Das verbrecherische Weib

Autorisierte Übersetzung von Otto von Boltenstern. Originaltitel: La Femme criminelle.

291 81 14MB

German Pages [457] Year 1910

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Das verbrecherische Weib

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

SEXUALPSYCHOLOGISCHE BIBLIOTHEK

ERSTE SERIE i Die Memoiren des Grafen von Tilly I II Die Memoiren des Grafen von Tilly II Bd. in Prostitution und Verbrechertum in Madrid (Quiros-Aguilaniedo)

Bd.

Bd.

IV Yoshiwara. Die Liebesstadt der Japaner (Dr.Tresmin-Tränoliires) Bd. v Das verbrecherische Weib (Granier) Bd. vi Das Ende einer Gesellschaft Bd.

Neue Formen der Korruption in Paris (Talmeyr)

HERAUSGEBER

DR. MED. IWAN BLOCH

CAMILLE GRANIER GENERALINSPEKTOR DER VERWALTUNGSABTEILUNG IM MINISTERIUM DES INNERN

DAS

VERBRECHERISCHE WEIB

A U T O R IS IE R T E U E B E R S E T Z U N G V O N DR. MED. OTTO VON BOLTENSTERN ERSTE BIS FÜNFTE AUFLAGE

LOUIS MARCUS VERLAGSBUCHHANDLUNG BERLIN

Alle Rechte Vorbehalten

Vorbemerkung des Herausgebers. D a s französische Original des Werkes des Herrn C a m i l l e G r a n i e r ist in einem äußerst schwierigen, konzisen Stile geschrieben, der im Gegensätze zu der sonst bei Franzosen üblichen Klarheit und Durchsichtig­ keit der Darstellung durch die Häufung zahlreicher Ge­ danken in einem Satze, die Vorliebe für seltsame Ver­ gleiche, den Gebrauch altertümlicher Redewendungen vielfach selbst französischen Lesern dunkel und unver­ ständlich ist. Deshalb dürfte eine deutsche Uebersetzung, die natürlich möglichst wortgetreu ist und den merk­ würdigen Stil des Originals nicht ganz verleugnen kann, um so willkommener sein, als der I n h a l t des Buches für den Kriminal- und Sexualpsychologen von größtem Interesse ist, nicht bloß durch die reiche Kasuistik, sondern vor allem durch die scharfsinnigen psychologischen De­ duktionen des Verfassers über die Rolle der Frauen in der Kriminologie und ihre Behandlung von seiten der Strafrechtswissenschaft. Die eingehende Lektüre und Ver­ tiefung in das bedeutsame Werk läßt bald die ungelenke äußere Form über dem gediegenen und stets anregenden Inhalt vergessen.

Vorwort des Verfassers. In vielen graphischen Künsten gewinnt man die Ge­ staltung mittels Schatten. Die Zeichnung, die gebräuch­ lichste unter ihnen, stellt die Gegenstände mit Hilfe einer konventionellen schwarzen Linie dar. Um die weibliche Einheit herauszuheben, ist dem Soziologen das Studium ihres düsteren Schattens, der Kriminalität, ebenso von Nutzen wie dem Zeichner das Dunkle. Nach Dr. Toulouse1) gestattet auch die vertiefte Kenntnis der Geisteskranken den Charakter der Frau zu beschreiben. Doch darf man nicht die Irrwege dieses Gesichtspunktes außer acht lassen, die das wahre Bild trüben können. Der Nachteil der pathologischen Studien beruht auf der Wahl der Beobachtungen. Die schwersten Fälle, so interessant sie sein mögen, geben nicht immer einen genauen Einblick in die Krankheit, oder entsprechen nicht ihren häufigsten Aeußerungen. In der Kriminologie muß die romantische Seite der Sensationsprozesse geopfert werden. Die gewöhnlichsten Fälle verdienen den Vorzug vor den außergewöhn­ lichen Affären, welche die Sammlungen mit Vorliebei) i) Toulouse, Etudes sociales, Paris, Fasquelle, I. pag. 1,

registrieren. Den genauen Begriff eines Verbrechertums erhält man, wenn man eine sehr große Zahl den kriminellen Akten entnimmt. Ihre Interpretation erfordert für die­ jenigen, welche sich für diese Fragen interessieren, Bei­ spiele, welche den bekanntesten Affären entlehnt sind, unter der Bedingung, daß sie aller origineller Einzelheiten entkleidet werden, welche gerade die öffentliche Aufmerk­ samkeit auf sich gelenkt haben. Das Charakteristische des weiblichen Verbrechertums findet man nur um den Preis des Opfers der oft übertriebenen und von den Oerichtschronisten hinzugefügten dramatischen Seite. Wodurch unterscheidet sich die Frau vom Manne im Verbrechen? Findet sich in den antisozialen Aeußerungen ihre Eigennatur wieder? Dies Problem ist in allgemeinen Ausdrücken schon von Dr. Toulouse gelegent­ lich des Einflusses der sozialen Bedingungen auf die Bildung des verbrecherischen Typus des Weibes aufgestellt worden. Die kriminelle Auffassung ist einseitig. Ihre Origi­ nalität entspringt, wenn nicht der Hinzufügung von Ab­ sichten, welche während der Vernehmung suggeriert sind, zum wenigsten dem Relief, welches in der Anklage den zu­ fälligen Einzelheiten gegeben wird, obwohl sie zumeist vom Willen der Angeschuldigten unabhängig sind. Eine dem Gerichtssaal eigene Rhetorik, welche der Uebertreibung der Immoralität gewidmet ist, ist ebenso überflüssig wie die Literatur, welche sich das Lob und die Empfehlung der Tugend auf der Kanzel oder in den Akademien zum Ziele w ählt Es ist nicht überraschend, daß es ihr ge­ lungen ist, die Besonderheit jeden Verbrechens an­ zunehmen. Ohne Zweifel überlegt die Verbrecherin ihr Attentat und kompliziert es viel lieber als der Mann. Sie bringt es nicht dahin, die Wiederholungen zu vermeiden oder die Armut ihrer Erfindungsgabe zu verheimlichen.

Bei dem Vergleich mit dem männlichen Verbrecher­ tum stellt die Statistik zunächst einen quantitativen Unter­ schied fest. Die verschiedenen Erklärungen dieser wohlbekannten Tatsache werden auf den ersten Seiten dieses Buches erörtert werden. Die anthropologischen Daten, welche im Gegenteil zu einer Vermischung beider Ge­ schlechter im verbrecherischen Typus neigen, werden dann als Gegenstück zur ersten Auffassung zur Darstellung gelangen. Die Soziologie berücksichtigt mehr den qualitativen Unterschied beider Kriminalitäten. Indes geben die natürlichen Funktionen der Frau eine Gruppierung der Delikte, welche sich zu leicht dem Geiste aufdrängt, um ihr nicht einigen logischen Wert zuzuerkennen. Die numerische Bedeutung der Missetaten dürfte hinreichen, die folgende Einteilung zu rechtfertigen. Das Studium der m ü t t e r l i c h e n K r i m i n a l i t ä t umfaßt nach natürlichstem Schema die Fruchtabtreibung, den Kindesmord, die schlechte Behandlung von Kindern. Die Entführung von Minderjährigen, die Kindesunter­ schiebung und die Verheimlichung eines Neugeborenen reihen sich dieser Gruppe von Delikten an und bilden gewissermaßen einen Uebergang zur zweiten, welche man mit einem allzu verständlichen Sprung, als daß er ent­ schuldigt zu werden brauchte, die s e x u e l l e K r i m i ­ n a l i t ä t nennen kann. Hier wird die Mutterschaft simuliert, um einem Meineid vorzubeugen. Schwefelsäure und Revolver be­ strafen ihn. Arsenik dagegen erleichtert eine andere Verräterei. Die in Mitschuld verwandelte gesetzliche oder ungesetzliche Ehe, und allgemeiner die Rolle der Frau in der großen Kriminalität, können in diesem Teile auch geprüft werden oder für die letzte Gruppe der weiblichen Delikte reserviert werden, die Akte der Begehrlichkeit.

