Das unvollständige Haus: Mies van der Rohe und die Landschaft 9783035615548, 9783035615593

Mies' heimliche Landschaftstheorie Diese wissenschaftliche Untersuchung entfaltet Mies van der Rohes heimliche La

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German Pages 408 Year 2019

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Inhalt
Vorwort
Ausgangspunkte
Das neue Haus
Raum der Konstruktion
Die Landschaft im Garten
Lebendige Konkretheit
Landschaftliches Wohnen
Anhang
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Das unvollständige Haus: Mies van der Rohe und die Landschaft
 9783035615548, 9783035615593

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Das unvollständige Haus

Das unvollständige Haus Mies van der Rohe und die Landschaft Albert Kirchengast

Birkhäuser Basel

This quiet morning light reflected, how many times from grass and trees and clouds enters my north room touching the walls with grass and clouds and trees. W. C. Williams

Inhalt

Vorwort  9 Ausgangspunkte  11 Das neue Haus  71 Raum der Konstruktion  131 Die Landschaft im Garten  175 Lebendige Konkretheit  233 Landschaftliches Wohnen  277 Anhang  341

Vorwort

Mies’ Geschichte nochmals erzählen : Mies’ Wohnhäuser als Landhäuser, in einer Landschaft, die ihnen gegenüber liegt. Und dies lange nach Fritz Neumeyer und Wolf Tegethoff, deren erhellender Blick dazu beigetragen hat, ein gründlicheres Bild von diesem Architekten zu gewinnen. Die ‹ Landschaft › aber, die fehlte. Das verwundert nicht, nehmen die Historiografen doch erst seit einigen Jahren die Geschichte des Hauses und seines naturhaften Außenraums in den Blick. Selbstverständlich genügte es dann nicht mehr, allein vom ‹ Fließen des Raums › oder von ‹ offenen Grundrissen › zu sprechen. Aber kann man ein Landhaus überhaupt von seiner Landschaft trennen? Was ist diese Landschaft? Sie ist nicht der Garten und nicht das Land – nicht das Ländliche, nicht das Gärtnerische. Sie hat vielmehr mit einer Erfahrungsweise zu tun, die weiter zurückreicht als bis in die 1920er-Jahre. Auch Mies verstand sein Werk in diesem Sinn : Er lebte in seiner Epoche, suchte aus ihr heraus aber die Kontinuität. Die Landschaft, von der hier die Rede ist, hängt eng mit einer Suche nach Halt in einer Disziplin zusammen, die ihr Maß verloren hat. Sie ist das Phänomen einer ‹ langen Moderne › jenseits stilgeschichtlicher Präferenzen. Dieses Buch verbindet Mies’ Begriff der ‹ Struktur › – so bezeichnet er seine poetische Konstruktionsform – mit jener ‹ Lebendigen Konkretheit ›, von der seine Landhäuser erfüllt sind : in einer Einheit der Gegensätze. Auf diesem Weg soll sich der Zusammenhang des Wohnraums mit der Landschaft erschließen ; weitere Begriffe werden das verdeutlichen : das Erhabene, die Kontemplation, die Anschauung, die Ergriffenheit … Wie also gewinnt das Mies’sche Landhaus Gestalt zwischen Villa und Avantgarde, welche Naturbeziehung liegt ihm zugrunde, was wäre das ‹ landschaftliche Wohnen ›, von dem hier noch öfter die Rede sein wird? Relevanz haben diese Fragen, weil Mies das konkrete Beispiel gibt für eine ideengeschichtliche Entwicklung mit Aktualitätsgehalt : Heute sind es nicht mehr die Massengesellschaft und die Technik, sondern deren Spätfolgen – doch immer noch macht die Erfahrung des ‹ Für-sich-Seins › der Natur betroffen in der tiefen ‹ Entzweiung › unserer Lebenswelt.

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Da seine Landhäuser genau davon sprechen, scheinen Mies’ Hausmodelle tatsächlich erfüllt zu haben, was man ihnen gern attestiert : Sie sind Prototypen. Dass sie tausendfach zu schlechten Kopien wurden, ist nicht Mies’ Verschulden. Er selbst war hellsichtig und blickte nach vorne und zurück zugleich. In diesem Sinn hatte er einer Profession etwas voraus, die sich nicht mehr darum zu kümmern scheint, ihre eigenen Grundlagen geistig abzusichern. Es ist verwunderlich, wie oft vom Geistigen die Rede war in der zeitgenössischen Rezeption, wie oft Mies selbst von Wahrheit und Schönheit sprach. Seine Landhäuser verräumlichen die Korrespondenz von Mensch und Naturgeschehen, sind zugleich Ausdruck eines historischen Prozesses. Es gilt zu klären, wie der bahnbrechende Umbruch zum ästhetischen Naturempfinden im 18. Jahrhundert sich auf die Architektur auswirkte : Die Landschaft als gestaffelter Tiefenraum, die Konstruktion als Mittler, der Wohnraum landschaftlich gestimmt – so lautet die einfache Annahme, um die es hier geht. In einer Gedankengeschichte, die auch eine Reise zu Mies’ wichtigsten Wohnbauten ist : Berlin, Krefeld, Brünn, Jackson Hole, Chicago, Plano und einige andere Stationen sind ihr Ziel. Und so wäre nichts gewonnen, bliebe das Geschriebene im Buch ‹ stecken ›. Dieses Theorie-Lesebuch will viele und viele verschiedene Leser gewinnen. Es will erzählen. Es hat keinen wissenschaftlichen Aufbau (obwohl es freilich den Anspruch erhebt, wissenschaftlich zu argumentieren), will von vorne bis hinten gelesen werden. Welches Buch wünschte sich das nicht? Widmet man ihm aber die nötige Zeit, belohnt es seine Leser mit einem sich verdichtenden Gedankengang – und die Zusammenhänge erschließen sich. Das ist das Schöne an der Baukunst, dass wir sie konkret nachvollziehen, dass wir sie erleben dürfen ! Das Bauen steht am Beginn der Architekturtheorie, das Erleben des Gebauten aber ist das Fundament der Architektur. Für die hier immer wieder angesprochene ästhetische Erfahrung ist die Kritik am Begriff zentral – an Wörtern, um die man freilich nicht herumkommt. Was daher bleibt, sind Häuser, in denen man wohnt. Hier ist auch der Ort, sich zu bedanken. Viele haben mitgeholfen, dass dieses Buch Wirklichkeit werden konnte : Ihnen allen bin ich dankbar für ihre Hilfe. Ich hoffe, dass die Mühen sich gelohnt haben !

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Ausgangspunkte

Mies in Berlin

« Peet hatte die Welt des Dorfes nie verlassen. Er lebte im geschlossenen Kreis von Familie, Verwandtschaft, Freunden und Nachbarn. Morgens legte er manchmal irgendwem, den er mochte, einen Bund Möhren vor die Tür oder einen Blumenkohl oder ein paar Stangen Lauch. Er liebte die Wolken, die das Licht manchmal in Strahlen durchließen, das freie Feld, die rote Morgenluft, das Blau des Herbstmorgens. Und wenn er sich dann umdrehte, sah er immer wieder denselben Turm, die Häuser, die sich ringsum dicht an die Kirche schmiegten, die Dächer, die weißlich waren vom ersten Nachtfrost, die meisten Äste schon kahl und schwarz. »1 Mies gelangte aus Aachen, der einstigen karolingischen Kaiserresidenz, nach Berlin. « Dort tut sich was! »2, empfahl ihm ein Freund. Das Wilhelminische Reich wird noch ein Jahrzehnt bestehen, der Untergang des europäischen Dorfes durch zwei große Kriege beschleunigt. « Das Wunder des Bauens », so lautet die Überschrift in Geert Maks Buch über eine untergehende Lebensform, aus dem diese Eingangszeilen stammen : Bauen schafft Veränderung und Raum für Maschinen und Einsamkeit. Das Dorf wird zum absterbenden Körper, während Städte zu Großstädten, zu hypertrophen Gebilden anwachsen – in Deutschland, in den zehn Jahren von 1880 bis 1890, um 110 Prozent.3 Der Umbruch zur anonymen Massengesellschaft verursacht Entfremdung, Krisenstimmung, einen tiefen Kulturpessimismus, eine Suche nach Orientierung in der durch Eisenbahn, Elektrizität, das Auto, schließlich das Flugzeug in nie gekannter Weise beschleunigten, durch die Industrialisierung transformierten Lebensrealität. Ein spezifisches Interesse haftet an der Landschaft. Es löst sich von den unmittelbaren Bedingungen ihrer Entstehung, ihrer Pflege und Fruchtbarkeit. Die eigentümlich-nostalgische Wertschätzung, mit der man gemeinhin jenen Dingen begegnet, die man zu verlieren droht, erklärt nicht die gesteigerte Sensibilität für Wolken und Licht, für die Frische des Morgens und die Sehnsucht des Herbstes – für die Konkretheit der ‹ naturhaften › Dinge. Solch scheinbar alltägliche, landschaftliche Erfahrungen nehmen nun einen besonderen Stellenwert im Er-

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fahrungshaushalt des Menschen ein, sind reich, bedeutungsvoll. Eine Wertschätzung, die in der Metropole ihren Ausgang nimmt. Maria Ludwig Michael Mies ist im Jahr 1905, dem Zeitpunkt seiner Abreise aus Aachen, neunzehn Jahre alt. Er hat die Volksschule hinter sich, die renommierte Domschule, die Berufsschule ; er hat auf Baustellen und in Zeichenateliers gearbeitet, strebt keinen höheren Schulabschluss an, wird kein akademisch ausgebildeter Architekt. Durch den familiären Steinmetzbetrieb ist er mit dem in Kontakt gekommen, was Adolf Loos bekanntlich allein zur Baukunst zählt : Grabmal und Denkmal. Die geruhsam-kleinstädtische Welt des väterlichen Steinmetzen Michael Mies, die es den jungen Mann zu verlassen drängte, war katholisch grundiert, der alltägliche Gang durch Aachen, das Tun in der familiären Werkstatt angereichert von historischen, ins frühe Mittelalter zurückreichenden Formen, geprägt von der Schwere desjenigen Materials, an das sich über Jahrtausende die Symbolformen der Baukunst band – den Stein. Dem antiken griechischen Tempel, dessen ideale Vorbildlichkeit man Mies’ Schaffen gerne unterlegt, begegnet dieser hingegen erst bei seiner zweiten Europreise persönlich. Da hatte er den alten Kontinent bereits seit 20 Jahren und endgültig verlassen. Athen, Delphi, Epidauros – diesen Orten gilt seine späte Reise-Zeit ; eine Wertschätzung für die südliche Klassik, die erst in ihm reifen muss.4 In Aachen lernt er den Reichtum einer Stuckatur-Werkstätte kennen. Wie er seinem Neffen Dirk Lohan später schildert, wurden dort « all historical styles, plus modern, all conceivable ornaments »5 fabriziert. Man möchte fragen, welche Form diese modernen Bauornamente annahmen. Die florale Linie des Jugendstils, zu der Mies selbst sich nie hingezogen fühlte? Doch betont er im Gespräch nicht nur, dass er Ornamente einfach gemacht habe, sondern wie schwierig es wäre, ein heute ‹ gültiges › zu erschaffen. Vielleicht zeigte sich schon damals, wie sehr dieser Gelenkpunkt eines Bauwerks herausfordert : dass die Idee des Nichtverfügbaren im Ornament als Stilform nicht mehr zuhause wäre und die Baukunst nach neuem Ausdruck verlangt in einer Gesellschaft, deren Repräsentationsformen hohl, deren Ziele kontingent erschienen. Der Architekturtheoretiker Fritz Neumeyer, der die geistigen Hintergründe von Mies’ Werk in den 1980er-Jahren ans Licht gebracht hat,

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benennt den vielleicht überraschenden, nichtsdestotrotz entscheidenden Grundsatz dieser Architektur : « Ihrem Wesen nach metaphysisch, in ihrem Ausdruck symbolisch, zeigt diese Architektur auf etwas, das jenseits des Sichtbaren, jenseits der physischen Dinge im Bereich des Geistigen liegt. »6 Dass Mies’ erstaunlich physisches – manche würden sagen : sprödes – Werk eine ‹ Schicht › berührt, die jenseits der Erscheinung liegt, wurde lange Zeit ebenso vernachlässigt wie seine Anfänge. Über die Reformbestrebungen ihrer Zeit ragen sie formal nicht hinaus. Und doch keimt bereits damals Mies’ Hausgedanke. Sollte also das Geistige als Fundament des Konkreten – diese paradoxe idealistische Formel – im Fall von Mies, der ein Denkmal und eine Kapelle7 errichten wird, nicht auch auf jene elementare Bauaufgabe zutreffen, der er umfassendere Aufmerksamkeit widmen wird? Müsste diese Einsicht nicht gerade für das Wohnhaus gelten, dem er sich in Europa wie in Amerika oft nur in ‹ idealen ›, nicht realisierten Projekten, dennoch mit Beharrlichkeit immer wieder zuwendet? Und müsste sie folglich nicht ebenso die Beziehung zur Landschaft, das wohnende Erleben der Natur betreffen, stehen Mies’ Häuser doch von Anfang an in spezifischer Weise mit dem landschaftlichen Außenraum in Beziehung? Ein Wohnhaus bildet den Auftakt seines Schaffens, das Wohnhaus ist Ausgangspunkt der zeitgenössischen Bemühungen um Reform in der Baukunst, Jahre vor dem ‹ Neuen Bauen ›. Welche Gestalt sollte es annehmen? Die Suche nach einer ‹ geistigen Ordnung › durchdringt Mies’ gesamte Architektur. Sie entspringt der eigenen, existenziellen Erfahrung : Mies zieht als einfacher Soldat in den Krieg. In keine Kampfhandlung unmittelbar verwickelt, lässt er eine schwangere Frau zurück, als er bis Kriegsende nach Rumänien versetzt wird. Nach einem Zusammenbruch, nach kurzem Rückzug aufs Land, wird er sie endgültig verlassen und den Namen Ludwig Mies van der Rohe annehmen.8 Chaos, als solches erfuhr Mies seine Zeit. Das existenzielle Durcheinander des Lebens in Zeiten großer Kriege bekräftigen literarische Quellen. In seinem Roman Faber oder Die verlorenen Jahre erzählt der in den 1920er-Jahren viel gelesene Autor Jakob Wassermann von der Kriegsheimkehr des um die Jahrhundertwende herangebildeten Architekten Eugen Faber. Seine Trautheit mit den Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft war – nach früher,

