fortwährend gespeist wurde. Das geht aus einer Episode in dem berühmten Reiseroman von Hermes hervor, einem dem französischen Einfluß durchaus abholden Autor: „ ,Revenons ä nos moutons! Wie war denn der Zustand des Wissens in Deutschland, vor der Ausbesserung der Sprache?' (Hätte sie mich gefragt, so hätte ich ihr so gut davon Bericht gegeben als von den böhmischen Wäldern.) ,Nicht so schlecht, als wir's denken. Wir sind der Zwerg auf des Riesen Schultern. Man schrieb damals witzig, aber nur lateinisch und sehr gelehrt. Man schrieb große Folianten. Diese wurden als Ballast nach Frankreich verladen. Dort machte man Auszüge aus unserm gelehrten Wust, und diese schickte man uns als «fantaisies musquees» (so sagte er; aber wenn das hier nicht niedliche Büchergen heißt, so weiß ich's nicht) wieder zurück.' ,Also haben sich beide Nationen, eine die andere verschönert?' Ja; nur wir nahmen engländische Schminke vom französischen Putztisch; denn der Geist unsrer Nation ist der Geist der englischen. Man sieht das an dem, in beiden gleichen, Geschmack in Absicht der Werke des Witzes, des Theaters, der Dichtkunst, sowohl in genauso genannten Gedichten als in Romanen, moralischen Schilderungen.' ,Doch haben Sie sich in Absicht des Theaters noch nicht entscheidend bestimmt.' (Hier dachte ich an einer Anmerkung zu ersticken!) ,Ich glaube', sagte ich, ,daß die Schauspiele nur dann gefallen, wann sie den Menschen aus sich selbst versetzen. Ernsthafte Nationen lieben die Possen. Scherzende lieben das Ernste, und ... und das ...' ,Austere!' rief Herr Selten. (Himmel, wie erschrak ich! Ich war rot bis an die Haube und glaubte, er würde sogar das Buch nennen, wo ich meine Anmerkung gefischt habe. Ich sann schon auf einen Vor-

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wand, absteigen zu können. — Nein, nein, es ist nichts, wenn wir Mädgen gelehrt tun! Die bösen Mannspersonen haben alles gelesen. — Diesmal kam ich mit der Furcht weg, doch hoffe ich, daß ich ein bisgen drüber maulen werde, daß er die ,Berlue' so gut wie ich gelesen habe. Übrigens, Fiekchen, möchtest du dir jetzt genügen lassen! — Hier lasse ich eine Lücke, denn mir verging Hören und Sehen. Endlich hob ich mein Haupt allgemach wieder empor.)"18

Genaueste Unterrichtung über die neuesten französischen Erscheinungen ist eine Bildungspflicht, der auch die Feinde der französischen Nachahmung noch immer Genüge tun. Die Erklärung der Episode gibt eine Stelle aus der Sammlung von „Geistesfunken" (berlues), die ein mittelmäßiger und wenig erfolgreicher Schriftsteller, Poinsinet de Sivry, 1759 anonym veröffentlicht hatte: „Les nations serieuses aiment le theatre bouffon, et les nations badines preferent le theatre grave et austere. Les spectacles ne plaisent a l'homme, qu'autant qu'ils le tirent hors de lui-meme!"19 Nicht nur die Heldin hat ihre geistige Toilette durch Memorieren dieser französischen Sätze ergänzt, sondern auch ihr ernsthafter Partner ist in der Lage, die Aphorismen wortwörtlich zu zitieren. Während des ganzen 18. Jahrhunderts ist die französische Literatur in den Lagern der deutschen Sortimenter reicher als irgendeine andere ausländische Literatur vertreten. In den Leipziger Messekatalogen erscheint bis zur Jahrhundertmitte französische und deutsche Literatur in gleicher Stärke. Daß auch in der Zeit der deutschen Emanzipationsbewegung, das heißt in dem vom Sturm und Drang erfüllten Endabschnitt der deutschen Aufklärung, die französische Literatur noch immer Heimatrecht bei uns besaß, dafür könnte man viele Zeugnisse anführen. So hatte 1773 eine literarisch gebildete Dame Bürger mit der Auswahl einer geeigneten Lektüresendung beauftragt: ein Roman muß es sein, französisch oder deutsch, das spielt überhaupt keine Rolle.20 Bemerkenswert ist aber, daß der Dichter der „Lenore" nicht anders dachte, als er für seine eigene Braut einen Lesestoff aussuchen mußte: die historische Schauernovelle von Arnaud, „Comte de Comminge", empfiehlt sich ihm zu diesem Zweck ebenso wie der Hermessche Moderoman „Sophiens Reise".21 Alle franzosenfeindlichen Deklamationen konnten an der französischen Orientierung der deutschen Bildungsträger nichts ändern, obwohl doch eine Epoche des gewaltigen Aufschwungs der deutschen Literatur von einem nicht zu leugnenden Niedergang des französischen Schrifttums in vorrevolutionärer Zeit begleitet war. Die Verbreitung französischer Bücher hat keineswegs, wie man denken sollte, den Absatz der Übersetzungsliteratur gefährdet. Über ihren im

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18. Jahrhundert beständig wachsenden Umfang gibt die vorzügliche Bibliographie von Fromm erschöpfenden Aufschluß. Man ersieht daraus, daß die französischen Neuerscheinungen meist schon im Druckjahr in deutscher Sprachgewandung erschienen. Die Eile war den Verlegern nicht nur durch die scharfe Konkurrenz aufgezwungen, sondern durch die Attraktion der Novitäten, die schon nach Jahresfrist als überholt galten. Offenbar zeigte sich auch die Mehrheit der deutschen, des Französischen unkundigen Leser für die suggestive Wirkung der französischen Neuerscheinungen empfänglich. Zweifellos hatte die Korrektheit der Übersetzungen unter dem beständigen Antrieb zur Eile zu leiden. Dennoch war die Theorie und die Praxis des Übersetzens der in Frankreich geübten sehr überlegen. Während man in Frankreich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts von der leidigen Gepflogenheit einer nicht nur sprachlichen, sondern auch inhaltlichen Anpassung der fremden Werke an die französischen Konventionen nicht loskam, hatte schon Gottsched mit den von ihm selbst verfertigten oder angeleiteten Übersetzungen bewiesen, daß es sehr wohl möglich war, die zuverlässige Wiedergabe der fremden Texte mit einwandfreier deutscher Sprachgestaltung zu verbinden. Willkürliche textliche Änderungen durch die „bessernde Hand" des Übersetzers sind seitdem in Deutschland strengstens verpönt. Gottsched hatte im Laufe von wenigen Jahren die wichtigsten Werke Fontenelles in vorbildlichen Übersetzungen herausgebracht. Indessen befand sich unter diesen Werken eine kurze Abhandlung vom Vorzug der „Alten" und „Neuern", die nicht nur eine sozusagen offiziöse Programmschrift der antiklassizistischen Modernisten war, sondern im Kern schon die ganze Theorie des geschichtlichen Fortschritts enthielt. Gottsched meinte aus nationalpädagogischen Gründen seine Leser vor einer Mißachtung der humanistischen Traditionen schützen zu müssen, und so entstanden die polemischen, zum Teil recht ausfälligen Fußnoten, die mit dem respektvollen Tenor der Gottschedschen Einleitung auf eine seltsame Art kontrastieren. Gottsched spricht zum Beispiel von einer „Bäckerphilosophie, die so tut, als wenn wir Semmeln oder Zwiebacken wären"22. Zum Schluß aber fällt er seinem Autor in den Arm: „Das heißt schon genug geprahlet."23 Der auch dieser Abhandlung beschiedene Publikumserfolg galt sicherlich nicht Gottscheds schulmeisterlichen Anweisungen, die auch in seiner letzten, 1751 erschienenen Gesamtausgabe von Fontenelles Werken nicht ausgemerzt wurden. Aber schon zwei Jahre zuvor wurde in einer Übersetzung von Toussaints „Sitten" die völlige Zurückhaltung der persönlichen Meinung des Übersetzers gefordert. Jede derartige Einmischung

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wurde wie eine Textverunstaltung verurteilt. Möglicherweise zielt der Übersetzer in seiner Vorbemerkung auf das Gottschedsche Verfahren, wenn er sagt, „es wäre ihm ein leichtes gewesen, bei einigen Sätzen, die man billig Ausschweifungen des Verfassers nennen muß, Anmerkungen zu machen; allein ein Wiedergeborner wird ebensowenig durch einen freien Gedanken ungläubig oder irre werden, als ein Freigeist durch eine theologische Note von seiner unglücklichen Gesinnung sich wird bekehren las-

Die Erweiterung des Literaturbegriffs durch die Aufklärung Das 18. Jahrhundert hat nicht nur die literarische Thematik erweitert und erneuert: schon am Anfang der Epoche verspürt man, daß sich der Begriff der Literatur grundlegend gewandelt haben muß. Auch wo die von der Klassik geschaffene literarische Formensprache in den Grundzügen von der Aufklärung übernommen wurde, wie beispielsweise in der Voltaireschen Tragödie, die im wesentlichen der Nachfolge Racines verschrieben war, wird man doch die ganz und gar verwandelte Gesinnung und das veränderte Verhältnis zum Publikum wie überhaupt die völlige Umkehr in der Beziehung der Literatur zur Gesellschaft nicht übersehen. Die gewaltige Metamorphose vom 17. zum 18. Jahrhundert läßt sich am besten von einem Punkt her in ihren allseitigen Konsequenzen umreißen. Die klassische Literatur sprach nur zu einem literarisch sachverständigen Leserkreis — die Aufklärungsliteratur ist eine Publikumsliteratur, die sich an die in jedem Menschen spontan reagierende Sinnlichkeit wendet. Die klassische Literatur verstand es, ihren Lesern den Standpunkt des Schöpfers aufzudrängen. Das Eingehen auf diese Literatur erforderte allerdings ein Mindestmaß an Vorbildung und Kompetenz — die Stilgesetzlichkeit der Rede und literarischen Gattung, die feste Verknüpfung symbolischer Bedeutung mit den poetischen Stoffen; das zog die Freiheit der Gestaltung in Grenzen, ohne deren Kenntnis sich jedes Urteil über das Kunstwerk vergreifen mußte. Während der Leser der klassischen Werke sich auf den Standpunkt des literarischen Schöpfers erheben mußte, bezieht der Autor der aufklärerischen Literaturzeugnisse den Standpunkt des Durchschnittslesers. Die den klassischen Werken tonangebend zugrunde gelegte rationale Ordnung wird nunmehr dem

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sinnlichen Bedürfnis nach einem Wechsel von Spannung und Lösung, von Mikro- und Makroskopie in Maulwurfs- und Adlerperspektive bedenkenlos geopfert. Während die Wirkung der klassischen Literatur ein vorgebildetes Publikum voraussetzt und daher eine Verbreiterung ihrer gesellschaftlichen Einflußsphäre überhaupt nicht erstreben konnte, will die Aufklärung ihr Licht ins Dunkel tragen. Sie spricht nicht zu Kennern, sondern will denen beistehen, die der Kenntnis bedürfen. In dem Bestreben, den Kreis der Angesprochenen immer weiter auszudehnen, versucht die Literatur, die gesamte Sprachgemeinschaft in ihren Bann zu ziehen. Durch die sensualistische Richtung der Aufklärung wird einerseits der Kreis der potentiellen Leser bis zur Umfassung der Allgemeinheit erweitert. Auf der anderen Seite wird durch die Wirkungsmacht der Literatur der Anreiz an die durch Spezialisierung und fachliche Absonderung großgewordenen Wissenschaften erteilt, ihre Einflußsphäre auf das breite Publikum auszudehnen. Die Literatur erwirbt damit die Kompetenz zur Vermittlung und zur Vertretung aller Wissensbereiche, sie ist der Nenner für alle Geistesbemühungen — in ihr ist das Bewußtsein der gesellschaftlichen Verpflichtung aller Wissenschaften lebendig geworden. Die Literatur der Aufklärung ist eine Großmacht, schon allein durch diese Schlüsselstellung über allen Wissenschaften, die ihre Gebiete gegeneinander eifersüchtig abgeschrankt haben. Ihre Vormacht wird aber vor allem durch ihre Herrschaft über die öffentliche Meinung begründet, die selbst nicht nur als Objekt, sondern als spezifisches Produkt der Aufklärung begriffen werden muß. Wenn wir nun nach dem Ursprung dieser neuen und umwälzenden Auffassung der Wissensvermittlung suchen, so wird man, wie für so manche andere Errungenschaft, auf Fontenelle zurückgreifen müssen. Schon am Ende des 17. Jahrhunderts (1686) war Fontenelles „Pluralite des mondes" erschienen, der erste Versuch, die wissenschaftlichen Ergebnisse der neuesten Astronomie und Kosmologie in einem allgemeinverständlichen Tonfall darzulegen. Die Partnerin des Gesprächs ist eine in wissenschaftlicher Hinsicht voraussetzungslose Dame der Gesellschaft. In ihr ist der gesunde Menschenverstand als Kriterium und als Organ der Erkenntnis verkörpert. Fontenelle wurde mit dieser Schöpfung der Forderung seines Mitstreiters Charles Perrault (1628 — 1703) gerecht, daß in allen Fragen des Geisteslebens statt eines Gremiums von Sachverständigen jedes unbefangene und unverbogene Gefühl die letzte Instanz zu bilden habe. Perrault und Fontenelle hatten damit die Grundlage für den alles Wissen umfassenden Literaturbegriff und zugleich für eine enzyklopädisch umfassende Allgemeinbil-

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düng geschaffen. Fontenelles Werk ist in der Übersetzung Gottscheds auch dem des Französischen unkundigen Deutschen erschlossen worden. Die Wirkung Fontenelles war auch in Deutschland unabsehbar. Für Lessing brachte sie die Erweckung. Er hatte versucht, die trockene Lehre Hallers und Kliems in die gehobene Sphäre der Epopöe zu übersetzen [vgl. EA, S. 660]. Was ihn aus dieser barock-didaktischen Poeterei herausriß, war die Lektüre des Fontenelleschen Werkes: „Die Augen gingen mir auf einmal auf, und aus dem Leben, welches er, als ein prosaischer Schriftsteller, seinem Vortrage gegeben hatte, schloß ich auf dasjenige, welches ich, als ein angemaßter Dichter, dem meinigen hätte geben sollen."

Fontenelle und die deutsche Nationalliteratur Fontenelle galt Gottsched nicht nur als Repräsentant der aufgeklärten französischen Intelligenz, sondern er war für ihn der berufene Mann, um über die Bestrebungen der deutschen Spracherneuerung ein gewichtiges Urteil abzugeben. Fontenelle hatte in der Tat sein Interesse an Deutschland schon beim Tod von Leibniz bekundet. Der ihm gewidmete Nachruf, der als einziger die schändlicherweise von der deutschen Intelligenz gelassene Lücke füllte, legt den Hauptwert nicht auf die metaphysischen Spekulationen, sondern auf die Umfassung der verschiedensten Wissensbereiche durch Leibnizens weltenweit geöffneten Genius. Fontenelle ist offenbar auch den Einzeluntersuchungen der deutschen Geschichte nachgegangen und findet hier die bisher schmerzlich vermißten Daten für eine positive Umwertung des Mittelalters, das der Fortschrittstheorie der Modernisten die größten Schwierigkeiten bereitete. Fontenelle war trotz seiner Sprachunkenntnis leidenschaftlich an der Entwicklung der benachbarten und der entfernteren Nationen interessiert. Als Bewunderer und Anreger Peters des Großen hatte er der russischen Nation Geburtshelferdienste geleistet. Peter und Rußland waren die glänzendste Bestätigung der aufklärerischen Theorie, daß der Genius in den Nationen niemals versiegt und durch jede vernünftige Regierung zu neuer Entfaltung gebracht werden kann. Es war anzunehmen, daß Fontenelle auch die Erneuerungsbestrebungen in Deutschland mit Aufmerksamkeit und Sympathie verfolgte. So kam Gottsched auf den Gedanken, bei der Konstituierung der Deutschen Gesellschaft den Patriarchen der Aufklärung um ein Gutachten anzugehen. Fontenelles Antwortschreiben vom 14. Juli 1728 ist ein wichtiges Dokument für das hohe Interesse, das man

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in Frankreich den deutschen Bestrebungen entgegenbrachte. Zunächst allerdings muß Fontenelle infolge seiner bedauerlichen Unkenntnis der deutschen Sprache seine Kompetenz selbst bezweifeln. Indessen geht es nach seiner Meinung gar nicht um ein Problem der Sprache. Nichts wäre verkehrter, als die auch von ihm erhoffte neue Blüte der deutschen Sprache von irgendwelchen Sprachreformen zu erwarten. Damit sind die Bemühungen der humanistischen Sprachreformer verworfen. Das Primat der Sprache gegenüber der Literatur, von dem die Humanisten ausgegangen waren, wird nicht angefochten. Aber die Sprache, die ein Werkzeug ist, wird durch keinen unmittelbaren Zugriff geändert werden können. Sprache ist auf eine Welt von Sachen gerichtet. Sie läßt sich nicht durch sprachliche Maßnahmen bessern, sondern nur durch die Erhöhung ihrer sachlichen Ziele. Der Aufschwung des Französischen — sagt Fontenelle — war durch die Blüte der französischen Literatur bedingt, und die Deutschen würden allein auf dem Weg der literarischen Schöpfung ihrer Sprache dienen können. Was dann Fontenelle noch im einzelnen vorbringt, ändert nichts mehr an der einmal getroffenen Entscheidung. Er verwirft mit Entschiedenheit die törichten Vorurteile, die eine Sprache wäre melodischer als die andere. Das hätte allenfalls für den Gesang Bedeutung. „Sollte wirklich Ihre Sprache unharmonischer, rauher klingen, so können Sie darin um so mehr Energie entfalten!"25 Nicht auf den Wohlklang kommt es an, wohl aber auf die Satzgestaltung. Fontenelle hat da, wie andere Franzosen der Zeit, eine klare Vorstellung von dem Rückstand der deutschen Sprache, die sich immer noch nicht entschließen konnte, die humanistischen Kinderschuhe abzustreifen. Das Prinzip der Periodisierung, der Einverwebung der Gedanken in eine endlose Fuge von Haupt- und Nebensätzen erschwert das Verständnis aufs äußerste. Das Französische hat sich, wie Fontenelle feststellt, ganz bewußt vom antiken Vorbild frei gemacht. Der Weg, den Fontenelle damals aufzeigte, war in der Tat derjenige, den auch die Deutschen gehen mußten, wenn sie aus dem Gestrüpp der humanistischen Periodenbildung zur sprachlichen Freiheit gelangen wollten.

Ulrich König und die deutsche Literatur Die Ablösung der barocken Literaturepoche durch die Aufklärung ist der Vorgang, der sich im Lebensweg und im geistigen Schicksal des Dichters Johann Ulrich König sinnbildlich zusammenfaßt.

Ulrich König und die deutsche Literatur

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Ungefähr gleichzeitig mit den Leipziger Anfängen Klopstocks vollzieht Ulrich König (1688 — 1744) als Dresdener Hofpoet die Zuwendung zu den ästhetischen Gedanken der französischen Frühaufklärung. Die Ausgangsstellung Königs ist aber in seiner literarischen Laufbahn begründet, die mit einem repräsentativen und programmatischen Bekenntnis zum „secentistischen" Marinismus und zu der Erneuerung der Hofmannswaldau-Schule durch Brockes begann. König ist in jeder Hinsicht ein Mann des Übergangs, eine zwiespältige Erscheinung: ein Schwabe, der in Hamburg plattdeutsch dichtete und in Sachsen dem Herrschaftsanspruch der Meißner Sprache entschiedenen Widerstand entgegensetzte. Als gebürtigem freiem Reichsstädter — er stammt aus Eßlingen — bot ihm Hamburg den angemessenen Spielraum, den er dann bedenkenlos mit einer höfischen Stelle in Dresden vertauschte, wo er zur höfischen Panegyrik und zum „Finassieren" verurteilt war. Der gelehrte Literarhistoriker und Bibliograph arbeitete als höfischer Fest- und Gelegenheitsdichter auf Bestellung. Die beiden wichtigsten Phasen seiner ans Abenteuerliche grenzenden Laufbahn brachten zwei editorische Leistungen hervor, in denen das 17. Jahrhundert mit dem Jahrhundert der Aufklärung zusammentraf. In Hamburg war es die Oper und der Bund mit Brockes, die seine literarische Berufung entschieden. Die Liebe für die Oper hielt er zeitlebens als ein Relikt seiner barocken Epoche fest. Auch Brockes, in dem sich die Hofmannswaldau-Schule schon mit französischen Einflüssen kreuzte, berührte Ulrich König noch von der Seite des vergangenen Jahrhunderts. Brockes' kongeniale Übersetzung einer ebenso typischen wie unerquicklichen „secentistischen" Dichtung Giambattista Marinos, „Der bethlehemitische Kindermord", wird von König ediert und mit einer kenntnisreichen Schilderung des triumphalischen Erdenwallens dieses italienischen „Dichterfürsten" eingeleitet, der die großtönende, durch Dante und Tasso geweihte Form der Epopöe für die Darstellung eines endlos verlängerten Liebesaktes mißbrauchte und mit dieser Schöpfung, dem „Adone", zu Weltruhm gelangte. Die schwüle und dekadente Erotik im „Adone" wird durch die mit schwelgerischem Verismus ausgepinselten Greuelszenen auf dem unabsehbaren Schlachtfeld der zerfleischten Unschuld noch übertrumpft. Die halbe Wendung zum Christentum macht diesen greulichen Gegenstand nicht ergötzlicher. Das sinnliche Brio, die virtuose Könnerschaft eines alle Effekte der hellenistischen und spätrömischen Rhetorik und Poetik massierenden und kombinierenden Stiles erzielten auch mit diesem Gegenstand kunstähnliche Wirkungen, hinter denen die einfühlsame Lyrik von Brockes keineswegs zurückblieb.

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Die mit der Annahme der Dresdener Hofstellung verknüpfte Sinneswandlung Ulrich Königs führte aber zum völligen Bruch mit der „barokken" Vergangenheit. Auch diesmal war eine editorische Leistung Ulrich Königs künstlerisches Bekenntnis. Anstelle von Brockes wird jetzt der klassizistische Dichter von Canitz auf den Schild gehoben. Die von König veranstaltete Ausgabe der Canitzschen Gedichte war durch ein bemerkenswertes Nachwort bereichert, eine „Untersuchung von dem guten Geschmack in der Dicht- und Redekunst". In dieser Arbeit war die gesamte zeitgenössische, überwiegend französische Ästhetik hellhörig aufgenommen. Überlastet durch fremde Gedankengänge und Zitate, wirkt dieser erste deutschsprachige Versuch zur Ästhetik ebenso prätentiös wie eklektisch. Wenn aber Gervinus von einem „eitlen Hin- und Herreden ohne Ziel" spricht, so darf nicht ein bestimmender, in die Zukunft wirkender Gedanke übersehen werden. Der Hauptgewährsmann Ulrich Königs ist der Abbe Dubos, dessen „Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture" (1719) für die deutsche Gedankenwelt vielleicht noch mehr als für die französische eine unabsehbare Bedeutung erlangten. Mit Dubos wird der Staatsstreich des Sensualismus auch im Bereich der Ästhetik vollzogen. Erst durch die Verknüpfung des Geschmacks mit der sinnlichen Natur des Menschen war es nun möglich, die künstlerischen Urteile aus der Vasallität der Verstandesbegriffe zu befreien. Über Gefallen und Mißfallen konnte nunmehr jeder Mensch auf Grund seiner sinnlichen Veranlagung entscheiden. Das Entstehen einer eigenen Wissenschaft der Ästhetik ist aufs engste mit dieser Wandlung verbunden. Während die Kunstlehre im Zeitalter des Humanismus die Prinzipien der Urteilsfindung über die Schöpfungen auseinanderlegte, ist die neubegründete Wissenschaft der Ästhetik nur zur Begründung des Gefallens und der Schönheit berufen. Dieser Weg, auf dem Ulrich König als erster Deutscher dem Abbe Dubos nachfolgt, wird auch von Bodmer und Breitinger wie von Baumgarten und schließlich von Lessing betreten. Dubos' mächtige Wirkung auf das intellektuelle Deutschland wird noch durch ein anderes Motiv begünstigt: durch den Versuch, mit den synästhetischen Konzeptionen des 17. Jahrhunderts zu brechen und die Eigengesetzlichkeit von Kunst und Malerei gegeneinander abzugrenzen. Bekanntlich erfüllte sich diese Bestrebung in Lessings „Laokoon", wenn auch aufs schwerste belastet durch den verzweifelten, in Frankreich längst aufgegebenen Versuch, den wirklichen Ursprung der modernen Gedanken in der Aristotelischen Modellästhetik aufzudecken.

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Helvetius und die Grenzen der deutschen Aufklärung Das Erscheinen von Helvetius' „De l'esprit" (1758) bezeichnet in mehrfacher Hinsicht einen Wendepunkt für die französische Aufklärung. Zum erstenmal war der Sensualismus zur Deutung des gesellschaftlichen und geschichtlichen Lebens herangezogen. Mit der Reduktion aller Tugenden und aller in der Geschichte glänzenden Eigenschaften auf den Eigennutz und auf das Interesse war der gesamte Überbau der menschlichen Geschichtswelt abgetragen und der einheitliche Nenner für die Regungen des Menschen gefunden, mit denen eine positive Staatlichkeit zu rechnen hatte. Die Einebnung der von Montesquieu geschaffenen differentiellen Psychologie der verschiedenen Regierungsformen war eine unumgängliche Voraussetzung für die Entwicklung einer bürgerlichen Theorie des Staates. Tatsächlich hatte Helvetius den Angriff auf die politischen Positionen des Ancien regime eröffnet. In weltanschaulicher Hinsicht aber war mit seinem Werk die Brücke vom erkenntnistheoretischen Sensualismus zum metaphysischen Materialismus geschlagen. Der Skandalerfolg wurde durch die öffentliche Verurteilung und Verbrennung besiegelt. Der Leipziger Verleger Forkert hatte sich eine Übersetzung besorgen lassen; vor der Herausgabe schaltete sich Gottsched ein. Er erklärte, daß ein in Frankreich von Henkershand verbranntes Werk nicht wohl ohne Warnungstafel in Deutschland erscheinen könnte. Der Verleger mußte wohl oder übel auf Gottscheds Vorschlag eingehen und eine ausführliche Einleitung seiner Übersetzung voranstellen [vgl. EA, S. 660]. Gottscheds Vorwort will als ein Zeichen seiner eindringlichen Beschäftigung mit der neuesten Literatur und Philosophie gewertet werden. Diese Auseinandersetzung mit dem beginnenden Materialismus bildet die von kompetenter Hand gezogene Grenze zwischen der deutschen und der französischen Aufklärung. Die Neuerscheinung wurde auch anderwärts in Deutschland sofort mit dem größten Interesse festgehalten. Im Briefwechsel von Thomas Abbt und Moses Mendelssohn entsteht eine Kontroverse über das Buch von Helvetius. Abbt macht seinen Freund auf die Bedeutung des Werkes aufmerksam, das ihn aufs tiefste beeindruckt hatte: „Sie wissen, daß Helvetius vom Esprit ein schönes Buch geschrieben hat. Sollte man nicht eines vom Herzen schreiben können, welche Materie ohnehin noch so dunkel an vielen Stellen ist? Allen Ansatz zum Schmieren! sagen Sie - darum eben nicht. Habe ich denn gesagt, daß ich es schreiben will oder daß ich es jetzt schreiben wolle? Doch mag es mit dem Buche vom Herzen sein, wie es will. Mit dem ersteren ist es mehr mein Ernst."26

Die Antwort Mendelssohns ist eine entrüstete Ablehnung. Was seiner idealistischen und rationalistischen Grundeinstellung ins Gesicht schlägt,

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dieses Tabu der deutschen Philosophie, will er überhaupt nicht berührt haben. Seine Kritik bleibt auf der Oberfläche des Stiles und zielt auf die Anordnung der Gedanken. Er kann sich über die ganz unfranzösische Verworrenheit der Disposition nicht genug verwundern: „Ich habe auf Ihre und des Herrn Lessings Empfehlung Helvetius' Buch ,De Tesprit' durchgelesen; aber mit Ihrer Erlaubnis, meine Herren! Ich finde das Buch so außerordentlich nicht, als Sie mir es angepriesen haben. Einen vortrefflichen Stil schreibt der Mann, das ist nicht zu leugnen. Allein das ist es auch alles. Seine Philosophie ist äußerst seichte. Meinen Sie nicht, daß ich ihn mit den Augen eines deutschen Systematikers betrachte. Nein, ich vergleiche ihn mit einem David Hume oder mit einem Bayle, wenn Sie einen französischen Sophisten haben wollen, und glaube, daß er nicht Scharfsinnigkeit genug besitze, seine Paradoxe scheinbar zu machen. Er schmückt sie mit sinnreichen Phantasien aus, erzählt anmutige Histörchen, malet, beschreibet, tändelt, behauptet die ungereimtesten Dinge, bebrämt sie mit erhabenen Gleichnissen und singt sich ein Triumphlied. Was mich am meisten befremdet, ist der Mangel des Plans, den ich in diesem Werke bemerkt zu haben glaube. Die Franzosen wissen sonst Wunder von der lichten Ordnung zu erzählen, die in ihren Modeschriften herrschen soll. Allein worin besteht diese hochgerühmte Ordnung? Nicht etwa in einer vorher überlegten Austeilung des Stoffes, nicht in einem stufenweisen Fortgange vom Leichtern zum Schweren, auch nicht in einer bequemen Einteilung der Hauptstücke? Von allem diesem finde ich, wenigstens beim Helvetius, nicht die geringste Spur. Seine Ordnung ist gelogen und besteht bloß in rednerischen Übergängen. Wenn er z. B. in einem folgenden Hauptstückchen vom Ratgeben handeln will, so zerrt er in dem vorhergehenden seine Materie so lange herum, bis er von ohngefähr aufs Ratgeben kommt, und sodann fängt sich das neue Hauptstück an; apropos vom Ratgeben. Als ich das Werk durchgelesen hatte, bekam ich Lust, ein paar Verse zu machen, um mich durch ein schlechtes Sinngedicht an einem Verfasser zu rächen, den wir in den ,Briefen' nicht antasten können. Ich schrieb hinter den Titel: Die Eigenschaften dieses Bandes Sind Witz, Geschmack, viel Phantasei, Französische Sophisterei Und Wetterleuchten des Verstandes."27

Es ist interessant festzustellen, daß Mendelssohns Kenntnis der französischen Literatur durchaus noch durch die klassizistische Position der Gottschedianer bedingt ist. Seit den „Lettres persanes" (1719) und seit Voltaires „Lettres philosophiques" (1734) war aber die von Pascal und La Bruyere schon vorbereitete „sensualistische" Revolution der Prosa bereits durchgedrungen, die rationale Anordnung durch das Streben nach Anschaulichkeit und maximaler Wirkung durchbrochen. Und Mendelssohn, dem dies alles entgangen war, konnte noch weniger ahnen, daß dieser Umschwung die Prosa seines Korrespondenten und Freundes Thomas Abbt schon ergriffen hatte. Im übrigen war Mendelssohn mit seiner rückständigen Auffassung

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nicht allein. Auch Albrecht von Haller beanstandete an Helvetius „den völligen Mangel an Ordnung und Disposition"28. In seiner Antwort an Mendelssohn macht Thomas Abbt noch einmal geltend, daß die Prosa des Helvetius die Spannung des Lesers aufrechterhält, was von den Erzeugnissen des wolffianischen Deutschlands, der deutschen Philosophie, nicht wohl behauptet werden könnte: „Ihre Kritik über den Helvetius ist gegründet, besonders was den Plan betrifft. Ich hatte etliche Male die Summarien durchgelesen, um ihn ganz zu fassen. Aber nie ist es mir möglich gewesen, welches ich demütig genug meiner Dummheit aufbürdete. Bei all dem ist es ein gutes Buch, und wir haben keinen im Deutschen, der ihm gleichkommt, nämlich keinen deutschen Prosaisten, meine ich. Man schläft doch niemals dabei ein. Weiter habe ich auch nichts sagen wollen."29

Die Stilbemühung spielt eine wesentliche Rolle in den Überlegungen Abbts. Seine Essayistik bildet die Brücke zu der journalistisch aufgelockerten Prosa eines Wekhrlin, zu jenem Stil, der späterhin durch die Wirkung des Jungen Deutschlands endgültig als „normales" Schriftdeutsch durchgesetzt werden sollte. Abbt hat die französische Schule seines Stils nicht verleugnet: „Aus einem Gesichtspunkt betrachtet, wünschte ich, daß ich mit der Ausführung glücklich wäre, um zu zeigen, daß die belobte Methode der neuern Franzosen für die Deutschen eben kein Geheimnis sei. Denn Moser, der auch nach Absätzen schreibt, hat diese Methode gar nicht in seiner Gewalt. Wenn ich aufrichtig sein soll, so muß ich bekennen, daß ich diese Methode für die beste in Schriften halte, die nicht Kompendien sein sollen. Denn definieren kann man sicher auch darin, und wenn ich bestimmt rede und meine Begriffe auseinander folgen lasse, gesetzt auch, daß ich die Bindungsstellen verkleistere, was verlangt man mehr?"30

Bezeichnend ist, wie der berühmte „Almanach der Belletristen und Belletristinnen fürs Jahr 1782" an Thomas Abbt als einen der wenigen Gelehrten und Professoren erinnert, die mit den Traditionen des Gelehrtendeutschs aufgeräumt hatten: „Sonst konnten nur Gelehrte über dies und jenes untereinander disputieren, nur anderen Gelehrten ihre Gedanken mitteilen, nicht dem Volke, das von ihrem Schnickschnack nichts verstand. Abbt nahm das Leckerste von den Speisen, das seine gelehrten Brüder in dem ungeheuren Vorratsgewölbe ihrer Abstraktionen und Subtilitäten und Ergos und Majors und Minors verbargen, teilte es seinen ungelehrten Brüdern mit, und die empfingen's mit Freuden aus seinen Händen, labten sich herzlich daran und danken's dem guten Abbt immer noch. Zwar schüttelte hier und dort ein alter Pfahlbürger mächtig sein Haupt, als er sah, wie der junge Mann der Philosophie ihr altes Gewand, das aus Lappen von tausenderlei altfränkischen Farben zusammengesetzt war und einen äußerst schwerfälligen

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Schnitt hatte, so mutig auszog und ihr dagegen das neue, modische, niedliche, jedermann anlachende belletristische Kleidchen anlegte; aber Abbt achtete nicht darauf, sondern ging seinen Gang fort! Tausendmal lieber ist er uns als andere jenen Gelichters, die von ihren Thronen mit starker Stimme herabpredigen und alle Menschen (weil sie niemand verstand) Maul und Nase aufsperren machten!"31

Die Anregung, die Abbt durch Helvetius erhielt, erwies sich als lebensfähiger Keim. Sein Vorsatz, der Physiologie des Geistes (die „De Pesprit" bietet) die Physiologie des Herzens an die Seite zu stellen, war mit dem Abschluß der 1763 erschienenen Abhandlung „Vom Verdienste" verwirklicht worden. Hatte Helvetius gezeigt, wie aus Empfindungen Urteile und Begriffe hervorgehen, so will Thomas Abbt den Weg von der Empfindung zum Gefühl (sentiment), das er „Empfindnis" genannt haben möchte, verfolgen. Die Verarbeitung der Empfindungen ist das Werk der Einbildungskraft, durch die sich die Gegenwart der Empfindungen befestigt und verlängert. Durch ein Studium dieser seelischen Bezirke will sich Thomas Abbt den Zugang zur Erkenntnis der geschichtlichen Handlungen erzwingen. Seine Schrift „Vom Verdienste" ist nichts anderes als eine universalhistorische Axiologie. In ihr wird schon der fortschreitende Gang der Menschheitsgeschichte zur Vereinigung und zur allgemeinen Befreiung erkennbar, wie er wenige Jahre später in Iselins oder in Herders universalhistorischen Entwürfen umrissen wurde. Hatte Thomas Abbt noch in seiner Frühschrift „Vom Tode für das Vaterland" den Höhepunkt der staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in den politischen und militärischen Taten Friedrichs II. gesehen, so war schon seine überempfindliche Reaktion auf eine abfällige Schweizer Rezension ein Zeichen für die endgültige Richtung seiner Gedanken. Dazu kam das große Erlebnis einer Schweizer Reise, auf der Abbt in Fühlung mit Voltaire, Tissot, Tronchin, Bonnet, Abauzit, Schöpflin, Iselin, Vernet, Bernoulli trat. Ein Angebot, in der Schweiz unter günstigen Bedingungen zu verweilen, wurde von Abbt mit tiefstem Bedauern aus Rücksicht auf seine alten Eltern abgelehnt: „... in einer Republik und in einem Lande zu leben, wohin der Krieg niemals seine Wut bläst — was für ein Reiz."32 So ist das Schlußbekenntnis in seiner letzten Schrift nicht überraschend: „Man würde endlich leicht erkennen, daß nur der Freistaat, der Staat, darin jeder Bürger von dem ändern nur durch die obrigkeitliche Würde, die ihm durch Wahl zufällt, unterschieden ist, daß nur ein solcher Staat, sage ich, die hohen und großen Verdienste allen und jedem gleich möglich mache und daß dort nur ein Themistokles das Gemälde von der Schlacht bei Marathon mit der Hoffnung betrachten könne, den großen Männern, die

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darauf vorgestellt waren, es gleichtun zu dürfen. Man würde entdecken, daß in unruhigen Zeiten der despotische Staat sich immer gleichbleibe und daß die plötzlichen Erhöhungen der Niedrigsten und Geringsten im Volke zur Sphäre hoher Verdienste nur alsdann mehr Veranlassung habe; daß die monarchische Verfassung in solchen Umständen ihren obersten Adel erst verbrauche und dann das Verdienst jedem zukommen lasse, der sich nur zeigen will; daß der aristokratische Staat, wenn er nicht durch die Gewalt oder Furcht vor Empörung gezwungen wird, lieber den äußersten Schimpf von den Feinden ertrage und ihnen nachgebe, als daß er denen vom Volke wichtige Stellen anvertraue; daß endlich die republikanische Einrichtung jedes Ungewitter, das sich über ihr zusammenzieht, wofern es nicht zu ihrem gänzlichen Verderben ausschlägt, als das glücklichste Mittel ansehen könne, wodurch jedes Genie erschüttert und zu einer heilsamen Fruchtbarkeit zubereitet wird."33

Ganz im Sinne der Aufklärung sieht Abbt im Vorrang der einen über die anderen Menschen hauptsächlich nur den Vorzug erworbener Fähigkeiten, die also unter bestimmten Umständen auch die heute Benachteiligten sich zulegen könnten. Im Prinzip allerdings kann auch Abbt sich noch nicht entschließen, „des Helvetius Meinung von der Gleichheit aller Seelen" anzunehmen: „Wenn Gold dem Silber oder einem anderen schlechtem Metalle beim Verarbeiten nicht gleich befunden wird, so sagt man mit Recht, sie seien in ihrer Natur verschieden; und wenn wir die eine Seele geschmeidig und glänzend, eine andere rauh und schmutzig erblikken, warum sollen wir nicht verschiedene Naturen an ihnen mutmaßen? Laß es sein, daß vielleicht eine verschiedene Hitze im Kochen unter der Erde die verschiedenen Metalle hervorbringe, gut, aber diese Verschiedenheit bringen sie mit sich ans Tageslicht. Ebenso mit den Seelen. Man würde also das Angeborne an ihnen von dem Erworbenen mit Recht unterscheiden und mit dem größten Vorteil zuerst bei der Geistesgröße. — Das Angeborne derselben müßte man allenthalben antreffen, wo es die Vorsehung beschlossen hätte, geboren werden zu lassen. Aber zu welchem Ende ist sie an Orten verschwendet, wo sie niemals brauchbar wird? Zu welchem Ende blühen Blumen, welche niemals von Menschen gepflückt werden oder zu menschlicher Erquickung dienen? Um in der Luft eine hinreichende Menge balsamischer Dünste zu erhalten, um unter einem Volke eine hinlänglich gesunde Denkungsart zu bewahren. Denn etwas von solchen Geistesgaben verfliegt allemal in die Atmosphäre des Denkens einer Nation und hält sich darin auf." 34

So eifrig Thomas Abbt den bei Helvetius vorhandenen Ansätzen für eine konsequente Ausarbeitung des geschichtlichen Weltbildes nachspürt, so bleibt doch auch für diesen aufgeschlossenen Geist Helvetius als Vorbereiter einer materialistischen Weltanschauung unannehmbar. Die deutsche Aufklärung wird über diese Entscheidung nicht mehr oder nur in vereinzelten Episoden hinausgehen. Das deutsche Bürgertum verdankt den vielfachen Stützpunkten im protestantischen Pfarrhaus die Ausweitung seiner geistigen Herrschaft über ausgedehnte zusammenhängende Gebiete. Mit diesem Ursprung erklärt sich

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die größere Wirksamkeit der theologischen Mitgift, die eine konsequente Entwicklung der deutschen Aufklärung zum Materialismus und Atheismus vereitelte. Bezeichnenderweise verkörpert sich der weltanschauliche Materialismus und Atheismus in Wort und Ton in den Gestalten der großen Bösewichter, in Don Giovanni und Franz Moor.

Klopstock und die Ode Die traditionelle deutsche Literaturgeschichte heißt Klopstock als den Befreier der deutschen Dichtung vom drückenden Joch französischer Nachahmung willkommen. Man dankt ihm, daß er in seinem „Messias" die Umstellung von Frankreich nach England vollzogen und daß er in seinen Oden den durch das höfische Frankreich verschütteten Geist der Antike für Deutschland auf eine völlig neuartige Weise erschlossen hätte. Daß aber Klopstock in dem puritanischen Milton den Dichter der englischen Revolution erkannte und daß er den Weg nach Hellas als den Weg der Befreiung vom Joch despotischer Staatlichkeit mit patriotischem Bewußtsein beschritt, das ist ein Umstand, den man nicht ungestraft übergehen konnte, das heißt nicht ohne den Anschluß an die lebendigen und bewegenden Gedanken dieser Dichtungen zu gefährden. Im übrigen war Klopstocks Verhältnis zu seiner dichterischen Vorwelt viel reicher und tiefer, als es polemische Vereinfachung uns glauben machen möchte. Das Problem der christlichen Epopöe steht nicht nur in England und später in Deutschland; es ist ein künstlerisches Problem, das schon in späthumanistischer Zeit in den meisten Ländern eine Lösung erforderte. Schon Tassos Kreuzfahrerepos hatte eine Welle der Diskussionen aufgebracht. In Frankreich verdichtet sich die Debatte. Mit Chapelains Verherrlichung der Jungfrau, der „Pucelle", und Desmarets de Saint-Sorlins „Clovis" war der ehrgeizige Versuch einer dichterischen Verbindung von klassischer Formensprache und christlich-nationaler Gesinnung noch nicht beendet. In Klopstocks Zeit erschien 1753 ein über sechs Bände ausgedehntes Epos, „La Christiade", von einem Literaten, La Baume-Desdossat, der im Hauptamt Kanonikus im päpstlichen Avignon war. Weder sein geistliches Amt noch der religiöse Inhalt der Dichtung konnte ihn vor Verfolgung schützen, der sogar eine gerichtliche Strafe folgte. Die dichterische Behandlung der Passion war für die Orthodoxen jeglicher Observanz seit jeher ein Greuel. Auch in protestantischen Landen war dieser Griff zum heiligsten Gegen-

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stand ein kühnes Unterfangen, sowenig wir heute geneigt sind, dem Dichter bei dieser Stoffwahl Gefolgschaft zu leisten. Was von Klopstock bleibt, das sind die Oden, in denen die großen Ereignisse seiner Lebenszeit im Sinne des aufgeklärten deutschen Patriotismus gestaltet wurden. Bei Pindar diente die dichterische Ehrung der olympischen Sieger zweifelsohne den Zwecken der Adelspartei, die ihre beste Jungmannschaft zum Wettstreit in der Arena aufbot, um ihr für ihren künftigen politischen Einsatz ein Höchstmaß von Popularität zu sichern. Wenn Pindar auch als Repräsentant einer niedergehenden Klassenherrschaft auftritt, so ist er doch von dem panhellenischen, patriotischen Geist der Olympischen Spiele aufs tiefste ergriffen. Nur so war es möglich, daß der erwachende nationale Gedanke im 16. Jahrhundert sich der Nachahmung der Pindarschen Oden befleißigte. Vor allem hat Ronsard die Rekonstruktion der griechischen Dichtung unternommen, die in den Bürgerkriegen auf eine Apologie der „politiques", das heißt der nationalen Einheitspartei, verpflichtet wurde. Der furchtbare Rückschlag, dem die Ronsardsche Dichtung im klassischen Jahrhundert ausgesetzt war, verwies die Pindar-Nachfolge auf neue Wege. Man erkannte endgültig die Unvereinbarkeit der französischen Prosodie mit der griechischen Metrik. Einen neuen Höhepunkt erreichte Pindars Ruhm in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Von Pindar ist allenthalben die Rede. Um seine Nachfolge bemühen sich die feindlichen Literaturparteien, die „anciens" ebenso wie die „modernes". 1721 gab der Abbe Fraguier in einem öffentlichen Vortrag über Pindar ein Zeugnis der mächtigen, von dem griechischen Dichter auf das Jahrhundert ausgehenden Impulse. Unter den auf Boileau schwörenden Klassizisten befand sich ein großer Dichter, Jean-Baptiste Rousseau, für den die Pindarsche Ode ein unerreichbares Vorbild bedeutete. Die weltenweite Wirkung der Rousseauschen Dichtung ist im einzelnen schwer abzuschätzen. Auf Rousseau geht vor allem Friedrich II. in seinen bekenntnishaften Schöpfungen zurück, in denen wir einen Hauch vom Geiste Pindars zu verspüren glauben. Ein widriges Schicksal, das Rousseau zur lebenslänglichen Emigration gezwungen hatte, verstärkte seinen Einfluß auf die außerfranzösische Dichtung, zumal seitdem er im Prinzen Eugen von Savoyen einen hochherzigen Schirmherrn und Gegenstand der dichterischen Verherrlichung gefunden hatte. Von Wien geht Rousseau nach Brüssel, der Hauptstadt der österreichischen Niederlande. Durch französische Korrespondenz wird Rousseau über die sich überstürzenden Ereignisse nach dem Tode Ludwigs XIV. auf dem laufenden gehalten. Aber auch der neu entzündete Literaturkrieg zwi-

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Der Weg der deutschen Aufklärung nach Frankreich

sehen Modernisten und Klassizisten spielt eine erhebliche Rolle in Rousseaus Korrespondenz. Er ist aufs tiefste verletzt, als ihm die respektlosen Äußerungen der Feinde des Altertums zu Ohren kommen. Der folgende Kriegsbericht vom französischen Schauplatz der literarischen Auseinandersetzung war Rousseau aus Lyon geschickt worden: „A propos d'ode pindarique, savez-vous bien ce que M. de La Motte et apres lui l'abbe Terrassen, disent de Pindare? Ils appellent ecarts pindariques ce beau desordre et ces grands mouvements que nous admirons dans ses ödes, et disent qu'il n'a donne dans ces ecarts que pour sauver la secheresse et la sterilite des sujets qu'il avait ä traiter. Ainsi, ajoutent-ils, par un plaisant effet de la prevention, les admirateurs des anciens ont fait une regle pour l'ode d'une pratique forcee, ou Pindare n'a donne que par le malheur de sä matiere. Vous voyez que tout cela n'est avance que pour justifier l'ordre un peu trop marque et Puniformite que vous avez reprochee aux ödes de M. de La Motte ,.."35

Wichtig ist, daß die Pindar-Nachfolge nun selbst zum Gegenstand des Wettstreits zwischen Modernisten und Klassizisten geworden war. Rousseau aber benutzte die Gelegenheit, um seine Pindar-Auffassung in ein paar Sätzen zusammenzufassen: „Ne savent-ils pas que toutes les ödes de Pindare ne sont que des ödes panegyriques des rois et des plus illustres personnages de sons temps, et ignorent-ils que la premiere regle, je ne dis pas de la poesie, mais de la rhetorique la plus severe, est de louer ceux dont on fait l'eloge par ce que leurs ancetres ont de plus recommandable? C'est ce que fait Pindare et ce qui lui donne lieu de dire tant de choses egalement curieuses et sublimes ä propos des heros qu'il entreprend de celebrer. Par lä, sans sortir de sä matiere, il trouve moyen de la varier et de la rendre toujours nouvelle, en sorte que sans perdre son heros de vue, il fait ä tout moment passer devant nos yeux quelque nouvel acteur qui orne son theatre, ce qui a du rapport ä son action. C'est ce qu'il faudrait que M. Terrassen et son maitre Fontenelle eussent appris avant que d'entreprendre la critique de Pindare qu'ils ne connaissent certainement point, et, s'ils avaient seulement lu les titres de ses ödes, ils verraient par l'importance des noms de ceux ä qui elles s'adressent, pour la plupart que sä matiere n'etait pas plus sterile que son genie, s'agissant d'ailleurs de celebrer des victoires qui allaient de pair chez les Grecs avec toutes celles que leurs citoyens pouvaient remporter ä la guerre."36

Zwiespältiger als diese Pindar-Nachfolge eines lauteren Klassizisten war im entgegengesetzten Lager das Verhältnis des Dichters Houdar de La Motte zu dem griechischen Dichter. Mit La Motte wird der erste dichterische Klang der Aufklärung vernehmbar: Noch zu Lebzeiten des alten Königs ist er gesonnen, mit allen Mitteln der dichterischen Bewegung für eine radikale politische Umstellung zu kämpfen. Die Kriegspolitik muß ein Ende finden, die Stärkung der bürgerlichen Wirtschaftskraft, die Rückkehr zu Colberts Programm ist die einzige Möglichkeit einer Lösung der schleichen-

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den Krise des Staates. Hinter solchen und anderen Forderungen läßt La Motte ein neues Faktum erfühlen: die Präsenz eines seiner Macht bewußt gewordenen Bürgertums. Schon durch die aktualistischen Bestrebungen seiner Poesie mußte La Motte als Odendichter unvermeidlich den Weg Pindars kreuzen. Der unverfälschte Ton seiner Gegenwartsdichtung bewirkt eine erneute Annäherung an den griechischen Dichter im Widerspruch zu allen poetischen Theorien. La Motte versucht zunächst in einer Abhandlung, mit dem Rückblick auf die früher in Frankreich unternommenen Versuche der Nachahmung von Pindars Oden, sein eigenes Unternehmen zu begründen. Er geht dabei bis auf Ronsard zurück, der hier zum erstenmal seit seiner literarischen Achterklärung einer ernsthaften Verstehensbemühung gewürdigt wird. Ronsard hatte den Mut, mit der langlebigen Tradition der Horazischen Anakreontik zu brechen und die Pindarsche Ode in allen ihren Elementen nachzubilden. Ronsards Mißerfolg war aber infolge seiner fundamentalen Unkenntnis des französischen Sprachgeistes unausbleiblich. Daher wird die Wiedererweckung des Pindar-Kultes schwerlich dazu verhelfen, einen Ronsard der Vergessenheit zu entreißen. Auf dem von ihm eingeschlagenen Weg der gelehrten Rekonstruktion blieb freilich der Lebenspunkt der vergangenen Dichtung unauffindbar: Des Pindares et des Horaces Suivons plus dignement les traces. C'est en inventant qu'ils ont plu. Et les imitateurs serviles N'ont dans leurs ecrits inutiles Que le merite d'avoir lu ...37

Wieweit hatte Klopstock Kenntnis von dem Nachruhm Pindars, den die zeitgenössische Dichtung neu begründet hatte? In jedem Fall ist festzuhalten, daß die Erneuerung Pindars als der Geburtsakt der deutschen Dichtung eine anderwärts schon ausgebildete Pindar-Tradition fortführt. Wie La Motte stimmt auch Klopstock die Ode auf die schicksalhaften Probleme seiner Nation. Der unbedingte Pazifismus ist beiden Dichtern gemeinsam. Den Oden wird von beiden die Losung des Tages, das neugeschaffene politische Schlagwort geöffnet. Bei La Motte führt die theoretische Hochschätzung der Prosa zu der bewußten Profanierung des dichterischen Kontextes — die Wirkung war freilich eher die Poetisierung der in der poetischen Wortwelt neu zugelassenen Begriffe. In einer Ode auf die Akademie der Wissenschaften sagt La Motte:

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Der Weg der deutschen Aufklärung nach Frankreich Je vois la chimie attachee A servir encore son dessein; De la nature trop cachee, Seule eile sait ouvrir le sein.38

In der Ode auf den Tod Ludwigs XIV. wird die Entstehung einer politischen Partei mit folgenden Versen umschrieben: Lorsque des fortunes publiques Elle veut assurer les fruits, Elle enfante les politiques, Des Etats solides appuis.

Und wenige Zeilen später ist schon von den neugebackenen „conseils" die Rede, die an die Stelle der autokratischen Minister treten: Et par des conseils secourables ... II voudrait se multiplier.39

Auch Klopstock liebt solche aktualistische Thematisierung inmitten der antikisch gerafften Sätze: Die Korporationen ... vernichtete Das freie Frankreich .. .40

Oder: O Freiheit, Freiheit, nicht nur der Demokrat Weiß, was du bist ...41

Für Klopstock — wie vorher für La Motte — bleibt die Erwartung, daß aus der Verwirrung der Gegenwart der Friede zwischen den Völkern als Endzustand hervorgehen möge, der Leitstern seines dichterischen Werkes. Diese Forderung belastet sein Verhältnis zu Friedrich II. und später zur Französischen Revolution: ... Weh dem Eroberer, Welcher im Blute der Sterbenden geht.42

Und in einer inmitten der Greuel des Siebenjährigen Krieges entstandenen Ode: O Vorsehung, beschließ doch endlich, Endlich die blutigen Wieder besiegten Siege Mit einem, der Frieden gebeut.43

Klopstock und die Ode

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Nur mit Einschränkung kann der Krieger besungen werden: Des Kriegers Größe? Ja, wenn er für Freiheit kämpft Oder wider ein Ungeheuer, Das mordet, mit der Kett' umklirrt; so ist der Held Edler Mann, verdienet Unsterblichkeit. Aber wenn er nichts mehr Denn Eroberer ist, Ruhm ihn drommetet; gerechter ihn Schandsäulen Verewigen: Größe wäre auch das?44

Offenbar sah Klopstock schon damals eine endgültige Sicherung des Friedensbedürfnisses als eine Forderung an, deren Erfüllung nur von einer allgemeinen Veränderung der gesamten politischen Verhältnisse zu erwarten wäre. Klopstock war überzeugt von der Unausbleiblichkeit einer solchen Veränderung. Er ahnte allerdings nicht, daß dieses Ereignis nahe bevorstand und daß nicht Deutschland zum Schauplatz der Revolution bestimmt war: ... Frei, o Deutschland, Wirst du dereinst! Ein Jahrhundert nur noch; So ist es geschehn, so herrscht der Vernunft Recht.45

Einen Höhepunkt erreichte die Odenkunst Klopstocks mit dem Ausbruch der Französischen Revolution, die seine Erwartung in einer ungeahnten Richtung erfüllte. Die unvermutete Tat des Brudervolks fordert das Gericht über alle Wertungen und Überzeugungen in Klopstocks bis dahin durchlebter Dichtung: Verzeiht, o Franken (Name der Brüder ist Der edle Name), daß ich den Deutschen einst Zurufte, das zu fliehen, warum ich Ihnen itzt flehe, Euch nachzuahmen. Die größte Handlung dieses Jahrhunderts sei, So dacht ich sonst, wie Herkules Friedrich Die Keule führte, von Europas Herrschern bekämpft und den Herrscherinnen. So denke ich jetzt nicht. Gallien krönet sich Mit einem Bürgerkranze, wie keiner war!46 Frankreich schuf sich frei. Des Jahrhunderts edelste Tat hüb Da sich zu dem Olympus empor ... O Schicksal! Das sind sie also, das sind sie, Unsere Brüder, die Franken; und wir?47

Auch im folgenden Jahr gibt ihn das gewaltige Thema nicht frei. Von immer neuen Seiten erstrahlt die Tat, die eine Weltenwende herbeigeführt

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hat. Vor allem ist „das gräßlichste aller Ungeheuer, der Krieg", im revolutionären Frankreich „an die Kette gelegt"48. Fast hilflos sucht der Blick das deutsche Vaterland ab nach Männern, die der Stunde gewachsen sind. Klopstock findet sie in denen, die unter den Bannern der jungen amerikanischen Freiheit kämpfen. Der rasch nach links fortschreitenden Entwicklung der Revolution konnte der Dichter allerdings nicht folgen. Es lag auch gewiß an der einseitigen Information, daß der Jakobinerstaat, gegen den alle Fürsten Europas zum Angriff sammelten, in seiner Bedeutung als Hort der Freiheit und der Gerechtigkeit auch von den Würdigsten verkannt wurde. Rückhaltlos klagt Klopstock über sein Schicksal, nach dem Erlebnis der größten Geschichtstat zum Zeugen der heillosen Verderbnis aller lauteren Bestrebungen berufen zu sein. Das einmal Erlebte verliert indessen seine Gültigkeit nicht. Gerade in diesem trotzigen Verharren bewährt sich der ins Geschichtliche übergreifende Sinn des Dichterwortes.

Herders Konzeption der Menschheitsgeschichte Die „Gespräche von mehr als einer Welt" waren nicht das einzige Werk von Fontenelle, das Gottsched den Deutschen zugänglich machte. 1727 erschien in seiner Übersetzung eine weitere Abhandlung Fontenelles. In dieser kleinen, aber inhaltsreichen Schrift, „Abhandlung vom Vorzuge der Alten und Neuern", wird erstmals die These vom geschichtlichen Fortschritt verteidigt. Sie war schon ein halbes Jahrhundert zuvor als Kampfschrift in dem damals entbrannten Literaturstreit zwischen den humanistischen Freunden der Antike (zu denen fast alle großen Dichter des klassischen Frankreichs zählten) und den Vorkämpfern eines Fortschritts über die Antike hinaus, unter denen sich außer Fontenelle der von Colbert in die Akademieverwaltung eingesetzte Perrault mit seinem ganzen Anhang von Freunden befand, formuliert worden. In ihrem Ursprung war diese ganze Lehre nichts weiter gewesen als eine panegyrische Floskel zugunsten der triumphalischen französischen Klassik und ihres Steuermanns, als welcher Ludwig XIV. gepriesen wurde. Sein Nachruhm sollte den eines Augustus überstrahlen. Zu diesen höfischen Schmeicheleien traten dann aber wirkliche Gründe. Die Siege der französischen Klassik waren nicht wie die Früchte der goldenen Latinität allein auf dem Boden der Schriftstellerei, sondern vor allem in den Wissenschaften erfochten worden. Durch die Syn-

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these des Wissenschaftlichen und Literarischen entstand ein neuer Kulturbegriff, der seine Entfaltung in der Aufklärung finden sollte. „Die Mathematik und die Naturlehre sind Wissenschaften, deren Joch den Schultern der Gelehrten täglich schwerer wird; endlich würde man ihnen gar den Abschied geben müssen, allein die Methoden vermehren sich zu gleicher Zeit. Ebenderselbe Verstand, der die Dinge verbessert, indem er neue Einsicht zuwege bringt, macht auch die Art, sie kürzer zu fassen, vollkommener und gibt neue Mittel an die Hand, die neue Weitläufigkeit, so er den Wissenschaften zuwege bringt, zu begreifen. Ein Gelehrter dieser Zeit hält einen Gelehrten aus den Zeiten Augusti zehnfach in sich: Aber er hat auch zehnmal mehr Bequemlichkeiten, gelehrt zu werden. — Ich wollte die Natur gern mit einer Waagschale in der Hand abmalen, wie man die Gerechtigkeit zu bilden pflegt: anzuzeigen, daß sie sich derselben zum Abwägen bedient, und alles dasjenige fast gleich einzuteilen, was sie den Menschen austeilt; das Glück, die Gaben, die Vorzüge und Beschwerden verschiedener Stände, die Leichtigkeit in Sachen, die den Verstand betreffen."49

Um die Gesetzlichkeit dieses fortschreitenden Prozesses zu ermitteln, greift Fontenelle zu der humanistischen Theorie der Übereinstimmung der Menschheitsgeschichte mit der Geschichte des Menschen: „Die Vergleichung, die wir zwischen den Menschen aller Zeiten und einem einzigen Menschen gemacht, läßt sich auf unsere ganze Frage von den Alten und Neuern ausdehnen. Ein rechter aufgeräumter Kopf ist, so zu reden, aus allen den guten Köpfen der vorigen Zeiten zusammengesetzt; sein Geist ist eben derjenige, der durch alle die Jahrhunderte auspoliert worden. Dergestalt hat dieser Mensch, der seit dem Anfange der Welt gelebt hat, seine Kindheit damals gehabt, als er sich mit den äußerlichen Notwendigkeiten dieses Lebens behalf; seine Jugend, als er in Sachen, die auf die Einbildungskraft ankommen, dergleichen die Dicht- und Redekunst ist, glücklich war; ja als er auch schon die Vernunft, wiewohl mit mehr Feuer als Gründlichkeit, zu brauchen anfing. Itzo ist er in seinem männlichen Alter, wo er mit mehrer Stärke urteilt und schließt und wo er mehr Einsicht hat als jemals. Er würde aber viel weiter gekommen sein, wenn die Lust zum Kriege ihn nicht so lange beschäftigt und ihm die Wissenschaften verächtlich gemacht hätte, zu welchen er sich doch endlich wieder gewendet hat."50

Aber gerade auf diesem entscheidenden Punkt versagt die humanistische Gleichung: „Allein ich werde gestehen müssen, daß dieser Mensch kein hohes Alter haben wird. Er wird allezeit gleich fähig sein zu dem, wozu seine Jugend vermögend war; ja er wird täglich vermögender zu dem werden, was sich für sein männliches Alter schickt. Das heißt, um das Gleichnis fahren zu lassen, daß die Menschen niemals aus der Art schlagen werden und die gesunde Vernunft aller guten Köpfe, die nacheinander folgen werden, sich allezeit bereichern und verstärken wird."51

Der Vorwurf der „Seichtheit und Flachheit" verknüpft sich häufig mit der Vorstellung einer linearen Fortschrittsbewegung, in der alle Gefahren-

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punkte der Entwicklung, alles Abgründige und Krisenhafte sorgsam eliminiert sind. Wieweit ist dieser Vorwurf berechtigt? Für Fontenelles Geschichtsauffassung ist außer der „Abhandlung vom Vorzuge der Alten und Neuern" noch die erst 1727 veröffentlichte kleine Schrift „De l'origine des fables" (Vom Ursprung der Mythen) heranzuziehen. Mit der Herkunft des mythischen Denkens will Fontenelle das Dunkel der vorgeschichtlichen Menschheit erhellen. Nicht mangelnde Denkkraft, sondern das noch allzu weitmaschige Netz des Erfahrungssystems ist schuld an dem mythologischen Charakter der Erklärung einfachster Phänomene. Das Schlußverfahren, das schon die primitive Gesellschaft zu solch phantastischen Ergebnissen führte, ist im Grunde dasselbe, das eine von Erfahrungen in jeder Richtung geleitete Menschheit zu ihrer Erklärung befolgt. Der Mensch unterscheidet sich also wesentlich nicht vom Menschen, sei er fortgeschritten oder primitiv, welcher Rasse er immer angehören möge. Bei Fontenelle war diese Lehre von der Menschengleichheit ein aus der Cartesianischen Philosophie übernommenes Element. Es ist und war eine elementare anthropologische Erkenntnis, daß die physische Grundorganisation seit Jahrmillionen unverändert geblieben ist. Nach dieser Fontenelleschen Geschichtskonzeption müßte auf irgendeinem Punkt der Entwicklung die quantitative Anhäufung von Erfahrungen zum qualitativen Fortschritt, zum Durchbruch der Kausalität und zu einer berechneten Steuerung des Menschenschicksals führen. Indessen ist dieser Fortschritt beständig bedroht durch die Wirksamkeit des Trägheitsgesetzes, das den Durchschnittsmenschen immer wieder auf die schon gebahnten Wege zurückführt und von jeder Anstrengung kostenden Neuerung abbringt. Damit, daß ein Fortschritt denkbar wird, ist noch nichts darüber entschieden, ob er wirklich zustande kommt. Die fortschreitende Entwicklung ist also von Gefahren umlauert. Das Interesse der herrschenden Klassen fiel mit dieser natürlichen Trägheit der großen Zahl der Menschen zusammen. Die Priesterschaft übernahm die besondere Funktion, die Menschheit an der Kandare ihres Aberglaubens zu halten. Versucht man das letzte und überall ausschlaggebende Merkmal dieser am weitesten verbreiteten Einstellung zu fassen, so ist es der Glaube an die Überlegenheit des Althergebrachten, der Glaube an die Tradition, der sich von vornherein mit jedem überlieferten Inhalt abzufinden bereit ist. Diese doppelte Verknotung der Klassenherrschaft im Interesse der Herrschenden und in der Mentalität der Beherrschten stand jedem wirklichen Fortschritt entgegen: Das wird in der vielleicht radikalsten Geschichtsauslegung der französischen Aufklärung, in Du Marsais' „Essai sur les prejuges" deutlich. Du Marsais, ein authenti-

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scher Schüler von Fontenelle, gibt selbst in seinem Vorwort die Datierung des von Holbach 1769 herausgegebenen Werkes. Das Manuskript soll schon 1750 abgeschlossen vorgelegen haben. Wenn dem so ist (und wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln), so wäre der Verfasser des „Essai sur les prejuges" ohne die Kenntnis von Jean-Jacques Rousseau und von Boulanger zu einer ähnlichen Konsequenz aus den in seiner Jugend empfangenen Impulsen getrieben worden. Kennzeichnend für die von Fontenelle bestimmte Geschichtsauffassung bleibt indessen die Überzeugung, daß wirklicher Fortschritt nur durch die Überwindung der Traditionen gelingen kann. Das Vergangene ist schon als Vergangenes verdächtig. Auf diesem Punkt blieb der Widerspruch der Klassizisten, zu denen ja auch Voltaire gehörte, unversöhnlich. Voltaire war allerdings auf der anderen Seite von der fortschreitenden Entwicklung der Wissenschaften und der Gesellschaft überhaupt aufs tiefste überzeugt. Die Keime des Wissenschaftslebens des 17. Jahrhunderts hatten sich ja doch erstaunlich entfaltet, wogegen die klassische Dichtung als unerreichbarer Höhepunkt immer mehr in die geschichtliche Vergangenheit zurücktrat. Schon Malebranche hatte versucht, die Fontenellesche Fortschrittslehre zu korrigieren und von einer Doppelrichtung des Geschichtsverlaufs zu sprechen. Das war die Auffassung, der die Zukunft gehören sollte. Die Dichtung hatte ihr Optimum nicht in der Ausbreitung der zivilisatorischen Errungenschaften, sondern in der Beschränktheit naturhafter Verhältnisse. Das Vorbild der Dichtung lag hinter uns, während der Fortschritt der Gesellschaft und der Wissenschaften der jeweiligen Gegenwart zufiel und als zukunftsweisendes Prinzip bestehen bleibt. Eine weitere Einschränkung erwuchs in einer für alle menschliche Geschichte bestimmten Fortschrittstheorie durch die Versuche, die große Katastrophe der menschlichen Frühgeschichte wissenschaftlich zu rekonstruieren (Maillet, Boulanger). Insofern die Menschheitsgeschichte ihr letztes Schicksal durch die Geschichte unseres Planeten erhält, mußte sich weit eher die Perspektive der Vernichtung als die eines grenzenlosen Fortschritts auftun. In seiner Anwendung auf den spezifisch geschichtlichen Lebensraum, auf die vorderasiatische und europäische Geschichte war aber zweifellos der Fortschritt Schicksal und in gewisser Weise die einzige Alternative der Selbstpreisgabe. Voltaires Geschichtsschreibung hat sich in der Tat an dieses Gesetz gehalten. Seit dem Beginn der fünfziger Jahre wird das geschichtliche Weltbild der stärksten Belastungsprobe durch die mit hinreißendem Schwung von

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Rousseau vorgetragene Verurteilung der gesamten bisher geführten Geschichte als einer menschlichen Verirrung ausgesetzt. Rousseau hat keineswegs den wirklichen Grund dieser Fehlanlage von so viel menschlicher Intelligenz verschwiegen: Geschichte als Klassengeschichte, als eine Ära der systematischen Unterdrückung des Menschen durch den Menschen war zum Scheitern verurteilt. Sehr bezeichnend ist die von Voltaire diesem ganz unerwarteten Radikalismus gegenüber eingenommene Haltung: Man versucht Rousseau in der aufgeklärten Welt als Schwärmer und Enthusiasten, vor allem aber wegen seiner theistischen Überzeugungen zu diskreditieren, während man in Denunziationen an die Regierung die Demagogie eines gefährlichen Aufrührers anprangerte. In Wahrheit ist das geschichtliche Weltbild der Aufklärung durch den Einbruch der Rousseauschen Ideen gespalten worden: dem Versuch, die abgründige Lage der Gesellschaft durch Reformen zu bessern, tritt mit schneidender Schärfe die Erkenntnis des auszufechtenden Klassenkampfes entgegen. Noch weiter weist die Dialektik Linguets, deren Unverständnis in der Revolutionszeit ihn das Leben kosten sollte: Für ihn wird das kommende Regime der Finanzbourgeoisie die schlimmste Bedrückung bringen, so daß von dieser grausigen Zukunftsvision ein milderndes Licht auf den feudalabsolutistischen Despotismus zurückfällt. Die sozialistischen Theorien Morellys und Deschamps' lassen schon ein Vorlicht auf den einzigen Ausweg aus dem von Linguet erkannten Dilemma fallen. In Deutschland war es der junge Lessing gewesen, der in der „Vossischen Zeitung" zuerst (1751) auf die grundsätzliche Bedeutung der Voltaireschen Zuwendung zur Welthistorie hinwies. Gewiß waren diese Rezensionen einer Epoche der allgemeinen Begeisterung Lessings für die vielfältigen Werke Voltaires entsprungen; aber die radikale Umkehr in Lessings Verhalten zu Voltaire berührte die Geschichtsschreibung am wenigsten. Die Abwehr der deutschen Intelligenz gegen eine bedingungslose Rezeption des in Frankreich geschaffenen geschichtlichen Weltbildes war aber in der Folgezeit ganz offenkundig. Vor allem stand die Problematik der Geschichtlichkeit im Mittelpunkt der zwischen Nicolai, Mendelssohn und Abbt gekreuzten Briefe. Während Abbt sich ganz und gar der Ausarbeitung des geschichtlichen Weltbildes überließ, gewahrt man bei Mendelssohn die traditionellen Hemmungen der rationalistisch und wolffianisch erzogenen deutschen Aufklärung: „... Sie haben mich einst", so bekennt Mendelssohn in seinem Brief vom 16. Februar 1765, „wenn ich mich anders recht besinne, über eine gewisse Geschichte, die Sie schreiben wollten, zu Rate gezogen, und ich habe Ihnen nichts darauf geantwortet. Ich konnte nicht; denn was weiß ich von der Geschichte? Was nur den Namen von Geschichte hat, Naturge-