Ihre Ausführung ist ebenso charakteristisch. Das ge­ wöhnlichste Delikt, der Diebstahl, teilt sich in zwei spezielle Delikte ein, die Entwendung in großen Waren­ häusern und die Entölage. Der Betrug mit besonderen Mitteln nimmt riesen­ hafte Verhältnisse an, ohne daß finanzielle Prozeduren dabei in Betracht kommen, welche den Männern gestatten, diese Höhen allgemeiner Ausbeutung zu erreichen. Wegen ihrer Unbedeutenheit könnte die p o I i t i s c h e K r i m i n a l i t ä t der Frau außer acht gelassen werden. Ihr Studium hat nur historischen W ert Man kann dabei an das Wort von Frau de Condorcet erinnern: „Da die Frauen wie die Männer das Schaffot besteigen, haben sie wie sie das Recht, auf die Tribüne hinaufzusteigen.“ Die Prämissen dieses Beweises sind glücklicherweise nicht exakt, ihr Schluß ist immer falsch. Die Gleichheit vor dem Strafgesetz zu verlangen oder zu betonen, um in der Verfassung oder dem Zivilgesetz sie zu erreichen, ist vom juristischen Standpunkt ganz unannehmbar. Das öffent­ liche Recht liefert einen Präzedenzfall, welcher die Ver­ mischung der beiden anderen Teile zurückweist Die Aus­ länder sind in der Tat den Polizeigesetzen des Staates unterworfen, in welchem sie wohnen, und ihre diplo­ matischen Vertreter haben niemals daran gedacht, für sie die verfassungsmäßigen Vorteile zu fordern, welche die Inländer genießen. Die Notwendigkeit des Unterschiedes im Strafvollzug ist in einer Art Anhang auseinandergesetzt, welcher die einzige Schlußfolgerung der Studie darstellt. Die un­ widerleglichen sexuellen Merkmale zeigen einen hinreichend bedeutenden Unterschied, um, abgesehen von jedem anderen Beweise, die Ungleichheit der Behandlung vor dem Strafgericht zu rechtfertigen. Um bei der Krimi­ nologie zu bleiben, würde jeder andere Schluß verfrüht

¡-ts-is-As-

Xi

sein und uns als ein Paradoxon, anderen als eine voreinge­ nommene Idee erscheinen. Die französische Wissenschaft hat als Ueberlieferung und glänzende Erbschaft die Methode überkommen. Sie scheut vor Uebereilung zurück und wird noch lange Zeit der Forschung und der Sammlung von Beobachtungen und Beweisen widmen. Ihre systematische Einteilung ist das einzige Ziel, welches in diesem Werke vorgeschlagen werden kann. Ohne das Verdienst zu haben, eine schon skizzierte wissenschaftliche Bewegung zu schaffen, indem es die Produktion neuer Studien über denselben Gegenstand anregt, strebt es nach der Ehre der Kritik seitens der Rechtsgelehrten, der Philo­ sophen und auch der Feministen.

/

In h a lt. V o rb e m erk u n g des H e ra u s g e b e rs V o rw o rt des

. . . .

V

V e r f a s s e r s ........................................... VII

E rs te r T eil.

Allgemeine Kriminologie. S t a t i s t i k . — Quantitativer Unterschied. — Beobachtungs­ mittel: die Bestrafung. — Gefangnisstatistik: ihr Wert. — Geographische Verteilung. — Zeitliche Schwankungen. — Die wirtschaftlichen Krisen. — Numerischer Ausdruck des Unterschiedes zwischen beiden Kriminalitäten. — Be­ ziehungen zwischen ihnen und der nach dem Geschlecht berechneten Bevölkerung. — Verschiedenheit der krimi­ nellen Qualitäten. — Graphische Darstellung. M e s o l o g i s c h e E i n f l ü s s e . — Erklärungen der geringeren weiblichen Kriminalität. — Die Mitschuld. — Einfluß der angehäuften Bevölkerung. C h a r a k t e r i s t i s c h e Z e i c h e n . — Frömmigkeit der welt­ lichen Gefangenen. — Ihre Schamhaftigkeit — Frühzeitigkeit der Kriminalität. — Wahl der Opfer im anderen Ge­ schlecht. — Physiologische Krisen. W e i b l i c h e r V e r b r e c h e r t y p u s . — Geistesverwirrung, Neurosen, Entartungserscheinungen. — D er Rückfall. — Charakteristik der verbrecherischen Handlungen . . 3

Zweiter Teil.

Besondere Formen der Kriminalität. Kapitel I. — M ü tterlich e K rim in a litä t K i n d e s m o r d u n d F r u c h t a b t r e i b u n j r ehemals un­ bestraft. — Unterschied zwischen beiden. — Schwierigkeit der Unterdrückung. — Verschiedene Beweggründe des Vorgehens der Gesetzgeber. — Die heimliche Schwanger­ schaft — Der Mord aus Unvorsichtigkeit. — Andere Lösungen im sozialen Interesse. — Die Fruchtabtreiberinnen. K i n d e s d i e b s t a h L — Zivilstandsregister. — Plagiat. — Mädchenhandel. — Unterschlagungen. — Kindesunter­ schiebung. — Verhütungsmaßregeln. M i ß h a n d l u n g e n g e g e n d ie K in d e r . — Unbestraft. Unterscheidung nach dem Geschlecht, dem Alter, der Ge­ sundheit und der Herkunft. — Hilfe der öffentlichen Für­ sorge. Die Erzieherinnen. — Zwangserziehung. — Die widerrechtliche gewaltsame Zurückhaltung . . . 83

Kapitel II. — Sexuelle K rim in a litä t D r e i t e i l u n g . — Geliebte, Mätresse, Gattin. — Unterschied in den häufigsten Vergehen: Kohlendunst, Schwefelsäure, Arsenik. S e l b s t m o r d ä d e u x . — Sein kriminologisches Interesse. Mittel der Rache. — Vergleichende Gesetzgebung. — Rechtsprechung. — Einzelheiten, welche ihr Zaudern er­ klären. — Der Roman von Ferrand und Mariette. — Neuere Affären. — Allgemeine Feststellung. — Rolle der Frau. — Andere gleichzeitige Selbstmorde. — Neurasthenie. — Geisteskran kheit. V e r g i f t u n g . — Aus Leidenschaft oder Habgier. — In­ szenierung des Ehebruches. — Die Persönlichkeiten. — Wahl des Mittels. — Habgier. — Lebensversicherung. — Die Giftmischerinnen. — Andere Mittel zur Ausführung des Verbrechens aus Vorteil. — Zerstückelung. — Zu­ rechnungsfähigkeit der Frau. — Vatermord,

E n t s t e l l u n g . —• Beiden Geschlechtern gemeinsame Wirkungen der Eifersucht. — Wahl des Opfers. — Der Untreue. — Sein Mitschuldiger. — U rsprung der Schwefel­ säureanwendung (Vitriolage). — Statistik. — Der Revolver. — Die Erpressung. — Attentate auf Geistliche . . 156

Kapitel III. — Die Erwerbskriminalität. V e rs c h ie d e n e d e n F ra u e n v o rg e w o rfe n e D ie b ­ s t ä h l e . — Ausschluß von Gewalttätigkeit. — Ent­ führung von Kindern. — Taschendiebstahl. — Gelegen­ heitsdiebstahl und Falschmünzerei. — Notwendigkeit der Mitschuld. — Ladendiebstahl und besonders Diebstahl in den großen W arenhäusern. — W ert der Bezeichnung Klepto­ manie. — Statistik. — Pathologischer Diebstahl. — Be­ rufsmäßiger Diebstahl. — Triebartiges Handeln. — Aetiologie. H a u s d i e b s t a h l . — Schwanken in der Bestrafung. - Seine Bezeichnung. — Alter des Deliktes. — Abneigung der Gerichte, ihn zu bestrafen. E r p r e s s u n g . — Unterscheidung vom Taschendiebstahl. — Männliche Mitschuld. B e t r u g . — Charakteristische Doppelzüngigkeit — Ihre U r­ sachen. — Ehebruch. — Prostitution. —• Meineid. — W ahr­ sagerei. — Kasuistik. — Geistiger Zustand des Opfers. — Medizinische Theorien. — Angenommene Vererbung. — Erfundene Kundschaft. — Betrug bei Kunstgegenständen. — Aeußerung der Hysterie. — Fürsprache. — Frau Campestre. — Die Halsbandaffäre. — Die Ehrenlegion . . 240

Kapitel IV. — Massenverbrechen und politische Beschuldigungen. Verschiedene Benennung. — Doppelte Bedeutung. — Ver­ brechen der Menge. — Massenvergehen. — Die Revolution. — Die Trikoteusen. — Die Zauberei. — Fromme Leiden­ schaft. — Die Chouans. — Kommune von Paris. — Weibliche P o l i t i k ............................................................... 315

D ritte r Teil.