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mehrjähriger Gefangenschaft – einer existenziellen Verlorenheit gewichen : « Ich gehe auf die Straße, und es packt mich der Hass gegen die unbekannten Menschen, die mir begegnen ; [ …] wie ein Wolf bin ich hinter ihnen her ; mir graut vor ihnen ; ich seh sie nackt, die scheußlichen Leiber, die fetten Wänste, die schottrichte gelbe Haut, die hässlichen Spuren ihrer Ausschweifungen [ …]. Sehen Sie nicht, Sie Dieb und Fettsack, Fresser und Wüstling, was Sie angerichtet haben? »9 Zumindest das äußere Chaos ordnen helfen, das wäre die Aufgabe des Architekten. Hierzu galt es zunächst wieder Halt und Haltung zu gewinnen gegenüber einer verunsicherten Zeit, ihre Herkunft zu deuten : « Wir wollen klären, worin unsere Epoche mit früheren Epochen übereinstimmt und worin sie sich von diesen unterscheidet. [ …] Jede Entscheidung führt aber in eine bestimmte Ordnung. Deshalb wollen wir auch die möglichen Ordnungen beleuchten und ihre Prinzipien klarlegen »10, erklärt Mies im Rückblick. Ein Praktiker mit hohem Anspruch. In Berlin, kurz nach der Jahrhundertwende, setzt er zunächst die eigene ‹ Lehre › fort. Anfangs noch im Hochbauamt Rixdorf, nun als Zeichner, beginnt er bald für Bruno Paul zu arbeiten. Am 1. Juni 1907 tritt er für kurze Zeit in die von Paul geleitete Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums ein. Als Gründungsmitglied des Deutschen Werkbunds, als Möbelgestalter und Innenarchitekt war dieser weithin zu Bekanntheit gelangt. Erstmals führt Paul nun eine Fachklasse für Architektur und Raumausstattung ein, nachdem er die Schule reformiert und sie zu einer der wichtigsten Ausbildungsstätten des Landes gemacht hat. Im Jahrbuch des im Herbst desselben Jahres gegründeten Deutschen Werkbunds schreibt Paul über die vorbildliche Ausstattung von Passagierdampfern, eine Aufgabe, mit der er sich selbst gestalterisch beschäftigt und die zum Symbol für Fortschrittlichkeit und ‹ Funktionalität › im Architekturdiskurs der Klassischen Moderne wird : Man brauche, « um zu einem guten Ergebnis zu gelangen, nur denselben Weg einzuschlagen, den die Technik erfolgreich gegangen war : das Notwendige und sich aus logischer Folgerichtigkeit von selber Ergebende in die zweckmäßige, einfachste, selbstverständlichste und ungesuchteste Form zu bringen »11. Die formale Eleganz des Ungesuchten, die aus der konstruktiven Bewältigung einer architektonischen Fragestellung sich scheinbar ‹ ergibt ›, als habe man sie

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gefunden, nicht gewollt, damit könnte Mies einverstanden gewesen sein. Freilich entspringt ein solches Selbstverständnis dem mühevollen Ringen um Ausdruck, das den größeren Teil von Pauls zeitkritischem Text auch bestimmt – die Suche nach einer Baukunst der Moderne, die vorrückende Technik geistig bewältigend. Das erste Haus Nach knapp einem Jahr verlässt Mies seine Berliner Ausbildungsstätte wieder. Im Mai 1908 begründet er diesen Schritt mit nur einem Wort : « Privatarbeiten »12. Auf Vermittlung Joseph Popps war er in Pauls Büro mit seiner ersten Auftraggeberin bekannt geworden : Sofie Riehl. Weitere werden folgen und die zentralen Wohnhäuser in seinem Werk begleiten : Grete Tugendhat und Edith Farnsworth. Mies ist 22 Jahre alt. In Neubabelsberg, dem noblen Wohngebiet und architektonischen Experimentierfeld vor den Toren Berlins, das später Potsdam zugeschlagen wird, soll ein moderates Wohnhaus für das Ehepaar Riehl entstehen. Dass die Wahl auf den jungen und unerfahrenen Mies fällt, mag mitunter an der formbaren Partnerschaft liegen, die man sich von Seiten der Bauherrenschaft verspricht. Schließlich dürften der renommierte Philosoph Alois Riehl, Professor an der Friedrich Wilhelm Universität zu Berlin, Nachfolger Diltheys,13 und seine Ehefrau Sofie durchaus eigene Vorstellungen vom Wohnen mitgebracht haben. Der Lauf der Dinge hält für den angehenden Architekten einen frühen Glücksfall in seinem Werdegang bereit. Durch die Riehls bedeutet Bauen künftig auch Bildung, im Philosophen Riehl findet er einen Mentor, im ‹ Klösterli › – wie man das entstehende Haus nennen wird – eine geistige und gesellschaftliche Heimat.14 In der sechswöchigen Italienreise, auf die man ihn von dort aus entsendet, kulminieren die förderlichen Beziehungen. Mit dabei war eine Ausgabe der Kultur der Renaissance Jacob Burckhardts, mit dessen Nachfolger am Basler Lehrstuhl und nunmehrigem Kollegen Riehls, Heinrich Wölfflin, er im Haus zusammentreffen soll.15 Mies’ lebenslanges Interesse für das mühevolle Studium philosophischer Literatur findet in diesem Kreis Anregung und Nahrung : durch Anwesenheit in der Gesellschaft der Riehls, durch zurückhaltendes Zuhören,

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durch Gespräche mit prominenten Gästen. Das Haus sollte ein Ort des Rückzugs aus der Großstadt werden, in der man lebt, mit der man im Austausch steht, zu der man sich in jene Distanz begibt, die eine solche Wohnform böte : ein ‹ Privatkloster › ohne eskapistische Tendenzen. Es ist Mies’ erster Versuch, sich in ein räumliches Verhältnis zu seiner Epoche zu setzen. Mit ihm identifiziert sich der Architekt weit über die einfache Erfüllung einer Bauaufgabe hinaus. Bei diesem ersten Haus handelt es sich demnach um jene ‹ Privatarbeit ›, die zum Austritt aus der Klasse Bruno Pauls und dessen Büro geführt hat.16 In eine Ausstellung mit Schülerarbeiten der Unterrichtsanstalt kann Mies sie dennoch einschleusen. Ein Glück, denn so wird es einem breiteren Publikum bekannt. Im Jahr 1910 folgt eine Besprechung in der Zeitschrift Innendekoration durch Anton Jaumann. Dieser begegnet dem Erstling äußerst wohlwollend. Vom « Beginn einer neuen Blüte »17 ist gar die Rede ; als Ausdruck eines Strebens nach « Reife, Ruhe, Ausgeglichenheit » wird es gedeutet ; ein « Mittelweg zwischen Alt und Neu » ohne revolutionäre Verirrung zeichne sich in ihm ab. Die Allianz mit den Riehls war auf mehreren Ebenen erfolgreich.18 Nicht zuletzt deshalb, weil der Entwurf auf Bewährtes vertraut. Wäre es nicht der Auftakt zu weiteren ‹ Landhäusern › eines der maßgebenden Architekten des 20. Jahrhunderts, es wäre heute wohl vergessen. Das streng anmutende, eingeschoßige Wohnhaus mit steilem Satteldach versteckt sich hinter einer hohen Gartenmauer. Der Baukörper erhält durch ein Walmdach mit gartenseitigem Giebel eine zweifache Ausrichtung ; zwei Fledermausgauben, die ihn links und rechts flankieren, wirken wie schmale Schultern, zwischen denen er ruht. Steht das kleine Gebäude eigentlich quer zur Straße, entwickelt es so ein zweites Gesicht, das auf den Vorgarten schaut. Von dort sind die erdgeschoßigen Wohnräume erschlossen. Die vorgestellte Loggia aus vier gemauerten Pfeilern nimmt hingegen die ganze Breite des Hauses ein und stellt den eigentlichen, von der Öffentlichkeit abgewandten Höhepunkt dieser Architektur dar. Von hier aus eröffnet sich nicht nur der Ausblick auf den unteren Garten, sondern auch in die Landschaft. Ihr Erlebnis steht in direkter räumlicher Beziehung zum zentralen Speisezimmer – der ‹ Halle › des Hauses Riehl – und bestimmt die Art und Weise, wie das ‹ Klösterli ›

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bewohnt werden sollte : als ein Ort der Reflexion19 und freundschaftlichen Zusammenkunft Geistesverwandter. Auch Nietzsche, Schopenhauer und Kant wären in den Räumen imaginär gegenwärtig. Die Gäste und Bewohner des Hauses konnten der Stadt den Rücken zukehren, hatten sie die Straße erst hinter der Gartenmauer zurückgelassen, um in der Ruhe des stillen Gartens zu verweilen und schließlich, angeregt von Gesprächen, über den Griebnitzsee zu blicken, in die Weite einer ‹ Stadtlandschaft ›, geborgen in einem Portikus. Genauer besehen ist das Haus Riehl ein Gliederbau. An seinen vier Ecken zeigen sich vier fein von den Wandflächen abgesetzte, aufgeputzte Lisenen – die Loggia setzt sich dezent in der Gliederung des Baukörpers fort. Auch die feinen Proportionen der Raummaße, die immer wieder bemerkt und mit der Wirkung des Hauses in Verbindung gebracht wurden, weisen auf die ‹ klassische Ordnung › hin, der es unterliegt. Es überrascht daher nicht, dass auch die zentrale Halle gewissermaßen einen – wenn auch nicht sichtbaren – Gliederbau mit verborgenen Metallträgern darstellt, nicht also nur durch die entfernte Analogie ihrer hölzernen Wandvertäfelung mit einer Laube, wie man sie an der Außenwand des Bauwerks tatsächlich vorfindet. Mies’ Konstruktionsweise zielt bereits hier nicht auf ‹ Ehrlichkeit ›, sondern auf räumliche Wirkung : Breite zu Länge und Breite zu Höhe des zentralen Wohnraums stehen durch den konstruktiven Kniff im Proportionsverhältnis 2 : 3 zueinander, der Quinte. Es herrscht Ausgewogenheit, Ruhe, durch Konzentration des Entwurfs auf ein gesellschaftliches Zentrum Klarheit im Raumgefüge, in einem Haus, das sich nur auf den ersten Blick verschlossen gibt.20 Durch seine Loggia ist außerdem ein Verhältnis zur landschaftlichen Ferne gestiftet – wie zu einem räumlichen Gegenpol. Und so ist das Haus Riehl ein Tempelchen, ein landschaftlicher Pavillon – ein ‹ Filter › der Wahrnehmung. Für den deutschen Theoretiker des Landschaftsgartens, Christian Cay Laurenz Hirschfeld, hätte es jene Bedürfnisse erfüllt, nach denen sich die Riehls in ihrem Haus gesehnt haben mögen : « Es gibt gewisse Wirkungen des Landlebens und der Gärten, denen man Tempel widmen kann. Der Tempel der Heiterkeit, der Ruhe, der Vergessenheit der Sorgen, der Selbstbetrachtung »21. Der Landschaftsgärtner Peter Joseph Lenné hatte die Potsdamer Seenlandschaft

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im Süden Berlins in Zusammenarbeit mit Karl Friedrich Schinkel und dessen Schülern in Form malerischer Raumbeziehungen angelegt. Beide Disziplinen hatten Anteil an ihrem Gelingen : Dem Landschaftsarchitekten ist das Haus Knotenpunkt im landschaftlichen Netzwerk, der Architekt schafft einen Ort der Kontemplation, von dem aus man die Landschaft erlebt – in seinem Schutz verwandelt sich die Natur zum ästhetischen Schauspiel. Es sind fabriques, die der englische Landschaftsgarten sich aus der französischen Revolutionsarchitektur entlehnt,22 gebaute Orte in einer zur Landschaft gewordenen Natur. Johann Heinrich Gustav Meyer bemerkt im Lehrbuch der schönen Gartenkunst, diese Landschaft der Aufklärung habe, weil sie sich die « Werke der Natur »23 zum Vorbild nehme, den Status des Geschmäcklerischen hinter sich gelassen, folge « allgemein gültigen ästhetischen Grundsätzen ». Da das Haus Riehl tatsächlich in einer solchen Gegend gelegen ist, kann Fritz Neumeyer für den wiederkehrenden philosophischen Grundsatz der hier verwirklichten Raumidee bekräftigen : « Die Intention des Entwurfs ist bereits im Lageplan evident. Hier treffen zwei unterschiedliche ‹ Reiche › räumlich aufeinander : Im einen herrscht der Verstand, seine Fähigkeit zur Abstraktion, ausgedrückt in der Geometrie der Anlage ; im anderen aber dominiert die vorgängige Natur mit ihrem Reichtum organischer Formen, die weniger strengen Gesetzen zu gehorchen scheint. »24 Ein solches Landhaus ist angewiesen auf seine landschaftliche Umgebung und ihr Erlebnis. Die entscheidende Raumidee : Eine Halle, eine hell vom Tageslicht erleuchtete Fensterfront, die nach draußen lockt. Doch selbst beim Austritt in die Loggia begäbe man sich in einen Zwischenraum – der Ausblick wäre gerahmt durch Architektur, während die Landschaft sinnlich auf das Haus eindringt. Die Ordnung des Hauses, das hierin seine Bestimmung zu finden scheint, durch eine Gesellschaft am runden Tisch, auf sich konzentriert und doch auch auf eine Fernlandschaft gerichtet, überdies durch die ‹ Kojen › der angelagerten Nebenräume und Nischen mit dem Garten verbunden, wurde der zeitgenössischen Leserschaft bereits in den Schwarz-Weiß-Abbildungen der Zeitschrift Innendekoration vermittelt. Eine Postkarte mit Blick auf das verwachsene Ufer des Griebnitzsees entschädigt für nicht überlieferte Fotografien des beschriebenen