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schichte, Erdgeschichte, Staatsgeschichte, gelehrte Geschichte, hat mir niemals in den Kopf kommen wollen; und ich gähne allezeit, wenn ich etwas Historisches lesen muß, es müßte mich denn die Schreibart aufmuntern. Ich glaube, die Geschichte ist eines der Studien, welche nicht ohne Unterricht erlernt werden können ,.."52

In einem siebzehn Jahre später geschriebenen Brief an Hennings kommt Mendelssohn auf das Problem des Fortschritts der Menschheit zu sprechen. Der Korrespondent hatte in dem Widerspruch zwischen der geforderten Vervollkommnung des Menschengeschlechts und der im Ganzen der Geschichte beobachteten Kreislaufbewegung eine besondere Schwierigkeit des geschichtlichen Denkens erkannt. Was Mendelssohn dem entgegensetzt, nimmt der Geschichte alle Relevanz und Bedeutsamkeit: „Nicht die Vervollkommnung des Menschengeschlechts ist die Absicht der Natur; nein! die Vervollkommnung des Menschen, des Individuums ..." Es wird überhaupt bestritten, daß „das menschliche Geschlecht ... als ein solches ... ein für sich bestehendes Wesen"53 sei. Real und wichtig sind nur die Individuen. Würde der Fortschritt das Prinzip der Geschichte sein, das heißt, würde sich in der Geschichte ein erkennbarer Sinn verwirklichen, so würde den Individuen auf die Dauer jede Gelegenheit zur eigenen Bewährung genommen: „Ginge das menschliche Geschlecht in der Vervollkommnung immer weiter, so würden die neuen Ankömmlinge keine Gelegenheit finden, ihre Kräfte zu üben, ihre Anlagen zu entwickeln; und dieses ist doch gleichwohl der wahre Zweck der Natur."54 Trotz der Versteifung des Rationalismus war es auch in Deutschland unausbleiblich, daß die allenthalben fällig gewordene Idee einer geschichtlichen Konzeption von den verschiedensten Geistern Besitz ergriff. So berichtet Montesquieu von seiner Ende 1729 von Graz nach Den Haag zurückgelegten Reise über die Bekanntschaft des in braunschweigischen Diensten stehenden Premierministers Johann Friedrich von Stein (1681 — 1735). Montesquieu glaubt in ihm die bedeutendste Persönlichkeit des zeitgenössischen Deutschlands zu erkennen. Die beiden Männer vertrauten sich gegenseitig ihre Pläne und Gedanken an. Im Gespräch mit Montesquieu entwickelte Stein die Idee einer Universalgeschichte, die Montesquieu ausdrücklich als eine originelle und des Nachdenkens verlohnende Konzeption vermerkte: „Derselbe Baron (Stein — W. K.) wünscht sich, daß eine Universalgeschichte entstehen möge, worinnen die Wirkungen und die Veränderungen bestimmter bedeutender Ereignisse aufgezeigt würden." Die großen Etappen des Geschichtsverlaufs wären der Barbareneinfall, die Christianisierung der germanischen Welt, ihre staatliche Konstituierung im Reiche Karls des Großen, die Entdeckung Indiens und Amerikas, in deren Gefolge Spanien

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entvölkert wurde und Holland seinen Bevölkerungsüberschuß erhalten hätte — dazu die großen Erfindungen, die den Lebensstil der Menschheit verändert hätten. Vor dem Erscheinen der Voltaireschen Geschichtsdarstellung war solch ein Entwurf gewiß kein banaler Gedanke. Tatsächlich kam es auch Jahrzehnte später zu einer Verwirklichung dieses Gedankens in Deutschland: doch ist es charakteristisch, daß der erste Anlauf zu einer Universalgeschichte nicht in den Grenzen des Reichs, sondern auf Schweizer Boden unternommen wurde, durch Iselins 1764 veröffentlichte „Geschichte der Menschheit", dem offenkundigen Vorbild der Herderschen Versuche. Ein früher entstandener Ansatz einer Geschichtstheorie hatte einen bestimmten Platz in der Kosmologie von Hermann Samuel Reimarus gefunden. Reimarus, der sich mit den auf ihn einstürmenden Theorien der Franzosen herumstritt, verdankte ihnen doch wohl die Vorstellung einer auf Fortschritt angelegten Menschheitsgeschichte. Für Reimarus unterscheidet sich die Menschheit von allen tierischen Wesen durch ihre Angewiesenheit auf eine geschichtliche Entwicklung ihrer Gattung. Was den Tieren schon bei der Urschöpfung verliehen war, das muß sich die Menschheit in mühsamer Arbeit der Geschlechter erringen. Damit war die Geschichte der Vorsehung entrissen und zur natürlichen Dimension der menschheitlichen Verwirklichung ausersehen, der Gedanke von der Perfektibilität, bisher in Deutschland nur der Geschichte vorbehalten, wird erstmals auf die Entwicklung des Menschengeschlechts übertragen. Hermann Samuel Reimarus gehört zu jenen seltenen Denkern, die ihre Quelle nicht verwischten, sondern im Gegenteil den Leser an ihrer Auseinandersetzung mit den entscheidenden Werken der Zeitgenossen beteiligen. Die Polemik mit La Mettries Materialismus durchzieht das ganze Werk; an Maupertuis und Buffon bewundert er die Vertiefung der Naturerkenntnis, die sich jedoch gegen alle theologischen Argumente feindselig abschließt. Das Schwergewicht aber fällt auf die Auseinandersetzung mit Jean-Jacques Rousseaus frühen Schriften. Daß Rousseaus radikale Kritik an der menschlichen Selbstentfremdung auf den bisherigen Wegen der Geschichte nicht die Geschichte selbst in Frage stellt, sondern ihre bisherigen Träger, war Reimarus keineswegs entgangen. Und ebensowenig die aus den Klassengegensätzen notwendig entspringende Gewalttat, die aber ausdrücklich für die deutschen Verhältnisse als unangemessen verworfen wird. Reimarus teilt mit seinen deutschen Zeitgenossen die Süffisanz in der Beurteilung der deutschen Verhältnisse:

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„Wir, die wir in bürgerlicher Gesellschaft unter Obrigkeiten und Gesetzen leben, haben nicht Ursache, wegen der hie und da zufällig eingerissenen Mißbräuche, wegen der Unterdrückungen von den Mächtigen und des daraus entstehenden Elendes aus der Welt zu laufen, Misanthropen zu werden, uns lieber wild, ungesellig, nackt, einsam, stumm und dumm zu wünschen, die menschliche Natur selbst aller ihrer Vorzüge zu berauben und weit unter das Vieh herunterzusetzen. Es sind noch immer Länder, da unter einer sanften Regierung die Freiheit der Religion, der Lebensart, der willkürlichen Handlungen ungekränkt bleibt, da Künste, Wissenschaften und Handlung blühen, da Geschicklichkeit, Fleiß, Ehrlichkeit und Tugend geachtet und belohnet werden und da Menschenliebe immer Gegenliebe findet."55

Iselin hatte zweifellos etwas von den großen Diskussionen in Frankreich mitbekommen, wo er einem langjährigen Aufenthalt entscheidende Bildungserlebnisse verdankte. — Die Geschichte der Menschheit stellt für ihn keinen Gegensatz dar zu der Geschichte der Völker und Nationen. Seine Beobachtungen sind „an den Schicksalen vieler Völker zusammengenommen". Der Begriff der Menschheit ist also nicht durch Abstraktion von den bestehenden Nationen gewonnen, sondern vielmehr durch ihre Typisierung. Der Geschichtsverlauf weist entschieden in die nahe Zukunft der zu verwirklichenden politischen und bürgerlichen Gesellschaft. Die Urgesellschaft wird aus der Mentalität der heute noch überlebenden Primitiven entwickelt. Der Fetischismus und der Aberglaube verhindern das Entstehen echter Freiheit auf dieser Stufe. Sie ist erst die Frucht der neueren, aus der anarchischen Auflösung des Feudalismus hervorgegangenen Geschichtszeit. Die Überspannung der feudalistischen Rebellionen zwingt die Krone, ihre Stütze bei der städtischen Bürgerschaft zu suchen. Die neue Blüte der Städte führte auf dem Gipfel der feudalistischen Ära zur Begründung der oberitalienischen Stadtrepubliken, die ebenso wie die Eidgenossenschaft aus ihrer Zeit noch nicht die Gesinnung echter Bürgerfreiheit schöpfen können. Gleich Voltaire und allen anderen Historikern der Aufklärung schreibt Iselin der Tätigkeit der durch die Türkensiege aus Konstantinopel vertriebenen byzantinischen Gelehrten die größte Bedeutung für die Restauration des Humanismus zu. Ganz unbewußt, aber doch beharrlich, schleicht sich die Negation als Hebel in das Geschichtsbild von Iselin ein. So ist der Triumph der echten Freiheit in England das Ergebnis eines doppelten Verhängnisses: des königlichen und des revolutionären Despotismus. Die einzige solide philosophiegeschichtliche Komponente der Aufklärung ist für Iselin der Wolffianismus. Er gibt ein durchaus zutreffendes Bild der disziplinierenden Wirkung der Wölfischen Philosophie für die in den Kampf der Aufklärung berufene deutsche Intelligenz. Iselin verspricht sich alle weiteren Fort-

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schritte von einer systematischen Moralisierung des politischen Lebens: „Es ist keinem Menschen, es ist keinem Staat vergönnt, eine Glückseligkeit zu genießen, die größer sei als die Tugend."56 Der Einfluß Iselins auf Herder kann der Natur dieses harmlosen und gemütvollen Baslers nach nicht allzu tief sein. Doch eine Ermutigung für eine Zusammenfassung seiner von Jugend an betriebenen Studien der französischen Historiologie verdankte Herder gewißlich dieser ersten Menschheitsgeschichte. Herders empfängliche Jugend wurde völlig von JeanJacques Rousseau beherrscht. Schon mit fünfundzwanzig Jahren (1769) erfüllte sich seine Sehnsucht, Frankreich von Augenschein kennenzulernen. Sein Aufenthalt in Nantes und Paris dehnte sich über mehrere Monate aus. Die persönliche Begegnung mit d'Alembert und Diderot scheint ihren Eindruck nicht verfehlt zu haben. Jedenfalls bemächtigte sich der junge Herder in einem fieberhaften Prozeß der Rezeption der schon viel verschlungenen und weitverzweigten Gedankenwelt der französischen Aufklärung. Von Frankreich aus schrieb er seinem Verleger: „Von Voltaire bis zu Freron und von Fontenelle bis zu Montesquieu und von d'Alembert bis zu Rousseau, unter Enzyklopädisten und Journalisten ... unter Theaterstücken und Kunstwerken und politischen Schriften und allem, was der Geist der Zeit ist, habe ich mich herumgeworfen und umhergewälzt."

Damit ist das Bildungserlebnis, die Grunderfahrung umschrieben, deren Entfaltung Herders geistiges Leben bestimmen sollte. Daran wird durch die gelegentlichen Unmutsäußerungen gegenüber dem französischen Volk überhaupt nichts geändert. Das französische Volk ist nicht die französische Aufklärung, und die französische Aufklärung war unter der Gunst der Verhältnisse zu einer Konsequenz gelangt, die alle Schranken der nationalen Befangenheit beseitigen mußte. In der älteren Darstellung von Rudolf Haym ist dieses innere Verhältnis zur französischen Aufklärung, vor allem in der Behandlung der frühen und mittleren Epoche Herders, deutlich zu spüren. Anders die neueren Biographen, von denen nur Kühnemann zu Wort kommen soll: „Längst vorbereitete Vorstellungen füllen sich in Herder mit Leben. Der Gegensatz, der seine ganze Geschichtsanschauung bestimmt, wird lebendig. Er begreift in der französischen Gegenwart ein Beispiel vom Veralten und Ableben einer Kultur und streckt sich mit seiner ganzen Sehnsucht nach der ursprünglichen Kraft einer neuen Jugend, die er im deutschen Geiste erhofft. Dies war das entscheidende Erlebnis in Paris ... seine tiefsten Bedürfnisse fanden hier (in Paris — W. K.) nichts, das ihnen entsprach. Im Grunde blieb diese ganze Welt ihm äußerlich."57

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Rudolf Haym faßt das Ergebnis der in Frankreich verbrachten Monate in folgenden Sätzen zusammen: „Derselbe Mann, der sich mit dem größten Eifer auf die Erlernung der französischen Sprache wirft und für seine Schule dieser Sprache den Vorrang vor dem Lateinischen und Griechischen eingeräumt wissen will, fühlt sich doch zugleich von ihrer Oberflächlichkeit, ihrer Altverständigkeit und gesellschaftlichen Verbildung abgestoßen, so daß er nun doch wieder für den gelehrten Verkehr dem Latein den Vorzug gibt. Und wiederum: Derselbe Mann, der über das Ganze der französischen Literatur ungefähr wie Klopstock oder wie Lessing urteilt, steht doch zugleich unter dem Zauberbanne des Geistes und der Formenreize eben der Schriftsteller, deren Schwächen er so hart und so treffend charakterisiert. Es ist ein ähnlicher, ja in der Wurzel derselbe Widerspruch wie der zwischen seinem Eingehen auf die ökonomisch-praktische Aufklärungsbildung und seiner Tendenz, dieselbe zu durchbrechen. Es ist ein Widerspruch, der uns doch nur die Beweglichkeit und Lebendigkeit, den Reichtum und die Vielseitigkeit seines Wesens veranschaulicht. Die Parteilichkeit, die aus Beschränktheit herrührt, findet sich nun einmal sowenig bei ihm wie die andere, die aus der Festigkeit abgeschlossener Charakterbildung hervorgeht. Wie sehr er daher im ganzen und großen die Stimme Lessings gegen die Abhängigkeit unserer von der französischen Literatur wird verstärken helfen: immer doch wird er sich zugleich ein offenes Auge auch für die glänzenden Seiten des französischen Geistes bewahren und gerade durch den Wechsel der Gesichtspunkte in das durch Lessings Tapferkeit und Entschiedenheit freigewordene Urteil ein höheres Maß von Gerechtigkeit zurückführen." 58

Die Zuwendung zum primitiven „schöpferischen Zustand der von Dichtern geführten Nationen" ist ein Motiv, das schon in den vierziger Jahren durch das dänische Erlebnis La Beaumelles in die französische Literatur gelangte. Der landsmännischen Empfehlung Montesquieus verdankte La Beaumelle die Berufung auf den Kopenhagener Lehrstuhl, die er mit seiner publizistischen Arbeit für die von ihm allein bestrittene Literaturzeitschrift „La spectatrice danoise" verknüpfte. La Beaumelle verrät eine, wenn auch flüchtige Kenntnis der altnordischen Literaturen. Die „poetes-roi" sind ihm geläufig und ebenso der Gedanke, daß das hohe Glück und die höchste Vollendung der Poesie in jene ursprüngliche Epoche der Nationen fallen. Bekannt ist, was Herder darüber schrieb: „Ein Dichter ist Schöpfer eines Volkes in sich. Er gibt ihm eine Welt zu sehen und hat ihre Seelen in der Hand, sie dahin zu führen."Ihre stärkste Wirkung übt die Poesie auf die Jugend der Völkerseelen. Trotz der gipfelnden Dichtertat Dantes hat schon zu seiner Zeit die Religion die poetische Unmittelbarkeit gebrochen. Dichtung ist Herder zufolge ein so spezifisch nationales Phänomen, daß ihr das „Zusammenrücken der Länder Eindrang, Tiefe und Bestimmtheit" rauben mußte. Ist aber nicht die Beschäftigung mit dem Mittelalter ein Beitrag Herders, der ganz entschieden über die Einflußsphäre der französischen Aufklärung

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hinausweist? Seit dem Erscheinen von Carcassonnes grundlegendem „Montesquieu et le probleme de la constitution francaise au XVIIIe siecle" wissen wir, welche Kreise die Beschäftigung mit den mittelalterlichen Ursprüngen der noch bestehenden Institutionen des Ancien regime gerade im 18. Jahrhundert gezogen hat. Das Problem, das eine Lösung forderte, war der Ursprung der feudalistischen Klassengesellschaft, den die einen schon in den spätrömischen Verhältnissen erkennen wollen, die anderen als unliebsames Gastgeschenk der von Chlodwig geführten Franken ansahen. Die ganze Debatte wurde von Montesquieu auf einer höheren Stufe geschlichtet. Soviel ist gewiß: durch das Verlangen, an die Ursprünge der französischen Nation heranzukommen, hat sich die Kenntnis des Mittelalters in Frankreich seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts außerordentlich verdichtet. Lange Zeit glaubte Herder, in Montesquieu den richtigen Führer durch das Labyrinth der Geschichte gefunden zu haben. Der Ausbruch der Französischen Revolution, die niemand in Deutschland so unbedingt bis zu den radikalsten Konsequenzen bejahte wie Herder, befreite ihn von Montesquieus Überzeugung, nach der alle zwischen den Gegensätzen vermittelnden Institutionen die Freiheit verbürgen würden: „Denn nur Despotismus", sagt Herder jetzt, „oder gemeines Wesen sind die beiden Endpunkte, die Pole, um welche sich die Kugel dreht; gemäßigte Monarchie ist bloß das unregelmäßige Wanken von einem zum anderen Pole." Der Jakobinismus Herders trug ihm eine eindringliche Verwarnung seines großherzoglichen Brotgebers ein; was jedoch schlimmer war — er machte den Bruch mit Goethe unvermeidlich. Die wenigen Sätze, die Goethe in jenem Jahr der Auseinandersetzung schrieb, bringen restlose Klärung: „Ich bedaure Sie, daß Sie Beistand von Menschen suchen müssen, die Sie nicht lieben und kaum schätzen, an deren Existenz Sie keine Freude haben und deren Zufriedenheit zu befördern Sie keinen Beruf fühlen."

Der Bruch mit Goethe, der unter für Herder so ehrenvollen Umständen vollzogen wurde, hatte für die literargeschichtliche Bewertung der Herderschen Spätschriften die fatalsten Konsequenzen. Nun plötzlich stand alles im Zeichen der „sinkenden Schöpferkraft". Nicht minder belastend als der Bruch mit Goethe war dann der Bruch mit Kant, den Herder mit oder ohne philosophisches Geschick, aber mit innerer Folgerichtigkeit vollzogen hatte. Unter den spätesten, der Verfemung oder Mißachtung verfallenen Schriften muß die in periodischer Folge erschienene „Adrastea" als Herders Vermächtnis gelten. Noch einmal werden die überragenden Erscheinungen des

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vergangenen Zeitalters als zukunftsweisende Formungsversuche dem neuen Jahrhundert ins Gedächtnis gerufen. Die Rückkehr des späten Herder zum Ursprung des großen Aufschwungs gibt Anlaß, auf eine ähnliche Wendung in Goethes letzten Lebensjahren hinzuweisen. Auch er verspürt das Bedürfnis, vor der Nachwelt Zeugnis dafür zu leisten, daß eine gewaltige Epoche ihren Abschluß erreichte. Anläßlich seiner Beschäftigung mit Diderot sagt Goethe 1831: „Es war die Metamorphose einer hundertjährigen Literatur, ... die seit Ludwig dem Vierzehnten heranwuchs und zuletzt in voller Blüte stand. Voltaire hetzte aber eigentlich Geister wie Diderot, d'Alembert, Beaumarchais und andere herauf, denn um neben ihm nur etwas zu sein, mußte man viel sein, und es galt kein Feiern."59

Die Größe Herders wird dadurch nicht herabgesetzt, daß wir die tiefe Verbindung seiner Gedanken mit den Gedanken der Vor- und Mitwelt spüren. Durch Herder ist das geschichtliche Weltbild der Aufklärung nach Deutschland gelangt. Die Behauptung jedoch, daß erst von Herder die Eigengesetzlichkeit der einzelnen Geschichtsepochen erkannt worden wäre, wird der Entwicklung des geschichtlichen Denkens nicht gerecht. 1771 hatte Diderot an die Fürstin Daschkowa geschrieben: „Ein jedes Jahrhundert hat seinen Geist, der ihn charakterisiert. Der Geist des unsrigen ist offenbar durch das Motiv der Freiheit bestimmt. Haben die Menschen einmal gewagt, den Sturm auf das Bollwerk der Religion anzusetzen, so können sie sich unmöglich dabei aufhalten, da gerade dieses Bollwerk das gewaltigste von allen und das am tiefsten verehrte darstellt. Wenn sie einmal ihre drohenden Blicke gegen die Majestät des Himmels geschleudert haben, werden sie nicht verfehlen, alsbald sich gegen die irdische Herrschaft aufzulehnen. Das Tau, das die Menschheit zusammenhält, ist aus zwei Seilen gedreht: das eine kann nicht reißen, ohne daß auch das andere bricht."60

Tatsächlich hat Diderot keineswegs eine neue Erkenntnis ausgesprochen. Der Gedanke war schon Jahre zuvor in die Belletristik gelangt. So lesen wir in einem utopischen Roman von 1761: „Chaque siecle a done eu sä maniere de voir, la nötre nous est propre; les suivants auront la leur."61 So ist es nicht weiter erstaunlich, daß wir demselben Motiv schon in Montesquieus Tagebüchern begegnen: „Jedes Jahrhundert hat seinen besonderen Genius: ein Geist der Anarchie und der Unabhängigkeit bildete sich in Europa mit den gotischen Regierungen, der Geist der Klöster befiel die Zeit der Nachfolger Karls des Großen, dann herrschte die Ritterschaft und darauf der Geist der Eroberung mit dem Erscheinen geregelter Heeresverbände; es ist der Geist des Handels, der heute unsere Epoche beherrscht."62

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Die Taten des deutschen Genius sind nicht aus dem Nichts entstanden; sie können nicht als eine Urschöpfung verstanden werden. Die Größe Herders ist vielmehr gerade in seiner allseitigen Aufgeschlossenheit, in seiner einzigartigen Empfänglichkeit und in der Erkenntnis der vorwärtsweisenden Ideen begründet.

Sturm und Drang Im Sturm und Drang erwacht das Generationsbewußtsein zur brutalen Absage an die noch gestern umkränzten Idole. Eine Scheidewand bricht das Leben der Nation, das schon endende Jahrhundert auseinander. Auch dieser Bruch wurde von der Literaturgeschichte gefeiert als der endgültige Zusammenbruch des Rationalismus durch die deutsche Himmelstürmerei, als die endgültige Absage unserer ins Jünglingsalter getretenen Dichtung an die sich selbst überlebende französische Aufklärung. In Wahrheit hat unter den Nachfahren Rousseaus die antiphilosophische Aufklärung das gleiche Banner entrollt, das die enthusiastische Jugendzeit Goethes und Schillers führte. Louis-Sebastien Mercier hat am Vorabend der Revolution den von Diderot begonnenen Umsturz des Theaters vollendet. Schiller verfolgt bis in seine späten Jahre das romaneske Riesenwerk Retif de La Bretonnes, der mit Mercier dem französischen Sturm und Drang voranging. Die Literaturbeziehungen zwischen den beiden Nationen sind niemals inniger gewesen als in diesem konspirativen Stadium. Louis-Sebastien Mercier, der damals schon zu den Zelebritäten gehörte, berührte im Jahre 1787 Mannheim. Dalberg wollte den berühmten Gast durch eine Neuinszenierung von Schillers „Räubern" ehren. Mercier folgte trotz seiner völligen Unkenntnis der deutschen Sprache mit wachsender Begeisterung dem Spiel, sowohl die Dichtung wie die Aufführung war für ihn eine Offenbarung. Sie brachte ihm die Bestätigung seines eigenen Schöpferwillens, die ihm Frankreich trotz allen Ruhms und trotz aller Erfolge verweigert hatte. Die kulturellen Beziehungen zwischen den Nationen werden nicht nach der Weise eines Verrechnungsverkehrs gegeneinander aufgewogen. Aber wir halten doch fest, daß Mercier, der dem beginnenden Sturm und Drang Schillers ein folgenreiches Erlebnis verdankte, mit der dramatischen Konzeption seines „Philippe II" bei der abschließenden und reifsten Schöpfung des Schillerschen Sturm und Drang zugegen war.

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Die Rezeption des deutschen Geisteslebens in Frankreich während des 18. Jahrhunderts Wenn wir zum Schluß das Problem der französischen Rezeption der deutschen Geisteswelt im 18. Jahrhundert berühren, so geschieht es nicht, weil das Verhältnis der Franzosen zur deutschen Literatur auch nur im geringsten durch das Verhältnis der Deutschen zur französischen Literatur hätte beeinflußt werden können. Wir wollen im Gegenteil mit dieser Skizze den Nachweis der Unberührtheit einer Linie erbringen, auf der die Auseinandersetzung einer nationalen Literatur mit ihrer nationalliterarischen Umwelt zustande kommt. Die Menschheitsliteratur kann nicht eine höhere, die einzelne Sprachgemeinschaft übergreifende Existenz besitzen: sie ist vielmehr in den Nationalliteraturen gegenwärtig, die dem Bedürfnis nach universaler Ausweitung zufolge ihres Entwicklungsgesetzes und ohne jede Rücksicht auf eine etwaige Entsprechung nachgehen. Der Kampf um die Aufklärung, der die geistige Bewegung in Frankreich schon vom Anfang des 18. Jahrhunderts her bestimmte, ist auch für das Verhältnis der Franzosen zum außerfranzösischen Geistesleben entscheidend. Die innere, durch die Aufklärung verhängte Scheidung der Geister bedingt auch die gegensätzliche Einstellung der traditionsbezogenen, apologetisch ausgerichteten und der aufklärerisch gesinnten französischen Literatur gegenüber dem Ausland. Es ist klar, daß bei der einen Gruppe ganz andere Bedürfnisse der Ergänzung bestanden als bei der ändern. Das kontradiktorische Verhältnis führt oft zur ungeprüften Verwerfung der fremden Werte, die durch den Beifall der Gegenpartei von vornherein in eine negative Beleuchtung gerieten. Ein weiterer Gesichtspunkt darf bei dieser Verständnisbemühung nicht vernachlässigt werden. Der Gegenstand der Nachahmung ist sowenig wie die nachahmende Nation als eine feste, ein für allemal gegebene Größe zu behandeln, sondern in demselben oder zuweilen noch höherem Maße dem Wandel und der zeitlichen Veränderung unterworfen. Gerade die Veränderungen der deutschen Literatur sind im 18. Jahrhundert gewaltiger als in irgendeiner früheren Geschichtsepoche. Daher bedeutet die Zuwendung der Franzosen zu dem Deutschland der Gottsched-Epoche etwas völlig anderes als die ein Menschenalter später einsetzende Rezeption der deutschen Literatur, die aus dem Zustand des Projektes in den der Erfüllung gelangt war. So gut wie unabhängig von der Einwirkung der deutschen Literatur hat sich das Verhältnis zur deutschen Wissenschaft in Frankreich ausgebildet. Gerade die deutsche Wissenschaft vermochte den Franzosen am Anfang des

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18. Jahrhunderts beim Aufbau ihres neuen Weltbildes die größten Dienste zu leisten. Unter den deutschen Naturwissenschaften war es vor allem die Chemie, unter den geschichtlichen Wissenschaften die Geschichte der mittelalterlichen Institutionen, die in Frankreich am Anfang des 18. Jahrhunderts einen breiten Widerhall fanden. Die Ergebnisse der wichtigsten deutschen Neuerscheinungen wurden auch dem sprachunkundigen Franzosen durch die gewissenhaften Referate der „Bibliotheque germanique" und anderer wissenschaftlicher Journale erschlossen. Die weite Verbreitung gerade der genannten Zeitschrift ergibt sich aus einer kurzen Bemerkung im Tagebuch Mathieu Marais': „Je ne lis point la ,Bibliotheque germanique'", heißt es da. „Tous ces gens-lä sont de lourds critiques, sans goüt, sans sei et notre petit nouvelliste vaut mieux que tout cela."63 Aus dieser herben Kritik an der deutschen Geistesart ist ohne weiteres der Umfang ihres Einflusses zu ersehen. Der erwähnte „petit nouvelliste" ist der Abbe Desfontaines, der brillanteste und erfolgreichste Journalist des Jahrhunderts. Eine Konkurrenz mit Desfontaines' Literaturjournal lag selbstverständlich ganz außerhalb der rein informatorischen Bestrebungen der „Bibliotheque germanique", deren federführende Redakteure dem preußischen Refuge angehörten. Aber auch die anderen maßgebenden Literaturrevuen müssen dem deutschen Wissenschaftsleben einen breiten Spielraum gewähren. Charakteristisch ist das Versprechen, das der Abbe Prevost in der 18. Nummer seiner Zeitschrift „Le pour et contre" (1733) seinen Abonnenten gab: „Je tächerai entre autres de rendre mes memoires les plus interessantes qu'il me sera possible sur tout ce qui concerne l'etat litteraire de PAngleterre et de PAllemagne."64 Die Vermittlung der englischen Literatur und Literaturverhältnisse war ja bekanntlich der Hauptzweck dieser berühmten Zeitschrift, deren Erscheinen mit einem Höhepunkt der anglomanen Strömungen des französischen Publikums zusammenfiel. Aber die weit schwieriger zu beschaffenden Nachrichten und Referenzen aus dem sprachlich so schwer erschließbaren und so bunt gewürfelten Deutschland stellten offenbar ein besonderes Desideratum des Publikums dar, dem sich eine erfolgreiche Zeitschrift nicht entziehen konnte. Ausführlich berichtet der Abbe Prevost im 2. Band (1733) über die jüngsten deutschen staatsrechtlichen Theorien zur Kaiserwahl, zum Ursprung der Kurwürde und dem Septemvirat der Kurfürsten, das auf die Regierung Rudolfs von Habsburg zurückgeführt wurde. Unbeantwortet bleibt die Frage: „Mais comment institution a-t-elle pu se faire alors d'un

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commun accord et comment tous les Princes de l'Empire ont-ils souffert, tranquillement et sans murmurer qu'on les depouillät d'un droit general pour le fixer ä 7 Princes settlement?"65 Im 3. Band (1734) wird die deutsche Wissenschaftsposition umschrieben: „Les sciences, qu'on cultive particulierement en Allemagne, sont le droit public, l'histoire et la chimie. C'est aujourd'hui le goüt de la nation."66 Die deutsche Überlegenheit in der Begründung und Entwicklung der Chemie wurde in Frankreich schon lange bereitwillig eingestanden. So liest man in den 1720 erstmalig erschienenen „Carpentariana": „II n'y a point de gens plus curieux pour la recherche de la chimie que les Allemands."67 Und noch 1761 muß das „Journal encyclopedique" feststellen: „L'Allemagne est le berceau de la chimie; et quoique les autres contrees produisent actuellement d'habiles chimistes, eile conserve toujours quelque preeminence a cet egard."68 Der bedeutendste Chemiker der Epoche ist Wilhelm Homberg, ein Auslandsdeutscher, dessen Vater aus Quedlinburg stammte. Als Leibarzt des Herzogs von Orleans erwarb er die Freundschaft Fontenelles. Homberg besaß ungewöhnliche Kenntnisse in der Pharmakologie. Das große Sterben im Königshaus, das schließlich alle Erben des Thrones bis auf den Herzog von Orleans beseitigte, führte zu einer schweren Verdächtigung des Herzogs und seines unzertrennlichen medizinischen Ratgebers. Der alternde König hatte aber nach solchen Erlebnissen nur wenig Interesse, der Sache nachzugehen. Fontenelle, der einzige, der für die Nachwelt eine Klärung hätte bringen können, nahm das Geheimnis mit ins Grab.69 Der Einfluß der deutschen Geschichtswissenschaft läßt sich am Beispiel Montesquieus deutlich erkennen. Die „Bibliotheque germanique" gehörte zu seinem wichtigsten Arbeitsgerät. Die Auseinandersetzung mit dem adelsfeindlichen Abbe Dubos, dem Verfechter der romanistischen Geschichtstheorie, das heißt der Theorie einer römischen Rechtskontinuität im mittelalterlichen Frankreich, ist gespeist von den Argumenten, wie sie der deutsche Historiker Hoffmann gegenüber einer solchen Verkennung des germanischen Beitrags in der „Bibliotheque germanique" vorgebracht hatte. Prevosts Korrespondenz aus Berlin enthält fast nur die Namen französischer Emigranten, die ja in der Tat das geistige Leben der preußischen Hauptstadt bis zur Jahrhundertmitte bestimmten. Nur zwei deutsche Namen werden hervorgehoben: Stahl für die Naturwissenschaften und der protestantische Pfarrer Reinbeck mit einem in konziliantem Ton gehaltenen Werk über die Augsburger Konfession. Ein Bericht aus Halle steht noch immer unter dem Eindruck der schändlichen Austreibung Christian Wolffs. Der in Halle wir-

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kende Böhmer gilt als einer der bedeutendsten Juristen Europas. Eine weitere Korrespondenz in Prevosts Zeitschrift behandelt Leipzig mit Mascov, Lehmann und Börner, Tübingen mit dem Theologen Pfaff und Bilfinger, den eifrigen Verfechtern des Wolffianismus. Helmstedt wird von dem berühmten Kirchenhistoriker Mosheim beherrscht. Prevost nennt ihn einen „deutschen Bourdaloue". Prevost kann freilich nicht umhin, immer wieder den Stand der schönen Literatur in Deutschland zu erforschen. Das Ergebnis ist wenig befriedigend. Eine in Bonn veranstaltete französische Übersetzung aus Gottscheds „Vernünftigen Tadlerinnen" muß von Prevost wegen ihrer ungenießbaren französischen Fassung überarbeitet werden. Bei einem weiteren Ausflug in die deutsche Belletristik greift der Redakteur zu einem Stück Gelegenheitsprosa, die ein gänzlich unbekannter Kurländer schon vor einem halben Jahrhundert anläßlich des Hinscheidens seiner Gattin offenbar im Privatdruck für seine Freunde hatte erscheinen lassen. Die Lobpreisung der körperlichen Reize der eben begrabenen Gattin ist eine Geschmacklosigkeit, aus der Prevost sofort Konsequenzen für den deutschen Nationalgeschmack ziehen möchte: „II me semble, independamment du style de la traduction, qu'ä toutes les bonnes qualites que j'ai reconnues dans les spectateurs allemands, il en manque une, qui est le goüt; et comme ils passent en Allemagne pour les meilleurs ecrivains de leur nation, cette sentence en empörte une autre qui s'explique d'elle-meme. Peut-etre mes lecteurs ne jugeront-ils pas si rigoureusement de l'extrait que je viens de leur offrir; mais je dois les avertir qu'en changeant un peu le style du traducteur, j'ai retranche aussi du fond du texte quantite de choses qu'ils n'auraient pas trouve supportables. — Anglais aussi bien que Francais, nous sommes un peu difficiles, et nos idees ne s'accordent pas toujours avec celles de nos voisins. Quelle peut etre la cause de cette difference entre des nations qui ne sont pas separees apres tout par une si grande distance? Car, sans dire ici de qui je parle, il n'est pas question de celles qui habitent l'autre cöte de la Mediterranee et le fond de la Mer Baltique. Cette difference est-elle meme certaine et bien decidee? Car si nous ne goutons point les ouvrages de quelques nations voisines, elles ne laissent pas d'avoir du gout pour les notres, et de pretendre que nous avons tort de ne pas gouter aussi tout ce qui vient d'elles. Voilä des questions qui valent assez la peine d'etre approfondies."70

Der Ruf der wissenschaftlichen Gründlichkeit wird, wenn auch nicht ohne einen Unterton der Ironie, von allen Franzosen den deutschen Gelehrten bescheinigt. Wie der Marquis d'Argens, nachmaliger Hofmarschall Friedrichs II., behauptete, wurde in Deutschland jedes Buch, das nicht wenigstens drei Folianten umfaßte, angesehen „comme nos brochures de deux a trois feuilles d'impression le sont ä Paris"71. Trotz aller Bedenken fehlte es nicht an Versuchen, die Koryphäen der deutschen Literatur auch schon in der Epoche Gottscheds in Frankreich

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einzubürgern. Ein Erfolg ließ sich davon nicht versprechen, wie man schon aus dem mutlosen Ton der Übersetzer ersehen kann. Was ein Rabener den Deutschen im Zeitalter Voltaires zu sagen hatte, überragte an Bedeutsamkeit der Thematik und Energie der satirischen Mittel kaum die Erzeugnisse eines Regnier, der im Grunde noch zu den Epigonen der Plejade gehört. Auch der französische Übersetzer konnte die Befürchtung nicht verhehlen, daß Rabener von den französischen Zeitgenossen als eine reichlich veraltete Erscheinung empfunden werden mußte: „M. Rabener aurait dejä eu un air gothique du temps du pere Malebranche."72 Die sehr ausführliche Einleitung dieses Übersetzers ist gewiß nicht sehr freundlich gegenüber den deutschen Literaturverhältnissen; man begreift jedoch, daß der Übersetzer sich veranlaßt fühlte, unvermeidliche Einwände seiner Leser vorwegzunehmen und ihnen die Spitze abzubrechen. Dagegen fällt eine äußerst freundliche Besprechung Rabeners im „Journal etranger"73 auf. Sie ist keineswegs die einzige von offensichtlichem Wohlwollen getragene Verlautbarung über ein Thema der zeitgenössischen deutschen Literatur. Das „Journal etranger" war in jenen Jahren eine Unternehmung des älteren Freron, eines konsequenten Gegners der aufklärerischen, deistischen und atheistischen Bestrebungen. Für die französische Gegenaufklärung empfahl sich dagegen der Hinweis auf die Literatur jenseits der französischen Grenzen, die im großen und ganzen den Eindruck erwecken konnte, daß die Mehrheit der Frankreich umgebenden Nationen noch in den Banden der traditionellen Geistesüberlieferung gefangen war. Mit den sechziger Jahren drehte sich dieses Verhältnis um. Die deutsche Literatur gehörte nun in Frankreich zur Avantgarde, um die sich vor allem der radikale Flügel der französischen Aufklärung bemühte, während die Gegenaufklärung auf ihre anstrengenden kosmopolitischen Verständnisbemühungen in Anbetracht der geänderten Lage mit gutem Gewissen verzichten konnte. Freron konnte es sich natürlich nicht versagen, mit besonderem Eifer auf diejenigen aufklärerischen deutschen Werke einzugehen, die den ideologischen Abstand zu der zum Materialismus fortgeschrittenen Bewegung in Frankreich ermessen ließen. Zu diesen Werken gehört der idealistische „Phädon" Moses Mendelssohns, den Freron in der „Annee litteraire" mit deutlicher Wendung gegen die französische zeitgenössische Philosophie herausstreicht: „Ce livre est une excellente lepour la philosophic nationale."74 Von aufklärerischer Seite kam dagegen schon 1750 der Versuch, das französische Publikum auf eine Blüte der Literatur in Deutschland vorzubereiten. Grimm sagt am Eingang seines mehrfach nachgedruckten Briefes75,

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der Umschwung in der Einschätzung der deutschen Literatur würde ebenso folgenreich sein wie vor zwei Menschenaltern die Zuwendung der Franzosen zur englischen Geisteswelt. Frankreich hätte allen Grund, mit Stolz auf diese neue Wendung in Deutschland hinzusehen. Denn die französische Klassik sei auch die Wiege für die geistige und literarische Erneuerung der Deutschen gewesen. Ausführlich wird dann das nationale Verdienst Gottscheds besprochen. Im übrigen ist der Grimmsche Brief über die deutsche Literatur als ein Vorgriff auf eine Entwicklung anzusehen, die erst in den nächsten Jahrzehnten ihre Früchte tragen sollte. Aus dem Jahr 1760 stammt ein Brief der Gattin Helvetius', die auf einer Reise in Deutschland erstaunt ist, hier weit vernünftigere Anschauungen zu finden als in Frankreich. Vor allem sieht sie in der schnellen Übersetzung von „De Pesprit" und auch in der Art, wie Gottsched die Bedenken der christlichen Leser zur Geltung brachte, den Beweis der Unhaltbarkeit der in Frankreich noch immer kursierenden Meinungen über die „tetes allemandes": „J'arrive ä Francfort, et le premier livre qu'on m'a presente est une traduction allemande de votre ouvrage precedee d'un avertissement oü vous complimente, et d'un discours preliminaire du celebre Gottsched dans lequel on examine si la condamnation de votre livre par la Sorbonne et le Parlement est un prejuge pour ou contre l'ouvrage, et conclut pour la premiere opinion. Rien de plus fort et de plus singulier que ces morceaux: Comme c'est ce meme M. Gottsched qui en a permis 1'impression voici en deux mots le raisonnement qu'il fait pour s'excuser aupres des devotes: ,Ce livre, ainsi que tous les ouvrages metaphysiques, peut contenir peut-etre quelque passage dangereux, mais il a la plus grande celebrite d'ailleurs: II serait done impossible, quand on le voudrait, d'empecher qu'il ne se repande malgre les defenses les plus rigoureuses. C'est done remplir le devoir d'un censeur d'en permettre une edition publique en avertissant le lecteur d'etre en garde contre ce qui pourrait donner atteinte a la religion.' Voilä quelles sont les tetes allemandes qu'on dit si lourdes: II est vrai que nos tetes franfaises vont bien plus vite au fait. Brülez ouvrage et auteur, et examinera ensuite."76

Tatsächlich beginnt seit den sechziger Jahren ein Umschwung in dem französischen Verhältnis zum literarischen Deutschland. 1762 findet auch im Zeitschriftenwesen ein Wandel statt, der die veränderte Einstellung der französischen Aufklärung zum Ausdruck bringt. Das „Journal etranger", bis dahin das wichtigste Organ zur Vermittlung der deutschen Literatur, stellt sein Erscheinen ein. Dafür wird die „Gazette litteraire de PEurope" gegründet, an deren Spitze ein so entschiedener Aufklärer wie Suard tätig ist. Es ist natürlich von größter Bedeutung, daß nunmehr die Aufklärung die Berichterstattung über Deutschland in die Hand nimmt. Die Franzosen lernen Klopstock, Lessing, Winckelmann, Mendelssohn kennen. Interessant ist eine Notiz in Grimm-Diderots Literaturkorrespondenz zu Anfang 1764:

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„M. Junker, professeur de langue allemande ä l'Ecole royale militaire, vient de faire imprimer une espece de grammaire sous le titre d',Essai sur la langue allemande avec une histoire de la litterature allemande'. Comme c'est aujourd'hui la mode a Paris d'etudier cette langue et cette litterature, l'ouvrage ä M. Junker ne peut manquer de faire fortune." 77

Es war dieselbe Zeit, in der der junge Brissot in Chartres deutsche Sprachstudien aufnahm: „II existait alors ä Chartres un maltre de pension allemand qui, sous sa rusticite apparente, cachait une veritable philosophic pratique ... J'en tirai deux avantages, Tun de recevoir de cet homme simple de bonnes legons de philosophic, l'autre d'apprendre l'allemand. Je continual pendant six semaines avec succes, et je ne sais quelle raison me le fit abandonner. J'aurais aime a lire dans leur langue Geßner, Klopstock, Haller etc."78

Indessen sah man in Deutschland, wo diese Entwicklung mit Spannung beobachtet wurde, über die Schwierigkeiten einer Rezeption der deutschen Literatur in Frankreich nicht hinweg. Das wird in einem Brief Nicolais an Thomas Abbt bekräftigt: „Besonders da die Franzosen gegenwärtig so viel deutsch lesen, da auch die ,Literaturbriefe' von ihnen mit Beifall aufgenommen und gelesen werden, da sie aber, wenn sie von deutschen Schriften in ihrem Journal etranger' reden wollen, immer nicht wissen, woran sie recht sind, und ziemlich linke Urteile fällen, so wünschte ich freilich, daß Sie denselben zuvorkommen und ihnen zu verstehen geben möchten, mit welchem Auge man unsere philosophischen Schriften betrachten muß. Die guten Herren haben meine Briefe im Journal etranger' übersetzt und davon ganz seltsam geurteilt. Erstlich schreiben sie alle philosophischen Lehrsätze, die in denselben vorkommen, auf meine Rechnung und halten mich für einen sehr tiefsinnigen Geist. Allein sie beklagen sich über meine entsetzliche Dunkelheit. Beide falschen Urteile kommen daher, weil ihnen noch in unserer Weltweisheit alles neu ist, weil sie nicht wissen, wie vieles man in Deutschland als bekannt voraussetzen kann, wie vieles bei uns jedes ehrliche Menschengesicht auf hohen Schulen einsaugt, das ein Franzose in das Land der ,idees creuses' verschickt. Wer kann dafür, wenn diesem hernach vieles dunkel scheinet. — Wenn Sie, mein Freund, also denselben vorgreifen und ihnen gewissenhaft anzeigen, wie wenig Neues ich hinzugetan, wie vieles ich aus den Kompendien habe, die in Deutschland durchgehend bekannt sind, und wie kurz man bei uns über gewisse philosophische Materien sein muß, weil sie schon bis zum Ekel wiedergekauet worden sind. Wenn Sie dieses alles in Ihrer Rezension sagen wollten ... Doch was habe ich Ihnen vorzuschreiben? Sagen Sie, was Sie wollen, nur die Wahrheit!"79

Seit diesem Zeitpunkt gewähren die französischen Literaturgazetten den Ereignissen in der deutschen literarischen Republik eine Vorzugsstellung. Die Deutschen sind nunmehr in der schönen Literatur die führende Nation geworden: „Depuis quelques annees les Allemands marchent a grands pas dans la carriere de la belle poesie. MM. Haller, Geßner, Geliert, Klopstock etc. se sont fait connaitre en France par des ouvrages dignes de nos meilleurs poetes."80

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Wie sehr der Ton der französischen Deutschland-Berichte sich in wenigen Jahren verändert hat, kann man aus Dorats 1768 erschienenen „Reflexions sur la poesie allemande" ersehen. Besonders beeindruckt ist Dorat von der Solidarität der deutschen Schriftsteller, die von den Höfen keinerlei Unterstützung zu erwarten hatten. Eine positive, ja enthusiastische Bewertung der deutschen Geisteserzeugnisse ist in einem solchen Maße durchgedrungen, daß jede kritische Gegenmeinung mit Empörung zurückgewiesen wird: „Nous avons ete etrangement surpris de la maniere dont M. Palissot parle des poetes allemands. Selon lui, ,la poesie n'est aujourd'hui guere plus avancee en Allemagne, qu'elle ne l'etait en France du temps des Ronsard, des Garnier et des Jodelle. Traductions pour traductions, il vaudrait encore mieux, peut-etre, traduire en fran5ais des anciens auteurs gaulois, que de nous accabler de tous ces essais de poesie germanique. Nous ne pouvons en excepter qu'un tres petit nombre, dont les auteurs se sont formes sur nos plus grands maltres, et surtout les ouvrages de l'illustre et savant M. de Haller.' Voilä une decision qui pourrait meriter a M. Palissot un rang eminent dans sa propre ,Dunciade', s'il connaissait par lui-meme les chefs-d'oeuvre que l'Allemagne a produits depuis 20 i 30 ans. Nous aimons mieux croire qu'il n'est pas en etat de les lire; mais s'il ne les connait pas, pourquoi done en juger! Quoi les Klopstock, les Geliert, les Hagedorn, les Gleim, les Giseke, les Weisse, les Wieland, les Geßner, les Uz, les Kleist, les Lessing, les Jacobi etc. ne valent pas les Ronsard, les Garnier et les Jodelle! Que M. Palissot apprenne l'allemand, et avec le gout que nous lui connaissons, il conviendra que nul siecle, peut-etre, n'a vu tant d'excellents poetes contemporains, que le nötre n'en voit dans la seule Allemagne. La presente epoque ne sera pas moins glorieuse ä la litterature allemande que l'epoque des La Fontaine, des Boileau etc. ne l'a et6 ä la litterature fran9aise."81

Das deutsche Geisteswunder ist in der Perspektive der französischen Aufklärung eines der eindrucksamsten Ereignisse des Jahrhunderts. Das Überstürzte dieser Entwicklung bringt auch Gefahren mit sich, die nicht verschwiegen werden: „On remarque que, depuis quelques annees, la litterature fait en Allemagne des progres rapides. L'abondance des productions de l'esprit n'est jamais entierement sterile. Dans la classe meme des brochures, les presses allemandes ont produit de bonnes choses, parmi une foule incroyable d'ecrits insignifiants. Longtemps soumis aux opinions accreditees, les Allemands commencent meme ä prendre un vol peut-etre trop hardi."82

Als das Pamphlet Friedrichs II. gegen die deutsche Literatur erschien, war die öffentliche Meinung in Frankreich schon unterrichtet genug, um diese Schrift als eine höchst unkompetente Invektive gerade von der zur Apologie der deutschen Literatur einzig berufenen Seite gebührend einzuschätzen. Der Protest d'Alemberts, der offen die Partei der von Friedrich II. mißhandelten deutschen Schriftsteller ergriff, entsprach gewiß der in Frank-

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reich vorherrschenden Meinung. Übersieht man die Fülle der Rezensionen, Inhaltsanzeigen und essayistischen Versuche über die deutsche Literatur, die Menge der Übersetzungen und Anthologien aus diesen Jahren, so wird man kaum mehr begreifen, wie Frau von Stael 1804 es wagen konnte, ein in Frankreich schon Jahrzehnte zuvor vertraut gewordenes Deutschland neu zu entdecken. Indessen hatte sie nicht zu Unrecht mit dem schlechten Gedächtnis ihrer Landsleute gerechnet. Das zeigt der Erfolg ihres DeutschlandBuchs. Zu viele weltbewegende Ereignisse hatten die Erinnerung an die letzten Jahrzehnte des Ancien regime überschichtet. Die Bereitschaft zu einer gründlichen Rezeption der deutschen Literatur bestand jedoch unverändert weiter: ja mit der bürgerlichen Revolution erhöhte sich das Interesse an einer dem Ancien regime in entschlossener Feindschaft begegnenden Geistesbewegung. Die neue Polarisierung von Klassik und Romantik befestigte die Stellung der deutschen Literatur auf der Seite des Fortschritts und einer geistigen Dynamik, der die Zukunft gehören mußte.

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Vgl. Eugen Reichel, Gottsched, Bd. I, Berlin 1908, S. 216 f. Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Leipzig. Johann Wilhelm Ludwig Gleims Sämtliche Werke, Bd. V, Halberstadt 1812, S. 164. Ludwig Wekhrlin, Chronologen, 1779. Johann Karl Wezel, Über Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Deutschen, Leipzig 1781, S. 200. Berlinische Monatsschrift, 2. Halbjahr 1784, S. 50 f. Christian Garve, Sammlung einiger Abhandlungen aus der „Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste", Bd. II, Leipzig 1802, S. 8 f. Vgl. Francois Bruys, Memoires historiques, critiques et litteraires, Bd. II, Paris 1751, S. 11 ff. Forster an seinen Vater am 19. IX. 1782, Georg Forsters Sämtliche Schriften, hg. von Therese Forster, Bd. VII, Leipzig 1843, S. 161. Friedrich Gottlieb Klopstock, Kennet euch selbst, 1789. Forsters Sämtliche Schriften, Bd. VI, Leipzig 1843, S. 415. Klopstock, Sie, und nicht wir, 1790. Ebenda. Forsters Sämtliche Schriften, Bd. VI, S. 416. Joachim Heinrich Campe, Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben, Braunschweig 1790, S. 1. Einfältige Gedanken über den Verfall des Buchhandels und dessen Wiederherstellung, wobei erwiesen wird, wie in einer jeden Handelsstadt alle Buchhandlungen eine einzige vorstellen und doch separiert sein können, Frankfurt — Leipzig 1748, S. 6. Ebenda, S. 10. Johann Timotheus Hermes, Sophiens Reise von Memel nach Sachsen, Bd. I, Leipzig 1778, S. 140 f.

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19 „Die ernst veranlagten Nationen lieben die Komik auf ihrem Theater, und die verspielten Nationen ziehen die ernste und düstere Tragödie vor. Schauspiele gefallen den Menschen nur dann, wenn sie dabei aus sich selbst heraustreten können." (Louis Poinsinet de Sivry, La berlue, Londres 1759, S. 129) 20 Vgl. Adolf Strodtmann, Briefe von und an Gottfried August Bürger, Bd. I, Berlin 1874, S. 139. 21 Vgl. Brief Bürgers an Boie vom 7. III. 1774, ebenda, S. 200. 22 Fontenelle, Gespräche von mehr als einer Welt, 3. Aufl., Leipzig 1738, S. 259. 23 Ebenda, S. 292. 24 Francois-Vincent Toussaint, Die Sitten, Frankfurt — Leipzig 1749, Vorbemerkung. 25 Vgl. Fontenelle, CEuvres completes, hg. von Bastien, Bd. VIII, Paris 1790, S. 284 ff. 26 Thomas Abbts Vermischte Werke, Bd. III, Berlin 1771, S. 47 f. 27 Ebenda, S. 50 f. 28 Vgl. Fr. de Jost, Albert de Haller, in: Revue de litterature comparee, 1958, S. 12 ff. 29 Brief an Mendelssohn vom 21. IV. 1761, Abbts Vermischte Werke, Bd. III, S. 56. 30 Brief vom 28. IV. 1762, ebenda, S. 94. 31 Almanach der Belletristen und Belletristinnen fürs Jahr 1782, Berlin 1782, S. 3 f. 32 Abbts Vermischte Werke, Bd. III, S. 147. 33 Abbt, Vom Verdienste, Goslar — Leipzig 1766, S. 339 f. 34 Ebenda, S. 342 f. 35 „Was die Pindarische Ode betrifft, so wissen Sie wohl, was Herr de La Motte und nach ihm der Abbe Terrasson von Pindar behaupten? Sie nennen diese schöne Unordnung und diese großen Bewegungen, die wir in seinen Oden bewundern, Abwege; sie behaupten, er hätte sich nur auf solche Abwege begeben, um die Trockenheit und Unfruchtbarkeit seiner Stoffe zu verdecken. So, meinen sie weiterhin, hätten die Bewunderer der Antike durch eine drollige Wirkung ihres Vorurteils eine unverrückbar gültige Regel für die Ode aufgestellt, an die sich doch Pindar nur durch seine unseligen Stoffe hätte binden lassen. Sie sehen, daß all das nur vorgebracht wird, um die etwas zu spürbare und einförmige Ordnung zu rechtfertigen, die Sie an den Oden des Herrn de La Motte beanstandet hatten ..." (Paul Bonnefon, Correspondence de Jean-Baptiste Rousseau et de Brossette, 1715 — 1729, Bd. I, Paris 1910,5. 17 f.) 36 „Wissen sie nicht, daß alle Oden Pindars panegyrisch und an Könige oder hochgestellte Persönlichkeiten aus der Zeit des Dichters gerichtet sind, und ist ihnen unbekannt, daß die erste Regel, wenn nicht der Dichtung, so doch der gestrengen Rhetorik die Lobpreisung der Helden durch die bemerkenswertesten Taten ihrer Vorfahren ist? Eben das tut Pindar, und das gibt ihm Anlaß, so viele gleichermaßen seltsame wie erhabene Dinge über die Helden zu sagen, deren Ruhm zu singen er unternimmt. Eben dadurch findet er, ohne seine Materie zu verlassen, die Mittel, sie zu variieren und immer neu darzustellen, so daß er, ohne seinen Helden aus dem Gesicht zu verlieren, jeden Augenblick vor unseren Augen irgendeinen neuen Akteur Revue passieren läßt, der sein Theater ziert, und das alles steht zu seiner Handlung in Beziehung. Eben das hätten Herr Terrasson und sein Lehrer Fontenelle lernen müssen, ehe sie die Kritik an Pindar unternahmen, den sie gewiß nicht kennen, und wenn sie nur die Titel seiner Oden gelesen hätten, so hätten sie meist schon aus dem Gewicht der Namen derjenigen, an die sie gerichtet sind, erkannt, daß sein Stoff nicht unfruchtbarer war als sein Genie; und dabei ging es übrigens darum, Siege zu feiern, die bei den Griechen allen jenen gleichgesetzt wurden, die dort die Bürger im Kriege erringen konnten." (Ebenda, S. 22 f.) 37 „Dichter wie Pindar und wie Horaz/Stehn uns als Vorbild ehrwürdiger als je vor Augen./ Sie schufen Freude, indem sie neu erfanden./Und sklavisches Nachbetervolk/Erreicht mit seinem nutzlosen Geschreib/Nichts anderes, als daß man's liest ..." (Antoine Houdar de La Motte, CEuvres, Bd. 1/2, Paris 1753, S. 357) 38 „Ich sehe die Chemie bemüht/Auch ihrem Zweck zu dienen;/Der allzu verschlossenen Natur/Weiß sie allein den Schoß zu öffnen." (Ebenda, S. 99)

Anmerkungen

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39 „Wenn dem Vermögen der Nation/Sie die Früchte sichern will/Zeugt sie die Politiker/Der Staaten feste Stützen." — „Und durch hilfreiche Räte .../Möchte er sich vervielfachen." (Ebenda, S. 296) 40 Klopstock, Die Jakobiner, 1792. 41 Klopstock, Das neue Jahrhundert, 1760. 42 Klopstock, Für den König, 1753. 43 Klopstock, Das neue Jahrhundert. 44 Klopstock, Die Krieger, 1778. 45 Klopstock, Weissagung, 1773. 46 Klopstock, Die Etats generaux, 1788. 47 Klopstock, Kennet euch selbst. 48 Klopstock, Sie, und nicht wir. 49 Fontenelle, Gespräche von mehr als einer Welt, S. 289. 50 Ebenda, S. 285 f. 51 Ebenda, S. 286. 52 Moses Mendelssohn, Der Mensch und das Werk, hg. von Bertha Badt-Strauß, Berlin 1929, S. 169. 53 Ebenda, S. 123. 54 Ebenda. 55 Hermann Samuel Reimarus, Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, 3. Aufl., Hamburg 1766, S. 529 f. 56 Isaak Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. II, Zürich 1768, S. 419. 57 Eugen Kühnemann, Herder, 2. Aufl., München 1912, S. 109. 58 Rudolf Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken, Bd. I, Berlin 1877, S. 340 f. 59 Goethes Gespräche mit Eckermann, Berlin 1955, S. 625 (21. III. 1831). 60 Brief Diderots an die Fürstin Daschkowa vom 3. IV. 1771. 61 „Jedes Jahrhundert hat seine eigene Anschauungsweise; die unsere paßt nur auf uns, die folgenden Jahrhunderte werden ihre eigene haben." (Listonai, Le voyageur philosophe dans un pays inconnu ..., Bd. I, Amsterdam 1761, S. 31) 62 Montesquieu, Les cahiers, hg. von Bernard Grasset, Paris 1941, S. 50 f. 63 „Ich lese keineswegs die ,Bibliotheque germanique'", heißt es da. „All diese Leute sind schwerfällige Rezensenten ohne Geschmack und ohne Geist, und unser kleiner Berichterstatter taugt mehr als sie alle zusammen." (Mathieu Marais, Journal et memoires, Bd. IV, Paris 1868, S. 273) 64 „Ich werde versuchen, die interessantesten Berichte, die ich erlangen kann, über alles, was den Zustand der Literatur in England und in Deutschland angeht, zu bringen." 65 „Aber wie hat sich Übereinstimmung über eine solche Einrichtung erzielen lassen, und wie haben alle Fürsten des Reiches schweigend und ohne Widerspruch darein gewilligt, daß man sie eines allen zukommenden Rechtes beraubte und dieses auf nur sieben Fürsten übertrug?" (Prfevost, Le pour et contre, La Haye 1733) 66 „Die Wissenschaften, die man vorzugsweise in Deutschland pflegt, sind das öffentliche Recht, die Geschichte und die Chemie. Diese letztere ist heute für die geistige Richtung der Nation kennzeichnend." (Ebenda, Bd. III, La Haye 1734, S. 266 ff.) 67 „Niemand hat so viel Interesse an den chemischen Forschungen wie die Deutschen." (Carpentariana, 2. Aufl., Paris 1724, S. 239 f.) 68 „Deutschland ist die Wiege der Chemie, und obwohl auch andere Länder gegenwärtig tüchtige Chemiker hervorbringen, besitzt Deutschland auf diesem Gebiet immer noch einen gewissen Vorrang." (Journal encyclopedique, Bd. IV, 1761, S. 19) 69 Vgl. J.-R. Carre, La philosophic de Fontenelle, Paris 1932, S. 653. 70 „Ganz unabhängig vom Stil der Übersetzung scheint es mir, daß neben den guten Eigenschaften, die ich in den deutschen Zeitschriften fand, doch eine fehlt, und das ist der Geschmack. Und da ihre Mitarbeiter in Deutschland für die besten Schriftsteller der ganzen

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Der Weg der deutschen Aufklärung nach Frankreich

Nation gelten, so ergibt sich aus dieser Feststellung ganz von selbst ein weiterer Sachverhalt: Vielleicht werden meine Leser über den gebotenen Auszug nicht so streng urteilen; aber ich muß sie dann darauf aufmerksam machen, daß bei der Überarbeitung des Stils der Übersetzung von mir auch eine Reihe von Dingen vom Text selbst weggelassen wurden, die für die Leser unerträglich gewesen wären. — Sowohl Engländer als auch Franzosen sind ein wenig diffizil, und unsere Vorstellungen lassen sich mit denen unserer Nachbarn nicht immer zusammenreimen. Was kann der Grund dieses Unterschieds zwischen Völkern sein, die doch sonst nicht so sehr voneinander entfernt sind? Denn von allem anderen abgesehen, haben wir es ja schließlich nicht mit Völkern zu tun, die jenseits des Mittelmeers und am entferntesten Teil der Ostsee ihre Wohnsitze haben. Sind diese Unterschiede überhaupt vorhanden, und sind sie sehr ausgeprägt? Wenn wir auch nicht die Werke aller uns benachbarten Völker schätzen, so finden sie doch Gefallen an den unsrigen, und sie behaupten, wir hätten unrecht, an ihren Schöpfungen vorbeizugehen. Das sind Probleme, die wahrlich vertieft zu werden verdienten." (Prevost, Le pour et contre, Bd. IV, La Haye 1735, S. 27 f.) „... wie in Paris unsere Broschüren von zwei bis drei Druckbogen." „Rabener hat eine befremdliche Art, die an die Zeit des Pater Malebranche erinnert." (Satires de M. Rabener, Traduction libre de Pallemand par M. de Boispreaux, Bd. I, Paris 1754, Preface) Vgl. Journal etranger, Bd. IV, 1755, S. 54 f. „Dieses Buch ist eine ausgezeichnete Lehre für unsere Philosophie." (L'annee litteraire, Bd. III, Paris 1772, S. 72) Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Leipzig. „Ich komme in Frankfurt an, und das erste Buch, das man mir zeigt, ist eine deutsche Übersetzung Ihres Werkes mit einer Vorbemerkung, die eine Verbeugung vor Ihnen ist, und mit einer Einleitung des berühmten Gottsched, in der geprüft wird, ob die Verurteilung durch die Sorbonne und durch das Parlament für oder gegen das Werk spricht, und wo man sich für das erstere entscheidet. Diese ganze Darstellung ist wirksam und sehr beachtlich. Derselbe Gottsched, der die Drucklegung befürwortet hat, stellt darin die folgenden Überlegungen an, um sich bei den frommen Lesern zu entschuldigen: ,Dieses Buch kann, wie alle metaphysischen Werke, die eine oder andere gefährliche Stelle enthalten. Aber der Ruhm dieses Werkes ist groß. Es wäre also unmöglich, auch wenn man wollte, die Verbreitung trotz der strengsten Verbote zu hindern. Wir erfüllen daher unsere Pflicht gegenüber der Öffentlichkeit, wenn wir eine Ausgabe zulassen und dabei den Leser darauf aufmerksam machen, sich vor allem zu hüten, was die Religion verletzen könnte.' Da sehen Sie, was es mit den deutschen Köpfen für eine Bewandtnis hat, von denen man immer sagt, sie seien so schwerfällig. Es ist richtig, unsere französischen Köpfe gehen wohl schneller zu Taten über. Verbrennen wir erst einmal das Werk und womöglich den Autor, und dann wird man schon sehen, was rechtens ist." (Revue d'histoire litteraire de la France, Paris 1959, S. 375) „Herr Junker, Professor der deutschen Sprache an der Königlichen Militärschule, hat soeben ein grammatisches Werk unter dem Titel ,Versuch über die deutsche Sprache mit einer Geschichte der deutschen Literatur' herausgebracht. Da es heutzutage in Paris Mode ist, sich mit dieser Sprache und mit dieser Literatur zu beschäftigen, wird das Werk des Herrn Junker nicht verfehlen, sein Glück zu machen." (Correspondance litteraire, philosophique et critique par Grimm, Diderot, etc., hg. von Maurice Tourneux, Bd. V, S. 454) „Damals lebte in Chartres ein deutscher Pensionsinhaber, der unter dem Anschein der Derbheit eine wahrhafte Lebensphilosophie verbarg ... Ich zog zwei Vorteile daraus, einmal den, gute Unterweisungen in Philosophie von diesem einfachen Menschen zu erhalten, und dann, Deutsch zu lernen. Das trieb ich ungefähr sechs Wochen lang mit Erfolg, und ich weiß nicht, warum ich dann davon abkam. Ich hätte sehr gerne Geßner, Klopstock, Haller in ihrer Sprache lesen gelernt." (Memoires et documents relatifs aux XVIIIe et XIXC siecles, Bd. I, S. 54)

Anmerkungen

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79 Brief Nicolais an Thomas Abbt vom 4. Heumonate 1762, Abbts Vermischte Werke, Bd. III, Berlin - Stettin 1771, S. 108 f. 80 „Seit einigen Jahren gehen die Deutschen mit großen Schritten auf dem Weg der Dichtung voran. Haller, Geßner, Klopstock und andere haben sich in Frankreich bekannt gemacht durch Werke, die das Niveau unserer besten Dichter erreichen." (Mamoires secrets pour servir ä l'histoire de la republique des lettres en France, Bd. II, Londres 1784, S. 64 f.) 81 „Wir waren äußerst befremdet über die Art, wie Palissot von den deutschen Dichtern spricht. Wenn man ihm glauben sollte, so wäre die Dichtung heute in Deutschland nicht weiter fortgeschritten, als sie es in Frankreich zur Zeit von Ronsard, Garnier und Jodelle war. Wenn schon Übersetzungen sein müssen — meint Palissot — , so wäre es besser, die altfranzösischen Autoren ins moderne Französisch zu übersetzen, als uns mit all diesen Ansätzen einer deutschen Dichtung zu beschweren. Wir könnten höchstens eine sehr kleine Zahl von Dichtern ausnehmen, die sich am Vorbild unserer großen Meister gebildet haben, und vor allem die Werke des berühmten und gelehrten Herrn von Haller. Das ist ein Urteil, das Palissot eine hervorragende Stellung in seiner eigenen ,Dunciade' einbringen könnte, wenn er sich selbst eine Kenntnis der Meisterwerke verschafft hätte, die Deutschland seit zwanzig oder dreißig Jahren hervorgebracht hat. Wir möchten eher glauben, daß er nicht befähigt ist, sie zu lesen. Aber wenn er sie nicht kennt, warum dann ein Urteil fällen? Wirklich, Klopstock, Geliert, Hagedorn, Gleim, Giseke, Weiße, Wieland, Geßner, Uz, Kleist, Lessing, Jacobi sollen nicht so viel wert sein wie Ronsard, Garnier, Jodelle? Herr Palissot soll erst Deutsch lernen, und mit dem sicheren Geschmack, den wir an ihm kennen, wird er zugeben, daß vielleicht kein früheres Jahrhundert so viele ausgezeichnete Dichter hervorgebracht hat wie das unsrige allein in Deutschland. Unsere Epoche wird für die deutsche Literatur nicht minder ruhmreich sein, als die Epoche La Fontaines und Boileaus es für die französische Literatur gewesen ist." (Bibliotheque des sciences et des beauxarts pour les mois Janvier, fevrier, mars 1772, La Haye 1772, S. 393 f.) 82 „Man bemerkt, daß seit einigen Jahren die Literatur in Deutschland schnelle Fortschritte macht. Die Vielzahl der geistigen Schöpfungen ist niemals ganz fruchtlos. Selbst unter den Broschüren hat die deutsche Druckerpresse Gutes hervorgebracht, neben einer unwahrscheinlichen Menge von unbedeutenden Schriften. Lange Zeit den allgemeingültigen Anschauungen unterworfen, fangen die Deutschen jetzt an, einen vielleicht zu verwegenen Flug zu unternehmen." (Correspondance litteraire secrete, Bd. I, Neuwied 1787, S. 207 f.)