Die Bestrafung. Ih re

G e s c h i c h t e . — Die vom primitiven Recht aus­ geschlossene Frau. — Ihre Aufnahme in die Strafgesetz­ gebung. — Vermutung ihrer Schuld nach ihrem Ge­ schlecht. — Ihre Haltung bei der Todesstrafe. — Die Tortur; Milderung für Frauen. — Nach dem römischen Recht gesetzliche Entschuldigung. — Gewohnheitsrecht. — Theorie der Rechtsgelehrten. — Milderungsgründe. — Schwierigkeit, sie in der Gesetzgebung auszudrücken. — Die Rechtswissenschaft ergänzt sie. — Ihre Extreme ver­ raten den Mangel des Kriminalgesetzes. — Ihr A lter.

E n t s c h u l d i g u n g m i t S c h w a n g e r s c h a f t . — Ihr wahrer Beweggrund. — Schwanken im Verfahren. — Der­ zeitiger Stand der Strafrechtswissenschaft. — Die Reglemen­ tierung. V e r g l e i c h e n d e S t r a f b a r k e i t . — Tod. — Deportation. — Vollstreckungsgerät. — Nebensächliche Strafen. G e f ä n g n i s o r d n u n g . — Ernährung. — Arbeit. — Krank_ heiten. — Zellensystem. — Schutz. S c h l u ß . — Die drei Mittel der strafrechtlichen Differenzierung nach dem Geschlecht. — Unterbrechung in dieser Orien­ tierung. — Grund für das Ausharren auf diesem Wege. — Prüfung der Theorien über das Recht zu strafen und ihre Anwendung auf die Bestrafung. — Diskussion des Problems der Sexualität. — Bedeutung seiner Lösung für die Kriminalität im a llg e m e in e n ..........................................357

Erster Teil.

G r a n ie r , Das verbrecherische Weib.

1

Allgemeine K rim inologie. S t a t i s t i k . — Quantitativer Unterschied. — Beobachtungs­ mittel: die Bestrafung. — Gefängnisstatistik: ihr Wert. — Geographische Verteilung. — Zeitliche Schwankungen. — Die wirtschaftlichen Krisen. — Numerischer Ausdruck des Unter­ schiedes zwischen beiden Kriminalitäten. — Beziehungen zwischen ihnen und der nach dem Geschlecht berechneten Bevölkerung. — Verschiedenheit der kriminellen Qualitäten. — Graphische Darstellung. M e s o l o g i s c h e E i n f l ü s s e . — Erklärungen der ge­ ringeren weiblichen Kriminalität, — Die Mitschuld. — Ein­ fluß der angehäuften Bevölkerung. C h a r a k t e r i s t i s c h e Z e i c h e n . — Frömmigkeit der weiblichen Gefangenen. — Ihre Schamhaftigkeit — Früh­ zeitigkeit der Kriminalität. — Wahl der O pfer im anderen Geschlecht. — Physiologische Krisen. W e i b l i c h e r V e r b r e c h e r t y p u s . — Geistesver­ wirrung, Neurosen, Entartungserscheinungen. — Der Rückfall, — Charakteristik der verbrecherischen Handlungen.

Wenn man keine Gefängnisse besucht und den Sitzungen von Strafkammern nicht beigewohnt hat, glaubt man, daß es mehr Männer als Frauen unter den Ver­ brechern gibt. Diese Ansicht wird auch durch die Statistiken aller Länder und aller Zeiten bestätigt.1) Seit *) Siehe die von Lombroso in „L'uomo delinquente" (cause e remedi), Cap. XIV angeführten - Beweise. 1* ’

4 Hie Frauen der Familienobrigkeit entzogen sind, um gewisse Verfehlungen vor Gericht zu verantworten, sind sie weniger Gegenstand der Anklage gewesen als die Männer. Bevor man die seltenen lokalen Ausnahmen, welche diese Beobachtung betrifft, darlegt, und damit die Ursache dieses Unterschiedes in der Kriminalität beider Geschlechter findet, muß ihre zahlenmäßige Bedeutung nach ver­ schiedenen Richtungen hin studiert werden, um daraus die Wahrheit festzustellen. Gewöhnlich genügt die Vergleichung der Prozesse oder der Verurteilungen, welche Männer betreffen, mit der Zahl der Verurteilungen oder Anklagen gegen Frauen, um die zu Beginn ausgesprochene allgemeine Annahme zu rechtfertigen. Sie wird bestätigt durch den Vergleich der Beziehung zwischen der weiblichen Bevölkerung und der Verbrecherschaft mit dem gleichen vom männlichen Element eines Landes gelieferten Quotienten. Diese Be­ rechnung zeigt nicht nur die Genauigkeit der Vermutung, sie gestattet auch, die lokalen Einflüsse hinsichtlich des Uebergewichtes der männlichen Kriminalität zu er­ forschen. Das wird die zweite Feststellung sein. Endlich gestattet die Aufzählung der am häufigsten von dem einen und dem anderen Geschlecht begangenen verbrecherischen Taten, auf die Prädispositionen, auf das bei jedem von ihnen verschiedene natürliche Geschick einen Schluß zu machen. Dafür den Ursprung zu suchen, würde die dunkle Aetiologie bei einem Problem nur er­ höhen, welches schon an sich hinreichende Kompliziert­ heit bietet, so viel man sich auch bemüht, die für seine Lösung gleichgültigen Annahmen auszuschalten. Jedem steht es frei, einen mehr oder weniger großen Anteil der Erblichkeit, der Erziehung, den Sitten und Gebräuchen

zuzuweisen. Ohne über den verhältnismäßigen Wert dieser Einflüsse eine Entscheidung zu treffen, genügt es, zu beweisen, daß die Kriminalität die soziale Lage wider­ spiegelt. Die Untersuchung der der Frau eigenen verbreche­ rischen Neigungen und der Gelegenheiten für ihre Aeußerung wird den letzten Teil des zahlenmäßigen Ver­ gleiches zwischen den beiden Kriminalitäten bilden. Außer daß sie noch stärker die Abweichung ins Licht setzt und so die weibliche Spezialität dartut, ist sie allein imstande, Gründe für einen Unterschied zu geben, welchen jeder­ mann von vornherein behauptet, ohne die Ursache da­ für erfaßt zu haben. • • * Der letzte Bericht der Kriminaljustiz (1902) trifft unter einer Gesamtsumme von 209 075 angeklagten Individuen, sei es vor dem Schwurgericht, sei es vor den Zuchtpolizei­ gerichten, 27305 Frauen. Sie lieferten also 13 auf 100 der gesamten Verbrecherwelt. Dies Verhältnis schwankt wenig und hat sich seit einigen Jahren nicht geändert. Unter 100 Verurteilten rechnet man 86 Männer und 14 Frauen im Maximum. Im Jahre 1901 war die genaue Zahl 13,26. Die Jahreszeit unterscheidet die beiden Kriminalitäten nicht. Ihr Einfluß ist nur von denjenigen betont worden, welche die zuchtpolizeilichen Verurteilungen außer acht gelassen und ihre Studien auf kriminelle Angelegenheiten beschränkt haben. Die Veränderungen in den Gesetzen, die Schwankungen in der Rechtsprechung und die Aus­ dehnung der Verweisungen vor das Zuchtpolizeigericht