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Die Halle des Hauses Riehl mit Blick ins ‹ Helle ›, Neubabelsberg 1907

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Erlebnisses zwischen Haus, Garten und Landschaft. Sie demonstriert die grazile, oft hastige Linie der reduzierten Landschaftsdarstellung Mies’scher Handzeichnungen, die an diesem Ort ebenfalls ihren Ursprung gefunden haben könnte. Sanfte Uferlinien und Hügelzüge, üppiges Gebüsch werden seine Projekte mit der Selbstverständlichkeit dekorativer Inszenierungskunst begleiten, für die sie viele wohl auch gehalten haben. Vollends ausgeprägt ist die fließende Konturlinie seines Landschaftsideals, das stets im Gegensatz zur scharfkantigen Form des Hauses steht, etwa beim Projekt für einen Golfclub in Krefeld aus dem Jahr 1930. Im Begleitschreiben vermerkt Mies über die nicht realisierte Anlage : « Breitgelagerter, kahler Kegel, der die Landschaft weithin beherrscht und von dem von Süden über Westen nach Norden der Blick über eine weite, offene Landschaft schweift. »25 In diesem Projekt ist, was beim Haus Riehl noch ein Garten war, reduziert auf einen ‹ Luftraum › zur Vermittlung von Nähe und Ferne, auf Terrassen in geometrischer Strenge. Sie gehören nun zu Mies’ Repertoire wie die architektonische Rahmung des Ausblicks. Um als Gestalter dorthin zu gelangen, benötigte sein Architekturgedanke noch weitere Schritte und Jahre. Die durch ein Wohnhaus verwirklichte Vermitteltheit von Ferne und Nähe, die ästhetisch angeleitete ‹ Verwandlung › von Natur und Wohnen gehört der geistigen Schicht in Mies’ architektonischer Ordnung an. Bei der hier ins Werk gesetzten Erfahrung handelt es sich um mehr als ein schlichtes Vergnügen. Es ginge um eine tiefgehende Versöhnung in turbulenten Zeiten : Wissenschaft und Philosophie, Geist und Technik stehen in der Moderne einander gegenüber und fallen im ästhetischen Erleben doch nicht auseinander. Zu diesem Schluss kommt Alois Riehl in seiner Einführung in die Philosophie der Gegenwart aus dem Jahr 1903 – und betont zugleich den Zusammenhang beider Pole : « Je mehr die wissenschaftliche Erkenntnis, gleichviel von welchem Gebiete aus, ihrem Ziele sich nähert, in eben dem Maße wird sie philosophisch. [ …] Wissenschaft und Philosophie sind heute nicht mehr zu trennen. »26 In einer weiteren Textstelle des damals höchst populären, mehrfach aufgelegten Buchs, das sich in Mies’ Bibliothek befand, verlagert sich die angesprochene Dualität in die Erkenntnisweise des Menschen selbst. Riehl schreibt dem ästhetischen Erleben eine wesentliche Rolle zu und folgt

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« 11. 10. 1932 », Postkarte vom Griebnitzsee 

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darin nur seinem ‹ Lehrmeister › Immanuel Kant : « Der Verstand erschöpft nicht das Wesen des Geistes, und die Bestimmung des Menschen geht nicht im Erkennen auf. »27 Die Frage der ‹ geistigen Dimension › des Bauens war in der Geschichtsschreibung der Klassischen Moderne lange absent. Ähnlich erging es der Naturästhetik in der Gartenkunst. Bereits Mies’ erstes Haus ist hingegen ein Instrument der naturästhetischen Erfahrung, das Haus « räumlicher Ausdruck geistiger Entscheidungen »28. An diesem Projekt wird er festhalten und in seinen Notizbüchern vermerken : « Philosophisches Verstehen offenbart erst die rechte Ordnung unseres Dienstes und damit Wert und Würde unseres Daseins. »29 Sachlichkeit, Konstruktion : Raumgefühl Für das Haus mit Satteldach und Fledermausgiebel, das die Riehls unter Mies’ Hilfe errichteten, hat der Architekturhistoriker Barry Bergdoll auf das Vorbild eines Bauernhauses bei Langfuhr hingewiesen.30 Die topografische Situation an einem steilen Hang, der durch eine schwere, geschoßhohe Mauer gehalten wird, sowie das Loggia-Motiv verwiesen darüber hinaus auf das Sommerhaus der Architekten Carlo Stahl und Emil Schuster in Süddeutschland. Es könnte auch aus Paul Mebes’ Buch Um 1800 stammen. In wenigen Architekturbüros der Zeit dürfte es nicht aufgelegen sein.31 Mies steht in einer langen Tradition und doch inmitten seiner Zeit. Das Haus Riehl ist nicht nur Initiator einer persönlichen Entwicklungsgeschichte, ein landschaftlicher Ort in der wachsenden Großstadt, es ist seine vorläufige Antwort auf der Suche nach adäquatem architektonischem Ausdruck : Ein Landhaus, das die Frage nach dem Wohnen mit der ‹ Natur › stellt und sich zugleich den Herausforderungen der Metropole aus privilegierter Perspektive zuwendet. Um 1900 zählt Deutschland zu den führenden Reformländern Europas, da es die Konsequenzen der Industrialisierung später zu spüren bekam als England, das Mutterland der Industriellen Revolution. Deutschland stand im « Mittelpunkt der europäischen Baukultur »32, wie der Architekturund Stadthistoriker Leonardo Benevolo festhält und auf mehrere Gründe zurückführt – unter anderem darauf, dass mangels eines « Präzedenzfalls

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die Bildung einer aufgeschlossenen und fortschrittlichen Minderheit von Wirtschaftlern, Politikern und Künstlern » begünstigt wurde. Diese geriet in lenkende und leitende Positionen, förderte Erneuerungsbewegungen in der Architektur. Solche Leute verkehrten auch im Hause Riehl : Industrielle, Intellektuelle, Politiker. ‹ Um 1800 › lautete wiederum der weitgehende Konsens unter jenen deutschen Architekten des Wilhelminismus, die sich vor dem Ersten Weltkrieg und vor dem Neuen Bauen zur Reformarchitektur zählen Unter ihnen befand sich die Vorgängergeneration der Avantgarde der 1920erJahre, so auch Mies’ Lehrer Bruno Paul und Peter Behrens, die sich wie August Endell oder Richard Riemerschmid zunächst über den Umweg des Münchner Jungendstils der Architektur angenähert hatten. Die Publikation Um 1800 fungierte als « Sammelbecken »33 für eine in der Luft liegende Stimmung, die sich kritisch sowohl gegenüber dem Jugendstil wie auch dem Stileklektizismus der vorausgehenden Jahrzehnte zeigte. Es setzt auf die Neuaneignung architektonischer Ausdrucksmittel aus der Mitte des 17. Jahrhunderts bis ins frühe 19. Jahrhundert. Ihr Formengut sucht Mebes vor allem im Wohnhaus.34 Im Jahr 1908 publiziert, erfährt das mit rund sechshundert Illustrationen ausgestattete Werk mehrere Auflagen ; Bruno Paul gestaltete den Einband. Wie schon die neun Bände der 1901 bis 1917 in München erscheinenden Kulturarbeiten Paul Schultze-Naumburgs oder Max Dvoráks Katechismus der Denkmalpflege aus dem Jahr 1916 bedient sich diese Programmschrift der Anschaulichkeit vieler Bilder. Erlesene und doch zurückhaltende Schwarz-Weiß-Fotografien von selbstverständlich anmutenden Häusern und Interieurs illustrieren die beiden Bände, denen eine schüttere schriftliche Einleitung vorausgeht. Die Namen von Architekten fehlen – unter den Abbildungen tauchen höchstens jene der Fotografen auf. Umso deutlicher die Intention des Autors : Es geht um eine allgemeine, von der Allgemeinheit getragene Baukunst. Bereits der Untertitel, Architektur und Handwerk im letzten Jahrhundert ihrer traditionellen Entwicklung, rekurriert auf die verlorene, zu reanimierende Einheit einer architektonischen Lebensform. Dabei soll von der Willkür Abstand genommen werden, mit der man sich in den letzten Jahrzehnten historischer Ausdrucksformen bedient habe. Als Grund

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dieses Scheiterns gibt Mebes das Auseinandertreten der titelgebenden Instanzen ‹ Architektur › und ‹ Handwerk › an.35 Dass Architektur aus der Zeit heraus und daher aus den Lebensverhältnissen der Menschen entstehen müsse, dafür liefert er dennoch ein dezidiertes Bekenntnis : « Man wird stets an den Werken weit zurückliegender Jahrhunderte Belehrung und Anregung in Hülle und Fülle finden, aber man kann diese unter gänzlich anderen Kulturverhältnissen entstandenen Schöpfungen nicht ohne Weiteres auf unsere heutigen Bedürfnisse übertragen. »36 Und so behauptet er, dass die Bauten des 18. Jahrhunderts « durchwegs einen Geist atmen, der unseren heutigen Anschauungen und Ansprüchen mit unwesentlichen Einschränkungen noch vollauf entspricht. » In die Welt von Mebes’ Buch ist jedoch die Industrialisierung noch nicht vorgedrungen. In seinem ‹ Panorama › bleiben die großen Bauaufgaben der Zeit ausgeklammert : Bahnhöfe, Industrie- und Gewerbequartiere, der Massenwohnbau. Eine seltsam künstliche Welt, diese Großstadt ohne Automobil und Arbeiter.37 Ein Neo-Biedermeier, das auf Wiederholung des Typischen vorbildlicher deutscher Städte wie Berlin, Bremen, Dresden, Frankfurt, Hamburg, Karlsruhe, Leipzig, Mannheim oder auch Basels und Kopenhagens zählt.38 Dennoch steht das Ornament hier in Verruf : « Nur wenige bedeutende Künstler vermögen heutzutage ein charakteristisches, sowie zeichnerisch und technisch vollendetes Ornament zustande zu bringen. Doch wie eine schlicht gekleidete Frau ohne jeden Schmuck, allein durch die edle Gestalt und die Anmut der Haltung schön erscheint, so wird uns auch ein Bauwerk ohne Ornament vollauf ästhetisch genügen, wenn die Hauptbedingungen, nämlich Grundriss, Aufbau und Durchführung, glücklich gelöst sind. »39 Bei aller Sicherheit, auch ohne Ornament Schönheit erreichen zu können, identifiziert Mebes darin weiterhin die noble Aufgabe, einen « Gegenstand aus dem Alltäglichen herauszuheben »40. Die Schmuckform dürfe allerdings nicht zu oberflächlichem « Flitter und zur Schminke herabgewürdigt » werden. Darauf weist damals auch Heinrich Tessenow hin, wenn das Ornament erst dort nicht mehr als oberflächliche Zutat auftrete, wo zunächst für das Lebensnotwendige gesorgt ist. Und so vergleicht er sein Erlebnis mit Mohn im Kornfeld : « in der großen breiten Nützlichkeit ein zweites Lachen [ …] möglichst still, sehr nebenbei. »

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Nicht planbar sei das echte Ornament – wie das Leben, wie die Natur. Es würde aus ihm wachsen. Aus der kultivierenden Tätigkeit, die Sorge trägt für das Alltägliche, entstünde ein « Mehr ». Dieses Ornament gleicht einem Aufmerken in der Masse, in der Regelmäßigkeit des Nützlichen. Es ist ein Geschenk der Natur, das aus dem Alltag über diesen hinaus blickt.41 Diese Suche nach Klarheit und Vereinfachung entspricht Mies’ architektonischer Entwicklung. Allerdings wird seine Sympathie für das Solide und die Reduktion der Mittel den Herausforderungen der Technik nicht ausweichen : Er macht sie gerade zu seinem Thema. Neben das Handwerk und die Sachlichkeit tritt die Industrialisierung. Und wie so oft in der Geschichte der Baukunst ist die Konstruktion der Ort der Auseinandersetzung mit neuen Möglichkeiten. Raum und Konstruktion waren für Richard Lucae bereits vor 1900 die zentralen Themen einer Zeitenwende. Von dem Direktor der Berliner Bauakademie, einem Nachfolger Schinkels, ist bis auf das Frankfurter Opernhaus und zwei Vorträge wenig erhalten geblieben. Diese aber machen noch heute eine Debatte nachvollziehbar, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts das professionelle Selbstverständnis des Architekten angesichts der neuen Bauaufgaben der Großstadt, angesichts der Herausforderungen von Massenbeförderung und Massenunterkunft, von neuen Baustoffen – vor allem von Eisen – hinterfragt. Kurzum : Lucaes Gedanken veranschaulichen in der Nachfolge Gottfried Sempers und Karl Böttichers eine Dynamik, die den Ingenieur vom Architekten abspalten und nicht nur die Entwicklung der Berliner Architektur beeinflussen wird.42 Lucae sucht nach Objektivierung der zentralen Gestaltungsaufgabe in einem weiterhin als künstlerisch aufgefassten Fach. ‹ Stil › sei nicht mehr entscheidend – er habe sich zu allen Jahrhunderten, in der ganzen Welt stets erst aus elementareren architektonischen Ausdrucksmitteln ergeben. In Zeiten neuer konstruktiver Mittel sei er zudem von geringem Einfluss, meint er in einem Vortrag, den die Zeitschrift für Bauwesen unter dem Titel Über die Macht des Raumes in der Baukunst im Jahr 1869 abdruckt.43 Der Raum gilt nun als das entscheidende Thema der Architektur ; mit einer « fein organisierten Empfindung »44 verhelfe ihm der Architekt zu « bestimmtem Charakter ». Durch Licht und Form – daneben auch durch Maßstab und Farbe – schaffe er Räume, deren