Eine Verteidigungsschrift des Materialismus in der deutschen Aufklärung

1785 erschien bei Crusius in Leipzig eine kleine, heute völlig vergessene philosophische Schrift mit folgendem Titel: „Antiphädon oder Prüfung einiger Hauptbeweise für die Einfachheit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele". Eine Streitschrift also, die sich in offenen Gegensatz zu der von Moses Mendelssohn erneuerten Platonischen Apologie der Unsterblichkeit der menschlichen Seele stellte! Naturgemäß mußte ein Autor, der so viel wagte, seinen Namen verschweigen. Ein folgerichtig durchdachtes Plädoyer für den Materialismus (und um ein solches handelte es sich) konnte im 18. Jahrhundert in keinem Land ohne ernste Gefahr für den Verfasser erscheinen. Während aber in Frankreich ein Werk dieser Art trotz der unausbleiblichen Verfolgung durch die Behörden sich auf eine breite Anhängerschaft stützen konnte, war in Deutschland auch ohne offizielles Eingreifen ein solches Wagnis der Verfemung preisgegeben. Die deutsche Aufklärung ist bekanntlich hinter ihrem französischen Vorbild gerade auf dem letztlich entscheidenden Abschnitt zurückgeblieben. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts waren in Deutschland noch keine Voraussetzungen für die erfolgreiche Entfaltung einer materialistischen und atheistischen Weltanschauung vorhanden. Es war in Deutschland noch nicht zu der Ballung und Konzentration der ökonomischen Kräfte gekommen, die in den westlichen Nachbarländern dem bürgerlichen Denken einen breiten und zusammenhängenden Geltungsraum gesichert hatten. Patrizische und ständische Lebensformen beherrschten noch immer die Atmosphäre im republikanischen Traditionsbereich der reichsunmittelbaren Städte. Die enge Verknüpfung der bürgerlichen Intelligenz mit dem protestantischen Pfarrhaus war überdies ein nicht zu unterschätzendes Hemmnis für eine systematische Ausbildung der in der Aufklärung gelegenen Keime des Atheismus

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und des Materialismus. Man könnte nicht behaupten, daß der Verfasser des „Antiphädon" sich der Schwierigkeit seines Unternehmens nicht bewußt gewesen wäre. Das zeigt sein Versuch, den schwer herausgeforderten Mendelssohn durch eine captatio benevolentiae zur Rücksichtnahme zu zwingen und auch alle anderen Rezensionsvorhaben von vornherein zu entmutigen. Mendelssohn blieb keine Zeit mehr zu einer Antwort; er starb schon im folgenden Jahr. Die ungebetenen Rezensenten ließen sich aber nicht abschrecken, ihre Pflichten zu erfüllen. Obwohl der Weg zum Materialismus in dieser Schrift mit großem Nachdruck beschritten wurde, hielt es der Autor für geraten, die atheistischen Konsequenzen seiner Darstellung den Lesern zu überlassen. Auch in anderen Fällen verfolgte er die Taktik, These und Antithese ungeschlichtet in ihrem Widerspruch bestehen zu lassen. Der Standpunkt des Autors läßt sich aus seiner gesamten Argumentierung unschwer erkennen. Wie schon vorher für die französischen Materialisten und Atheisten wird auch für unseren Autor das Problem der Vulgarisierung seiner umstürzenden Lehre brennend. Zunächst will sich der Autor mit bemerkenswerter Kühnheit über das Dilemma hinwegsetzen: „Soll darum aber alle Zergliederungskunst aufhören, weil ein vorwitziger Knabe mit dem Messer sich in die Finger schnitt?" 1 Indessen wird an einer anderen Stelle die „zweideutige Menschenliebe" angegriffen, „die überall aufbauen und aufklären und erleuchten will und darüber ein gotisches Gebäude einreißt, das, stark und fest, allen Stürmen trotzte und seinem Besitzer ruhige und sichere Wohnung gewährte"2. Das Volk muß daher, wie der Autor im selben Zusammenhang versichert, sorgfältig geschont werden. Fünf Jahre zuvor war in der Preußischen Akademie auf Anstoß d'Alemberts die Preisfrage ausgeschrieben worden, ob Volksbetrug zugunsten des Volkes statthaft oder verwerflich wäre. Der „Antiphädon" knüpft offensichtlich an dieses Thema an, wenn er im Rahmen der Akademie die Behandlung einer viel grundsätzlicheren Fragestellung verlangt, die jener ersten eigentlich hätte vorausgehen müssen: „... einzelne Menschen und ganze Nationen lernen mehr durch Tradition als durch eigenes Nachdenken. Dieser letzte Weg ist, wenngleich der beste, der sicherste, doch der am wenigsten betretene, kann es freilich auch nur sein. Wenige Menschen wandeln ihn, und sie tun wohl, wenn sie ihn in der Stille wandeln, ohne auf die öffentliche Schaubühne zu treten. Für nichts weiter als das Bedürfnis dieser Lehren scheint diese Allgemeinheit zu beweisen. Sie scheint es aber auch nur. Denn wenn man auf die erste Quelle zurückgeht, so ist wieder positiver Unterricht die Ursache davon. Nun fragte sich's, ob der zum Besten der bürgerlichen und moralischen Glückseligkeit so beschaffen sein sollte, als er bisher gewesen und zum Teil noch ist; ob in dem Zweck, auf den er mehrenteils so ausschließend hindeu-

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tet, wirklich das wahre, echte Wohl des Menschen zusammenfließt. Eine Frage, die dem Philosophen und Staatsmann mehr am Herzen liegen sollte, als man bisher gesehn hat; die ebensowohl verdiente, zur Preisaufgabe gemacht zu werden als irgendeine andere, deren Beantwortung vielleicht ohne den mindesten praktischen Nutzen ist und wohl öfters auf eine gelehrte Spielerei hinausläuft."·'

Im „Antiphädon" wird eine mittlere Linie in dieser Frage bezogen. Die Pflicht der vorbehaltlosen Offenbarung der Aufklärung wird ebenso verworfen wie die volksfeindliche Esoterik, durch die der Abgrund zwischen dem Durchschnittsmenschen und der Elite verewigt würde. Der bisher verteidigte Aberglaube an die Unsterblichkeit der Seele ist die schwerste Hemmung des menschlichen Fortschritts gewesen. Mit dem Bewußtsein der Sterblichkeit würde das Erdenleben erst richtig ausgefüllt werden. Auch der Kampf mit der Tradition hat seine Traditionen. Das Aufgebot der im „Antiphädon" erwähnten Vorläufer des Materialismus ist charakteristisch genug, um die hier bezogene weltanschauliche Position zu beglaubigen. Es werden unter anderen genannt: Toland, Hobbes, Coward, Holbach, der Verfasser des „Systeme de la nature", und La Mettrie. Die Art der Zitierung dieser Materialisten gibt die nur wenig verhüllte Zustimmung des deutschen Autors zu erkennen: „Und doch glaube ich, wäre der Materialismus nur nicht so verschrien und gehässig geworden, weil, wie schon angemerkt, vielleicht die mehrsten öffentlichen Bekenner desselben nicht einen gar zu rühmlichen Lebenswandel führten; machte das Schicksal eines Coward, Toland, Hobbes, La Mettrie, des Verfassers des ,Systeme de la nature' u. a., die jeder unphilosophische Schüler im philosophischen Hörsaal wohlweislich necken und jeder Zelot, ohne sie gelesen oder verstanden zu haben, ungescheut verdammen zu können glaubt, nicht vorsichtig und behutsam; hielte nicht die Furcht, sich aus der Gemeinschaft der Seligen und — welches etwas mehr sagen will — aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen und von Ämtern und Ehrenstellen ausgeschlossen zu sehen, viele zurück: Gewiß ein großer, wie ich glaube, wo nicht der größte Teil der Denkenden unter den Menschen — vorausgesetzt, daß sie gerade diese Materie zum Objekt ihres Denkens gemacht haben — bekennte sich zu diesem System. Naturforscher und Ärzte vorzüglich müßten in dieser Gesellschaft sich finden lassen."4

In seiner später erschienenen Selbstbiographie hat der Verfasser des „Antiphädon" die Liste der französischen Philosophen noch erweitert, die ihn in seiner Studienzeit beschäftigt und schließlich zum Materialismus getrieben hätten: „Ich ließ mich dann wieder forttragen mit dem Humeschen Skeptizismus und leichtern Genieflug französischer philosophierender Schriftsteller und hing mich an die kühnsten Zweifel des Helvetius, den mir ein philosophischer Professor nicht einmal leihen wollte, Bayle, Voltaire, Mandeville, den ich seiner Komposition, seiner gewagten Behauptungen

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und seiner lieblichen Geschwätzigkeit wegen sehr schätzte, den Montaigne, der mir seiner kindlichen Naivität und seiner Paradoxien wegen, die der Schule vor den Kopf rannten und sich hart an die Erfahrungen der Lebensweisheit drängten, sehr gefiel und den ich stets mit mir herumtrug." 5

Die Widerlegung des Spiritualismus führt den Verfasser zur Auseinandersetzung mit Descartes und Leibniz, vor allem aber mit Wolff und Baumgarten, den Götzen seiner frühesten Jugend, deren philosophische Systeme das Gesicht der deutschen Aufklärung weitgehend entschieden hatten. Das wichtigste Argument für die Eigenständigkeit der geistigen Welt ist die Behauptung, daß der Begriff der Seele mit dem der Unteilbarkeit und kontinuierlichen Wirkung verknüpft werden müsse. Damit ist die Angriffsrichtung des „Antiphädon" schon vorgezeichnet. Gelingt es, die These der Einfachheit und Beständigkeit der Seele zu Fall zu bringen, so verliert auch die Erwartung ihrer Unvergänglichkeit allen Boden. Der Verfasser des „Antiphädon" versieht sich der neuesten Argumente, die Kant der Annahme eines Schöpfergottes entgegenstellte: „Die Zufälligkeit der Zeugungen, die bei Menschen sowie beim vernunftlosen Geschöpf von der Gelegenheit, überdem aber auch oft vom Unterhalte, von der Regierung, deren Launen und Einfallen, oft sogar vom Laster abhängt, macht eine große Schwierigkeit wider die Meinung der auf Ewigkeiten sich forterstreckenden Fortdauer eines Geschöpfs, dessen Leben unter so unerheblichen und unserer Freiheit so ganz und gar überlassenen Umständen zuerst angefangen hat. Was die Fortdauer der ganzen Gattung, hier auf Erden, betrifft, so hat diese Schwierigkeit in Ansehung derselben wenig auf sich, weil der Zufall im einzelnen nichtsdestoweniger einer Regel im ganzen unterworfen ist. Aber in Ansehung eines jeden Individuums eine so mächtige Wirkung von so geringfügigen Ursachen erwarten, scheint allerdings bedenklich."6

Kant gilt als Befreier gegenüber der Willkür eines spekulativen Weltbildes — dagegen können seine Rettungsversuche zugunsten des Idealismus den Autor des „Antiphädon" nicht überzeugen. „Mit aller Hochachtung gegen die allgemein anerkannten Verdienste eines der größten Denker und philosophischen Schriftsteller unsers Vaterlands sei es nochmals gesagt, daß ich den Zusammenhang für gezwungen halte und daß mir die entgegengesetzte Hypothese etwas zu transzendent scheint, um sie zu verstehen."7

Diese Bezugnahme auf Kantsche Gedankengänge ist nicht das Ergebnis einer tiefergehenden Beschäftigung mit der kritischen Philosophie. Der Verfasser des „Antiphädon" fühlt sich verpflichtet, in seiner Autobiographie sein noch unbestimmtes Verhältnis zu Kant in der Entstehungszeit der philosophischen Arbeit zuzugeben:

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„Dann wieder fielen einige Strahlen aus Kants kritischer Philosophie in meine Seele, welche ein und der andere meiner disputierenden Gegner in seinen Oppositionen hervorleuchten ließ; und ich fand mich verwirrt und von meinen Helden verlassen. Das machte mich traurig und verkümmerte mir in Wahrheit eine Zeitlang alles Studieren. — Es lag damals noch unangerührt da, das große Buch der ,Kritik der reinen Vernunft', wie ein allgewaltiger Riese am Wege liegt, den niemand zuerst aus seinem großen Schlummer zu wecken wagt. Niemand noch hatte es kommentiert und mit Popularität zu erläutern versucht, und der Geist Gottes schwebte noch nächtlich auf dem Wasser. Einer und der andere, der sein dogmatisches Lineal angelegt hatte, hatte es vergeblich wie das Trojanische Pferd beschworen. Wie durfte ein Jüngling mit einem Kopf voll konfuser Ideen, der noch so ehrerbietig an jede Bildsäule eines in der Schule gepriesenen Mannes, eines Leibniz und Wolff sich anlehnte, es wagen, dies Heiligtum zu berühren, wovon noch niemand den Gebrauch verstand und das noch nirgends in einem philosophischen Kollegium zitiert ward? - Einige schüchterne Blicke hinein waren alles, was ich wagte. Das Ganze war kolossalisch, die Sprache zu neu, zu künstlich, der Periodenbau gleich einem mit unendlich vielen Klammern befestigten Gebäude, und der Punkt, aus dem ein armer philosophischer Jüngling sich hätte orientieren können, fehlte, da ihm keiner an die Hand ging, gänzlich."8

Die Übereinstimmung mit Kant war lediglich in der gemeinsamen sensualistischen Ausgangsstellung begründet. Im „Antiphädon" wird auf die außerhalb Deutschlands überall durchgedrungene Lockesche Erkenntniskritik zurückgegriffen. Der Schritt vom erkenntnistheoretischen Sensualismus zum metaphysischen Materialismus war so klein, daß nur eine systematische Abwehr ihn verhindern konnte. Die Argumente des „Antiphädon" sind einfach und schlagend. Ganz reine, von allem sinnlichen Einfluß abgesonderte Vernunftwahrheiten können nicht existieren und daher auch nicht als Elemente einer Darstellung des Seins dienen. Wenn die Rationalisten und Idealisten von der Unteilbarkeit und Einfachheit der unsterblichen Seele ausgehen, so haben sie damit noch kein positives Merkmal gefunden, sondern nur eine Abstraktion durch Absonderung von allen körperlichen Bestimmungen vorgenommen. In derselben Weise wird im „Antiphädon" der von den Wolffianern dem Wesen der Seele als Hauptmerkmal angehängte Begriff der Urkraft entlarvt. Kraft ist in Wahrheit nicht selbst eine Substanz. Sie wird nur in der Verbindung mit den außerhalb ihrer liegenden Substanzen angetroffen. Damit ist überhaupt auf ein Grundgebrechen des philosophischen Idealismus gezielt: der Idealismus operiert mit erschlichenen Begriffen, die durch nichts als durch eine Summe von Negationen gedacht sind. Begriffe wie Seele und Geist stellen keinen eigenen, irgendwie greifbaren Inhalt dar. Sie sind lediglich der Restbestand, der bei der systematischen Abstraktion von aller körperlichen, raumhaften, materiellen Bestimmtheit zurückbleibt. „Eine Summe negativer Größen läßt sich nie in eine positive Größe verwandeln." 9 Wenn im „Antiphädon" der Nachweis der Überlegen-

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heit der materialistischen Welterklärung über alle spiritualistischen Hypothesen geglückt ist, so bleibt noch die moralische Frage, hinter der sich die Gegner des Materialismus nach Erschöpfung ihrer letzten Argumente zu verschanzen pflegen. Läßt sich mit letzter Beweiskraft nichts entscheiden, so muß die Gedeihlichkeit oder Schädlichkeit der einen oder anderen Welterklärung in die Waagschale fallen. Im „Antiphädon" wird auch auf diesem Gebiet der Vorzug des Materialismus erwiesen. Der Glaube an die Unsterblichkeit wird für schuldig befunden, die Menschheit immer wieder von ihrer verpflichtenden Gegenwart abgelenkt zu haben. Die Aussicht auf ein jenseitiges Überleben muß zur Mißachtung des diesseitigen Lebens führen. Würde der Mensch sich bewußt, daß er nur ein einziges Leben zu verlieren hat, so würde kein Selbstmord mehr begangen, und keine Gesellschaft würde es wagen, mit der barbarischen Todesstrafe die vollständige Vernichtung an den Schuldiggesprochenen zu vollziehen. Es hat somit den Anschein, daß alle bisher den Fortschritt behindernden Fesseln mit dem Glauben an das Überleben abgestreift würden und daß erst durch das volle Bewußtsein des Wertes unseres unwiederholbaren Daseins eine neue Ära in der Menschheitsgeschichte beginnen würde. Die philosophische Sonderstellung, die den „Antiphädon" von allen Denkmöglichkeiten der deutschen Aufklärung abhebt, ist in dem vorbehaltlosen Bekenntnis zum Atheismus begründet. Der „Antiphädon" erscheint mit einem Vorsprung von fünfzig Jahren. Erst im Deutschland Ludwig Feuerbachs wird die Position dieses Vorläufers als eine philosophische Hauptstellung ausgebaut werden. Auch die Erwartung eines Skandalerfolgs, von dem sich der Autor etwas versprach, stellte sich nicht ein. Die Fachrezensenten verhalfen der Schrift zu einem bescheidenen Achtungserfolg, der nur wie eine Rechtfertigung der Nichtbeachtung bei der Mit- und Nachwelt wirken mußte. Dieses Schicksal oder vielmehr dieser Mangel eines Schicksals ist um so bemerkenswerter, als mit dem „Antiphädon" die so viel Staub aufwirbelnde Polemik Jacobis gegen den philosophischen Idealismus nicht nur vorweggenommen, sondern bei weitem übergriffen war. Für Jacobi war es ausgemacht, daß letzten Endes alles konsequente Philosophieren in spinozistischen Monismus, in Materialismus und Atheismus mündet. Aber mit dieser Feststellung war nicht etwa die Anerkennung der notwendigen Denkresultate verbunden, sondern vielmehr der Nachweis erbracht, daß alles Philosophieren nur in den Sumpf führt. So verstand es Jacobi, und so wurde Jacobi in Deutschland verstanden. Der Autor des „Antiphädon" ist uns kein Unbekannter. Karl Spazier, 1761 geboren, wirbt in einem autobiographischen, bekennerhaften Roman

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um Verständnis bei der Mitwelt und Nachwelt. Der geistige Typus wird mit wenigen Sätzen vor dem Leser umrissen: „In meiner Kindheit und ersten Jünglingszeit war ich ein religiöser Schwärmer, dann wieder ein leichtsinniger Zweifler, dann Empfindler in der Liebe und hatte nur bisweilen, wie die Umstände es mit sich brachten, ruhige Perioden des Nachdenkens und der echten, eigentümlichen Kraft." Das war 1792 geschrieben. Aber im Rückblick auf die gesamte literarische Hinterlassenschaft Spaziers wird man keine neuen Momente ausfindig machen, die es erlauben, an diesem Urteil — das eine Selbstverurteilung ist — zu rütteln. Eigentlich hat es in diesem zerfahrenen Dasein nur eine einzige Epoche der Sammlung und geistigen Festigung gegeben: eben die Epoche der Entstehung des philosophischen Werkes. Karl Spazier wurde in Berlin geboren und verlebte hier seine Jugendjahre. Neben den literarischen und philosophischen nahmen ihn musikalische Interessen gefangen. In Halle oblag er dem Studium der Theologie und Philosophie. Immer noch dominiert der Wolffianismus, der auch der Ausgangspunkt der philosophischen Bestrebungen unseres Autors wurde. Aber neben dem herrschenden Rationalismus waren auch die entgegengesetzten Strömungen zu Wort gekommen. Schon in Halle erfolgte die Zuwendung Spaziers zum Sensualismus und Materialismus, die seinem philosophischen Werk zugrunde lagen. „Dann formierte ich mir ... eine Art von System des ... Materialismus und sammelte hier noch in der letzten Zeit meines akademischen Aufenthaltes die Grundideen zu einem Buch, das ich nach einigen Jahren anonym herausgab, worin ich hauptsächlich zu zeigen mich bemühte, daß die metaphysischen Beweistümer für den Begriff von Einfachheit der Seele und daraus gefolgerten Unsterblichkeit sich auf lauter Erschleichungen gründen, suchte alle übrigen, selbst den moralischen — der, wenn er recht im Kantschen Geiste geführt wird, allenfalls der einzige noch wäre — zu schwächen, um dem materialistischen System ... Anhänger zu verschaffen."

Und Spazier fügt in der Selbstbiographie noch hinzu, er würde sich wohl hüten, „das seltsame jugendliche Buch mit dem seltsamen Titel, womit ich damals gewaltiges Aufsehen zu machen gedachte, zu nennen, da ich hoffen darf, daß es bereits in die verdiente Vergessenheit übergegangen ist"10.

1784 wurde Spazier als pädagogischer Mitarbeiter ins Dessauer Philanthropin berufen. Er fand hier die richtige Atmosphäre, die eine Ausarbeitung seiner Gedanken begünstigte. Im dritten Teil der Lebensgeschichte wird darüber ausführlich berichtet:

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„Während des Denkens und Schreibens wickelte sich aber das seelenlose, traurige System des Materialismus in mir los; ich fand, daß wir keine einfache und unsterbliche Seele zu haben brauchten, um doch ohne diesen Glauben glücklich sein zu können und doch moralisch handeln zu müssen. Ja es kam mir vor, als wenn gerade dieser Glaube dem menschlichen Geschlechte mehr schädlich als nützlich gewesen sei, woran immer auch etwas Wahres ist, wenn ihn nicht ein gutes Herz hegt und er, statt die Moralität zu stützen, nicht umgekehrt von dieser seine Stütze erhalten soll. — Das war gar zu verführerisch, um nicht auch die Welt von meinem Lichte mit zu erleuchten. Andere meiner Kollegen schrieben um mich her und machten die Schriftstellerei zu einem wichtigen Artikel der Konstitution und ihrer Streitigkeiten. Aufsätze, die ich für die pädagogischen Unterhandlungen, für Moritz' ,Erfahrungsseelenkunde', für die ,Berichte der Gelehrtenbuchhandlung' und für das .Deutsche Museum' lieferte, schienen mir nur ungefähr so zu effektuieren, wie der gemeine Soldat in der langen Front effektuiert. Ich wollte selbst dastehen mit einem Buche, bemerkt von der Welt, und inkognito den ungeheuren Wirkungen zusehen, welche es hervorbringen würde. Zu dem Ende vergaß ich darüber meine Kinder, wie mehrere schreibende Pädagogen, arbeitete Tag und Nacht an einer »Prüfung der Hauptbeweise für die Einfachheit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele', setzte einen romanhaften, schwermütigen, aber tönenden Bericht vom Verfasser, einem edlen Märtyrer der Wahrheit, voran; und ehe vier Wochen im Lande waren, siehe, da stand das korpulente Manuskript, sauber abgeschrieben, mit einem voran gezeichneten Sokrateskopf, eingebunden von mir da und wanderte um einen sehr guten, viel zu guten Preis zur berühmten Stapelstätte nach Leipzig, wo der nach Unsterblichkeit ringende Geist so manches Autors auf irgendeiner Latte im Laden des Buchhändlers ausruht, um für ewig dort einzuschlafen." 11

Obwohl die Schrift anonym erschien, wollte der Verfasser lediglich als ungenannter Herausgeber der Hinterlassenschaft eines verstorbenen Freundes gelten. Von diesem — mehr als befreundeten — Freund wird gesagt, daß seine Eltern frühzeitig verstorben wären, daß er in einer „großen Stadt" (in Wahrheit: Berlin) zu Hause war und hier Erfahrungen machte, die ihn teuer zu stehen kamen.12 Beachtlich ist noch der ursprünglich dem „Antiphädon" verliehene Titel. Nach der Einführung soll der „Freund" des Herausgebers sein Buch „Beobachtungen über sich selbst" genannt haben. So wie der später gewählte Titel „Antiphädon" den Widerspruch zu Mendelssohns Werk bekundet, so mag Spazier in einer früheren Zeit daran gedacht haben, seine Gedanken als atheistisches Gegenstück zu der pietistischen Rechenschaftslegung Lavaters zu kennzeichnen, die 1772 unter dem Titel „Geheimes Tagebuch, von einem Beobachter seiner selbst", erschienen war.13 Trotz der glimpflichen, ja wohlwollenden Rezensionen war die Begabung Spaziers zu vielfältig und zerspalten für eine konsequente Ausarbeitung des einmal bezogenen philosophischen Standpunktes. Wenn sich Spazier in seinen folgenden Schriften zuweilen auch das Ansehen gab, als sei er von seinem philosophischen Kopfstand auf eine in Deutschland haltbare

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Stellung zurückgefallen, so fehlt doch jedes ernsthafte Anzeichen einer Bekehrung. Vielmehr werden in den späteren Werken einzelne Momente der philosophischen Arbeit wieder vorgenommen, ohne daß er aber die Energie für ein systematisches Philosophieren noch einmal aufgebracht hätte. Die pädagogische Tätigkeit hatte für diesen unsteten Charakter noch immer die größte Lockung. Vier Jahre (von 1783 bis 1787) hielt er an seiner Dessauer Lehrerstelle fest. Schon vor dem Erscheinen des „Antiphädon" hatte Spazier einen pädagogischen Beitrag in Moritzens „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" veröffentlicht. Es handelt sich um eine selbsterlebte Kindheitsepisode, an der die leitmotivische Wirkungsmacht der Urerlebnisse aufgezeigt wird.14 1786 zieht Spazier das Fazit seiner Dessauer Erfahrungen: „Einige Bemerkungen über deutsche Schulen, besonders über das Erziehungsinstitut in Dessau" (Leipzig 1786). Immer noch muß das Prinzip des Gemeinschaftsunterrichts gegen die auch in vereinzelten Bürgerkreisen weitverbreitete Individualausbildung durch Hauslehrer oder Hofmeister durchgesetzt werden. Offenkundig wird damit die Forderung der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber der aristokratischen Gepflogenheit einer Attachierung der Jugendlichen an Vaterhaus und Familie erhoben. Spazier steht nicht an, den Adel, „der seine Kinder aus der öffentlichen Schule entfernt", zu bezichtigen, „dadurch vorsätzlich die Kluft, die sich im vorigen Jahrhundert zwischen ihm und der Bürgerklasse bildete", aufrechtzuerhalten. Die Frage des sozialen und politischen Fortschritts ist überhaupt für Spazier im wesentlichen durch die Besserung und Verdichtung des öffentlichen Unterrichts zu lösen. Im Angesicht dieser entschiedenen Stellungnahme ist man verblüfft zu erfahren, daß Spazier seine Dessauer Lehrerstelle aufgibt, um sich als Hofmeister eines Adligen zu verdingen. Seine pädagogische Einsicht steht jedenfalls in vollkommenstem Einklang mit seiner philosophischen Welterklärung. Dem Unterricht liegt der sensualistische Aufbau der Erkenntnisse zugrunde. Daher muß die Vermittlung von Kenntnissen, soweit wie nur möglich, von der Anschauung ausgehen. Begriffe müssen aus den sinnlichen Vorstellungen entwickelt werden. Die Alternative zwischen Unterricht und Erziehung, zwischen Wissensvermittlung und moralischer Bildung wird klar und eindeutig zugunsten der letzteren entschieden. Damit stellt sich das Problem der Moral, die Herkunft und die Natur von Gut und Böse, dem Pädagogen zur Lösung. Für Spazier ist die Existenz des „Bösen" in der Natur nicht einleuchtend. Das Gute findet immer Wege, sich durchzusetzen.

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„... so kann es sein, daß sogar Vernachlässigung moralischer Pflege in Schulen hin und wieder gerade das entgegengesetzte Gute hervorbringt. Der Schüler kann es manchen seiner Lehrer lehren, wie er nicht sein darf; so wie es begreiflich ist, daß ein sehr unmoralischer Vater einen sehr braven Sohn, eine unkeusche Mutter eine sehr tugendhafte Tochter haben kann. Der menschlichen Natur kann man sehr viel Gutes zutrauen. Man vernachlässige, unterdrücke sie sogar, unvermutet hilft sie sich wieder auf."

Der Pädagoge hat aber die Pflicht, der menschlichen Natur voranzugehen und die Verzögerungen und Hemmungen einer Entwicklung auszuschalten, die von sich aus nur sicher zur Wiederherstellung eines harmonischen Verhältnisses der Menschen zu ihrem natürlichen Wesen hindrängt. Die Basedowsche Reformpädagogik ließ sich mühelos mit dem Credo des „Antiphädon" in Einklang bringen. Sehr viel problematischer war dagegen der von Spazier 1788 unternommene Versuch, seinem philosophischen Weltbild einen Raum in der protestantischen Kirche zu erkämpfen. Diesem paradoxen Unternehmen sollte die 1788 erschienene Schrift dienen, die mit dem salbungsvollen Titel „Freimütige Gedanken über die Gottesverehrungen der Protestanten" hervortrat. Wie aus der Titelseite ersichtlich wird, war es dem Verfasser des „Antiphädon" in der Zwischenzeit gelungen, sich in der katholischen Aufklärung festzusetzen. Er nennt sich „Mitglied der Kurmainzischen Akademie", aber das Werk selbst ist dem protestantischen Oberkonsistorium gewidmet. Vermutlich sollte die hohe Kirchenleitung durch diese Geste beschwichtigt werden; was Spazier zu sagen hatte, war nicht eben dazu angetan, ihre Zustimmung zu gewinnen. Rücksichtslos wird die unwürdige Dienstbarkeit der beamteten Gottesdiener gegenüber ihren adligen Klienten aufgedeckt. Die Kirche wird zudem beschuldigt, den despotischen Mächten als willfähriges Werkzeug zu dienen. Die freimütigen Gedanken gipfeln in der Reduktion des Katechismus auf wenige, mit der Aufklärung vereinbare Wahrheiten. Folgende Lehrsätze sollten nach diesem Plan aus dem Katechismus gestrichen werden: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Die Lehre der Beleidigung der Gottheit durch Sünden; Gottes Zorneseifer, strafende Gerechtigkeit bis in die Ewigkeit; Ursprüngliche Verderbtheit menschlicher Natur; Stellvertretende Genugtuung und Ergreifung des Verdienstes Christi; Glaube als das einzige Mittel zur Seligkeit; Vergebung der Sünde durch Genuß des Abendmahls; Daß wir um Gottes willen Gutes tun sollen.

Was da noch übrigbleibt, ist nicht allzu entfernt von einer soliden materialistischen Moral. Nirgends wird die Annäherung an Feuerbach so deut-

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lieh greifbar wie in dieser Schrift. Sie erweckt den Eindruck, als ob der Autor einen atheistischen Kultus einer Religion ohne Kult entschieden vorzieht. Weder die Predigt noch die Unterweisung im kirchlichen Katechismus darf den Menschen mit den Ammenmärchen der Unsterblichkeit behelligen und in seinem Realitätsgefühl verletzen. Wiederum wird eine stufenweise Überwindung der Religion gefordert. Die Offenbarung kann nur als Erziehungsmittel in der Kindheit gewürdigt werden. Als solche ist sie allerdings nicht zu entbehren. Sie ist der Ausgangspunkt einer Entwicklung, deren atheistische Früchte Karl Spazier für den Altar dieser sonderbaren Kirche vorsieht. Er ist überzeugt davon, daß gerade der Glaube an die Unsterblichkeit den Menschen bis heute von dem wahren Gottesglauben abgebracht habe. In der Auseinandersetzung mit diesem unhaltbaren Glauben würden die Menschen vielfach in den schlecht beleuchteten Höhlen des Zweifels hängenbleiben, es sei denn, sie reißen sich aus eigener Kraft heraus und entscheiden sich für die Auflösung des Zweifels durch die Annahme des Atheismus. Ob der Atheismus vom Raum der Kirche aus die Menschenherzen erobert oder im Kampf mit der Kirche, was ficht es uns an? Die Stimme eines mutigen Vorläufers ist uns in jedem Zusammenhang willkommen! Der Autor der „Freimütigen Gedanken" war sich der Gefahren bewußt, die bedrohlich am politischen Horizont aufzogen. In der Vorrede wird die krisenhafte Situation beschworen, in der es gelte, die letzte Chance der Geistesfreiheit zu nützen: „Gerade jetzt also sollten wir, wo wir noch dürfen, den glücklichen Zeitpunkt der Denkfreiheit nützen, mit Offenheit gegeneinander geradeheraus reden und selbst die unerwartetsten Resultate unserer Beobachtungen und unseres Nachdenkens unseren Mitbrüdern vorlegen. Denn wer weiß, ob wir es über kurz oder lang so gut haben werden."15

Die Besorgnis Spaziers war in den politischen Verhältnissen nur allzu begründet. Mit dem Thronwechsel in Preußen, 1786, drohte der sowieso nur bedingten Freiheit der Meinungsäußerung die völlige Unterdrückung. Die Minister des neuen Königs, vor allem Wöllner und Bischoffwerder, waren ausgesprochene Obskuranten. 1788 wurde die allgemein befürchtete rigorose Zensurverordnung erlassen, nachdem schon vorher ein Religionsedikt erlassen worden war, „durch das jede Abweichung von den Lehren der symbolischen Bücher mit strengster Ahndung bedroht war"16. Die Änderung des geistigen Klimas veranlaßte Spazier, schon in seiner nächsten Publikation, den „Wanderungen durch die Schweiz" (Gotha 1790), einen Trennungsstrich gegenüber seinem „Antiphädon" zu ziehen. Er sagt,

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es gebe Rezensionen, „die weit mehr wert sind als die beurteilten Bücher", und unter den letzteren wird ausdrücklich der „Antiphädon" erwähnt, „den sein Verfasser längst der Vergessenheit überanwortet hat". Auf seiner Wanderschaft durch die Schweiz lernt Karl Spazier zum erstenmal die Wirkung der religiösen Schwärmerei auf eine urwüchsige und urgesunde Menschennatur kennen: „Wie kommt es aber doch, daß solche Leute, sobald ihr Verstand sich nur etwas über das Gemeine erhebt, das Objekt ihres Nachdenkens immer so gern in Religionsspekulationen suchen? Mich dünkte, außer dem Interessierenden der Sache selbst, auch nur darum, weil das Nachdenken darüber im Grunde nicht schwer ist. Jeder Mensch von einiger Anlage kann es sehr leicht dahin bringen, über allgemeine Dinge erträglich zu philosophieren. Es geschieht das meist und bloß nach den Gesetzen des Denkens, und man braucht dazu wenig oder gar keine historische Kenntnis von Sachen und Begebenheiten zu haben. Daher sehr viele philosophieren, ohne Philosophen zu sein und ohne eben etwas zu wissen. Aber besonders noch darum, weil Abstraktionen, und besonders die aus der Region des neuen Himmels, dem Stolze zunächst viel Nahrung geben. Da nun das Herz dabei sehr interessiert ist, so geben religiöse Spekulationen überhaupt dem Menschen eine gewisse Wärme, einen Schwung, der ihn bald über sich hinaushebt und ihm eine hohe Meinung von sich selbst beibringt. Also die mehresten werden Schwärmer aus Eitelkeit, sowenig sie es auch Wort haben mögen."17

Die gesellschaftliche Herkunft solch auffälliger Kompensationsbedürfnisse konnte in einer Epoche nicht mehr verdunkelt werden, in der die Regierenden mit allen Mitteln versuchten, die Parenthese der Aufklärung zu beenden und den Unterworfenen durch die bewährten Rezepte eine unterwürfige Gesinnung aufzuzwingen: „Läßt man nicht noch immer religiöse Nebel vor dem staunenden Haufen aufsteigen, damit ihm die politischen Gaukeleien oder widerrechtlichen Usurpationen an seinem ursprünglich anererbten Eigentum, der Geistesfreiheit, da draußen unbemerkt bleiben? - Treibt man nicht den Geist der Zeitgenossen absichtlich in ein gewisses Helldunkel hinein, wo er trügerisches Blendwerk für wahrgenommenen Gegenstand, Einbildung für Wahrheit und leeres Empfindungsspiel für reine Wirksamkeit des erhöhten Geistes nimmt?"

Diese Sätze sind dem zwei Jahre später erschienenen „Neuen Origenes" entnommen, einer Schrift, in der das Feld der Religionskritik in seinem ganzen Umfang behauptet wird.18 Der neue Origenes ist ein dem Handwerkerstand angehöriger Schwärmer, der die erzürnte Gottheit durch das Opfer seiner Mannheit zu versöhnen glaubt. Man geht wohl nicht fehl, in dem mit klinischer Präzision behandelten Komplex ein Symbol der politischen Selbstentmachtung des deutschen Bürgertums zu erkennen. Die Wahnsinnstat, die Spazier mit einem seinen Lesern nichts ersparenden Naturalismus darstellt, war schon zwei

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Jahrzehnte zuvor als literarisches Motiv in Lenzens „Hofmeister" (1774) gestaltet worden. Deutlich wird auch hier nun die Klassenbedingtheit der pietistischen Reaktion hervorgehoben: „Drückende Not und Armut können auch zur Religionsschwärmerei wecken. Wie gerne mag das tränenvolle Auge, das oft und viel zum Himmel aufblickt, auf jenen lichten Höhen weilen, von woher das kummervolle Herz sich Trost und Beruhigung herabseufzte! Wie bald können sich an ein Herz, das irdische Leiden martern und quälen und das, bei steten Widerwärtigkeiten des Lebens, der Freuden hienieden so wenig fand, jene süßeren Empfindungen anschmiegen, welche die Religion jedem, der sich ihr in die Arme wirft, so willig in die Seele zaubert! Wie natürlich und verzeihlich, daß der arme Bedrängte, den sein widriges Schicksal von so manchem verdienten Lebensgenüsse ausschließt und ihm jede Quelle trübt, aus welcher er Stärkung für unverdienten Schmerz schöpfen könnte, sich mit doppelt zusammengenommener Kraft in die Gegenden einer bessern Welt aufschwingt und sich an jede Täuschung der schwärmenden Phantasie hängt, die ihn erwärmt, ihn aus sich selbst und seinem Zustand heraushebt und in sanfteren Schlummer der Vergessenheit all seines Ungemaches einwiegt!"19

Der Einzelfall des schwäbischen Sektierers vertieft sich diesmal zu einem Ausblick auf alle nur denkbaren Formen der religiösen Schwärmerei. Auf dem Rundgang durch dieses Museum religionsgeschichtlicher Monstrositäten begegnet man unerwartet allerlei respektablen Erscheinungen, die der Verfasser mitleidlos an den Schandpfahl gebunden hat. Da sind die Wiedertäufer Müntzerischer Prägung, daneben aber der orthodoxe Jurieu, der führende Kopf der protestantischen Emigration, und die fanatisierte Widerstandsbewegung der friedlos gemachten Hugenotten in den Cevennen. Spazier hat wie die gesamte Aufklärung die Abneigung Gottfried Arnolds gegen alle Kirchlichkeit übernommen; jedoch verurteilt er mit derselben Schärfe das außerkirchliche und kirchenfeindliche Sektenwesen, bei dem Arnold am ehesten den Funken wahrer Gottesliebe zu finden glaubte. Mit dieser doppelten Negation sind faktisch alle Möglichkeiten des religiösen Wesens erschöpft und mit Nachdruck verurteilt. In diesem ganzen Zusammenhang war die Frage unumgänglich, wo denn ein so hyperkritisch urteilender Christ sein Christentum überhaupt noch verankern könne? „Die Religion soll uns aber nicht Heiterkeit und Sinn für unschuldige Lebensfreuden rauben, vielmehr führt sie selbst gerade darauf hin. Denn sie ist weder etwas Abgeschiedenes, das um sein selbst willen da sei, noch soll sie den Menschen isolieren und die beste Seite seiner Natur, ursprüngliches Wohlwollen, zerstören. Sie äußert vielmehr ihm wohltätigste Kraft bei den mannigfaltigeren und verwickeiteren Verhältnissen und Angelegenheiten des Lebens, indem sie uns dadurch reinigt und zu höherem und edlerem Selbstgenusse, zu einem Leben aus Gott, läutert. Die Ruhe, der innere Friede, den wir durch sie erhalten, muß uns aufgelegter machen, zu wirken, zu dulden und uns im Kreise unserer Mitmenschen zu freuen. Und dies reinere Mitgefühl, dies schöne Wohlwollen, diese rührende Unbe-

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fangenheit und Mitteilsamkeit können nur das Eigentum eines Herzens sein, das die belebende Kraft ihrer Lehren und Trostgründe an sich selbst erfährt und von selbstgeschaffenem Schmerze sich frei fühlt." 20

Religion verhält sich somit zur menschlichen Praxis so, wie dem „Antiphädon" zufolge das individuelle Bewußtsein als dirigierende Instanz der Malerei gedacht werden kann. Die Transzendenz ist diesem Glauben abgeschnitten, der letzten Endes nicht wesentlich über eine praktische Moral hinausgeht. Schon im Jahr nach dem „Origenes" erschien der erste Band von Spaziers Konfessionen, zu denen in den folgenden Jahren zwei weitere Bände sich gesellten. Obwohl dieses Werk einen nicht zu verschmähenden Beitrag zur Geschichte der deutschen Intelligenz in der Epoche der Spinoza-Diskussion bietet, endet doch die Bilanz der Rechenschaftslegung mit einem peinlichen geistigen Defizit. Zunächst hat Spazier mit großem Nachdruck seinen Werdegang und mühsamen Aufstieg aus bitterster Armut geschildert. Spazier, pietistisch erzogen und selbst mit einem gefährlichen Zuschuß unkontrollierbarer Affektivität belastet, bezog gar bald eine kritische Linie, auf der er nicht nur den Kirchenglauben berührte, sondern auch die verschiedenen von der deutschen Aufklärung bezogenen literarischen Positionen völlig durchschaute. Das letzte Erlebnis dieser Art, der Sturm und Drang, wird mit einer kurzen, epigrammatischen Charakteristik zur Strecke gebracht: „Jetzt wechselte das Schwulstwesen und die elend kopierte Klopstockelei mit dem gedrungenen Kraftgenie und dem Intuitionswesen ab. Um als ein ehrlicher Kerl in gewisse Zirkel kommen zu dürfen, mußte man ein Schweber und Idealisierer sein, in exzentrischen Bahnen hoch hinaufziehen ins Empyreum des sublimen Unsinns oder, den Dornknüppel zur Seite, eitel Bänkelsängerei betreiben, Romanzen und Balladen hergurgeln ... und die Schrift mit ... Ausrufungszeichen und Gedankenstrichen verballhornisieren ... Wo blieb da die Philosophie? Wo die Lektüre und das Studium ernsthafter Schriften? Es waren unserer etliche, die alle an Lavaters ,Fragmenten', an den Vulkanausbrüchen des Hamann, an Herders ,Plastik' und seinen übrigen Sturm-und-Drang-Schriften damaliger Zeit, an seinen , Volksliedern', an Lenzens und Klingers genialischen Explosionen krank darniederlagen."21

Es sind die gleichen literarischen Phänomene, die Lessing noch in seinen letzten Jahren aufs schärfste verurteilt hatte. Der innere Zusammenhang dieser Absage Lessings an die sich selbst überschlagende Aufklärung mit dem spinozistisch-materialistischen Bekenntnis, das Jacobi der gänzlich unvorbereiteten deutschen Mitwelt als eine höchst zweideutige Gabe vorenthielt, ist offenkundig. Die Parallele in der Entwicklung Spaziers ist nicht von der Hand zu weisen. Die endgültige Abrechnung mit dem Sturm und Drang ließ nur noch die materialistische Weltauslegung für eine positive

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Kritik offen. Spazier hat diesen Weg eindringlich und überzeugend geschildert. Um so enttäuschender ist der Rückzug in romaneske Gefühlssituationen, womit Spazier der bedrückenden Erkenntnis auswich, daß man als Deutscher und als Materialist im 8. und 9. Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts überhaupt nicht bestehen konnte. Mit dieser Erkenntnis war Spazier für immer von der einzigen Quelle abgeschnitten, die ihm zu einem vollen Lebenssinn verhelfen hätte. Der Autor des „Antiphädon", der sich durch sein Studium gehungert hatte und der nicht eben auf Rosen gebettet war, hat sicher nicht sehr heldisch gehandelt, als er sich von seinem Werk ausdrücklich distanzierte, doch lag ihm der Verrat oder eine schmähliche Bekehrung gänzlich ferne. Der erzwungene Verzicht auf die Verteidigung des Materialismus ist für ihn gleichbedeutend mit der völligen Opferung seiner philosophischen Existenz. Wir hatten gezeigt, wie die dem „Antiphädon" folgenden Schriften durchaus noch eine materialistische Grundrichtung erkennen ließen. Hierher gehört gewiß auch das lebhafte Interesse für Diderot, das Spazier noch 1799 veranlaßte, mit einer eigenen Übersetzung der epischen Werke des französischen Aufklärers hervorzutreten.22 Aber auf die Dauer konnte die abgebrochene weltanschauliche Position keine wirklichen Impulse mehr erzeugen. Der Abstieg dieses im Zentrum seiner Gedankenbildung unheilbar getroffenen Denkers war unausbleiblich und wurde von den Zeitgenossen mit grausamem Sarkasmus festgenagelt. Ein solches Urteil war nicht nur grausam, sondern auch ungerecht, indem es über den Höhepunkt der Schriftstellerei Spaziers geflissentlich hinwegsah und den Restbestand seiner Werke als eine eigene, natürlich zu gering befundene Größe verurteilte. Der Maßstab über dieses Leben und dieses Lebenswerk kann nur in dem einmaligen philosophischen Aufschwung gefunden werden. Spazier ist zwar kein Märtyrer, aber doch ein beklagenswertes Opfer der deutschen Beschränktheit gegenüber einem konsequenten Materialismus, zu dem er sich mit dem rücksichtslosen Radikalismus seiner Jugend aufgerafft hatte.

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6

[Karl Spazier,] Antiphädon, Leipzig 1785, S. XVIII. Ebenda, S. 153. Ebenda, S. 32 f. Ebenda, S. 154 ff. Karl Spazier, Carl Pilgers Roman seines Lebens, Bd. II, Berlin 1793, S. 146. [Spazier,] Antiphädon, S. 169 f.

Anmerkungen 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

19 20 21 22

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Ebenda, S. 172 f. Spazier, Carl Pilgers Roman seines Lebens, Bd. II, S. 148 f. [Spazier,] Antiphädon, S. 61. Spazier, Carl Pilgers Roman seines Lebens, Bd. II, S. 147. Ebenda, Bd. III, Berlin 1796, S. 74 f. Vgl. [Spazier,] Antiphädon, S. IX. Der Antagonismus zu Lavater kommt auch in den anderen Schriften des Autors zum Vorschein, zum Beispiel in den „Wanderungen durch die Schweiz", Gotha 1790, S. 551 f. Vgl. Moritz, Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. III, 1784, 2. Stück, S. 105-114. Karl Spazier, Freimütige Gedanken über die Gottes Verehrungen der Protestanten, Gotha 1788, Vorerinnerung. Gerhard Steiner, Der Traum vom Menschenglück, Berlin 1959, S. 59. Karl Spazier, Wanderungen durch die Schweiz, Gotha 1790, S. 265 f. Karl Spazier, Der neue Origenes oder Geschichte seltsamer Verirrung eines religiösen Schwärmers, Berlin 1792, S. 16 f. — Das Geschichtsbild Spaziers ist in seinem radikalen Antiklerikalismus nur dem Voltaires vergleichbar. Katholischer Klerikalismus und protestantische Orthodoxie, Mystik, Pietismus und Wiedertäuferei werden gleichermaßen verurteilt und auf ihren geschichtlichen Höhepunkten für das bisherige Schicksal der Menschheit verantwortlich gemacht. Dieser unkritische Antiklerikalismus vermag die massive Reaktion vom revolutionären Fortschritt in der Verhüllung eines eschatologischen Glaubens überhaupt nicht zu unterscheiden. Die Bewegung Thomas Müntzers gilt ihm als ebenso verwerflich wie die Gegenreformation. Ebenda, S. 37 f. Ebenda, S. 22. Spazier, Carl Pilgers Roman seines Lebens, Bd. II, S. 174 ff. Eingehend wird die Übersetzung in dem ausgezeichneten Werk von Roland Mortier, einem der letzten Schüler Daniel Mornets, über „Diderot en Allemagne", Paris 1954, S. 251 ff., behandelt.

Schriften Spaziers Lieder und Gesänge am Klavier, 1782. Schilderung einiger Szenen aus seiner Kindheit, in: Moritz, Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. III, 1784, 2. Stück, S. 105-114. Antiphädon oder Prüfung einiger Hauptbeweise für die Einfachheit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele. In Briefen, Leipzig 1785, 286 S. (Rezensionen: Gothaische gelehrte Zeitungen, Bd. II, 1785, S. 466 ff.; Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, Bd. III, 1785, S. 1634 ff.; Neueste kritische Nachrichten, Greifswald 1785, 41. Stück, S. 323-327, und 43. Stück, S. 339—341; Bibliothek der neuesten theologischen, philosophischen und schönen Literatur, Bd. HI/2, Zürich 1784-1786, S. 270.) Einige Bemerkungen über deutsche Schulen, besonders über das Erziehungsinstitut in Dessau, Leipzig 1786, 170 S. (Rezensionen: Gothaische gelehrte Zeitungen, 1786, S. 563; Allgemeine Literaturzeitung, Bd. III, Jena 1786, S. 178 f.) Freimütige Gedanken über die Gottesverehrungen der Protestanten, Gotha 1788, 306 S. (Rezension: Allgemeine Literaturzeitung, Bd. IV, Jena 1788, S. 81 ff.) Wanderungen durch die Schweiz, Gotha 1790, 488 S. Versuch einer kurzen und faßlichen Darstellung der ideologischen Prinzipien. — Ein Auszug aus Kants „Kritik der ideologischen Urteilskraft", Neuwied 1791, 180 S.

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Das Theater der Religionen oder Apologie des Heidentums, geschrieben von einem Katholiken und mit einer Vorrede und einigen Anmerkungen herausgegeben von einem Protestanten, Athen 1791, XXIV + 312 S. Beitrag zur Erziehung und Bildung des Kaufmanns, in einer Darstellung der Berlinischen Handlungs- und Bürgerschule, eine Einladungsschrift zum Michaelis-Examen, Berlin 1791. Über die Macht früher Gewohnheit, eine Rede für Jünglinge, zum Schluß der öffentlichen Prüfung der Zöglinge der Berliner Handlungsschule im Corsikaischen Saale gehalten, Berlin 1791. Der neue Origenes oder Geschichte seltsamer Verirrung eines religiösen Schwärmers, nebst einer Abhandlung über die Quellen und Gefahren der Schwärmerei, Berlin 1792 (1791). Carl Pilgers Roman seines Lebens. Von ihm selbst geschrieben. Ein Beitrag zur Erziehung und Kultur des Menschen, Berlin 1792. Über Menuetten in Sinfonien, in: Berlinisches musikalisches Wochenblatt, Nr. XII, 1792 (1791), S. 91 f. (Rezension: ebenda) Ankündigung einer in Dessau etablierten Erziehungsfamilie, MS (Bibl. Dessau), 1798. Diderots Erzählungen, Magdeburg 1799. Zeitung für die elegante Welt, Leipzig 1803-1804.

Literatur über Spazier Goedeke, Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung, Bd. IV/1, 3. Aufl., Dresden 1916, S. 626, 1154. Meusel, Das gelehrte Teutschland, III. Nachtrag, 1788, S. 345; IV. Nachtrag, 1791, S. 701; V. Nachtrag, 1795, S. 357. Karl Dielitz, Karl Pilger. Kein Roman, Berlin 1837, 2. Aufl. 1839. Walter Schöler, Der fortschrittliche Einfluß des Philanthropismus auf das niedere Schulwesen im Fürstentum Anhalt-Dessau, 1785-1800, Berlin 1957, S. 6 f. A. Pinloche, Geschichte des Philanthropinismus. Deutsche Bearbeitung von J. Rauschenfels und A. Pinloche, Leipzig 1896, S. 131 ff. Roland Mortier, Diderot en Allemagne, Paris 1954, S. 251 ff.

Entwicklungstendenzen der Akademien im Zeitalter der Aufklärung

Wenn wir heute bestrebt sind, das Verhältnis unserer Akademie zu den großen Problemen der Wissenschaft und der Organisierung des wissenschaftlichen Lebens neu zu durchdenken und zu durchklären, so kann man sich von einer Rückschau auf die Vergangenheit der Akademie und vor allem auf ihr Verhältnis zur Wissenschaft und zur Gesellschaft vergangener Zeiten einigen Nutzen versprechen. Unsere Vorstellung ist noch weitgehend durch die Auffassung des 19. Jahrhunderts bestimmt und belastet. Im 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war den Akademien offenbar kein entscheidender Anteil an der machtvollen Entwicklung der Wissenschaft überlassen. Die Wissenschaft geriet hier nicht auf ein Feld, auf dem Entscheidungen fielen und neue Fragestellungen verantwortet wurden. Nur schon gefallene Entscheidungen, nur was schon geklärt und gesichert war, erschien als akademiereif. Die Funktion der Akademie war keine vorwärtstreibende, sondern eher eine zügelnde: aber es fehlte ihr auch, was ihr die Autorität eines „Oberhauses der Wissenschaft" hätte gewähren können: das Vetorecht, wie überhaupt die Neigung und der Anspruch, als Körperschaft mit wissenschaftlicher Verantwortung hervorzutreten. Der traditionalistische Zug, der die wissenschaftlichen Akademien in der vor uns liegenden Epoche beherrschte, läßt sich nun keineswegs von einer irgendwie ansehnlichen Tradition der wissenschaftlichen Akademien selbst herleiten. Die Akademie ist ein Produkt der modernen Entwicklung. Sie ist gerade aus dem Widerspruch gegen die mittelalterlichen Wissenschaftsüberlieferungen entstanden. Ihr Alter reicht nicht weiter zurück als bis zur Epoche der Konstituierung einer modernen Wissenschaft, deren Impulse das Schicksal dieser neugegründeten Institutionen weitgehend bestimmen. Soviel ist sicher: Die aus dem 19. Jahrhundert herrührende Einschätzung der Akademie bedeutet die völlige Umkehr der entscheidenden Intentionen

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Entwicklungstendenzen der Akademien im Zeitalter der Aufklärung

ihrer Gründungszeit und ihrer ersten Blüte im 18. Jahrhundert. In Italien1, in Spanien2, in Frankreich 3 , in Deutschland sind die Akademien aus dem Gegensatz zu der unbeweglichen Tradition der Universitäten entstanden. Der Anschein besteht, daß in dieser ersten Epoche die Tätigkeit der neugegründeten Institute auf literarische und sprachliche Probleme beschränkt war. Dieser Anschein ist insofern richtig, als tatsächlich die Probleme der Normierung der nationalen Sprache und der Standardisierung der nationalen Literaturen eine Lebens- und Schicksalsfrage für die neuentstandene nationalstaatliche Gesellschaft im 16. und 17. Jahrhundert darstellten. Die Universitäten waren diesen Impulsen grundsätzlich verschlossen gewesen. Die zahllosen in Italien seit dem Ende des 16. Jahrhunderts gegründeten Akademien wurden ihrem eigentlichen Zweck vielfach durch das Bedürfnis nach ausgelassener Geselligkeit entfremdet. Humoristisch sind die Namen der Akademien wie auch diejenigen, die ihre Mitglieder anzunehmen pflegten: sie nannten sich die Verschlafenen (addormentati), die Müßiggänger (oziosi), die Grobiane (rozzi), die Wahnbetupften (insensati), die Verdüsterten (ombrosi) und so weiter. Der Pflege der Naturwissenschaften oblag die 1603 in Rom gegründete Accademia dei Lincei (Akademie der Luchsaugen). Wirklich positive Arbeit leistete die seit 1582 tagende Crusca, deren reich dokumentiertes Wörterbuch für alle anderen Sprachen vorbildlich wurde.4 Wie in Italien, so wurden auch in Spanien die Akademien meist von einem literarisch oder wissenschaftlich interessierten Standesherrn ins Leben gerufen. Die im „Goldenen Literaturzeitalter" der Spanier sehr weit getriebene literarische Parteiung griff auch auf die Akademien über und führte zu turbulenten Auseinandersetzungen, die schließlich dieser ganzen Institution den Boden entzogen.5 Die Neugründung der Spanischen Akademie am Anfang des 18. Jahrhunderts erfolgte nach französischem Vorbild unter dem Protektorat der bourbonischen Dynastie, die in ihrem Gepäck manche Errungenschaft mitführte. Was die Crusca in Italien, die Fruchtbringende Gesellschaft in Deutschland, das war die Academic francaise unter Richelieu: ein Gremium von Sachverständigen und dem Fortschritt der nationalen Kultur ergebenen Menschen, die den Schutz und die Privilegien eines staatlichen Mäzenatentums genossen. Die Betreuung der literarischen und sprachlichen Arbeiten durch Richelieu wurde zunächst allerdings als ein bloßer Polizeitrick beargwöhnt. Man glaubte, daß es dem Kardinal bei der Gründung der Akademie lediglich darum zu tun gewesen wäre, die schon lange verdächtigten Mitglieder des alten Literaturzirkels unter seine unmittelbare Kontrolle zu bringen. Doch hatte man Richelieu damit entschieden unrecht getan. Er besaß

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die Eitelkeit, nicht als Gefängniswärter, sondern als Protektor des französischen Geisteslebens zu gelten. Bekannt ist die auf Drängen Richelieus entstandene Beurteilung von Corneilles „Cid" durch ein akademieamtliches Gutachten, das freilich nach der Meinung des Auftraggebers viel zu versöhnlich gehalten war. Seitdem steht das Problem, inwieweit die Akademien zu einem verbindlichen Urteil über die zeitgenössischen Schriften und Geistestendenzen befugt oder verpflichtet sind. Auf dem Höhepunkt der Regierung Ludwigs XIV. lenkte Colbert sein besonderes Augenmerk auf die mit Riesenschritten fortschreitende Naturwissenschaft, von deren Förderung die Staatsführung sich die verschiedensten technischen Errungenschaften versprechen mochte. Das galt vor allem für die Nautik, für die technische Zurüstung der Schiffahrt, die den Verkehr mit den neuerworbenen überseeischen Kolonien aufrechterhielt, und für die Ballistik, die das Niveau der technischen Kriegführung erheblich verbessern sollte. Auch eine Technisierung der Königlichen Manufakturen war von Colbert in Betracht gezogen. Mit der von Colbert in dieser Blickrichtung gegründeten Naturwissenschaftlichen Gesellschaft war der Grundstein für die spätere Academic des sciences gelegt. Die Förderung dieser Institution war durch die Erwartung des Fortschritts der Wissenschaft begründet. Die Sache der wissenschaftlichen Akademie war also vom Ursprung her mit dem neuen Prinzip einer fortschreitenden Bewegung des menschlichen Wissens untrennbar verbunden. Das geht aus der kristallklaren Formulierung d'Alemberts hervor: „Parmi les modernes ce mot se prend ordinairement pour la culture et Pavancement des arts et des sciences."6 Die Sicherung des wissenschaftlichen Fortschritts war aber nur durch die Gewährleistung einer unbegrenzten Freiheit zur wissenschaftlichen Fragestellung möglich. Die Schutzmacht, Staat oder Krone, mußte den Akademien einen Spielraum und eine Bewegungsfreiheit gewähren, die weder bei den traditionellen Trägern des Wissens, den Universitäten, bestehen konnte noch in der Praxis des absolutistischen Staates irgendein Vorbild hatte. In ihrem Verhältnis zu den Trägern der Akademie waren die Repräsentanten der Staatlichkeit gezwungen, den eigenen Schatten zu überspringen. In der Tat läßt sich im Verhältnis zur Wissenschaft das fortschrittliche Gesicht des absolutistischen Januskopfes erblicken. Die Mitglieder der nachmaligen Academic des sciences waren schon in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts vom Cartesianismus ergriffen, während diese Lehre an der Sorbonne als Häresie bekämpft und bestraft wurde. Und um 1700 hat schon der Sensualismus über Descartes in der

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Französischen Akademie den Sieg errungen, obwohl für die cartesianische Philosophie noch immer die Türen der Hochschulen verschlossen blieben.7 Die Schutzmacht war nicht nur zur weltanschaulichen Toleranz gezwungen, sie mußte den Respekt vor der Wissenschaft gegenüber allen Anfechtungen einer hierarchischen Gesellschaft sichern. Da der Protektor unmöglich bei allen Sitzungen der Wissenschaftler zugegen sein konnte, glaubten die Akademien durch die Zuwahl von Standesherren eine permanente Interessenvertretung gegenüber dem Hof und dem Ministerium gewonnen zu haben. Die Träger der Hierarchie waren damit gezwungen, das Prinzip der Gleichheit, das ihre eigene Existenz verneinte, als Akademiker anzuerkennen. In der Academic fran9aise genossen nur drei Offizianten, unter ihnen der lebenslängliche Akademiesekretär, das Vorrecht, ihren Dienst auf Polsterstühlen abzusitzen. Doch einmal — es war in den letzten Jahren der Regierung Ludwigs XIV. — ließ sich ein hoher kirchlicher Würdenträger zu einem Protest hinreißen gegen die Zumutung, daß ein gewählter Hirt der Apostelkirche mit einem Holzsitz vorliebnehmen sollte. Damit war der Klassenkampf in die Akademie getragen. Die Beschwerde des Bischofs wäre in jeder anderen Situation berechtigt gewesen. Die Frage war heikel und fand eine wahrhaft salomonische Lösung. Bei der nächsten Sitzung waren aus dem Arsenal des Louvre vierzig Fauteuils bereitgestellt, auf denen nunmehr die Sitzflächen aller Unsterblichen ruhten. Bei der Zuwahl von Standesherren hatte die Akademie die Vertiefung ihrer Einflußmöglichkeiten auf Hof und Regierung im Auge gehabt. Mit dem Tod Ludwigs XIV. (1715) war aber im Verhältnis der Wissenschaftler zum Hof und zur Regierung ein völliger Umschwung eingetreten, der auch für die weitere Entwicklung der wissenschaftlichen Akademien die größte Bedeutung hatte. Unter der jesuitisch-klerikalen Reaktion, die Ludwigs XIV. letzte Regierungsepoche völlig überschattete, war Fontenelle, mit dessen Schicksal das der Akademie weitgehend verknüpft war, in schwerste Bedrängnis geraten. Le Tellier, der berüchtigte Beichtvater des Königs, war entschlossen, die Aufklärung in Fontenelle vernichtend zu treffen. Der Umschwung der Regentschaft beendete nicht nur alle Gefahren für Fontenelle, sondern ließ ihn zu einem der einflußreichsten Männer der neuen Ära werden. Seit langem besaß er das unbegrenzte Vertrauen des Herzogs von Orleans, dessen Hof seit dem Jahrhundertbeginn als ein Zentrum der heimlichen Opposition angesehen wurde. Fontenelle mußte auf Drängen des Regenten in seinen Palast einziehen. Er sollte nach seinem Wunsch die neuzuschaffende Präsidentenstelle der Akademie der Wissenschaften übernehmen

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und damit die Verankerung des gelehrten Instituts im Kronrat und in der Regierung sicherstellen. Fontenelle ließ sich auf diesen Vorschlag nicht ein, durch den er das Prinzip der wissenschaftlichen Autonomie der Akademie aufs schwerste bedroht sah. Er beschwor den Regenten: „Ah! ne m'otez pas la douceur de vivre avec mes egaux."8 Die Standesherren versuchten, ihren entschwindenden Einfluß ein letztes Mal geltend zu machen, als der Fontenelle besonders nahestehende Abbe de Saint-Pierre durch seine Angriffe auf Ludwig XIV. und auf seine Kriegspolitik die Ehrfurcht vor dem ehemaligen Protektor der Akademie empfindlich verletzt hatte. Der Abbe de Saint-Pierre wurde 1718 ausgeschlossen, seine Stelle aber erst nach seinem Ableben durch Neuwahl wieder besetzt. Dieser Beschluß war in geheimer Abstimmung gegen eine einzige Stimme durchgedrungen. Für den Zeitgeist ist aber nichts bezeichnender als der edle Wettstreit, der zwischen den verschiedensten Mitgliedern der Französischen Akademie um diese dem Abbe de Saint-Pierre günstige Neinstimme nachträglich entbrannte. Mit Fontenelle, dem allseitigen Repräsentanten des modernen wissenschaftlichen Weltbilds, faßte die Aufklärung in der Akademie der Wissenschaften festen Fuß. Die Aufklärung konnte, gedeckt durch das hohe wissenschaftliche Ansehen ihrer Vorkämpfer, unbemerkt und kampflos in den beiden wissenschaftlichen Akademien einziehen. In der Academic des inscriptions et belles-lettres, die sich mit den Problemen der ältesten Geschichte beschäftigte, war Freret, ein ausgesprochener Atheist, 1743 zum lebenslänglichen Sekretär gewählt worden. In der Akademie der Wissenschaften folgte auf Fontenelle Mairan (1743) und dann Condorcet (1773). Wissenschaftliche Qualität war außerhalb der philosophischen Aufklärung nicht zu finden. Der Kampf entbrannte aber um die Academic fran9aise. Wie die französische Literatur bis zur Jahrhundertmitte durch den Widerstreit von Aufklärung und Traditionalismus bestimmt ist, so war der Austrag dieses Zwistes auch in der Akademie trotz des peinlich gewahrten Anscheins kollegialer Solidarität nicht zu vermeiden. Für die Aufklärung bedeutete der glückliche Ausgang dieses Kampfes, daß sie dem Ancien regime den festen Boden einer privilegierten Körperschaft abgerungen hatte. Im Kampf um die Französische Akademie war die Aufklärung, oder wie man damals zu sagen pflegte, die Philosophie, zu einem organisierten und planmäßigen Vorgehen gezwungen worden. Sie trat schon unter Duclos (1755) und dann ganz offen unter d'Alembert (1772) als eine Fraktion in Erscheinung, sowohl in den Abstimmungen wie bei der Nominierung neuer Kandidaten. Seit der Mitte der sechziger Jahre war die Majorität der drei

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wichtigsten Akademien fest in der Hand der Philosophen. Man braucht nur die Korrespondenz der maßgebenden Repräsentanten der weltanschaulichen und wissenschaftlichen Aufklärung zu überfliegen, um das Schwergewicht zu erkennen, das die Eroberung der Akademie für sie besaß. Voltaire setzt das ganze Spiel seiner Beziehungen in Bewegung, um die Kandidatur Diderots (den er nicht liebte) bei der Academic fra^aise durchzusetzen. 9 Der überraschende Erfolg der Aufklärung wäre ohne die planmäßige Ausnutzung der inneren Widersprüche des Ancien regime niemals zustande gekommen. Für Hof und Regierung galt die Aufklärung als das geringere Übel. Sie galt als bündnisfähig, soweit sie ihren radikalen Flügel verleugnete. Man glaubte, daß die wirkliche Gefahr der Jansenismus wäre, vor allem, weil er dem Aufruhr der Parlamente den Rücken steifte. Dazu kam die Spaltung am Hofe Ludwigs XV., der Gegensatz zwischen der bigotten polnischen Königin und der Marquise de Pompadour, die in jeder Weise die Interessen der Bourgeoisie und der Aufklärung sich zu eigen machte. Als dann 1776 mit Ludwig XVI. die Bigotterie und die Reaktion am Hof die Oberhand gewannen, war die letzte Schlacht schon geschlagen. Ludwig XVI., der den Boden der Academic francaise als Feindland niemals betrat, konnte ihr Prestige nicht mehr beeinträchtigen. Trotz der Feindschaft des Hofes erreichte das Selbstbewußtsein der die Akademie beherrschenden philosophischen Fraktion einen unüberschreitbaren Gipfel. Das bekunden die Worte, die Condorcet in einer öffentlichen Sitzung wenige Jahre vor Ausbruch der Revolution aussprach: „La verite a vaincu; le genre humain est sauve."10 Etwas anders verlief die Entwicklung der Preußischen Akademie. Aus der Bedrückung, in welche der „roi sergeant" zu ewigem Schimpf des deutschen Namens die Gründung Leibnizens versetzt hatte,11 versuchte Friedrich II. mit löblichem Eifer, aber mit einer totalen Unkenntnis und einer noch schlimmeren Abneigung gegenüber der deutschen Geisteswelt ein neues Zentrum des wissenschaftlichen Lebens zu schaffen. Maupertuis hat diesen Wunsch mit Einsatz seiner ganzen Lebenskraft und unbeirrt durch nationalistische Vorurteile weitgehend verwirklicht. Die von Fontenelle geschaffene Autonomie wurde statutengemäß, aber nicht dem Geist nach übernommen. Die autokratische Stellung, die der Präsident für sich gefordert und erreicht hatte, brachte die Mitglieder auch finanziell so sehr in seine Abhängigkeit, daß statt der theoretisch bestehenden Zuwahl durch Mehrheitsbeschluß die neuen Mitglieder vom Präsidenten ernannt wurden. Wenn Maupertuis überhaupt einen anderen Gesichtspunkt als den wissenschaftlichen besessen hätte, so müßte man sagen, daß seine Zuneigung den

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Schweizern zufiel. Trotz der Alleinberechtigung des Französischen, die übrigens nicht Maupertuis, sondern der König erstrebt und durchgesetzt hatte, war die Akademie nach der Zusammensetzung ihrer Mehrheit alles andere als französisch. Zwischen der Potsdamer Aufklärung und der Berliner Akademie gab es keinerlei Zusammenhänge. Wie sich bald herausstellte, waren dagegen sowohl die Schweizer wie die französischen Hugenotten — diese schon in der zweiten oder dritten Generation emigriert — durch und durch Wolffianer; diese wolffianische Mehrheit in der Akademie bekennt sich also zu der in der deutschen Intelligenz noch immer herrschenden Weltanschauung. Nach Maupertuis' Tod versuchte Euler, der Akademie ihre Autonomie zurückzugeben, mit dem Erfolg, daß die Mehrheit — es war ja noch die von Maupertuis zusammengestellte Mehrheit — für die Zuwahl dreier Deutscher, unter ihnen Lessing, stimmte. Friedrich II., vermutlich am meisten über die Nominierung Lessings aufgebracht, kassierte die Wahl und machte sich selbst zum Vizepräsidenten in der Erwartung, daß d'Alembert sich zur Berufung auf den Präsidentenstuhl hergeben würde. Die Erwartung trog, aber d'Alembert wurde als brieflicher Ratgeber des Königs der heimliche Präsident der Preußischen Akademie der Wissenschaften. D'Alembert versuchte die Zahl der deutschen Wissenschaftler zu erhöhen — seine personellen Vorschläge waren in jedem Fall sachlich zutiefst begründet. Allerdings konnte d'Alembert die Sache der deutschen Literatur nicht praktisch verfechten. Seine Interessen lagen in einer anderen Richtung, im Gegensatz zu der jüngeren französischen Generation, den Suard und Dorat, die seit den sechziger Jahren einen förmlichen Kult mit der jungen deutschen Literatur trieben. Der Aufschwung des wissenschaftlichen Lebens in den Akademien läßt sich gewiß nicht allein aus den neuen Institutionen erklären. Die organisatorischen Formen des akademischen Lebens gingen ohne wesentliche Veränderung vom 17. zum 18. und vom 18. zum 19. Jahrhundert. Entscheidend war, daß die gegebenen Formen sich mit neuem Sinn erfüllten und einem bloßen Leerlauf der Konvention und Rhetorik entrissen wurden. Das gilt vor allem für die Gedächtnisreden, die Eloges (laudationes). Der lebenslängliche Sekretär war verpflichtet, über die verstorbenen Mitglieder eine gleichsam akademie-offiziöse Gedächtnisrede zu halten. Aus dem 17. Jahrhundert erhaltene Reden sind entweder nichtssagend oder nur oratorisch zu bewerten, in der von Bossuet, Massillon oder Flechier gemeisterten Stilform der Oraison funebre. Erst durch Fontenelle wurde eine gänzlich neue Tradition der Eloges eröffnet. Sie wurde zu einer Rechenschaftsablage über die Errungenschaften, die vergangenen und die künftigen Fragestellungen

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des Wissensgebietes, dem der Verstorbene angehört hatte. Sie wurde als Dokumentierung der jeweils erreichten Fortschritte ein Stück lebendiger Wissenschaftsgeschichte. Das Corpus der dreißig oder vierzig von Fontenelle im Laufe von vier Jahrzehnten gehaltenen Gedächtnisreden ergibt einen Querschnitt durch die wichtigsten Wissensgebiete in der ersten Jahrhunderthälfte. Nicht selten war eine Rede Fontenelles ein wahrhaft wissenschaftliches Ereignis, das eine bestimmte Etappe bezeichnete: so etwa Fontenelles Gedächtnisrede auf Newton, in der das Fazit der großen Auseinandersetzung von Rationalismus und Sensualismus gezogen wurde. Als Leibniz 1716 inmitten seiner sich ständig durchkreuzenden Planungen und Entwürfe starb, fand sich in ganz Deutschland keine Stimme, die in würdiger Weise sein Gedächtnis zu ehren vermochte. Bezeichnenderweise besaß allein die französische Akademie der Wissenschaften die Kompetenz einer angemessenen Ehrung des größten deutschen Zeitgenossen. Die Gedächtnisrede, die Fontenelle hielt, war eine Glanzleistung, wie sie nur eine allseitige, den einzelnen Wissenschaftszweigen nachspürende Dokumentierung zustande brachte. Es ist gewiß, daß Fontenelle die Akzente ganz anders setzte, als die deutschen Nachfahren der Leibnizschen Philosophie es getan haben würden. Von der Ontologie und Metaphysik bleibt nicht viel mehr als eine Wissenschaftsmethode übrig. Dafür wird ein faszinierender Rundblick auf die allseitige Entdeckungstätigkeit Leibnizens geboten, die den Stil seiner Geisteshaltung bestimmt hatte. Nicht selten äußert Fontenelle in einem Apropos einen zukunftswendigen Gedanken, so in der Eloge auf den Journalisten Gallois (1707): „Une des plus agreables histoires, et sans doute, la plus philosophique est celle des progres de l'esprit humain."12 Neben den Eloges nahmen die Preisschriften eine wachsende Bedeutung ein. Der Ursprung der Preisschrift ist schon im dichterischen Wettstreit der Troubadours und der Meistersinger zu erkennen.13 Preisaufgaben mit einer wissenschaftlichen Thematik wurden seit den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts allenthalben dem Publikum zur Beantwortung überlassen. Es wurde jede Einsendung ohne Ansehen der Person von dem durch die betreffende Akademieklasse gebildeten Wettgericht in Betracht gezogen. Der Name und die Adresse des Einsenders wurden dem Preisgericht erst nach getroffener Entscheidung bekanntgemacht. Die Zettel mit den Namen der nichtprämiierten Antworten wurden in öffentlicher Sitzung verbrannt. 14 Die wissenschaftliche Hauptbedeutung der Preisschrift liegt in der Herausarbeitung der jeweils drängenden, aktuellen, und das will besagen, den Standpunkt der Wissenschaft bezeichnenden Fragestellung. Was in den Na-

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turwissenschaften am frühesten durchgedrungen ist, wird nunmehr auch in den geschichtlichen Fächern mit vollem Bewußtsein angestrebt: den Fortgang und den Fortschritt des Wissens durch eine genaue Bilanz des bisher Erkannten und Geleisteten zu sichern. Damals wurde die Einsicht errungen, daß die Freiheit der Wissenschaft nicht eine Freiheit zur beliebigen Fragestellung meinen kann, sondern daß es darauf ankommt, den Weg der wissenschaftlichen Entscheidungen freizulegen. Naturgemäß waren damals nicht alle literarisch Gebildeten auf der Höhe dieser wissenschaftlichen Erkenntnis. So wird zum Beispiel in einem utopischen Roman (einer Reise nach dem Mond) von 1761 an dem in Frankreich herausgebildeten Verfahren der Preisfragen Kritik geübt. In Selenopolis, dem utopischen Wunschbild des Autors, werden alle Akademien zweimal jährlich eine gemeinsame Sitzung abhalten, in der jeder Bürger der Mondrepublik das Recht hat, Fragen zu stellen, die dann in der Vollversammlung gültig und schlüssig beantwortet werden: „Ces academies, par un usage different du nötre et sans doute mieux raisonne, au lieu de proposer elles-memes des questions sur lesquelles des particuliers dissertent tant bien que mal, pour obtenir un prix qui n'est pas toujours merite, se faisaient au contraire un devoir de donner la solution des questions, qui leur etaient presentees; et ce qui ailleurs n'est souvent qu'un jeu, source de nouveaux doutes, devenait ä ce tribunal eclaire, une source de lumieres."15

Tatsächlich kann die Ausarbeitung der gültigen und zwingenden Fragestellungen nur von einem für die betreffende Wissenschaft verantwortlichen Gremium von Fachkundigen Erfolg versprechen. Daß diese Thematik ihren genauen Stellenwert hatte, war nicht nur das Ergebnis der Zusammensetzung des Gremiums. Die Rivalität zwischen den seit der Jahrhundertmitte an Zahl und Ansehen gewachsenen Akademien und vor allem die eingehende Stellungnahme der wissenschaftlichen Journalistik, das waren Faktoren, die als Kontrollinstanzen den richtigen Ansatz in der Thematik und Fragestellung zu sichern vermochten. Durch die Preisfragen wurde das wissenschaftliche Potential der gebildeten Allgemeinheit erschlossen. Jean-Jacques Rousseau ist nicht der einzige Aufklärer gewesen, dessen Sendung bei der Verfertigung einer Preisschrift und durch die Entscheidung des Preisgerichts entschieden wurde. Die Gesamtheit der Einsendungen ist ein Querschnitt durch die herrschende Weltanschauung. Sie sind ein Test, der für die weiteren Unternehmungen der Akademien nicht ohne Wert sein mochte und der für die Nachwelt eine einzigartige Dokumentierung des geistigen Zustandes der Nation in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick ermöglicht.