6 haben an eine Verminderung der weiblichen Kriminalität glauben lassen, welche in Wirklichkeit indes nicht existiert. Bei den statistischen Studien haben große Zahlen allein beweisenden Wert, und es heißt die Regeln der Wissenschaft mißachten, wenn man sich darauf be­ schränkt, nur die schwersten und am wenigsten zahl­ reichen Verfahren in Rechnung zu ziehen, um sie zum Aus­ gangspunkt des Verbrechertums bei beiden Geschlechtern zu machen. In der Kriminologie darf man die gesetz­ lichen Unterschiede zwischen Verbrechen und Vergehen nicht vergessen. Kriminalität und Verbrechertum müssen als gleichbedeutende Ausdrücke angesehen werden. Die Behauptung, der Staatsanwaltschaft der Restauration habe es gefallen, 19 Frauen auf 100 Angeklagte zu haben, während unsere Staatsanwälte der Republik sich damit begnügen, auf dieselbe Gesamtsumme 13 oder 14 nur vor Gericht zu ziehen, beweist nur eine Aenderung in der Handhabung der Rechtspflege. Die Kriminalität freilich kann nur durch die straf­ gesetzliche Tätigkeit verstanden werden. Die Mängel dieses Beobachtungsmittels müssen ausgeglichen werden, und es heißt sich diesem Ziel widersetzen, wenn man es als ein feines Untersuchungsmittel ansieht. Der ge­ schädigte Teil würde nützlichere Merkmale hinsichtlich des durch die Verbrechen verursachten sozialen Nach­ teiles und infolgedessen hinsichtlich ihres Ernstes liefern. Seine Klagen werden aber von der Polizei angenommen, welche sie geheim hält. Diese Beobachtung gestattet also nicht, auf die Anwendung der strafgerichtlichen Statistik zu verzichten. Ohne die Rechtspflege der launenhaften Willkür zu zeihen, muß die Zahl der festgenommenen Individuen

trotz einer leichten Zunahme ein ebenso beweisendes Dokument sein wie die Zahl der verurteilten Individuen. Vermittels der Jahresanschläge der Oefängnisverwaltung ist es leicht gewesen, die Beziehung zwischen den Frauen und den Männern festzustellen, welche aus allerlei Gründen während eines bestimmten Jahres, zum Beispiel des ersten des Jahrhunderts1), gefangen gehalten wurden. Sie ist der des gerichtlichen Berichts über die Verurteilungen sehr überlegen und nähert sich mehr der Gleichheit zwischen beiden Geschlechtern, 37 auf 100, zwei Frauen auf drei Männer, fast drei Zehntel. Die Verwaltungsgefängnisse der Prostituierten, wie sie in einigen großen Zentren benutzt werden, erklären diesen Mißklang mit dem Optimismus der Staatsanwälte nicht. Wenn auch die Genauigkeit dieser Daten unwider­ legbar ist, bleibt ihre Erklärung doch der Kontroverse unterworfen, weil entgegengesetzt der Annahme der kon­ stanten Beziehung zwischen Anklage und Verurteilung, wie oben angegeben, die Freisprechungen bei den Frauen viel häufiger sind als bei den Männern (93 auf 1000 Frauen und 67 auf 1000 Männer). Der Unterschied von 26 kann durch eine verschiedene Würdigung der weiblichen Moral von seiten der Polizei und der Justiz erklärt werden. Die erste verdächtigt allzu leicht das schwache Geschlecht, die zweite erweist sich zu strenge hinsichtlich der Beweise *) Der Generalbericht der Kriminaljustizverwaltung während des Jahres 1902 ist zu Beginn des Jahres 1905 (Paris, im­ primerie nationale) erschienen, als diese Studie schon in Druck gegeben war. Er bietet bei genauerer Durchsicht, wie die zu Beginn gegebene Gesamtsumme ergibt, keine nennenswerte Ver­ änderung in den für 1901 festgestellten Verhältnissen.

8 ihrer Verbrechen. Man braucht nicht danach zu forschen, auf welcher Seite sich die Uebertreibung findet, weil die Verdachtsmomente wohlbegründet sein können, und trotzdem ihr Beweis durch Zeugenaussagen nicht weniger schwierig bleibt Die Frauen zögern aus Sym­ pathie, die Männer aus Edelmut, eine Angeklagte zu be­ lasten, welche der Gerichtshof immer freizusprechen wünscht Diese Gebräuche sind nicht ohne einen Einfluß auf die Verteilung der Kriminalität unter beiden Ge­ schlechtern. Vom Standpunkte des Schuldvergleiches hat man also auch die Verschiedenheit in der Häufigkeit der Freisprechungen in Rechnung zu ziehen. Die Zahl der Verhaftungen bleibt nur ein relativ genauer Ausdruck. Die Benutzung der Gefängnisstatistik ist auch noch für die Topographie des weiblichen Verbrechertums be­ rechtigt, weil der Jahresbericht der Kriminaljustiz hierfür keine Grundlagen liefert. Endlich sind die von der Ge­ fängnisverwaltung gelieferten Zahlen bereits etwas verjährt, da der Bericht vor fünfzig Jahren vom Generalinspekteur Perrot erstattet und nicht nur für die Statistik aus dem Ge­ sichtspunkte gegeben wurde, um eine bisweilen für un­ nütz und indiskret gehaltene Neugier zu befriedigen. Sie bilden vielmehr die Grundlagen der Berechnung. Wenn sie ungenau wären, würden ihre Verfasser der Untreue schuldig sein. Die Billigung, welche sich an sie knüpft, drückt das Vertrauen aus, welches sie verdienen. Zur Ermittelung genauerer Verhältniszahlen sind die beiden Verbrecherkategorien bezirksweise nach der Zahl der von jedem Geschlecht verhafteten oder gefangen ge­ haltenen Individuen während des Jahres 1901 verglichen. Der Quotient schwankt zwischen der Zahl 2 und mangels des Zählers unannehmbaren Zahlen. Gewisse Gefäng-

nisse haben während eines Jahres keine Frauen auf­ genommen. Andere haben nur eine einzige eingesperrt. Diese Ergebnisse können also vernachlässigt werden. Ohne den empirischen Charakter dieser Berechnungsart zu bestreiten, läßt sie die Schnelligkeit ihrer Ausführung als ziemlich richtig annehmen für eine Geographie der weiblichen Kriminalität, deren Folgen später geprüft werden sollen. Der Einfluß wirtschaftlicher Krisen und besonders von Teuerungsjahren auf die weibliche Kriminalität ist von Dupuy1) flüchtig untersucht worden, als er General­ inspektor der Gefängnisse war. Die, welche diese Beob­ achtung von ihm entlehnt haben, haben zu Unrecht die Wirkung der Erhöhung der Getreidepreise auf die gesamte Kriminalität ausgedehnt Legoyt2) hatte erkannt, daß bei diesem Zusammentreffen die Vergehen gegen das Eigentum merklicher vermehrt wurden als die Vergehen gegen die Person. Berg3) hat diese Studien für Deutschland seit 1882 aufgenommen; er bestätigt die Schlüsse Legoyts. Ueberdies ist der Kindesmord jenen Vergehen in der weib­ lichen Kriminalität numerisch überlegen. Die Beziehung zwischen der Schwere ihrer Verbrechen und der Not der in Frage kommenden Persönlichkeiten müßte also durch eine Umkehrung sich kennzeichnen, welche die Feststellung noch bedeutsamer machen würde. Doch die Verbrechen gegen das Kind werden auch dem bittersten Elend zugeschrieben, so daß die Auslegung des Dupuyschen Gesetzes noch zu erweisen bleibt.*8 *) an das *) 8)

Statistique pénitentiaire, 1863, Seite CLIX des Berichts Ministerium des Innern. La France et l'étranger, XX. Studie, p. 389. Getreidepreise und Kriminalität in Deutschland seit 1882.