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Ausdrucksvermögen vom Lächerlichen bis zum Erhabenen reiche. Unter dem Einfluss eines psychologischen Interesses für den Raum, das sich in diesen Jahrzehnten artikuliert, begibt sich Lucae auf die Suche nach objektiven Elementen des Bauens, die es zu einer ‹ Wissenschaft › der Empfindungen zu steigern gelte. Mies wird die hierbei unterlegte Spaltung der Disziplinen anerkennen, die Rolle des ‹ Technikers › jedoch als limitiert ansehen – die Gestaltung von Räumen kann nicht getrennt werden vom wesentlichen Aspekt der Konstruktion. Der Ausdruckswert von Licht und Form, die Korrelation beider auf der ‹ Bühne Architektur ›, im Wohnraum, das wird Mies’ Thema – es wird ihm weniger um das Lächerliche gehen als um das Erhabene. Auch Lucae geht es nicht um individuelle Präferenzen oder um Geschmäcklerisches, wenn er seine Raumstudien vor seinen Zuhörern und Lesern mit dem Besuch eines Wohnzimmers beginnt : « Ich führe Sie also in die unbewohnten nackten Räume. Woran liegt nun bei gleicher Form ihre oft so entgegengesetzte Wirkung? Vor allem an dem verschiedenen Lichte, welches der Raum hat. Und zwar ist nicht nur in der Menge desselben, sondern auch in der Art, wie es im Raume verteilt ist, dabei von sehr großem Einfluss. » Unmittelbar wird der Raum in diesem Konzept nicht nur mit den gestalterischen Mitteln – in diesem Fall der Fenstersetzung –, sondern mit dem Charakter verbunden, den er weckt. Das Zusammenspiel von Ausdruck und Eindruck verbindet den Architekten mit der Wahrnehmung eines Bewohners. Dass Lucae dabei noch in einer Welt vor Einbruch neuer technischer Möglichkeiten verbleibt, belegt etwa seine Abneigung gegen die allzu große Öffnung der Wandflächen : Figürliche Darstellung von Pflanzen und Tieren, aber auch fiktive Landschaften müssten auf Wandmalereien im « raumumschließenden Sinn » gestaltet werden. Es gelingt ihm allerdings, wenn er sich in der Folge vom Wohnzimmer einer Bahnhofshalle zuwendet – einem Beispiel « allermodernsten Lebens », einem Ort des Aufbruchs und der Ankunft, einem Zwischenort zwischen Verweilen und Unterwegs-Sein –, jenes Potenzial moderner Technik aufzuzeigen, das ein Architekt eben nicht aus der Hand geben dürfte. Über diesen, von einer mächtigen Eisenkonstruktion und von Glas bestimmten, Raum schreibt er : « Wir fühlen : Der geniale Geist, der diesen Raum schuf, ist derselbe,

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der ihn draußen in der Besiegung der Ströme und in der Durchbohrung der Alpen überwunden hat. Aber der Maßstab übt hier fast ausschließlich seine Macht allein, wenigstens in den meisten Räumen, die bisher in dieser Richtung entstanden sind. Man hat ihnen einen so prosaischen Zweck vindizieren wollen, dass man, vereinzelte Fälle ausgenommen, die Kunst dabei fast entbehren zu können geglaubt hat, und doch wurden die übrigen Raumkräfte und besonders das Licht und die Form künstlerisch verwendet, auch diese Räume auf eine ästhetisch höhere Stufe heben zu können. » Genau das bezeichnete die Aufgabe eines künftigen Architekten, den « großartigen Konstruktionsgedanken » zu einem « bedeutungsvollen Schönheitsgedanken werden zu lassen ». Ihr wird sich Mies stellen. Freilich ist damit auch ein gravierendes Problem artikuliert : die Polarität zwischen der Mechanik der physischen Kräfte und ihrer künstlerischen Transformierung zum Ausdruck von Ideen. Zwischen « Idealität » und « Realität » vermittelnd, müsste ein solcher moderner Raum entstehen, « denn die reine sichtbare mathematische Konstruktion ist ebenso wenig eine fertige Leistung der Kunst, als der menschliche Körper mit seinen offen liegenden Muskeln und Bändern, oder gar nur sein Gerippe eine lebensfähiges Geschöpf der Natur ist », erkennt schon Lucae. Theodor W. Adorno wird noch 100 Jahre später die philosophische Problematik ansprechen, die im Hintergrund wirkt – nach den beiden Weltkriegen, nach einer tiefen Erschütterung, die vor allem jene Generationen zu spüren bekommen, die nicht mehr – wie etwa Le Corbusier oder Mies – in einer gesättigten Tradition aufwuchsen. Adorno hält seinen Vortrag am 18. Mai 1966 im Wiener Palais Pálffy, unweit des LoosHauses am Michaelerplatz. In leicht abgeänderter Form hat er seine Gedanken bereits im Oktober des Vorjahres bei der Versammlung des Deutschen Werkbunds in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert und wird sie unter dem Titel Funktionalismus heute auch publizieren. Es ist eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen er explizit über Architektur spricht. Dabei wendet er sich gegen eine Architektur, die er als « unbehaglichen Wiederaufbaustil »45 kennzeichnet, in dem « es sich eigentlich gar nicht mehr wohnen lasse »46. Wiewohl auch er sich für die Sachlichkeit als zentrales Charakteristikum modernen Bauens ausspricht, sei diese noch immer auch « auf Ästhetik angewiesen »47. Schönheit stellt sich

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für Adorno allerdings nunmehr als « dialektisches Kräfteparallelogramm » dar – ein architektonisches Werk müsse heute « innere Widersprüche »48 in sich austragen. Adorno diskutiert diese mit Blick auf Adolf Loos : Nicht mehr selbstverständlicher Bedeutungsträger, wäre es dennoch ein Missverständnis, das Ornament nur als Zutat zum nackten Baukörper zu verstehen. Denn als solche habe es die geschichtliche Dynamik vom Bauwerk abgeschieden – als « verwesend Organisches, Giftiges »49. Des im Ornament verhandelten Impulses sei das Kunstwerk allerdings keineswegs überdrüssig, obgleich – oder gerade weil – es eben nicht erfunden werden könne. Adorno verweist an dieser Stelle kritisch auf den Jugendstil, denn dem Ornament kämen immer symbolische und funktionale Eigenschaften zu. Und so erfasst er das Los der Architektur – das eigentlich das Los der Moderne ist – mit philosophischer Schärfe : der Kunst stehe kein « Kanon des Richtigen und Falschen »50 mehr zur Verfügung. Es sei « jedem Werk selbst solche Reflexion aufgebürdet, ein jedes muss sich auf seine immanente Logik überprüfen. » Zwischen dem Fetischcharakter der Verkunstung (Jugendstil) und ihrer Angleichung an die Ware durch die Affirmation von Nützlichkeit und Technik (Industrieprodukt) müsse die Architektur ihren Standort in der Gesellschaft immer wieder neu suchen. Adorno ist sich der Bedeutung der Natur in seinem Vortrag bewusst, denn schon am historischen Bauwerk wäre sie in Form von Ornamenten ‹ aufgeblitzt › : Das Ornament habe seinen « Ursprung in Naturgestalten, denen die Menschen durch ihre Artefakte sich anpassen »51 mussten. So wäre es vor dem Zeitalter der Maschine gewesen, für die Moderne hält Adorno indes fest, « dass in Kultur weder die ungehobelte Natur ihre Stätte hat noch deren unbarmherzige Beherrschung. »52 Wie also, nach Ende des Ornaments als Kulturform der Natur, nach Ende der Stilform, könnten Architektur und Natur weiterhin zusammenspielen? Statt einer Architektur mit aufgeklebtem Ornament findet Adorno einen Begriff, der auf Lucae und letztlich auch auf Mies zuträfe : Raumgefühl.53 In einem zweiten Vortrag Über die ästhetische Ausbildung der EisenConstructionen prägt Lucae den Begriff eines « Raumbildes »54 und gibt so Aufschluss über den Zusammenhang neuer technischer Konstruktionsweisen und Baustoffe im Eindruck des erhabenen Raums der Archi-

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tektur : Dieser habe unsere Phantasie zu beflügeln. Der Architekt müsse hierfür die Berechnung des Ingenieurs der Phantasie unterwerfen. Adorno wiederum erklärt für eine Dialektik der Moderne, die Gegensätze nicht vorschnell aufhebt : « Architektonische Phantasie wäre demnach das Vermögen, durch die Zwecke den Raum zu artikulieren, sie Raum werden zu lassen ; Formen nach Zwecken zu errichten. Umgekehrt kann der Raum und das Gefühl von ihm nur dann mehr sein als das arm Zweckmäßige, wo Phantasie sich in die Zweckmäßigkeit versenkt. »55 Das klingt freilich nicht nur dialektisch, sondern auch rätselhaft und wird sich wohl erst am konkreten Werk, an Mies’ Konstruktionsform erklären – im Wechselspiel mit dem Einwirken der Landschaft. Landhaus und Großstadt In seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen fordert Nietzsche – der deutsche Philosoph der Jahrhundertwende, zu dessen Entdeckung und Verbreitung Alois Riehl maßgeblich beiträgt – die kreative Deutung der Vergangenheit aus der Gegenwart. Er warnt davor, sich von der Geschichte vereinnahmen zu lassen : « Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen : aber es gibt einen Grad, Historie zu treiben, und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet : ein Phänomen, welches an merkwürdigen Symptomen seiner Zeit sich zur Erfahrung zu bringen jetzt ebenso notwendig ist, als es schmerzlich sein mag. »56 Und so meint ein vorwärts blickender Karl Scheffler, einflussreicher deutscher Kulturpublizist seiner Zeit, im 1913 in Berlin publizierten Buch Die Architektur der Großstadt gleich zum Auftakt und nicht ohne Pathos : « Die Stätte, wo der Kampf um die neue Baukunst ausgetragen werden muss, ist die Großstadt, weil sich dort in natürlicher Weise die geistigen Kräfte der Zeit zusammenziehen, weil die Großstädte, als die Zentren moderner Zivilisation, der Architektur neue Voraussetzungen profaner und idealer Art schaffen, weil die Idee der Großstadt langsam, aber sicher Besitz ergreift vom Gemeindebegriff auch der kleineren Städte und weil die Großstadtgesinnung sich darum mehr und mehr das ganze Land unterwirft. »57 Diese neue Stadt befinde sich allerdings in einer « problematischen Übergangssituation »58 – es fehle ihr an

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Gestalt. Von historischen Stadtformen unterscheide sich die moderne Metropole, da sie nicht mehr « des Landes wegen da » sei, sondern, umgekehrt, das Land « recht eigentlich nur noch der Großstadt wegen ». Neben der anhaltenden Aktualität dieses Befunds und seiner Folgen für die europäische Kulturlandschaft betont Schefflers umfassender Begriff von Urbanität die sozialen Begleiterscheinungen einer Massengesellschaft, die prekäre Situation benachteiligter Gesellschaftsschichten in einer entgrenzten und amorphen Stadt. Ein Bewusstseinswandel, ein neuer Takt des Lebens – anders als jener langsamere des Dorfes oder der historischen Stadt – erfasse jene Menschen, die kein Stückchen Garten mehr bearbeiten könnten, nicht mehr zum Spaziergang an ihren grünen Rändern angeregt würden, in ihrem Wohnumfeld nicht einmal mehr einen Baum zu Gesicht bekämen. Der verlorene Zusammenhalt von Stadt und Land steht für ihn in direktem Bezug zur Besonderheit der modernen Großstadt : ihrer « weltwirtschaftlichen Ausrichtung »59. Wenig später wird das Wort ‹ Internationalisierung › aus dem Architekturdiskurs nicht mehr wegzudenken sein ; ‹ Verdinglichung › und ‹ Entfremdung › lauten die begrifflichen Pendants aus der kritischen Gesellschaftstheorie. Nichtsdestotrotz entfaltet Scheffler seine reformistischen Gedanken mithilfe der überlieferten Mittel der Stadtbaukunst. In seiner freimütigen Analyse sucht er die « Großstadtgesinnung »60 mit der häuslichen Form der Familie zusammenzuführen. Ohne mit Kritik zu sparen, verweilt er weder in Anklage noch in Ratlosigkeit und gelangt schließlich beim Haus an – dem kleinsten Baustein der Stadt. Unter gewissen Umständen würde dieses erneuert den direkten Zugang zur « Natur » erlauben. Überhaupt begreift Scheffler die Stadt als Teil einer größeren « Naturgeschichte »61, liest sie als Organismus, für den die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnstätte und das Ende der Selbstversorgung durch den eigenen Garten einen tiefen Einschnitt bedeutet, den es zu reparieren gelte. Etwas von der Konkretheit des Lebens, seiner Anschaulichkeit, scheint verloren gegangen. Über die ‹ soziale Frage › und die Kritik an der bürgerlichen Villenund Repräsentationskultur kommt Scheffler auf den ‹ Typus Landhaus › zu sprechen. Er böte der bürgerlichen Schicht eine angemessene Wohnform, aneinandergereiht zu Siedlungshäusern auch den Arbeitern in einer