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Ein Zeichen der Lebenskraft ist das Ausmaß von Haß und Feindschaft, das die Akademien im 18. Jahrhundert gegen sich aufbrachten. 16 Im Grunde mußte die Akademie mit der Abneigung aller derer rechnen, die noch nicht zu ihr gehörten. Das einzige Mittel, die erbitterte Feindschaft zu bezwingen, war die Zuwahl. Das Prestige der Akademie war so groß, daß die Zugehörigkeit zu ihr als Bürgschaft des Wertes gelten konnte. Unter diesen Umständen war es für jeden selbstbewußten Intellektuellen eine Lebensfrage, über kurz oder lang die Aufnahme unter die vierzig Unsterblichen zu erwirken. Sehr typisch ist der Fall von Montesquieu. Als junger Mensch ritt er in seinen „Lettres persanes" heftige Attacken gegen die Academic francaise. Der 73. Brief ist ganz dieser Invektive gewidmet: „J'ai ou'i parier d'une espece de tribunal, qu'on appelle PAcademie francaise. II n'y en a point de moins respecte dans le monde ,.."17 Das Attentat, das Montesquieus unbesonnene Jugend mit dieser Lästerung ausgeführt hatte, sollte nicht ungerächt bleiben. Bekanntlich wurde sich Montesquieu erst spät über seine endgültige Berufung schlüssig. Er verzichtete schließlich auf seine glänzende juristische Laufbahn, um ganz und gar der Vorbereitung seines großen Werkes zu gehören. Die Erinnerung an die „Lettres persanes" war verblaßt und wäre gänzlich zurückgetreten, wenn nicht das Schicksal des Autors den „Lettres persanes" von neuem zu einer freilich unerwünschten Berühmtheit verholfen hätte. Längst hatte Montesquieu das vierte Jahrzehnt seines Lebens überschritten, ohne daß die Academic franchise seine Berufung auch nur in Betracht gezogen hätte. Die Mitgliedschaft der Akademie wurde für Montesquieu eine Prestigefrage. Nun war aber die Zuwahl nur auf Grund einer nachweisbaren schriftstellerischen oder wissenschaftlichen Leistung möglich. Montesquieu hatte alle geistigen Kräfte seit Jahren in den Dienst seiner historischen Studien gestellt. Zu einer Teilveröffentlichung kam es erst mit seinem „Römer"-Werk (1734). In dem Augenblick, in dem die Frage der Montesquieuschen Kandidatur behandelt wurde, war auch dieses Zeugnis seiner historischen Begabung noch ungeboren. Sein greifbares Lebenswerk beschränkte sich noch immer auf die berüchtigten „Perser-Briefe". Es blieb ihm nichts anderes übrig, als aus der Not eine Tugend zu machen. Doch mußte ein weiteres Hindernis genommen werden: der diktatorisch regierende Ministerpräsident, Kardinal Fleury. Von diesem sittenstrengen, von seiner Sendung erfüllten fünfundachtzigjährigen Staatsmann hatte Montesquieu nicht das geringste Verständnis für die ironische Behandlung geheiligter Traditionen zu erwarten. In der ihm gewährten Audienz überreichte Montesquieu

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dennoch ein Exemplar seiner „Perser-Briefe", das die Eminenz mit offensichtlichem Interesse entgegennahm. Diesmal hatte Montesquieu allerdings der verheerenden Wirkung seines Jugendwerkes vorgegriffen. Das überreichte Exemplar war für den persönlichen Gebrauch des Kardinals zugeschnitten. Alle anstößigen Stellen waren darin ausgemerzt. Die erwartete Wirkung blieb nicht aus. Der Kardinal sah in Montesquieu einen schnöde verleumdeten Ehrenmann, dessen Wahl in die Akademie als Ausgleich für die erlittene Unbill begünstigt wurde. Das Empfehlungsschreiben des Ministerpräsidenten war auch für solche Mitglieder der unsterblichen Körperschaft ein Befehl, die sich der frechen Bemerkungen in den „Perser-Briefen" nur allzugut entsinnen konnten. Man wird begreifen, daß Montesquieu trotz seines Erfolges in diesem Kreis sich niemals recht heimisch fühlte. Das gespannte Verhältnis Montesquieus zur Akademie entbehrte nicht der tieferen ideologischen Motivierung. Die Academic francaise war seit der Mitte der achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts das Schlachtfeld für den Krieg der Anciens mit den Modernes gewesen. Charles Perrault, der von Colbert eingesetzte vielverwendbare „commis du roi", versuchte auf Grund seiner offiziösen Stellung, seinen modernistischen, der antiken Vorbildkultur abträglichen Standpunkt der Akademie aufzudrängen. Durch Fontenelles akademische Machtstellung wurde der Einfluß der Modernisten um mehr als ein halbes Jahrhundert verlängert. Die Aufklärung in der Akademie versuchte, die Unteilbarkeit ihrer fortschrittlichen Bestrebungen auch in der Bewertung der literarischen Erscheinungen zu beweisen. Der Fortschritt über die Antike hinaus und damit die Überwindung der klassizistischen Modell-Literatur erschien den sogenannten Modernes als gesichert. Der Kreis um Fontenelle sah sich aber mit seiner Auffassung ziemlich vereinzelt. Die übergroße Mehrheit des gebildeten Bürgertums verband humanistische Kultur mit jansenistischen Oppositionsgelüsten. In den dreißiger Jahren war der Streit durch die glänzende Journalistik eines Desfontaines zugunsten der Freunde der Antike entschieden. Seitdem bleibt die Verbindung von Klassizismus und Aufklärung im 18. Jahrhundert tonangebend. Nachdem die Aufklärung sich auch in der Academic fran9aise durchgesetzt hatte, geriet sie ins Zielfeld des apologetischen Angriffs. Nicht diese Feindschaft aber konnte das Ansehen der Akademie wesentlich gefährden. Die Gefahr kam von der entgegengesetzten Seite. Seit dem Auftreten JeanJacques Rousseaus war die innere Einheit der Aufklärung in Frage gestellt. Es war ein glänzender Beweis der Vorurteilslosigkeit, daß die Dijoner Akademie die von Rousseau mit glänzender Beredsamkeit verteidigte pessimistische These trotz ihres spürbaren gesellschaftlichen Radikalismus prämi-

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ierte. Bekanntlich glaubte Rousseau, die kulturelle und zivilisatorische Entwicklung im ganzen sei verworfen und das Glück der Menschheit von ihrer Rückkehr zu den durch Usurpationsgelüste verratenen klassenlosen menschlichen Naturverhältnissen zu erwarten. Rousseau brachte damit zum erstenmal die radikale Kritik der bisher an der Geschichte unbeteiligten Schichten der Gesellschaft zum Ausdruck. In der Diskussion über Rousseaus sensationelle These konnte die philosophische Fraktion nicht neutral bleiben. Die Sache des Fortschritts war bedroht, die Aufklärung im ganzen durfte durch radikale Außenseiter nicht gefährdet werden. Die radikale Strömung verabscheute jede Konnivenz mit den offiziösen Einrichtungen — sie fordert volle Unabhängigkeit der „hommes de lettres", die ihr Schicksal nicht mit dem Schicksal des Ancien regime verketten sollten. Das war nicht nur die Meinung Rousseaus, sondern auch die Diderots, Sebastien Merciers und all der anderen außerhalb der Akademie stehenden Aufklärer. Es ist interessant, die Vorwürfe eines Stürmers und Drängers ä la Mercier zu hören: „Ce gout exclusif qu'elle s'arroge, est d'ailleurs bien fait pour eveiller le ridicule. Tous les hommes sont appelles juger eux-memes des arts de sentiment: ils le sentent: ils trouveront done toujours extraordinaire qu'une poignee d'hommes osent donner leurs idees sur les arts, comme les idees les plus justes, et leur esprit pour l'esprit par excellence. Leur goüt particulier ne peut pas former le goüt general."18

Selbst ein so besonnener Voltairianer wie der Marquis de Luchet konnte nicht umhin, den Despotismus der zur Fraktion verschmolzenen Aufklärung zu beklagen: „II faut l'avouer, des hommes despotes avaient change en secte la plus belle confederation de l'esprit humain." 19 Zu den radikalsten Aufklärern, denen die Akademie unverzeihlicherweise keine Beachtung schenkte, gehörte der nachmalige revolutionäre Tribun Jean-Paul Marat. Marat hatte am Ende der siebziger Jahre den offenen Kampf mit dem Ancien regime in einem Buch „Les chames de l'esclavage" vom Zaun gebrochen. Im übrigen war Marat als Arzt und Forscher gleich bedeutend. Marat ist der Erfinder der Elektrotherapie — als Okulist nahm er bis dahin für unmöglich gehaltene Operationen vor. Seine optischen Studien wurden in der Britischen Akademie gewürdigt. Auch in Frankreich wiesen wissenschaftliche Journale auf die Forschungstätigkeit dieses vielseitigen, aber zielstrebigen Geistes hin.20 Die französische Academic des sciences dagegen lehnte auf ein Gutachten von Condorcet die Beschäftigung mit den Maratschen Theorien ab. Seine Einsendungen wurden keiner Antwort gewürdigt. Diese Brüskierung sollte sich furchtbar rächen — sie läßt aber auch eine wirklich bestehende Grenze der Akademie erkennen. Daß

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Marat in der Revolutionsepoche seine bitteren Empfindungen gegenüber der Akademie und ihrem wissenschaftsführenden Kampf nicht verleugnete, ist selbstverständlich. Nach der Machtergreifung der Jakobiner wurden die Akademien als reaktionäre Institutionen kurzerhand aufgelöst. Die Neuorganisation der wissenschaftlichen Institute durch das Direktorium schuf auch den Akademien wieder einen Raum, aber diese neue Phase in der Wissenschaftsgeschichte führte zum Verlust der im 18. Jahrhundert von den Akademien errungenen führenden Stellung im wissenschaftlichen Leben. Durch die zunehmende Spezialisierung verringerten sich im 19. Jahrhundert die fruchtbaren Kontakte zwischen den benachbarten und entfernteren Wissenschaftsbereichen. Vor allem wurde der im 18. Jahrhundert noch bestehende Zusammenhang zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften aufgelöst. Die Verneinung jeder gesetzlichen Erkenntnis im ganzen Bereich der menschlichen Geschichte hat ihren fatalen Sinn erst im Licht unserer eigenen Zeiterfahrung offenbart. Wenn demgegenüber das Interesse an einer Sicherung der methodologischen Gemeinsamkeiten eine neue Diskussionsbereitschaft hervorrief, so mag die Orientierung an den Institutionen des 18. Jahrhunderts, vor allem auch der Rückblick auf die vergangene Blütezeit der Akademien, den Anbruch einer neuen Phase des wissenschaftlichen Lebens begleiten.

Anmerkungen 1 Vgl. A. Belloni, II Seicento, S. 30 ff. 2 Siehe Anm. 5. 3 In Frankreich führen die ersten Ansätze einer Akademiebildung bis in die Zeit Heinrichs III. zurück. Vgl. Jean-Francois Dreux du Radier, Recreations historiques, Bd. II, Paris 1767, S. 258 ff. 4 Vgl. A. Belloni, II Seicento, S. 30 ff. 5 Über die spanischen Literaturakademien vgl. A. G. de Amezua, Lope de Vega en sus cartas, Bd. II, Madrid 1940, S. 69. — Interessant ist die Zutat des spanischen Übersetzers C. Suarez de Figueroa zu Garzonis „Piazza universale", Artikel „Academicos": „En esta conformidad descubrieron los afios pasados algunos ingeniös de Madrid semejantes impulsos juntändose con este intento en algunas casas de senores, mas no consiguieron el fin. Fue la causa quizäs, porque olvidados de lo principal, frecuentaban solamente los versos aplicados a diferentes asuntos. Nacieron de las censuras, fiscalias y emulaciones, no pocas voces y diferencias pasando tan adelante las presunciones, arrogancias y arrojamientos que por instantes no solo ocasionaron menosprecios y demasias, sino tambien peligrosos enojos y pendencias siendo causa de que cesasen tales juntas con toda brevedad." 6 „Heutzutage wird das Wort ,Akademie' im Sinne des kulturellen Fortschritts und der Beförderung der Künste und Wissenschaften verstanden."

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7 Vgl. James E. King, Science and Rationalism in the Government of Louis XIV, 1661 — 1683, Baltimore 1940. - Einiges Material über die Academie des sciences bei Jules Bertaut, La vie litteraire en France au XVIII C siecle, Paris 1954, S. 201 ff. 8 „Ach! Lassen Sie mir die Freude, mit meinesgleichen leben zu dürfen!" 9 Über diese Einzelheit sowie über die planmäßige Eroberung der Akademie durch die Aufklärung ist die Darstellung Barruels, „Memoires pour servir ä l'histoire du jacobinisme", Bd. I, Hamburg 1803, S. 99ff., durchaus überzeugend, sowenig wir mit seiner Bewertung der ganzen Vorgänge übereinstimmen können. 10 „Die Wahrheit hat gesiegt! Die Menschheit ist gerettet!" 11 Adolf Harnack, auf dessen feinfühlige Darstellung der Akademiegeschichte während des 18. Jahrhunderts wir mehr als je angewiesen sind, bringt es fertig, vom „genialen" Blick Friedrich Wilhelms I. auf die Zukunft der Naturwissenschaften zu sprechen. Die Naturwissenschaftler wurden nämlich keinen körperlichen Mißhandlungen ausgesetzt wie ihre Kollegen von den geisteswissenschaftlichen Fakultäten. 12 „Eine der am meisten zu wünschenden Arten der Geschichtsschreibung und ohne Zweifel die philosophischste ist die Geschichte der Fortschritte des menschlichen Geistes." 13 Die in Le Roux, Dictionnaire comique, satirique, critique, burlesque, libre et proverbial, verzeichnete Bedeutung Academie d'amour = Bordell, mit Beleg von Sorel, erweist sich als pejorative Weiterbildung der provenzalischen Institutionen. 14 Vgl. den Aufsatz „Eine politische Preisfrage im Jahre 1780", S. 192-202 dieses Bandes. 15 „Diese Akademien unterschieden sich von den unsrigen - und ohne Zweifel mit den besseren Gründen — darin, daß sie nicht selbst die Probleme stellten, auf die dann die einzelnen Preisbewerber recht und schlecht einzugehen versuchten, sondern daß sie sich im Gegenteil für verpflichtet hielten, die Lösung aller Fragen zu geben, die man an sie herantrug, und was sonst nur ein Spiel ist oder die Quelle immer erneuter Zweifel, das wurde vor dieser aufgeklärten Instanz eine Quelle von wirklicher Erleuchtung." (Listonai, Le voyageur philosophe dans un pays inconnu aux habitants de la terre, Bd. II, Amsterdam 1761, S. 251) 16 Eine geistvolle Studie von Andre Houssaye, Histoire du 41° fauteuil de l'Academie francaise, Paris 1861, stellt eine Liste großer Männer zusammen, die von der Akademie zu ihrem Schaden nicht aufgenommen wurden. Die Akademie war die einzige Institution des Regimes, die man ungestraft in der Öffentlichkeit angreifen konnte. Meist werden der Akademie ihre Monopolisierungsansprüche vorgeworfen. So schon von dem Außenseiter Saint-Evremond. Von höchster Wirksamkeit waren die sarkastischen Pfeile, die der Abbe Desfontaines gegen die durch Fontenelle, La Motte usw. in der Französischen Akademie vertretenen Modernes und gegen die sprachlichen Neologien verschoß. Sein zur Bloßstellung kompiliertes „Dictionnaire neologique" enthält allerdings kaum eine Wendung, die von der Nachwelt verworfen worden wäre. Die dreisteste Parodie aber erschien 1744 mit dem Titel „Memoire de l'Academie de Troie". In Anbetracht der Fülle von Neugründungen provinzieller Akademien mochte der Durchschnittsleser den fiktiven Charakter dieser Publikation nicht ohne weiteres erkennen. Erst bei genauerer Lektüre enthüllt sich die Parodie. Es handelt sich zum Teil um Untersuchungen über skatologische Gegenstände, teils über groteske Themen wie „La maniere de lire et d'etudier la gazette" und den gelehrsamen Kommentar des angeblich der Champagne zugehörigen Sprichwortes „99 moutons et un Champenois font cent betes". Interessant ist die Reaktion des „Journal encyclopedique", der gleichsam offiziösen Zeitschrift der Aufklärung. Ihre Reaktion stellt ein energisches Veto gegen die parodistische Paraphrase der üblichen Akademieveröffentlichungen dar, „auxquels nous sommes redevables de tant d'excellentes choses et qui sont les fastes de toutes nos connaissances, de nos progres, et le depot precieux de la gloire de la nation". (Journal encyclopedique, April 1756, S. 66) 17 „Ich habe von einer Art Tribunal reden hören, das man die Französische Akademie nennt. Es gibt kaum ein weniger geachtetes auf Erden ..."

Anmerkungen

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18 „Dieser exklusive Geschmack, den man sich anmaßt, kann uns nur zum Lachen reizen. Alle Menschen sind berufen, selbst über eine Kunst zu urteilen, über die das Gefühl entscheidet. Sie haben sie im Gefühl: sie werden es immer für absonderlich halten, daß eine Handvoll Menschen es wagt, ihre Gedanken für die richtigen Gedanken und ihr Verständnis für das einzig mögliche Verständnis auszugeben. Niemals kann ihr besonderer Geschmack den Geschmack der Allgemeinheit bestimmen." 19 „Man muß zugeben, daß despotisch gesinnte Menschen die schönste Verbindung des menschlichen Geistes in eine Sekte verwandelt haben." (Jean-Pierre-Louis de La Röche Du Maine, Marquis de Luchet, Pot-pourri, Bd. I, Paris 1781, S. 341) 20 Vgl. Journal des gens du monde, Bd. III, Nr. 13, 1783, S. 181 f.: „Un prince souverain qui s'occupe du bonheur de ses peuples et qui travaille a la reforme du plan d'etudes des colleges, vient d'inviter M. Marat a composer un cours complet de physique experimentale. Des occupations d'un autre genre, et une sante fort alteree ne permettent pas a cet habile physicien de seconder les vues bienfaisantes de ce souverain. On ne fait pas assez d'attention au süperbe spectacle qu'offrent les experiences de M. Marat."

Eine politische Preisfrage im Jahre 1780

Für das Jahr 1780 hatte die Philosophische Klasse der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften eine aufsehenerregende, in einem solchen Rahmen geradezu unerhörte Preisfrage ausgeschrieben: die Frage, ob die Regierenden berechtigt oder verpflichtet seien, das Volk zu seinem eigenen Besten zu hintergehen: „Est-il utile de tromper le peuple?" Das war keine staatsrechtliche Doktorfrage mehr; sie hatte auch nichts von der zweideutigen Metaphysik einer Pilatus-Frage an sich — die politische Praxis der Regierenden stand diesmal selbst zur Debatte. Noch immer befand sich die Politik der Kabinette in unbezwinglichem Gegensatz zu den Bedürfnissen der Völker nach Aufhellung des Horizontes, nach rüchhaltloser Klarheit und Wahrheit in allen öffentlichen Bereichen. Welchen Sinn mochte die bedeutendste wissenschaftliche Instanz des deutschen Kulturlebens mit einer solchen Fragestellung verknüpft haben? Stellte sie die Frage im Sinne der Regierenden oder der Regierten? Sprach die Preußische Akademie überhaupt in eigener Sache? Soviel war allen klar: Wenn man sich unterfing, an diesem Ort ein so heikles Problem zu berühren, so geschah es gewiß nicht ohne die Einwilligung des Schutzherrn der gelehrten Körperschaft. Die Vermutung war unabweisbar, daß nur der König, der noch immer, mit weitem Abstand, der aufgeklärteste Kopf im Staate Preußen war, auf ein solches Thema verfallen sein konnte. War doch mit dieser Fragestellung die Diskussion über die Grundprinzipien der Staatsführung entfesselt! Also — ein Akt der Mündigsprechung des Publikums weit eher als ein Versuch zur Stimmungsbefragung! Indessen hatte sich Friedrich II. seinen deutschen Zeitgenossen so wenig verständlich zu machen gewußt, daß sie ihn mit den Sünden seines Vaters belasteten; man munkelte, die knifflige Frage sei nichts als eine Verhöhnung der Akademie, im Stil des verewigten Königs, für den der Umgang mit der

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menschlichen Wissenschaft eine unversiegliche Quelle barbarischer Spaße und grausamen Schabernacks dargestellt hatte. Ehe wir die Hintergründe des seltsamen Preisausschreibens aufzuhellen versuchen, muß die Vorgeschichte des Themas mit wenigen Zügen umrissen werden. Die Vorgeschichte ist schon vom Anfang des aufgeklärten Jahrhunderts her zu erleuchten. Eine Abhandlung von 1736 klingt in der kühnen Forderung aus: „Mais ä un souverain dont le pouvoir supreme a des fondements solides, il faut des hommes eclaires, parce qu'il les faut ou assez sages pour reconnaitre l'autorite legitime, ou assez politiques pour ne pas donner les mains ä des factions sans interet et sans motifs. Nous vivons dans un Etat et sous un regne ou on ne doit point craindre de nous ouvrir les yeux." 1

Wenige Jahre später erschien die berühmte Schrift des Kronprinzen von Preußen, der „Anti-Machiavel". Der Verfasser hatte Voltaire mit der Ausfeilung seiner Prosa und mit der Suche nach einem Verleger beauftragt. Das Erscheinen des Werkes fiel jedoch mit dem Thronwechsel zusammen (1740). Friedrich II. bereute nunmehr, sich auf die Bekämpfung der machiavellischen Geheimpolitik festgelegt zu haben. Schon die ersten Züge auf dem politischen Schachbrett mußten ihn Lügen strafen. Der an Voltaire gegebene Auftrag, die gesamte Auflage zurückzukaufen, wurde keineswegs befolgt. Voltaire hatte vielmehr alles Interesse daran, das Bekenntnis des Königs von Preußen zu den politischen Prinzipien der Aufklärung unter die Leute zu bringen. Auch die Hoffnung des Königs, daß wenigstens die Verfasserschaft dem großen Publikum verborgen bleiben würde, erwies sich als Illusion. Das Werk brachte es in kurzer Zeit zu einer Vielzahl von Auflagen. Im 18. Kapitel seines Machiavel-Kommentars wird die Frage erörtert, „si les princes doivent tenir leur parole"2. Kein Mensch kann sich auf die Dauer mit Erfolg der Lüge bedienen. „L'artifice done et la dissimulation habiteront en vain sur les levres de ce prince, la ruse dans ses discours et dans ses actions lui sera inutile; on ne juge pas les hommes sur leur parole, ce serait le moyen de se tromper toujours; mais on compare leurs actions ensemble, et puis leurs actions et leurs discours: c'est contre cet examen reitere que la faussete et la dissimulation ne pourront rien jamais." 3

1762 erschien zu Nancy eine Broschüre, deren Titel schon die erweiterte Fragestellung der späteren Aufklärung ankündigt: „Le politique vertueux. La candeur et la bonne foi sont plus necessaires a l'homme d'Etat que la ruse et la dissimulation, par M. Aubert, avocat a la cour". Sieben Jahre

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später, 1769, erschien im Zuge der Holbachschen antichristlichen Publikationen eine epochemachende Schrift, der „Essai sur les prejuges", in dem die Frage der gesellschaftlichen Ausweitung der Aufklärung im Sinne der radikalsten Forderungen entschieden wurde. Nicht um der Wahrheit willen sei man verpflichtet, die Wahrheit vor aller Welt zu bekennen, sondern weil die Wahrheit nichts anderes als den Nutzen der Gesellschaft beinhalte. Im Volksbetrug sieht der Autor den Schlüssel alles vergangenen und gegenwärtigen Verderbens. Indessen gab es eine Wahrheit, die auch von den radikalsten Rufern im Kampf um Aufklärung zumeist verschwiegen wurde: das Zugeständnis ihrer eigenen Verfasserschaft. Die Aufklärung sah sich in der Tat immer wieder vor die Frage gestellt, ob sich das Opfer der Person durch den Bekennermut der Autoren verlohnte. Durch Nennung des Namens waren sie dem unerbittlichen Zugriff der Behörden preisgegeben. Vor allem im Kreis um Holbach wird das Problem des Martyriums immer wieder behandelt. Während Diderot das bedingungslose Bekenntnis des Autors fordert, hält Holbach, wie schon früher Voltaire, eine solche Gefährdung der für die Aufklärung Berufenen für eine sinnlose Schwächung ihrer Kampfkraft. Indessen war sich Holbach mit der gesamten Spätaufklärung in der Verwerfung des Volksbetrugs einig. Obwohl für Holbach die Zugehörigkeit zur Nation allein durch das Interesse an der Sicherung von Grundbesitz bestimmt werden kann, hielt er in völliger Unterschätzung der geistigen Reife und Aufgeschlossenheit der Massen des Volkes den Appell an die Allgemeinheit für unbedenklich. So kam es, daß sich die Aufklärung aller Schattierungen in dieser einen Forderung einig wußte. Auch Friedrich II. konnte sich dem Zwang dieser Fragestellung, die ihn in seiner Jugend nur als ein theoretisches Problem beschäftigt hatte, nicht länger entziehen. In der Korrespondenz mit d'Alembert bildet die Frage nach der Zulässigkeit oder Verwerflichkeit des Volksbetruges ein Leitmotiv der auf beiden Seiten mit rückhaltloser Ehrlichkeit geführten Auseinandersetzung. Friedrich II. war in ein näheres Verhältnis zu d'Alembert getreten, als nach dem Tod von Maupertuis die Präsidentenstelle der Preußischen Akademie vakant war. D'Alembert schlug die Berufung aus: die in Paris gewonnene Stellung mußte im Sinne der Aufklärung für wichtiger gelten. Indessen wollte d'Alembert dem preußischen König mit seinen reichen Erfahrungen und mit seiner lückenlosen Personenkenntnis jederzeit dienen. So wird d'Alembert heimlicher Präsident, ein Akademiepräsident „in partibus". Der König konnte auf d'Alemberts unbedingte Loyalität und Sachlichkeit

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bauen. Die oft wiederholte Behauptung, durch d'Alemberts Einfluß sei der französische Charakter der Preußischen Akademie noch weiter verstärkt worden, erledigt sich schon mit der Feststellung, daß die Preußische Akademie auch unter Friedrich II. in keinem Augenblick ihrer Geschichte ein französisches Gepräge besessen hat. Die französische Aufklärung regierte in Sanssouci; sie war in der Akademie nur durch die Verbindungsmänner des Königs, wie etwa den Marquis d'Argens, vertreten. Die Majorität bestand aus Uremigranten, die nunmehr schon in der dritten Generation dem König von Preußen dienten. Leibniz und Wolff und nicht Descartes oder Newton hießen ihre Götter. Ihrem Bildungsgang, wenn auch nicht ihrer Sprache nach sind sie der deutschen und nicht der französischen Aufklärung zuzurechnen. Eine wichtige Gruppe wurde von den Schweizern der BodmerBreitingerschen Richtung gebildet. Vor allem gehörten Sulzer und Merian zu ihr. Durch ihren Einfluß wird Herder, der ihren Gedanken nicht fernstand, der Preis für zwei Arbeiten zuerkannt. Im übrigen war d'Alembert nicht so instinktlos, die immer noch unzulängliche Verbindung mit dem aufstrebenden deutschen Geistesleben nicht als einen unhaltbaren Mißstand anzusehen. Er nominierte deutschsprachige oder deutsche Kandidaten, wie Scheele, Johannes von Müller, Michaelis und andere. Als ihm die berüchtigte Schrift des Königs über die deutsche Literatur zu Gesicht kam, wurde ihm sogleich die Unbill bewußt, die Friedrichs anerzogene Vorurteile verschuldet hatten. In seinem Dankschreiben vom 9. Februar 1781 nimmt d'Alembert deutlich für die verurteilte deutsche Schriftstellerei Partei: „Je ne suis point assez au fait de la litterature allemande pour juger par moi-meme si les reproches que lui fait V. M. sont aussi bien fondes qu'ils le paraissent ... On dit pourtant que les Allemands se plaignent d'avoir ete juges avec trop de rigueur; cela me parait assez naturel, mais ne prouve pas encore qu'ils aient raison."4

D'Alembert verbarg seine Meinung niemals, sosehr er in der gepflegten Form dem König entgegenkam. Gewiß hat d'Alembert mit wechselndem Erfolg immer wieder dem König die in Frankreich gefährdeten oder unmöglich gewordenen Aufklärer empfohlen. Als Opfer des kirchlichen Fanatismus wurden Männer wie Toussaint, Prades und andere bereitwillig aufgenommen. Sie wirkten meist außerhalb der Akademie. Es waren Einzelgänger, die ihr Gastland nicht wohl durch eine französische Unterwanderung gefährden konnten. Wenn nun in der Tat die d'Alembertsche Personalpolitik auf wachsenden Widerstand bei Friedrich II. stieß, so lag der Grund in dem lebhaften Befremden des Königs über die neueste Wendung der französischen Geistesbewegung,

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die in Du Marsais' „Essai sur les prejuges" und in Holbachs „Systeme de la nature" ihre radikalste Spitze hervorgetrieben hatte. In seiner Entgegnung auf Du Marsais hatte Friedrich II. freimütig bekannt, daß seine Interessen von denen seines Berufs nicht unabhängig seien. Auch in Frankreich wurden Stimmen laut, die Aufklärung würde sich durch den Zweifrontenkrieg mit der weltumspannenden Organisation der Kirche und mit den weltlichen Souveränen einer sicheren Niederlage aussetzen. Aber all diese Widerstände konnten die hochgehenden Wellen der einmal eröffneten Diskussion in Preußen nicht einfach zum Stillstand bringen. D'Alembert war auch nicht der Mann, der sich durch Widerstand abschrecken ließ. Er hatte es 1769 unternommen, dem König die berühmte Frage nach der Zulässigkeit des Volksbetrugs für die Prämiierung durch seine Akademie zu empfehlen: „La question: s'il se peut faire que le peuple se passe de fables dans un Systeme religieux, meriterait bien, Sire, d'etre proposee par une academic teile que la vötre. Je pense, pour moi, qu'il faut toujours enseigner la verite aux hommes, et qu'il n'y a jamais d'avantage reel ä les tromper. L'Academie de Berlin, en proposant cette question pour le sujet du prix de metaphysique, se ferait, je crois, beaucoup d'honneur, et se distinguerait des autres compagnies litteraires, qui n'ont encore que trop de prejuges."5

In seinem Antwortschreiben vom 8. Januar 1770 geht Friedrich lebhaft auf die d'Alembertsche Fragestellung ein. Über die Verwirklichung des Vorschlags wird allerdings kein Wort verloren. Die Meinung des Königs von Preußen geht dahin, daß man die Frage unmöglich bejahen könne. „La question que vous proposez ä notre Academic est d'une profonde philosophic. Vous voulez que nous scrutions la nature et la trempe de Pesprit humain, pour decider si l'homme est suceptible d'en croire plutöt le bon sens que son imagination. Selon mes faibles lumieres, je pencherais pour l'imagination, parce que le Systeme merveilleux seduit, et que l'homme est plus raisonneur que raisonnable."6

Zum Schluß sucht Friedrich II. seine Meinung durch das Zeugnis Fontenelles zu akkreditieren. Er beruft sich auf das häufig zitierte Wort des Patriarchen der französischen Aufklärung, er würde, wenn ihm auch die ganze Wahrheit in die Hand fiele, sie doch nicht öffnen, „weil" — wie Friedrich hinzufügt — „die Menge es gar nicht wert ist": „Fontenelle disait tres bien que s'il avait la main pleine de verites, il ne Pouvrirait pas pour les communiquer au public, parce qu'il n'en valait pas la peine."7

Tatsächlich wird der Ausspruch Fontenelles in den verschiedensten Anekdotensammlungen wiedergegeben — in keiner findet sich die Motivierung, daß das Volk eine solche Zuwendung der Wahrheit überhaupt nicht

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verdiene. Die Epoche der Frühaufklärung, die durch Fontenelles Schriften eröffnet wurde, erlaubte noch keine vorbehaltlose Offenbarung der Wahrheit. Die Aufklärung muß sich erst in kleinen Kreisen und Gruppen durchsetzen, bevor ihre Wahrheit die öffentliche Meinung zu durchdringen vermag. Der Aufklärer muß sich nicht um seiner selbst willen, sondern im Hinblick auf seinen der Allgemeinheit geschuldeten Auftrag dem Martyrium entziehen. In diesem Sinn wird der Ausspruch Fontenelles von La Porte wiedergegeben: „Herr von Fontenelle sagte des öfteren, wenn er auch alle Wahrheiten in die Hand bekäme, so würde er sich doch hüten, sie für die Menschen zu öffnen. Die Entdeckung einer einzigen Wahrheit hat Galilei in die Gefängnisse der Inquisition gebracht."8

In einem Brief an Helvetius, den wichtigsten Schüler Fontenelles, hatte Voltaire sieben Jahre nach dem Tod dieses Philosophen geschrieben: „Votre heros Fontenelle fut en grand danger pour les ,Oracles' ... et quand il disait que s'il avail la main pleine de verites il n'en lächerait aucune, c'etait parce qu'il en avail lache, et qu'on lui avait donne sur les doigts. Cependant cette raison tant persecutee gagne tous les jours de terrain."9

Damit hat Voltaire Fontenelle auf seinen geschichtlichen Standort zurückverwiesen: er hatte vorschnell die Wahrheit gepredigt und mußte aus der bitteren Erfahrung die Lehre ziehen. Die Wahrheit geht aber heute ihren Weg viel sicherer, so daß sich die vor Jahrzehnten noch angeratene Vorsicht erübrigt. In einem Dialog des Philosophen Mably wird die Meinung, daß sich Fontenelle mit einem solchen Ausspruch seinen Verpflichtungen habe entziehen wollen, energisch zurückgewiesen. Im Gegenteil: was nützt die Wahrheit, die man den Menschen ohne Rücksicht auf ihre Aufnahmefähigkeit zumuten möchte? „Avec quelle circonspection ne faut-il pas leur presenter la verite, si on veut qu'elle ne soit pas indignement repoussee!"10 Und schließlich noch die Auslegung, die Fontenelles Ausspruch in einer nachaufklärerischen Schrift von 1801 gefunden hat: „Pourquoi Fontenelle, tenant toutes les verites dans sä main, se füt-il bien garde de l'ouvrir? C'est que Fontenelle eut craint de passer pour un visionnaire. Toute verite nouvelle ressemble un ambassadeur chez des peuples barbares, ou il n'obtient creance qu'apres un long circuit d'avanies, de negociations et de sacrifices."11

Aus alledem ist die unzulässige Umdeutung der Meinung des Frühaufklärers durch Friedrich II. klar zu ersehen. Indessen ließ d'Alembert nicht lokker, und auch Friedrich konnte sich mit einem Standpunkt nicht zufrieden-

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geben, der ihn so offenkundig aus der Aufklärung herausgeführt hätte. Die Diskussion ging weiter, ein neuer Anstoß war für d'Alembert das Preisausschreiben der Metaphysischen Klasse von 1777. Das Thema zeigte, in welchem Maß die Preußische Akademie noch immer an Leibniz festhielt: „Dans toute la nature on observe des effets: il y a done des forces. Mais ces forces, pour agir, doivent etre determinees; cela suppose qu'il y a quelque chose de reel et de durable, susceptible d'etre determine; et c'est ce reel et durable qu'on nomme force primitive et substantielle. En consequence academic demande: Quelle est la notion distincte de cette force primitive et substantielle, qui lorsqu'elle est determinee, produit 1'effet? Ou, en d'autres termes: quel est le ,fundamentum virium'?" Die Fragestellung, deren Wortlaut wir aus Formeys „Erinnerungen" von 1789 übernehmen 12 , wird noch durch einen weitschweifigen, mehr als eine Seite bedeckenden Erklärungsversuch erweitert. Man begreift das Kopfschütteln, das ein solches Thema mit einer solchen Formulierung in Frankreich hervorrufen mußte. D'Alembert hielt sich für verpflichtet, den König über den äußerst ungünstigen Eindruck dieses Rückfalls in spekulative Gepflogenheiten zu unterrichten. Er nahm die Gelegenheit wahr, auf den schon Jahre zuvor dem König unterbreiteten und in der Zwischenzeit eingehend durchdiskutierten Vorschlag zurückzukommen. Diesmal griff Friedrich zu, natürlich ohne seine persönliche Meinung in der Frage des Volksbetrugs zu ändern. D'Alembert erfuhr mit Entsetzen, daß sich der König nicht nur an seinen Vorschlag gehalten, sondern das neue Thema im Verordnungsweg durchgesetzt hatte. Das eigenhändig unterzeichnete und korrigierte Schriftstück ist uns erhalten. Zum ersten Mal sucht Friedrich die französische Aufklärung seiner widerstrebenden Akademie aufzudrängen. Besonders schwerwiegend ist die Forderung, daß die Metaphysische Klasse ihre hintersinnige Fragestellung kurzerhand zurückziehe. Das Schriftstück verdient es, im Wortlaut wiedergegeben zu werden: „Da Unser beständiges Ziel der Fortschritt der philosophischen Aufklärung ist, so wünschen Wir, daß die Klasse für spekulative Philosophie als Preisfragen nur solche Themen ausschreibt, die interessant sind und eine Nützlichkeit haben, und daß sie anstelle der letzthin ausgeschriebenen Preisfrage, die nicht recht verständlich ist, das folgende Thema übernähme: ,Ob es nützlich sein kann, das Volk zu hintergehen.' Indem ich Gott bitte, daß er Sie in Seinen heiligen Schutz nehmen möge: Friedrich Potsdam, heute, am 16. Oktober 1777"

Die Kabinettsordre wirkte wie ein Blitzstrahl aus heiterem Himmel. Als der am unmittelbarsten betroffene Direktor der Philosophischen Klasse aus seiner Lähmung erwachte, war seine erste Eingebung: das Plenum. Der Fall

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war wichtig genug, um eine Stellungnahme der ganzen Akademie zu fordern. Der zweite Einfall Sulzers war ein strategischer Gedanke. Der König konnte seiner Akademie Befehle erteilen. Aber was ein Befehl war, das mußte als solcher vor aller Öffentlichkeit erscheinen. Damit war nicht nur die Akademie von einer ihr unverständlichen Fragestellung entlastet, der König war durch einen Willkürakt bloßgestellt, sein Vorgehen angeprangert. Die Dauersitzung der Philosophischen Klasse bescherte außerdem kostbare Varianten, die eine Abmilderung des peinlichen Themas erreichen sollten. Daß bei der Umformulierung der Fragestellung auch euphonische Rücksichten des breiten erörtert wurden, ist aus der vorzüglichen Dokumentierung der ganzen Episode ersichtlich. Ein Zettel ist erhalten, den während der Sitzung Beguelin seinem Nachbarn zuschob: „Was für eine vermaledeite Sprache ist die unsrige. Nachdem ich Sie, mein lieber Tischnachbar, verlassen hatte, sprach ich mir leise die von uns korrigierte Fragestellung vor und wurde dabei von der Wiederholung desselben Lautes betroffen: ,serait-il-utile'. Sehen Sie zu, ich beschwöre Sie, ob sich da nichts bessern läßt, mir fällt nichts ein, womit man dem Thema eine neue Form geben könnte."

Der also angeschriebene Sitzungsnachbar gab darauf die einzig mögliche Antwort: „Qu'importe?" Was soll das [vgl. EA, S. 686]? Die Klasse war aber nicht der Meinung, daß man den Einwand Beguelins bagatellisieren dürfe. Die Formulierung des Themas mußte auch einem durch Racines Verse verwöhnten Sprachgefühl einleuchten. In der Folge zeigte sich, wie richtig Sulzer die Lage beurteilt hatte. Wenn der König Wert darauf legte, daß sich die Akademie sein Thema zu eigen machte, so mußte er auf den Weg der Unterhandlungen eingehen. Und so geschah es. Der König hatte offenbar selbst seine diktatorische Anwandlung bereut, noch lange ehe ihm d'Alembert die Unmöglichkeit seines Vorgehens vor Augen hielt. Die achttägige Dauersitzung der Philosophischen Klasse trug ihre Früchte. Man einigte sich darauf, daß die alte Fragestellung nach dem „fundamentum virium" beizubehalten sei, daß aber die Akademie sich selbst für das neue Thema entscheide, wobei an der von der Klasse vorgeschlagenen Formulierung festgehalten wurde. Der Preis wurde also halbiert. Zugleich mußte eine Bremse gegen den Mißbrauch der Fragestellung von subversiver Seite eingebaut werden. Es wurde beschlossen, daß alle Einsendungen vom Wettbewerb auszuscheiden hätten, die eine Kritik an irgendeiner der bestehenden Regierungen enthielten. Merkwürdigerweise schließt für Friedrich wie auch für seine französischen Partner die ganze Angelegenheit mit der Vorgeschichte. Das Thema verschwindet in den mit d'Alembert und Condorcet bis zum Lebensende

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gewechselten Briefen. Es fehlt auch jeder Hinweis darauf, daß sich der König nach dem Ergebnis der so schwer durchzusetzenden Preisfrage erkundigt hätte. Das ist umso erstaunlicher, als der Erfolg in einer völlig überraschenden Weise den König und seinen Berater rechtfertigen sollte. Von allen Preisfragen des Jahrhunderts war diese, zu der sich die Akademie nur gezwungenermaßen bekannte, die populärste. Die Frage war wirklich fällig. Im ganzen erbringen die Einsendungen ein Zeugnis der geistigen Reife; die überwiegende Mehrzahl stammte, wenn auch französisch geschrieben, wolffianisch gedacht, aus dem geistigen Deutschland. Von den 42 Einsendungen entsprachen 33 den formellen Bedingungen und wurden zum Wettbewerb zugelassen. Auch das sachliche Ergebnis war überraschend. Nur 13 Autoren erklärten sich für die Zulässigkeit der Wahrheitsverschleierung; die große Mehrheit verneinte die Frage rundweg. Wie sollte nun aber das Preisgericht entscheiden? Die Akademiker ließen sich offenbar trotz des Publikumserfolges nicht davon überzeugen, daß eine solche die Politik berührende Fragestellung als nützlich gelten könne. Bei der Entscheidung war ihre ganze Sorge darauf gerichtet, die wirkliche Meinung des Gebieters zu ergründen. Die jahrzehntelange Regierung des Königs sprach nicht gerade dafür, daß er die Kabinettspolitik durch eine Politik der Offenherzigkeit ersetzt haben wollte. Auf der anderen Seite hatte Friedrich II. ja doch die Nützlichkeit seiner Fragestellung aufs stärkste hervorgehoben, und insofern das bürgerliche Selbstbewußtsein angesprochen werden sollte, war die Verneinung der Frage selbstverständlich. Wie ließ sich der Abgrund zwischen Ja und Nein überbrücken? Von neuem gab die Metaphysische Klasse ein unvergeßliches Beispiel ihres Witzes. Es wurde nämlich beschlossen, den schon geteilten Preis noch einmal zu unterteilen und das eine Viertel für eine bejahende, das andere für eine verneinende Antwort auszuschütten. So war die Quadratur des Zirkels gelöst, die Prämiierung der von Friedrich II. erwarteten Antwort gesichert. Die Haltung der Akademie muß in Wahrheit als eine Verewigung des Unverständnisses der wirklichen Gedanken Friedrichs II. angesehen werden. Der von seiner Seite unternommene Brückenschlag war viel zu gewaltsam, um die verscheuchten und verängstigten Geister zur Umkehr zu bewegen. Bis zum Lebensende hat sich der König nicht mehr um die Angelegenheiten der Berliner Akademie gekümmert. Die Gespenster der Metaphysik ließen sich ebensowenig vertreiben wie die übermütigen Geister der unentwegt vorwärtsschreitenden deutschen Literaturbewegung. Im übrigen sollte sich zeigen, wie richtig d'Alembert die tiefe Wirkung vorausgesehen hatte, die von einer solchen Fragestellung ausgehen mußte.

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Sowenig man bisher den Bestrebungen der Preußischen Akademie gerecht geworden war, sosehr überschätzte man jetzt die Institution, die als ein Vorposten aufklärerischer Meinungsbildung, so schien es, den Mut zu einer so brennenden Thematik aufgebracht hatte. Der Widerhall der Preisfrage von 1780 war vor allem in Frankreich unermeßlich. Sie beschäftigte einen Condorcet, einen Linguet, einen Brissot. Linguet und Brissot allerdings glaubten die viel diskutierte Frage als ein demagogisches Blendwerk entlarven zu müssen. „J'ai dit que la position du probleme etait trop vague", schreibt Brissot sieben Jahre vor Ausbruch der Revolution. „En effet, on n'y specific aucun cas, aucune opinion: on y demande en general s'il est utile au peuple d'etre trompe; mais est-ce en metaphysique, en religion, en morale, en politique, sur les arts?"13 Brissot meint weiter, wenn alle diese Probleme mit gebührlicher Ausführlichkeit behandelt würden, so wäre damit eine wahre Sintflut von Abhandlungen in jeglicher Gedankenrichtung entfesselt. Es ist klar, daß sich der ganze Einwand mit dem von den Aufklärern immer betonten Primat des politisch-gesellschaftlichen Faktors erledigt. Die Französische Revolution hat die Antwort der Aufklärung auf dieses viel erörterte Problem allen Einwendungen einer skeptischen Erkenntnistheorie zum Trotz für immer bestätigt und damit den Praktiken einer machiavellischen Geheimpolitik die Möglichkeit einer publizistischen Rechtfertigung genommen.

Anmerkungen 1 „Ein Souverän, dessen hohe Gewalt auf gediegener Grundlage beruht, muß mit aufgeklärten Menschen rechnen können: sie müssen entweder weise genug sein, eine legitime Gewalt über sich anzuerkennen, oder hinreichend politischen Verstand besitzen, um nicht ohne Nutzen und ohne Grund den Parteien die Hand zu geben. Wir leben heute in einem Staat und unter einer Regierung, wo man sich nicht mehr fürchten muß, uns die Augen zu öffnen." (Cartaud de La Villate, Essai historique et critique sur le goüt, Paris 1736, S. 226) 2 „...ob die Fürsten ihr Wort halten müssen". (Examen du „Prince" de Machiavel, Bd. II, La Haye 1741, S. 19) 3 „Verschlagenheit und Heuchelei sitzen also umsonst auf den Lippen des (Machiavellischen — W. K.) Fürsten. Seine listigen Reden und Handlungen werden ihm keinen Nutzen bringen. Man beurteilt die Menschen nicht nach ihren Worten. Das wäre das sicherste Mittel, sich immer zu täuschen. In Wahrheit vergleicht man all ihre Handlungen miteinander und dann erst ihre Handlungen mit ihren Worten. Vor einer solchen pausenlos angestellten Beobachtung wird Lug und Trug sich niemals behaupten können." (Ebenda, S. 22 f.) 4 „Ich bin nicht genug im Bilde über die deutsche Literatur, um mir ein Urteil darüber zu bilden, ob die Vorwürfe, die Ew. Majestät (den deutschen Schriftstellern — W. K.) macht, so wohl begründet sind, wie es den Anschein hat ... Man sagt, daß die Deutschen sich

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beklagen, daß sie mit zuviel Strenge beurteilt wurden; das scheint mir auch ganz natürlich, obgleich damit noch nicht bewiesen ist, daß sie im Recht sind." (CEuvres de Frederic le Grand, Bd. XXV, Berlin 1854, S. 173) „Es würde sich durchaus verlohnen, die Frage, ob es möglich ist, daß das Volk sich freihält von aller Mythenbildung, einer Akademie wie der Eurer Majestät vorzulegen. Ich meinerseits stehe auf dem Standpunkt, daß man den Menschen immer die Wahrheit sagen muß und daß mit Betrug niemals ein wirklicher Vorteil erreicht wird. Die Berliner Akademie würde sich mit einem solchen Thema für die Preisfrage in Metaphysik viel Ehre erweisen und damit ihre Überlegenheit über andere kulturelle Körperschaften beweisen, die noch immer allzu viele Vorurteile hegen." (Brief d'Alemberts vom 18. XII. 1769 an Friedrich II., ebenda, Bd. XXIV, S. 467) „Die Frage, die Sie unserer Akademie vorschlagen, ist höchst philosophisch. Sie meinen, wir sollten die Natur und die Eigenschaften des menschlichen Geistes untersuchen, um herauszubekommen, ob der Mensch mehr dem Verstand oder mehr seiner Einbildung folgt. Nach meiner unmaßgeblichen Erfahrung würde ich der Einbildung den Vorrang geben, weil ein auf Wundern beruhendes System verlockend ist und weil der Mensch im allgemeinen vernünftiger redet, als er ist." (Ebenda, S. 470) Ebenda, S. 472. Vgl. Joseph de La Porte, Ressources contre l'ennui, La Haye 1766. „Ihr Held Fontenelle war in große Gefahr geraten wegen seines Buches über die Orakel ... und wenn er sagte, daß er die Hand nicht öffnen würde, auch wenn er sie voller Wahrheiten hätte, so sagte er dies, weil er selbst die Hand geöffnet und sich dabei die Finger verbrannt hatte. Indessen gewinnt die so verfolgte Vernunft alle Tage an Boden." (Brief Voltaires an Helvetius vom 15. IX. 1763, CEuvres de Voltaire, hg. von Beuchot, Bd. LXI, Paris 1832, S. 149) „Mit welcher Umsicht muß man nicht die Wahrheit sehen lassen, wenn man verhindern will, daß sie entwürdigt und verworfen wird!" (Gabriel Bonnot de Mably, CEuvres posthumes, Bd. I, Paris 1798, S. 331) „Warum wollte Fontenelle, wenn ihm alle Wahrheiten in die Hände fielen, sie doch nicht sehen lassen? Darum, weil Fontenelle fürchten mußte, für närrisch erklärt zu werden. Jede neue Wahrheit gleicht einem Botschafter bei noch unzivilisierten Völkern, bei denen er sich nur durch alle möglichen Umschweife, Verhandlungen und Kompromisse einführen kann." ([Pierre-Edouard Lemontay,] Raison, folie, chacun son mot, Paris 1801, S. 152 f.) „In der ganzen Natur beobachtet man Wirkungen, die auf Kräfte schließen lassen. Indessen müssen diese Kräfte, um wirken zu können, bestimmt sein; dies setzt voraus, daß es etwas Wirkliches und Dauerndes gibt, das man als ursprüngliche und wesenhafte Kraft bezeichnen kann. Die Akademie stellt daher folgende Frage: Was ist das auszeichnende Merkmal dieser ursprünglichen und wesenhaften Kraft, die, wenn sie bestimmt ist, Wirkungen ausübt? Oder anders gefragt: Was ist das ,fundamentum virium'?" (Jean-HenriSamuel Formey, Souvenirs d'un citoyen, Bd. II, Berlin 1789, S. 366 f.) „Ich habe gesagt, daß die Problemstellung zu vage war. In der Tat, ein bestimmter Fall, eine bestimmte Meinung wird darin nicht spezifiziert: man stellt die allgemeine Frage, ob es dem Volke von Nutzen sei, getäuscht zu werden; aber worin denn? In der Metaphysik, in der Religion, in der Moral, in der Politik oder in den Künsten?" (Jacques-Pierre Brissot de Warville, De la verite, ou Meditations sur les moyens de parvenir a la verite, Neuchätel 1782, S. 268)

Ein Akademiesekretär vor 200 Jahren: Samuel Formey

Der Name Samuel Formey1, dessen 250} ähriger Geburtstag am 31. Mai 1961 zu feiern war, bleibt unauflöslich mit dem glanzvollsten Abschnitt in der Geschichte unserer Akademie verbunden. Ein halbes Jahrhundert lang — zwischen 1748 und 1797 — war Formey in der Dauerstellung eines „secretaire perpetuel" an allen wichtigen Beratungen und Entscheidungen maßgeblich beteiligt. Mit dem wachsenden Ansehen der von Friedrich II. nach seiner Thronbesteigung neugegründeten Akademie hing zweifellos auch der schnelle Aufstieg Samuel Formeys zur europäischen Berühmtheit zusammen. Das Prestige der hohen Körperschaft kam vor allem ihrem ersten Funktionär zugute. Für den Posten eines federführenden Sekretärs war Formey wie kein zweiter berufen. Seine vielfältigen Gäben konnten dabei zum Nutzen der großen Sache spielen: die nie erlahmende Arbeitskraft und ein rasch durchdringendes Auffassungsvermögen, die Kunst der schlagfertigen Formulierung und eines lebendigen Vortrags, der die Leser auch mit der sprödesten Materie zu fesseln vermochte — dazu ein nie versagendes Personengedächtnis und der wahrhaft enzyklopädische Zug eines beständig von neuer Erfahrung bereicherten Wissens. Mit solchen Fähigkeiten wurde Formey zugleich zu einem der brillantesten und einflußreichsten Exponenten des wissenschaftlichen Journalismus. Die Meisterung der mannigfachen Formen der Publizistik erlaubte ihm, die Werbung für die Preußische Akademie mit weltweiter Wirkung zu betreiben.2 Formey ist 1711 in Berlin geboren. Schon sein Vater, den die brutale Hugenottenverfolgung aus der Champagne vertrieben hatte, war im preußischen Hofdienst ergraut. Für Samuel Formeys Generation — die zweite des preußischen Refuge — war nicht nur Loyalität gegenüber dem Gastland

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Ein Akademiesekretär vor 200 Jahren: Samuel Formey

Ehrensache, sondern das Bekenntnis zur neuen Heimat war schon zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die hugenottische Emigration hatte in Preußen einen anderen Charakter als etwa in Holland. Während die Flüchtlinge hier ganz einfach das Asylrecht in Anspruch nahmen, waren sie in Preußen dem ausdrücklichen Ruf der kurfürstlichen Regierung gefolgt. Die Bindung an das Gastland schloß von vornherein den Gedanken an die Rückkehr in ein verändertes Frankreich aus. Anders das Verhalten der in die Niederlande geflüchteten Hugenotten! Die Uneinigkeit im holländischen Refuge betraf nur die Methode der in Geduld zu erhoffenden oder der mit Gewalt zu erzwingenden Heimkehr ins Mutterland. Auch die Soldaten Wilhelms von Oranien, die sich am offenen Kampf gegen Ludwig XIV. beteiligten, kämpften für ein besseres Frankreich. Dagegen war es klar, daß die vom Großen Kurfürsten geheuerten hugenottischen Truppenteile für Preußen und nicht für Frankreich kämpften. Das Verhältnis des preußischen Refuge zur neuen Heimat wird von Erich Haase folgendermaßen bezeichnet: „Zahlreiche Flüchtlinge waren in die Pfalz gekommen, um 1688 durch den Krieg erneut weitergetrieben zu werden. Ein großer Teil wandte sich nach Norden, vor allem nach Berlin, und schloß sich der dort schon bestehenden französischen Kolonie an. Schon wenige Wochen nach der Revokation hatte der Berliner Hof erklärt, all denjenigen Schutz gewähren zu wollen, welche von der Verfolgung betroffen waren. Und als der französische Gesandte in Berlin deswegen Einspruch erhob, entgegnete ihm Friedrich Wilhelm, daß er sich nicht hindern lasse, ebenso eifrig für seine Religion zu arbeiten wie der französische König für die katholische. Von den Wirren des Dreißigjährigen Krieges war das Land Brandenburg besonders stark betroffen worden. Die Kolonisierungspolitik des Großen Kurfürsten hatte schon viele Einwanderer angezogen und konnte auch die eintreffenden Refugies nur willkommen heißen. Sie fanden nicht nur als Industrielle und Handwerker Verwendung, sondern traten auch bald in die Dienste des Heeres und der Diplomatie. Ihre Ehrlichkeit und Treue wurden sprichwörtlich. Die Kurfürstin glaubte, dem aus Sedan geflüchteten Pierre Fromery ohne weiteres ihren wertvollsten Schmuck zu einer Reparatur anvertrauen zu können, da er ,doch ein Refugie war'. Die französischen Emigranten kamen auch den Absichten des Kurfürsten entgegen, das geistige Leben in den brandenburgischen Gebieten zu fördern: sie sollten später maßgeblichen Anteil an der 1700 gegründeten Preußischen Akademie nehmen. Die vielleicht wichtigste Bedeutung jedoch gewannen die zu Tausenden zählenden Offiziere und Soldaten, die Friedrich Wilhelm aus den Flüchtlingen gewann: sie stellten gleichsam den Kader für die spätere preußische Armee. Es fehlte nicht an Versuchen, die Disziplin des hugenottischen Soldatentums als mitbestimmende Ursache für den ,preußischen Geist' darzustellen und damit den Typus der preußischen Armee mit dem der reformierten Kirche Frankreichs in Verbindung zu bringen."3

Die erfolgreiche Assimilierung an die deutschen Verhältnisse war natürlich die Grundvoraussetzung für die überragende Rolle, die den aus Frank-

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reich Ausgewanderten im geistigen Leben Berlins während der ersten Jahrhunderthälfte zufiel.4 Samuel Formey war in Preußen als Preuße geboren. Das Gefühl der Zugehörigkeit zur neuen Heimat wurde durch seinen Bildungsgang gefestigt, der zugleich auch seine Stellung in der deutschen Geisteswelt des 18. Jahrhunderts bestimmte. Seine theologischen Lehrer, La Croze und Beausobre, waren beide zweifellos durch die mächtige Wirkung Gottfried Arnolds in ihrem Interesse an der Geschichte der christlichen Abweichungen bestärkt worden. Für den jungen Theologen Formey wird aber bei seinem Studium die Berührung mit dem systematischen Philosophieren Christian Wolffs zum wegweisenden und verpflichtenden Erlebnis. Der Wolffianismus Formeys war wohl eklektisch, aber keineswegs unkritisch. Die von Wolff vorgenommene Übertragung des Kriteriums der mathematischen Gewißheit auf alle möglichen außermathematischen Gebiete wird beispielsweise von Formey verworfen. Dennoch zählt er zu den in vorderster Linie kämpfenden Adepten des Wolffianismus. Die französische Aufklärung verdankt die Kenntnis dieses Systems im wesentlichen der Vermittlung Formeys. Dem Zweck der Werbung des Wolffianismus diente schon sein erstes und vielleicht bedeutendstes Buch — unter dem skurrilen Titel „La belle Wolffienne" 1741 ff. erschienen. In mondänen Zwiegesprächen wird die Wölfische Philosophie dem schönen Geschlecht nahegebracht, wie es Fontenelle sechzig Jahre zuvor mit der Cartesianischen Physik versucht hatte („Entretiens sur la pluralite des mondes"). Dahinter steckt sehr viel mehr als irgendein modischer Schnickschnack: das beständige Streben der Aufklärung nach einer Ausdehnung ihrer Wirkung im Raum der Gesellschaft. Daher die systematische Verflüssigung der Ausdrucksmittel, die zugleich ein erneutes Durchdenken der neu zu formulierenden Materie erheischte. Unterdessen hatte Formeys Laufbahn in Brandenburg begonnen, wo er als Pastor der französischen Kolonie wirkte. 1739 wurde er in derselben Stellung nach Berlin gerufen. Das Übergewicht seiner philosophischen Interessen ließ ihn jedoch nach einem anderen Beruf Ausschau halten. Seit 1748 bekleidete er die Stelle des ersten und einzigen Akademiesekretärs. Er übernahm die Verpflichtung, deutsch oder lateinisch abgefaßte wissenschaftliche Referate für die Sammelbände der Akademie zu übersetzen, die Lebensgeschichte und Rühmung der verstorbenen Akademiker zu verfassen und eine Geschichte der gelehrten Institution von ihren Leibnizschen Anfängen her zu entwerfen. Allein schon mit der Erfüllung dieser Obliegenheiten, die nur einen unbeträchtlichen Teil von Formeys unermeßlicher Arbeitskraft in Anspruch nahmen, war ein nicht mehr zu missender Beitrag für die Wissenschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts gesichert.

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Im Verfolg dieser und anderer Arbeiten hatte der Gedanke einer enzyklopädischen Zusammenfassung der wissenschaftlichen Errungenschaften von Formey Besitz ergriffen, noch ehe d'Alembert und Diderot mit ihrem Plan vor die Öffentlichkeit traten. Formey begriff den Vorzug einer kollektiven Arbeit, und er überließ seine schon ausgearbeiteten Artikel den Franzosen zum erstmaligen Abdruck. Aus dem umfangreichen Manuskript, das die beiden Herausgeber der „Enzyklopädie" schon 1747 von Formey erworben hatten, wurden 81 Artikel — meist philosophischen oder theologischen Inhalts — übernommen. Im „Discours preliminaire" wird diese Mitarbeit besonders hervorgehoben. Vor allem wird Formey bescheinigt, daß er gleichzeitig mit den Franzosen, aber unabhängig von ihnen auf den Gedanken einer lexikalischen Darstellung des Wissens und der Wissenschaften gekommen wäre. In der Tat war Formey nicht nur der älteste Mitarbeiter, sondern auch in späteren Jahren ein glühender Bewunderer des von d'Alembert und Diderot ins Leben gerufenen Unternehmens. Das positive Verhältnis zur „Enzyklopädie" (das Formey auch auf das von klerikaler Seite so hart angefochtene „Journal encyclopedique" übertrug) kann wohl als Prüfstein für Formeys inneres Verhältnis zur Aufklärung gelten. Wenn Formey als Schriftsteller, als Akademiker und als Journalist seine lebhafte Anteilnahme an den Grundbestrebungen der Aufklärung keinen Augenblick verleugnete, so mußte ihn das unentwegte Bekenntnis zum Offenbarungsglauben in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu der Weltanschauung der französischen Enzyklopädisten, zu Voltaire und zu dem in Sanssouci höfisch gewordenen Voltairianismus versetzen. Dieser Gegensatz tritt schon in Formeys theologischen Beiträgen zur „Enzyklopädie" mit unverhüllter Schärfe in Erscheinung. Die hier vertretene Orthodoxie konnte Katholiken und Protestanten gleichermaßen überzeugen — nicht aber die Vorhut des aufgeklärten Wissens, die sich durch manche Einzelheit in Formeys Artikeln herausgefordert fühlen mochte. Formey will beispielsweise die zeitliche Priorität und die Vorbildwirkung des mosaischen Glaubens auch gegenüber der altchinesischen Kultur aufrechterhalten, obwohl schon Jahrzehnte zuvor durch Freret die Unhaltbarkeit der biblischen Chronologie und der epigonenhafte Charakter der jüdischen Geschichte und der mosaischen Religion unwiderleglich nachgewiesen worden war. Es handelt sich nicht um einen vereinzelten Rückfall in die Gedankenwelt Bossuets; vielmehr wird in allen theologischen Artikeln Formeys der Standpunkt des Offenbarungsglaubens mit nicht zu überhörendem Nachdruck vertreten. Und in eben dieser Tendenz lag der Wert, den d'Alembert und Diderot dem Beitrag Formeys zuerkannten: er war als Blickfang für die Zensoren

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vorzüglich geeignet. Die Eingeweihten mochten diesen Text als Spiegelschrift verstehen, die durch den Kontext der benachbarten mehr oder weniger offen redenden Stellen leicht zu entziffern wäre. Wirkte nicht gerade in solcher Umgebung das atavistische Bekenntnis zum Kinderglauben wie ein gewollter Sarkasmus? Indes lag Formey nichts ferner als eine so zweideutige Nebenabsicht. Ihm war vor allem darum zu tun, sich auf den Schnittpunkt der philosophischen Aufklärung und der Offenbarung zu stellen. Sein theologischer Beitrag muß daher zusammen mit dem philosophischen gewürdigt werden. Mochte ihn der Gedanke mit Genugtuung erfüllen, daß es ihm gelungen war, in dieses Bollwerk des Atheismus das Trojanische Pferd seines Christenglaubens einzuschmuggeln — entscheidend war für ihn, daß allein die Bejahung der religiösen Verheißung den maximalen Sinn der Aufklärung erfüllen konnte. Es wurde schon erwähnt, daß Formey sein positives Verhältnis zur „Enzyklopädie" auch auf das zuerst in Lüttich und dann in Bouillon erscheinende „Journal encyclopedique" übertrug. Der Besitzer und Hauptredakteur der Zeitschrift, Pierre Rousseau, hielt Formey ohne weiteres für einen Gesinnungsgenossen, dem er am liebsten den ganzen deutschen Teil seiner Zeitschrift anvertraut hätte. Im Laufe der Zeit ließen sich aber die Gegensätze zwischen den beiden Journalisten nicht mehr vertuschen. Pierre Rousseau verstand nicht, wie Formey sein immerwährendes Eintreten für die „Enzyklopädie" mit seiner Kriegserklärung an Voltaire und an die Enzyklopädisten vereinbaren konnte. So schrieb Rousseau am 18. Februar 1761 nach Berlin: „... mais vous, Monsieur, qui pensez si bien et qui avez mis des pierres a cet edifice, je suis surpris que vous vous eleviez quelquefois contre eux ... vous n'aimez point Voltaire; cependant convenez que c'est un beau genie, et qu'il est plus charmant qu'il ne l'a jamais ete. Vous ne lui faites pas la moindre grace: je vous demande quartier pour lui: il cherche ä aneantir vos ennemis et les miens ..."