10 Es scheint ziemlich konstant zu sein. Die Erhöhung des Brotpreises im Jahre 1854 entsprach einem stärkeren Verhältnis der weiblichen Kriminalität: 185 auf 1000. Doch muß man bemerken, daß der Uebergang von 170 auf 180 im Jahre 1853 stattfand, ohne daß eine Teuerung bestand. Die Erniedrigung des Preises für dasselbe Nahrungsmittel im Jahre 1858 hatte die Verringerung des Anteiles der Frauen am Verbrechertum um ein Prozent zur Folge. Die wirtschaftlichen Voraussagungen, welche heute im internationalen Handel üblich sind, verhindern die Wiederkehr von Krisen und gestatten, den Agrariern ein Argument zu überlassen, welches niemals sehr überzeugend war. Die Beziehung zwischen beiden Kriminalitäten bleibt unbestreitbar. Das gegenüberstehende Diagramm zeigt einen parallelen Verlauf, wie man ihn nicht genauer finden könnte (Fig. 1). Das außerordentliche Sinken der männ­ lichen Kriminalität im Jahre 1870 erklärt sich durch die Ereignisse dieses Jahres, welche die gewöhnliche Rechts­ pflege außer Tätigkeit setzten zugunsten der Kriegs­ gerichtshöfe. Es ist unmöglich, vom Kriegsrat bestrafte Taten in Rechnung zu ziehen, weil das Strafmaß, welches dieser anwendet, von dem verschieden ist, welche das ge­ meine Recht festsetzt. In diesem Falle würde die straf­ gesetzliche Brille zu sehr den Begriff der Kriminalität verunstalten. * *

Die Beziehung zwischen der Einwohnerzahl eines Landes und der Zahl der Verbrecher ist ein viel logischerer Vorgang. Wenn man ihn beim Studium anwenden will, darf man nicht vergessen, daß die Zählung der fran-

12 zösischen Bevölkerung für das erste Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts einen Ueberschuß von 426000 Frauen über das männliche Element ergeben h at Dieser Unterschied wird noch erhöht um 10000 durch den Abzug der unter 20 Jahre alten, deren Vergehen auf besondere Art ge­ sühnt worden sind, so daß sie aus der Totalität der Krimi­ nalität verschwinden. Man findet: Auf eine Bevölkerung von 38 600 000 Frauen 19 513 000 19087 000 Männer Minderjährige 6 703 000 6 710 000 Minderjährige 12 810 000

12 377 000

Unterschied zwischen beiden Geschlechtern 433 000 Die Kriminalisten gründen diesen Prozentsatz auf die numerische Gleichheit der Geschlechter. Dieser Irrtum, obwohl ohne Bedeutung, ist für die Frau nachteilig, und er muß zum mindesten hervorgehoben werden. Wenn man als Maß die Bevölkerung jeden Ge­ schlechts nimmt, so haben wir auf 10000 Frauen 21 Verbrecherinnen, auf ebensoviel Männer 145 Verbrecher. Dieser Satz läßt sich auch so ausdrücken: auf 468 Frauen eine Verbrecherin, auf 69 Männer ein Verbrecher. Doch die erste Formel stammt von Quetelet, welcher sie so schrieb: weibliches Verbrechertum 0,00213, männliches Verbrechertum 0,01446. Diese Dezimalbrüche lassen sich schließlich durch folgenden Satz übersetzen: Es gibt etwas mehr als

eaoBeeotteoçac&iOQ&ia&xaiio&icete&x&ia^^

13

21 Chancen gegen 10000, daß eine Frau ein Vergehen in einem Jahre begeht Der belgische Soziologe nennt das die mittlere natürliche Anlage zur Kriminalität. Der Irrtum ist klar: Man darf nicht alle Größen der ge­ messenen Individuen zusammenzählen und diese Summe durch die Zahl der Beobachtungen teilen, ohne an dem einen ein Zentimeter zu gewinnen, welcher dem anderen verloren gehen würde. Und die Analogie ist nicht voll­ ständig. Denn wenn jeder eine meßbare Größe hat, so existieren glücklicherweise Wesen, welche gegen das Ver­ brechen völlig refraktär sind, so daß weder Beispiel noch Versuchung sie dazu bringen könnten, ein Verbrechen zu begehen, so zahlreich auch die Verbrecher und die Ge­ legenheiten zu Freveltaten sein mögen. Kurz, man darf nicht vergessen, daß das Verbrecher­ tum, trotz dauernden Bestehens, doch nichts weiter als eine Anomalie bleibt, auf die der Gedanke einer Durch­ schnittsberechnung nicht anwendbar ist. Würde es gegenüber irgendeiner Frau genauer sein, zu sagen: Es gibt eine Chance gegen 468, daß sie in einem Jahre verurteilt worden ist oder wird? Die neue, in den Untersuchungen von Dürkheim in seiner Monographie über den Selbstmord1) gegebene Form ist vorzuziehen. Sein Präservations-Koeffizient wird erhalten, indem man die in den beiden Gruppen von Individuen, welche unter einem anderen Gesichts­ punkt als die studierte Tatsache gruppiert sind, ge­ wonnenen Prozentsätze durcheinander dividiert. Ist das Bankerott? Man kann Städter von Landleuten unter*) Emile Durkheim, Le suicide, étude de sociologie, Paris, Alcan 1897, in 8°, p. 181.

14 scheiden, Junggesellen von verheirateten Leuten, Männer von Frauen. Wenn ein Quotient geringer als eins ist, wird aus dem Präservations - Koeffizienten ein Aggravations - Koeffizient. Die Bezeichnung würde logischer erscheinen, wenn der Unterschied mit eins als negative Zahl geschrieben wäre und nicht als Dezimal­ zahl. Die Verletzung der Regeln der Arithmetik sollte nicht bei der Konstruktion dieser immer willkürlichen Formeln verweilen. Es gibt 21 Verbrecherinnen auf 10000 Frauen, 145 auf 145 ebensoviel Männer: -^y- = ungefähr 7, d. h. die Frau ist siebenmal weniger zu Verbrechen geneigt als der Mann. Der Grund für diesen Unterschied der Neigung bleibt noch zu finden. Mittels desselben Verfahrens würde der Präservations-Koeffizient in den Aggravations-Koeffizient um­ gewandelt werden für gewisse Vergehen, z. B. die Atten­ tate gegen Kinder. Das Bild dieser verschiedenen Koeffi­ zienten würde lehrreich sein, aber man kann zu dem­ selben Ergebnis mittels schnellerer oder allgemeinerer Methoden kommen. Hinsichtlich dieses letzten Punktes verdient der Umwandlungsfaktor empfohlen zu werden. Die Soziologie sucht die Beziehungen durch Teilung, nicht durch Subtraktion. Diese letzte Operation erfordert gleichartige Massen, und dies macht sie unzweckmäßig in den sozialen Wissenschaften, in welchen die ver­ schiedensten Tatsachen als Maß konkreter, verschiedener Massen gewählt werden. Schon ist die weibliche Kri­ minalität mit der allgemeinen Kriminalität, mit der Be­ völkerung und der männlichen Kriminalität verglichen, mit anderen Worten, diese verschiedenen Zahlen sind nach­ einander als Einheiten oder als Maßstab gewählt worden.

Verhältnismäßig leicht ist es, Tabellen zu konstruieren, deren Elemente sich alle, die einen aus den anderen mittels Multiplikation, berechnen lassen, ohne daß man jedesmal seine Zuflucht dazu nimmt, mit neuen Divisionen im Dunkeln zu tappen. Dieser Vergleich mit der Einheit als Ergebnis einer früheren Operation geschieht am schnellsten mittels der Logarithmen, da es sich nur darum handelt, die dem Kologarithmus entsprechende Zahl zu finden. Der Quotient 1 durch eine Verhältniszahl wird seinerseits eine Einheit für jedes andere Element, welches man nach der Häufigkeit dieses Ereignisses messen will.1) Nehmen wir eine Vergleichstabelle fremdartiger Maße, wo die Einheit das französische Kilometer sein soll: Das Problem besteht darin, die englische Meile durch schwedische Meilen zu messen, da ihr metrischer Gehalt allein angegeben ist. Die Berechnungen der Regeldetri werden vermieden dank der Bekanntschaft des Quotienten der Einheit, geteilt durch den Ausdruck dieser verschiedenen Maße in Metern. Diese Zahl, multipliziert mit dem Ver­ hältnis des anderen Maßes, wird dieses auf die beabsichtigte Einheit reduzieren, da dieselbe Operation, mit dem ver­ glichenen Maße vorgenommen, die Multiplikation eines Quotienten mit seinem Zähler, da diese Einheit der Dividendus ist, die Einheit ergeben muß. Man unternimmt also eine Operation, deren Ergebnis man von vorn­ herein kennt. !) Für die Entwicklung dieses Systems und die Dar­ stellung seiner Vorteile ziehe man zu Rate: C o s t a z , membre de Hnstitut (Académie des sciences), Mémoire sur la con­ struction des tables statistiques et sur la mesure des valeurs. Extrait de la Revue mensuelle d ’Economie politique, Juillet et Août 1834, Paris, Moquet, 1834, in 8°, p. 16.