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funktional und gesellschaftlich ausdifferenzierten, dennoch als formale Einheit erdachten Stadt. Gegenüber dem aktuellen Konzept der Gartenstadt, deren Tragfähigkeit vom Willen einzelner Unternehmer und der Koppelung an Fabriken abhänge, bevorzugt er die Vorstadtsiedlung, um der Landflucht etwas entgegenzuhalten und das urbane Leben strukturell zu organisieren. Scheffler handelt sie als möglichen Ort guten Wohnens in einer von Familienbetrieben getragenen Wirtschaftsmetropole – setze sich nur endlich politisch eine zentrale Wohnungspolitik durch, gesellschaftspolitisch das Ende der Grundstücksspekulation. Der Sachlichkeitsgedanke herrscht auch in seinem Programm einer künstlerisch verfeinerten, ländlichen Bauweise vor, aus der Scheffler sein Vorstadthaus ableitet. Seine Überlegung, die bürgerliche Kultur der Familie – mit ihr eine Kultur der sozialen Verantwortung und des humanen Wettbewerbs – könne die moderne Metropole tragen, scheint aus heutiger Sicht zwar naiv, bleibt aber immerhin kohärent mit der Vorstellung eines solchen Hauses verbunden. Sein Grundriss sollte sich aus der Lebensführung der Bewohner entfalten. Dementsprechend wären die Räume aus ihrer Nutzung abzuleiten, das Schreibzimmer vom Schreibtisch, das Esszimmer vom Esstisch etc., nicht « individuell »62, « persönlich » sei es zu gestalten, aus den « Zweckmäßigkeiten der modernen Lebensform ». Stadtgefühl, Familiengefühl und der Bezug des Eigenhauses zum Garten wären darin vereint, es böte eine angemessene Lösung für das Leben der Arbeiter, Handwerker und Bürger.63 Scheffler resümiert in proklamatorischem Tonfall : « Kunststil kann nur sein, wo vorher Lebensstil ist. »64 So ähnlich wird das Mies auch sagen. Ein Jahr zuvor erschien in Berlin die deutsche Ausgabe von Mackay H. Baillie Scotts Häuser und Gärten bei Ernst Wasmuth. Im Vorwort schreibt sein Übersetzer, Wilhelm Schölermann, von der « allgemeinen Gartennot »65 der Zeit, vom Zusammenhang von Hausbau, Einrichtung, Familienleben und Staatswohl. All dies soll in diesem ‹ Wohnratgeber › – nach Vorbild populärer ‹ Gartenbücher › – durch das historische englische Haus vermittelt werden ; mithin ein Versprechen, trotz Vorherrschaft des Kapitalismus, durch « nüchterne Nützlichkeit » die « Wohnschönheit » des englischen Vorbilds zu erreichen. Die Hässlichkeit heutiger Vorstadthäuser müsse hierfür gemildert werden, meint Autor Baillie Scott nun

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selbst und verweist ein weiteres Mal auf den Alltag als Ausgangspunkt der Reform : « Der wahre Platz der Kunst ist im Dienste des täglichen Lebens. »66 Um indessen das ungeordnete Auseinanderfallen der einzelnen Räume zu verhindern, käme es auf den zentralen Raum an, den Hauptraum, die traditionelle Halle, an die sich die anderen Wohn-Bedürfnisse wieder anlagern müssten – wie beim alten, englischen Haus und nicht wie bei dem, von den Reformern geschmähten, Villengrundriss. Baillie Scott blickt hinter dessen langsames Wachstum auf die Urform eines architektonischen Gebildes zurück – es habe sich gegenwärtig zu einem komplizierten, unübersichtlichen Organismus verformt. Die Halle, der alte Haus-Kern, müsse daher wieder zur « Erweiterung des Speisezimmers »67 werden, ein Ort des « Umeinander-Kümmerns », dann wäre der richtige Weg eingeschlagen. Mies hat das mit dem Haus Riehl und seiner Wohnhalle erfolgreich durchexerziert. In einem Gespräch mit seiner Tochter Georgia van der Rohe meint er darüber hinaus, auch sein Neubabelsberger Haus sollte ein Bauwerk mit schlichtem Aussehen und Gauben in der märkischen Bautradition, ein Landhaus, werden.68 Zu den ältesten überlieferten, wenn auch nicht signierten Zeichnungen aus Mies’ Hand zählt ein Bündel von Skizzen, die erste Überlegungen für das Haus Riehl anstellen. Erst im Jahr 2012, in der revidierten Fassung der umfassenden Mies-Biografie Franz Schulzes, werden drei dieser lockeren Bleistiftzeichnungen der Öffentlichkeit präsentiert.69 Von späteren Eigentümern des Hauses nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in einem Koffer gefunden, den sie zusammen mit dem sanierungsbedürftigen Bauwerk erstanden hatten,70 stellen sie verschiedene Varianten zur Ausformulierung des Baukörpers dar : Immer treten vier gemauerte Pfeiler und eine hangseitige Loggia in Erscheinung – jene Loggia, die Halle und Landschaft wie ein Filter aneinander vermittelt. Das an dieser Seite zum See abfallende, schmale Grundstück fängt Mies mit der erwähnten, geschoßhohen Mauer ab. So wird der Garten in einen formal gestalteten, nivellierten Eingangsbereich und eine landschaftlich-freie, tiefer gelegene und weiterhin abschüssige Zone geteilt. Das Haus selbst aber erhält einen massiven Sockel, der es topografisch verankert.71 Würde man von der Halle aus in einen einfachen Garten treten, böte die

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Loggia einen Blick in die Ferne.72 Auch in Baillie Scotts Augen beginnt der Wunsch nach Aussicht eine immer entscheidendere Rolle zu spielen :73 In die Ferne schauen und das Lebendige vor dem Fenster – beide Formen ästhetisch genossener Natur macht das moderne Landhaus zum Thema und somit zum Teil des großstädtischen Lebens. Selbst wenn der einflussreiche englische Architekt in der gestiegenen Lust am visuellen Naturschauspiel ein Zugeständnis an den urbanen Menschen und sein Naturempfinden macht und so das ‹ neue Landhaus › vom englischen Haus unterscheidet. Doch nicht Baillie Scott, sondern Hermann Muthesius war die Leitfigur jener Industriekultur, die das englische country house zum Modell des neuen deutschen Hauses auserkoren hat. Der Architekturhistoriker Julius Posener spricht über die vernachlässigte Periode des Berliner Bauschaffens, in der Mies sein erstes Haus errichtet, von der « Landhausbewegung »74. Sie halte zwar nur von 1908 bis 1919 an, das Landhaus aber werde dabei zum Ausdruck einer neuen Lebensweise. Als ihr Kopf gilt eben Muthesius, auch wenn eine Gruppe von Architekten die bemerkenswerte Reform im Hausbau, die damit einhergehe, vor dessen Rückkehr aus England vorbereitet hatte.75 Von 1896 bis 1903 als Attaché an der deutsche Botschaft in London, sollte er die fortschrittliche englische Kultur erkunden und aus England berichten. Gebaute Häuser begleiten seine einflussreichen Schriften und Vorträge. Wie schon bei Baillie Scott oder auch Scheffler setzt er die entwerferische Arbeit am Grundriss mit dem direkten Ausdruck von Wohnbedürfnissen gleich. Eine Bemerkung Poseners ist hier von ganz besonderem Interesse : Durch Muthesius erst habe der Architekt im Grundriss zu entwerfen gelernt. Versteht man dieses Prinzip allerdings als Abstraktionsvorgang, droht ein gegenläufiger Reduktionismus : Das in die Form geflossene ‹ Leben › würde sich durch den Umkehrschluss im Schematischen verfangen, würde verarmen.76 Muthesius war nicht nur entscheidend für die Reform des Hausbaus, sondern insgesamt für die Verbesserung der als rückschrittlich empfundenen deutschen Kultur der Jahrhundertwende maßgebend. Dieser Aufgabe wird sich auch der Deutsche Werkbund nach seiner Gründung im Jahr 1907 annehmen. Vom englischen Vorbild, der Arts and Crafts Bewegung, unterschied er sich allerdings dadurch, dass weder dem Handwerk,

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noch dem Serienprodukt der klare Vorzug gegeben wurde, « der Werkbund dagegen, der Kunst, Industrie und Handwerk, die alle nach ganz verschiedene Methoden und Gewohnheiten arbeiten, unter einen Hut bringen möchte, beginnt mit einem zunächst unbestimmten methodischen Problem, das durch den vagen Begriff Qualitätsarbeit gekennzeichnet ist. »77 Dies wird bald für interne Streitigkeiten sorgen und letztlich die Persönlichkeit der ersten Stunde, Muthesius, in den Hintergrund drängen. Im Juni 1914, vor der formalen Vielfalt der ersten großen Leistungsschau des Werkbunds auf dem heutigen Gelände der Kölner Messe, entfaltet sich zwischen Hermann Muthesius und Henry van de Velde jener bekannte Konflikt um das richtige Verständnis des Typus, der als ‹ Werkbundstreit › in die Architekturgeschichte eingegangen ist. Muthesius’ Zehn Thesen treffen auf zehn Gegen-Thesen seines Kontrahenten. Über das Verhältnis von Form und Typus erläutert ersterer : « Nur mit der Typisierung, die als Ergebnis einer heilsamen Konzentration aufzufassen ist, kann wieder ein allgemein geltender, sicherer Geschmack Eingang finden. »78 Baukunst wird hier entschieden entpersonalisiert, zur Aufgabe einer gemeinsamen Kultur. Genau in diesem Punkt widerspricht ihm der aus dem Jugendstil kommende van de Velde : « Solange es noch Künstler im Werkbund geben wird und solange diese noch einen Einfluss auf dessen Geschicke haben werden, werden sie gegen jeden Vorschlag eines Kanons oder einer Typisierung protestieren. Der Künstler ist seiner innersten Essenz nach glühender Individualist, freier spontaner Schöpfer » – und der Architekt ein Künstler. Muthesius’ Landhäuser allerdings setzen sich aus der erlebten englischen Wohnkultur zusammen ; er untersucht in ihnen eine Architektur als kulturgeschichtliches Artefakt – als Abdruck der jeweiligen Lebensverhältnisse, die sozusagen den häuslichen Grundriss organisieren, wie umgekehrt dem Haus selbst eine ordnende Kraft beigemessen wird. Und doch bliebe für den individuellen Ausdruck Platz in einer solchen Bauweise – wie Muthesius’ eigene, vielgesichtigen Häuser belegen. Das allzu Persönliche und Dekorative dürfe nur nicht zum Programm werden, oder, in Worten, wie Mies sie in den Mund gelegt werden, die Muthesius indes von Hamlets Mutter borgt : « More matter, with less art. »79

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Das artikulierte Ideal der Sachlichkeit des Landhaus-Wohnens führe seine eigene Schönheit mit sich, wie Posener meint und in diesem Zusammenhang Muthesius’ grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Möglichkeit anspricht, bedeutungsvolle Architekturformen in der Moderne noch künstlerisch zu bewältigen. Sie könne in einer « nicht einheitlichen Kulturlage »80 gar nicht mehr das « Utopische » in sich bergen. Dem Landhaus spricht er hingegen « die Poesie einer Lebensform » zu. Der Weg zur Form dieses Hauses führe durch seinen Gebrauch, dem ein großstädtischer Wunsch nach « Naturnähe » eingeschrieben ist. Die Landhausbewegung stelle folgerichtig den Gegenpol zum Jugendstil dar, einer aus « graphischen » Prinzipien entwickelten Baukunst. Muthesius äußert gegenüber den « Exzentrizitäten »81 einer solchen, als selbstgenügsame Kunst aufgefassten Architektur : « Die freien Künste sind gewissermaßen Ausnahmen des täglichen Lebens, wir wenden uns zu ihnen, wenn wir Befreiung von dem Täglichen suchen. Die Architektur dagegen als die rhythmische Fassung unserer täglichen Lebensbedürfnisse bildet den ruhigen Hintergrund, auf den sich dann das Außerordentliche des Lebens erst aufbauen mag. » Die Betonung liegt auf den Begriffen ‹ alltäglich › und ‹ rhythmisch ›. Ein gravierender ideengeschichtlicher Einschnitt habe nämlich zur Folge gehabt, dass eine vom Rhythmus des alltäglichen Lebens durchdrungene Architektur in der Moderne erst wiedergewonnen werden müsse. Der Begriff ‹ Sachlichkeit ›, den Muthesius im ersten Band seiner Trilogie Das englische Haus aufgreift und auf die Reform der Baukunst anwendet, hat hier seinen Ursprung : « Was aber am englischen Hause von eigentlichem, ausschlaggebendem Werte ist, ist seine völlige Sachlichkeit. Es ist schlecht und recht ein Haus, in dem man wohnen will. Da ist kein Aufwand an Repräsentationsanlagen, kein Phantasieerguss an Ornament und Formenkram, kein Aufblähen des Natürlichen und Zurechtmachen zum Künstlerischen, keine Prätention, selbst keine Architektur. »82 Für Muthesius verkörpert die Sachlichkeit des englischen Hauses eine « anspruchslose Natürlichkeit », durch die sich Lebensform und Form zusammenfügen.83 Im englischen Landhaus, einer langsam gewachsenen Hausform, habe sich etwas von der alten « rhythmischen Kultur » erhalten, erklärt