Auf denselben Ton ist das Schreiben vom 30. April 1761 gestimmt: „Je puis etre excessif dans les louanges que je donne ä M. de Voltaire: mais vous ignorez, Monsieur, les grandes obligations que je lui ai: d'ailleurs je le loue comme un homme de genie, et non comme chretien: le tort qu'il a pu faire ä la religion, il le desavoue: au reste je serais au desespoir de rien dire qui peut donner une mauvaise idee de ma maniere de penser ..."

Das Bündnis mit Formey liegt für Pierre Rousseau auf dem Knotenpunkt der deutschen und der französischen Aufklärung. Sehr bezeichnend sind die

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folgenden Zeilen aus einem Brief vom 1. Oktober 1758: „... je vous prie de mettre dans notre parti ceux qui sont lies avec vous: il faut faire ligue offensive et defensive."5 Der Geisteszustand der deutschen und der französischen Aufklärung war zu verschiedenartig, um ein die Grenzen der beiden Nationen übergreifendes Einvernehmen möglich zu machen. In seiner Auseinandersetzung mit einzelnen Enzyklopädisten, mit Diderot und Rousseau vor allem, versuchte Formey die christliche Korrektur auf dem von diesen Denkern gewählten Boden vorzunehmen. So entstanden als Gegenstück zu Diderots „Pensees philosophiques" Formeys „Pensees raisonnables" (1749) und zum maßlosen Ärger Rousseaus ein „Emile chretien" (1764). Sosehr wir berechtigt sind, in dieser Polemik das reaktionäre Unverständnis einer weit über Formeys Denkmöglichkeit fortgeschrittenen Position zu tadeln, so darf man keinen Augenblick übersehen, daß Formey sich nicht nur als Wortführer der wolffianischen Mehrheit der Preußischen Akademie ansehen konnte, sondern daß seine Gedankengänge in grosso modo mit den Gedanken der gesamten deutschen Aufklärung zusammenfielen.6 Das gilt vor allem für Formeys Auseinandersetzung mit der voltairianischen Philosophie des preußischen Königs. Es ist klar, daß diese Polemik die Lebenslinie Formeys viel unmittelbarer als alles andere berührte und daß der hier ausgetragene Widerstreit der Weltanschauungen etwas völlig anderes bedeutet als etwa der Antagonismus zwischen klerikaler Reaktion und dem zur Aufklärung fortgeschrittenen Absolutismus. Nach der Darstellung Harnacks hätte freilich der weltanschauliche Gegensatz in dem Verhältnis zwischen dem königlichen Schirmherrn der Akademie und ihrem lebenslänglichen Sekretär keine ausschlaggebende Rolle gespielt. Für den Chronisten unserer Akademie war es die Erkenntnis der geistigen Unzulänglichkeiten Formeys, die Friedrich II. zur äußersten Reserve veranlaßt hätte. Es ist richtig, daß der König seinen Akademiesekretär erst dreißig Jahre nach seinem Dienstantritt persönlich kennenlernte. Die Frage ist nur, ob sich für diese ungewöhnliche Zurückhaltung keine andere Erklärung bietet. Wir glauben, sie in zwei von Voltaire an Formey gerichteten Briefen zu finden. Das erste Billett, im Februar 1751 im Auftrag des Königs geschrieben, ist eine Einladung nach Sanssouci, die Formey abschlägig bescheidet. Schon nach einem Monat erneuert der König, denselben Vermittler benutzend, seinen Versuch, den Akademiesekretär in seinen vertrauten Kreis einzuführen, und wieder ist es Formey, der eine Abhaltung vorschützt. Es konnte sich nur um einen Vorwand handeln, denn welche stichhaltige Abhaltung konnte es für einen Untertanen geben, der einer Ein-

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ladung seines Königs folgen wollte? Höchstwahrscheinlich scheute Formey die in Sanssouci unvermeidliche Begegnung mit La Mettrie, der sich bis zu seinem Tode am Hof der allerhöchsten Gunst erfreute. La Mettrie hatte keine Gelegenheit versäumt, Formey als klerikalen Intriganten bei seinem König anzuschwärzen. Allerdings hatte ihm Formey auch Grund zu dieser Feindschaft gegeben, und zwar durch niederziehende Rezensionen seiner Werke, die in der von Formey kontrollierten Presse der Reihe nach durchgehechelt wurden. Formey hatte geglaubt, im Interesse der Akademie zu handeln, wenn er von dem übel beleumundeten Materialisten in aller Öffentlichkeit eine solche Distanzierung vornahm. Daß die Angriffe auf La Mettrie letzten Endes auf den König selbst zurückfallen mußten, konnte Formey in seiner Stellungnahme nicht wissen. Das Verhältnis zwischen dem Schutzherrn und dem Sekretär der Akademie wurde durch unausbleibliche Zwischenfälle immer mehr vergiftet. 1760 war unter dem respektlosen Titel „Anti-Sans-Souci" eine Invektive gegen die philosophische Freigeisterei am preußischen Hof erschienen. Der anonyme Verfasser oder sein Verleger glaubten die Zugkraft des Werkes zu steigern, wenn sie das Elaborat dem Akademiesekretär in die Schuhe schöben.7 Friedrich II. war durch d'Argens über das Erscheinen der Invektive aufgeklärt worden. Wir wissen nicht, ob er Formey tatsächlich für den Schuldigen hielt. Jedenfalls war sein Mißtrauen geweckt. 1771 kam es zu einem neuen Zwischenfall, bei dem der König keinerlei Hehl aus seinen Gefühlen machte. Unter dem Titel „Confession d'un incredule" war in diesem Jahr ein apologetischer Appell an die Freigeister erschienen und dem König in die Hände gefallen. Diesmal hielt Friedrich die Autorschaft Formeys für erwiesen.8 In einem Gedicht an d'Alembert beschwerte er sich über den Verrat des Akademiesekretärs, der unter dem Mantel der Toleranz der fanatischen Priesterreligion zur Herrschaft verhelfen wollte. Der König hatte sich diesmal nicht nur mit seinem maßlosen Ton, sondern mit der so unglaubwürdigen Beschuldigung offenkundig ins Unrecht gesetzt. Zu seinem Glück haben seine Verse nicht, wie es sonst vorkam, den Weg aus der Privatkorrespondenz in die Öffentlichkeit gefunden. In jenen Jahren hatte sich der längst zu erwartende weltanschauliche Umschwung in Sanssouci vollzogen. In den neuesten Schriften der immer radikaler sich äußernden französischen Aufklärung, besonders im „Essai sur les prejuges" und im „Systeme de la nature" 9 , wurde zum erstenmal nicht nur den Priestern, sondern mehr noch den Fürsten am Zeug geflickt. Das Motiv des Bündnisses von Thron und Altar zur Niederhaltung der Untertanen war nie zuvor in dieser Breite entwickelt worden.10 Friedrich II.

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begriff, daß hier politische und gesellschaftliche Konsequenzen gezogen wurden, die seinen fürstlichen Interessen schnurstracks zuwiderliefen. Die Entdeckung der inneren Widersprüche, in die er sich verwickelt hatte, läßt sich aus all den Unmutsäußerungen jener Jahre heraushören. Der Kampf mit dem Atheismus sollte keinesfalls den Eindruck einer Annäherung an den Standpunkt Formeys erregen. Daß sich die Akademie auf die Zustimmung der überwältigenden Mehrheit der aufgeklärten Deutschen stützen konnte, 11 war für Friedrich alles andere als eine Empfehlung. Dennoch konnte der König nicht verhindern, daß sich die Akademie dadurch bestätigt fühlte. Der Beweis ihres gewachsenen Selbstvertrauens wurde bald geliefert. Nachdem der König seinen Standpunkt zum „Essai sur les prejuges" und zum „Systeme de la nature" deutlich gemacht hatte, hielt Formey die Gelegenheit für gekommen, die Akademie zu einem Schritt zu drängen, der ihre moralische Autorität im Ausland und in Deutschland befestigen sollte. Die Akademie hatte sich in der philosophischen Auseinandersetzung noch nicht zu Wort gemeldet, über die wirkliche Meinung der wolffianisch gebliebenen Mehrheit konnte es keinen Zweifel geben. Indessen war die Zeit für ein verbindliches Bekenntnis herangereift. Ein führendes Mitglied, der Italiener Castillon, konnte nunmehr seine Betrachtungen über das Corpus delicti, das „Systeme de la nature", vorlegen. Die Annahme liegt auf der Hand, daß Castillon sich von vornherein des Consensus der Akademie versichert hatte, wenn er nicht gar in ihrem Auftrag in den Kampf trat. Die Polemik war in maßvollem Ton gehalten; das Christentum wurde nur als der maximale Ausdruck der natürlichen Religion, nicht aber als Offenbarung verteidigt. Die Diskussion mit dem unbekannten Verfasser der befehdeten Schrift wurde offen gehalten und dem Publikum eine integrale Veröffentlichung des „Systeme de la nature" in Aussicht gestellt. Das Buch konnte jedenfalls als ein Modell einer streng sachlich geführten Polemik gelten. Vermutlich hatte Formey bei der Philosophischen Klasse den Antrag gestellt, dem Werk von Castillon eine Empfehlung mitzugeben. Die Ausführung dieses Beschlusses war jedenfalls ein unerhörtes Novum in der bisherigen Akademiegeschichte.12 Die Behauptung, daß nur ein weltanschaulicher Neutralismus die Freiheit der Wissenschaft sichern könne, war damit offenkundig widerlegt. Hatte die Akademie in ihren Preisaufgaben die wissenschaftlich gültigen Fragestellungen über alle Gebiete verantwortet, so war es nur konsequent, daß sie auch mit ihrer philosophischen Grundposition hervortrat. Zu Unrecht bezweifelt Harnack, daß sich die Akademie ohne

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Anweisung des Königs zu einer so provokatorischen Entscheidung hätte hinreißen lassen. Was Friedrich II. gegen Holbach und seinen Kreis auf dem Herzen hatte, kommt in der Polemik Castillons überhaupt nicht zum Ausdruck. Castillon beschränkt sich auf die Verteidigung des philosophischen Dualismus und der Religion; dagegen läßt er Holbachs Angriffe auf die fürstlichen Regierungen und auf die alte Gesellschaft auf sich beruhen. Das spezielle Interesse des Königs an einer Widerlegung der antiautoritären Stellen war also in dieser Entgegnung überhaupt nicht berücksichtigt worden. Ob Friedrich nun über dieses Vorgehen erbaut war oder nicht, die Akademie hat damit den Beweis erbracht, daß sie befähigt und gewillt war, in den großen weltanschaulichen Auseinandersetzungen eine für das aufgeklärte Deutschland verbindliche Stellung zu beziehen. Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Friedrich II. und Formey war damit noch nicht beendet. Entscheidend war, daß endlich eine persönliche Begegnung beider stattfand. Der König hatte es 1780 schließlich über sich vermocht, die Repräsentanten seiner Akademie zu einer persönlichen Unterhaltung zu bitten. Darunter befand sich natürlich der Akademiesekretär, der auch als erster ins Gespräch gezogen wurde. Dabei kam es zu einer lebhaften Diskussion, in der die alte Fehde wieder aufflammte. Aus Friedrichs Bericht an d'Alembert geht eindeutig hervor, daß nicht der König, sondern Formey das Streitbeil als erster wieder ausgegraben hatte. Das Schreiben Friedrichs besagt darüber: „Nous avons savamment et profondement discute ä ma grande edification les matieres les plus graves, dont notre secretaire perpetuel nous a voulu convaincre." Der Bürgerstolz verfehlte den Eindruck auf den Fürstenthron nicht. Formey hätte allerdings wissen müssen, daß man dem König nicht ungestraft widersprechen konnte. Das zeigte sich, als bald darauf die Stelle eines Direktors der Philosophischen Klasse zu besetzen war und Formey für die Nachfolge nominiert wurde. Der König lehnte den Vorschlag brüsk ab. Formey ist für ihn jetzt wieder nichts anderes als ein Priester, in dessen Händen die Philosophie nicht gedeihen würde. Der König hatte mit diesem Bescheid noch einmal — das letzte Mal vor seinem Tod — die Tür ins Schloß geworfen. Unter dem neuen Regime wurde Formey endlich zum Vorsitz der Philosophischen Klasse berufen. Die Ernennung war nicht etwa das Werk der später unter Friedrich Wilhelm II. zur Herrschaft gelangten klerikalen Kreise, sondern sie kam unter Hertzbergs maßgebendem Einfluß zustande. Das Leben Samuel Formeys dauerte, in unverminderter Aktivität und Geistesschärfe, bis 1797. Bei seinem Tod stellte sich heraus, daß er mit unge-

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fähr fünfzig in- und ausländischen Verlegern laufende Geschäftsbeziehungen unterhalten hatte. Sein gedrucktes Werk umfaßte 600 Titel. In etwa 40 000 eigenhändigen Briefen hatte Formey ein weltweites System der intellektuellen Verständigung aufrechterhalten. Formey war alles andere als ein Opportunist. Er war eine Kampfnatur. Und sein Kampf wurde ehrlich und mit innerster Überzeugung geführt. Aber damit ist über die Natur dieses Kampfes noch keine Klarheit gewonnen. Die Frage, die wir, Formeys Lebensweg und Kämpfe begleitend, immer wieder zu stellen hatten, kann nur durch eine unzweideutige Bewertung des geschichtlichen Vorzeichens dieser Kämpfe entschieden werden. Es ist nicht zu leugnen, daß Formey sich zeitlebens in einen Widerstreit mit einer weit fortgeschritteneren Weltanschauung gerissen sah. Tatsächlich ist Formey in seinem Kampf mit den großen französischen Aufklärern in nichts von den Pygmäen zu unterscheiden, die das Ancien regime in der Stunde seiner Verzweiflung zu apologetischen Rettungsversuchen aufgeboten hatte. Dagegen steht der Dauerstreit Formeys mit seinem Landesvater auf einem anderen Blatt. In Sanssouci hatte die französische Aufklärung wohl mancherlei Gastspiele gegeben, doch war ihr hier jede Resonanz auf die umgebende deutsche Welt verwehrt geblieben. Was Friedrich II. als Privatperson dachte, ist geschichtlich irrelevant; auch seine fortgeschrittensten Gedanken konnten noch keine Aufklärung bilden. Als Herrscher aber verstand sich Friedrich nur auf eine einzige Sprache, die sich der Aufklärung feindlich entgegenstellte. Wenn andererseits Formey sich mit der ungeheuren Mehrheit der aufgeklärten Deutschen solidarisch machte, so vertrat er die einzig legitime und in die Zukunft weisende Anschauung. Der Kontakt mit der deutschen Wirklichkeit wurde unter Formeys Führung von der Preußischen Akademie systematisch aufgenommen. Und dieser Kontakt war wohl eine Messe wert. Um das deutsche Bürgertum aus seiner passiven und rückständigen Haltung herauszulocken, mußte man die seiner Lage angemessene Sprache finden. Eine weltanschauliche Infiltration hatte nur den Wert, den sie für die Solidarisierung der für den Kampf bestimmten Klasse besaß. Nicht immer liegt der Fortschritt bei der fortgeschritteneren Weltanschauung. Nicht immer ist die Reaktion auf der Seite derer, die lieber weltanschauliche als politische Kompromisse eingehen. Die Dialektik der Geschichte ist keine Kasuistik, die unter bestimmten Konstellationen bestimmte Entscheidungen und Ergebnisse ein für allemal gewährleisten könnte. Sie straft alle Versuchung zum Stillstand Lügen und setzt sich über alle Bemühungen hinweg, die Beruhigung in der Wiederkehr des Immerwährenden zu suchen.

Anmerkungen

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Anmerkungen 1 Eine ausführliche Monographie über Formey fehlt. Die ältere Literatur findet sich bei Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. I, Berlin 1900, S. 447, Anm. 1. Dazu die betreffenden Abschnitte bei Denina, Haag und Sayous, Le dix-huitieme siecle ä Petranger, Bd. II, S. 318 ff. — In Harnacks noch heute unentbehrlicher, auf hohem Niveau gehaltener Darstellung ist die voreingenommene Beurteilung Formeys zweifellos ein besonderer Schwächepunkt. Es fehlt nicht an sachlichen Irrtümern (so wird zum Beispiel der aus der Champagne stammende Formey als Gascogner bezeichnet). Der nicht wegzustreitende Gedankenreichtum in Formeys Werken wird damit „erklärt", daß „Formey sich einer Sprache bediente, die für ihn dachte und seinen Produktionen Eigenschaften verlieh, die der Autor nicht besaß" (S. 450). Die Fähigkeit der historischen Einfühlung hat Harnack nicht vor anachronistischen Motivierungen bewahrt. So heißt es zum Beispiel S. 357: „Wie bitter mußte es der Mehrzahl der Akademiker sein, wenn ihnen jetzt wieder — nach einem siegreichen Krieg über die Franzosen — ein Franzose als Präsident gegeben wurde!" Wenn Harnacks Darstellung einen Tiefpunkt in der Wertung Formeys erreicht, so ist in den meisten neueren Formeys gedenkenden Werken die Tendenz einer höheren Einschätzung zu spüren. Wir nennen hier nur W. H. Barber, Leibniz in France, Oxford 1955, S. 131 ff.; E. Marcu, Un encyclopediste oublie, in: Revue d'histoire litteraire de la France, 1953, S. 290 ff., und besonders J. Voisine, J. (sie!) Formey, in: Melanges d'histoire litteraire offerts ä Daniel Mornet, Paris 1951, S. 141 ff. 2 Fast alle Zeitgenossen, so vor allem Voltaire, sahen die Hauptbegabung Formeys in seinem Journalismus. Führend war er an der „Nouvelle bibliotheque germanique" und ebenso an der in Leiden zwischen 1750 und 1758 erschienenen „Bibliotheque impartiale" beteiligt. Es handelt sich dabei um eine ganz besonders aufgeschlossene Zeitschrift, die beispielsweise für Morelly eintrat. Die außerordentlich hohe Wertung der Journalistik spricht auch aus den Eingangsworten Formeys zu der neugegründeten „Bibliotheque impartiale". „Malgra ce prejuge, un bon journaliste vaut mieux ä bien des egards qu'un grand nombre d'auteurs. Aussi les illustres ecrivains ont-ils etc soigneux d'augmenter leur reputation par cet endroit. Les journaux de Mrs. Bayle, Le Clerc, La Chapelle, ne sont pas les moindres materiaux de l'edifice de leur reputation. Et sans doute approuver dans ceux de l'abbe Desfontaines, cet epouvantail dont la mort a delivre les auteurs, on ne saurait nier que leur lecture ne soit plus agreable, et n'apporte meme plus de fruit que celle de plusieurs gros volumes, sur lesquels maints savants ont päli." (Bibliotheque impartiale, Leyde 1750, Preface) 3 Erich Haase, Einführung in die Literatur des Refuge, Berlin 1959, S. 100. 4 Das zähe Festhalten an der Muttersprache diente nicht der nationalen, sondern der religiösen (calvinistischen) Differenzierung. Daher ist es sehr bezeichnend, daß in der dritten Generation, bei der die Säkularisierung schon um sich gegriffen hatte, das Französische meist aufgegeben wurde — so offenbar von Formeys Sohn, der sich als Mediziner einen Namen machte. 5 Ms.-Abteilung der Berliner Staatsbibliothek. 6 Entgegen seiner besseren Einsicht, die freilich nur in einer Anmerkung zum Durchbruch kommt, verfällt auch Harnack in den Fehler, das Kriterium der Sprache mit dem der Nationalität zu verwechseln. So wird an einer Stelle (S. 357) von der Gruppe der Franzosen und französischen Schweizer gesprochen, zu denen auch Formey gerechnet wird und die unfähig und unwillig gewesen wären, sich in ernsthafter Weise mit wissenschaftlicher Arbeit abzugeben. Diese wäre allein den Deutschen überlassen geblieben. Harnack macht sich dieses Diktum, das auf einen Ausbruch des schwer verärgerten Süßmilch zurückging, bedingungslos zu eigen. Dem steht jedoch die Bemerkung entgegen, die Harnack leider keineswegs zur Richtschnur seiner Darstellung erhob: „Das Vorurteil aber ist aufzugeben,

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als hätte der französische Geist in den philosophischen Bemühungen der Akademie geherrscht. Nur die Sprache war französisch, in der Sache regierte die deutsche Philosophie, die mit aufgeschlossenem Sinn der schottischen, englischen und französischen Bewegung folgte." (Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. I, S. 446, Anm. 2) - Wie sehr Formey auch gefühlsmäßig als Deutscher reagierte, das kann man schlaglichtartig an seiner Kritik von Boureau-Deslandes' „Histoire critique de la philosophic" erkennen. Dieses erste Muster einer neuen Gattung war vor allem in Deutschland auf günstigen Boden gefallen. Unter den zahlreichen Nachahmungen hatte Bruckers lateinisch geschriebene „Historia critica philosophiae a mundi incunabulis ad nostram usque aetatem deducta" wegen seiner allzu ausführlichen und weitschweifigen Darstellung der altorientalischen, religiösen und mythologischen Anschauungen das Mißfallen Boureau-Deslandes' gefunden. In einer äußerst aggressiven Wendung kommt Formey im Vorwort zu seiner eigenen Philosophiegeschichte dem Deutschen zu Hilfe. Es ist der alte Gegensatz von gelehrter Kleinkrämerei und bedenkenloser Anpassung an die mondäne Leserschaft, der hier mit aller Schärfe erneut zum Ausdruck kommt: „Le plus etourdi des petits-maitres s'enonce-t-il jamais avec une pareille fatuite? Et doit-on apres cela etre etonne de trouver a la fin de cet ouvrage l'etrange rapsodie de vers et de prose que Mr. Deslandes a intitulee , cabinet', et l'amour-propre le plus outre se trouve associe aux Ie9ons d'un epicureisme vraiment effronte." (Histoire abregee de la philosophic, Amsterdam 1760, S. 24 f.) Der ganze Vorgang wurde von Formey in glaubwürdiger Weise in seinen „Souvenirs d'un citoyen", Bd. I, Berlin 1789, S. 142, dargestellt. Obwohl dieses Elaborat bis heute bibliographisch nicht ermittelt werden konnte, weiß Harnack zu vermelden, es handle sich um „ein plumpes, apologetisches" Machwerk Formeys (S. 375). Tatsächlich scheint uns nach dem, was Friedrich II. in seinem Brief und in den Versen an d'Alembert über diese Schrift bekanntgibt, die Verfasserschaft Formeys äußerst unglaubwürdig. Den Gipfel der Absurdität erreicht nach der Meinung Friedrichs II. der Verfasser des „Systeme de la nature" mit der Befürwortung der allgemeinen Schulpflicht. Der König hielt eine solche Maßnahme als einen unberechtigten Eingriff in die Rechte der Familienväter für völlig verfehlt. (Vgl. CEuvres de Frederic le Grand, Bd. IX, Berlin 1848, S. 152 ff.) Während Friedrich II. den Gedanken an ein Bündnis von Thron und Altar für ein Phantasieprodukt erklärte, macht Voltaire in seinem Brief vom 27. Juli 1770 geltend, daß zwar im „Systeme de la nature" die Verhältnisse der gegenwärtigen Welt völlig verzerrt seien, daß sich aber in vergangenen Epochen der Pakt der „deux puissances" nicht wegstreiten lasse. Erst in der Theoderich und Chlodwig folgenden Epoche hätten sich die beiden Mächte entzweit, und heutigen Tages wäre als einzig überlebende Macht aus diesem Streit der Despotismus hervorgegangen, der nunmehr berufen sei, die Aufklärung zu bringen. Man würde Voltaire mißverstehen, wenn man den Anteil der Ironie an diesem ad hoc fabrizierten Geschichtsbild überhören würde. Seit dem Anfang der sechziger Jahre war Friedrich II. der einzige gebildete Europäer, der den mächtigen, im Zeichen der Aufklärung begonnenen Aufschwung des deutschen Geisteslebens nicht bemerkte oder nicht bemerken wollte. Bezeichnenderweise hielt es auch d'Argens, der ja Franzose geblieben war, für unumgänglich, der deutschen Bewegung die größte Beachtung zu schenken. In den weitschweifigen Anmerkungen zu seiner Ausgabe des „Ocellus Lucanus" (Berlin 1762) spricht er in enthusiastischen Tönen von den deutschen Geistestaten. Besonders hervorgehoben werden Geliert, Rabener und Gottsched. Dazu kommt ein Ruhmeskatalog der deutschen Gelehrten, in deren Mitte sich der Name Samuel Formey findet (S. 254f.). Es ist interessant, daß d'Argens Formey zu den Deutschen rechnet, während alle anderen Angehörigen des preußischen Refuge von ihm als Franzosen bezeichnet werden. Mit dieser Zuwendung zum geistigen Deutschland hielt es d'Argens für geraten, das größte Ärgernis für die Deutschen, die Apotheose La Mettries, durch eine

Anmerkungen

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ausdrückliche Distanzierung von La Mettries Person und Philosophie zu beseitigen. In seinem Brief vom 3. November 1761 wird festgestellt, daß La Mettrie das „grand cheval de bataille" für die reaktionäre Polemik in Sanssouci bilde. Obwohl der König auf die Anspielung nicht einging, kommt d'Argens in seinem Brief vom 12. November 1761 noch einmal darauf zu sprechen. Er teilt dem König mit, daß er in seinem „Ocellus" La Mettrie fallengelassen habe: „J'ai etc oblige d'abandonner La Mettrie; c'est un enfant perdu, qu'il m'a fallu sacrifier dans le combat ..." (Werke, Bd. XIX, S. 261 ff.) Unbegreiflicherweise hat Harnack diesen charakteristischen Brief des Marquis d'Argens für einen Brief des Königs gehalten (S. 330). In Wahrheit war Friedrich 1761 noch keineswegs gewillt, den Feldzug gegen die materialistische Philosophie zu eröffnen. In seinem Dankschreiben für d'Argens' Dedikation des „Ocellus Lucanus" spricht Friedrich II. mit keinem Wort über die Polemik gegen La Mettrie, obwohl sie einen beträchtlichen Teil des Buches ausmacht. 12 Am Anfang des Werkes ist der Auszug eines von Formey unterschriebenen Dokuments vom 18. April 1771 abgedruckt: „Messieurs les Academiciens nommes pour examiner les ,Observations sur le livre intitule «Systeme de la nature»', que Mr. le Professeur de Castillon fait actuellement imprimer, ont fait rapport d'une voix unanime, qu'ils l'avaient trouve tres digne d'etre rendu public, et tres propre ä detruire les sophismes de ce dangereux ouvrage. En foi de quoi j'ai delivre le present certificat en pleine Academic."

Französische Aufklärung und deutsche Romantik

Das Bedürfnis, der Romantik einen Stammbaum zu geben, hat in den letzten Jahrzehnten die seltsamsten Blüten gezeitigt. Ganz offenbar verquickte sich diese Quellensuche mit einer Expansionstendenz der Romantikforschung, mit dem Bestreben, das Herrschaftsgebiet dieser Bewegung möglichst über ihre Vorzeit auszudehnen und zugleich damit das Herrschaftsgebiet der Aufklärung möglichst zu verengen. Die Vorromantik konnte allein durch die Annexion von weiten Gebieten der vor ihr liegenden Epoche gesichert werden. Die Operation wurde in zwei verschiedenen Richtungen ausgeführt: einmal in der zeitlichen Reihe durch die Amputation der spätaufklärerischen Epoche, die ohne weiteres dem neu entdeckten Stilbereich der Präromantik einverleibt werden konnte. Der Schnitt wurde aber auch in der Vertikale vorgenommen: d. h., die Präromantik, das Romaneske, der Stil der Sensibilität, begleitet nunmehr das ganze 18. Jahrhundert als Neben- und Gegenströmung in seinem Ablauf. Die Aufklärung muß damit von vornherein die Hälfte ihres Gebiets einer Gegenbewegung abtreten. Die Herrschaft der Vernunft sieht sich von vornherein durch eine sensibilisierte romaneske Zone in ihrer Wirkung beeinträchtigt und in Frage gestellt. Wie aber? Heißt es nicht offene Türen einrennen, die Sensibilität auf die Fahne einer Epoche zu schreiben, die, wie die Aufklärung, dem weltanschaulichen Sensualismus huldigt? Der Gegensatz von Verstand und Sinnlichkeit wird in der Aufklärung zugunsten der letzteren entschieden. Neben diesem inhaltlichen Einwand gegen die Präromantikkonzeption ist aber noch ein anderer hervorzuheben, der einer äußerst simplen geschichtsmethodologischen Erwägung entspringt: Der ganze Begriff ist erst post festum geschaffen worden; er konnte unmöglich ins Bewußtsein der ihm Unterworfenen dringen. Die Gegenwart weiß sich stets an der Spitze des Geschichtsprozesses, nicht aber am Anfang einer noch unbekannten

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Bewegung. Ein solcher Messianismus wurde außerhalb seiner religiösen Domäne noch nirgends wahrgenommen. Die Bezeichnung Präromantik war ein Etikett, an dem sich die Bezeichneten selbst nicht erkennen konnten. Nun wird man uns nicht ganz zu Unrecht entgegenhalten, daß es unmöglich ist, in der Begriffsbildung der Geschichtsepochen nur solche Nomenklaturen zu wählen, die im Vokabular und im Bewußtsein der entsprechenden Epoche sich ausweisen lassen. Einfachstes Beispiel: ein so allverbreiteter Begriff wie „Mittelalter", der selbstverständlich erst nach dem Ende des Mittelalters erfunden werden konnte und doch unmöglich von uns entbehrt oder ersetzt werden kann. Als Kriterium der geschichtlichen Epochenbegriffe kann nur dann seine Verankerung im Bewußtsein einer Epoche gefordert werden, wenn sie zum geschichtlichen Selbstbewußtsein gelangt ist. Seit dem 18. Jahrhundert ist diese große Wendung eingetreten. Das siecle eclaire, siecle des lumieres, das Jahrhundert der Aufklärung nennt sich selbst schon seit den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts mit diesem Namen, der ein erstmaliges geschichtliches Selbstbewußtsein im Verhältnis zu allen früheren Epochen ankündigt. Der Begriff der Aufklärung ist in allen Kulturbereichen verankert als illuminismo, ilustracion, enlightenment usw. Alle seitdem geprägten modernen Stil- und Epochenbegriffe sind aus dem Bewußtsein und aus dem programmatischen Wollen dieser entsprechenden Bewegungen entnommen: Romantik, Junges Deutschland, Impressionismus, Symbolismus, Expressionismus und viele andere. Es ist erstaunlich, daß man so einfache, klare Dinge so gründlich verwirren und verunklären konnte. Der Begriff der Präromantik ist demnach nicht nur ein mißlungener Test, Zeugnis eines gröblichen Mißverständnisses einer Epochenbewegung, sondern darüber hinaus eine geschichtsmethodologisch unhaltbare Konzeption. Will das besagen, daß sich die Präromantikforschung durch keinerlei geschichtliche Realität, durch keinen Gegenwert von Wirklichkeit gedeckt weiß, daß alles, was sie vorbringt, aus der Luft gegriffen ist? Natürlich ist dies nicht der Fall. Der anhaltende Erfolg der Präromantikforschung wäre ohne das Bestehen eines evidenten Sachverhaltes schlechthin unerklärlich. Die Erscheinungen selbst sind richtig wahrgenommen; nur ihre Auslegung ist verfehlt. Alle diese Merkmale, welche die Präromantikforschung anführt, haben wirklich bestanden. Aber sie widersprechen nicht nur nicht den herrschenden Tendenzen der Aufklärung, sondern sind in ihrem innersten Lebenskern zutiefst verwurzelt.

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Es wird sich also darum handeln, den Blickpunkt von der Präromantik bis zu dem Ansatz einer wirklich geschichtlichen Fragestellung zu verschieben. Wir fragen nicht mehr danach, was der Romantik an Vorläuferschaft und an vorbereitenden Tendenzen vorausgeht, sondern wir fragen zuvörderst nach den Elementen, die, aus der vorausgegangenen Aufklärung stammend, ihre Wirksamkeit auf die Romantik nicht verloren: Motive der Aufklärung, die von der Romantik gewahrt und im Sinne der Weiterbildung oder auch einer Verbildung verwandelt wurden. Es ist unumgänglich, diese Betrachtung an einem genauer auszuführenden, möglichst symptomatisch gewählten Beispiel anzustellen. Ein unumstrittenes Merkmal der Romantik ist ihre Hinwendung zu einem verherrlichten, verinnigten, poetisierten Mittelalter. Man braucht nur an Novalis, Tieck, Kleist, Brentano zu erinnern, in Frankreich an Chateaubriand und an Victor Hugos „Notre-Dame de Paris" ... Die communis opinio geht wohl auch heute noch dahin, daß gerade durch den Mittelalterkult die Romantik einen unmißverständlichen Trennungsstrich gegen die Aufklärung gezogen hat. Das Verhältnis der Aufklärung zum Mittelalter sieht man dadurch bestimmt, daß im 18. Jahrhundert die „gotischen Sitten" immer wieder verspottet wurden. Solche Meinungen bestanden, und zwar nicht grundlos: die Aufklärung als eine politische Oppositionsbewegung mußte ihren Kampf gegen das zähe Nachleben der aus dem Mittelalter überkommenen Institutionen führen. Die Beziehung der Aufklärung zum Mittelalter ist aber damit keineswegs erschöpfend bezeichnet. Gerade auf dem politischen Feld wird eine entgegengesetzte und weit bedeutsamere Richtung versuchen, eine „Konstitution" der französischen Nation aus den freiheitlichen Einrichtungen des Mittelalters herzuleiten. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wird der Kampf mit dem Feudalismus immer mehr durch den Kampf mit dem Absolutismus überschattet. Es gilt dabei den Nachweis zu erbringen, daß die despotische Willkür ein moderner Gewaltakt war, durch den die uralt verbrieften Volksfreiheiten vernichtet wurden. Auf das vergangene Mittelalter fiel damit ein verklärendes Licht. Schon Hotman („Franco-Gallia", 1573) hatte sich in der Epoche der Bürgerkriege des 16. Jahrhunderts auf diesen Weg begeben und dem Zentralisierungswillen des Königtums die Privilegien und Freiheiten des Mittelalters entgegengesetzt. Diese Gedankengänge wurden am Ende des 17. Jahrhunderts von dem Grafen Boulainvilliers wieder aufgenommen und durch ein umfassendes Quellenstudium erheblich vertieft. Boulainvilliers ist ohne

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Zweifel der Adelsrevolte zuzurechnen, mit einer allerdings von Fenelon und Chevreuse deutlich abzuhebenden Richtung. Boulainvilliers fordert Gleichheit innerhalb seines Standes. Seine mediävalistischen Studien sind darauf konzentriert, den Aspekt der Gemeinfreiheit als den ursprünglich mittelalterlichen herauszuarbeiten. Die Konzeption Boulainvilliers' löste Widerspruch und Zustimmung aus. Sie entfesselte eine Diskussion, die vor der Französischen Revolution nicht mehr zur Ruhe kommen sollte. Der Gegenstand dieser Debatte war das wahre Gesicht der Nation im Augenblick ihrer mittelalterlichen Konstituierung. Am heftigsten wurde der Theorie Boulainvilliers' vom Abbe Dubos in seiner „Histoire critique de l'etablissement de la monarchic francaise", 1734, widersprochen. Dubos sieht überall in der französischen Geschichte die Kontinuität der civitas romana weiterwirken. Der Feudalismus konnte diesen Zug der nationalen Geschichte verdunkeln, nicht aber beseitigen. Montesquieu sah scharfsinnig in Dubos' Theorie die Theorie des dritten Standes. Er hielt sie für weit gefährlicher als die Exzentrizitäten Boulainvilliers', mit denen er weitgehend sympathisierte. Während Voltaire sich auf die mittelalterfeindliche Theorie des Abbe Dubos stützte, wurde durch die ungeheure Wirkung von Montesquieus „Geist der Gesetze" das Interesse an der mittelalterlichen Geschichte bis zum Anbruch der Revolution wachgehalten.1 Als Ergebnis der großen, im Dreieck Boulainvilliers — Dubos — Montesquieu begonnenen Debatte ist festzuhalten, daß die Grundfreiheiten der französischen Nation, ihre „Konstitution", in der Epoche ihrer mittelalterlichen Geburt gesucht werden müssen. Sehr viel schwieriger als die Herstellung eines Verhältnisses zur mittelalterlichen Geschichte war eine Würdigung der Literaturgeschichte des Mittelalters, aus dem doch nur sporadische Fragmente überkommen waren. Und trotzdem fehlte es auch auf diesem Gebiet nicht an Impulsen. Für die zuerst von Fontenelle und Charles Perrault verfochtene Theorie des kontinuierlichen geschichtlichen Fortschritts war der Eindruck der langen geistigen Stagnation im Mittelalter ein besonderes Problem. In der Tat kann man gerade bei Fontenelle einen ernsthaften Ansatz zu einem besseren Verständnis der mittelalterlichen Geisteshaltung gewahren. In seinem Nachruf auf Leibniz hat er die Ergebnisse der mittelalterlichen Geschichtsschreibung des deutschen Philosophen ausführlich dargestellt. Der geistige Verfall gilt nunmehr als eine Erscheinung der späteren Jahrhunderte — ein für die damalige Zeit umstürzender Gedanke, den Fontenelle besonders hervorhebt:

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„Le 10C et ll c siecles passent pour les plus barbares du christianisme: mais il (Leibniz — W. K.) pretend que ce sont le 13C et le 14C; et qu'en comparaison de ceux-ci le 10e fut un siecle d'or, du moins pour l'Allemagne ..."

Die letzten Intentionen dieser Leibnizschen Rückwendung zur Frühgeschichte werden mit wenigen Sätzen aufgedeckt: „Ce qui l'interesse le plus, ce sont les origines des nations, de leurs langues, de leurs moeurs, de leurs opinions, surtout l'histoire de l'esprit humain, et une succession de pensees qui naissent dans les peuples, les unes apres les autres, ou plutöt les unes des autres, et dont l'enchamement bien observe pourrait donner lieu ä des especes de propheties."2

In seiner Würdigung dieser bedeutenden historischen Leistung kann Fontenelle nicht umhin, auf eine unhaltbare Auffassung hinzuweisen, die ihre Wurzel in dem allzu großen Entgegenkommen Leibnizens dem herrschenden deutschen Feudalismus gegenüber hatte. Die allgemeine Meinung — sagt Fontenelle — geht dahin, daß der hohe Erbadel aus den kaiserlichen Beamten hervorgegangen ist, wogegen Leibniz den Erbadel als eine von jeher bestehende Einrichtung angesehen haben wollte. So verlegt er den Ursprung der großen Familien „dans cet abime du passe dont l'obscurite leur est si precieuse". Mit diesem Sarkasmus streift Fontenelle die Schwäche des großen Mannes, er trifft jedoch zugleich den von ihm stets verachteten Adel ins Gesicht. Fontenelle begnügte sich nicht, sein Interesse für das Mittelalter in seinen feinsinnigen und einfühlsamen Gelehrtenmonographien zu bekunden. In seiner „Geschichte des französischen Theaters" beschäftigt er sich eingehend mit den mittelalterlichen Manifestationen der Dichtkunst. 3 Um den Fortschritt dieser Darstellung richtig einzuschätzen, braucht man nur die gipfelnde literarhistorische Leistung des vergangenen Jahrhunderts heranzuziehen, die Abhandlung Huets über die Romane (1670). Huet war der erste, der das Wesen der Wandermotive erkannte und sie auf ihrem Weg bis zu den indischen Quellen zurück begleitete. Der Ritterroman wird aus dem schauerlichen Zerfall der staatlichen Gewalten im merowingischen Europa erklärt. Die Ritter erscheinen nun als Beschützer der Schwachen. Der Wert der Ritterromane, als deren einziges Beispiel das „Rolandslied" erwähnt wird, liegt für Huet in der Vertiefung unserer historischen Kenntnis der vergangenen Zeiten. Eine große Lücke aber bleibt in dieser Darstellung zwischen dem „Rolandslied" und dem „Gargantua" bestehen. In Fontenelles Aufriß sind nicht nur die Erscheinungen der mittelalterlichen Poesie erheblich verdichtet — durch umfassende Zitate sollen die Dichter für sich selber sprechen:

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„Je ne ferais pas si bien connaitre ces poetes par tout ce que je pourrais dire d'eux, que par quelques morceaux de leurs ouvrages, que j'ai cru que me permettrait de rapporter ici."

Fontanelle ist sich der Neuheit der von ihm angerissenen Materie wohl bewußt: „Peut-etre que je sortirai un peu des bornes de l'histoire du theatre; mais j'espere qu'une matiere assez agreable par elle-meme et assez peu traitee me fera obtenir ma grace des plus severes lecteurs."

In der Tat beginnt die eigentliche Geschichte des französischen Theaters erst mit dem 15. Jahrhundert. Die Darstellung der vorhergehenden Epoche ist daher gezwungen, die Lyrik und die Epik in den Vordergrund zu rücken. Der Ursprung des Minnesangs, dieser ältesten nachantiken Dichtung, liegt für Fontenelle im 11. Jahrhundert. Der Zerfall des Lateinischen ermutigte die Dichter, in ihrer vulgären Sprache zu schreiben. Fontenelle versucht dann die Namen der troubadours, der conteurs, der chanterres, der Jongleurs, der menestrels zu erklären. Da alle Dichtung aus dem Gesang stammt, ist die enge Wechselbeziehung zwischen Musik und Dichtung ein besonderes Zeichen der Ursprünglichkeit des Troubadourgesangs. Man stößt unter den alten Troubadours auf eine erstaunliche Zahl altadliger Namen: „Tel qui par les partages de sä famille n'avait que la moitie ou le quart d'un vieux chateau, bien seigneurial, allait quelque temps courir le monde en rimant, et revenait acquerir le reste du chateau."

Dieser adlige Ursprung der Dichtkunst mag erstaunen, wenn man bedenkt, daß prätentiöse Bildungsverachtung noch heute zum Wesen des französischen Adels gehört. „Je ne puis repondre autre chose, sinon que ces vers-lä se faisaient sans etude et sans science, et que par consequent ils ne deshonoraient pas la noblesse."

Fontenelle läßt keine Gelegenheit vorübergehen, um seine adelsfeindlichen Gefühle zu äußern. Die Troubadourkunst aber ist in Anbetracht ihrer sozialen Herkunft nur als Naturdichtung möglich — darin ist für Fontenelle ihre Schwäche, doch auch der Reiz begründet: „Aussi leurs ouvrages etaient-ils sans regies, sans elevation, sans justesse; en recompense, on y trouvait une simplicite qui se rend son lecteur favorable, une naivete qui fait rire sans paraitre trop ridicule, et quelquefois des traits de genie imprevus et assez agreables."

Die Provence und die Picardie sind die beiden Ursprungsländer dieser „etincelles de poesies".

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Im weiteren Verlauf seiner Darstellung werden Rutebeuf und Hebert genannt. „Soll man es für möglich halten, daß der große Boccaccio sich seine Stoffe bei diesen unbekannten, dem Anschein nach so verächtlichen Dichtern holte?" [vgl. EA, S. 702] Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus Fontenelles liebevoll ausgeführter Vorgeschichte des französischen Theaters, dessen spätmittelalterliche Erzeugnisse, insbesondere „Maitre Pathelin" mit seinen an Moliere gemahnenden Zügen, von ihm eingehend gewürdigt werden. Die „Histoire du theatre francais" erschien im 3. Band der „CEuvres" von 1742. Drei Jahre später bemächtigt sich der Kompilator La Moriniere des Fontenelleschen Traktates, um eine Einführung seiner Anthologie „Bibliotheque poetique" zusammenzustellen.4 Wenn wir im folgenden feststellen können, daß der Faden der mittelalterlichen Literaturstudien nicht mehr abreißen sollte, so blieb doch die breitere gebildete Allgemeinheit davon unberührt. Für sie ist die Neubewertung der Epoche Marots und Ronsards die große Errungenschaft des Jahrhunderts. Der zeitliche Vorrang gebührt zweifellos dem 1722 verstorbenen Abbe Massieu, der eine ganze Reihe von mittelalterlichen Dichtern herausstellt: so Helynand, Hugues de Bercy, Blondel. Er kennt sechs Versromane von Chrestien de Troyes; den „Roman de la rose" hält er für die beste Schöpfung der französischen Dichtung, die dem Zeitalter Franz I. vorausging. Auf Massieu greift vor allem der grundgelehrte Abbe Goujet zurück, und zwar im IX. Band seiner „Bibliotheque francaise" (1745). Dem ganzen Zeitraum werden schon über dreihundert Seiten gewidmet. In jenen Jahren war aber der große Gelehrte schon tätig, der für die Apotheose der mittelalterlichen Dichtung die stärksten Impulse geben sollte: Lacurne de SaintePalaye. Frühzeitig machte er sich mit den mittelalterlichen Handschriften vertraut. Sein wichtigstes Anliegen ist aber die provenzalische Minnelyrik. Zunächst erlernt der in Auxerre Gebürtige die provenzalische Sprache. Dann unternimmt er eine Forschungsreise nach Italien, zuerst 1739 und dann wieder 1769. Trotz seiner umfassenden Vorbereitung ist Lacurne nicht selbst zum Abschluß seines großen Werkes über die Provenzalen gekommen — vielmehr überließ er die Materialien dem Abbe Millot, der 1774 mit einer dreibändigen „Histoire des troubadours" herauskommt. Die weitschichtigen Interessen Lacurnes umfassen alle Bereiche der mittelalterlichen Dichtung und Sprache. 1756 veröffentlicht er die berühmte Singfabel von „Aucassin et Nicolette" — 1759 eine Abhandlung „sur l'ancienne chevalerie". Ein altfranzösisches Wörterbuch („Glossaire de l'ancienne langue fran^aise") wurde 1762 für den Druck bereitgestellt.

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Neben diesen gelehrten Bestrebungen stehen in der Spätaufklärung Versuche einer Popularisierung der mittelalterlichen Dichtung: da ist vor allem Graf Tressan zu nennen, ein äußerst begabter Dilettant. Mit seiner Modernisierung mittelalterlicher Werke hatte er Erfolg: „Tristan", „Jehan de Saintre" und „Gerard de Nevers" (1780/81). Graf Tressan war alles andere als ein „Präromantiker"; aufklärerisch-naturwissenschaftliche Probleme beschäftigten ihn lebenslänglich. Es bedarf wohl keines weiteren Beweises für den Ursprung der mittelalterlichen Interessen, die mit der Aufklärung geboren sind und keineswegs eine Randerscheinung darstellen. Eine breitere Grundlage als in der französischen Literatur erlangte jedoch das Interesse für mittelalterliche Dichtung in der spanischen Aufklärung. Die Zäsuren zwischen den einzelnen Literaturepochen sind in Spanien ungleich schwächer als in Frankreich: sie konnten das Weiterleben der älteren Dichtung niemals verhindern. Beschäftigung mit dem Mittelalter ist schon bei den spanischen Humanisten gang und gäbe. Das bedeutsamste Denkmal dieser Zuneigung ist die 1575 von Argote de Molina veranstaltete Neuausgabe des „Conde Lucanor". In ihrer Zuwendung zum Mittelalter bevorzugt jedoch die spanische Aufklärung die rein geschichtliche Fragestellung. Hier war dem französischen Klassizismus alle Wirkungsmacht genommen. Das gilt bis zu einem gewissen Grad auch für die Sprachgeschichte, für die die riesige Materialsammlung „Origenes de la lengua", ein Werk des valencianischen Polygraphen und Polyhistorikers Gregorio Mayans y Siscar, einen ersten Baustein brachte. 1735 wird in Madrid die Academia de Historia gegründet. Sie bildet den Sammelpunkt auch für die mittelalterlichen Studien. Hier werden Arbeiten vorgelegt wie „Sobre el primer poblador de Espana y sobre el principio del reino de Navarra" (Hilarion Dominguez), wie „Sobre las leyes y el gobierno de los godos" von Campomanes oder wie die Studie, mit der sich der große aufklärerische Staatsmann Jovellanos vorstellt: „Sobre los juegos, espectaculos y diversiones publicas usadas en lo antiguo en las respectivas provincias de Espana". Damit ist das Feld der mittelalterlichen Literarhistorie eröffnet. Bevor wir jedoch bei diesem Thema verweilen, ist noch des größten spanischen Mediävisten, des Padre Enrique Florez, Verfassers der noch heute als Handbuch unentbehrlichen „Espana sagrada" (seit 1747), zu gedenken. Das Thema der mittelalterlichen Chroniken beschäftigte die vielseitige Gelehrsamkeit von Gerda y Rico. In seinem Nachlaß fand sich eine ausgeführte Geschichte des Westgotenreichs.5 Das sind nur einige wenige symptomatische Daten, die für die Breite der mediävistischen Interessen im spanischen „Dieciocho" zeugen sollen.

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Wie aber steht es mit der Literaturgeschichte? Die schon genannte Abhandlung von Jovellanos6 verrät die sichere Beherrschung der geschichtlichen Elemente, die auch die klassizistische Geschmacksrichtung nicht mehr verdunkeln konnte. Jovellanos behandelt alle öffentlichen Vergnügungen, u. a. die Jagd, die Stierkämpfe, die Turniere usw.: so entsteht ein Panorama der mittelalterlichen Freizeitgestaltung. Die Erweiterung der Thematik kommt der soziologischen Vertiefung der literargeschichtlichen Betrachtung zugute. Aus den wenigen verfügbaren Quellen (von denen auch die moderne Literaturgeschichte noch zehrt) wird die Geschichte des spanischen Theaters im Mittelalter entwickelt, in den Grundzügen so, wie wir sie auch heute noch sehen. Der ursprünglichen Vermischung von geistlichem und weltlichem Spiel folgt die Trennung, aus der einerseits die „autos" und andererseits die Ansätze zu wirklichem Theaterspiel hervorgingen. Neben dem Adel sind es in steigendem Maß die Städte und Munizipien, die der Dichtung im Mittelalter eine Freistatt gewähren! Die Reaktion auf die klassizistische Verneinung der spanischen Dichtung und auf den in Frankreich und in Italien während des 18. Jahrhunderts immer wieder bekundeten Zweifel an dem Wert und Nutzen des spanischen Beitrags für die Menschheitskultur war das mächtigste Stimulans für die Erforschung der spanischen Geistes- und Literaturgeschichte. Literarhistorischer Nationalismus ist die unvermeidliche Mitgift dieser Bestrebung: er kann zu neuen Einsichten, aber auch zu unhaltbaren Positionen führen. In seinem „Discurso sobre la historia" erkannte Forner, daß die epische Gestalt des Bernardo del Carpio sich als eine spanische Gegenschöpfung zum Rolandszyklus darstellt.7 Andererseits ging der in Italien verbannte Jesuit Lampillas so weit, von einem spanischen Einfluß auf die entstehende Literatur der Italiener zu sprechen. Lampillas hatte die Minnelyrik im Auge, wobei er Provenzalen und Katalanen verknüpfte. Aber abgesehen von solchen Entgleisungen hat Lampillas in seiner Geistes- und Literaturgeschichte bedeutende Einsichten vermittelt. Vor allem hat er sich als erster an einer systematischen Darstellung des arabischen Mittelalters in Spanien versucht. 8 All diese Impulse flössen in dem gewaltigen Unternehmen zusammen, das der gelehrte Tomas Antonio Sanchez zwischen 1779 und 1790 ans Licht brachte. Die vier Bände enthielten Werke wie das „Cid"-Poem, die „Milagros" von Berceo und das „Libro de buen amor" des Arcipreste de Hita. Spanien hat damit den Ruhm erworben, als erstes Land der Welt einen unter einem wissenschaftlichen Gesichtspunkt zusammengestellten Corpus seiner mittelalterlichen Literatur geschaffen zu haben.

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Es versteht sich, daß diese beliebig herausgegriffenen Daten der Ergänzung und einer vertieften Betrachtung in jeglicher Richtung bedürfen. Die empfindlichste Lücke könnte jedoch allein durch eine Einbeziehung des deutschen Beitrags zur aufklärerischen Mittelalterforschung geschlossen werden. Zweifellos hat sich die geschichtswissenschaftliche Bearbeitung der mittelalterlichen Jahrhunderte nirgends mehr als in Deutschland verdichtet. Praktische Fragen der kaiserlichen, der fürstlich-territorialen und der reichsstädtischen Politik förderten diese Entwicklung ebenso wie die schon aus dem 17. Jahrhundert stammenden Wissenschaftstraditionen. Was uns jedoch vor allem berühren müßte, das ist die systematische Rezeption der Resultate der deutschen Mediävalistik in Frankreich. Zeitschriften wie die „Bibliotheque germanique" erleichtern durch breit angelegte Auszüge die Kenntnis der wissenschaftlichen Neuerscheinungen von jenseits des Rheines. Selbst eine so popularisierende Zeitschrift wie „Le pour et contre" sah sich veranlaßt, durch regelmäßige Korrespondenzen über die Wissenschaftslage an den deutschen Universitäten dem Wunsch ihres Publikums nachzukommen. Einflüsse deutscher Gelehrter lassen sich in Montesquieus Konzeption des Lehenswesens mit Sicherheit nachweisen. Trotz des nur andeutenden und notwendig fragmentarischen Charakters dieser Skizze läßt sich aus den angeführten Daten doch eine Folgerung mit Sicherheit ziehen: die moderne Beschäftigung mit dem Mittelalter ist weder das Erzeugnis einer „präromantischen" Geisteshaltung noch der romantischen Rückzugsbewegung zu einer idealisierten Vorzeit — sie gründet vielmehr mit allen ihren Wurzeln im geschichtlichen Weltbild der Aufklärungsepoche. Die Romantik fand also den Weg zum Mittelalter schon deutlich bezeichnet vor sich. Dieser Weg ist von einer progressiven Geistesrichtung eingeschlagen worden. Wie ist es zur Umkehr dieser ideologischen Richtung gekommen? Liegt eine solche Umkehr überhaupt im ursprünglichen Ansatz der romantischen Mittelalterideologie begriffen? Das erste und berühmteste Manifest der mittelalterlichen Zuwendung ist Novalis' 1799 geschriebener Aufsatz „Die Christenheit oder Europa". Die glänzenden Qualitäten dieser musikalischen und dabei in lockeren Sätzen aufgesetzten Prosa erleichtern die Lektüre. Beim Versuch einer Deutung wird man aber auf Schritt und Tritt an den fatalen Aphorismus Hardenbergs erinnert: „Mehrere Namen sind einer Idee vorteilhaft." Bei einer oberflächlichen Lektüre wird man nichts weiter als die religiöse Reaktion auf Aufklärung und Revolution gewahren. Man wird von der Verheißung einer Wiederkehr des Christentums ausgehen, die Apologie des Jesuitenordens

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nicht übersehen und schließlich in der spezifischen Konzeption der Gesellschaft eine allen Gegenrevolutionären teure Idee erkennen: die Auffassung nämlich, daß die Menschen zu einer positiven Gemeinschaftsbildung nicht fähig sind ohne die Vermittlung einer metaphysischen oder religiösen Instanz. Bei näherer Sicht verschiebt sich aber der erste Eindruck. Die Wurzel der modernen Entwicklung wird in der Verderbnis der Klerisei gesehen. Die Degeneration des Klerus verschuldete das Auseinandertreten von Glauben und Wissen. Der ersehnte christliche Zustand ist eine dialektische Aufhebung und zugleich Bewahrung der vorher durchlaufenen Stadien und der vorher gemachten Errungenschaften. An dieser neuen Wirklichkeit muß auch das Prinzip der Aufklärung und das der Französischen Revolution beteiligt sein. Novalis geht so weit, die Hohepriesterschaft Robespierres als ein Vorzeichen in Anspruch zu nehmen: „Historisch merkwürdig bleibt der Versuch jener großen eisernen Maske, die unter dem Namen Robespierre in der Religion den Mittelpunkt und die Kraft der Republik suchte ..." (Novalis, Die Christenheit oder Europa, Schriften, herausgegeben von Paul Kluckhohn, II, 78). Im übrigen ist es schwer erkennbar, worin sich die für Novalis richtunggebende Idee der Gottheit von der romantischen Idee einer in Poesie verwandelten Humanität unterscheidet. Dieses utopische Friedensreich steht politisch im Zeichen der Akratie, der aufgehobenen Staatlichkeit, zugunsten des organischen Zusammenhangs der von Vormundschaft befreiten gesellschaftlichen Elemente. Der Funktionswandel der Mittelalterideologie trat erst ein, als durch die Heilige Allianz ein weltenweites Kartell der feudalistischen Großmonarchien zusammengewoben war, und zwar im Zeichen eines Pazifismus, der den Gefängnisfrieden der Völker zu sichern hatte. Der Mittelalterkult führt die Beherrschten zur quietistischen Ergebung in ihr Schicksal; den Herrschenden gibt er das Stichwort an die Hand, das ein System der brutalen Bedrückung in die verklärende Beleuchtung eines esoterischen Geschichtsbilds erhebt. Noch ehe das Junge Deutschland den Zusammenhang der Mittelalterromantik mit der Völkerunterdrückung aufgezeigt hatte, enthüllte ein deutscher Fürst — rara avis — diese ganze Verflechtung mit rücksichtsloser Offenheit. Der Fürst ist kein anderer als Karl August, über dessen letzte Lebenstage (1828) ein Brief Humboldts an Goethe [vgl. EA, S. 702] Rechenschaft gibt. Der Brief ist von Eckermann in seinen wichtigsten Stellen wörtlich zitiert. Er enthält die erstaunlichen Worte:

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„ ,... nie habe ich den großen menschlichen Fürsten lebendiger, geistreicher, milder und an aller ferneren Entwickelung des Volkslebens teilnehmender gesehen als in den letzten Tagen, die wir ihn hier besaßen.'"

Wenn hier noch ein Zweifel über den Sinn des Ausdrucks „Entwicklung des Volkslebens" aufkommen sollte, so würde er durch die späteren Abschnitte völlig zerstreut: „ ,Auf einmal ging er desultorisch in religiöse Gespräche über. Er klagte über den einreißenden Pietismus und den Zusammenhang dieser Schwärmerei mit politischen Tendenzen nach Absolutismus und Niederschlagen aller freieren Geistesregungen. «Dazu sind es unwahre Bursche», rief er aus, «die sich dadurch den Fürsten angenehm zu machen glauben, um Stellen und Bänder zu erhalten! — Mit der poetischen Vorliebe zum Mittelalter haben sie sich eingeschlichen.» Bald legte sich sein Zorn und nun sagte er, wie er jetzt viel Tröstliches in der christlichen Religion fände. «Das ist eine menschenfreundliche Lehre», sagte er; «aber von Anfang an hat man sie verunstaltet. Die ersten Christen waren die Freigesinnten unter den Ultras»'" (Eckermann: Gespräche mit Goethe, Leipzig 1948, 552f.).

Der innere Zusammenhang zwischen dem Mittelalterkult und der allgemeinen Tendenz des Religionsbetriebs, der durch die Niederhaltung der demokratischen Bewegung gebildet wird, ist hier mit aller Klarheit begriffen. Mit welch leidenschaftlicher Anteilnahme der Großherzog zwei Jahre vor der Julirevolution den Blick nach Frankreich richtete, verrät der aktualisierende Vergleich der Fraktionen des Christentums mit denen der rebellischen französischen Kammer, in der sich damals Ultras und Liberale (Freigesinnte) befehdeten. Das äußerte derselbe Fürst, der einstmals Goethe gedrängt hatte, ihm auf dem Feldzug gegen die junge französische Republik Gefolgschaft zu leisten, derselbe, der Herder wegen seiner freiheitlichen politischen Meinung ernstlich verwarnen zu müssen glaubte. Im Lauf der Jahre hatte sich Karl August zu einer klaren und präzisen Stellungnahme in den Grundfragen der Nation durchgerungen, der Goethe zeit seines Lebens auszuweichen versuchte. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Karl August in seinen letzten Lebensjahren schon Kunde hatte von der seltsamen Konstellation am kronprinzlichen Hof. Der nachmalige Friedrich Wilhelm IV. versammelte Restaurationsideologen wie Karl Ludwig von Haller, Jarcke u. a. um sich. In diesem Kreis wird mit einem ganz unromantischen, trockenen Ernst die Forderung aufgestellt, den Patrimonialstaat wieder aufzurichten und also mit die Rückkehr zu den politischen Formen des Feudalismus zu betreiben. Die reaktionäre Funktion der Mittelalterideologie ist aber nicht nur durch solche Versuche

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einer Wiederbelebung der vorvergangenen Weltzeit bestimmt — noch wichtiger und verhängnisvoller vielleicht war die geschichtsmethodologische Orientierung der historischen Schule an den Epochen einer relativ lange währenden Stabilität. Geschichtliche Relevanz hat für die historische Schule nur das Fortleben der Tradition. Entwicklung ist nur als ein Jahrtausende währender Prozeß der unbewußten Umstellungen denkbar. Nicht die Epochen der Wandlung, sondern die Epochen der Stagnation bestimmen dieses Geschichtsbild. Die Weltanschauung der historischen Schule verbindet völligen Verzicht auf alle gesellschaftliche Aktivität mit einer unbegrenzten Bereitschaft, sich liebend in alle Formen der Restauration und der traditionalistischen Reaktion einzuleben. Die romantische Mittelalterideologie ist natürlich nicht das einzige aus der Aufklärung übernommene Motiv. Begriffe und Komplexe wie Generation, Ironie, Geselligkeit und vor allem Volksgeist (Voltaires „Esprit des nations" nachgebildet) erschließen ein fruchtbares Feld einer weiter gespannten Betrachtung. Obwohl es schwer ist, von einem einzigen Punkt aus allgemeinere Feststellungen zu treffen, so hat man doch ein Recht zu erfahren, was sich aus diesen Einzeldarlegungen für die Erkenntnis der Grundprobleme der Romantik folgern läßt. Ich nenne nur die beiden großen Probleme: 1. Was ist die Romantik? 2. Kann man von einer gegensätzlichen politischen Einstellung der deutschen zu der französischen Romantik sprechen, als ob sie sich wie Reaktion und Fortschritt gegenübertreten würden? Die berühmteste und zugleich simpelste Definition des Romantischen stammt von Stendhal: „Klassisch ist, was unsern Großeltern gefallen hatte — romantisch, was unserer Generation gefällt." Romantik ist also Modernismus. In Deutschland begann die Romantik als eine publizistisch-politische Bewegung mit dem Bestreben, die Folgerung der leidenschaftlich bejahten Französischen Revolution für die Umgestaltung der deutschen Welt und der politischen Welt überhaupt zu ziehen. Alle Äußerungen des jungen Friedrich Schlegel und des jungen Hardenberg liegen in dieser Richtung. Diese erste Station währt bis zu dem letzten Jahre des 18. Jahrhunderts. Wenn man nun sagt, die Romantik sei von diesem Zeitpunkt an von der Revolution abgefallen, so ist das nur eine halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist nämlich die, daß auch die Revolution ganz offenkundig in jenen Jahren von der Romantik abgefallen war. Der Niedergang der Revolution und ihr Umschlag in einen kriegerischen Despotismus waren nicht mehr zu verbergen. Es war für die Zeitgenossen sehr schwer und fast unmöglich, in diesem Abfall der Revolution die Permanenz ihrer wesentlichen Errungenschaften wahrzunehmen.

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Die deutsche Frühromantik setzt nunmehr den Hebel an einer anderen Stelle an. Sie will jetzt die Revolution auf das Gebiet der Literatur übertragen. Sie zerbricht das hierarchische Schema der poetischen Gattungen und legt theoretisch den Horizont des Romanes frei als der einzig dem modernen Lebensgefühl angemessenen literarischen Aussageform. In der Kunstrevolution verwirklicht sich das emanzipierte Individuum. Der romantische Individualismus ermöglicht zwei entgegengesetzte Wege: auf der einen Seite die quietistische Anpassung an alles Gegebene, auf der ändern das politische Rebellentum, der Weg von Immermann zu Heine, von der Heidelberger Romantik zum Jungen Deutschland. In Frankreich beginnt die Romantik mit einer offen gegenrevolutionären Einstellung, die von Chateaubriand bis Barante gewahrt wird. In Thierrys Geschichtsschreibung wird die französische Romantik liberal, bei Victor Hugo radikal. Wir folgern daraus, daß die deutsche Romantik kein Produkt der Restauration ist — sie ist, wie wir sahen, ein Erzeugnis der Revolution — und daß die französische Romantik sich erst später mit der Entwicklung der französischen Industriegesellschaft zu einer fortschrittlichen Haltung durchgerungen hat. Die antithetische Kennzeichnung der beiden nationalen Stile der Romantik läßt sich nicht aufrechterhalten. Georg Lukacs hat in seinen gleich nach Kriegsende erschienenen Schriften die deutsche Romantik als Reaktionsbewegung en bloc verurteilt. Darin kam der Standpunkt jener vor uns liegenden Jahre vorzüglich zum Ausdruck. Es mußte überhaupt erst einmal der Ariadnefaden in der deutschen Literaturentwicklung gefunden werden. Vielleicht konnte nur ein grob antithetisches Verfahren, eine Schwarz-Weiß-Malerei, dem Bedürfnis der ersten Stunden gerecht werden. Es ist aber unumgänglich, daß wir uns von solchen Einseitigkeiten befreien und daß wir uns der Verpflichtung einer vertieften Verantwortung gegenüber dem kulturellen Erbe nicht entziehen. Die behutsame Art, mit der Franz Mehring die romantische Schule behandelt, kann dabei noch immer als vorbildlich gelten. Ich schließe daher mit seinen der Romantik gewidmeten Worten: „In die Tage des alternden Goethe fiel die Blüte und auch schon der Untergang der romantischen Dichterschule. In ihr spiegelte sich der Zwiespalt wider, den die Fremdherrschaft zwischen den nationalen und den sozialen Interessen des Bürgertums geschaffen hatte. Nationale Ideale ließen sich nur in dem Mittelalter finden, wo die ausgeprägteste Klassenherrschaft der Junker und Pfaffen bestanden hatte. So flüchteten die romantischen Dichter in die ,mondbeglänzte Zaubernacht des Mittelalters', aber da die mittelalterlichen Ideale

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sich doch nicht in unverstümmelter Herrlichkeit wiederherstellen ließen, nachdem ein revolutionärer Sturm über den europäischen Boden gefegt war, so mischten sie den feudalen Wein, den sie aus den Kellern der Burgen und Klöster holten, mit manchen Tropfen vom nüchternen Wasser der bürgerlichen Aufklärung. Daher ist diese Schule nicht ohne anerkennenswertes Verdienst. Sie hat die Schätze der mittelalterlichen Dichtung wieder entdeckt, nicht nur die höfischen und ritterlichen Dichter, sondern auch die ,Nibelungen', ein nationales Epos, das sich wohl mit den homerischen Gesängen messen darf. Vor allem hat die romantische Dichterschule die köstlichen Schätze der Volksdichtung gehoben; die Märchen der Gebrüder Grimm und ,Des Knaben Wunderhorn', eine Sammlung alter Volkslieder, die Arnim und Brentano herausgaben. Daneben verdanken wir ihr eine außerordentliche Erweiterung unseres poetischen Gesichtskreises; da sie keinen festen Boden unter den Füßen hatte, so schweifte sie hinweg zu den Kunstschätzen aller Völker und Zeiten und brachte vieles Treffliche heim, wie die klassische Übersetzung Shakespeares durch Schlegel" (Mehring: Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters, Berlin 1946, S. 132f.).

Anmerkungen 1 Vgl. das noch heute unüberholte Buch von Carcassonne, „Montesquieu et le probleme de la constitution fra^aise au 18C siecle". 1927. 2 Fontenelle, CEuvres. VI, 460, 1790. 3 Ebenda, III, 2 ff. 4 Der Tatbestand des Plagiats wurde von La Moriniere durch einige Zitierungen Fontenelles in raffinierter Weise verdeckt. In Barbiers Anonymenlexikon und ihm folgend im Querard wird der Abbe Goujet als Autor der Einführung genannt. Es ist jedoch so gut wie ausgeschlossen, daß dieser äußerst gewissenhafte Gelehrte sich in dieser Weise mit fremden Federn geschmückt haben sollte. 5 Über Francisco Gerda y Rico: Angel Gonzalez Palencia, Eruditos y libreros del siglo XVIII. Madrid 1948. 6 Wieder abgedruckt in „Clasicos Castellanos". 110, S. 78 ff. 7 Vgl. Menendez y Pelayo, Ideas esteticas. III, 334. 8 Ebenda, III, 351 f.