16 Die Tabelle der Kriminalität würde so zusammen­ gefaßt werden: Elemente

absolute Zahlen Prozent reziproker Wert

Allgemeine Kriminalität . 206 321 1000 1 0,754 Weibliche Kriminalität . 27 358 13,261 Verurteilungen vor dem Schwurgericht . . . 466 0,0023 434 Vergehen (Frauen) . . 26 892 0,13 0,767 Vergehen (Männer) . . 176 413 1,303 0,776 Bettelei, Vagabundieren 116 (Frauen) ................... 1 784 0,0086 11,6 do. (Männer) . . . 18 541 0,086 usw. usw. Wenn man das vor das Zuchtpolizeigericht gehörende Verbrechertum der Frau messen, mit anderen Worten wissen will, wie viel Verbrecherinnen auf eine Bettlerin kommen, genügt es, um diese Beziehung mit der Stellung des anderen Geschlechts zu demselben Gesichtspunkt zu ver­ gleichen, die beiden folgenden Operationen vorzunehmen: 776 X 116 und 13 X 116 welche 15 Verbrecherinnen auf eine Bettlerin und 9 Ver­ brecher auf einen Bettler ergeben. Es ist leicht zu er­ kennen, daß diese Berechnungen auf demselben Prinzip begründet sind wie die Verwandlung der gewöhnlichen Brüche in Dezimalbrüche, nämlich im ersten Falle: 26 892 W = 15 und im zweiten: 176413 = 8932 18541 Der erste Statistiker, welcher sich mit diesen Fragen1) *) Guerry, Essai sur la statistique morale de la France, Paris, Crochard 1833, in 8°, p. 18.

17 beschäftigt hat, Guerry (1833), hat ein mehr empirisches Verfahren angewandt, welches seither durch Binet und seine Schule vervollständigt worden ist, die „Verteilungs­ reihe": Die Vergehen werden der Häufigkeit nach bei Männern und Frauen gezählt und die Summe der Unter­ schiede zwischen beiden Ordnungszahlen zeigt, ob eine Wechselbeziehung zwischen den beiden Kriminalitäten be­ steht. Wenn die Beziehung umgekehrt wäre, würde die Totalsumme das Vierfache der letzten Zahl, geteilt durch zwei, ergeben. M. S^e1) hat der Gesellschaft zum psycho­ logischen Studium der Kindheit die Formel gegeben, welche den mittleren Unterschied zu finden und infolge­ dessen zu schätzen gestattet, ob man sich der Uebereinstimmung nähert oder von ihr entfernt Seit der Veröffentlichung des Atlas von Guerry*2) und entsprechend den in diesem Werke auseinandergesetzten Gedanken nennt man relativen Prozentsatz den Vergleich der Zahl der Frauen mit der der Männer, welche ein be­ stimmtes Delikt ausgeführt haben: So sind von 1247 An­ schlägen gegen die Person 258 von Frauen begangen, d. h. also 207 per 1000 und 793 per 1000 für jedes Ge­ schlecht Das Prozentverhältnis wird absolut genannt, da die Kriminalität eines Geschlechts mit sich selbst unter ver­ schiedenen Erscheinungsformen verglichen wird. Auf 100 von Frauen begangene Verbrechen gibt es 44,6 An­ schläge gegen das Eigentum und 55,4 gegen Personen. Die Vergehen sind in einer nach ihrem absoluten Prozentverhältnis für Frauen abfallenden Reihe eingeordnet, x) Bulletin de la Société libre pour l’étude psycholo­ gique de l'enfance. Paris, Alcan, I, p. 492, No. 14, März 1904. 2) Guerry, I. c. p. 22. G r a c ie r , Das verbrecherische Weib,

2

und daneben ist die Reihe aufgeschrieben, welche sie in der männlichen Kriminalität nach derselben Berechnung einnehmen, ebenso wie die Differenz zwischen beiden Klassen: Frauen Männer Differenz Uebertretungen: 7 6 1 Kindesmord Diebstahl 2 1 1 8 5 3 Fehlgeburt 1 5 5 Totschlag 1 Falschmünzerei 5 4 6 0 Brandstiftung 6 4 7 3 Mord 8 2 Sittlichkeitsvergehen 6 24 Gesamtsumme der Unterschiede 82 Das Maximum y = 32 würde eine umgekehrte Beziehung ergeben. Das Mittel als wahrscheinliches Indifferenzzeichen würde 21 sein; das Mißverhältnis ist augenscheinlich. Ohne die Vorteile dieser Tabellen zu leugnen, welchen Guerry eine graphische Form mittels ver­ schiedenfarbiger, dasselbe Vergehen in den beiden Listen verbindenden Linien gegeben hat, vermittelt ein Diagramm deutlicher die Beziehung der weiblichen Kriminalität zu der allgemeinen und die Differenz mit dem anderen Ge­ schlecht. Es genügt, an seinem relativen Wert für das weib­ liche Verbrechertum festzuhalten. Um ihm diese Größe wie in einer Perspektive zu verleihen, ist das allgemeine Verbrechertum als ein Kapital angenommen, welches pro rata der üblen Tätigkeit jedes Geschlechtes zu teilen ist. Es ist gesagt, daß die des Mannes siebenmal größer ist. Der genaue Wert für die Frau, 13,26 per 100, dient

M e in e id

20

dazu, ihren Anteil an jedem Delikt nach ihrer Zahl in einem Jahre zu bezeichnen. Bisweilen überschreitet sie die durch horizontale Striche, welche gezogen sind, um sie deutlicher zu machen, angegebenen Grenzen. Die verti­ kalen Linien messen die von den Frauen auf derselben Stufe begangenen Delikte, welche zweimal abgebrochen werden jnußten, um diese Beobachtungen in einer ein­ zigen Tabelle zusammenstellen zu können. Ein Beispiel außerhalb dieses Diagramms wird zur Hebung der Beweiskraft die Grundsätze verständlich machen: Trunkenheit stellt nach dem Gesetz, welches sie bestraft, eine besondere Uebertretung dar, welche in gewissen Fällen unter die Anschuldigungen zählt, deren Gesamtsumme angegeben ist (206321). Aber die Frauen stellen in dieser Summe nur 27 358, d. h. 13,26 per 1000. Dasselbe Verhältnis auf die Zahl der Strafprozesse wegen Trunkenheit im Wiederholungsfälle im Jahre 1901 (2220) beteiligt die Frauen mit 294 Verurteilungen. Dieses Ge­ schlecht hat davon 442 auf sich geladen, ein Drittel mehr. Das ist ein deutliches Zeichen nicht für die allgemeine Moral, sondern für die weiblichen Neigungen. Bei Gleich­ heit des Verbrechens würden sie unter Alkoholwirkung öfter als der Mann die antisoziale Energie und Neigung entwickeln. Der Verbrecher in der Trunkenheit bleibt nichtsdestoweniger in stärkerem Maße beim männlichen Geschlecht vorhanden1). Quételet8) schrieb der Temperenz den Wert eines Drittels einer Art von Präservations - Koeffizient zu be den Beleidigungsklagen, den Wirtshausschlägereien, der12* 1) Siehe Rickère, L’alcoolisme féminin. 2) Quételet, Physique sociale ou Essai sur le développe­ ment des facultés de l’homme, Bruxelles, Muquard, nouvelle édition, 1869, I, 153.