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Muthesius. Die Landhauskultur sei eine « Feierabendkultur »84, meint wiederum Posener, der sie noch aus nächster Nähe erleben durfte. Eine Feierabendkultur, die den Alltag würdigt. Das häusliche Leben verbindet das in seine Teilbereiche – wie in Zimmer – auseinander gefallene, moderne Großstadtleben durch eine gewisse « Vollkommenheit », der Freude an der Vollständigkeit und alltäglichen Dienstbarkeit der Dinge. Weiterer Schmuck scheint nicht vonnöten, ja, hinderlich zur Ordnung der Lebensvollzüge. Die Reform des Wohnens müsste auch die Gegenstände des Alltags erfassen, ohne diese zum Gesamtkunstwerk zu stilisieren. In einem Vortrag an der gerade eröffneten Berliner Handelsschule im Jahr 1907, angesichts der Dritten Kunstgewerbe-Ausstellung in Dresden, meint Muthesius, dass es erstmals gelungen sei, die « Maskeradenscherze »85 der Nachahmung vergangener Stilformen hinter sich zu lassen. Auf diese Weise hätte man nur « Falsifikate » in die Welt gesetzt. Die « Form des Wohnens » aber sei heute eine andere geworden : Aus dem Gebrauchszweck heraus gelte es Gegenstände zu gestalten, « Zweck, Material und Fügung geben dem modernen Kunstgewerbler die einzigen Direktiven, die er befolgt. Das Ergebnis ist freilich nicht immer ein solches, dass die Form des neu zu bildenden Gegenstandes durch die Rücksicht auf diese drei Gestaltungsgrundsätze restlos bestimmt wäre. Denn es tritt zwischen den Verstand und die Hand des Bildners das menschliche Gefühl. »86 Wie für das Landhaus, erkennt Muthesius auch für das Kunstgewerbe eine glückliche Tendenz zu Vereinfachung und Klarheit. Wie Adorno und zuvor bereits Lucae meinten, vollzöge sich dieser gestalterische ‹ Fortschritt › nur dialektisch : Immer bietet ein reiches menschliches Erleben den entscheidenden Rückhalt. Unter dem programmatischen Titel Wo stehen wir? betont Muthesius dann auf der Jahresversammlung des Deutschen Werkbundes in Dresden, im Jahr 1911, vor einer Riege gewichtiger Architekten wie Bruno Taut, Walter Gropius, dem von der Kunstakademie in La Chaux-de-Fonds aus entsandten Charles Edouard Jeanneret und auch vor Mies : « Weit wichtiger als das Materielle ist das Geistige, höher als der Zweck, Material und Technik steht die Form. Diese drei könnten tadellos erledigt sein, und wir würden, wenn die Form nicht wäre, doch noch in einer Welt der Rohheit leben. »87 Die moderne Architektur müsse zu einem baulichen

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Ausdruck finden, der im Tempel der Griechen, im Thermensaal der Römer, im gotischen Dom oder dem Fürstenzimmer des 18. Jahrhunderts bis hin zu Schinkels Bauten noch selbstverständlich war. Nach Auflistung dieser typologisch so verschiedenen, historischen Referenzen hebt Muthesius erneut hervor, dass architektonische Form aus dem Leben, aus einer gemeinsamen Kultur entstehen müsse. An der Architektur zeige sich der Geschmack eines Volkes, an ihr attestiert er den Rückgang des generellen Kunstempfindens, der in eine umfassendere, epochale Wende eingeschrieben sei, die er an dieser Stelle auch näher zu erklären sucht : « Wir beobachten, dass vom 18. Jahrhundert an die Aufmerksamkeit der Menschheit nach der Richtung des verstandesmäßigen Erkennens gefesselt wird. »88 Bis dahin wäre das Leben noch von einem Sinn für « Rhythmus » getragen gewesen : « Damals konnte denn auch eine Architektur als Überzeugung eines Zeitalters lebendig sein, denn in gewissem Sinne war die ganze Lebensführung architektonisch. » Abgesehen von dieser generalisierenden Kulturtheorie aus Sicht eines einzelnen Metiers, steht der Hinweis auf einen ideengeschichtlichen Umbruch im 18. Jahrhundert und die Erwähnung einer polaren Kultur, die vom Bestreben nach Geistigkeit und Rationalität durchdrungen wäre, auf einem breiten geistesgeschichtlichen Fundament. Zu dieser Zeit entwickelte die philosophische Naturästhetik Begriffe, um die Ausdifferenzierung der modernen Weltbezüge zu beschreiben und der Natur eine gewichtige Rolle im Alltag der Menschen zuzuweisen. Der Architektur aber käme in der Moderne jene Aufgabe zu, diese Polarität durch Gestaltung zu überbrücken. Was für Muthesius auseinander getreten war, fand er schon im Jahr 1903 in seinem wohl wichtigsten Essay, Stilarchitektur und Baukunst, in der Komplementarität einer « ideal-sanitären »89 und einer « ästhetischen Anschauung » aufgehoben. Sein Streben nach kultureller Erneuerung, das in der Feierabendkultur des Landhauses seinen Kristallisationspunkt gefunden hatte, setzt sich für eine bewusst hervorgerufene, neue Einheit der geistigen und körperlichen Bedürfnisse ein, denn « dem wirklich kultivierten Menschen bereiten Rohheiten der Form fast körperliche Schmerzen »90. Das Hauptziel des Werkbunds, künstlerische mit industriellen und kaufmännischen Bestrebungen in Einklang zu bringen,91 ist

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hier vom Wunsch nach geistiger Versöhnung getragen, die mit einer neuen Zuwendung zu den Dingen und zur Natur zu tun hat. Muthesius’ Bestrebungen galten dem Landhaus, nicht der Villa. Die an ihr applizierten Stilformen verglich er nicht als einziger mit den spätlandschaftlichen Repräsentationsgärten, wie sie etwa in Carl Hampels Musterbuch Hundert kleine Gärten aus dem Jahr 1893 zu finden waren und vielen Zeitgenossen noch immer zum Vorbild dienten. Dabei folge man neuerlich einem trockenen Schematismus ; aus diesen Abziehbildern wüchse keine lebendige Form, die einem Typusbegriff entspräche, der eher ein Ideal denn ein fertig anwendbares Rezept darstellte. In der Beliebigkeit des Stilpluralismus, in die der spätlandschaftliche Garten eingebunden war, sah Muthesius sogar ein Kennzeichen der verlorenen Einheit von Leben und Form, jenes « Rhythmus », der ihn theoretisch beschäftigt und den er – wie ein übergeordnetes Erklärungsmodell – seinen praktisch ausgerichteten Schriften einschreibt : « Früher gab es keine Stile, sondern nur eine gerade herrschende Kunstrichtung, der sich mit völliger Selbstverständlichkeit alles unterordnet. Erst im neunzehnten Jahrhundert wurde die Menschheit aus diesem künstlerischen Paradies vertrieben, nachdem sie vom Baume der historischen Erkenntnis gepflückt hatte. »92 Was Muthesius in die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies kleidet, ist ein unumkehrbarer Erkenntnisprozess, ein Erwachen, durch das man die Moderne auch kennzeichnen kann : ‹ Zusammenhang › muss nun gestaltet werden. Später wird noch der Begriff ‹ Entzweiung › fallen. Im Jahr 1927 meint dann Mies : « Das Leben ist das Entscheidende. In seiner ganzen Fülle, in seinen geistigen und realen Bindungen. »93 Seine Suche nach dem ‹ Wesen › der ‹ Baukunst › – zwei Wörter, die er immer wieder bemühen wird – bündelt er prägnant in den Worten : « Nur Lebensintensität hat Formintensität. » Naturräume Hermann Muthesius – dem hier gewissermaßen die Rolle zukommt, das kulturelle Feld von Mies’ Anfängen auszudeuten, über das dieser selbst gerne schwieg – entwirft in den Vorstädten Berlins rund ein Dut-

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zend vorbildlicher Bauten, darunter sein eigenes Haus. Von diesem Wohnhaus aus den Jahr 1906, an der Potsdamer Chaussee gelegen, blickt man – wie von einer Kanzel – auf einen archaischen Naturraum. Er richtet dieses und das benachbarte Haus Freudenberg darauf aus wie Mies das Haus Riehl auf den Griebnitzsee. Zunächst müsste man einen dicht mit Kiefern bestandenen Waldgarten passieren, um auf eine Lichtung, folglich auf den Vorplatz des Hauses zu gelangen ; von einer Gartenterrasse, unter einer Pergola stehend, nachdem man die Wohnräume durchschritten hat, schaute man auf die eiszeitliche Naturgeschichte der Stadt : Ein Zwischenurstromtal, das seit den 1960er-Jahren unter Landschaftsschutz steht. Die Rehwiese erstreckt sich über eineinhalb Kilometer, vom Nikolassee aus passiert sie als schmale Niederung eine vorstädtische Wohngegend. Diese Konstellation ist typisch für den Reformgarten der Zeit : die Polarität aus geometrischer Strenge in Hausnähe und ‹ landschaftlicher Ferne ›. Die Gartengeschichte spricht in diesem Zusammenhang hingegen meist nur vom ‹ Architekturgarten ›, die darüber hinaus bestehenden, großräumlichen Beziehungen vernachlässigend.94 Entsprechend klingen – auf den ersten Blick – die Definitionsmerkmale des Landhauses in Muthesius’ Schriften. In seinem Handbuch aus dem Jahr 1915, Wie baue ich mein Haus?, das innerhalb eines Jahrzehnts mehrere Auflagen erfährt und rund hunderttausend verkaufte Exemplare zählt, definiert er das Spezifische des Landhauses durch seine Lage. Es bleibt eingebunden in den Stadtraum, umgrenzt von urbanen Elementen wie Straßen, Gehsteigen, Alleen. Der Unterschied zwischen Haus und Landhaus zeige sich in dessen Loslösung von der Straße durch allseitige Umgrünung. In einem Kapitel seines Buches über die Stellung des Hauses auf dem Grundstück betont er daher, ohne die Landschaft als Teil diese Konzepts zu erwähnen : « Es liegt nach allen Richtungen frei, keine seiner vier Seiten ist gegen die andere im Nachteil. Daraus folgt, dass hier die Möglichkeit gegeben ist, allen Räumen so viel Luft und Licht zuzuführen, als nur gewünscht wird. [ …] Ein zweiter, nicht minder wichtiger Vorteil des Landhauses ist der, dass stets eine unmittelbare Verbindung des Hauses mit dem umgebenden Garten hergestellt werden kann. Denn der Garten, das muss festgehalten werden, ist ein unabtrennbarer Teil des Landhauses ; ein Haus ohne Garten würde kein Landhaus sein. »95

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Dieser trockene Rat für diejenigen, die ein Landhaus bauen wollen, erklärt auch nicht die kulturgeschichtliche Rolle, die eine Natur jenseits des Gartens für Haus und Großstädter einnehmen wird. Übertönt wird diese Leerstelle durch harsche Kritik an der noch vorherrschenden landschaftsarchitektonischen Gestaltungsweise. Bereits im Jahr 1885 wurde erste Kritik am spätlandschaftlichen Gartenstil der Lenné-Meyerschen Schule durch Alfred Lichtwark, den Kunsthistoriker und späteren Direktor der Hamburger Kunsthalle, laut.96 Im Jahr 1887 gegründet, war die Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst auf die Bewahrung des Lennéschen Erbes ausgerichtet, die den Englischen Landschaftsgarten in dessen Geiste weiter verbreitete. Anregungen zu einem architektonischen Gartenstil, der Formalisierung der Gestaltungselemente, gehen in der Folge – neben den Schriften von Muthesius und Paul Schultze-Naumburg – von Max Laeuger, Josef Maria Olbrich, aber auch Peter Behrens aus, in dessen Babelsberger Büro Mies im Oktober 1908 zu arbeiten begonnen hat. Als wesentlicher Schritt auf der Suche nach einer neuen Gartenkultur für das ‹ neue Haus › gelten die beiden Wettbewerbe der auflagenstarken Zeitschrift Die Woche – unter reger Beteiligung von Architekten. Im Jahr 1907 fand ein Wettbewerb zum Thema Hausgärten statt, in dessen Ausschreibungstext Fritz Encke « die regelmäßige Einteilung »97 des Gartens bevorzugte, denn « Naturszenerien in kleinerem Maßstabe » wären unbedingt zu vermeiden. Muthesius hatte sich beim vorgängigen Wettbewerb zum Thema Sommer- und Ferienhäuser ähnlich geäußert und war – neben den Architekten Richard Riemerschmid, Paul Schultze-Naumburg und Bruno Paul, so wie dem Gartendirektor Walter von Engelhardt aus Düsseldorf – Mitglied des reformorientierten Preisgerichts. Die beachtliche Anzahl von 299 eingereichten Entwürfen wird im Folgejahr in einem Sonderheft des August Scherl Verlags unter dem Titel Hausgärten. Skizzen und Entwürfe aus dem Wettbewerb der Woche in Berlin publiziert – der Verlag verhilft dem formalen Hausgarten zu einer Art Musterbuch für zeitgemäße Gartenplaner.98 Es verwundert daher nicht, dass Friedrich Bauers Siegerprojekt für einen ‹ Garten am Ufer eines Elbarms › den Häusern Muthesius und Riehl nicht unähnlich sieht.