Die französische Aufklärung und die deutsche Geisteswelt

Die französische Aufklärung war eine Großmacht, deren Wirkung während des 18. Jahrhunderts in allen literarischen und geistigen Räumen zu spüren war. Während aber die Engländer, unbeschadet der aus Frankreich bezogenen Anregungen, ihre eigene Aufklärung und ihre eigene Gedankenlinie von Locke bis zu Hume fortsetzten, während die italienische und spanische Literatur, im unverlöschlichen Bewußtsein einer vergangenen klassischen Literaturentfaltung, dem Eindringen der französischen Geistesbewegung nicht widerstandslos zusehen konnte, war die deutsche Literatur und Geistesbewegung, deren Aufschwung zur klassischen Reife erst bevorstand, trotz aller scheinbaren Vorbehalte für die aus Frankreich einströmenden Impulse am weitesten geöffnet. Noch fehlt eine lückenlose Darstellung der Wirkungen der französischen Aufklärung auf die deutsche Geistesbewegung des 18. Jahrhunderts. 1 Nur wenn man diese zuweilen an Symbiose grenzende Umfassung der deutschen durch die französische Aufklärung berücksichtigt, wird es erklärlich, daß auch im folgenden 19. Jahrhundert die Auseinandersetzung mit der in Frankreich während des 18. Jahrhunderts getroffenen Entscheidung bei uns eine solche Bestimmungskraft erlangen konnte. Diese Auseinandersetzung bedeutet etwas mehr als eine bloße deutsch-französische Begegnung: in ihr gibt sich ein entscheidendes Motiv der deutschen Selbstverständigung zu erkennen. 2 Für das deutsche Verhältnis zur Aufklärung, insbesondere zu ihrem französischen Zweig, ist ein 1814 erschienener Aufsatz des Begründers der historischen Schule, Savigny, von geradezu schicksalhafter Bedeutung. Die Beurteilungsweise Savignys speiste die aufklärungsfeindlichen Vorurteile einer heute schon mehr als hundertjährigen geistesgeschichtlichen Überlieferung. 3 Die von Savigny begründete historische Schule fühlte sich berufen, aus ihrer allseitigen Gegnerschaft zur französischen Aufklärung die Bestim-

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mung des deutschen Geistes für eine neue Auffassung des geschichtlichen Lebens abzuleiten. Vor allem wurde der französischen Aufklärung ein geschichtsfremder Rationalismus und eine ungeheuerliche Selbstüberschätzung zur Last gelegt. Die Französische Revolution als das fatale Ergebnis der Aufklärung wird von der historischen Schule ebenso wie die Gewalttat der Hegeischen Dialektik verworfen. Man stellt der spekulativen Philosophie einen behutsamen Empirismus gegenüber. Die ewige Unruhe eines Zeitalters der Umwälzungen gilt als ebenso unfruchtbar, wie die Windstille der beginnenden Restaurationszeit als ein schöpferischer Zustand bejaht wird. Geschichte liegt nicht mehr im Wandel, sondern nur noch im Bleiben; es kommt nicht mehr auf die gestaltenden Kräfte an, sondern allein auf den Charakter der in sich gekehrten Nation, auf ihre zeitlose Tradition, auf ihr Brauchtum, auf ihre Sitten — kurz, auf alle jene inneren Werte, an denen die aktualitätserfüllte Aufklärung achtlos vorübergegangen war. Es ist nicht verwunderlich, daß die herrschenden Kreise der Restaurationsepoche und die an der Erhaltung der halbfeudalen Zustände interessierten Schichten sich von einer Lehre vorzüglich bedient fanden, die es vermochte, die französische Aufklärung und Revolution aus ihrem Geschichtsbild zu eskamotieren. Die Quellen des romantischen Aufklärungsbildes, das mit dem der historischen Schule sich bald verschmolz, liegen bei Burke, bei den französischen Institutionalisten vom Schlage eines Bonald und De Maistre. Im Gegensatz zu dem Vorwurf der Überheblichkeit, den die historische Schule an die französische Aufklärung richtete, bestreiten die institutionalistischen Restaurationspolitiker keineswegs den geschichtlich einzigartigen Charakter der vergangenen Geistesbewegung. Sie sehen in ihr den einmaligen Akt der menschlichen Hybris, durch den Gott der Menschheit ihre Unfähigkeit zur eigenständigen Gesellschaftsbildung beweisen wollte. Solche Stimmungen finden sich bei dem späten Friedrich Schlegel: „Manche Erscheinungen in der Geschichte des 18. Jahrhunderts sind so plötzlich und, wie mit einem Male fertig, gegen alles Erwarten hervorgetreten, daß, wenngleich bei genauerem Nachdenken eine hinreichende Ursache und Veranlassung in dem früheren Vorausgang, in der natürlichen Lage der Dinge und ganzen Weltbeschaffenheit dafür aufgefunden werden kann, doch auch manches auf eine mit Absicht in Stille geschehene Vorbereitung der Begebenheiten ausdrücklich hinzudeuten scheint ..."4

Bis zu welchem Grade das romantische Geschichtsbild als eine bloße Erscheinung der Reaktion auf die Errungenschaft der Aufklärung zu werten ist, das läßt sich aus der unerschütterlich objektiven Darstellung in Fueters „Geschichte der neueren Historiographie" deutlich ersehen.5

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Für die deutschen Romantiker war die französische Aufklärung stets die Aufklärung schlechthin; man glaubte in ihr das Wirken des Nationalgeistes zu erkennen. Der Restaurationsideologe Stahl folgt darin den sonst von ihm keineswegs geschätzten Romantikern, daß er ohne jede Hemmung die französische „Frivolität" der deutschen Sittlichkeit entgegensetzt. In seinen Vorlesungen von 1850 „Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche" äußert er: „Welch anderer sittlicher Geist ist bei Schiller und Jean Paul als bei Voltaire und Diderot. Dagegen die französische Bildung des 18. Jahrhunderts begnügt sich mit leichtfertigem Leugnen der Religion ohne die Mühe, einer ändern Erklärung des Weltzusammenhanges nachzudenken, und mit dem Lachen, dem Spott. Ihr Motiv ist auch gar nicht die Erforschung der Wahrheit und der wahrhaftigen Sitte — was hätten ein Voltaire und ein Diderot positiv als untrügliche Wahrheit oder unverrückbares Gesetz anerkannt —, sondern im Gegenteil nur das Verlangen, durch Abtun des religiösen Glaubens auch alles dessen entbunden zu sein, was bisher unter der Sanktion des religiösen Glaubens stand, des ernsten und strengen Sittengesetzes, der Bande der Ehrfurcht und des Gehorsams. Es ist die reine Frivolität. Diese bloße Leugnung des religiösen Glaubens, diesen bloßen Willensakt der Hinwegsetzung über das, was bisher als bindend gegolten, nannte man in Frankreich Philosophie, und diese Philosophie kostete nicht viel Kopfzerbrechens. In diesem Sinne rühmte sich einst Camille Desmoulins, da er seine Verdienste um die Revolution aufzählte, er habe an Einem Tag alle gemeinen Soldaten von der garde du corps zu Philosophen gemacht."6

Der Gegensatz von Frivolität und Sittlichkeit enthält schon in nuce die großen Antithesen, mit denen die Superiorität des deutschen Wesens und der deutschen Leistung im 20. Jahrhundert begründet wurde: Ethik gegen Moral, Kultur gegen Zivilisation. Indessen konnten die Stimmen der Aufklärungsfeindschaft im vormärzlichen Deutschland nicht unwidersprochen bleiben. Auf der ändern Seite der Barrikade stand das Junge Deutschland und der Junghegelianismus. Während das Junge Deutschland an die Sturm-und-Drang-Tradition anknüpft, will der Junghegelianismus die metaphysische Verschalung des Systems durchbrechen und einem kritischen Realismus die Wege bereiten. Für beide Bewegungen war es eine Lebensfrage, ein neues, positives Verhältnis zur Aufklärung zu begründen. Sie konnten sich auf die Anschauungen des alten Goethe berufen, der in einem Gespräch mit Eckermann die französische Aufklärung als eine Epoche von unwiederbringlicher Größe feierte: „ ,Ich lese jetzt einen Band von Diderot', sagte ich (Eckermann - W. K.), ,und bin erstaunt über das außerordentliche Talent dieses Mannes. Und welche Kenntnisse und welche Gewalt der Rede! Man sieht in eine große bewegte Welt, wo einer dem ändern zu schaffen machte und Geist und Charakter so in beständiger Übung erhalten wurden, daß beide gewandt und stark werden mußten. Was aber die Franzosen im vorigen Jahrhundert in

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der Literatur für Männer hatten, erscheint ganz außerordentlich. Ich muß schon erstaunen, wie ich nur eben hineinblicke.' — ,Es war die Metamorphose einer hundertjährigen Literatur', sagte Goethe, ,die seit Ludwig dem Vierzehnten heranwuchs und zuletzt in voller Blüte stand. Voltaire hetzte aber eigentlich Geister wie Diderot, d'Alembert, Beaumarchais und andere herauf, denn um neben ihm nur etwas zu sein, mußte man viel sein, und es galt kein Feiern.'" (Gespräch vom 21. III. 1831.)

Die progressiven Kräfte des Jungen Deutschlands fanden durch eine erneute Zuwendung zu ihrem Quellgrund in der Aufklärung ihr Rüstzeug für den literarischen und politischen Umsturz. Bornes Einstellung zur französischen Aufklärung erhellt aus seiner Rezension der 1822 erschienenen Invektive Mme de Genlis', „Les diners du baron d'Holbach". Borne hat hier insbesondere das Verhältnis der Aufklärung zur Revolution in bemerkenswerter Weise gekennzeichnet: „Das Haus des deutschen Barons d'Holbach war, wie bekannt, einer der Versammlungsörter für die philosophischen Schriftsteller ... Man hat jenen Philosophen den Ruhm angedichtet, die Französische Revolution herbeigeführt zu haben. Es ist, als sagte man: der Sonntag sei die Ursache des Montags ... Sooft neue Wahrheiten unter den Menschen erscheinen, werden sie zuerst an den hervorragenden Geistern sichtbar, wie die aufgehende Sonne zuerst die Gipfel der Berge beleuchtet. Nun meinen die Feinde des Lichts, hätte es keine Berge gegeben, wäre keine Tugend geworden. Man ist den Philosophen nur noch Dank schuldig, denn an ihnen ist das Licht allmählich in das Tal hinabgeglitten, wo die leicht geblendete Menge wohnt; ohne sie wären die Kämpfe unserer Zeit noch blutiger geworden, als sie waren."7

Borne verteidigt Voltaire gegen den Vorwurf des Mangels an logischer Ordnung, der Oberflächlichkeit und Herzlosigkeit: „Der Amtsbote, der zwischen Dorf und Dorf hin und her hinkt, der freilich kennt jeden Baum am Wege. Aber ein Götterbote, der eine Kunde bringt von Pol zu Pol, der eilt mit flüchtiger Zehe und findet nicht Zeit, mit breiter Sohle aufzutreten. Das war Voltaires Oberflächlichkeit. Sie sagen, Voltaire sei herzlos gewesen, als könne, wer die Menschheit liebt und tröstet, bei jedem weinenden Kind, das der Finger schmerzt, verweilen. Erst nach vielen Jahrhunderten, wenn ein Menschenalter zu einer unsichtbaren Minute geworden ist, wird Voltaire vergessen werden."8

In einer Tagebucheintragung vom 20. Mai 1830 versucht Borne, gegen das Beispiel des Konformismus, das Goethe gegeben habe, die geistige Unbedingtheit der großen Aufklärer auszuspielen: „Montesquieu war ein Staatsmann, und er schrieb seine ,Persischen Briefe' ... Voltaire war ein Höfling ..., aber er ging durch den Kot, sobald ein Verfolgter um Hülfe schrie, und er holte mit seinen adligen Händen den schuldlos Gerichteten vom Galgen herab ... Rousseau blieb frei und stolz und starb als Bettler."9

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Heines 1834 erschienene „Geschichte der Philosophie und Religion in Deutschland" gewährt der Aufklärung einen entscheidenden Platz bei der Vorbereitung der revolutionären Gegenwart. Die Rolle des von Schiller und Goethe in den „Xenien" befehdeten Nicolai, dieses wahren Managers der Aufklärung, wird gebührend herausgestrichen: 9

„Wenn einst ein schöner Tag sich über unser ganzes Vaterland ergießt, dann denken wir gewiß auch deiner, alter Nicolai, armer Märtyrer der Vernunft! Wir werden dann deine Asche nach dem deutschen Pantheon tragen, den Sarkophag umgeben vom jubelnden Triumphzug ..." (Sämtliche Werke, Inselverlag 1910, S. 281).

Mendelssohn wird in seiner Rolle vorzüglich begriffen. Heine sieht auch, daß die „politische Revolution ... sich auf die Prinzipien des französischen Materialismus stützt", dem freilich nach Heines Meinung der spinozistische Pantheismus den Rang abläuft. Ein Jungdeutscher wie Karl Grün versucht seine publizistischen Talente an einer großen Enquete über den Sozialismus in Frankreich und Belgien (1845). Der Einfluß der Aufklärung, besonders von Helvetius, wird dabei eingehend geschildert.10 Ein sehr anschaulisches Gemälde der Aufklärung hatte schon 1835 Gutzkow entworfen: „Wem wird einst die Muse der Geschichte die Feder in die Hand drücken, um ein farbenreiches, treues Kulturgemälde des 18. Jahrhunderts zu schreiben? — Wenige Epochen vereinten so viele und so entgegengesetzte Elemente in sich. Wenige sind so bedeutend ihrem Inhalte und Zwecke nach gewesen. Da schwebte über ermüdeten Zuständen eine wunderbare Aufregung. Da hatte sich über die allgemeine Verwesung der positiven Begriffe und Institutionen ein phosphoreszierender Schimmer von Idealismus gezogen, der sich zuletzt in einem schrecklichen Brande entzündete ... — ... Klassische Perioden sind es, die in England wie in Frankreich an der Schwelle des Jahrhunderts stehen ... Doch schon begannen Voltaire und Hume die Tempelgeheimnisse der akademischen Weisheit an größere Massen zu bringen. Die Bewegung der Geister wird schneller, behender. Man sieht die Ziele näher, und da sie in der Tat doch nur immer entfernter liegen können, so überhastet man sich. Das tut nichts; die großen Geister kommen immer mehr unters Volk ... Autor und Publikum stehen nicht mehr im Verhältnisse hochachtungsvollen Respektes, sondern die Wahrheit steht mit dem Publikum auf Du und Du, jede neue Entdeckung ist ein Faden mehr zur Freundschaft ..."11

Wie die Vertreter des Jungen Deutschlands, so waren die Junghegelianer um die Akkreditierung der Aufklärung, insbesondere der französischen Aufklärung, bemüht. Hegel selbst hatte dieser Bewegung in der Geschichte der Philosophie einen festen Platz gewiesen. Ihre Kenntnis verdankte er offenbar schon den Lektüreerlebnissen seiner frühesten Jugend. In der Je-

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nenser Zeit taucht die auch späterhin festgehaltene Anschauung schon in den Grundlinien auf: „Der echte gesunde Menschenverstand ist nicht bäurische Roheit, sondern in der gebildeten Sphäre mit der Bestimmtheit der Bildung frei und gewaltsam umgehend nach der Wahrheit, und dann unmittelbar Rousseausche Paradoxie, wenn er seinen Widerspruch gegen die Bestimmtheit wie gegen die Bildung selbst in Grundsätzen ausdrückt, oder als Erfahrung, Räsonnement, Witz wie Voltaire und Helvetius."12

In den „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" ist das Moment der Negation in seiner Fruchtbarkeit noch deutlicher herausgehoben.13 Nachdem die Junghegelianer das spekulative Schema des Meisters gesprengt hatten, mußte die Hegeische Darstellung der Aufklärung in eine neue Beleuchtung rücken. Anknüpfung an die vergangene Geistesbewegung wurde nunmehr zum unmittelbaren Anliegen der Epoche. Die kritische Philosophie fühlte sich berufen, die Kritik der Aufklärung fortzuführen und zu beenden. Zu den Junghegelianern im weiteren Sinne gehörte auch der Historiker Friedrich Koppen. 1840 erschien von ihm anläßlich der hundertjährigen Wiederkehr der Thronbesteigung Friedrichs II. eine Jubelschrift mit einer seinem „Freunde Karl Heinrich Marx" gewidmeten Dedikation. Man kann nicht umhin, in dieser Widmung ein Zeichen der damals bestehenden weltanschaulichen Verbundenheit der beiden Freunde zu erkennen. — In Friedrich II. wollte Koppen die Aufklärung feiern. Er schreibt u. a.: „Es wäre endlich an der Zeit, die sterilen Deklamationen gegen die Philosophie des 18. Jahrhunderts einzustellen und selbst die deutschen Aufklärer anzuerkennen. Wirklich, wir verdanken ihnen viel, sehr viel, ebensoviel oder gar mehr als Luther und den Reformatoren."

Das Verhältnis zur Aufklärung wurde zu einem für die Hegeische Linke entscheidenden Motiv, zumal die weltanschauliche Reaktion in der Aufklärung den Hauptfeind des deutschen Geistes erblicken wollte. In einem Brief von Arnold Rüge wird „die Anknüpfung an die Aufklärung" eindeutig für das Signum der neuen Bewegung ausgegeben, als deren Repräsentanten Bruno und Edgar Bauer, Koppen, Karl Marx und Feuerbach gelten (Brief an Prutz vom 8. 1. 1842). Vorher schon hatte Moses Heß ein Bild von Karl Marx entworfen, den er als den Inbegriff der verschiedenen Strömungen der Aufklärung ansieht: „Denke Dir Rousseau, Voltaire, Holbach, Lessing, Heine und Hegel in einer Person vereinigt; ich sage vereinigt, nicht zusammengeschmissen — so hast Du Dr. Marx" (Brief vom 2. 9. 1841).

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Wenige Jahre später fühlte sich Marx gedrungen, in der großen „Selbstauseinandersetzung", als die „Die heilige Familie" gedacht war, seine neuen Erkenntnisse im Gegensatz zu den Junghegelianern klarzustellen. Auch hier bildet die Aufklärung das Paradepferd der großen Polemik. Sosehr sich die Junghegelianer auf die Aufklärung stützten, sowenig wollten sie eine weltanschauliche Spitzenstellung der materialistischen Systeme anerkennen. Schon Koppen hatte in seinem Friedrich-Buch den „groben Materialismus" von Holbach und Helvetius verworfen. Bruno Bauer wollte zwar zugeben, daß der Materialismus des 18. Jahrhunderts, wie er sich ausdrückte, „die Welt der Bewegung" begriffen hätte; dagegen hätte dieser Materialismus nicht begriffen, daß die Bewegung sich erst in der Bewegung des Selbstbewußtseins „vollende". Damit hatte Bauer die Rückkehr zur spekulativen Methode offenkundig gemacht: Was diese Position von der Hegels trennte, das war dann ein weiterer Rückfall aus dem objektiven in den subjektiven Idealismus. Gegenüber diesen Positionen der früheren Kampfgefährten wollte Marx ein eigenes Bild der großen geistigen Bewegung im 18. Jahrhundert entwikkeln. Der französische Materialismus ist demnach nicht nur ein Kampf gegen die bestehenden politischen Institutionen, wie gegen die bestehende Religion, sondern ebensosehr ein offener, ein ausgesprochener Kampf gegen die Metaphysik des 17. Jahrhunderts und gegen alle Metaphysik, namentlich gegen die der Descartes, Malebranche, Spinoza und Leibniz. Die französische Aufklärung hat sich also erst durch die Überwindung der großen rationalistischen Systeme philosophisch konstituieren können. Die Cartesianische Metaphysik verschmähend, macht sich die französische Aufklärung die mechanistische Naturlehre Descartes' zu eigen. Das ist die eine Linie des französischen Materialismus — die andere geht vom Lockeschen Sensualismus aus und erhält eine immer ausgesprochener soziologische Prägung. Dieser Zweig des französischen Materialismus wird vor allem von Helvetius und Holbach vertreten. In der Gesellschaftslehre, wie sie diese und andere materialistische Aufklärer entwickelten, ist für Marx schon der erste Ansatz zum Sozialismus vorgezeichnet: „Wie der Cartesische Materialismus in die eigentliche Naturwissenschaft verläuft, so mündet die andere Richtung des französischen Materialismus direkt in den Sozialismus" (Die heilige Familie, in: Gesammelte Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels, II, S. 228).

Die Impulse, die die Erforschung der französischen Aufklärung aus der Hegeischen Schule erhielt, erreichten auch noch die Zeit ihrer völligen Diskreditierung durch die herrschende philosophische Meinung: 1838 war

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Feuerbachs „Pierre Bayle" erschienen; Karl Rosenkranz, einst dem Hegelschen Zentrum nahestehend, schenkte den Deutschen 1866 seine große Diderot-Monographie („Diderots Leben und Werke"); kleinere Arbeiten von Rosenkranz galten Robinet (1861) und dem sozialistischen System des Benediktinermönches Dom Deschamps (1867), den Rosenkranz zu Unrecht für die Vorläuferschaft der Hegeischen Dialektik in Anspruch nehmen wollte. Die Reihe der bekannteren hegelianischen Erforscher der französischen Aufklärung schließt mit David Friedrich Straussens „Voltaire" (1870). Der Name Eugen Dührings, den wir vielleicht nur mit halbem Recht zu den entfernteren Geistesverwandten der Junghegelianer rechnen, spricht uns heute nur noch aus Katalogen von Antiquariaten an, in denen seine zahlreichen, im Selbstverlag erschienenen Schriften immer wieder zusammenfließen. Dühring (1833 — 1921) wirkte an der Berliner Universität als Privatdozent für Philosophie, bis ihn die politische Reaktion zum Rücktritt zwang. Dühring hatte sich zur Sozialdemokratie geschlagen und in ihr einen Flügel von Intellektuellen geführt, der bis etwa 1878 eine stets wachsende Anhängerschaft gefangennahm. Friedrich Engels' „Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" kämpft gegen die scheinradikalen Positionen dieses Sonderlings an, der mit dem Faltenwurf des Propheten hervortrat und dessen Weltbild schließlich immer mehr von einem frenetischen Antisemitismus umdüstert wurde. Bei Dühring bezifferte sich, wie bei den Junghegelianern, der Beruf der Philosophie auf radikale Kritik. Mit den Junghegelianern ist ihm eine rückhaltlose Sympathie für die französische Aufklärung gemeinsam. „Reaktionäre pflegen zu behaupten", sagt Dühring, „daß solche Geister wie Voltaire nur negativ gewesen. In der Tat aber war er in einer gewissen Richtung noch viel zu positiv, denn er ließ Vorstellungen unangegriffen, in denen noch der gröbere Aberglaube wurzelt." 14

Der französischen Aufklärung ist in seinem Geschichtsbild eine beherrschende Stellung angewiesen. Die grundlegende Bedeutung Lockes gerade für die französische Geistesbewegung ist ihm sowenig wie Karl Marx entgangen. Von Pierre Bayle hat sich Dühring eine deutliche Vorstellung gebildet. Außer Voltaire beschäftigt ihn vor allem Jean-Jacques Rousseau. Gegenüber den Errungenschaften in Frankreich verliert die deutsche Aufklärung alle Bedeutung. Dühring will nicht nur Leibniz, sondern auch Lessing entthronen. Mit solchen Urteilen machte es Dühring seinen Zeitgenossen leicht, über seine unbequemen Ansichten hinwegzugehen. Die spezifische Beziehung, die der Hegelianismus aller Richtungen zur französischen Aufklärung wahrte, dokumentiert sich zu guter Letzt in der

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„Geschichtsphilosophie" des schwäbischen Prälaten Gebhard Mehring (1877).15 Mehring vertrat einen pietistisch gedämpften Hegelianismus, der, seiner spekulativen Substanz beraubt, sich allerdings schnell in ein rein historisches Weltbild verwandelt. Anknüpfung an die Philosophie der Geschichte erscheint als der rettende Ausweg eines Denkens, das gleichermaßen von einer nihilistischen Philosophie wie von einem Versinken in den „Pfuhl des Materialismus" bedroht sei. Die französische Aufklärung mündet in die Revolution, die als eine erschreckende Gegenwartsmacht gefürchtet wird. In Frankreich verdankt die Aufklärung der Literatur ihr bewegtes Leben, das Jahrhundert verdankt ihr den Ruf, als das ruhmvollste Frankreichs zu gelten. In der Aufklärung glaubt Mehring, darin nicht allzuweit entfernt von der katholischen Aufklärungskritik, die Vereinseitigung des Prinzips der Reformation zu erkennen. Die Anschauung, daß die französische Aufklärung in einem geschichtsblinden Rationalismus befangen sei, wird von der historischen Schule übernommen. Diese Anschauung ist in Deutschland längst zum Axiom geworden, das gegen jede Diskussion und Anzweifelung gefeit ist. Das Subjekt verkannte, Mehring zufolge, die Quelle seiner Selbständigkeit, indem es die Gebote der Geschichte geflissentlich überhörte. Von den Enzyklopädisten wird der subjektive Übermut auf die Spitze getrieben. Der Sensualismus ist nichts anderes als die zum System erhobene Leichtfertigkeit: „Eine Zusammenordnung einzelner physikalischer Gesetze, durch die man das Leben ... zu erklären vermochte, sollte die Macht des Göttlichen in der Welt und im Selbstbewußtsein entbehrlich machen. Das nannte man damals Philosophie ..."16

Wenn eine solche Invektive denjenigen der vom gesunkenen Kulturgut der Romantik zehrenden Reaktion nichts nachgibt, so will Mehring im Gegensatz zu ihr nun auch die positiven Seiten gewürdigt haben: die Verbesserung der Strafjustiz und der Behandlung der Geisteskranken. Als positiv hat die von der Aufklärung angebahnte Erweiterung des Kreises der an den allgemeinen Angelegenheiten Interessierten zu gelten. Die Aufklärung hat die Macht der öffentlichen Meinung begründet und den Prozeß der Humanisierung des Staates eingeleitet. Ist eine solche Position gegenüber der in Deutschland eingerissenen Aufklärungsfeindschaft immerhin beachtlich, so verrät sie doch mit der Aufspaltung des Prozesses in eine positive und in eine negative Seite den Verfall der Hegeischen Dialektik und das vollständige Unverständnis für sie. Greifen wir von diesem Ausblick, zu dem uns der innere Zusammenhang der hegelianisch fingierten Systeme verführte, zurück auf das vormärzliche

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Deutschland, so fehlt es nicht an eigenartigen Einstellungen. Hier wäre zuallererst Ernst Moritz Arndts zu gedenken, der in scheinbarem Widerspruch zu seiner gallophoben Vergangenheit zwei französische Schriften der Aufklärung den Deutschen näherbringen wollte. Einmal „Die Zauberinsel" (1803), die Übersetzung des mystagogischen Werkes eines vergessenen französischen Schriftstellers17, und dann (1846) Morellys Entwurf einer kommunistischen Gesellschaftsordnung „Le code de la nature", von Ernst Moritz Arndt fälschlicherweise Diderot zugesprochen. Diese irrige Zusprechung bildet nun aber das Fundament der Arndtschen Einführung. Diderot, in dem Goethe den deutschesten aller Köpfe gesehen hatte, war einzigartig berufen, seiner Epoche und ihrer korrupten höfischen Gesellschaftsordnung Paroli zu bieten. Ernst Moritz Arndt, der das freie Bauerntum für die Säule der staatlichen Ordnung ansieht, ist natürlich weit davon entfernt, die von ihm dargestellten kommunistischen Lehren zu teilen. Er gehorcht vielmehr einem informativen Bedürfnis, eine Einstellung, die im Vormärzdeutschland schon bemerkenswert genug ist. Eine Figur, die dem nachmärzlichen Deutschland angehört und doch noch die Allüren des jungdeutschen Journalismus besitzt, ist der Literarhistoriker Julian Schmidt, gegen den Ferdinand Lassalle eine vernichtende Polemik richtete.18 Obwohl Julian Schmidt sich bedeutende Kenntnisse in der deutschen und französischen Literaturgeschichte, insbesondere der modernen Epoche, zugelegt hatte, betrog er sich um die Früchte seines Fleißes durch eine allzu aphoristische, impressionistisch den Tonfall der Jungdeutschen nachahmende Urteils- und Darstellungsweise: Die „Geschichte der französischen Literatur seit der Revolution" (1858) ist eines der frühesten Muster einer der Gegenwart gewidmeten literarhistorischen Arbeit; die Herkunft der neuen Sageformen aus der Spätaufklärung wird mit Nachdruck aufgezeigt. Einzelne moralisierende Ausfälle, die Julian Schmidt wie auch bald nachher Hermann Hettner gegen die französische Gesellschaft richtete, dürften — wie Kurt Wais sagt — „einer gewissen Ängstlichkeit entsprungen sein, ein allzu rosiges Bild von der Wirklichkeitsrolle der aufklärerischen Ideen zu bestärken"19. Wenn dem so ist — und wir sind überzeugt von der Richtigkeit dieser Auslegung —, so will das besagen, daß die Vorurteile über die französische Aufklärung schon zum festen Bestandteil des Bildungsrepertoires geworden waren. Eine unmittelbare Beweisführung wird freilich eben durch die axiomatisch jede Diskussion verwerfende Geltung der herrschenden Vorurteile erschwert. Hermann Hettners fünfbändige Literaturgeschichte (1862—1864) ist der erste und letzte in Deutschland unternommene Versuch, die französische

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Aufklärung, der ein eigener Band gewidmet ist, im Zusammenhang darzustellen. Die Darstellung der englischen und französischen Aufklärung soll die Voraussetzungen für die Genesis der deutschen Klassik (der die letzten drei Bände gewidmet sind) schaffen. Damit hat Hettner einen Weg betreten, auf dem ihm die deutsche Mitwelt und Nachwelt die Gefolgschaft verweigerte. Die deutsche Klassik war hier noch einmal in einen weltenweiten literarischen Zusammenhang hineingestellt. Hettners Darstellung der französischen Aufklärung erreichte die Höhe der zeitgenössischen Erkenntnisse. Die Standardisierung des Hettnerschen Werkes wirkte freilich in der Folgezeit eher lähmend auf die deutsche Forschung, die über den von Hettner gezogenen Kreis der literarischen Erscheinungen nicht hinauszugehen wagte. Ebenso wie dieses Standardwerk über die Aufklärung wurzelt auch Friedrich Albert Langes „Geschichte des Materialismus" (1866) in den progressiven kleinbürgerlichen Strömungen, die wenige Zeit darauf an Bismarcks Siegen zerschellen sollten. Der Standpunkt Langes ist der eines Kantianers, aber er befleißigt sich der größten Objektivität in der Darstellung seines Gegenstandes. Sehr ausführlich wird der Materialismus in Frankreich gewürdigt. Erst von Dilthey20 sollte ein neuer Impuls für die Kenntnis der französischen Aufklärung ausgehen. Dilthey gewahrte den entscheidenden Beitrag der französischen Aufklärer für die Ausarbeitung des modernen geschichtlichen Weltbildes. Damit war eine Bresche in die Mauer der deutschen Vorurteile geschlagen — aber Dilthey kam auf diese Gedanken nicht mehr zurück. Unter seinen Schülern bemühte sich vor allem Unger um eine gerechtere Würdigung der französischen Aufklärung, von der so entscheidende Impulse auch auf Hamann ausgegangen waren. 21 Unger stellt eindeutig fest, daß die Bewegung in Frankreich im Zeichen des Sensualismus begann; eine einfache Feststellung, die aber genügt, um die Vorurteile über den ahistorischen und rationalistischen Geist dieser Bewegung zu entkräften. Der im weiteren Sinne der Dilthey-Schule nahestehende Literarhistoriker H. A. Korff bekundete in seiner 1917 erschienenen Habilitationsschrift „Voltaire im literarischen Deutschland des XVIII. Jahrhunderts" die für einen Germanisten ungewöhnliche Einsicht, daß der große Mann in seinem Wesenskern von all der gegen ihn in Deutschland entfachten Polemik nicht getroffen wurde. 22 Seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts erlangte die französische Aufklärung durch die Ausbildung des Naturrechts die besondere Beachtung der deutschen Rechtshistoriker. Otto Gierke hatte den Träger der Rechtsbezie-

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hungen in der Kollektivität, in der Genossenschaft gesehen: eine Anschauung, die zweifellos auf die historische Schule zurückverweist, die aber bei Gierke und seinen Schülern zu ganz entgegengesetzten Folgerungen führte. Das Naturrecht wird als Ausdruck einer organischen Gemeinschaft einer neuen Musterung unterzogen. Das aus der Vertragstheorie entspringende Revolutionsrecht gerät bei dem Gierke-Schüler Kurt Wolzendorff (1916) gerade in seiner aufklärerischen Fassung von Jurieu bis zu Rousseau in den Brennpunkt des Interesses.23 Der vom Positivismus zum Neukantianismus übergegangene Staatsrechtler G. Jellinek widmet der Erörterung des Rousseauschen Naturrechts einen breiten Raum. Obwohl Jellinek zugibt, daß die Vertragstheorie von allen Gedanken an eine historische Sukzession der Gesellschaftsgeschichte unabhängig gewertet werden müsse, bekämpft er im Naturrecht den aller Staatlichkeit und Rechtsbildung vorangegangenen Zustand. Jellinek schätzt die verhängnisvolle Wirkung des Naturrechts auf das vergangene und auch auf das gegenwärtige Denken sehr hoch ein. Er ist überzeugt davon, daß das Naturrecht in der Zukunft seine fatale Rolle zu spielen bestimmt ist, unbeschadet aller Einwände einer normativen Jurisprudenz, die dieser gefährlichen Entwicklung entgegentreten.24 Aus all dem läßt sich so viel ersehen, daß es keineswegs an einzelnen Bemühungen um ein Verständnis bestimmter Probleme der Aufklärung fehlte. 1927 konnte der Soziologe Bernhard Groethuysen als Ergebnis einer jahrzehntelang betriebenen Quellenforschung den ersten Band seiner „Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich" vorlegen. In diesem Werk sind vor allem die klerikalen Stimmen aus dem 18. Jahrhundert berücksichtigt, insofern sie ein indirektes Zeugnis der Entkirchlichung und Säkularisierung bilden. Demgegenüber unternahm Ernst Cassirer 1932 in seiner „Philosophie der Aufklärung" den Versuch, das Kriterium der kritischen Philosophie für das Verständnis der Bewegung des 18. Jahrhunderts nutzbar zu machen. Wenn damit die Möglichkeit einer ernsthafteren Würdigung gerade der radikalen Strömungen jener Epoche entfallen mußte, so wurde doch die Erkenntnis Diltheys, daß die Ursprünge des geschichtlichen Weltbilds in der französischen Aufklärung liegen, von Cassirer energisch festgehalten. Im Erscheinungsjahr von Cassirers „Philosophie der Aufklärung" gab Fritz Schalk im Rahmen eines Forschungsberichtes eine sehr durchgreifende und umfassende Übersicht über das neuere und neueste Schrifttum zur französischen Aufklärung. 25 Die neugewonnene Aktualität des Aufklärungsstudiums wird darin in schlagenden Formulierungen nachgewiesen. Wie aber schon aus der umfangreichen Bibliographie hervorgeht, sind an dem neuen

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Aufschwung der Geister die deutschen Autoren nur in geringerem Maß beteiligt. Ihre Positionen waren viel zu heterogen und isoliert, um eine wirksame Bekämpfung der eingebürgerten Vorurteile zu erlauben. Die herrschende Einstellung, die durch alle Versuche einer Emanzipation von der communis opinio nicht dementiert werden kann, läßt sich gerade auch bei solchen Schriftstellern erkennen, die sich den Vertretern der französischen Aufklärung zuwandten. Die Wiederentdeckung der großen Literaten der Aufklärung durch Nietzsche ist das Werk eines ungeheuerlichen Mißverständnisses. Nietzsche glaubt in den Autoren die Repräsentanten des Ancien regime verherrlichen zu können. Ihr ganzes Streben, das gerade auf die Überwindung dieses Regimes gerichtet war, wird damit der Impression geopfert, die Nietzsches hypersensibler Geist aus gewissen Residuen der höfischen Lebenskunst gewonnen hatte. Im Kriegswinter 1870 entstand Hermann Grimms „Voltaire und Frankreich". Diese Schrift steht ganz und gar im Zeichen einer „nationalpolitischen" Enquete, die neben den Zeichen der französischen Dekadenz die geheimen Kraftquellen aufspüren will, die den Erbfeind gefährlich machen könnten. Es nimmt nicht wunder, daß von Voltaires objektiven Errungenschaften nichts übrigblieb. Voltaire ist nur als Hasser genial. Die etwas später entstandenen Schriften Karl Hillebrands über die französische Aufklärung sind allesamt dem hoffnungslosen Versuch gewidmet, das Ancien regime nicht nur im politischen Gefüge Frankreichs im 18. Jahrhundert zu erkennen, sondern seine Wirksamkeit auch in die Schriftsteller der Aufklärung hineinzuinterpretieren. 26 Vor fünfzig Jahren hatte A. Lombard in einer brillanten Monographie über den frühaufklärerischen Ästhetiker Dubos ein umfassendes Kapitel der Nachwirkung dieses ästhetischen Systems auf Lessings „Laokoon" gewidmet. Von Dubos stammt der Gedanke einer Abgrenzung der einzelnen Künste nach ihrer Wesensart. Unsere Germanistik hat von diesem wesentlichen Beitrag zum Verständnis Lessings keine Notiz genommen.27 Der Aufklärungsfeindschaft kamen Versuche einer Erneuerung der Nomenklatur und der Periodisierung entgegen. Periodisierung heißt in unserer vorgeformten Geschichtswelt nicht nur Erkenntnis eines Verlaufs, sondern Neueinteilung, die sich der hergebrachten Vorstellung überlagert. Die Tendenz dieser neuen Periodisierung ist offensichtlich auf die Amputation der Aufklärungsepoche gerichtet. Mit der antithetischen Entgegensetzung des Sturm und Drangs als einer der Aufklärung feindlichen Erscheinung und mit dem neuen Begriff einer tief ins 18. Jahrhundert zurückverfolgten Prä-

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romantik war ein gewichtiges Moment der Entwicklung von der Aufklärung losgerissen. Die Aufklärung wird nicht nur durch eine solche Annexion beschnitten — sie wird durch Beraubung ihrer entscheidenden, in die Gegenwart wirkenden Impulse zum hoffnungslosen Veralten verurteilt. Dazu tritt in Deutschland die Neigung, das „Rokoko" auf das ganze 18. Jahrhundert auszudehnen: der Begriff der Aufklärung wird verdrängt von einer Nomenklatur, die vorn Ursprung her nichts als einen ornamentalen Stil, eine flüchtige, ein paar Jahre währende Mode bezeichnet hatte. Während auf der einen Seite das 18. Jahrhundert, dem Beispiel der Goncourts folgend, auf das Malerische begrenzt wird, hält Spengler an dieser ganzen Epoche allein den musikalischen Stil für beachtlich. Für die Unbeirrbarkeit der geistesgeschichtlichen Einstellung gegenüber der wirklichen Ordnung der Dinge gab der umfassend gebildete und brillante Historiker Friedrich Meinecke in seinem letzten größeren Werk „Die Entstehung des Historismus" (1936) ein verblüffendes Beispiel. In dem ersten, der französischen Aufklärung gewidmeten Band ist wohl von Voltaires Geschichtsschreibung die Rede; als einzig wahrhaft historischer Kopf wird indessen Montesquieu gefeiert. Nach der Meinung Meineckes ist es nur ein unglücklicher Zufall gewesen, daß Montesquieu viel zu früh auf die Erde und gerade nach Frankreich berufen war. Müßte Montesquieu nicht erst am Ende der großen Epoche erschienen sein? Ist er doch berufen, die Brücke zur deutschen Geisteswelt zu schlagen.28 Wo die herrschenden Vorurteile auch über die Grenze unserer Zeit gelangen konnten, blieb die Bemühung um die französische Aufklärung das Reservat von einzelnen Forscherpersönlichkeiten. Zu ihnen gehört vor allem Fritz Schalk, dem außer einer Reihe von semantischen, tief in die Aufklärung einschneidenden Untersuchungen literarhistorische Abhandlungen über „Das Lächerliche in der französischen Literatur des Ancien regime" (1954), „Diderots ,Essai über Claudius und Nero'" (1956), „Montesquieu und die europäischen Traditionen" (1951) verdankt werden. Eine Hoffnung auf dem Gebiet der Erforschung der französischen Aufklärung ist mit Erich Haase frühzeitig ins Grab gesunken; seine postum veröffentlichte „Einführung in die Literatur des Refuge" (Berlin 1959) geht den Schicksalen der ersten protestantischen Generation der Emigranten nach, deren geistige Spannung durch den Gegensatz von Bayle und Jurieu bestimmt ist. Von Franz Schnabel und Martin Göhring angeregt ist die 1956 in Wiesbaden erschienene Arbeit von Eberhard Weis: „Geschichtsschreibung und Staatsauffassung in der französischen Enzyklopädie". Wir können schließlich noch auf eine von Kurt Wais (Tübingen) betreute Dissertation Peter Brock-

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meiers, „Darstellungen der französischen Literaturgeschichte von Claude Fauchet bis La Harpe", verweisen.29 Trotz dieser und anderer Bemühungen darf man nicht übersehen, daß die alten Vorurteile in einem weiteren Bereich ihre Geltung nicht verloren haben. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur ein so typisches Handbuch wie Hermann Pongs' 1953 erschienenes „Kleines Lexikon der Weltliteratur" durchzublättern. Da wird das Wesen der Aufklärung kurz und bündig gekennzeichnet „als eine Epoche, die mit dem Licht der Vernunft an jedes Lebensproblem sich wagte". Die Folgen waren unausdenkbar: die Dichtung „schrumpfte ein". Der Leser wird ferner darüber belehrt, „daß die Aufklärung sich zu Unrecht auf Leibniz berufen wollte". Die Leibnizsche Philosophie war nicht auf die Aufklärung, sondern auf die Bewahrung des Weltgeheimnisses abgestimmt. Zum Glück erstanden aus demselben Jahrhundert die rächenden Geister, unter ihnen Lessing, von dem da gesagt wird, daß er als Vollender und erster Überwinder der Aufklärung zu gelten habe. Und ganz zu schweigen von Herder und von Jean-Jacques Rousseau, dem Vater der europäischen Romantik im „Aufstand gegen Aufklärung und Rokoko". Dagegen ist das ganze Lebenswerk Voltaires ein fortgesetztes Zeugnis dessen, was die „abstrakte Tyrannis der Vernunft" anzurichten vermochte. Was aber den Nimbus Voltaires vollends überschattet, das ist der schwarze Undank gegenüber der Großmut des heldischen Friedrich gewesen. Die Vorsehung hat es gefügt (auch ihre Schliche muß ein Realienlexikon belauern), daß Voltaires letztes Pamphlet gegen Friedrich II. rechtzeitig genug erscheinen konnte, um Friedrichs Lebensabend noch „zu erheitern". Dem Schatten Voltaires wird die Ehre zugesprochen, die der Lebende keineswegs nach Gebühr zu schätzen wußte: dem König als Hofnarr zu dienen. Überhaupt wird die trostlose Wüste des 18. Jahrhunderts nur durch den Ausblick auf die deutsche Oase erträglich. Es wäre ein schwerwiegender Irrtum, wenn man das Verhältnis von Leibniz zu Newton als einen Kompromiß mit dem rationalistischen Ungeist westlicher Prägung auslegen wollte. Leibniz verfiel durch die Rezension der Newtonschen Theorien „nicht nur nicht der rationalen Verengung", sondern er erreichte „die universale Ausweitung" seiner Metaphysik. Auch das Rokoko verändert in Deutschland zu seinem Vorteil seinen Charakter. Die bodenlose Frivolität eines Crebillon versittlicht sich in Wielands gediegenen Bildungsromanen. — Daß solche Meinungen immer noch Kurswert besitzen, das bezeugt der Tübinger Philosoph Bollnow30, der sich mit dem ganzen Komplex in einem bemerkenswerten Aufsatz auseinandersetzte. Seine Meinung geht dahin, daß im heutigen Deutschland nach wie vor die „Vorstellung von der ,seichten', von der ,flachen' Aufklärung" regiere.

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Gerade Bollnow ist mehr als irgendeiner der in Westdeutschland lehrenden Philosophen geneigt, der Aufklärungsforschung das ihr so lange verweigerte Recht zu geben. Und zwar ist es die unerhörte Bedrohung unserer Kultur durch die makabren Gelüste der Selbstvernichtung, die eine methodische Annäherung an die Konzeption der Aufklärung für Bollnow zur Forderung des Tages machte. Er sieht sehr wohl das vulgäre Fehlverständnis einer aufklärungsfeindlichen Ideologie, deren Herrschaft weit über ihre geschichtliche Grenze verlängert wurde. Wie es zuerst gelungen war, das Verstehen der Gotik gegen ihre von einer humanistischen Klassik verschuldete Verzerrung durchzusetzen, so hatte sich auch die Erkenntnis der Eigenständigkeit des Barocks gegenüber seiner klassizistischen Erniedrigung durchgerungen. Sollte nicht auch die Aufklärung die Stunde ihrer Rechtfertigung finden? Das Phänomen der Aufklärungsfeindschaft war schon einem so scharfsinnigen Geist wie Ernst Troeltsch aufgefallen. Auf wenigen Seiten kennzeichnete er diese Reaktionserscheinung: „Seit Giordano Bruno und Shaftesbury, seit Leibniz und Spinoza ist das Streben des europäischen Gedankens. Das ,natürliche System' der Aufklärung gab ihm die erste kulturbeherrschende Gestalt, der ,entwicklungsgeschichtliche Pantheismus' des deutschen Idealismus verflüssigte den Einheitsgedanken zu einem organischen Entwicklungsprinzip. Seitdem sind diesem vorschnellen Abschluß die schwersten kritischen Bedenken auf fast allen Gebieten entgegengetreten, haben sich überwunden oder verbündet geglaubte Mächte älterer und umfassenderer Lebensanschauungen empört, sind ganz neue, von ihm nicht geahnte Probleme aufgetaucht und schwere Krisen aus den von ihm gestifteten Verhältnissen hervorgegangen. Sosehr aber jenes Hochgefühl der Aufklärung und ihrer poetischen Vertiefung und Verlebendigung in der deutschen Literatur gegenwärtig einer skeptischen Stimmung Platz gemacht hat, die Grundgedanken des modernen Denkens sind damit in ihrer Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit nicht beseitigt."31

An den Wurzelgrund dieser Erscheinung aber leuchtet eine Bemerkung über die Aufnahme von Cassirers Versuchen zur Philosophie des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts, die sich in der „Einführung in die Geistesgeschichte" von Erich Rothacker findet. Cassirer wird vorgeworfen, an der deutschen Romantik und damit an der fundierenden Position der herrschenden Geistesgeschichte vorbeigegangen zu sein.32 Mit diesem Bekenntnis ist die Unversöhnlichkeit der beiden Standpunkte endgültig erhärtet. Es gibt ein Deutschland, das nicht durch die deutsche Romantik bestimmt ist, sondern von den ihr entgegengesetzten Strömungen ausgeht. Was dies betrifft, so können wir uns im übrigen nicht leicht davon überzeugen, daß der Austrag solcher Gegensätze „fatal" sein soll oder gar an ein nationales Verhängnis rührt. Er ist ein Zeichen der geistigen Lebendigkeit, das wir

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nicht missen möchten und das wir unter allen Umständen dem durch die Abstumpfung aller Gegensätze entstehenden Kirchhoffrieden des Geistes vorzuziehen haben.33

Anmerkungen 1 Eine erste Übersicht bietet die 1963 im Akademie-Verlag, Berlin, erschienene, von mir eingeführte Textsammlung „Die französische Aufklärung im Spiegel der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts". 2 Mit dieser Feststellung läßt sich unsere Arbeit gegenüber der 1958 von Kurt Wais veröffentlichten, gut dokumentierten Studie „Das Schrifttum der französischen Aufklärung in seinem Nachleben von Feuerbach bis Nietzsche" (In: Forschungsprobleme der vergleichenden Literaturgeschichte, II. Folge, Tübingen 1958), einer Darstellung desselben Gegenstandes, eindeutig abgrenzen. Abgesehen davon, daß diese geistesgeschichtlich reich nuancierte Studie nur fünf Dezennien des vergangenen Jahrhunderts erfaßt, bleiben die Äußerungen der radikalen Ablehnung der französischen Aufklärung darin unberücksichtigt. 3 Wie Savigny hat Hugo das Naturrecht, dessen revolutionäre Wirkung im 18. Jahrhundert keinem Zweifel unterliegt, durch systematische Skepsis entwertet, um an seine Stelle das positive Recht als Manifestation der Sitten und des Volkscharakters zu setzen. Marx zeigt in geistreicher Weise, wie diese Anschauungen in den Sumpf des Irrationalismus münden. Wenn Hugo scheinbar die Aufklärung adoptiert, so ist es in Wahrheit das Ancien regime, das gegen die progressiven Tendenzen der Aufklärung und gegen die Französische Revolution ausgespielt wird. „Hugo ist ein Skeptiker gegen das notwendige Wesen der Dinge, um ein Hoffmann gegen ihre zufällige Erscheinung zu sein. Er sucht daher keineswegs zu beweisen, daß das Positive vernünftig sei ... Die Skepsis des achtzehnten Jahrhunderts gegen die Vernunft des Bestehenden erscheint bei ihm als Skepsis gegen das Bestehen der Vernunft ... er sieht in dem Positiven nichts Vernünftiges mehr, aber nur, um in dem Vernünftigen nichts Positives mehr sehen zu dürfen" (Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Berlin 31958, I, S. 79/80). 4 Philosophie der Geschichte, Wien 1829, II, S. 288. 5 In der italienischen Ausgabe „Storia della storiografia moderna", Napoli 1944, II, S. 97 ff. 6 Gedruckt 1863, S. 64 (gelesen erstmals 1850). 7 Gesammelte Schriften, Hamburg 1840, VII, S. 309. 8 A. a. O., VI, S. 167 f. 9 A.a.O., VIII, S. 91 f. 10 Die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien, Darmstadt 1845, S. 267 ff. 11 Über Goethe im Wendepunkt zweier Jahrhunderte, in: Ausgewählte Werke, Leipzig, VIII, S. 271 f. 12 In: Dokumente zu Hegels Entwicklung, S. 356 f. 13 Ausg. Glockner, XIX, S. 506 ff. 14 Die Größen der modernen Literatur, Leipzig 1893, I, S. 146. 15 Vgl. Rudolf Krauss, Schwäbische Literaturgeschichte, II, S. 46 f. 16 Die philosophisch-kritischen Grundsätze der Selbstvollendung oder die Geschichtsphilosophie, Stuttgart, Cotta, 1877, S. 431. 17 Der von Ernst Moritz Arndt übersetzte Text ist ein Werk von Tiphaigne de La Röche, „Giphantie" (1760). Die erste Monographie über diesen Autor gab L. S. Gordon: Sabitii utopisti XVIII veka: Tiphaigne de La Röche, in: Istoria sozialisticeskij ucenii, Moskau 1962, S. 89-111.

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18 In seiner Schrift „Herr Julian Schmidt als Literarhistoriker" (1862) stand Lassalle sichtbar unter dem Einfluß der „Heiligen Familie" von Marx. Seine Grundposition ist aber unverrückbar durch Fichte und Hegel und durch die gesamte klassische deutsche Philosophie bestimmt. 19 Forschungsprobleme, II, S. 87. 20 Das 18. Jahrhundert und die geschichtliche Welt (1901), in: Bd. III der „Gesammelten Schriften". 21 Hamann und die Aufklärung, 21925, S. 53. 22 1920 erschien die verdienstvolle Habilitationsschrift von Fritz Neubert über B. de Maillets „Telliamed", eine kritische Untersuchung der Handschrift dieses genialisch-abstrusen Werkes der Frühaufklärung, auf das sich alle folgenden Kosmologien von Boulanger bis zu Herder stützen werden. 23 Staatsrecht und Naturrecht (Heft 126 der „Unters, zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte"), Breslau 1916. 24 Allgemeine Staatslehre, 31914, S. 201 ff. 25 Zur Erforschung der französischen Aufklärung, in: Volkstum und Kultur der Romanen, 1931, S. 321 ff., und 1932, S. 289 ff. 26 Über Nietzsche, H. Grimm, Hillebrand vgl. Wais, a. a. O., S. 99 ff. 27 Man kann feststellen, daß dem Einfluß der französischen Aufklärung auf Herder und Lessing in den neueren Biographien immer weniger Raum gewährt wird. Das ist u. a. durch einen Vergleich der Lessing-Biographien von Danzel (1849—1853) und Erich Schmidt (1884) und ebenso der Herder-Biographie von R. Haym (1877) und der von Kühnemann (1912) ersichtlich. 28 Die Entstehung des Historismus, München—Berlin 1936, I, S. 125 ff. 29 Erschienen in der von der Deutschen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen „Schriftenreihe der Arbeitsgruppe zur Geschichte der deutschen und französischen Aufklärung", 1963. 30 Die Vernunft und die Mächte des Irrationalen, in: Wesen und Wirklichkeit des Menschen, Göttingen 1957, S. 88 ff. 31 Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, 1925, S. 297. 32 „Daß Ernst Cassirers bedeutende Studien zur deutschen Geistesgeschichte die eigentliche Pointe dieses Prozesses verfehlen, liegt mit eherner Notwendigkeit darin begründet, daß er von einem vorromantischen Standpunkt aus nie und nimmer konstruiert werden kann" (Rothacker, a. a. O., S. 67). 33 Zur Vervollständigung müßten noch die vom Verfasser dieser Übersicht betreuten Arbeiten erwähnt werden, die in der „Schriftenreihe der Arbeitsgruppe zur Geschichte der deutschen und französischen Aufklärung" im Akademie-Verlag (Berlin) und in den von Hans Mayer (seit 1964 von Walter Dietze) und ihm herausgegebenen „Neuen Beiträgen zur Literaturwissenschaft" erschienen sind. Darunter befinden sich Arbeiten über Holbach, Cartaud de La Villate, Boureau-Deslandes, Brissot, Babeuf, Bonneville. Es war in diesem Zusammenhang nicht möglich, das Nachwirken der französischen Aufklärung in der französischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts aufzuzeichnen. Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts dominiert, wie in Deutschland, ein negatives Verhältnis zu dieser Literaturepoche. 1840 erschien aus der Feder eines französischen Jesuiten ein Pamphlet unter dem Titel „Les mauvais livres, les mauvais journaux et les mauvais romans". Eine schwarze Liste enthält die Namen der wichtigsten Aufklärer in alphabetischer Reihenfolge, angefangen beim Marquis d'Argens und endend mit Voltaire. Diese 34 Namen sind die Namen von 34 Verbrechern. Sie werden beschuldigt, die Grundlagen der alten Ordnung unterminiert zu haben. Die Entfremdung von der Aufklärung beschränkte sich keineswegs auf die klerikalen Kreise in Frankreich. Selbst ein Tocqueville konnte schreiben: „Quel Fran£ais s'aviserait aujourd'hui d'ecrire les livres de Diderot ou d'Helvetius? Qui voudrait les lire? Je dirais presque, qui en sait les titres? L'experience incomplete que nous

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avons acquise depuis soixante ans dans la vie publique a suffi pour nous degoüter de cette litterature dangereuse" (L'Ancien regime et la Revolution, Paris 1866, S. 227). In solchen Worten wird die vollständige Entfremdung der Restaurationsepoche von einer Bewegung deutlich, die letzten Endes das geistige Fundament der bürgerlichen Gesellschaft zu bilden hatte. Freilich gab es neben dem Frankreich der Tocqueville und Damiron noch ein anderes Frankreich, das sich um die Ausarbeitung eines sozialistischen Weltbildes bemühte. Daß dabei wichtige Bausteine aus der französischen Aufklärung übernommen wurden, unterliegt keinem Zweifel. Immerhin ist es bezeichnend, daß die idealistisch-religiösen Strömungen so weit auch auf die Wegbereiter des Sozialismus übergegriffen hatten, daß sie, vor allem Fourier und Saint-Simon, ausdrücklich den Bannstrahl gegen die Aufklärung richteten. Für Taine ist die Aufklärung schuldig, weil sie den Geist der Klassik fortgesetzt, für Faguet und Brunetiere, weil sie mit dem Geist der Klassik gebrochen hat. Die Antiromantik bezichtigt die Aufklärung der Emanzipierungsgelüste, wogegen die Romantik in der Aufklärung die reaktionäre Verlängerung der Klassik verabscheut. Die entscheidende Wendung hing mit dem letzten Sieg der bürgerstolzen Republik zusammen, die sich mit Nachdruck zur Erbschaft der großen Revolution bekannte. Seit Aulard und Mathiez die Doktrin der Französischen Revolution ex officio, als Lehrstuhlinhaber der Revolutionswissenschaft, verkündeten, war für das Verständnis des 18. Jahrhunderts der Weg geebnet. Der Umschwung wurde von Lanson und Mornet vollzogen, deren Impulse noch heute, trotz aller methodischen Neuerungen, in Frankreich und in den Vereinigten Staaten wirken.

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Das Thema, das dieser Gedächtnisfeier zugrunde gelegt wurde,1 hat für die Bestimmung der Quellen des wissenschaftlichen Sozialismus eine nicht zu übersehende Bedeutung. Die Beschäftigung mit der englischen und französischen Aufklärung erfüllt die ganze Jugendepoche Marxens: Die Errungenschaft des jungen Marx wird auch vom Verfasser des „Kapitals" mit Nachdruck festgehalten. Die erste Frage, auf die wir eine Antwort finden müssen, betrifft das Verhältnis der Deutschen zur westlichen Aufklärung in der dem ersten Auftreten von Marx und Engels vorausgegangenen Epoche. Es handelt sich offenbar um ein Thema, das in der Mitte aller Parteiungen und Diskussionen stand, ein Thema, das eindeutige Entscheidungen verlangte.2 Im Schicksalsjahr 1814, in dem es den Anschein hatte, daß die Französische Revolution mit Napoleon für immer abgedankt hatte, wurde in Deutschland die erste Kriegserklärung gegen die Aufklärung ausgesprochen. In seiner Invektive gegen die Aufklärung hat Savigny, der Begründer der historischen Schule, schon alle Motive ausgespielt, die späterhin für die deutsche Geistesgeschichte eine geradezu axiomatische Bedeutung erlangten.3 Die Stellungnahme Savignys besitzt ohne Zweifel den Reiz der Neuheit, an dem gemessen die Rede der geistesgeschichtlichen Epigonen nur als ein abgrundtief gesunkenes Kulturgut gelten kann. Die allseitige Befehdung der Aufklärung erlaubte es Savigny, sein diametral entgegengesetztes Geschichtsbild zu entwickeln, mit dem sich der deutsche Geist in vollständiger Loslösung von allen zeitgenössischen Zusammenhängen konstituieren konnte. Vor allem wurde der französischen Aufklärung ein geschichtsfremder Rationalismus und eine ungeheuerliche Selbstüberschätzung zur Last gelegt.

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Die Französische Revolution als das fatale Ergebnis der Aufklärung wird von der historischen Schule ebenso wie die Gewalttat der Hegeischen Dialektik verworfen. Man stellt der spekulativen Philosophie einen behutsamen Empirismus gegenüber. Die ewige Unruhe eines Zeitalters der Umwälzungen gilt als ebenso unfruchtbar, wie die Windstille der beginnenden Restaurationszeit als ein schöpferischer Zustand bejaht wird. Geschichte liegt nicht mehr im Wandel, sondern nur noch im Bleiben; es kommt nicht mehr auf die gestaltenden Kräfte an, sondern allein auf den Charakter der in sich gekehrten Nation, auf ihre zeitlose Tradition, auf ihr Brauchtum, auf ihre Sitten — kurz, auf alle jene inneren Werte, an denen die aktualitätserfüllte Aufklärung achtlos vorübergegangen war. Es ist nicht verwunderlich, daß die herrschenden Kreise der Restaurationsepoche und die an der Erhaltung der halbfeudalen Zustände interessierten Schichten sich von einer Lehre vorzüglich bedient fanden, die es vermochte, die französische Aufklärung und Revolution aus ihrem Geschichtsbild zu eskamotieren. Das Geschichtsbild der Romantik und der historischen Schule blieb aber in Deutschland nicht unwidersprochen. Vor allem waren es die Jungdeutschen und Junghegelianer, die mit dem Bekenntnis zur vergangenen Aufklärung ihr eigenes Wollen verdeutlichten. Schon Hegel, den die historische Schule in einem Atemzug mit der Aufklärung und der Revolution beschäftigt, hatte in der Geschichte der Philosophie die vorbereitende Stellung der Aufklärung, ihren systematischen Kampf mit allen Vorurteilen, eingehend gewürdigt. Nur aber, daß die Aufklärung als eine durch die Verwirklichung der Vernunft überwundene Epoche angesehen wurde. Die Junghegelianer dagegen, die das System aus seiner metaphysischen Verschalung herausgesprengt hatten, hielten sich für berufen, die vor der spekulativen Ära abgeschlossene Bewegung der Aufklärung und der Französischen Revolution forzusetzen.4 Das Interesse der Junghegelianer an der Aufklärung wird durch eine Reihe von Werken dokumentiert: Ich nenne hier nur Feuerbachs „Bayle" (1838), Straußens „Voltaire" (1870) und Karl Rosenkranz' „Diderot" (1866). Zu den Junghegelianern im weiteren Sinne gehörte auch der Historiker Friedrich Koppen. 1840 erschien von ihm anläßlich der hundertjährigen Wiederkehr der Thronbesteigung Friedrichs II. eine Jubelschrift mit einer Dedikation, die uns aufhorchen läßt: „Meinem Freunde Karl Heinrich Marx gewidmet." Man kann nicht umhin, in dieser Widmung ein Zeichen der damals bestehenden weltanschaulichen Verbundenheit der beiden Freunde zu erkennen. In Friedrich II. wollte Koppen die Aufklärung feiern. Er schreibt unter anderem: „Es wäre endlich an der Zeit, die sterilen Deklamationen gegen

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die Philosophie des 18. Jahrhunderts einzustellen und selbst die deutschen Aufklärer anzuerkennen. Wirklich, wir verdanken ihnen viel, sehr viel, ebensoviel oder gar mehr als Luther und den Reformatoren." Das Verhältnis zur Aufklärung wurde zu einem für die Hegeische Linke entscheidenden Motiv, zumal die weltanschauliche Reaktion in der Aufklärung den Hauptfeind des deutschen Geistes erblicken wollte. In einem Brief von Arnold Rüge wird „die Anknüpfung an die Aufklärung" eindeutig für das Signum der neuen Bewegung ausgegeben, als deren Repräsentanten Bruno und Edgar Bauer, Koppen, Karl Marx und Feuerbach gelten (Brief an Prutz vom 8. 1. 1842). Im selben Jahr gibt Moses Heß ein Bild von Karl Marx, den er sich zum philosophischen Lehrer wünschte: „Denke Dir Rousseau, Voltaire, Holbach, Lessing, Heine und Hegel in einer Person vereinigt; ich sage vereinigt, nicht zusammengeschmissen — so hast Du Dr. Marx" (Brief vom 2. 9. 1841). Wenn Marx in seinem intensiven Verhältnis zur Aufklärung sich mit seinen junghegelianischen Freunden eins wußte, so nahm er doch frühzeitig die Gelegenheit wahr, seinen viel weitergehenden Standpunkt von dem ihrigen abzugrenzen. Die Gelegenheit ergab ein Aufsatz in der „Rheinischen Zeitung" vom März 1842, in dem die Sitzungen des Rheinischen Landtags glossiert wurden. Marx widersprach der junghegelschen Auffassung, der zufolge der politische Staat, das heißt die bürgerliche Demokratie, das Wesen des preußischen Staates ausmache, von dem er jedoch in den Reaktionsund Restaurationsjahren abgefallen wäre. Die reaktionäre Politik befand sich vielmehr in völliger Harmonie mit dem Wesen dieses Staates, das eben die Reaktion war. In einem gleichzeitigen Brief an Rüge schreibt Marx: „Ich hätte große Lust, das Gegenteil zu beweisen, nämlich daß Preußen Öffentlichkeit und Mündlichkeit [der Gerichtsverhandlungen] nicht einführen darf, weil freie Gerichte und unfreier Staat sich nicht entsprechen. Ebenso müßte man Preußen eine große Eloge von wegen seiner Frömmigkeit halten, denn ein transzendenter Staat und eine positive Religion gehören zusammen" (Brief vom 20. 3. 1842).

Im Verlauf eines Jahres hatte sich demnach Karl Marx schon sehr weit von den Anschauungen eines Koppen entfernt, der in den toleranten Velleitäten Friedrichs II. das Zeichen für die aufgeklärte Natur der preußischen Staatlichkeit hatte erblicken wollen. Noch bestanden freilich die Bande zur Hegeischen Schule. Das geht auch noch aus dem Angriff hervor, den Marx in der „Rheinischen Zeitung" gegen Hugo und die historische Schule richtete. Die theoretische Herzstellung der preußischen Reaktion war damit getroffen. Savigny fungierte damals als Justizminister. Wie Savigny hatte Hugo das Naturrecht, dessen revolutionäre Wirkung im 18. Jahrhundert keinem Zweifel unterliegt, durch sy-

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stematische Skepsis entwertet, um an seine Stelle das positive Recht als Manifestation der Sitten und des Volkscharakters zu setzen. Marx zeigt in geistreicher Weise, wie diese Anschauungen in den Sumpf des Irrationalismus münden. Wenn Hugo scheinbar die Aufklärung adoptiert, so ist es in Wahrheit das Ancien regime, das gegen die progressiven Tendenzen der Aufklärung und gegen die Französische Revolution ausgespielt wird. „Hugo ist ein Skeptiker gegen das notwendige Wesen der Dinge, um ein Hoffmann gegen ihre zufällige Erscheinung zu sein. Er sucht daher keineswegs zu beweisen, daß das Positive vernünftig sei ... Die Skepsis des achtzehnten Jahrhunderts gegen die Vernunft des Bestehenden erscheint bei ihm als Skepsis gegen das Bestehen der Vernunft ...er sieht in dem Positiven nichts Vernünftiges mehr, aber nur, um in dem Vernünftigen nichts Positives mehr sehen zu dürfen."

Es war für den damaligen Marx eine Selbstverständlichkeit gewesen, daß er als Publizist die Differenz mit der Hegel-Schule gegenüber dem Angriff auf die Bastionen der herrschenden Reaktion zurückstellte. Als Marx zwei Jahre später, 1845, diesmal in Gemeinschaft mit Engels, mit einem neuen Werk, mit der „Heiligen Familie", hervortrat, da hatte sich die Angriffsrichtung seiner Polemik grundsätzlich geändert. Nicht die bürgerliche Reaktion stand nun im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, sondern die Unzulänglichkeit des politischen und philosophischen Radikalismus. Der Kampf mit den Junghegelianern und die Erfahrungen der Emigration hatten Marx erkennen lassen, daß die größere Gefahr für die Revolutionspartei aus den Verunklärungen des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Radikalismus entspringe. Marx und Engels hielten an dieser Taktik unentwegt fest, obwohl sie sich durch den Bruch der Einheit im Lager der linken Opposition in ein gehässiges Licht versetzt sahen. Ihre Taktik wurde zur weltweiten Strategie des Proletariats und der proletarischen Bewegung. Marx und Engels erklärten „diese veränderte Taktik" in der „Heiligen Familie" und in der „Deutschen Ideologie" mit dem Bedürfnis nach Selbstverständigung. Gibt man diesem Begriff eine weitere Bedeutung, so ist er in der Tat der positive Aspekt der polemischen Negation: Das Bedürfnis nach Selbstverständigung ist für das Bestehen und für den Fortgang der proletarischen Bewegung von ausschlaggebender Bedeutung. Auch in der „Heiligen Familie", in der der Boden des historischen Materialismus erstmals ertastet wurde, ist die Aufklärung das Paradepferd der großen Auseinandersetzung, die nunmehr mit den früheren Bundesgenossen, den Junghegelianern und den Jungdeutschen, geführt wurde. Sosehr sich die Junghegelianer auf die Aufklärung stützten, sowenig begriffen sie die weltanschauliche Spitzenstellung der materialistischen Systeme.

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Schon Koppen hatte in seinem Friedrich-Buch den „groben Materialismus" von Holbach und Helvetius verworfen. Bruno Bauer wollte zwar zugeben, daß der Materialismus des 18. Jahrhunderts, wie er sich ausdrückte, „die Welt der Bewegung" begriffen hätte; dagegen hätte dieser Materialismus nicht begriffen, daß die Bewegung sich erst in der Bewegung des Selbstbewußtseins „vollende". Damit hatte Bauer den Rückfall in die spekulative Methode offenkundig gemacht: Was diese Position von der Hegeischen trennte, auch das war ein Rückfall aus dem objektiven in den subjektiven Idealismus. Gegenüber diesen und anderen Verdrehungen sucht Marx ein wirkliches Bild der großen geistigen Bewegung im 18. Jahrhundert zu entwerfen. Auf diesen wenigen Seiten war mehr gesagt, als was die vereinten historischen Bemühungen des 19. Jahrhunderts um die Erkenntnis der Aufklärung auszumitteln vermochten. Der französische Materialismus — sagte Marx — ist nicht nur ein Kampf gegen die bestehenden politischen Institutionen, wie gegen die bestehende Religion, sondern ebensosehr ein offener, ein ausgesprochener Kampf gegen die Metaphysik des 17. Jahrhunderts und gegen alle Metaphysik, namentlich gegen die des Descartes, Malebranche, Spinoza und Leibniz. Die französische Aufklärung hat sich also erst durch die Überwindung der großen rationalistischen Systeme philosophisch konstituieren können. Die Cartesianische Metaphysik verschmähend, macht sich die französische Aufklärung die mechanistische Naturlehre Descartes' zu eigen. Das ist die eine Linie des französischen Materialismus — die andere geht vom Lockeschen Sensualismus5 aus und erhält eine immer ausgesprochenere soziologische Prägung. Dieser Zweig des französischen Materialismus wird vor allem von Helvetius und Holbach vertreten. In der Gesellschaftslehre, wie sie diese und andere materialistische Aufklärer entwickelten, ist schon der erste Ansatz zum Sozialismus vorgezeichnet. „Wie der Cartesische Materialismus in die eigentliche Naturwissenschaft verläuft, so mündet die andere Richtung des französischen Materialismus direkt in den Sozialismus." Das aber will nicht mehr und nicht weniger besagen, als daß der Verlauf der materialistischen Aufklärungsideologie, der den unverrückbaren Unterbau der Gesellschaft weit übergreifende Überbau, gewissermaßen über seinen geschichtlichen Sollstand hinausweist, indem er die Konzeption der politisch-bürgerlichen Gesellschaft mit der Vorahnung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung verknüpfte. Es ist ein Phänomen, dem Marx auch in späteren Jahren nachging. Im „Kapital" kommt Marx auf die geniale Voraussicht des aufklärerischen Publizisten Linguet zu sprechen, der schon in den siebziger

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Jahren des 18. Jahrhunderts die völlige Pauperisierung der Massen als notwendige Konsequenz der Aufrichtung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung prophezeite. Die Beschäftigung mit der physiokratischen Lehre des 18. Jahrhunderts und mit der darauf folgenden Grundlegung der klassischen bürgerlichen Nationalökonomie hat für Marxens Hauptwerk eine geradezu fundierende Bedeutung gewonnen. Die Anknüpfung an die Aufklärung bedeutet somit die Erschließung einer unmittelbaren Quelle des wissenschaftlichen Sozialismus, die keineswegs einer später überwundenen Einstellung des jungen Marx zugeschrieben werden kann. Die hervorragende Kenntnis der französischen Aufklärung, die sich schon in den frühen Schriften deutlich abzeichnet, läßt uns vermuten, daß Marx bereits in den Trierer Jahren sich dieses Stoffes bemächtigt hatte. Die genaue Kenntnis der französischen Materialisten war eine der Stützen, die Marx zum Widerstand und zur polemischen Auseinandersetzung mit der junghegelianischen Spekulation verhelfen hatte. Die Akzentuierung dieser Epoche führt aber zu weiteren, unumgänglichen Konsequenzen. Sie führt vor allem zu einer Relativierung der klassischen deutschen Philosophie, die gewiß die höchste Errungenschaft des deutschen Bürgertums war, aber doch zugleich als ein Erzeugnis der gesellschaftlichen und politischen Zurückgebliebenheit dieser Klasse gewertet werden muß. Mit dem Ausklang dieser philosophischen Bewegung in Feuerbachs Materialismus wurden nur die Errungenschaften bestätigt, die den französischen Materialisten schon mehr als sechs Jahrzehnte zuvor zugefallen waren. Damit ist auch gesagt, daß die Verarbeitung der idealistischen Philosophie nicht als eine notwendige Voraussetzung für die Aneignung des Marxismus angesehen werden kann. Das persönliche Schicksal Marxens und Engels', die gezwungen waren, in ihren ersten Bestrebungen von den Gegebenheiten ihrer Zeit und ihres Landes auszugehen, kann um so weniger als Voraussetzung für die Konstituierung des wissenschaftlichen Sozialismus gelten, als Marx und Engels selbst schon früh der spekulativen Bewegung den Rücken kehrten. Man könnte das Verständnis des Marxismus nicht gründlicher verfehlen, als wenn man darin nichts als ein sozusagen philosophiegeschichtliches Datum, den Punkt der philosophischen Selbstaufhebung erblicken wollte. Das besondere Augenmerk, das Marx und Engels der Aufklärung zuwandten, hat auch die Forschung der späteren Lehrer des Marxismus beeinflußt: Franz Mehring mit seiner „Lessing-Legende", Plechanow, der eine seiner bedeutendsten Schriften der Analyse des französischen Materialismus widmete, und Lenin, der im „Empiriokritizismus" mit der Polarität der Aufklärung zwischen Diderots Materialismus und Berkeleys idea-

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listischem Solipsismus den Zugang zu den Antinomien der Gegenwart eröffnet hatte. Seit der Errichtung des ersten proletarischen Staats erfreut sich die sowjetische Aufklärungsforschung der stärksten Förderung: In Leningrad und Odessa, vor allem aber an der historischen Sektion der Moskauer Akademie der Wissenschaften hat sich ein ganzer Stab von Gelehrten auf die französische Aufklärung geworfen. Hier wirken die Impulse des großen Historikers Wolgin weiter.6 Beachtliche Forschungen wurden aber auch in Frankreich, in den Vereinigten Staaten und in Italien unternommen. Wo immer ein positives Verhältnis zur Aufklärung gesucht wird, ist eine progressive Wissenschaftsströmung am Werk. Die Reaktion dagegen ist überall da zu finden, wo eine Verunklärung der Aufklärung durch Unterschiebung skeptischer und pessimistischer Motive versucht wird.7 Es wird nach all dem nicht wundernehmen, daß sich auch auf diesem Wissensgebiet in Deutschland Fortschritt und Reaktion jeweils im Schutz ihrer verschiedenen Staatlichkeit begegnen.8 Die Erforschung der Aufklärung kann nicht als eine Rückkehr oder als eine Flucht in die vergangene Geschichte abgetan werden. Wir müssen vielmehr in dieser Bewegung die unabdingliche Vorgeschichte unserer eigenen Epoche, die Voraussetzung unserer eigenen gesellschaftlichen Probleme, den Ansatz und die Vorstufe unserer eigenen Bewußtseinsbildung erkennen.