Schuß- und Hiebverletzungen, kurz den unwillkürlichen Mordtaten. Sein System hat das Verdienst, verschiedene Delikte zu unterscheiden, ohne sich bei Sammelbegriffen oder abstrakten Ideen aufzuhalten. Nach ihm rührt die numerische Unterlegenheit des weiblichen Verbrechertums her: von der körperlichen Schwäche; von der sozialen Abhängigkeit; von der moralischen Furchtsamkeit; von dem Mangel der Uebererregung durch Al­ kohol. Die körperliche Kraft des Weibes wird von Quételet halb so groß wie die des Mannes geschätzt. Daher muß die Kriminalität dieses Geschlechts weniger als die Hälfte bei den Delikten ausmachen, welche einen gewissen Aufwand von Kraft erfordern. Dieser für den Kriminalisten wahre Grundsatz ist wert­ los bei der Entdeckung von Mördern. Es würde verwegen sein, von vornherein zu entscheiden, daß der Schuldige keine Frau sein kann. Dieser Irrtum zeigte sich deutlich bei Gelegenheit des Meineides von Marie Michel, welche nach der Verurteilung von Cauvin als Mörder der Frau Moutet dem Gerichtshöfe erklärte, daß das Opfer von ihr allein erdrosselt sei. Die an dem Halse bemerkten Läsionen, die an mehreren Stellen der Luftröhre kon­ statierten Brüche ließen eine außergewöhnliche Kraft vor­ aussetzen, wie sie eine Frau nicht zu entwickeln imstande wäre. Die Unwahrscheinlichkeit der Selbstanklage wurde ganz natürlich durch Hysterie erklärt. Marineärzte, welche zur Untersuchung des Geisteszustandes herangezogen waren, leugneten das Vorhandensein dieser Neurose bei Marie Michel. Diesen Widersprüchen gegenüber zog der Gerichtshof einen anderen Arzt als Gutachter zu. Die bei

22 Frau Moutet in der Halsgegend konstatierten Wunden wurden an den Leichen von Greisen wieder hervorgebracht Die Untersucher mußten ihre gesamte Kraft aufwenden, um den Hals zusammenzudrücken. Die so aufgewandte Kraft wurde am Dynamometer gemessen. Alle jungen Mädchen vom Alter und der Leibesbeschaffenheit der Marie Michel brachten die Nadel des Instruments auf denselben Punkt, welcher die zum Zerbrechen mehrerer Luftröhrenknorpel bei den Achtzigjährigen erforderliche Kraft bezeichnete1). Beim Verbrechen von Chantelle*2) hatte ein Weib einen Mann getötet und seinen Leichnam etwa 50 Meter vom Ort des Verbrechens fortgeschleppt. Die Verbreitung des Vitriols und des Revolvers hat die Zahl der Mordtaten vermindert, welche die Frauen nicht ausführen können. Der Einbruchsdiebstahl und der Bandendiebstahl auf öffentlichen Straßen, der alte Ueberfall auf die Post machen noch einen Teil der Verbrechen aus, bei welchen die Frau vollkommen Mitschuldige sein kann, und diese Rolle muß getrennt studiert werden. Die Seltenheit dieser gewaltsamen Diebstähle wird besser erklärt durch die moralische Furchtsamkeit als durch die soziale Abhängigkeit, welche gelegentlich die Mitschuld der Familie oder des Liebespaares mit sich bringt. Quételet gewährt diesen beiden Ursachen den Wert eines Fünftels, so daß die der körperlichen Schwäche beigemessene Hälfte ein Zehntel bei der Teilnahme von Frauen an den Anfällen mit bewaffneter Hand ausmacht. Die Statistik von Guerry zeichnet in der Tat niedrigere Zahlen auf, 8 per 100 Frauen, 92 per 100 Männer. End­ 0 Vergl. Lailler et Vonoven, Erreurs judiciaires. 2) Schwurgericht von Allier, Mai 1891.

23 lieh hat der Rausch, dessen Bedeutung bei den Mord­ neigungen er angibt, für ihn den gleichen Wert von einem Drittel, welches, mit den vorhergehenden Elementen multi­ pliziert, 1/2 X Vs X Vs, den Anteil der Frauen an Schußund Hiebverletzungen auf ein Dreißigstel festsetzt.

« Die körperliche Schwäche der Frau, welcher Quételet den ersten Rang unter den Hindernissen ihrer Kriminalität anweist, offenbart sich noch in dem Studium ihrer Mit­ schuld. In den Augen der Rechtsgelehrten verwischen sich bei der Bestrafung Mitschuldige und Haupturheber eines Verbrechens. Aber die Kriminologie muß einen Unterschied machen zwischen den verschiedenen Mit­ schuldigen, und ihre Prüfung ist für die genaue Kenntnis dés weiblichen Verbrechertums äußerst wichtig. Ein Ver­ brechen, welches dem Weibe ohne Zweifel zuzuweisen ist, die Fruchtabtreibung, erforderte noch jüngst die Mithilfe zweier Personen.1) Bei den anderen Missetaten tun sich die Frauen häufiger zusammen als die Männer. Die Berichte der Kriminaljustiz liefern dafür den Beweis. Im allgemeinen Durchschnitt werden sechs Personen bei fünf Sachen ange­ klagt, aber bei denen, wo Frauen beteiligt sind, gibt dieselbe Zahl von Urteilen (fünf) sieben Verurteilte. *) Siehe die Diskussion über den kriminellen Abort in dem Bericht der Gesellschaft für Geburtshilfe, Gynäkologie und Kinderheilkunde, Februar 1905, und vorher Annales d'Hygiène publique et de médecine légale, März 1884, welche eine Be­ obachtung Couillauds über eine Frau enthalten, welche durch Durchstechung der Eihaut sich selbst zum Abort brachte.

24 Gewiß würde diese Zahl noch höher sein, wenn nicht als Ersatz für den Abort, ein ebenso häufiges weibliches Verbrechen, der Kindesmord gewöhnlich die Mitschuld ausschlösse. Die verbrecherische Vereinigung ist unter Frauen sehr selten, 13 vom 100, gewöhnlich findet sie zwischen beiden Geschlechtern statt. Bei den Anschlägen aus Habsucht gegen Personen haben die Romanschriftsteller der Frau einen anregenden Einfluß zuerteilt, welcher nicht direkt bewiesen ist; man kann ihn also nicht verallgemeinern. Ein Verbrecher mit starken ge­ schlechtlichen Neigungen beschränkte sich freilich auf die Rolle des Statisten in einem von einem Mädchen erdachten Drama, in welchem sie sich die Hauptrolle Vorbehalten hatte (Ermordung des Dieners Gouffe, Seine, Dez. 1890). Ein Arbeiter hat sich durch Aufwand, durch die Schmeiche­ leien, durch die Erinnerung an eine alte Leidenschaft (Vitriolattentat von M. de Pierre, Seine1), 1878) verleiten lassen können; aber es gehört zu den Ausnahmen, daß unglückliche Frauen den Verwandten eines Mannes, eines Liebhabers, bei Verbrechen aus Habsucht herangezogen haben! Nicht ebenso verhält es sich beim Familienmord. Der Tod des Gatten ist fast immer der ehebrecherischen Frau zur Last zu legen. Die Mutter ist immer verant­ wortlich für Mißhandlungen der Kinder. Der Beweis ist allen erreichbar. Es genügt, die Ver­ handlungen in der Sache Fuaktes durchzulesen. Keiner begreift die Verurteilung der Herrin der Mitschuldigen, des Mädchens Benoit, aber man erklärt sich sehr gut, Die Einzelheiten der Untersuchung dieses Sensations­ prozesses sind von Macé erzählt unter durchsichtigen Pseudo­ nymen in Les femmes criminelles, ch. II, p. 101.

warum die Besitzerin des Schauplatzes des Verbrechens nicht hingerichtet wurde. Beim doppelten Selbstmord scheint der Einfluß des Weibes immer entscheidend. Abgesehen von häuslichen Tragödien beschränkt sich ihre Teilnahme auf Hehlerei. Sie ist gastfreundlich und lebt von dem, was man ihr bietet, ohne nach der Herkunft viel zu fragen. In der politischen Kriminalität werden diese beiden Eigen­ schaften und ihre Folgen den Gegenstand einer neuen Untersuchung bilden. Das Studium der Verantwortlich­ keit durfte noch nicht behandelt werden, und es ist vor­ zuziehen, abgesehen von späterer Besprechung, die Zahlen der Mitschuld anzunehmen, wie sie aus den richterlichen Verurteilungen hervorgehen. Auf mein Verlangen sind sie für das schwerste Verbrechertum durch die Leiter der beiden letzten Zentralhäuser für Frauen — Vincenzini und Renard — erhoben.