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Behrens’ gemeinsam mit Konrad Bartels gestalteter Sondergarten auf der Großen Gartenbau-Ausstellung in Düsseldorf von 1904 zählt als weiterer wichtiger Reformschritt. Er ist streng geometrisch, um eine zentrale Achse angelegt, durch raumbildende, beschnittene Hecken, hölzerne Gartenmöbel, Treillagen und eine direkte Wegführung gekennzeichnet. In der Klarheit und Geometrie der architektonischen Formensprache konnte er auf die Villenbauten Josefs Hoffmanns für die erste Wiener Künstlerkolonie auf der Hohen Warte zurückblicken, die gerade fertiggestellt worden waren.99 Bei der zeichnerischen Darstellung des älteren Gartens für sein eigenes Haus auf der Darmstädter Mathildenhöhe aus dem Jahr 1901 gewinnt man den Eindruck, er wäre tatsächlich zum gewünschten ‹ Zimmer im Freien › geworden, so sehr ist die Bepflanzung zu einer grünen Masse stilisiert, die einen Raum komfortablen Aufenthalts umgrenzt wie eine Hauswand. Behrens äußert sich auch schriftlich zu dieser Gestaltungsfrage. In der Abendausgabe des Berliner Tageblatts vom 10. Juni 1911 bekräftigt er, der moderne Garten sei « ein ebenso notwendiger Teil der Wohnung wie das Badezimmer .»100 Seine räumliche Anlage entwickle sich aus der geometrischen Figur des Hausgrundrisses, aus dessen « Bodenlinien », die die « Gegenform » des Grundstücks bestmöglich zu gliedern hätten. Anders als später für Mies, könne die Gartenbepflanzung gar nicht « üppig genug » sein, um beim städtischen Haus den « seelisch läuternden Anschluss an die Natur » herzustellen und den Bewohner zum « organischen Sein » zurückzuführen. Nicht nur die im Artikel geäußerte generelle Einschätzung der Gartenkunst in Deutschland, auch die explizit ausgedrückte Sehnsucht nach einer neuen Einheit im ‹ Organischen › könnte von Muthesius stammen, der sie in einer ‹ rhythmischen Kultur › suchte. « Wie lange wird der Englische Garten bei uns noch sein Wesen treiben? », fragt dieser in seinem kurzen Anhang zur Entwicklung der Gartenkunst am Ende des ersten seiner drei Bände über das englische Haus, das zur Zeit der Düsseldorfer Ausstellung erstmals erscheint. Muthesius erzählt seine eigene Gartengeschichte, die aus dem Vorsprung der englischen Kultur ihre Vorbildlichkeit für Haus und Garten der Gegenwart begründet. Der Landschaftsgarten trete zwar seit « etwa hundert Jahren als ausschließliche Mode »101 am Kontinent auf. In England selbst habe

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man sich seiner in den letzten fünfzig Jahren entledigt. Dort herrsche nun ein Gartenstil vor, « der nicht die äußere Natur nachahme, sondern zu dem Hause in künstlerischer Beziehung steht. » Haus und Garten sollten wieder zusammenrücken, « Garten, Haus und Innenraum »102 als Einheit erachtet, der Garten folglich nach dem Modell des Hauses – geometrisch – gestaltet werden. Gärten, die die freie Natur zum Thema haben und auf ein « künstliches Wildmachen »103 setzten, folgten dagegen einer Ästhetik des « Wachsfigurenkabinetts », werden als romantische « Schwärmerei » klassifiziert. Die Hintergründe dieser « Fehlentwicklung » erklärt Muthesius kompakt : « Man wollte die Reize der freien Natur in nächster Nähe seines Hauses haben. Was lag näher, als sich ein Verzeichnis davon zu machen und sie im Kleinen nachzuahmen. Der sich durch die Wiese schlängelnde Bach, der Hügel, der Waldessaum mit den unregelmäßig hervorspringenden Ecken, der Weiher, alles wurde herangezogen. » Die hier kritisierte Natürlichkeit stellt sich als Überzeichnung der Natur dar, als künstlich, denn eine fehlgeleitete « Romantik brachte die künstlichen Ruinen in die Gärten, der griechische Klassizismus die Tempel, die Erschließung des Ostens die Pagode, alles in verkleinertem Maßstabe und in spielerischer, verbildeter Form. Ist es darüber hinaus eine Maßstabsfrage – mithin eine Definitionsfrage –, die für Unklarheit sorgt? Schließlich war der Wald, die frei wachsende Natur Teil seines eigenen ‹ Landhausgartens › – so auch des Riehlschen? Muthesius spricht im Zusammenhang mit seinem ‹ Landhausmodell › vorrangig vom Hausgarten, es geht ihm um das ‹ Gekünstelte › des Gartens in unmittelbarer Hausnähe, um die Suche nach einer neuen ‹ rhythmischen Kultur › aus der ‹ Sachlichkeit › des Wohnens. Im Garten kritisiert Muthesius den mimetischen Fehlschluss der englischen Landschaftsgärtner von Pope bis Repton, für die gegolten habe : « Der Garten ist Kunst. Also ist es das Beste, bei seiner Anlage die Natur nachzumachen. »104 Eine Landhauskultur in der Enge der Vorstadt müsse eine andere Gestaltungsweise zur Grundlage haben, nun gelte : « das Formlose ist das Unnatürliche »105. Muthesius denkt zudem entwicklungsgeschichtlich, denn der neue Garten könne keineswegs zu den « Grundsätzen des alten Gartenbaues »106 zurückkehren, habe sich einer demokratische Gesellschaft anzupassen.107 Er spricht dabei den formalen Gartenstil des

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Barock an, den der Englische Landschaftsgarten – durchaus das Symbol einer liberalen Gesinnung – ja ablöste. So aber gelangt Muthesius zum eigentlichen und neuen Gestaltungsprinzip seiner Reform von Haus und Garten, das die Integration der Landschaft – des « Formlosen » – in die Landhauskultur unter gewissen Bedingungen zuließe : « Dass der Mensch sich dazu entschließt, die Zufälligkeiten der Natur im kleinen Rahmen seines Gartens in gedrängter Steigerung nachmachen zu wollen, ist ein völlig unnatürlicher Zustand. Wer Natur will, findet deren genug außerhalb der Gartenmauer. »108 Anders gesagt : Die Landschaft spielt ihre Rolle als Gegenpol zu Haus und Garten, der « geometrisch geordnete Garten ist für das Haus, ästhetisch genommen, die Basis, auf der es sich aufbaut wie das Standbild auf dem Sockel. » So aber liegen das Haus und der Garten – mit der formalisierten Minimalausstattung aus Terrasse, Blumenbeet und Rasenplatz – als tektonische Gebilde der Industriekultur der gewachsenen Landschaft gegenüber. Muthesius’ Reformziel wiederholt die Idee einer neuen ‹ rhythmischen Kultur ›, die in diesem räumlichen Spannungsverhältnis eine besondere, dialektische Ausprägung erhält. Die zugrundeliegende gartenkünstlerische Haltung kann daher mit seinen eigenen Worten präzisiert werden : « regelmäßige Anlage innerhalb deutlich sichtbarer Abgrenzungen, hinter diesen Abgrenzungen aber Wildnis, d. h. die unverfälschte Natur in Form von Wald, Wiese, Heide, Feld oder was es gerade sei. »109 Ist die Natürlichkeit des Gartens als Teil des Hauses gewährleistet, wenn er ein « natürliches Erzeugnis der menschlichen Hand »110 darstellt, also geometrisch in Erscheinung tritt, wird die Natur hinter der Gartenmauer – die allerdings vom erhöhten Standpunkt des Hauses und seinen umgebenden Terrassen unmittelbar erlebt würde – zum seltsamen Stück ‹ landschaftlicher Natur › in der Stadt. Dort wird der Wald « als Wald gepflegt, d. h. es werden die natürlichen Waldblumen in größere Menge angesät, auch in Gruppen gesammelt, so dass sie stets durch reichen Flor erfreuen. Die natürlichen Bedingungen des Wuchses werden überall verbessert und so der Natur nachgeholfen, jedoch derart, dass Fälschungen der Natur durch künstliche Szenerien oder Kulissenanordnungen vermieden werden. »111 Im Sinne landschaftlicher improvements stellt Muthesius im zweiten Band seiner Landhaus-Trilogie das gärtnerische Vorgehen in einer solchen

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um das Landhaus liegenden ‹ Stadt-Landschaft › dar.112 Entscheidend ist : « Wald und Wiese bleiben immer noch das, was sie auch im natürlichen Zustande sind. »113 Muthesius’ Kulturtheorie bestätigt sich, sein Missfallen am künstlich-organischen Ausdruck der Zeit ging weiter, erfasste nicht nur den Jugendstil sondern auch die Gartenkunst, und suchte doch Ergänzung in der Lebendigkeit der Natur, einer Landschaft jenseits der Gartenmauer, die sich dem Zugriff der Gestaltung weitgehend entzieht.114 War ihm die gestalterische mimesis an der organischen Form in Hausnähe verwerflich erschienen, tritt sie als räumliches Komplement des Wohnraumes auf.115 Wird das Wohnen im großstädtischen Landhaus zum Garten geöffnet, der Garten zum erweiterten Wohnraum, so ist die Landschaft jener Ort, den man als der Gestaltung vorgängig erachtet, zu dem ein Landhaus sich ‹ exzentrisch › verhielte wie dessen Bewohner. Muthesius betreibt eine klare, räumliche, auf Bedeutungszuschreibungen beruhende Staffelung des Raums. Die Natur der Landschaft zeigt sich in ihrer physis, ihrem unberührten Wachstum, als dem Gemachten wesentlich Verschiedenes, das die ästhetische Erfahrung eines Landhausbewohners wertzuschätzen weiß. Es ist diese ‹ Einheit der Gegensätze › zwischen dem ‹ Reich › des Wohnens und dem ‹ Reich › der Natur, durch die das Lebendige eine konkrete Rolle im großstädtischen Leben spielt. In Mies’ Landhäusern wird es neue Form gewinnen. Die Natur der Natur An einem heute wenig bekannten Protagonisten der Gartenreform wird der geistige Hintergrund dieser Entwicklung deutlicher : Walter von Engelhardt, auf den schon Peter Behrens in den letzten Zeilen seines Artikels für das Berliner Tageblatt verwies. Das Verhältnis von Kultur und Naturform werde durch ihn « geistvoll » erfasst und könne nicht « besser dargestellt » werden, liest man dort. Auch als Wettbewerbsjuror der Woche ist er bereits aufgetreten.116 Engelhardt, im Jahr 1864 geboren, aus Mies’ Generation, doch aus altem deutsch-baltischem Adel stammend, unternimmt mit seinem Buch Natur und Kultur in der Gartenkunst im Jahr 1910 den Versuch, die beschriebene räumliche Trennung von Haus,

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Garten und Landschaft auf eine philosophische Ebene zu heben.117 Es zählt zu den einflussreichsten einschlägigen Veröffentlichungen seiner Zeit. Nachdem er über die Frage des zeitgemäßen Gartens in der Zeitschrift Die Gartenkunst mehrfach publiziert hat, wird er 1908 – gemeinsam mit Fritz Encke – als Erster seines Fachs von Hermann Muthesius in den Deutschen Werkbund berufen. Im selben Jahr entwirft er den Düsseldorfer Hansaplatz. Dieser gilt als modellhafte Lösung einer großstädtischen Platzsituation. Und so wandelt die Großstadt Engelhardt zum Reformer, der statt « Schablonen der Repräsentation »118 eine « funktionale Gartenkunst » fordert. Sein Hauptargument für den Wandel in der Gartenkunst ist der « Zweck » – der Gestalter müsse vor allem « den Zweck im Auge behalten ». Allerdings warnt er zugleich vor jeglichem Dogmatismus und sieht im geometrisierenden Architekturgarten einen möglichen neuerlichen Schematismus aufkommen. Als Theoretiker und Praktiker, als einstiger Anhänger Lennés und nunmehriger Vertreter der Reformbewegung sucht er der Natursehnsucht des Großstädters Worte zu verleihen. Er definiert die bislang nur räumlich dargestellte Polarität zwischen dem geometrisch angelegten Hausgarten und der Landschaft begrifflich als « kulturell erschlossene Natur » und « Natur-Natur » und bezieht sie folglich auf die geistige Konstitution des Großstädters : « Zwiefach wird dieser Eindruck in der Lebensbetätigung wirksam werden : das Selbstbewusstsein aktiver Herrscherkraft des Könnens, der Kultursinn für selbstständiges Formen und Gestalten der Umwelt, – und auf der anderen Seite das passive Gefühl der Abhängigkeit von einer bindenden Macht, die uns Ehrfurcht gebietet und uns unser Nichtkönnen zum Bewusstsein bringt, der Sinn für das Fragen und Suchen in der Natur. »119 Zwischen diesen beiden Gegensätzen, die wie « Magnete » wirkten, entfalte sich die Persönlichkeit des modernen Menschen. Er müsste diese geistige Spannung aus « Aktivität » und « Passivität », aus Kontrolle und Verlust von Kontrolle über die Dinge aushalten, die ihm räumlich vor Augen liegt. Durch den beschleunigten Alltag der Metropole, ihre ‹ weltwirtschaftliche Ausrichtung › drohe ihm dies jedoch zu entgleiten. Während hier keine Rede mehr von romantischer Naturschwärmerei ist, zeigt sich die urbane Naturerfahrung doch durch ein

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« passives Gefühl » und ein « ideelles Moment » gekennzeichnet : Die Natur der Kontemplation hält in die Geschichte der modernen Gartenkunst Einzug.120 Die Frage nach dem Charakter, nach der ‹ Natürlichkeit › der Natur hat sich in viel grundsätzlicherer Weise schon beim Naturideal des Englischen Landschaftsgartens gestellt – der von den Gartenreformern um 1900 eingeleiteten Entwicklung liegt dieser letzte große Gartenstil daher weiterhin ideengeschichtlich zugrunde. Der Blick noch weiter zurück lohnt daher, um auf diese Weise die Integration des Lebendigen in die Reform von Haus und Garten besser zu verstehen. Einigen Reisenden auf der Grand Tour, so auch Anthony Ashley, Third Earl of Shaftesbury, ist der vorausgehende Barockgarten nunmehr höchst ‹ unnatürlich › erschienen. Sein Interesse galt der konkret vor Augen liegenden Natur, dem ‹ Genius of Place ›. Erste Grundlagen eines neuen, ‹ landschaftlichen Naturbegriffs › verfasste er bereits zwischen 1709 und 1711 in Form von Essays für literarisch-moralische Wochenschriften. Der englischer Dichter, Politiker und Journalist der frühen Aufklärung, Joseph Addison, äußerte sich über das unter englischen Intellektuellen viel diskutierte, neue Ideal in noch tastendem Tonfall : « I do not know whether I am singular in my opinion ; but, for my own part, I would rather look upon a tree in all its luxuriance and diffusion of boughs and branches, than when it is thus cut and trimmed into a mathematical figure. »121 Im zweiten Band von Shaftesburys Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times aus dem Jahr 1732 wurde die ‹ freie Natur › bereits als Instanz mit ‹ ästhetischem › Eigenrecht anerkannt –122 Eingriffe in sie galten als Störung ihrer inneren Ordnung, die den Menschen gleichermaßen berührten. Die Herausbildung der ästhetischen Naturerfahrung als spezifische Weise des Erlebens zeichnete sich in der kontemplativen Anteilnahme der Seele an der Natur ab : « The intuition of the beautiful, which is to be distinguished carefully from the mere sensation of the beautiful, arises only from such contemplation, which is not simply a passive condition of the soul but the purest sort of activitiy, namely, the activity peculiar to the soul. »123 In der Kritik der Urteilskraft wird Immanuel Kant gegen Ende des 18. Jahrhunderts dann eine genauere Unterscheidung des – reflexiven – ästhetischen Wohlgefallens von den sinnlichen Freuden des Angenehmen