Anmerkungen 1 Vgl. Franz Mehring, Gesammelte Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels 1841 — 1850, Stuttgart 21913. — Für Marxens und Engels' Jugendgeschichte ist das Standardwerk von Auguste Cornu, Karl Marx und Friedrich Engels, Bd. I, Berlin 1954, und Bd. II, Berlin 1962, heranzuziehen. Verf. dieses Vertrags weiß sich dem Marx-Biographen Cornu aufs tiefste verpflichtet. 2 Vgl. Kurt Wais, Das Schrifttum der französischen Aufklärung in seinem Nachleben von Feuerbach bis Nietzsche, Tübingen 1958, S. 67 f. (= Forschungsprobleme der vergleichenden Literaturgeschichte, 2. Folge). 3 Vgl. Erich Rothacker, Einführung in die Geisteswissenschaft, Tübingen 1930, S. 47 ff. 4 In diesem Zusammenhang werden nur die Marx zur Auseinandersetzung bewegenden gedanklichen Positionen genannt. In der Zuwendung zur Aufklärung wetteifern die HegelSchüler mit dem Jungen Deutschland. Die progressiven Kräfte des Jungen Deutschland fanden durch eine erneute Zuwendung zu ihrem Quellgrund in der Aufklärung ihr Rüstzeug für den literarischen und politischen Umsturz. Heines 1834 erschienene „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" gewährt der Aufklärung einen entscheidenden Platz bei der Vorbereitung einer revolutionären Gegenwart. Der von Schiller und Goethe in den „Xenien" befehdete Nicolai, dieser wahre Manager der Aufklärung, wird gebüh-

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rend herausgestrichen: „Wenn einst ein schöner Tag sich über unser ganzes Vaterland ergießt, dann denken wir gewiß auch deiner, alter Nicolai, armer Märtyrer der Vernunft! Wir werden dann deine Asche nach dem deutschen Pantheon tragen, den Sarkophag umgeben vom jubelnden Triumphzug ..." Mendelssohn wird in seiner Rolle vorzüglich begriffen. Heine sieht auch, daß die „politische Revolution ... sich auf die Prinzipien des französischen Materialismus stützt", dem freilich nach seiner Meinung der spinozistische Pantheismus den Rang abläuft. Ein Jungdeutscher wie Karl Grün versucht seine publizistischen Talente an einer großen Enquete über den Sozialismus in Frankreich und Belgien (1845). Grün hat mit diesem Buch das eminente Verdienst erworben, als erster Deutscher seinen Landsleuten ein zusammenhängendes Bild der sozialistischen Bestrebungen geboten zu haben. Dieses Bild war freilich so mangelhaft, daß die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus gerade im Hinblick auf die Publikumswirkung die Finger auf diese Schwächen zu legen gezwungen waren. Immerhin war es der beweglichen Intelligenz dieses typisch jungdeutschen Journalisten nicht entgangen, in welch tiefer Schuld die sozialistischen Ideologien bei der französischen Aufklärung, insbesondere bei Helvetius, standen. In seiner Verbindung von Journalistik und Literaturgeschichte kann der von Lassalle so grausam mißhandelte Julian Schmidt als ein entfernter Nachfahr des Jungen Deutschland gelten. In seiner „Geschichte der französischen Literatur" (1. Aufl. 1858: seit der Revolution 1789, 2. Aufl. 1873/74: seit Ludwig XVI. 1774) erkennt er den Ursprung der modernen Ideen und literarischen Impulse in der Spätaufklärung, mit der er sozusagen ein erstes Kapitel seiner eigenen Zeitgeschichte eröffnet. Als ein besonderes Zeichen der dem Märzumschwung von 1848 vorausgehenden Jahre will das Erscheinen einer deutschen Übersetzung von Morellys kommunistischem Programmentwurf „Code de la nature" angesehen werden. Verfasser der Übersetzung und einer umfangreichen Einführung war Ernst Moritz Arndt, einer der Herolde der vergangenen Freiheitskriege (1846). Obwohl sich Arndt für die Ideen des „Code de la nature" persönlich nicht einsetzen möchte, so hält er die Gedankengänge doch immerhin für diskussionswürdig. Die beherrschende Stellung Lockes für die französische Aufklärung wird durch die Forschungen des Amerikaners Bonno erklärt und bestätigt. Locke verdankte demnach seine geistige Filiation der Teilnahme an der großen, Frankreich bewegenden Debatte zwischen Descartes und Gassendi (Gabriel Bonno, Les relations intellectuelles de Locke avec la France, Berkeley and Los Angeles 1955). Aus der Fülle der sowjetischen Publikationen seien hier nur herausgegriffen: — V. P. Volgin, Razvitie obscestvennoj mysli vo Francii v XVIII veke, Moskva 1958 (eine deutsche Ausgabe bereitet der Akademie-Verlag vor) — Iz istorii social'no-politiceskich idej, ANSSR, Moskva 1955 (= Wolgin-Festschrift mit Beiträgen über das 18. Jh. v. Porschnew, Safronow, Kusnezow, Deborin, Alexejew-Popow u. Strange) — Francuzskij ezegodnik, ANSSR, Moskva 1958 ff. — Istorija socialisticeskich ucenij, ANSSR, Moskva 1962 (mit einer Reihe von Beiträgen über die französische Aufklärung) - W. S. Ljublinski, Voltaire-Studien (aus dem Russischen), Berlin: Akademie-Verlag 1961 (= Nr. 14 der Schriftenreihe der Arbeitsgruppe zur Geschichte der deutschen und französischen Aufklärung). Die positiven Tendenzen sehen wir in den französischen Forschungen von Lanson und Mornet bis zu Verniere, Jacques Proust und Varloot, in den USA von L. Torrey, Vartanian, Herbert Dieckmann, Otis Fellows u. a., in England von der Montesquieu-Forschung Shackletons und der Rousseau-Forschung Leighs, in Italien von Franco Venturi (Diderot) und von A. Pizzorusso (Fontenelle), in Belgien von Roland Mortier vertreten. Vgl. zu dem Verhältnis der westdeutschen Forscher zur Aufklärung den sehr aufschlußreichen Aufsatz von Otto Friedrich Bollnow, Die Vernunft und die Mächte des Irrationalen (in: Wesen und Wirklichkeit des Menschen, Festschrift für Helmuth Plessner, Göttingen 1957, S. 88 ff.).

Zur Bezeichnung einiger philosophischer Grundbegriffe der deutschen und französischen Aufklärung

Lenin hat in seinem „Empiriokritizismus" gezeigt, daß die Polarität von Materialismus und Idealismus die ganze Geschichte des Denkens durchzieht und daß sich beide Begriffe wie Fortschritt zu Reaktion verhalten. Lenin folgt damit einem Sprachgebrauch, durch den vor allem die Bedeutung von „Idealismus" einen umfassenden Sinn gewann und auch die religiösen, rationalistischen und positivistischen Denkrichtungen in sich schloß. Diese Bedeutungserweiterung, die einen so großartigen Ausblick auf die Gesamtbewegung des menschlichen Denkens erlaubt, ist längst so fest im allgemeinen Bewußtsein verankert, daß die ursprüngliche, abgegrenztere Bedeutung für die Mehrzahl der Menschen gänzlich verblaßt ist. Tatsächlich sind „Materialismus" und „Idealismus" Schöpfungen des 18. Jahrhunderts, während der Begriff und das System des Positivismus von Auguste Comte geschaffen wurde. 1839 erscheint der erste Teil seines „Cours de philosophic positive", 1848 ein Vortrag „Discours sur l'ensemble du positivisme". Der Begriff des Positivismus wurde dann auch auf die Aufklärung übertragen; er negiert die Fruchtbarkeit der Metaphysik, indem er aber zugleich der Erkennbarkeit eine Grenze errichtet. Damit nähert sich „positivisme" dem „Empirismus", der Skepsis, die man im 18. Jahrhundert mit Vorliebe „pyrrhonisme" nannte. Schwieriger ist es, der Geschichte von „Rationalismus" nachzugehen. Kant spricht in der „Kritik der Urteilskraft" (1790) vom „Rationalismus des Geschmacksurteils", den er dem „Empirismus" entgegensetzt. Von Hegel wird die Bedeutung von „Rationalismus" entschieden abgewertet; diese Bedeutungsverschiebung fällt mit seiner Kritik an der Aufklärung zusammen. Er spricht von „sogenanntem Rationalismus in der neueren Theologie" und erklärt, „der Rationalismus" sei „der Philosophie, dem Inhalt und der Form nach, entgegengesetzt; er hat den Inhalt, hat den Himmel leer

Zur Bezeichnung einiger philosophischer Grundbegriffe

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gemacht, alles zu menschlichen Verhältnissen heruntergesetzt. Und auch der Form nach ist er der Philosophie entgegengesetzt, denn seine Form ist Räsonieren, unfreies Räsonieren und nicht Begreifen." Diese negative Einschätzung macht es verständlich, daß Hegel gelegentlich dem Irrationalen eine positive Bedeutung zuschreibt. „Was rational genannt wird", sei nur „das Verständige", während „irrational vielmehr ein Beginn und Spur der Vernünftigkeit ist". Es braucht nicht gesagt zu werden, daß dieser Wortgebrauch mit dem später aufkommenden „Irrationalismus" nichts gemein hat. Die Adjektiva „rational" und „irrational" sind fest in der Tradition verankert. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts hat der Terminus „Rationalismus" eine feststehende philosophische Bedeutung gewonnen, und zwar in einer doppelten Richtung: Zur Kennzeichnung der beispielsweise von Christian Wolff verfolgten Bestrebung bezeichnet er den „Vernunftstandpunkt, eine philosophische Richtung, die im Gegensatz zum Empirismus die Vernunft und nicht die Sinnesempfindung (und das Gefühl) als einzige Quelle der Erfahrung ansieht"1. Man sieht sofort, worin sich der Rationalismus grundsätzlich vom Idealismus im engeren Wortsinn unterscheidet: Der Rationalismus ist ein objektgebundenes System, das weder die Existenz der Wirklichkeit noch ihre Erkennbarkeit leugnet, während der Idealismus im Sinne Berkeleys reiner Subjektivismus ist und außerhalb des Erkennenden keine realen Erkenntnisse, sondern nur Erscheinungen anerkennt. Die Philosophiegeschichte glaubt vor allem drei große Epochen des Rationalismus unterscheiden zu können: die griechische Philosophie, die Scholastik, speziell in ihrer wortrealistischen Richtung, und die großen Systeme des 17. Jahrhunderts, die von Descartes ausgehen und zu Regis, Hobbes, Spinoza, Malebranche und Leibniz führen. Es wurde schon angedeutet, daß der Begriff „Idealismus" zuerst zur Kennzeichnung des erkenntnistheoretischen Philosophierens von Berkeley aufkam, in dem sich eine Komponente der Lockeschen Erkenntnislehre vereinseitigt hatte. Diderot präzisierte den neuen Begriff in seiner „Lettre sur les aveugles" von 1749: „On appelle idealistes ces philosophes qui, n'ayant conscience que de leur existence et des sensations qui se succedent au dedans d'eux-memes, n'admettent pas autre chose."2

Es handelt sich, wie Diderot hinzufügt, um „ein extravagantes System". Das Werk wird in den Jahrgang 1752 des jesuitischen „Journal de Trevoux" aufgenommen. Die Sinnerweiterung, die der Begriff „Idealismus" durch unsere Klassik, insbesondere durch Schiller, erfahren hatte, führte in der Folgezeit zu seiner moralistischen Trivialisierung. „Idealistisch" bedeutet dann

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Zur Bezeichnung einiger philosophischer Grundbegriffe

schlechthin selbstlos, hingebend, sachbegeistert und einsatzbereit. Neben dieser vulgären Bedeutung befestigt sich aber der neue erweiterte Wortgebrauch von Idealismus, der nunmehr alle dem Materialismus entgegengesetzten Positionen umfaßt. Auch der Begriff „Materialismus" läßt sich nicht weiter als bis zu den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. Selbst Kant weicht dieser Neuschöpfung aus und bevorzugt den bis zum 18. Jahrhundert allgemein gebrauchten Begriff „Naturalismus", „naturalistisch". Indessen läßt sich das Wort „Materialismus" schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts belegen, in einer Zeit, die der Ausbildung der großen materialistischen Systeme durch La Mettrie, Boureau-Deslandes, Helvetius, Diderot und Holbach vorausging. Die philosophische Diskussion hatte also offenbar schon vor der Ausarbeitung einer geschlossenen Lehre begonnen. Eine Äußerung, die noch aus der Geburtszeit des neuen Begriffes stammt, findet sich in einer anonym erschienenen, dem P. Poree zugeschriebenen Broschüre von 1739, „Reponse de l'auteur de la possession des filles de Landes' ä la lettre de Monsieur***". Die einschlägige Stelle lautet: „Vous savez ce que je vous repondis, lorsque vous me disiez que j'aurais du faire un plus grand usage de la physique et de la mecanique. Je vous representai que nous vivions dans un siecle ou le materialisme n'a fait que trop de progres, qu'il etait dangereux de fournir des armes a ce Systeme tout ruineux qu'il peut etre."3 (Hervorhebung W. K.)

Interessant ist — was hier aber nicht näher ausgeführt werden kann — die Absage an die wissenschaftliche Naturbetrachtung, mit der die Apologetik ihren Übergang zu einer defensiven Haltung vollziehen mußte. Das Wort „materialisme" hatte sich zur Zeit der Niederschrift dieser Broschüre offenbar noch nicht so tief eingebürgert, daß der Verfasser von einer näheren Erklärung des neuen Begriffs absehen konnte. In einer Anmerkung wird die Bedeutung von „materialistes" umschrieben: „opinion absurde des epicureens et des spinozistes". Zwei Seiten später heißt es: „H y a longtemps que j'ai remarque que les premotionnaires et les partisans des causes occasionnelles, apres un circuit reviennent se joindre aux materialistes et aux fatalistes."4

Das ist eines jener weltanschaulichen Amalgame, mit denen insbesondere die Jesuiten sich ihrer Gegner mit einem Schwertstreich zu entledigen suchten. Der Jansenismus und der Okkasionalismus erscheinen als Schrittmacher des Materialismus. Während der Begriff bei Poree noch den Charakter einer Neologie besitzt, hat er in der sechs Jahre früher erschienenen Kampfschrift des Lausan-

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ner Philosophen Crousaz gegen Bayle, „Examen du pyrrhonisme", schon eine gesicherte Stellung bezogen: „M. Bayle ... est bien aise de semer dans les esprits de ses lecteurs des principes d'une supposition qui, une fois admise, ne peut qu'agreer aux materialistes et ä tous ceux qui cherchent a eluder les preuves d'une creation."5 Und an anderer Stelle wirft Crousaz Bayle vor, er wolle „fournir des echappatoires aux materialistes ..."6.

Es nimmt nicht wunder, daß für La Mettrie der neue Begriff eine ganz zentrale Bedeutung gewinnt. Das zeigt sich, wenn er in seinem „L'homme plus que machine" (1748) die Antipoden der „materialistes" summarisch als „immaterialistes" bezeichnet.7 Erst eine Stelle in Helvetius' nachgelassenem Werk „De Phomme" beweist den Aufschwung, den mit der materialistischen Philosophie der Begriff des Materialismus erleben sollte: „Les theologiens ont tant abuse du mot materialiste, dont ils n'ont jamais pu donner d'idees nettes, qu'enfin ce mot est devenu synonyme d'esprit eclaire. On designe maintenant par ce mot les ecrivains celebres, dont les ouvrages sont avidement lus."

So wären also „Materialist" und „Aufklärer" gleichbedeutend geworden. Daß wir die Geburtszeit von „materialisme" nicht allzuweit zurückverlegen dürfen, das läßt sich aus der Nichtverwendung des neuen Begriffs in Boureau-Deslandes' „Histoire critique de la philosophic" von 1738 erschließen. Tatsächlich spricht der Autor in dem erst 1756 erschienenen vierten Band seiner kritischen Philosophiegeschichte vom Materialismus: „Je crois que c'est le pur materialisme, que Jean Bodin dans son traite manuscrit ,De abditis rerum causis ...' nommait le naturalisme grossier et tres confus."

Damit ist auch der Begriff genannt, der von „materialisme" abgelöst oder jedenfalls in den Hintergrund gedrängt wird: „naturalisme" und „naturaliste". „Naturaliste" erscheint in der Tat bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in den beiden grundverschiedenen und sich daher nicht beeinträchtigenden Bedeutungen von „Naturwissenschaftler" und „Materialist". Auch in Deutschland bleibt bis zum selben Zeitpunkt „Naturalist" und „Naturalismus" üblich. Georg Friedrich Meier, der philosophische Kampfgefährte Baumgartens, konfabuliert zu Freigeisterei „Naturalisterei". Derselbe Philosoph verrät jedoch in seinem „Neuen Lehrgebäude von den Seelen der Tiere" (1749), wie sehr der Begriff „Materialismus" sich bei ihm schon gefestigt hat.8 Bezeichnend ist der Zusammenhang, in den das Wort mehrfach gestellt wird:

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Zur Bezeichnung einiger philosophischer Grundbegriffe

„Einige Weltweise stehen in den Gedanken, als wenn die Cartesianische Meinung von den Tieren sehr gefährlich sei, weil sie den Materialismus unterstützte." 9 - „Wollte man sagen, es sei unmöglich zu leugnen, daß die Tiere denken können; spräche man ihnen also die Seele ab, so müßte man sagen, die Materie denke: so ist das ein ganz anderer Irrtum als der cartesianische. Wer so denkt, ist freilich ein Materialist."10 — „Ich will mich darüber nicht aufhalten, daß der Verfasser sagt, wir könnten nur nach den Regeln der Bewegung handeln und Gott wäre allein Urheber der Bewegung, denn wer kein Materialist und kein Cartesianer ist, wird dieses niemals behaupten." 11 (Hervorhebungen W. K.)

Die nahe Verbindung, in die das Wort „Materialismus" bald gegensätzlich, bald aber auch begriffsverwandt zum Cartesianismus gerät, mag auf den ersten Blick verblüffen. Es gibt einen sehr beachtlichen Hinweis auf den philosophischen Ursprung des neuen Begriffs und damit auf seine Wortgeschichte. Es ist offenkundig, daß der Begriff des Materialismus sich auf die durch die Cartesianische Philosophie ins Denken eingedrungene Bedeutung der „Materie" stützt. Hatte noch Gassendi der Seele den Begriff einer unendlich verfeinerten Materie zugrunde gelegt, so besteht in Descartes' Metaphysik zwischen der ausgedehnten Körperwelt und dem Bereich des Geistes ein Verhältnis der Disjunktion. Descartes vermeidet es aber, für den Begriff der Körperwelt, der „res extensa", das vieldeutig schimmernde Wort „Materie" zu gebrauchen. 12 Erst bei Descartes' Schülern wird die „res extensa" mit dem Begriff der Materie belehnt. Littre verweist auf die bezeichnenden Stellen bei Malebranche, der im Sinne Descartes' von „la matiere ou l'etendu" spricht, und bei La Bruyere: „Comment peut-elle etre le principe de ce qui la nie et exclut de son propre etre? Comment est-elle dans l'homme ce qui pense, c'est-ä-dire ce qui est ä l'homme meme une conviction qu'il n'est point matiere."

Wie schon La Bruyere es vorzeichnet, so wird sich die Apologetik des 18. Jahrhunderts auf die Cartesianische Ontologie zurückziehen, während der Materialismus die Prinzipien der Physik auf die gesamte Organisation des menschlichen Lebens übertragen wird.13 Was lehrt uns dieser nur in knappen Strichen entworfene Bezeichnungswandel? Nichts wäre irriger, als einer semasiologischen Arbeit einen Einfluß auf den Wortgebrauch und auf die Gepflogenheiten der Begriffsbezeichnung beizumessen. Der Sprachgebrauch — und das will besagen, die Gesamtheit der Sprachen — besitzt eine unveräußerliche und unübertragbare Souveränität. Das gültige Wort ist allein darum richtig, weil es gilt. Bedeutungserweiterungen, wie wir sie in Sachen „Idealismus" vermerken können, verweisen auf neue Sachverhalte, in diesem Fall auf neue philosophische Konzeptionen. Die vielfach verbreitete Meinung, daß durch die Anlagerung ei-

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ner neuen Bedeutung die bisher bestehende außer Kurs gesetzt würde, daß also die Sprache sich der Homonymien zu erwehren suche, ist mit dem Grundverhalten aller Sprachen unvereinbar. Das Argument, Homonymien würden die Präzision und begriffliche Unterscheidungsklarheit verwischen, kann nur von einer isolierten Wortbetrachtung vorgebracht werden. Nicht nur die Wortstellung, vor allem auch der Kontext und der Sinnzusammenhang schließen Verunklärung der Doppelbedeutungen aus. Die erweiterte Wortbedeutung, auf die wir weder verzichten können noch wollen, erlaubt es doch durchaus, in einer verengteren, spezialisierten Betrachtung den Sinn von „Idealismus" auf die ursprüngliche Bedeutung zu beschränken. Die Aufgabe der Bezeichnungs- und der Bedeutungslehre ist die Ermittelung des wirklich bestehenden Sprachgebrauchs, durch die ein Beitrag zur Klärung der Sachbezüge erbracht werden kann. Wie sich schon aus unserer skizzenhaften Darstellung ergibt, kann es keine isolierte, monographische Wort- und Bedeutungsgeschichte geben. Wenn unter dem Druck einer veränderten oder erweiterten Begriffs- oder Gegenstandswelt neue Bezeichnungen geschaffen werden oder neue Bedeutungen sich an die schon vorhandenen anlagern, muß dieser Vorgang in jedem Fall als ein Teilvorgang einer größeren Bewegung begriffen werden. Es kommt darauf an, ein Bezugsfeld von sinnverwandten oder irgendwie zusammenhängenden Begriffen zu erschließen, in dem sich die Bedeutungen gegenseitig erhellen und in dem sie gegeneinander abgegrenzt werden können. Ein Wort gibt das andere. Zum Sinn gehört der Gegensinn. Die Synonymik, die im Gegensatz zur Homonymie eine sprachliche Krankheit ist, kann nur durch das Zusammentragen der in ihren Bedeutungsnuancen zu vernehmenden sinnverwandten Begriffe aufgelöst werden. Natürlich steht und fällt die Semantik und die Semasiologie mit der Sinnesimmanenz, das heißt mit der Präsenz der angesprochenen Wirklichkeit in der Sprache. Die Bedeutung der vorbereitenden Gedankenarbeit in der Sprache zu verkennen, den Charakter der Sprache als einer gültigen Entsprechung zur angesprochenen Dingwelt zu leugnen und in der Begriffsbildung einen Willkürakt der Konvention zu erblicken, das blieb dem sprachlichen Nominalismus und einer Skepsis vorbehalten, die sich sehr schnell und folgerichtig zum Zweifel an der Erkennbarkeit des Seins verdichten mußte. Der notwendige Glaube an die Sinneskraft der Sprache hat nichts zu tun mit jenem sprachlichen Aberglauben, der die Entsprechungen der Sprache aus irgendeiner materiellen Affinität zu den besprochenen Dingen herleiten möchte. So wie der Wert des Geldes und seine Funktion als Wertmaßstab aus einer konkreten Teilhabe an den durch Werte verrechneten Gütern nie-

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Zur Bezeichnung einiger philosophischer Grundbegriffe

mals begriffen oder gesichert werden könnte, so würde die Sprache als ein lückenloses System der Entsprechungen sich selbst gefährden, wenn sie statt der Verrechnung die Nachbildung ihrer Gegenstände zu unternehmen versuchte. Das Schallwort ist nicht der Musterfall der Sprache, sondern eine sprachliche Grenzerscheinung.

Anmerkungen 1 Liebknechts „Volksfremdwörterbuch". 2 Denis Diderot, CEuvres completes, hg. von Assezat, Bd. l, Paris 1875, S. 304. 3 [Poree,] Reponse de l'auteur de la „Possession des filles de Landes" a la lettre de M***, Antioche 1739, S. 41. 4 Ebenda, S. 43. 5 Jean-Pierre de Crousaz, Examen du pyrrhonisme, 1733, S. 294 a. 6 Ebenda, S. 295 b. 7 Vgl. Pierre Lemee, Julien Offray de La Mettrie, 21954, S. 127. 8 Georg Friedrich Meier, Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Tiere, Halle 1749. 9 Ebenda, S. 37. 10 Ebenda, S. 38. 11 Ebenda, S. 39. 12 Vgl. den Brief an Regius, in: CEuvres, hg. von Tannery, Bd. III, S. 565, und die Stelle der „Meditationes de prima philosophia" von 1641 (ebenda, Bd. VII, S. 131 — 132). 13 Diese Entwicklung hat in ihrem Anfangsstadium eine eingehende Darstellung gefunden in Heikki Kirkinens Arbeit „Les origines de la conception moderne de l'homme machine" (Helsinki 1960).

Zur Theorie und Praxis des Übersetzens im Frankreich und Deutschland des 18. Jahrhunderts

Vom 13. bis zum 16. Jahrhundert nennt man „translateur" den Übersetzer, „translation" die Übersetzung. Im 16. Jahrhundert brachte Dolet das italienische Fremdwort „traduction" in Umlauf. „Version" bedeutet jetzt die Übertragung eines Textes aus einer alten in eine andere alte Sprache, „traduction" Übersetzungen aus und mit modernen Texten. Für Diderot bedeutet „version" die wörtliche, „traduction" die freiere Übersetzung. In unserem Jahrhundert werden die beiden Pole vertauscht: „traduction" ist eine objektive, gelehrte Übersetzung, „version" eine subjektive, künstlerische Übertragung. Es ist nicht leicht, die Wandlungen in der Auffassung des Übersetzens in einem diachronischen Prozeß darzulegen. Die Menschheit hat sich von jeher Gedanken über die Übersetzungen gemacht. Was heraussprang, war eine Alternative, die ihre Bestimmungskraft bis in die heutige Zeit behalten konnte. Sollte man bei strikt wörtlicher Übersetzung Unebenheiten in der eigenen Sprache hinnehmen? Oder sollte man unter Preisgabe der Wörtlichkeit dem Genius der eigenen Sprache folgen? Sollte man für die eigene oder für die fremde Sprache optieren? Im 16. Jahrhundert gab Luther das Vorbild einer freien Übersetzung. Fischarts übermütige und worttolle „Gargantua"-Übersetzung stellte ein noch extremeres Beispiel der Übersetzungsfreiheit dar. Am Anfang des 18. Jahrhunderts hatte Gueudevilles Übersetzung der „Utopia" von Morus als Paraphrase zu gelten. Der Übersetzer bemerkte: „Es ist also eine Paraphrase, werden Sie sagen. Verzeihen Sie mir, es ist eine freie Übersetzung. Wenn Sie nur wortgetreue Versionen lieben, so rate ich Ihnen nicht, diese da zu lesen" (S. 15). Dahin gehören später auch die Versuche der Einbürgerung Shakespeares — ein Thema, das eine Bearbeitung für sich beansprucht. Pierre-Antoine de

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Zur Theorie und Praxis des Übersetzens im Frankreich und Deutschland

La Place, der Shakespeare für die französische Szene „arrangierte", ließ sich darüber folgendermaßen vernehmen: „Si Shakespeare perd considerablement dans une traduction, sur les morceaux sublimes auxquels je ne pourrai atteindre, n'est-il pas juste que je cherche ä l'indemniser autant qu'il m'est possible, en lui epargnant la critique de mes compatriotes sur les endroits qu'ils pourraient regarder comme faibles, ridicules ou deplaces?" [Wenn Shakespeare bei einer Übersetzung an Erhabenem erheblich verliert, an das ich nicht heranzureichen vermag, ist es dann nicht gerecht, daß ich versuche, ihn, soweit es mir möglich ist, zu entschuldigen, indem ich ihm die Kritik meiner Zeitgenossen an den Stellen erspare, die sie als schwach, lächerlich und deplaziert betrachten könnten?] 1

Die strittige Worttreue oder die poetische Lizenz kann man am besten an den zwei französischen Pope-Übersetzungen ermessen. Während der Abbe Du Resnel die Form des Versgedichtes nicht antastete, verfuhr er mit dem Text nicht allzu zimperlich. Im Gegensatz dazu hatte Silhouette seine Übersetzung in Prosa aufgelöst, wovon er sich ein tieferes Eindringen in die englische Sprache verhieß. Die „Bibliotheque des sciences et des beaux-arts" greift auf die ältere Übersetzung Silhouettes zurück. 2 Zunächst wird eine Äußerung Du Resnels wiedergegeben: „Dieses Poem ist in Prosa von einem berühmten Mann aufgelöst worden, der, in beiden Sprachen bewandert, sehr genau darin war, nichts von dem Sinn und den Worten des Originals preiszugeben [...] Aber die Kritik fand, daß er zu knechtisch sich an den Ursprungsautor hielt."

Das Journal ist mit dieser Wendung keineswegs einverstanden und hält auf den folgenden Zeilen Silhouette die Stange. Montesquieu äußert sich über das ganze Übersetzungsgeschäft in den „Lettres persanes" satirisch. Ein Übersetzer sitzt seit zwanzig Jahren an einer Arbeit: „So lange ist es her, mein Herr, daß Sie nicht mehr denken?" Indessen waren die meisten Franzosen von der Dringlichkeit überzeugt, daß das französische Repertoire durch Übersetzungen bereichert werden müsse, freilich nicht mit dem Ziel der Kenntnis der fremden als vielmehr einer Stärkung der eigenen Sprache. Diderot mokierte sich über Holbachs Verfahren, wortgetreue Übersetzungen zu veranstalten und zu benutzen. Diderot hatte in seinen früheren zwei Übersetzungen, der „Histoire de Grece" und dem „Essai sur le merke et la vertu", sich die größten Freiheiten herausgenommen. D'Alembert ging in der Unterwerfung der Übersetzungen unter das Gebot der „bienseance" noch weiter. Selbst Voltaires „Hamlet"-Übersetzung

Zur Theorie und Praxis des Übersetzens im Frankreich und Deutschland

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war ihm nicht frei genug. Und Voltaire hatte doch gerade im Hinblick auf seine „Hamlet"-Übersetzung geäußert: „Ne croyez pas que j'aie rendu ici l'anglais mot pour mot; malheur aux faiseurs de traductions litterales, qui, en traduisant chaque parole, enervent le sens! C'est bien la qu'on peut dire que la lettre tue, et que l'esprit vivifie." [Glauben Sie nicht, daß ich hier das Englische wörtlich wiedergegeben habe; Schande über die Heuchelei wörtlicher Übersetzungen, die, indem sie jedes Wort übersetzen, den Sinn entstellen. Gerade da kann man sagen, daß der Buchstabe tötet und daß der Geist belebt.]3

Den Übersetzern wird jetzt angeraten, ihre ehemalige Schüchternheit gegenüber dem Original preiszugeben. Statt sich dem Original unterzuordnen, sollten sie mit ihm rivalisieren. Es sei lächerlich, immer unter dem Original bleiben zu wollen, statt es zu verschönern. Man brauche nicht — und dürfe es auch nicht — von einem Ende bis zum ändern alles zu übersetzen. Auch in quantitativer Hinsicht wird also dem Original aufgekündigt. Dafür wird das Prinzip der Auswahl zu einem Kriterium. — Vergeblich hatte die „Annee litteraire" 1776 vor solchen Konsequenzen gewarnt, indem sie das kompensatorische Verfahren der Übersetzer anprangerte. Dieses bestand darin, daß die Übersetzung die Gewichte des Originals wiedergeben, aber in ihrer Verteilung freie Hand haben sollte: „Sie wollen das Geld ihres Originals nicht zurückgeben, wenn nur die Summe im ganzen stimmt [...] Was würde man sagen, wenn ein mit einem Porträt beauftragter Maler folgendermaßen räsonieren würde: Dieser Kopf strahlt die größte Energie aus, ich werde gezwungen sein, sie abzuschwächen und die Schultern dafür stark zu machen."

Auch dieses Rezept, die Schminke des Originals im ganzen wiederzugeben und dabei Licht und Schatten nach Maßgabe des eigenen Gefühls auszuteilen, geht auf d'Alembert zurück. Erst durch Chateaubriand und die französische Romantik ist ein Gesinnungswandel eingetreten. Man lernt jetzt, die Verschiedenartigkeit der Nationen zu respektieren. Das Schlagwort von der „belle infidele" wird von Chateaubriand zerzaust: „On a vu bien des infideles qui n'ont ete belles." [Man hat sehr viele ungetreue (d. h. freie Übersetzungen) gesehen, die nicht schön waren.] Die Treue müßte, auch wenn ihr die Schönheit mangelt, ihren Wert behalten. Gehen wir nun von Frankreich nach Deutschland über, so sehen wir, daß hier ganz andere Maßstäbe an die Übersetzer gelegt werden. Bis zu Lessings Zeit galt die französische Kunst als die tonangebende, ohne die das schlummernde Kind der deutschen Literatur keinen Schritt würde gehen können. Übersetzen wurde zur nationalen Pflicht, und keiner hat diese Ein-

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Stellung so konsequent vertreten wie Gottsched im Bunde mit seiner Gattin. Es begann mit den Fontenelle-Übersetzungen. Dieser verdiente mit besseren Gründen als Voltaire den Titel eines Patriarchen der Aufklärung, deren Tore er schon in seinen Publikationen der achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts aufgestoßen hatte. Den Kernpunkt von Fontenelles Lehre bildete der Modernismus, d. h. diejenige Theorie, die den Glauben an die Unübertrefflichkeit der Antike von sich schüttelte und der modernen Dichtung einen ebenbürtigen, wenn nicht überlegenen Rang zusichern wollte. Unleugbar war Gottsched für diese Theorie ungemein empfänglich und aufgeschlossen. Zwar hatte er nicht gewagt, die humanistischen Sinnklammern der deutschen Poetik zu entfernen — jedoch stieß er bei seinen Unternehmungen in Regionen vor, die durchaus nur durch die Eigenständigkeit der deutschen Sprache und Literatur bestimmt waren. Das hinderte Gottsched nicht, an den Übertreibungen der Fontenelleschen Positionen Kritik zu üben und als idealistischer Wolffianer auf die materialistische Philosophie der Franzosen entschieden zu reagieren. Solche Vorbehalte wurden im Vorwort zu Fontenelles „Gesprächen" in maßvoller Weise geltend gemacht. Doch nicht so in den impulsiven Anmerkungen, die man als exemplarische Belege für eine Geschichte des deutschen Grobianismus verwerten könnte. Nur ein einziges Beispiel: Fontenelle hatte gesagt: „Nun hat [die Natur — W. K.] gewiß den Plato, Demosthenes und Homer nicht aus einem feineren oder besser zugerichteten Tone gemacht als unsere heutigen "Weltweisen, Redner und Poeten", wozu Gottsched: „Die Naturlehre ist auch dieser Bäckerphilosophie zuwider, die alles aus einerlei Teige zusammensetzet; gerade als ob wir Semmel oder Zwiebacken wären. Gesetzt aber, die Natur wäre eine Bäckerin, könnte sie nicht auch Pasteten und Torten backen? Und wie wüßte es Herr Fontenelle, daß Pumpernickel und Mandelkuchen aus einerlei Teige gemacht werden müßten?" Gottsched fügt noch hinzu: „Gleichnisse sind leicht mit Gleichnissen zu bezahlen", womit er sich aber selbst ins Unrecht setzt. Trotz aller Einwände im einzelnen war Gottsched beeindruckt durch den Modernismus Fontenelles, der im Grunde nichts anderes bedeutet als die Ablösung des Humanismus durch die Aufklärung. Den besten Beweis dafür lieferte eine Übersetzung von einem unbedingten Gefolgsmann der Fontenelleschen Theorien, des Abbe Terrassen, dessen „Philosophie nach ihrem allgemeinen Einfluß auf alle Gegenstände des Geistes und der Sitten" Madame Gottsched geläufig und vorzüglich verdeutscht und ihr Gatte mit einer kurzen Vorrede eingeleitet hatte. Die Ausgabe erschien 1756 bei Breitkopf in Leipzig. Terrassen hatte schon in einer früheren Schrift, 1715, über Homer oder eigentlich gegen Homer („Dissertation

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critique sur l'Jliade'") zu der Querelle des anciens et des modernes zugunsten der letzteren Stellung bezogen. Gottsched kannte und rühmte dieses Werk und ebenso den „Sethos", einen im alten Ägypten spielenden historischen Roman, den er über Fenelons „Telemaque" stellte. Die 1753 postum in Paris erschienene „Philosophie" stellte also eine gewisse Novität in Deutschland dar, anders als Fontenelles Werke, die großenteils schon im neunten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts erschienen waren. Eine große Neuerung Gottscheds war es, daß er seine Position in einem Vorwort und nicht mehr in oft wie Grimassen den Text untermalenden Anmerkungen klarstellt. Er schreibt selbst darüber, mit erstaunlicher Offenheit seine eigene bisherige Übersetzungspraxis bloßstellend: „Der Weg, Schriftsteller, die man herausgibt, durch Anmerkungen zu erläutern, ist gar zu gewöhnlich, als daß ekle Leser ihn itzo mehr artig finden sollten. Die Notenmacher sind ihnen durch den Mißbrauch dieses Handwerkes bald als sklavische Bewunderer ihrer Urschriften, bald als Splitterrichter derselben verdächtig geworden [...]" Diese Einsicht in dem hier nur verkürzt wiedergegebenen Abschnitt hat in der Geschichte der deutschen Übersetzung eine neue Seite aufgeschlagen. Für Terrassen bekundet Gottsched in seinem Vorwort noch mehr Verständnis als zuvor für Fontenelle. Seine Einwände sind nicht sehr gewichtig. Statt mit Fontenelle zu sagen, die heutigen Bäume seien so hochgewachsen wie die im Altertum, sollte man die Bewegung von der Antike zur Moderne besser mit dem Gartenbau vergleichen. Niemand könne verständigerweise leugnen, daß die heutige Gartenkunst diejenige der Semiramis bei weitem übertreffe. Mit dieser Richtigstellung wird die Generallinie der Modernisten nur noch einmal unterstrichen. Kleinere Einwände betreffen den Vorrang der Römer vor den Griechen, der ja für die lineare Fortschrittstheorie eine Notwendigkeit war. Ferner wäre der „goüt frivole", der „goüt des enjolivements", der „goüt des bagatelles" der französischen Gegenwartsdichtung, des Rokoko, wie man heute sagen würde, nicht leicht als Fortschritt zu verbuchen. Aber die sechs verständigen Franzosen, die dies selbst zugegeben hätten (darunter Voltaire und d'Alembert), stellten immerhin ein Aufgebot dar, auf das sich die Modernisten hätten stützen können. Ernstlich verstimmt zeigt sich Gottsched nur über die von Terrasson gewählte philosophische Ausgangsstellung bei Descartes: Gottsched stellt hier alle Namen der älteren und jüngeren Vorbereiter zusammen und macht es Terrasson zum Vorwurf, daß er Descartes und nicht „unseren Wolff" für die Spitzenstellung ausersehen hätte. Er begrüßt im übrigen die Dämpfung der übertriebenen Bewunderung der Antike. Auch das Abservieren Homers

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wird jetzt ohne Widerspruch hingenommen. Homer sei auch nur ein Mensch gewesen, „und zwar ein Mensch in einem noch sehr rohen und einfältigen Weltalter". Der Kernpunkt der den Modernismus begünstigenden Meinung Gottscheds wird aber durch folgende Bemerkung getroffen: „Wir können das mit dem größten Recht sagen: daß unsere Landsleute teils weiser in Erfindungen gewesen als Griechen und Römer, teils das, was jene erfunden, um ein Merkliches verbessert haben." Hier zeigte sich noch einmal, daß die nationalpädagogische Arbeit Gottscheds die Hebung des deutschen Selbstbewußtseins bewirken wollte und daß er von hier aus die Strategie der Modernen mitmachen mußte. Gottscheds Übersetzungen aus dem Französischen waren dazu berufen, den noch begrenzten deutschen Horizont mit einem Weltinhalt zu erfüllen. Diese Aufgabe forderte den enthusiastischen Eifer und die riesige Arbeitskraft, die Gottsched in allen Phasen seines Lebens an den Tag legte. Wir können, trotz ihres Gewichtes, nicht alle Übersetzungen nennen, die Gottsched veranstaltete oder veranlaßte. Zu ihnen gehören Autoren wie Batteux (1754), Fenelon, Le Clerc, Polignac (1748) und Poree. Wir beschränken uns vielmehr auf die für Gottsched besonders charakteristischen und von ihm mit besonderer Sorgfalt ausgearbeiteten Titel. An der Spitze stehen die vier Folianten von Pierre Bayles „Historischem und kritischem Wörterbuch ..., mit einer Vorrede und verschiedenen Anmerkungen, sonderlich bei anstößigen Stellen, versehen von Johann Christoph Gottscheden, Professor der Philosophie in Leipzig" usw., Leipzig, bei Bernhard Christoph Breitkopf, 1741 — 1744. Das erstmals 1695 erschienene „Dictionnaire historique et critique" hatte sich als das wertvollste Instrument der aufklärerischen Gelehrsamkeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bewährt. Die Übersetzung ins Deutsche war eine geistige Großtat, die Gottsched niemals ohne die Hilfe der ihm kongenialen Gattin und ohne die patriotisch opferwillige Bereitschaft des Verlegers Breitkopf hätte zum Ende führen können. Die modernen Prinzipien der Übersetzung sind darin schon gewahrt: unveränderte Wiedergabe des Textes. Indessen konnte der Übersetzer auf seine Einmischung nicht verzichten, ohne seine nationalpädagogische Absicht in Frage zu stellen. Diese Einmischung erfolgt in den von dem hypertrophen Apparat Bayles sorgsam abgehobenen, mit einem G. signierten Anmerkungen des Übersetzers. Sie unterstreichen zum Teil die Gedankengänge des Originals, zum anderen sind es Beschwichtigungen der schreckhaften christlichen Gemüter. Wenn beispielsweise Bayle die Möglichkeit einer atheistischen Gesellschafts- und Staatsordnung zugegeben hatte, so mußte hier eine Bremse eingebaut werden, da schon das Wort Atheismus für den

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Durchschnittsdeutschen mit den Pestgerüchen einer Hexenküche geschwängert war. Zum Schluß noch eine andere Übersetzung, nicht minder gewichtig, als alle früheren es gewesen waren, nämlich diejenige von Helvetius' „De l'esprit" (1758). Als „Diskurs über den Geist des Menschen" erschien das Werk alsbald nach der Verdammung durch die französischen Behörden (1759) als Übersetzung eines gewissen Forkert. Die Zensurierung dieser Übertragung war Gottsched zugewiesen worden. Gottsched machte nun geltend, daß er sich in einer Zwangslage befunden hätte. Eine Ablehnung hätte nur die Folge gehabt, daß die Übersetzung des unheilvollen Buches durch Raubdrucke noch größere Verbreitung gefunden hätte. Darum hätte er sich entschlossen, das Werk zwar freizugeben, aber durch ein entgiftendes Vorwort, das er selbst verfassen würde, das Ärgernis zu beseitigen. Diese Behauptung ließ sich nun leicht als eine bloße Schutzbehauptung entkräften. Der Übersetzer Forkert bezog sich nämlich ausdrücklich auf die Ermunterung einer „verehrungswürdigen Person [...], deren Charakter und Schriften der Welt bereits zur Genüge gezeiget haben, daß dieselbe den Titel eines wahren Weisen verdienet, der seine nützlichen Gedanken der Welt nicht aus Eitelkeit, noch weniger aus Gewinnsucht, sondern aus wahrer Liebe zum Wohl aller Menschen mitteilet".

Daraus läßt sich folgern, daß Gottsched in Wahrheit die treibende Kraft der Übersetzung war, daß er sie für eine wichtige Erweiterung des Horizontes der Deutschen ansah, bei der die zu entkräftenden Stellen den zu bekräftigenden die Waage hielten. Das Vorwort zu Helvetius ist die letzte größere Arbeit Gottscheds, der Schwanengesang des Meisters, der eine eingehendere Auseinandersetzung mit seinen hier verbreiteten Gedanken verdiente. Die Linie Fontenelles war von seinem Schüler Helvetius in gewisser Weise fortgesetzt worden, und dieser Zusammenhang stand natürlich auch Gottsched vor Augen. Vor allen Dingen war Helvetius durch Fontenelle auf den Sensualismus Lockes und auf die zu überwindenden rationalistischen Restbestände verwiesen worden. Gottsched versuchte nun eine doppelte Front gegenüber dem extremen Sensualismus und dem kaum verhüllten Materialismus von Helvetius und zugleich gegenüber seinen rationalistischen und idealistischen Gegnern zu beziehen. Die Einheit des Menschen sollte nicht mehr durch die Entzweiung von Leib und Seele oder Geist zerfällt werden. Helvetius verfocht, wie schon vor ihm Fontenelle, die Theorie der Menschengleichheit, die später Diderot durch den Hinweis auf die man-

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gelnde Berücksichtigung der individuellen Verschiedenheiten aus den Angeln heben wollte. Dagegen ließ sich Gottsched von Helvetius auf diesem entscheidenden Punkt überzeugen. Er findet bei ihm „viel gründlich ausgeführte Wahrheiten und neue Betrachtungen über das menschliche Geschlecht, sonderlich über die Quellen seines Tuns und Lassens und folglich seiner Glückseligkeit und Unglückseligkeit [...] Der Verfasser ist sehr tief in den Geist und das Herz des Menschen gedrungen. Er hat die Gedanken und Neigungen des Menschen, seine Gesinnungen und Empfindungen so genau geprüft, als nach Locken vielleicht noch niemand getan hat. Er hat auch sogar viele Vorurteile seiner Landsleute und sonderlich des berufenen Montesquieu sehr glücklich bestritten, indem er deutlich bewiesen, daß nicht die Himmelsgegend oder der Weltstrich, unter dem man wohnt, sondern die Regierungsart der Länder, die Auferziehung und tausend andere kleine Umstände die Fähigkeiten des Geistes und Neigungen des menschlichen Herzens bilden."

Daß Helvetius' Werk die Deutschen auch weiterhin beschäftigt, geht aus einem 1768 verfaßten Brief von Helfrich Peter Sturz hervor. Er spricht über das Werk und seinen Autor mit Sympathie, obwohl er dessen theoretischen Amoralismus so wenig wie Gottsched mitmacht. 4 Der hochbegabte Thomas Abbt sah sich der Übersetzung eines eigenen Werkes ins Französische gegenübergestellt [vgl. EA, S. 720]. Er beklagt sich darüber, sein Übersetzer sei mehr ein solcher als ein Freund gewesen: „Ich komme zu Ihrer Übersetzung von meiner Abhandlung und werde Ihnen meine Gedanken darüber so offenherzig sagen, als Sie es von einem Freunde erwarten können. Sie haben die Pflicht eines Übersetzers, soviel ich davon urteilen kann, vollkommen erfüllet, aber nicht die Pflicht eines Freundes. Die metaphysischen Subtilitäten nehmen sich im Französischen so wenig aus, daß sie ihrem Verfasser unmöglich Ehre machen können. Ich verspreche mir keines einzigen Franzosen Beifall. Was mich wahrhaftig ergötzt, ist, daß die Abhandlung Ihnen notwendig gefallen haben muß, sonst würden Sie sich, unserer Freundschaft ohngeachtet, nicht so viel Mühe darum gegeben haben. Auf Ihren Beifall, mein Freund! tut sich meine Eigenliebe was rechtes zugute, allein von einer ändern Seite ist sie ziemlich gedemütigt worden. Ich hatte mir allezeit geschmeichelt, meine Schriften müßten sich im Französischen lesen lassen, und siehe! ich hatte mich betrogen."5

Man sieht, daß die französisch-deutsche Differenz von unseren besten Geistern als ein Unterschied der Sensibilität gewertet wurde, drei Jahrzehnte, bevor Frau von Stael mit ihren vereinfachenden Formeln in Deutschland Eindruck zu machen versuchte. Herder nahm die Übersetzer vor den Anfechtungen der „Handwerksrezensenten" in Schutz. Er zeigt, „wie ein Übersetzer seinen beiden Sprachen nicht auf ein Haar zu nahe treten müsse, der, aus welcher und in welche er übersetzt". Die Rezensenten nennen eine „zu laxe Übersetzung" zu Unrecht frei und ungezwungen. Eine sehr anpassende Übersetzung würde zwar als

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„sklavisch" gescholten, sie würde selten „so geschätzt, wie sie es verdient". So ist es der Pol der wortnahen Übersetzung, dem Herder, wie man es erwarten konnte, im letzten zuneigt. 6

Anmerkungen 1 Zitiert nach: Lillian Cobb: Pierre-Antoine de La Place. Sa vie et son oeuvre, Paris 1928, S. 32. 2 17. Band, I. Teil, 1762, S. 182 f. 3 Zitiert nach: T. J. Barling: The Literary Art of the „Lettres philosophiques" (= Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, XLI, 1966, S. 34). 4 Abgedruckt in: Die französische Aufklärung im Spiegel der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin 1963, S. 135 ff. 5 Thomas Abbt: Vermischte Werke, III. Teil, Berlin und Stettin 1771, S. 155. 6 J. G. Herder: Sämtliche Werke, hg. v. Suphan, Bd. 2, S. 107 f.

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Auf einem dem großen Hamburger Deisten und Anthropologen Hermann Samuel Reimarus gewidmeten Kongreß die Rede auf Gottsched zu bringen, mag sonderbar und abwegig erscheinen. Immerhin handelt es sich um zwei Zeitgenossen, um zwei charakteristische Repräsentanten der deutschen Aufklärung. Sie nähern sich einander in ihrem Geburts- und Todesjahr: Reimarus 1694-1768, Gottsched 1700-1766.1 Sie haben Berührungspunkte und verraten Gegensätze, die vielleicht einander aufzuhellen vermögen. Sie waren beide entschiedene Gegner der Orthodoxie: Reimarus mit seinem mannhaften und kompromißlosen Deismus, Gottsched mit seiner aufklärerischen Toleranz gegenüber allen gegebenen Formen der Religion, die er nicht teilte, aber für achtenswert hielt. Reimarus war ein kompromißloser Verfechter der Aufklärung — Gottsched war mehr Stratege; er scheute keine Kompromisse, wo sie Hemmungen gegen die Annahme des neuen Weltbilds beiseite räumten. Einer durchschlagend genialen Erkenntnis, wie sie Reimarus gelang, als er im Tierreich die Identität von Individuum und Spezies erkannte und damit den menschlichen Spielraum in der Offenhaltung dieses Gegensatzes bestimmte, einer solchen Genietat war Gottsched mit seiner enzyklopädisch ausgebreiteten Geistigkeit nicht fähig. Dagegen war es ihm wie keinem anderen gelungen, die stagnierende deutsche Welle auf breiter Front in Bewegung zu bringen. Gottscheds Übersetzungen aus dem Französischen waren dazu berufen, den noch begrenzten deutschen Horizont mit einem Weltinhalt zu füllen. Diese Aufgabe forderte den enthusiastischen Eifer und die riesige Arbeitskraft, die Gottsched in allen Phasen seines Lebens an den Tag legte. Wir können, trotz ihres Gewichtes, nicht alle Übersetzungen nennen, die Gottsched veranstaltete oder veranlaßte. Zu ihnen gehören Autoren wie Batteux (1754), Fenelon, Le Clerc, Polignac (1748) und Poree. Wir beschränken uns

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vielmehr nur auf die für Gottsched besonders charakteristischen und von ihm mit besonderer Sorgfalt ausgearbeiteten Titel. An der Spitze stehen die vier Folianten von Pierre Bayles „Historischem und kritischem Wörterbuch ..., mit einer Vorrede und verschiedenen Anmerkungen, sonderlich bei anstößigen Stellen, versehen von Johann Christoph Gottscheden, Professor der Philosophie in Leipzig" usw., Leipzig, bei Bernhard Christoph Breitkopf, 1741 — 1744. Das erstmals 1695 erschienene „Dictionnaire historique et critique" hatte sich als das wertvollste Instrument der aufklärerischen Gelehrsamkeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bewährt. Die Übersetzung ins Deutsche war eine geistige Großtat, die Gottsched niemals ohne die Hilfe der ihm kongenialen Gattin, einer der großartigsten Frauen des deutschen 18. Jahrhunderts, und ohne die patriotisch opferwillige Bereitschaft des Verlegers Breitkopf zum Ende hätte führen können. Die modernen Prinzipien der Übersetzung sind darin schon gewahrt: unveränderte Wiedergabe des Textes. Indessen konnte der Übersetzer auf seine Einmischung nicht verzichten, ohne seine nationalpädagogische Absicht in Frage zu stellen. Diese Einmischung erfolgt in den von dem hypertrophen Apparat Bayles sorgsam abgehobenen, mit einem G. signierten Anmerkungen des Übersetzers. Sie unterstreichen zum Teil die Gedankengänge des Originals, zum ändern sind es Beschwichtigungen der schreckhaften christlichen Gemüter. Wenn beispielsweise Bayle die Möglichkeit einer atheistischen Gesellschafts- und Staatsordnung zugegeben hatte, so mußte hier eine Bremse eingebaut werden, da schon das Wort Atheismus für den Durchschnittsdeutschen mit den Pestgerüchen einer Hexenküche geschwängert war. Andererseits weist Gottsched darauf hin, daß der Artikel „David" in der Ausgabe von 1695 Ärgernis erregte, daß sich das Konsistorium einschaltete und eine veränderte Fassung für die nächsten Auflagen erwirkte. Was bezweckte diese Bemerkung? Auch die Erstausgabe von Bayle konnte man sich in Deutschland leicht verschaffen. Offenbar spielt der Anwalt einer gottgefälligen Sache notwendig zugleich den Advocatus diaboli. Gegen Bayle verteidigt Gottsched Homer. Er sagt u. a.: „Mit einem Worte, Homer mag dichten, was er will, so ist es nicht recht. Ein Land, darin man vergnügt im Überflusse lebt, heißt ein Pays de Cocagne oder Schlaraffenland. Gerade als ob man nur auf diese Art nicht auch Paris, das so hochgepriesene Paris, ein solches Pays de Cocagne nennen könnte; als woselbst man sich ja so wohl als wie bei den Phäaken aufs Essen und Trinken und auf die Bequemlichkeiten des Lebens versteht."

Es handelte sich um die Ehrenrettung des Odysseus, dem der Besuch bei dem Phäakenkönig verargt worden war. Die hier noch harmlosen Stiche-

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leien auf Frankreich und auf die Franzosen mögen dem peinigenden Gefühl des unermeßlichen deutschen Rückstands entsprungen sein. Auf keinen Fall kann man in dieser Ressentimentbildung die Stimme eines Patrioten vernehmen, wie Reichel, in ganz wilhelminischem Geist, vermutete. Und hier noch das Beispiel einer Gottschedischen, ernst zu nehmenden Anmerkung über ein allezeit offenstehendes Problem: „Die Sittenlehre des Herrn Bayle ist fast gar zu strenge eingerichtet, als daß sie ihm von Herzen gegangen oder der Wahrheit und der menschlichen Natur gemäß sein konnte. Der Mensch soll bei seinen Tugenden auf gar keinen Vorteil sehen und denken ... Er soll aber auch keine Ehre durch seine Tugend erlangen: da doch durch tugendhafte Taten ganz allein eine wahre Ehre erhalten wird."

Gottsched stützt sich demgegenüber auf die Vielschichtigkeit der Psyche, nicht anders als zwei Jahrhunderte später die Phänomenologen auf ihrem Kreuzzug gegen den Kantischen Formalismus in der Ethik. Lange vor Bayle hatte Gottsched einen Frühaufklärer in seinen wesentlichen Schöpfungen übersetzt und kommentiert: Bernard de Fontenelle. Dieser verdiente mit besseren Gründen als Voltaire den Titel eines Patriarchen der Aufklärung, deren Tore er schon in seinen Publikationen der achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts aufgestoßen hatte. Den Kernpunkt von Fontenelles Lehre bildete der Modernismus, d. h. diejenige Theorie, die den Glauben an die Unübertrefflichkeit der Antike von sich schüttelte und der modernen Dichtung einen ebenbürtigen, wenn nicht überlegenen Rang zusichern wollte. Unleugbar war Gottsched für diese Theorie ungemein empfänglich und aufgeschlossen. Zwar hatte er nicht gewagt, die humanistischen Sinnklammern der deutschen Poetik zu entfernen — jedoch stieß er bei seinen Unternehmungen in Regionen vor, die durchaus nur durch die Eigenständigkeit der deutschen Sprache und Literatur bestimmt waren. Das hinderte Gottsched nicht, an den Übertreibungen der Fontenelleschen Positionen Kritik zu üben und als idealistischer Wolffianer auf die materialistische Philosophie der Franzosen entschieden zu reagieren. Solche Vorbehalte wurden im Vorwort zu Fontenelles „Gesprächen" in maßvoller Weise geltend gemacht. Doch nicht so in den impulsiven Anmerkungen, die man als exemplarische Belege für eine Geschichte des deutschen Grobianismus verwerten könnte. Nur ein einziges Beispiel: Fontenelle hatte gesagt: „Nun hat (die Natur - W. K.) gewiß den Plato, Demosthenes und Homer nicht aus einem feineren oder besser zugerichteten Tone gemacht als unsere heutigen Weltweisen, Redner und Poeten",

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wozu Gottsched: „Die Naturlehre ist auch dieser Bäckerphilosophie zuwider, die alles aus einerlei Teige zusammensetzet; gerade als ob wir Semmel oder Zwiebacken wären. Gesetzt aber, die Natur wäre eine Bäckerin, könnte sie nicht auch Pasteten und Torten backen? Und wie wüßte es Herr Fontenelle, daß Pumpernickel und Mandelkuchen aus einerlei Teige gemacht werden müßten?"

Gottsched fügt noch hinzu: „Gleichnisse sind leicht mit Gleichnissen zu bezahlen", womit er sich aber selbst ins Unrecht setzt. Trotz aller Einwände im einzelnen war Gottsched beeindruckt durch den Modernismus Fontenelles, der im Grunde nichts anderes bedeutete als die Ablösung des Humanismus durch die Aufklärung. Den besten Beweis dafür lieferte eine Übersetzung von einem unbedingten Gefolgsmann der Fontenelleschen Theorien, des Abbe Terrassen, dessen „Philosophie nach ihrem allgemeinen Einfluß auf alle Gegenstände des Geistes und der Sitten" Madame Gottsched geläufig und vorzüglich verdeutscht und ihr Gatte mit einer kurzen Vorrede eingeleitet hatte2. Die Ausgabe erschien 1756 bei Breitkopf in Leipzig. Terrassen hatte schon in einer früheren Schrift, 1715, über Homer oder eigentlich gegen Homer („Dissertation critique sur l',Iliade'") zu der Querelle des anciens et des modernes zugunsten der letzteren Stellung bezogen. Gottsched kannte und rühmte dieses Werk und ebenso den „Sethos", einen im alten Ägypten spielenden historischen Roman, den er über Fenelons „Telemaque" stellte. Die 1753 postum in Paris erschienene „Philosophie" stellte also eine gewisse Novität in Deutschland dar, anders als Fontenelles Werke, die großenteils schon im neunten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts erschienen waren. Eine große Neuerung Gottscheds war es, daß er seine Position in einem Vorwort und nicht mehr in oft wie Grimassen den Text untermalenden Anmerkungen klarstellt. Er schreibt selbst darüber, mit erstaunlicher Offenheit seine eigene bisherige Übersetzerpraxis bloßstellend: „Der Weg, Schriftsteller, die man herausgibt, durch Anmerkungen zu erläutern, ist gar zu gewöhnlich, als daß ekle Leser ihn itzo mehr artig finden sollten. Die Notenmacher sind ihnen durch den Mißbrauch dieses Handwerkes bald als sklavische Bewunderer ihrer Urschriften, bald als Splitterrichter derselben verdächtig geworden ..."

Diese Einsicht in dem hier nur verkürzt wiedergegebenen Abschnitt hat in der Geschichte der deutschen Übersetzung eine neue Seite aufgeschlagen. Für Terrassen bekundet Gottsched in seinem Vorwort noch mehr Verständnis als zuvor für Fontenelle. Seine Einwände sind nicht sehr gewichtig. Statt mit Fontenelle zu sagen, die heutigen Bäume seien so hochgewachsen

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wie die des Altertums, solle man die Bewegung von der Antike zur Moderne besser mit dem Gartenbau vergleichen. Niemand könne verständigerweise leugnen, daß die heutige Gartenkunst diejenige der Semiramis bei weitem übertreffe. Mit dieser Richtigstellung wird die Generallinie der Modernisten nur noch einmal unterstrichen. Kleinere Einwände betreffen den Vorrang der Römer vor den Griechen, der ja für die lineare Fortschrittstheorie eine Notwendigkeit war. Ferner wäre der „goüt frivole", der „goüt des enjolivements", der „goüt des bagatelles" der französischen Gegenwartsdichtung, des Rokoko, wie man heute sagen würde, nicht leicht als Fortschritt zu verbuchen. Aber die sechs verständigen Franzosen, die dies selbst zugegeben hätten (darunter Voltaire und d'Alembert), stellten immerhin ein Aufgebot dar, auf das sich die Modernisten hätten stützen können. Ernstlich verstimmt zeigt sich Gottsched nur über die von Terrassen gewählte philosophische Ausgangsstellung bei Descartes: Gottsched stellt hier alle Namen der älteren und jüngeren Vorbereiter zusammen und macht es Terrassen zum Vorwurf, daß er Descartes und nicht „unseren Wolff" für die Spitzenstellung ausersehen hätte. Er begrüßt im übrigen die Dämpfung der übertriebenen Bewunderung der Antike. Auch das Abservieren Homers wird jetzt ohne Widerspruch hingenommen. Homer sei auch nur ein Mensch gewesen, „und zwar ein Mensch in einem noch sehr rohen und einfältigen Weltalter". Der Kernpunkt der den Modernismus begünstigenden Meinung Gottscheds wird aber durch folgende Bemerkung getroffen: „Wir können das mit dem größten Rechte sagen: daß unsere Landsleute teils weiser in Erfindungen gewesen als Griechen und Römer, teils das, was jene erfunden, um ein Merkliches verbessert haben." Hier zeigte sich noch einmal, daß die nationalpädagogische Arbeit Gottscheds die Hebung des deutschen Selbstbewußtseins bewirken wollte und daß er von hier aus die Strategie der Modernisten mitmachen mußte. Solch eine Überwertung der deutschen Dichtung von damals war für Lessing natürlich eine Unmöglichkeit. Das Verhältnis von Lessing zu Gottsched muß im übrigen am Schluß dieses Referates mit ein paar andeutenden Zügen umrissen werden. Zuvor noch eine andere Übersetzung, nicht minder gewichtig, als alle früheren es gewesen waren, nämlich diejenige von Helvetius' „De l'esprit" (1758). Als „Diskurs über den Geist des Menschen" erschien das Werk alsbald nach seiner Verdammung durch die französischen Behörden (1759) als Übersetzung eines gewissen Forkert. Die Zensurierung dieser Übertragung war Gottsched zugewiesen worden. Gottsched machte nun geltend, daß er sich in einer Zwangslage befunden hätte. Eine Ablehnung hätte nur die

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Folge gehabt, daß die Übersetzung des unheilvollen Buches durch Raubdrucke noch größere Verbreitung gefunden hätte. Darum hätte er sich entschlossen, das Werk zwar freizugeben, aber durch ein entgiftendes Vorwort, das er selbst verfassen würde, das Ärgernis zu beseitigen. Diese Behauptung ließ sich nun leicht als eine bloße Schutzbehauptung entkräften. Der Übersetzer Forkert bezog sich nämlich ausdrücklich auf die Ermunterung einer „verehrungswürdigen Person ..., deren Charakter und Schriften der Welt bereits zur Genüge gezeiget haben, daß dieselbe den Titel eines wahren Weisen verdienet, der seine nützlichen Gedanken der Welt nicht aus Eitelkeit, noch weniger aus Gewinnsucht, sondern aus wahrer Liebe zum Wohl aller Menschen mitteilet".

Daraus läßt sich folgern, daß Gottsched in Wahrheit die treibende Kraft der Übersetzung war, daß er sie für eine wichtige Erweiterung des Horizontes der Deutschen ansah, bei der die zu entkräftenden Stellen den zu bekräftigenden mindestens die Waage hielten. Das Vorwort zu Helvetius ist die letzte größere Arbeit Gottscheds, der Schwanengesang des Meisters, der eine eingehendere Auseinandersetzung mit seinen hier verbreiteten Gedanken verdienen würde. Die Linie Fontenelles war von seinem Schüler Helvetius in gewisser Weise fortgesetzt worden, und dieser Zusammenhang stand natürlich auch Gottsched vor Augen. Vor allen Dingen war Helvetius durch Fontenelle auf den Sensualismus Lockes und auf die zu überwindenden rationalistischen Restbestände verwiesen worden. Gottsched versuchte nun eine doppelte Front gegenüber dem extremen Sensualismus und dem kaum verhüllten Materialismus von Helvetius und zugleich gegenüber seinen rationalistischen und idealistischen Gegnern zu beziehen. Die Einheit des Menschen sollte nicht mehr durch die Entzweiung von Leib und Seele oder Geist zerfällt werden. Helvetius verfocht, wie schon vor ihm Fontenelle, die Theorie der Menschengleichheit, die später Diderot durch den Hinweis auf die mangelnde Berücksichtigung der individuellen Verschiedenheiten aus den Angeln heben wollte. Dagegen ließ sich Gottsched von Helvetius auf diesem entscheidenden Punkt überzeugen. Er findet bei ihm „viel gründlich ausgeführte Wahrheiten und neue Betrachtungen über das menschliche Geschlecht, sonderlich über die Quellen seines Tuns und Lassens und folglich seiner Glückseligkeit und Unglückseligkeit ... Der Verfasser ist sehr tief in den Geist und das Herz des Menschen gedrungen. Er hat die Gedanken und Neigungen der Menschen, seine Gesinnungen und Empfindungen so genau geprüft, als nach Locken vielleicht noch niemand getan hat. Er hat auch sogar viele Vorurteile seiner Landsleute und sonderlich des berufenen Montesquieu sehr glücklich bestritten, indem er deutlich bewiesen, daß nicht die Himmelsgegend oder der Weltstrich, unter dem man wohnt, sondern die Regierungsart der Länder, die Auferziehung und tausend andere kleine Umstände die Fähigkeiten des Geistes und Neigungen des menschlichen Herzens bilden."

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Dieses positive Urteil wird auch durch die polemische Auseinandersetzung mit Helvetius nicht mehr entkräftet. Sie betraf in erster Linie das Verhältnis von Mensch und Tier, ein Thema, das durch den Streit mit Descartes hochgespielt und von Reimarus, wie schon angedeutet, auf eine glückliche Formel gebracht worden war. Helvetius hatte den Ausgangspunkt seiner materialistischen Anthropologie in dem Gegensatz der artikulierten Hand des Homo faber und der wenig gegliederten und beweglichen Tatze oder Pfote zu treffen gesucht. Er stellte sich selbst den Einwand, daß auch die Affenhand gegliedert sei und doch nicht die Entwicklung zu höheren Zielen ermöglicht habe. Er versuchte durch andere, sekundäre Motive das Zurückbleiben der Affen zu erklären. Hier hakte Gottsched ein: „Ein Bär und ein Affe haben Hände wie Menschen. Sie können fühlen und allerlei Werkzeuge anfassen: ja der letzte ist auch geschickt, dem Menschen allerlei Dinge nachzuäffen. Ein Affe kann sich an- und auskleiden. Er kann ein Messer und einen Stock halten; er kann auch eine Feder halten wie ein Kind. Nun nehme man sich die Mühe und lehre ihn schreiben oder malen. Wird er das annehmen? Wird er lernen, daß dieser Zug dies oder jenes Wort bedeute und daß dies Wort diesen oder jenen Begriff anzeige? Man müßte sehr unbekannt mit diesen Tieren sein, wenn man sich solches einbilden wollte. Es muß also in der Seele eines Kindes, auch ohne den Gebrauch seiner Hände, schon viel mehr Fähigkeit sein als in der Seele des Affen: denn jenes lernt in seinem ersten und zweiten Jahre schon mehr denken, verstehen und reden als ein zehnjähriger Affe, soviel Mühe man sich auch mit ihm geben wollte."