Natur des Verbrechens

Frau allein

Mitschuld m tt einer einem anderen Manne Frau

30 6 Raubm ord......................... 14 1 Vergiftung. . . . . . 1 M o r d .............................. 49 '— Schuß- u. Hiebverletzung 36 — 58 K in d e sm o rd .................... 5 11 A b o r t .............................. Sittlichkeitsvergehen . . 13 ■ — — Brandstiftung.................... 20 — Falschmünzerei . . . . 8 Diebstahl, Taschen­ 97 13 diebstahl ....................1 Summa | 336 26

28 8 8

Banden aus beiden Gesamt­ summe G e­ schlechtern

7

— 2 9

77 23 61 39 60 16 19 24 24

36 98

49 78

195 538

1

2 — 6 2

13 — 3 2 — —

26 '^S''4S'-^S'AS'-ÄS''4S'-ÄS'4s-'5S'-tS''Ä!r''Ss-'-4S'4S'-iS'‘iS''-4S'4S''4sAlso auf 336 Sachen rechnete man viel mehr als 538 Verurteilte, da die Mehrzahl der Mitschuldigen, welche sich 78 mal gezeigt hat, nur für eine Einheit jedesmal auftritt. Ein solches Verhältnis findet sich nicht in der männlichen Kriminalität, und auch der Unterschied erklärt nicht getreu die quasi Notwendigkeit der Mitschuld in diesem speziellen Verbrechertum. Wenn man auch wohl versteht, daß 5 Aborte 11 Opfer hatten, erklärt man sich weniger leicht, daß die Verführung von Minderjährigen zur Prostitution, welche unter der Rubrik „Sittlichkeitsvergehen" eingetragen ist, nur 6 männliche Mitschuldige aufweist auf 13 Erauen. Um diese Eigenart zu rechtfertigen, muß man auf das Gewicht der abgeurteilten Sache zurückgreifen. Sehr gefährlich würde es sein, Statistik mit Elementen persön­ licher Schätzung zu treiben. Zwei wegen dieses Ver­ brechens angeklagte Frauen haben nicht geleugnet, daß sie bei Begehung des Verbrechens Mitschuldige gehabt hätten, aber sie haben ihnen die Teilnahme an der Ver­ urteilung erspart. Die eine hat gesagt, daß sie zu viel davon habe, um sie alle nennen zu können. Der Gedanke, eine Auswahl zu treffen, brachte ihr Billigkeitsgefühl in Aufruhr. Die andere hat sich auf eine Art Berufsgeheimnis berufen. Der Kauf ihrer Verschwiegenheit war im Preise der Schändung inbegriffen. Vor Gericht gilt der Kindesmord für ein Einzel­ verbrechen1), und tatsächlich gibt es keins, welches nicht mit Sicherheit einen Mitschuldigen fordert. *) Der mittlere Durchschnitt der letzten 60 Jahre ergibt für den Abort 23 Prozesse, welche 59 Angeklagte betreffen, und für den Kindesmord 209 Angeklagte auf 186 Prozesse. Zwischen den beiden letzten Ziffern würde eine größere Gleichheit bestehen,

Die Antwort einer Angeklagten ist berühmt ge­ blieben: „Sie haben die Kraft gehabt, Ihr Kind ganz allein zu töten, Sie, die Mutter!" sagte ihr ein gewisser Oerichtshofspräsident mit dem ihm vertrauten ironischen Ton. „Ich hätte es nicht allein zu tun brauchen, aber der Vater war nicht dabei, um mir zu helfen, mich davon zu befreien." Die Freisprechung der Vitriolösen erschien als eine genügende Reform. Die Demoralisierung des Mannes durch die Frau müßte bei den Anhängern allgemeiner Oedanken als häufige Ursache der weiblichen Kriminalität sich dar­ stellen. Der entgegengesetzte Satz wird weiter unten ge­ prüft werden. „Cherchez la femme!" hat man in den Sakristeien murmeln müssen, bevor alle Echos der Polizei­ wachtposten widerhallten. Die beiden Anschauungen haben keinen Vorzug vor einander, wenn man annimmt, daß die Prostitution kein Vergehen ist. Ein solches Zu­ geständnis ist nicht mehr durch Beweise zu erringen. Wie der Selbstmord ist die Prostitution eine wohlüberlegte Schädigung, welche in keiner Weise einen anderen be­ trifft, sie ist weniger ein Verbrechen als der freiwillige Tod, welcher die Reihe der Nachfolger zu stören oder ein Versicherungskapital zur Auszahlung gelangen zu lassen vermag. Als letztes verzweifeltes Mittel wollte Corne 1868 daraus eine Art Ableitung für die frevel­ haften Neigungen der Frau machen1). Später hat Reinach wenn die vom Zuchtpolizeigericht bestraften Kindesmorde mit­ gerechnet wären. Dieser Durchschnitt ist allein aus der gesamten Kriminalität gewonnen, und die Mitschuld einer Mutter z. B. ist ein erschwerender Umstand für die Ansicht, welche den öffentlichen Beamten oft hindert, einen Kindesmord als Ver­ heimlichung eines neugeborenen Kindes zu beurteilen. x) Journal des Economistes.

28 ’diese Gleichstellung eingeschränkt Nach ihm ist die Prostitution das Vagabondieren der Frauen1); an letzter Stelle jedoch hat Lombroso**2) diese Anschauung Comes durch die Schule der kriminellen Anthropologie adoptieren lassen. Diese Analogie ist nicht berufen, bei uns Ansehen zu gewinnen, wo die Dirnen selbst mehr Scharfsinn gezeigt haben. Bittet nicht Ninon de Lenclos in ihrem täglichen Gebet Gott, ihr immer die Gefühle eines ehr­ baren Menschen einzuhauchen und ihr zu gestatten, sich bisweilen als anständige Frau zu führen? Die Polizei muß gelegentlich die Festnahmen von Prostituierten im Hinblick auf die guten Sitten rechtfertigen, um die Zuhälter zu finden, obwohl die als Delikt festgesetzte Vagabondage ihr gestattet, keine abwartende Stellung einzunehmen, welche herausfordernd scheinen würde. Sie ergreift die gegen die Regel Verstoßenden auf einen Verdacht hin, ohne abzuwarten, bis sie kriminelle Mittel für die Existenz oder Begehung ihrer Anschläge gefunden haben. Die Immunität verheirateter Leute hinsicht­ lich der Kriminalität ist bekannt. Am fruchtbringendsten sind also die Untersuchungen bei illegitimen Verbindungen, wenn es sich darum handelt, einen Raubmörder zu suchen. Selbst der Dieb ist selten Inhaber einer Wohnung, aber die Prostituierte denkt nicht nur daran, einen Liebhaber zum Morde anzustiften, ebensowenig wie dieser Liebhaber, so entartet er sein mag, sie immer zum Diebstahl treibt. Sein Interesse im Gegen­ teil fordert, daß sie nicht festgenommen wird. Das unanx) Reinach, Les Récidivistes, p. 115. 2) La donna deliquente, p. 37. Die französische Uebersetzung dieses Werkes von Saint-Aubin ist unter dem Titel erschienen: La femme criminelle et la prostituée, Alcan, 1896.

eGOTCSp^^«t^eceffec