Und weiter: „Der Affe und das Eichhorn hätte ja Hände dazu, Apfel-, Birnbäume und Nüsse zu pflanzen. Und doch tun sie es nicht. Aber woran liegt es? Gewiß bloß an dem Mangel einer fähigen Seele, nicht aber am Mangel der Bedürfnisse."

Nur der Mangel einer geistigen Seele ließ die Tiere zu Sklaven der Menschen werden: „so wie überhaupt die Sklaverei auch unter Menschen nur von der Dummheit des Pöbels kommt, der seine Kräfte nicht kennt und nicht zu brauchen weiß".

Gottsched müßte sich selbst nicht treu sein, wenn er die materialistische Erklärung der seelischen Kräfte und Bewegungen nicht verwerfen würde. Er beruft sich auf Bayle, der trotz seiner Zweifelsucht unbeirrbar an der Geistigkeit der Seele festgehalten hätte. Angelastet wird Helvetius schließlich sein sittlicher Amoralismus, den in Frankreich zu predigen Eulen nach Athen tragen hieße:

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„Man sieht auch in der Tat nicht, warum ein Franzos wie Herr Helvetius, zumal heute zu Tage, und zwar in Paris, auf eine Abstellung der Heuraten und mehrere Freiheit im Lieben dringen könnte? Ist denn nicht der vierte oder beinahe dritte Teil der parisischen Kinder schon unehelich? Zeigt das etwa einen großen Zwang, den die Ehegesetze diesem Volk antun? Und wie viele sind noch unter der Anzahl ehelich geborener Früchte auf Ausschweifungen der Eheweiber zu schieben? Gewiß, dieser strenge parisische Ehestand, den alle Chansons zum Gespötte machen, hätte also keinen Gegner gebraucht, um noch mehr gemildert zu werden ..."

Daß Helvetius' Werk die Deutschen auch weiterhin beschäftigt, geht aus einem 1768 verfaßten Brief von Helfrich Peter Sturz hervor. Er spricht über das Werk und seinen Autor mit Sympathie, obwohl er dessen theoretischen Amoralismus so wenig wie Gottsched mitmacht. 3 Die Übersetzertätigkeit Gottscheds wie auch sein ganzes Lebenswerk wurde bekanntlich von Lessing als dem Repräsentanten einer neuen Generation gnadenlos verurteilt: „,Niemand', sagen die Verfasser der ,Bibliothek', ,wird leugnen, daß die deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserungen dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe.' Ich bin dieser Niemand; ich leugne es geradezu. Es wäre zu wünschen, daß sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeinten Verbesserungen betreffen entweder entbehrliche Kleinigkeiten oder sind wahre Verschlimmerungen."

Vor allem wirft er ihm sein „Französisieren" vor, die Erhebung der Dramen von Corneille und Racine zu Mustern des erst zu befestigenden deutschen Geschmacks. Lessing verweist auf die englische Literatur. Er setzt damit die Kontroverse der englisch orientierten Schweizer gegen den französisch orientierten Gottsched fort. In der poetischen Praxis haben nun aber die englischen Vorbilder Bodmers und Breitingers etwas Nennenswertes nicht hervorgebracht. Die Situation, die Gottsched vorgefunden hatte, wird von Lessing selbst vorzüglich charakterisiert: „Als die Neuberin blühte und so mancher den Beruf fühlte, sich um sie und die Bühne verdient zu machen, sähe es freilich mit unserer dramatischen Poesie sehr elend aus. Man kannte keine Regeln; man bekümmerte sich um keine Muster. Unsre Staats- und HeldenAktionen waren voller Unsinn, Bombast, Schmutz und Pöbelwitz. Unsre Lustspiele bestanden in Verkleidungen und Zaubereien; und Prügel waren die witzigsten Einfalle derselben."4

In einer solchen Situation konnte Gottsched keine englischen Vorbilder brauchen. Die Disziplinierung durch das klassische Theater der Franzosen war ihr dagegen vollkommen angemessen. Wenn Gottsched für das ihm überantwortete chaotische Literaturzeitalter gewisse Regeln aufstellte, so

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war er darum noch lange kein Französling. Auch Schiller und Goethe waren es nicht mit ihrer den Gottschedischen Konzeptionen angenäherten Zuwendung zur Klassik nach Überwindung von „Sturm und Drang" und der „Shakespearomanie". Wollte man schließlich Lessing als Französling ansehen wegen seines Bekenntnisses zu Diderot und der Anregungen seines „Laokoon" durch den Abbe Dubos? Wenn er das strategische Spiel der Aufklärung in Voltaires Theaterstücken nicht verstehen wollte, wenn er in seinem Kampf mit dem französischen Drama immer wieder auf Aristoteles rekurrierte, so war er eben in dieser Sache weit mehr Humanist als Aufklärer. Wollte man die in Frankreich mehr als ein Jahrhundert lang schwelende Querelle des anciens et des modernes auf die deutschen Literaturverhältnisse übertragen, so wäre Lessing der antikisierenden Partei, Gottsched aber dem modernistischen Lager zuzurechnen. Lessing suchte das absolut gültige Vorbild — Gottsched war sich, wenigstens in seinen besseren Augenblicken, der historischen Bedingtheit seiner Sendung bewußt.

Anmerkungen 1 Über Gottsched: Th. Danzel: Gottsched und seine Zeit, Leipzig 1848 — Gustav Waniek: Gottsched und die deutsche Literatur seiner Zeit, Leipzig 1897 — Eugen Reichel: Gottsched, I, II, Berlin 1908/1912 — A. Vulliod: La femme docteur. Mme Gottsched et son modele francais Bougeant, Paris 1912 — Gerhard Wechsler: Johann Christoph Gottscheds Rhetorik, Heidelberg 1933 — Marianne Wehr: Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel, Leipzig 1966 (Dissertation in Maschinenschrift) — Werner Rieck: Johann Christoph Gottsched, Berlin, Akademie-Verlag, 1972. 2 Die Fotokopie von Gottscheds Vorrede verdanke ich der Jungius-Gesellschaft, der ich meinen herzlichen Dank ausspreche. 3 Abgedruckt in „Die französische Aufklärung im Spiegel der deutschen Litertur des 18. Jahrhunderts", Berlin, Akademie-Verlag, 1963, S. 135 ff. 4 Lachmann, VI, 1854, S. 40 ff. — Eugen Reichel polemisiert mit Recht gegen dieses Urteil, aber sein damit verknüpfter Versuch (Gottsched, II, S. 402), nun umgekehrt dem Lessingschen Werk jede Wirksamkeit abzusprechen, ist natürlich a limine abzuweisen.

Goethe und die Französische Revolution1

Die Konfrontierung des größten deutschen Dichters mit dem größten Ereignis der neueren Geschichte, der Französischen Revolution, ist ein Thema, das Goethe gleich nach ihrem Ausbruch beschäftigt und bis in seine späte Schaffensperiode begleitet. Über Goethes Verhältnis zu der vorrevolutionären Epoche besteht kein Zweifel. Goethe verfolgte die Werke der französischen Aufklärung mit lebhafter Anteilnahme. Er bewunderte eine Epoche, die soviel geistige Regsamkeit aufgebracht, die einen Voltaire und Diderot hervorgebracht hatte. Ein Bekenntnis zu dieser großen Geistesepoche fällt noch in Goethes späteste Lebensjahre, in eine Zeit, in der sich in Deutschland die romantisch-historische Schule unter Savignys Stabführung schon konstituiert hatte. Der französischen Aufklärung mehr noch als der Französischen Revolution gehörte die besondere Abneigung der historischen Schule. Sie verurteilte diese vergangene Bewegung als hochfahrend und selbstbewußt und zugleich als geschichtsfremd. Bedenkt man, daß dieses Vorurteil bis in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts wiederkehrt, so kann man ermessen, daß Goethe, am Kontext der deutschen Geistesgeschichte gemessen, alles andere als ein Reaktionär war. Er war ein aufgeklärter Vertreter des Ancien regime. Durch die Halsbandaffäre war jedoch auch für ihn die Unhaltbarkeit eines so offenkundig korrupten Systems sichtbar geworden. Goethes fast überwertige Reaktion auf dieses Ereignis war schon seinen Zeitgenossen aufgefallen. Sie erklärt sich aus dieser Erkenntnis, für die er überhaupt nicht vorbereitet war. Schon dieses Vorspiel läßt erahnen, welchen Zwang die ausgebrochene Revolution auf Goethe ausüben mußte. Goethe hat sofort in vollem Umfang ihre geschichtliche Dimension, ihre weltenwendende Bedeutung begriffen. Er mochte sich darüber beklagen, daß gerade er in eine solche Zeit hineingeboren worden war, die ihm eine solche Politisierung wider Willen aufzwang. Wenn er befürchtet, durch diese Obsession um

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bessere poetische Möglichkeiten betrogen worden zu sein, so können wir das nicht verneinen. Werke von hoher und höchster Qualität sind jedenfalls unter der Signatur der Französischen Revolution nicht entstanden. 1823 versucht Goethe sich über dieses Thema endgültig Rechenschaft zu geben. Zunächst betont er den Charakter der Gelegenheitsdichtung, den seine Dichtung immer besessen hätte. Er schreibt: „An eben diese Betrachtung schließt sich die vieljährige Richtung meines Geistes gegen die Französische Revolution unmittelbar an, und es erklärt sich die grenzenlose Bemühung, dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu gewältigen. Schau' ich in die vielen Jahre zurück, so seh' ich klar, wie die Anhänglichkeit an diesen unübersehlichen Gegenstand so lange Zeit her mein poetisches Vermögen fast unnützerweise aufgezehrt; und doch hat jener Eindruck so tief bei mir gewurzelt, daß ich nicht leugnen kann, wie ich noch immer an die Fortsetzung der ,Natürlichen Tochter' denke, dieses wunderbare Erzeugnis in Gedanken ausbilde, ohne den Mut, mich im einzelnen der Ausführung zu widmen." 2

Nicht alle Literaturgeschichten werden der unzweifelhaften Bedeutung dieses Motivs gerecht. Kein Wort darüber verlieren Geizer, Hettner, Nadler. Das Thema wird nur gestreift von Wilhelm Scherer. Dagegen war es unumgänglich, daß in einer so politisierten Literaturgeschichte wie der von Gervinus die Position der Deutschen und Goethes im besonderen gegenüber der Revolution in vollem Maß zur Geltung kam. Der Ausbruch der Revolution bald nach Goethes Rückkehr aus Italien „riß plötzlich die Bewunderung der Menschen auf einen anderen Gegenstand, dem sich Goethe nicht gewachsen fühlte ... Je größer die Begebenheiten wuchsen, desto mehr verstockte er sich darauf, den großen Streit der Welt für einen bloßen Zank um äußere Verhältnisse zu erklären ... überall geriet er bei der Betrachtung des Weltregiments ... in Verwirrung. Ihm war alles vereinzelte Tatsächliche unhandlich, bis es sich zur künstlerischen Bewältigung verknüpfte. Da hiezu in den ganz aufs Große angelegten Begebenheiten der Revolution keine Aussicht war, so leugnete er den höheren Zusammenhang lieber ganz ... Er hatte gar keine Ahnung, was aus dem Umsturz alles Bestehenden Besseres, ja was nur anderes daraus entstehen sollte."3

Gegenüber dieser pauschalen Beurteilung von Goethes Verhältnis zu den Welthändeln und zur Revolution im besonderen machte der Hegelianer Rosenkranz in seinem „Goethe" von 1847 den Versuch, in des Dichters Stellungnahme zur Revolution zwei gegensätzliche Phasen zu unterscheiden. Die Radikalkur der Französischen Revolution wird mit der Selbsttherapie des durch Italien hastenden Goethe verglichen. Aber der Dichter konnte diese Zusammenhänge erst allmählich begreifen: „Bis zu den Unterhaltungen der Ausgewanderten' hin geht die negative Richtung in seinem Verhältnis zur Französischen Revolution. Allein mit ihnen schlägt dasselbe auch schon in die positive Richtung um."4

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Das spekulative Goethe-Bild mußte Läuterung auch auf diesem Gebiet erwarten. — Demgegenüber verzeichnet Bielschowsky in seiner GoetheDarstellung das Verhältnis zur Revolution als einen einzigen Mißklang. Was geringere Geister vermochten, wäre ihm nicht gegeben, den gewaltigen positiven Antrieb dieser Bewegung zu begreifen. Diese Auffassung der bis heute als Standardwerk zu erachtenden Goethe-Biographie hat sich im großen ganzen durchgesetzt.5 So etwa Paul Reimann, um nur ein Zeugnis aus neuerer Zeit anzuführen: „Aber wenn Goethe auch gelegentlich auf die historische Bedeutung der Revolution hinwies und den herrschenden feudalen Zuständen kritisch gegenüberstand, machten seine gesellschaftliche Stellung und die ganze Atmosphäre, in der er zu leben gezwungen war, es ihm unmöglich, mit ihr zu sympathisieren. Erst nach dreißig Jahren, 1824, vermochte er in einem Gespräch mit Eckermann bis zu einem gewissen Grade die Einseitigkeit seiner Haltung anzuerkennen ... Aber auch dieses Gespräch, in dem Goethe die ,wohltätigen Folgen' der Französischen Revolution anerkannte, zeigt, wie ihm trotz seiner Einsicht in die wirklichen Lebensverhältnisse das Verständnis für die historische Notwendigkeit revolutionärer Umwälzungen verschlossen blieb."6

Auch Maurice Boucher beschließt seine hellhörige Untersuchung der einschlägigen Goethe-Zitate („La revolution de 1789 vue par les ecrivains allemands, ses contemporains", 1954): „Es kam ihm nicht in den Sinn, daß die Laune, die üble Laune, sagen wir es richtiger, das revolutionäre Feuer, einer der Antriebe der Geschichte und des Fortschritts sein kann." 7 Der Plutonismus, der Vulkanismus sei für Goethe kein Gesetz, "sondern eine Anomalie, ein Ausnahmefall, eine Katastrophe gewesen".8 Schon Jahre zuvor hatte Rudolf Unger Goethes „tiefen Widerwillen gegen die aus dem Westen andringende weltgeschichtliche Macht" in Parallele gesetzt zu seinem „gleichzeitigen Unverständnis der geistigen Umwälzung in Deutschland, die der Kantische Idealismus bewirkte".9 Dieser wichtige Zusammenhang muß hier in der bloßen Andeutung belassen werden. Festzuhalten gilt es die relative Fixität von Goethes Anschauung der Französischen Revolution, und zwar im Positiven wie im Negativen. Gewiß: der Widerwille gegen dieses Ereignis war zeitlebens unüberwindlich. Man kann die Erklärung hierfür in seiner Herkunft wie auch in seiner Tätigkeit suchen. Das reichsstädtische, stets kaisertreue und konservative Patriziertum war kein günstiger Nährboden für revolutionäre Gesinnungen. Goethe hat lange mit dem Gedanken einer Rückkehr nach Frankfurt gespielt. Einem Fürstendiener verbot sich, möchte man meinen, die Zuneigung zu diesem die Fundamente aller Staatlichkeit aufwühlenden Ereignis. Indessen waren auch Herder und Wieland Fürstendiener, ohne ihre Bewunderung für den in Frankreich vollzogenen Wandel zu verhehlen. Die Lockerung des Verhält-

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nisses zu Herder und Knebel lag eben in dieser Differenz der politischen Anschauung begründet. Goethes Konservatismus war der eines politischen Realisten, der im stillen Fortgang der Geschäfte keine Veränderung der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse wünschen konnte. Alles für das Volk, aber nichts durch das Volk! Durch die Französische Revolution wurde seine bisherige Lebenserfahrung in Frage gestellt, und darauf reagierte er feindselig und mit Unwillen. Äußerungen dieser Reaktion kann man seit dem Ausbruch der Revolution in allen Lebensphasen zusammenstellen. Zwar gab Goethe in einem oft zitierten Gespräch mit Eckermann offen zu, daß die „wohltätigen Folgen" der Revolution „noch nicht zu ersehen waren".10 Zu dieser Stelle, die man nur indirekt als positiv bewerten kann, kann man noch das Gespräch vom 4. 1. 1827 nehmen: „Daß die Französen aus der Pedanterie zu einer freieren Art in der Poesie hervorgehen, ist nicht zu verwundern. Diderot und ihm ähnliche Geister haben schon vor der Revolution diese Bahn zu brechen gesucht. Die Revolution selbst sodann, sowie die Zeit unter Napoleon sind der Sache günstig gewesen."

Diese zwei nur sehr bedingt als positiv zu erachtenden Bemerkungen vermöchten die Fülle der unvermindert feindseligen Auslassungen in Goethes letztem Jahrzehnt nicht aufzuwiegen. Er erklärt am 4. 1. 1824: „Es ist wahr, ich konnte kein Freund der Französischen Revolution sein, denn ihre Greuel standen mir zu nahe und empörten mich täglich und stündlich."11 Im selben Jahr 1824 behauptet Goethe: „Es ist in Frankreich alles durch Bestechungen zu erreichen; ja die ganze Französische Revolution ist durch Bestechungen geleitet worden."12 Und am 27. 4. 1825: „Ich hasse jeden gewaltsamen Umsturz, weil dabei ebensoviel Gutes vernichtet als gewonnen wird. Ich hasse die, welche ihn ausführen, wie die,.welche dazu Ursache geben." 1828 bekennt sich Goethe ausdrücklich zu seinem antirevolutionären „Bürgergeneral" und zu der das Stück beherrschenden Rolle des Schnaps, der nichts als eine possenhafte und ziemlich geistlose Karikierung der wirklichen Revolutionäre darstellt. 13 Und noch 1830: „Bei keiner Revolution sind die Extreme zu vermeiden. Bei der politischen will man anfänglich gewöhnlich nichts weiter als die Abstellung von allerlei Mißbräuchen, aber ehe man es sich versieht, steckt man tief in Blutvergießen und Greueln."14 Diese Texte aus späterer Zeit kann man ergänzen durch die früheren Auslassungen, die jenen natürlich an feindseliger Schärfe nichts nachgeben. Die Stellen sind öfters zusammengestellt — man kann sie der Sekundärliteratur mühelos entnehmen.15 Die Meinungen über die Französische Revolution bilden also ein durch alle Phasen hindurchgehendes Kontinuum. Das gilt nun aber auch für die Entlastungsversuche, die die revolutionäre Ge-

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folgschaft verständlich erscheinen ließen. Schließlich überläßt Goethe den Franzosen ihre Revolution, wenn das Überspringen des Funkens nach Deutschland verhindert wird. Dazu gesellt sich ein weiterer, ebenfalls beständig wiederholter Gedanke: die Mitschuld der herrschenden Kreise am Ausbruch der Revolution. Zufolge „Dichtung und Wahrheit" verwirrt sich die französische Verfassung „in lauter gesetzlosen Mißbräuchen", deren Regierung ihre Energie nur am falschen Orte sehen lasse und gestatten müsse, daß eine gänzliche Veränderung der Dinge schon in schwarzen Aussichten öffentlich prophezeit wurde. 16 Die Korruption in der Zeit des Halsbandprozesses beleuchtete schon der „Großkophta". Die früheste Stellungnahme nach dem Ausbruch der Umwälzung ist in den „Venezianischen Epigrammen" niedergelegt. Der Grundton wird angeschlagen in Nr. 50: Alle Freiheitsapostel, sie waren mir immer zuwider ...,

in Nr. 52: Jeglichen Schwärmer schlagt mir ans Kreuz im dreißigsten Jahre,

in Nr. 53: Große gingen zugrunde: doch wer beschützte die Menge Gegen die Menge? Da war Menge der Menge Tyrann.

Aber zwei Epigramme lassen uns aufhorchen: Nr. 57: Jene Menschen sind toll, so sagt ihr von heftigen Sprechern, Die wir in Frankreich laut hören auf Straßen und Markt. Mir auch scheinen sie toll; doch redet ein Toller in Freiheit Weise Sprüche, wenn ach! Weisheit im Sklaven verstummt!

Die Freiheit ist der Wahrheit günstiger als die Knechtschaft der Weisheit, unbeschadet der Tollheit, in die sie auch nach der Meinung des Autors verfalle. Um den Begriff der Tollheit geht es noch in den folgenden zwei Versen. Nr. 54: Tolle Zeiten hab' ich erlebt, und hab' nicht ermangelt, Selbst auch töricht zu sein, wie es die Zeit mir gebot.17

Ermächtigt uns dieser Zweizeiler zu der Annahme, daß Goethe selbst unmittelbar nach dem Ausbruch der Revolution für kurze Zeit ihren Verlockungen erlag? Wir können eine solche Interpretation nicht a limine abweisen, obwohl der gesamte Kontext von Goethes Zeugnissen über seine Revolutionserlebnisse eine ganz andere Deutung nahelegt: Das Ich ist nicht das des Autors, sondern ein „man". Fast alle Welt war dem Revolutionswahn verfallen. Zunächst wird der Zwangscharakter des Revolutionserlebnisses geschildert, und zwar in der „Kampagne in Frankreich" von 1792:

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„... indessen das Unheil der französischen Staats-Umwälzung, sich immer weiter verbreitend, jeden Geist, er mochte hin denken und sinnen, wohin er wollte, auf die Oberfläche der europäischen Welt zurückforderte und ihm die grausamsten Wirklichkeiten aufdrang".18

Auch in den herrschenden Schichten des deutschen Adels fanden solche Stimmungen Platz: „Was mir aber noch mehr auffiel, war, daß ein gewisser Freiheitssinn, ein Streben nach Demokratie sich in die hohen Stände verbreitet hatte; man schien nicht zu fühlen, was alles erst zu verlieren sei, um zu irgendeiner Art zweideutigen Gewinnes zu gelangen. Lafayettes und Mirabeaus Büste, von Houdon sehr natürlich und ähnlich gebildet, sah ich hier göttlich verehrt, jenen wegen seiner ritterlichen und bürgerlichen Tugenden, diesen wegen Geisteskraft und Rednergewalt. So seltsam schwankte schon die Gesinnung der Deutschen; einige waren selbst in Paris gewesen, hatten die bedeutenden Männer reden hören, handeln sehen und waren, leider nach deutscher Art und Weise, zur Nachahmung aufgeregt worden ..."I9

Die Revolutionsspielerei hätte demnach in Deutschland epidemisch um sich gegriffen: „Indem mich nun dies alles in Gedanken bedrängte, beängstigte, hatte ich leider zu bemerken, daß man im Vaterlande sich spielend mit Gesinnungen unterhielt, welche eben auch uns ähnliche Schicksale vorbereiteten. Ich kannte genug edle Gemüter, die sich gewissen Aussichten und Hoffnungen, ohne weder sich noch die Sache zu begreifen, phantastisch hingaben; indessen ganz schlechte Subjekte bittern Unmut zu erregen, zu mehren und zu benutzen strebten."20

Schon in den frühen, dem „Bürgergeneral" folgenden Revolutionsstücken geht Goethe auf die revolutionären Stimmungen insbesondere unter den Jugendlichen ein. In den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" (1794) spricht ein enthusiastischer Jüngling für die Sache der Revolution. Herausgefordert, bleibt er die Antwort nicht schuldig. Das Verhältnis zur Revolution wird hier also auf den Gegensatz der Generationen hinausgespielt: .„Unparteiisch!' rief Karl mit Heftigkeit aus; ,wenn ich doch dies Wort nicht wieder sollte aussprechen hören! Wie kann man diese Menschen so geradezu verdammen? Freilich haben sie nicht ihre Jugend und ihr Leben zugebracht, in der hergebrachten Form sich und ändern begünstigten Menschen zu nützen! Freilich haben sie nicht die wenigen wohnbaren Zimmer des alten Gebäudes besessen und sich darinne gepflegt; vielmehr haben sie die Unbequemlichkeit der vernachlässigten Teile cures Staatspalastes mehr empfunden, weil sie selbst ihre Tage kümmerlich und gedrückt darin zubringen mußten; sie haben nicht, durch eine mechanisch erleichterte Geschäftigkeit bestochen, dasjenige für gut angesehen, was sie einmal zu tun gewohnt waren; freilich haben sie nur im stillen der Einseitigkeit, der Unordnung, der Lässigkeit, der Ungeschicklichkeit zusehen können, womit eure Staatsleute sich noch Ehrfurcht zu erwerben glauben; freilich haben sie nur heimlich wünschen können, daß Mühe und Genuß gleicher ausgeteilt sein möchten!' ... Karl, der sich im Zorn nicht mehr kannte, hielt mit dem Geständnis nicht zurück, daß er den französischen Waffen alles Glück wünsche und daß er jeden

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Deutschen auffordere, der alten Sklaverei ein Ende zu machen; daß er von der französischen Nation überzeugt sei, sie werde die edlen Deutschen, die sich für sie erklärt, zu schätzen wissen, als die Ihrigen ansehn und behandeln und nicht etwa aufopfern oder ihrem Schicksale überlassen, sondern sie mit Ehren, Gütern und Zutrauen überhäufen. — Der Geheimrat behauptete dagegen, es sei lächerlich zu denken, daß die Franzosen nur irgendeinen Augenblick, bei einer Kapitulation oder sonst für sie sorgen würden; vielmehr würden diese Leute gewiß in die Hände der Alliierten fallen, und er hoffe, sie alle gehangen zu sehen. — Diese Drohung hielt Karl nicht aus und rief vielmehr, er hoffe, daß die Guillotine auch in Deutschland eine gesegnete Ernte finden und kein schuldiges Haupt verfehlen werde."21

Der Geheimrat, oder mit einer Aufschwellung dieses Titels durch ein unetymologisches „Geheimbderat", war eine „louche", eine finstere Figur, von der tatsächliche Macht im denkbar reaktionärsten Sinn ausging. Der Adel, durch Dekadenz und mangelnde Intelligenz ab origine unfähig, alle entscheidenden Positionen der feudalabsolutistischen Staatlichkeit einzunehmen, versah sich der Mitwirkung der technisch befähigten und charakterlich zu jeder Niedrigkeit bereiten Vertreter des Bürgertums. Daß gerade die junge Generation für die Revolutionsgedanken besonders empfänglich war, betont Goethe ausdrücklich in der „Kampagne in Frankreich", wo ein revolutionär gesinnter Jüngling zwischen die feindlichen Fronten gerät. Über ihn wird gesagt: „A/5 junger Mann dem neuen Systeme günstig (von mir hervorgehoben — W. K.), kehrt er genötigt zu einer Partei zurück, die er verabscheut ,.."22 Goethe war sehr geneigt, einer begeisterungsfähigen Jugend ihre revolutionären Illusionen zugute zu halten. Ein solcher Idealist war der erste Bräutigam der Dorothea, von dem gesagt wird: Auch, mit stillem Gemüt, hat sie die Schmerzen ertragen Über des Bräutigams Tod, der, ein edler Jüngling, im ersten Feuer des hohen Gedankens, nach edler Freiheit zu streben, Selbst hinging nach Paris und bald den schrecklichen Tod fand: Denn wie zu Hause, so dort, bestritt er Willkür und Ränke. 23

Neben diesen jugendlichen Typen stellt das Stück „Die Aufgeregten" zwei voll erwachsene deutsche Revolutionsfreunde dar, die nicht allzu negativ geschildert sind. Breme ist ein begeisterter Anhänger Friedrichs II. gewesen, ganz so wie Goethe selbst: BREME: Ihr guten Leute wißt nicht, daß alles in der Welt vorwärts geht, daß heute möglich ist, was vor zehn Jahren nicht möglich war. Ihr wißt nicht, was jetzt alles unternommen, was alles ausgeführt wird. MARTIN: O ja, wir wissen, daß in Frankreich jetzt wunderliches Zeug geschieht. PETER: Wunderliches und abscheuliches! ALBERT: Wunderliches und gutes. BREME: So recht, Albert, man muß das beste wählen! Da sag ich nun: Was man in Güte nicht haben kann, soll man mit Gewalt nehmen.

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MARTIN: Sollte das gerade das beste sein? ALBERT: Ohne Zweifel. PETER: Ich dächte nicht. BREME: Ich muß euch sagen, Kinder, jetzt oder niemals!24

Charakteristisch ist hier die Erkenntnis der einmaligen Gunst einer bisher nie dagewesenen geschichtlichen Konstellation. In demselben Spiel wird ein würdiger Magister mit seiner aus Paris heimgekehrten Herrin konfrontiert: MAGISTER: Wie oftmals hab ich Sie um das Glück beneidet, gegenwärtig zu sein, als die größten Handlungen geschahen, die je die Welt gesehen hat, Zeuge zu sein des seligen Taumels, der eine große Nation in dem Augenblick ergriff, als sie sich zum erstenmal frei und von den Ketten entbunden fühlte, die sie so lange getragen hatte, daß diese schwere fremde Last gleichsam ein Glied ihres elenden, kranken Körpers geworden. GRÄFIN: Ich habe wunderbare Begebenheiten gesehen, aber wenig Erfreuliches. MAGISTER: Wenngleich nicht für die Sinne, doch für den Geist. Wer aus großen Absichten fehlgreift, handelt immer lobenswürdiger, als wer dasjenige tut, was nur kleinen Absichten gemäß ist. Man kann auf dem rechten Wege irren und auf dem falschen recht gehen ...25

Aber kehren wir zu „Hermann und Dorothea" zurück. Der Titelheld hat sich ohne Schwanken der Gegenrevolution verschrieben. Er spricht es selbst aus: der Mensch dürfe in schwankender Zeit nicht selbst schwanken. Endlich hat Goethe einen jungen Menschen gefunden, der gegen das Gift der Revolution immun ist. Aber im selben Epos wird, so ausführlich wie nie zuvor und wie niemals wieder, die begeisternde Wirkung der ersten Phase der Revolutionszeit geschildert: Denn wer leugnet es wohl, daß hoch sich das Herz ihm erhoben, Ihm die freiere Brust mit reineren Pulsen geschlagen, Als sich der erste Glanz der neuen Sonne heranhob, Als man hörte vom Rechte der Menschen, das allen gemein sei, Von der begeisternden Freiheit und von der löblichen Gleichheit! Damals hoffte jeder, sich selbst zu leben; es schien sich Aufzulösen das Band, das viele Länder umstrickte, Das der Müßiggang und der Eigennutz in der Hand hielt. Schauten nicht alle Völker in jenen drängenden Tagen Nach der Hauptstadt der Welt, die es schon so lange gewesen Und jetzt mehr als je den herrlichen Namen verdiente? Waren nicht jener Männer, der ersten Verkünder der Botschaft, Namen den höchsten gleich, die unter die Sterne gesetzt sind? Wuchs nicht jeglichem Menschen der Mut und der Geist und die Sprache? Und wir waren zuerst, als Nachbarn, lebhaft entzündet. 26

Von neuem stellt sich die Frage, ob denn Goethe diese prorevolutionäre Stimmung, wenn auch nur für einen Augenblick, teilte? Wir können nur

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wiederholen: das ist unbeweisbar, ist aber auch wenig wahrscheinlich, wenn man auf Goethes Geistesverfassung nach der Rückkehr von der ersten italienischen Reise hinsieht. Goethes Verlangen, die verabscheute Revolution doch auch aus sich selbst heraus zu erklären, dieses Streben nach äußerster Objektivierung, das wir schon in den früheren Revolutionsschöpfungen beobachten konnten, verwirklicht sich nun erstmalig in einer wirklichen Dichtung. Denn das ist „Hermann und Dorothea", so spießig einen die von Goethe gepriesene Moral des Ganzen bedünken muß. Vielleicht konnte das große Epos kein anderes Ende nehmen, als in der Verherrlichung der Spießermoral objektivere Verhältnisse darzustellen. Wirkliche Dichtung mußte auch in der Objektivierung gegnerischer Bestrebungen ein Höchstmaß von Überzeugungskraft besitzen. Goethe unternahm damit zugleich die Anstrengung, seine zahllosen, revolutionär gesinnten Zeitgenossen und Landsleute zu begreifen. Unter den wenigen positiven Stellungnahmen der Spätzeit kann man die Unterhaltung mit Eckermann am 4. 1. 1824 anführen: „Und wiederum ist für eine Nation nur das gut, was aus ihrem eigenen Kern und ihrem eigenen allgemeinen Bedürfnis hervorgegangen, ohne Nachäffung einer anderen. Denn was dem einen Volk auf einer gewissen Altersstufe eine wohltätige Nahrung sein kann, erweist sich vielleicht für ein anderes als ein Gift. Alle Versuche, irgendeine ausländische Neuerung einzuführen, wozu das Bedürfnis nicht im tiefen Kern der eigenen Nation wurzelt, sind daher töricht, und alle beabsichtigten Revolutionen solcher Art ohne Erfolg: denn sie sind ohne Gott, der sich von solchen Pfuschereien zurückhält. Ist aber ein wirkliches Bedürfnis zu einer großen Reform in einem Volke vorhanden, so ist Gott mit ihm und sie gelingt. Er war sichtbar mit Christus und seinen ersten Anhängern, denn die Erscheinung der neuen Lehre der Liebe war den Völkern ein Bedürfnis; er war ebenso sichtbar mit Luthern, denn die Reinigung jener durch Pfaffenwesen verunstalteten Lehre war es nicht weniger. Beide genannten großen Kräfte aber waren nicht Freunde des Bestehenden; vielmehr waren beide lebhaft durchdrungen, daß der alte Sauerteig ausgekehrt werden müsse, und daß es nicht ferner im Unwahren, Ungerechten und Mangelhaften so fortgehen und bleiben könne."27

Merkwürdig ist die bei Goethe sonst nirgends belegbare Anrufung Gottes zur Verhinderung einer deutschen Revolution. Die in Deutschland als gottlos verbotene Revolution wäre also in Frankreich im Recht? Gott wäre also für die Französische Revolution gewesen? Einer solchen Konsequenz entzieht sich Goethe, indem er nur die allgemein anerkannten Revolutionen anführt: die Konstituierung des Christentums und die Reformation. Freilich hatte Goethe in seinen 1799 erschienenen „Vier Jahreszeiten" das Luthertum neben der Französischen Revolution als bildungsfeindliche Macht angeprangert: Franztum drängt in diesen verworrenen Tagen, wie ehmals Luthertum es getan, ruhige Bildung zurück. 28

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Das Ergebnis dieser kurzen Untersuchung zusammenfassend, wird man feststellen, daß die Anschauungen der Französischen Revolution in Goethes verschiedenen Lebensphasen im Bösen wie im Guten geblieben sind, was sie immer waren, so daß von einer Veränderung der Qualität oder von einer graduellen Steigerung keine Rede sein kann. Um aber das Gesetz der künstlerischen Objektivierung zu begreifen und zu handhaben, war Goethe nicht erst auf die abgeklärte Weisheit des Alters angewiesen.

Anmerkungen 1 Erstdruck in: Neohelicon, T. l, Budapest 1973, Nr. 3/4, S. 77—90. — Bandnumerierung und Seitenzahl beziehen sich auf die Jubiläums-Ausgabe, Stuttgart und Berlin, 40 Bände und l Registerband. — Eckermanns Gespräche sind unter den Gesprächsdaten registriert. 2 XXXIX, S. 50. 3 Gervinus, Literaturgeschichte, Leipzig 41859, V, S. 360 f. 4 K. Rosenkranz, Goethe und seine Werke, Königsberg 21856, S. 268. 5 Albert Bielschowsky, Goethe, München 231912, S. 68. 6 Paul Reimann, Hauptströmungen der deutschen Literatur 1750—1848, Berlin 1956, S. 398. 7 „II ne lui venait pas ä l'esprit que l'humeur, la mauvaise humeur, ou disons plus noblement: l'ardeur revolutionnaire put etre un des moteurs de l'histoire et du progres." 8 Maurice Boucher, La revolution de 1789 vue par les ecrivains allemands, ses contemporains, Paris 1954, S. 169. 9 Rudolf Unger, Goethe und sein deutsches Volk. In: Zur Dichtungs- und Geistesgeschichte der Goethe-Zeit, Berlin 1944, S. 120. 10 4. 1. 1824. 11 A. a. O. 12 29. 2. 1824. 13 16. 12. 1828. 14 14. 3. 1830. 15 Zuletzt bei Boucher, a. a. O., S. 129 f. 16 XXIV, S. 42. 17 Die „Venezianischen Epigramme" in: I, S. 217 f. 18 XXVIII, S. 149 f. 19 XXVIII, S. 159. 20 XXVIII, S. 208. 21 XVI, S. 174-176. 22 XXVIII, S. 107. 23 VI, S. 204. 24 XV, S. 84. 25 XV, S. 93 f. 26 VI, S. 197 f. 27 4. 1. 1824. 28 I, S. 242.

Sobre el destino espanol de la palabra francesa „civilisation" en el siglo XVIII

Hay neologismos que no proceden de una creacion lexicologica, sino del mero cambio semantico de palabras empleadas desde una antigüedad mas o menos remota. La mayoria de los diccionarios no hacen caso de las alteraciones ulteriores del significado de una palabra ya usada y registrada con la fecha en que se supone su introduccion en el idioma. En cuanto a los complejos „ciudad", „civilidad", etc., existen neologismos tanto lexicologicos como puramente semanticos. De la misma manera la palabra francesa „citoyen" proviene de los siglos XII y XIII, pero en el siglo de la ilustracion e su significado sube de tono y se aumenta la frequencia de su empleo. „Citoyen" equivale entonces a „buen ciudadano", concepto que se confunde con las nociones de „filosofo" o de „patriota". Ahora bien: ninguno de los diccionarios corrientes menciona un cambio semantico de tanta trascendencia: Gamillscheg, Bloch-Wartburg y el mas reciente diccionario frances del 19651 se contentan con indicar la oriundez medieval de la palabra. Frente a este desarrollo el origen de la voz francesa „civilisation" se presenta como una creacion reciente: surge en el ano 1736, aunque estrictamente aplicada a la esfera juridica, donde significa el traslado de un proceso criminal a la legislacion civil.2 En 1756 el marques de Mirabeau, padre del revolucionario, emplea por primera vez la palabra en su aceptacion hasta hoy corriente.3 A los siete anos pasarä los Pirineos, pero sin obtener en Espana una recepcion amistosa. Se recibio la palabra para repudiarla. En 1763 „civilizacion" forma el titulo de un sainete de los mas chistosos de Ramon de la Cruz.4 El autor introduce al lado de „civilizacion" el neologismo „civilizante", cuya correspondencia francesa solo se registra en el ano 1842, mientras que „civilisateur", de sentido anälogo — segun el mismo diccionario — no surgiria antes del 18295. No nos parecen definitivas las fechas averiguadas por una lectura necesariamente limitada. Si se lograse

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rebasar el origen de las dos voces citadas hasta el siglo XVIII, la palabra espanola „civilizante", como en otros casos, bien podria imitar un antecedente frances. Para elucidar la opinion espanola frente al termino „civilizacion" es preciso recordar algunos rasgos del sainete de Ramon de la Cruz6. Se nos presenta cierto marques, heredero reciente de una porcion de tierras con un pueblo enclavado entre ellas. El nuevo terrateniente es un personaje imbuido en los ideales de la ilustracion y muy dispuesto a asumir la responsabilidad del bienestar y de la moralidad de sus subditos. Le da verdadera pena que toda esta tierra este sin civilizar [vgl. EA, S. 730].

La mision que se atribuye a si mismo, se hace obsesion: La civilidad me trae todas las tripas revueltas.

Anade con embelesamiento casi mistico: ... civilidad. jOh, nombre, que dulce pones la lengua!

Su generosidad no tiene limites. Renunciaria a todos los tributes de sus colonos si su sacrificio pudiese favorecer la obra civilizadora. Sin embargo si no se consigue su meta civilizadora, su venganza sera terrible: esto ha de civilizarse O mando que se demuela.

Conforme a sus ordenes llegan los „civilizantes" encargados de imponer al pueblo la civilizacion. Piden la introduccion de varias reformas, entre ellas la apertura de una „botilleria". Las labradoras tendran que acostumbrarse a cargarse de perlas y a llevar ropa de seda. Luego encuentran a una pareja amorosa deseosa de consumir las bodas antes de recibir la bendicion de la iglesia. Como los civilizantes el mismo marques no ve ningun inconveniente en complacerles: Si se han de casar manana, ique importara que hoy se vean?

Pero con esto se ha tocado la fibra mäs vulnerable de los labradores. Ahora son ellos quienes determinan el curso de la accion dramatica: ... no consentiremos que a civilizar la iglesia se atreva nadie.

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Hasta amenazan a los civilizantes: ,-No hay palos o estacas en las carreteras con que a los civilizantes civilizarles la testa?

El marques tiene que transigir con la voluntad de todo un pueblo. Confiesa su arrepentimiento: Vasallos mios, perdon; conozco mi inadvertencia y que la civilidad pretendida es la funesta causa de la ociosidad, esc ndalo y decadencia de los pueblos.

Para comprender el fondo lexicografico de la lucha entablada entre los labradores espanoles y sus „civilizantes", hay que recordar el sentido despreciativo prestado a las palabras „civil", „civilmente", „civilidad", a partir de la edad media. Segun el „Diccionario de Autoridades" este significado llegaba al siglo XVIII, siendo „civilidad" equivalente a „miseria", „mezquindad", „ruindad", „civil" a „sordido" y „civilmente" a „con miseria", „con mezquindad". El origen de tal uso es manifiesto. „Civiles" son los que no portan armas ni son caballeros. En la segunda mitad del XVIII los enciclopedistas franceses expresaban la conviccion de que fuese nula la aportacion espanola al progreso de la humanidad y a la civilizacion. En aquel periodo se repiten las pruebas de la no-aceptacion espanola del termino „civilizacion". Un tal Joaquin de Sotomayor [vgl. EA, S. 730] (Don Joachin de Amo y Otros, Diseccion anatomica de tres monstruosos fetos literarios ..., 1767) dice censurando ciertos idilios de estilo excesivamente urbano: „Pero vamos viendo, de que modo civilizo Vm. sus cultisimos pastores, a cuya vista pueden callar los de Mosco y de Βίόη; y aun los de Mr. de Urfe no se atreverian a chistar: Bien es verdad, que no viviendo aquellos muy lejos de la Corte, y habiendo ido a ella llamados de un hombre tan civilizador como Vm. habian de ser muy jumentos para que no se les pegase algo de estas ridiculeces de que bajo la voz de cultura abunda el siglo presente" (p. 33).

Es de notar la equiparacion de los terminos „civilizacion" y „cultura". En 1786, bajo el seudonimo de Manuel Gonzalez Gallardana, en el „Diario curioso, erudito y comercial, publico y economico" se inserto el pasaje siguiente:

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Sobre el destine espanol de la palabra francesa „civilisation"

„Y siendo cierto que los naturales de la espanola esten sin civilizar, como V. M. supone, ique causas pueden haber contribuido para que dejen de estarlo, habiendolo sido tanto en otro tiempo?" (p. 6)

El termino „civilizado" se emplea con sorna y con sarcasmo, segun se deduce de la pägina que viene a continuacion: „... y yo no entendere las preciosadades que comprehende ... la primera hasta la ultima palabra, por no estar civilizado" (p. 7).7

Con anterioridad de un ano el „Memorial literario, instructive y curioso de la Corte de Madrid" (V, 1785, pag. 253 — 254) publico una „tonadilla a solo" intitulada „Los civilizados". Tambien en este trozo salta a los ojos el sentido despreciativo que reviste tal palabra: Esta el mundo tan borracho, Y tan fuera de su quicio, Que con nombres de virtudes Quiere confundir los vicios. Para prueba que esto es cierto, Veran pronto comprobado, Entre las gentes del mundo Quien son los civilizados. Oiganlo, y veran, Que enganados van En dar este nombre A quien se le dan Chitito, silencio, silencio, y lo oiran. Coplas Cuando en el mundo un Usia Con su mujer solo es casto, Dicen todos, se conoce Que es hombre civilizado. Cuando cojea un Usia, Y lleva el cuello ambarado, Dicen todos, se conoce Que es hombre civilizado. Cuando observan que un Usia Jamas paga a sus criados, Dicen todos, se conoce Que es hombre civilizado. Cuando en vez de persignarse Hace algunos garabatos, Dicen todos, se conoce Que es hombre civilizado ...

Anmerkungen

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Anmerkungen 1 Datation de documents lexicographiques, vol. III, l rc serie, Annales de l'Universite de Besancon, vol. 68, 1965, p. 186. 2 P. 185. 3 Sobre la nocion francesa de civilizacion veanse J. Moras, Ursprung und Entwicklung des Begriffs der Zivilisation in Frankreich 1756—1830, 1930; L. Febvre, Civilisation, evolution d'un mot et d'un groupe d'idees, 1930; R. A. Lochore, History of the Idea of Civilization in France 1830-1870, 1935. 4 Jean Sarrailh, L'Espagne eclairee de la seconde moitie du XVIIF siecle, 1954, p. 377, ofrece una indicacion del contenido de la obra. 5 Datation, p. 186. 6 Ed. Cotarelo y Mori, I, 95 sig. 7 El desprestigio que sufria la nocion de civilizacion entre los espanoles del XVIII se repitio en forma casi analoga un siglo y medio despues en la lucha ideologica desencadenada por la primera guerra mondial. Los aliados obedecieron a la consigna de salvar la „civilizacion" amenazada por los alemanes. Estos se apoderaron de la palabra, para darla un sentido francamente despreciativo de „eclecticismo infecundo" oponiendose al principio fertil de la „cultura". El escritor Thomas Mann, muy nacionalista durante aquella guerra, creo el termino „Zivilisationsliterat" aplicado a su hermano Enrique, entonces aborrecido por su cosmopolitismo y su francofilia. Pero no fue mäs que un episodio fugaz, aunque bochornoso, en la carrera de Thomas Mann. Ya por los anos 20 se convirtio a las opiniones de su hermano y abrazo la conviccion de que salvaguardar los valores de la „civilizacion" era la tarea mäs seria y mis importante de los intelectuales.

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La nocion de decadencia aplicada a ciertas epocas de la historia espanola y a veces a la esencia historica de Espana, se impuso a la mente de Joaquin Costa y de los prohombres de la generacion del 98. Llego a su colmo en la obra orteguiana, „Espana invertebrada", y penetro tambien en ciertas obras de don Americo Castro. Pero mientras para Ortega la minoria selecta y rectora no existio nunca en Espana, Castro admite su existencia entre los intelectuales del XVI y del XVII, incapaces sin embargo de contrarrestar las fuertes concepciones populäres. No nos cumple poner en tela de juicio la veracidad o falsedad de tal actitud de los espanoles delante de su propia historia. Cabe, empero, entablar el problema del origen y de las fuentes del concepto de decadencia en Espana. No faltan criticos (entre ellos se halla el mismo Herder), que interpretan la obra magna de Cervantes como atentado dirigido contra la supervivencia de las tradiciones mäs autenticas de Espana. Lo cierto es que en el XVII comenzando por Cervantes una falange de intelectuales estuvo combatiendo el teatro de Lope y de sus secuaces. Capitaneados por los sucesores espanoles del aristotelismo italiano, El Pinciano, Cascales y Gonzalez de Salas adoptaron los principios del clasicismo opuestos al teatro de Lope de Vega y a su escuela, cuya propagacion tacharon de sumision ciega al gusto estragado de la plebe. Tanto montaba la teoria cläsica que el mismo Lope debia reconocerla en su „Arte nuevo de hacer comedias". Con la cual el teatro llamado nacional solo existia de hecho, no de derecho. En todo el siglo no aflojo la resistencia contra los dramaturges considerados como responsables de la decadencia literaria espanola. Los argumentos del siglo van a repetirse por Luzan y otros teoricos del clasicismo del XVIII.1 En la misma epoca fue inevitable que se resintiesen las anomalias de la vida social y politica. Los arbitristas del XVII buscaron remedies contra

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algunos males, cuyo conjunto irä a formar mäs adelante el concepto de „decadencia" espanola. De esta forma fueron debatidos los problemas de la despoblacion, de la incultura de muchas tierras, de la hipertrofia de clerigos y monjas, de la ociosidad de los hidalgos y de la ignorancia supina del elemento plebeyo. Lo que no se reconocio por entonces fue la interdependencia de todos aquellos fenomenos. Si el XVIII espanol es el siglo de la ilustracion, viene a ser al mismo tiempo el siglo de la autocritica nacional. Se comprende que en aquella epoca abundaran las ocasiones de oponerse a un pasado, cuya supervivencia pesaba aim en el presente: „Soprattutto da allora" — escribe Luigi Sorrento — „la Spagna comincia a considerarsi malata, parla e ha coscienza dei suoi mali, palesa uno squilibrio tra realtä e ideale ... un disaccordo e uno scontento interiore delle coscienze, una rottura fra il volere e 1'operare."2

En verdad la autocritica espanola fue precedida por la critica extranjera. En el „Esprit des lois" (1748) Montesquieu hace cargo a los espanoles de haber abandonado el comercio con sus colonias a las demas naciones. Ir en busca del oro y de la plata era confundir con la riqueza su mera apariencia. Despues del regimen de Felipe II, es decir, a partir del XVII, la decadencia era patente. A los males economicos se anade el yugo de los clerigos e inquisidores: „Une nation est bien malheureuse, qui donne l'autorite a des hommes tels." Desde luego ni en la critica ni en la autocritica de la decadencia espanola se podia pasar por alto el papel fatal de la Inquisicion. Pero habia otros factores de igual importancia. Masson de Morvilliers (1740—1789), enciclopedista y autor de una geografia de Espana y de Portugal (1776), considera como motives de la decadencia el abandono del comercio colonial, la debilidad y el orgullo de los gobernantes, la pereza de las clases trabajadoras. El articulo insertado en la „Enciclopedia metodica" de 1782 hace hincapie en la falta de matemäticos, de fisicos, de astronomos y de naturalistas espanoles. El descuido de las ciencias utiles en Espana, le indujo a preguntar: „Mais que doit-on ä l'Espagne? Et depuis deux siecles, depuis quatre, depuis dix, qu'a-telle fait pour l'Europe? Elle ressemble aujourd'hui i ces colonies faibles de malheureux, qui ont besoin sans cesse du bras protecteur de la metropole."

La critica de Masson no obedece a ningun prejuicio hispanofobo. Tan pronto entraba en el terreno de las actividades literarias, estaba muy dispuesto a reconocer la contribucion valiosa de Espana. Fue la primera nacion:

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„qui dans un siecle ou les autres nations etaient a demi barbares ait eu un roman satirique regarde encore aujourd'hui comme un chef-d'oeuvre. Dans le nombre de ses auteurs dramatiques on distingue Lope de Vega, Guillen de Castro, Cadalso, Moreto: le premier si connu par la fecondite de son genie, et qui a compose jusqu'a 1800 pieces. On trouve chez eile encore quelques poetes, quelques beaux esprits."

iComo se aviene la decadencia de la vida social con el florecimiento de la literatura y de las artes? (Masson tambien reconocio las grandes cualidades de la pintura espanola.) He aqui un problema cuya solucion no podia lograrse en el XVIII, ya que aun hoy dia carecemos de una explicacion satisfactoria de aquellos contrastes simultäneos. Pero volviendo a los conceptos de Masson haremos constar que la estimacion de la literatura espanola del siglo pasado se oponia a la actitud francamente negativa de los propulsores espanoles del clasicismo, de Luzän y de Clavijo y Fajardo. Para este ultimo la decadencia del teatro del Siglo de Oro persiste hasta su propia epoca. Pero su esperanza en una profunda reforma del arte dramatico es minima. Por lo tanto, la unica solucion seria la prohibicion de las obras mäs estramboticas del XVII, sobre todo los autos sacramentales de Calderon. En su analisis de los desafueros y profanaciones sacrilegas adopta el punto de vista de un catolicismo purificado, hipocriticamente, segun Menendez y Pelayo por proceder de un volteriano de la primera hora. En todo caso, conviene subrayar que la critica de los autos sacramentales viene a ser al mismo tiempo una critica de las opiniones religiosas del siglo pasado. Para la mente esclarecida de Clavijo y Fajardo no se podia separar la decadencia teatral de otros fenomenos que caracterizaban la vida espiritual del XVII. Sin embargo, para la mayoria de los literatos espanoles la cuestion del teatro se entablo sin conexion con otros sintomas de la vida social. Asi vemos al celebre periodista Nipho apreciar el arte genial de Lope y de Calderon, a pesar de ciertas objeciones muy comedidas, mientras el mismo es uno de los primeros espanoles que revelo la decadencia en otros aspectos de la vida nacional. Dice en el „Correo general de Espana" de 1769: „Uno de los mäs insuperables obstäculos que siempre han hecho frente a la fortuna de esta penisula ha sido el desasirse de los brazos de la preocupacion, y no dar un paso adelante en asuntos, que por nuevos, o desconocidos se han reputado, o suenos de ociosos, o exageraciones del discurso. Si esto se hubiera hecho en casi todos los reinos de la Europa, que algun tiempo fueron tributarios de la industria y politica de Espana, es sin duda que hoy, como entonces, pagarian triste feudo a la miseria; pero dando oidos a la razon de

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sus conveniencias, y poniendo las manos en obras que, aunque a primera vista dificiles, se les ofrecian como convenientes, atrajeron a sus pais, si no la abundancia, a lo menos un cierto agrado de la naturaleza, que la fue poco a poco haciendo madre, no obstante haberse manifestado hasta entonces dura madrastra."

Un ano despues, en 1770, el „Correo general de Espana" concretaba el concepto de la decadencia y fijaba los contornos historicos, dentro de los cuales el fenomeno se hacia patente. La despoblacion empezo por la expulsion de los judios (cuyo numero llegaria a unos 800000), sostenes imprescindibles del comercio espanol. Sobrevienen a partir de 1510, fecha de la predominacion de Espana en Europa, las continuas guerras que debian disminuir la poblacion. En 1610, la expulsion de 1,8 millones de moriscos fue un desastre para la agricultura, porque aquellos „indefectiblemente se empleaban en cultivar los campos". Bajo la reina Isabel habian florecido las fäbricas y las manufacturas, „medio de la subsistencia de muchos millones mas de almas que ahora". Lo que sigue vamos a citarlo al pie de la letra: „... con el ansia de los inmensos tesoros que venian de aquellas vastas regiones, se introdujeron a porfia los extranjeros, y avivados de la desidia de la nacion, y el hueco que dejaron los judios (que eran los que sostenian el comercio por la total expulsion que se habia hecho) vinieron a quedar en poco tiempo duenos absolutes de todo el comercio activo y pasivo; y no contentos con esto, desde fines del siglo decimo sexto fueron tambien extranjeros los arrendadores de las aduanas, que llaman rentas generales, de que se siguio arruinarse nuestras fäbricas introduciendo las naciones no solo todo genero de mercaderias labradas, sino tambien de quinquilleria, muelles y ajuares para las casas; a lo que contribuian los arrendadores exigiendo bajos derechos para hacer llamada y aumentar por este medio sus ganancias; lo que causo dos danos irreparables, pues veo continuan aunque no con tanto exceso: el uno que extraian el dinero de las flotas que venian de Indias; y el otro que quitaron la ocupacion a mäs de dos millones de hombres que en esto pudieran emplearse; lo que es precisamente impedimento para aumentarse la poblacion, y causa igualmente de que mucha parte de la que hay, sean vagos, y mendigos, por no tener en que emplearse ..."

Se acentuo la crisis por el egoismo de la clase feudal: „... Una de las principales causas de la ruina del Estado ha motivado las muchas vejaciones que los senores de vasallos han usado con sus pueblos, tanto por los maestrazgos, comendadores, cabildos, abadias y prioratos de las Ordenes Reguläres, como por los grandes a quienes pertenecian, con el fin de hacer termino redondo, adjudicarse las tierras concejiles y los propios lugares, que por su culpa se despoblaban: el origen de esta causa ha dimanado a mi entender, de que hasta el Senor Don Fernando el Catolico, los Senores Reyes no tuvieron ejercitos, y los senores del reino les Servian en las guerras con sus vasallos; y como la grandeza de aquellos consistia en el mayor numero de estos, ademäs del poder y autoridad que entonces les acarreaba el tener muchos vasallos, les producia tambien utili-

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dad, respecto de que en las conquistas entraban a correspondencia en los repartimientos de tierras, castillos, y despojos, extra de diferentes adquisiciones que por si hacian, ya a los enemigos, o bien a sus legitimos duenos en las continuadas disputas que unos senores tenian con otros; porque segun se reconoce por la historia, en aquellos tiempos no habia mas justicia que la fuerza, por la debilidad con que ejercia la Ordinaria; pero habiendo cesado este metodo con el orden de ejercito, o milicias que establecio el referido rey Don Fernando, obligando a los senores a la contribucion de dinero, relevändolos de ir a la guerra con sus vasallos, es constante que de esto, y haber introducido su jurisdiction aun en los lugares de senorio, y agregado a la corona los maestrazgos de las Ordenes, se siguio el decaer la autoridad de los senores, y el no series tan utiles, ni lucrosos los vasallos; y por consecuencia fue causa de que procurasen por todos los medios posibles la despoblacion, para que quedando el termino a su arbitrio, les produjese mayores rentas: para lo que los poderosos se han valido de todas las ocasiones de peste, hambre, y cualquiera otro infortunio, y se han levantado con todo, con la capa del derecho de vecindad."

Estos mismos propietarios, en lugar de dedicarse al cultivo de granos, convirtieron sus tierras en dehesas. A los labradores les faltaba la instruccion y el consejo maduro que les deberian dar los curas parrocos. Pero lo que ocurria era que los sacerdotes desconocian por completo los intereses economicos de sus feligreses. El merito de Francisco Mariano Nipho no solo se basa en la cantidad y la fuerza de los motives que alega para explicar la decadencia economica y social, sino en haber comprendido su interdependencia y ofrecido una imagen coherente de la situacion de Espana a partir de un momento historico determinado. De acuerdo con Nipho, otros contemporaneos opinan que la decadencia empezo con el advenimiento de la dinastia de Habsburgo. Es la opinion de Antonio Valladares de Sotomayor revelada en el „Semanario erudito", tomo XIV (1788), p. 232: „Yo probare por segunda vez este error con el ejemplo de estas dos mismas potencias, volviendo los ojos a los reinados de Carlos V y su hijo, en que los respetos presentes se vieron trocados. Fueron infinitos los escritores Franceses, italianos y alemanes de aquel siglo, que publicaron la politica espanola por la mäs fina y sublime de la Europa. Yo no defiendo, ni digo que aquellos monarcas no fuesen grandes politicos, es precise creerlo asi, si no se desmiente primero la fe de los que han escrito sus vidas y acciones; pero dire que pusieron en olvido los medios, y aun dieron providencias contrarias a la felicidad de la monarquia, echando las primeras disposiciones para la ruina que padecemos en el comercio, poblacion y otros perjuicios capitales. Ordenaron sabiamente lo que toca al reglamento de la justicia: pero no es esto solo en lo que consiste la verdadera politica de Estado. En fin, habiendose continuado el sistema de aquellos monarcas, ha llegado Espana al estado que vemos, y sin duda continuara su desgracia, si no se tomaren otros puntos para el gobierno. Con todo eso vemos que la politica espanola fue en aquel siglo elogiada por los extranjeros, colocändola en el grado mis sumo."

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Mientras la politica de los vecinos de Espana obedecia al interes y a la ambicion, los estadistas espanoles por su dano observaban las normas cristianas (pp. 237 y ss.). En el mismo ano, el prospecto del „Semanario" mencionado exalta la literatura y la ciencia espanola del XVI. Si Espana descendio tan rapidamente de aquella altura, fue la culpa de las encarnizadas guerras y la intromision de los clerigos y monjas en los asuntos culturales y pedagogicos: „Es verdad que en los dos siglos siguientes no correspondieron los progresos de la literatura a tan felices principles; porque oprimida la nacion de incesantes, y encarnizadas guerras, acometida ya a un mismo tiempo, ya separadamente por la Francia, la Inglaterra, la Holanda, y por varios principes de Alemania, se vio precisada a volver todas sus fuerzas a su defensa, sin que le permitiesen las circunstancias aplicar el correspondiente esmero a la proteccion y cultivo de las buenas letras y de las ciencias exactas. Ni aun se puede decir que las olvido; porque a pesar de las guerras que amenazaban a Felipe IV establecio este monarca una serie de cätedras de lenguas, letras humanas, ciencias naturales y sagradas, que seguramente fueron las que excitaron la emulacion del Cardenal de Richelieu para que estableciese y fomentase varias academias que obtuvieron suceso mäs feliz que los Estudios del Colegio, que entonces se llamaba Imperial en esta Corte. Provino sin duda esta diferencia de haber puesto Felipe IV tan grande comision en manos de reguläres, que siempre tienen dentro del Estado otro Estado aparte, gobernado por su interes particular; y haberla, por el contrario, encomendado Richelieu a diferentes sabios escogidos entre todos los que se conocian, quienes miraron siempre su interes como absolutamente inseparable del bien comun."3

Tambien Cadalso, Sempere y Guarinos, y Jovellanos veian en el XVI el siglo de apogeo de la cultura espanola, seguido por un rapido descenso. Segun Cadalso, a la muerte de Carlos II no quedaba mas de Espana que un esqueleto. Y Sempere y Guarinos afirma que a principios del XVIII en Espana apenas quedaba un confuso recuerdo de lo que fue la nacion en epocas anteriores. Jovellanos hace constar que en el XVII las ciencias no buscaban el camino de la verdad, sino se consideraban como medio de ganarse el pan. La superabundancia numerica de los estudiantes no permitia mantener el nivel cientifico anteriormente logrado. El manuscrito publicado por Valladares de Sotomayor en el tomo XXIV (1789) de su „Semanario", seria de 1768, es decir, anterior al articulo de Nipho. Pero tal fecha resulta insostenible puesto que en el mismo articulo se cita el „Discurso sobre el fomento de la industria popular", obra publicada solo en el ano 1774: „... pero sabiendo yo de mis paisanos el casi ningun amor al publico, y la poca union (que constituye la felicidad de el) tuve aquella por causa bastante para que (no obstante el ingenio, fortaleza y continua resistencia en los trabajos e injurias del tiempo, con otros mayores epitetos de que nos gloriamos por voz comun de las naciones) esten tan incultos

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los campos, los montes y fabricas tan olvidados, los reinos tan despoblados, los caminos con tantos bandidos, los confinantes reinos tan llenos de contrabandistas, el comercio en algunas partes casi ninguno, y los viveres tan universalmente costosos, que no hay sueldos que basten a superar los gastos de una familia" (p. 4).

En la pägina siguiente, el autor vuelve a achacar la decadencia no solo a la falta de industria popular, sino tambien a la poca union de los naturales. Se aducen otros motivos para explicar el retroceso del comercio y de la industria espanola. Se refiere a la „fragosidad de los caminos en algunas partes, y ningun alivio en las posadas para los viajantes (de que tratare en tiempo mäs oportuno): y el mäs principal es hallarse dilatados campos y montes incultos. La raiz de esta enfermedad nace de que los mäs son comunes de los pueblos; y como ninguno tiene en ellos particular dominio, abandonan su cuidado y cultura, sirviendose de ellos en el escaso gasto de alguna yerba, que con los beneficios de la primavera producen, quedando inutiles el resto del ano: y no cuidando algunos de su cultura y guarda, se arruinan con las corrientes en el invierno, o se deterioran con la frecuencia y multitud de ganados en la primavera; de modo, que visiblemente se inutilizan cada dia, quedando en muchas partes campo desierto e inutil para todo ..." (p. 6).

En cuanto a la despoblacion, mäs que al agotamiento de energias humanas por las colonias se debe al „mucho lujo en vestido y mesas". Este lujo — sigue explicando — fue la causa por la cual „no hay rentas que basten para superarlos, amedrenta a los mäs hacendados, y atemoriza a los mis economicos; de modo que no hay cosa hoy que mäs se recele que el matrimonio; y as! insensiblemente se minora la gente, y por consiguiente las poblaciones: pues si a Espana se le sacase la gente extranjera que en ella estä domiciliada, la que estä en comercio, en actual servicio, empleada, se conoceria un desmiembro, que haria manifiesta esta verdad" (pp. 26 y ss).

El problema del lujo intimamente enlazado con el de la decadencia espanola fue muy debatido en Francia durante todo el siglo XVIII. En los primeros decenios se atribuia al lujo un papel de estimulante en el proceso economico. En la segunda mitad del siglo prevalece la hostilidad al lujo motivada por las nuevas teorias agrarias y la valoracion exclusiva del productor agricola.4 La actitud espanola ante el lujo puede ser la repercusion del debate entablado en Francia, pero fue un problema que encajaba de una manera muy diferente en la realidad espanola desprovista, al reves que en Francia, de fabricas y manufacturas. Una apologia incondicional del lujo, como la realizo Roma y Rosell en 1768, es un fenomeno aislado dentro de la literatura espanola. El autor dice entre otras cosas:

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„En una monarquia de grandes proporciones, como Espana, es el lujo, no solo util, sino necesario. En el estado de decadencia, para restablecerla: en el de la mediocridad para conservarla y aumentarla; y en el de opulencia para preservarla de ruina." 5

Generalmente, el lujo existente en Espana se considera como una de las raices mäs profundas de la decadencia nacional y economica. En 1770, Francisco Mariano Nipho rebate los argumentos de Rosell, aunque sin citarle: „El lujo que se ha introducido en superlative grado es, sin duda, contra la agriculture y poblacion; porque sus excesos han trascendido tambien a la campana, en los gastos de boda, vestuario, comodidades y vanidad; de suerte que el mayor dispendio ... hace subir el precio de las producciones, en las que teniendo su lugar los simples que sirven para las fabricas hace que los tejidos tengan mäs valor ..."6

Contra el lujo de las modas femeninas lucha la autora de un „Discurso sobre el lujo de las senoras, y proyecto de un traje nacional" 7 , recurso absurdo, pero que por lo visto fue el objeto de un debate serio. Un tal Manuel Romero del Alamo dirigio a la revista „Memorial literario, instructive y curioso de la Corte de Madrid" unas cuantas cartas sobre las causas de la despoblacion de Espana. La primera publicada en abril de 1789, dice entre otras cosas: „... el lujo, profusion y moda, son la causa del crecido numero de celibatos, los que siempre, y por siempre destruyen la poblacion, atrasan la agricultura, suspenden las artes, impiden los matrimonios, y producen todos los males politicos de un Estado ..." (XVI, p. 624).

La segunda carta de Manuel Romero del Alamo, publicada en mayo de 1789 en la misma revista, se intitula: „Efectos perniciosos del lujo", y revela la intima conexion entre lujo y moda. En su tercera carta sobre „Efectos perniciosos del lujo", Romero del Alamo explica como la satisfaccion de las aspiraciones al lujo solo es posible a costa de la economia nacional, ya que los articulos de lujo proceden del extranjero. „Esta compra de efectos extranjeros por necesidad, ha de producir la minoracion de las artes y agricultura del reino, ha de fomentar un nocivo comercio pasivo, ha de acabar con todas las felicidades naturales, siendo este porte solo bastante a poner la monarquia mas opulenta en el estado de la mayor indigencia" (p. 174). En la cuarta carta de julio de 1789, el autor comprueba que, en contraste con Espana, las naciones extranjeras vigilaban por el equilibrio de las compras y de las ventas en el extranjero. En Espana la exportacion consiste „en materias crudas, como lana, linos, hierro", es decir, en los materiales que

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podrian elaborar las fäbricas nacionales para vender luego los articulos fabricados en Espana a precio mucho mäs elevado que las materias crudas. El objeto de la quinta carta (julio de 1789) es la demostracion de como el lujo afectaria a todas las diversas clases sociales. El fenomeno puede observarse ya en los comienzos del siglo XVIII: „... en principios de este siglo se advertia a este monstruo crecer con lentitud; mas acercandose a nuestro tiempo se ha desenfrenado de modo que raya cerca del ultimo grado de lo posible ..."

Segun esta conception, la decadencia causada por el lujo llegaria a su colmo en la epoca en que se publicaron las cartas de Romero del Alamo (p. 363). Aunque las bibliografias, entre ellas la de Palau, no indiquen ninguna obra del autor de las cartas insertadas en el „Memorial" de 1789, la fuerza de su razonamiento apoyado por muchos detalles e incluso por indicaciones estadisticas revela un personaje perito en los asuntos de la Hazienda y en las cuestiones economicas de la epoca de Carlos III. Cronologicamente, es anterior a las cartas de Romero del Alamo la postura del periodico „El censor" (1781 — 1787, en 167 discursos) adoptada frente al problema del lujo; la opinion del „Censor", en este respecto como en otros tantos, parece la mäs equilibrada. El „Censor" no se contenta con citar a los autores franceses como Cantillon, Mably y Pluquet, sino que los somete a un analisis sistematico y muy severe. En el discurso 125 se resumen las convicciones del periodista publicadas ya anteriormente. El lujo fundado „esencial y necesariamente en el trabajo" se considera como „absolutamente necesario a la prosperidad". Sin embargo, resulta pernicioso el lujo que induce a los ciudadanos a llevar una vida de inaccion. El paso de la primera a la segunda forma del lujo ,-es imprescindible? El „Censor" dice que no lo es en un principio, aunque en Espana la creciente desigualdad de fortunas acarrease el aspecto fatal del lujo. Los discursos 132 y siguientes se dedican al anälisis y a la refutacion de las teorias de Cantillon. En el discurso 132 se procura demostrar que „no es el lujo la causa de nuestros males, sino la ociosidad que le acompana". En los dos numeros siguientes se insertan las cartas de dos adversaries del lujo incondicionados. En el discurso 159 el „Censor" admite que „siendo la desigualdad de los ciudadanos pequenisima ... nada habria que temer de parte del lujo". El discurso 166 vuelve a afirmar: „... que la riqueza de un Estado no puede serle perniciosa, y es antes bien absolutamente necesaria a su prosperidad, cuando es fruto precisamente del trabajo, y se reparte entre todos los ciudadanos en una exacta proporcion a los talentos de cada uno, y a la aplicacion

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que de ellos hace en beneficio de los demäs; pero que al contrario, no es posible que deje de serle funesta siempre que falte esta proporcion, y haya una clase de ciudadanos en la cual pueda asociarse con la ociosidad."

En el mismo discurso, dirigido contra el primitivismo y el igualitarismo de Mably, se defiende la necesidad de la propiedad y del progreso de las artes: que sino clamar con tanta energia contra todas las artes que no son de primera necesidad? jPor que quererlas proscribir como las mas crueles enemigas del genero humano?