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vornehmen : Ersteres sei ohne praktisches Interesse am Gegenstand selbst, daher eben kontemplativ, und speise sich weder allein durch die Sinne noch die Verstandestätigkeit.124 In der älteren Kritik der reinen Vernunft von 1781 hat der menschliche Erkenntnisapparat noch streng kausal und mechanisch funktioniert : Sinnesdaten affizieren die Anschauungsformen ‹ Raum › und ‹ Zeit › und werden – vereinfacht gesagt – im Erkenntnisvorgang folglich nach ‹ Begriffstafeln › geordnet. Die reflektierende Urteilskraft von Kants ‹ Ästhetik › hingegen schließt vom Besonderen auf ein Allgemeines, das weder den Sinnen noch dem Verstand ‹ gegeben › sei : Tätig würde eine menschliche Vernunft als Vermögen zu ‹ transzendentalen Ideen ›. Die Erfahrung erhabener Natur nimmt Kant schließlich zum Anlass, über eine höhere Einheit der Vernunft zu reflektieren. Angesichts der Größe und Macht der Natur drohe der Mensch als physisches Wesen zunächst zu scheitern, ja, vernichtet zu werden,125 und doch : « Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt. »126 Die Widerständigkeit, die eigentliche Unwohnlichkeit der Natur, die unmittelbare und doch geistig anregende Wirkung insbesondere der Erfahrung des Großen und Unendlichen in ihr, fache den Menschen zur Idee seiner intelligiblen, geistigen Freiheit an, denn die « Unerforschlichkeit der Idee der Freiheit schneidet aller positiven Darstellung den Weg ab »127. Im naturästhetischen Erleben sind die Kant’schen Erkenntniskräfte « in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt. »128 Anders gesagt : Die Anschaulichkeit der Natur übersteigt das Verstehen und verweist auf einen ganz anderen Bereich unserer Existenz. Diese Natur ist verschieden von der Natur der Naturgesetze, der physischen Welt und doch wirkt sie ganz konkret auf uns, haben wir ein Interesse daran, dass sie uns « einen Wink gebe »129 – wie Kant es nennt –, sie stimme mit unserem Hoffen und Wünschen, unseren geistigen Zielen überein. Der Zwiespalt einer vom Verstand durchdrungenen, gänzlich zweckmäßigen Welt und einer ästhetischen « Erscheinungswelt », die in uns die Ideen eines möglichen Lebens voll Sinn und Bedeutung anstimmt, betrifft den modernen Menschen im Kern seines Selbstverständnisses. Auch in Engelhardts « polarer Natur » war das angedeutet. Kant will

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im Naturästhetischen gar ein « Symbol des Sittlichen »130 erkennen, denn durch dessen Erfahrung könne man – im Sinne der Aufklärung – sein Handeln an Vernunftideen messen : Man setze sich mit einem geistigen Möglichkeitsraum in Kontakt, der die Gestaltung des Lebensraums tangieren müsste.131 Mensch, Kultur und Natur sind auch hier über die Form des Gemeinwesens aneinander gebunden, in der die ‹ Natur › offensichtlich eine besondere Stellung einnimmt. Friedrich Schiller, der zu den frühen Interpreten Kants zählt, sucht sich dessen ästhetische Systemphilosophie praktisch anzueignen und auf seine eigene Tätigkeit, die Dichtkunst, zu beziehen. Dass der Mensch sich in der Landschaft ‹ frei › fühle und dass dieses Gefühl seine Gestaltungen erfüllen solle, darüber schreibt er in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, die er im Lauf des Jahres 1793 an den Augustenburger Prinzen richtet, ausführlich.132 Im fünfzehnten Brief fasst er seine Überlegungen über zwei gegensätzliche Triebe zusammen : den Stofftrieb, dessen Gegenstand das Leben sei, und den Formtrieb, der « alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich fasst »133, und postuliert als Forderung der Vernunft : « Es solle eine Gemeinschaft zwischen Formtrieb und Stofftrieb, das heißt, ein Spieltrieb sein, weil nur die Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit mit der Notwendigkeit, des Leidens mit der Freiheit den Begriff des Menschen vollendet. »134 Fühlen und Denken, Materie und Geist, Naturgesetz und Sittengesetz sollten also im menschlichen Spieltrieb in einer Weise miteinander verbunden sein, die dem Menschen seine geistige Freiheit durch Natur und Kunst zu erfahren hilft :135 « Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. »136 Schiller ist sich des fordernden Charakters seiner Briefe bereits bei deren Veröffentlichung bewusst, da das junge demokratische Gemeinwesen im Terror der Französischen Revolution zu ersticken droht. Der Auftrag seiner Schrift ergeht daher vor allem an die ästhetische SelbstErziehung ihrer Leser, die den Zusammenhang zwischen ästhetischem Erleben und der Gestaltung des Gemeinwesens sichern soll. Dabei formuliert Schiller mit gedanklicher Scharfsicht Grundlegendes für das

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strukturelle Verständnis der ästhetischen Erfahrung : « Die Schönheit ist also zwar Gegenstand für uns, weil die Reflexion die Bedingung ist, unter der wir eine Empfindung von ihr haben ; zugleich aber ist sie ein Zustand unseres Subjekts, weil das Gefühl die Bedingung ist, unter der wir eine Vorstellung von ihr haben. Sie ist also zwar Form, weil wir sie betrachten, zugleich aber ist sie Leben, weil wir sie fühlen. Mit einem Wort : sie ist zugleich unser Zustand und unsre Tat. »137 Durch diese Verortung des Ästhetischen zwischen ‹ Tat › und ‹ geistigem Zustand › zeigt sich – in einer weiteren Polarität – das paradoxe Angehaltensein der ästhetischen Kontemplation zur Praxis, zur Schaffung eines bedeutungsvollen Lebensraums, in dem der Mensch und die Natur – zumindest ideell – ‹ frei › durch die Formen der Kultur in Erscheinung treten würden. Nicht um eine Natur an sich kann es dieser Naturästhetik somit gehen, sondern um den Modus ästhetischer Erfahrung, in der sich die Idee der ‹ Freiheit › auf den Menschen überträgt.138 Gerade in der modernen Großstadt wird das zu einer entscheidenden Qualität werden. Schillers Unmut über die ‹ Verkünstelung › der Natur, die er 1795 in einem kurzen Beitrag zum Gartenkalender äußert, erscheint vor diesem Hintergrund nur schlüssig. Ähnlich wie Muthesius gegen die Kulissenhaftigkeit des spätlandschaftlichen Villengartens, wettert er am Beispiel des Seifersdorfer Tals bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert gegen eine zum « Empfindungskult »139 verkommene Gartenkunst. Durch Wilhelm Gottlieb Beckers Buch Das Seifersdorfer Thal hatte dieses als Ausflugsziel einige Jahre zuvor große Popularität erlangt. Im nahe Dresden gelegenen Ensemble wartete auf die Besuchermassen etwa eine ‹ Linde der Ruhe ›, eine ‹ Quelle der Vergessenheit ›, ein ‹ Tempel des Andenkens ›, ein ‹ Altar der Wahrheit › oder ein ‹ Stein der Tugend › – 140 mitunter Ausdruck des zeittypischen, oftmals dilettantisch betriebenen Verschönerungswunsches, der die urbane naturästhetische Sensibilität durch eine Reihe von Parkdenkmälern zu Ergriffenheit steigern wollte und an das Sentiment der begeisterten Spaziergänger appellierte.141 Schiller allerdings erkennt darin einen affektierten Geschmack am Werk und nimmt dieses Fallbeispiel zum Ausgangspunkt, die erläuterten philosophischen Überlegungen an den Praktiker zu richten.142 In seinem Beitrag für den Tübinger Gartenkalender bringt er die Gartenkunst tatsächlich auf die Höhe der

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philosophischen Debatte.143 Drei Tage nach Bitten seines Verlegers Cotta schickt er bereits eine fertige Rezension an den Herausgeber des Taschenkalenders aus dem Jahr 1795 für Natur- und Gartenfreunde.144 Wogegen wendet er sich? Zunächst erteilt Schiller dem französischen Gartenstil eine dezidierte Abfuhr, denn dort müsse der Baum « seine höhere organische Natur verbergen, damit die Kunst an seiner gemeinen Körpernatur ihre Macht beweisen konnte. Er musste sein schönes selbständiges Leben für ein geistloses Ebenmaß, uns einen leichten schwebenden Wuchs für einen Anschein von Festigkeit hingeben, wie das Auge sie von steinernen Mauern verlangt. »145 Kultur habe nicht die Aufgabe, derart drastisch in die Natur einzugreifen. Dieser « Irrweg der Gestaltung » hinge damit zusammen, dass sie behandelt werde wie Architektur, beide ihrem Wesen nach allerdings verschieden seien. Schiller betont zunächst noch Gemeinsamkeiten, wenn nämlich « physische Bedürfnisse »146 an Baukunst wie Gartenkunst herangetragen würden und beide – einsichtig, aber etwas kompliziert formuliert – « Natur durch Natur, nicht durch ein künstliches Medium nachahmen, oder auch gar nicht nachahmen, sondern neue Objekte erzeugen. » Falsch wäre es, die Natur willkürlich zu verkünsteln, wenn gerade durch betonte Irregularität, Abwechslungsreichtum etc. ein Eindruck von ‹ Natürlichkeit › erweckt werden soll, die Natur aber nur eines werde : Dekoration. Eine feine Distinktion ist getroffen zwischen der Natur und einer Natürlichkeit, die auf den Eingriff des Menschen zurückginge – erneut bietet allein das menschliche Erleben die Grundlage der Unterscheidung. Darin wäre die Gartenkunst wesentlich von anderen Disziplinen verschieden, dass sie tatsächlich mit Natur zu tun hat, mit Organismen, die vom Menschen grundsätzlich unabhängig sind, von ihm nicht geschaffen werden können. Ganz deutlich wird, dass im Kern der ästhetischen Naturerfahrung für Schiller das Empfinden ihrer Freiheit durch Lebendigkeit liegt. Aufgabe des Gärtners wäre es, die Menschenhand, ihre « künstlichen Spuren »147, zu verbergen. Und so wendet er sich gegen den künstlerischen Eingriff ins Reich des Organischen und plädiert für den Einklang der Gartengestaltung mit der ästhetischen Erfahrungsweise. Es handelt sich bei der Natur des landschaftlichen Gartens daher eigentlich um keinen ‹ Stil › mehr, sondern ein « ganz richtiges Faktum des Gefühls »,

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wenn das « Vergnügen, womit uns der Anblick landschaftlicher Szenen erfüllt, von der Vorstellung unzertrennlich ist, dass es Werke der freien Natur, nicht des Künstlers sind » – « weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert. »148 Schiller beruft sich hierbei vielleicht auf eine Stelle aus Kants Kritik der Urteilskraft, wenn dieser schreibt : « Es muss Natur sein, oder von uns dafür gehalten werden, damit wir an dem Schönen als einem solchen ein unmittelbares Interesse nehmen können. »149 In dieser kleinen Bemerkung – dem ‹ Dafür-gehalten-Werden › – verbirgt sich freilich der Spielraum, dasjenige überhaupt gelingend gestalten zu können, das eigentlich für sich, ohne Zugriff des Menschen, gefällt. Bei Kant wie bei Schiller ist es die Natur – zumal in ihrer noch näher zu bestimmenden, poetischen Fassung als Landschaft – die das Ideal von Freiheit dort erfahrbar mache, wo sie sich « durch sich selbst repräsentiert ». Dass wir die Natur dort als natürlich wahrnehmen, wo sie möglichst frei wächst, wo ihre Gestaltung möglichst ungezwungenen erfolgt, mit der einzigen Einschränkung, dass sie sich uns auch darstellen müsste, bezeichnet den Endpunkt einer langen Entwicklung. Christian Cay Laurenz Hirschfeld beschreibt in seiner, für die deutsche Weiterführung dieses Naturideals einflussreichen, Theorie der Gartenkunst von 1779 die heikle Balance einer Kunstform, die sich der Natur ‹ bedient ›, um natürlich zu wirken. Denn es gäbe Gegenden, die « ohne Charakter »150 sind, nicht ansprechend auf « Geist und Auge » des Betrachters wirken. Ihr Reiz müsste durch die gärtnerische Bearbeitung erzielt, « der natürliche Charakter einer Gegend ganz verändert und in einen anderen umgeformt werden. Eine melancholische Gegend z. B. kann in eine heitre übergehen. Die Aussicht darf nur Eröffnung, das Gehölz helle Durchschnitte, das Wasser Fortlauf und springendes Geräusch, der Schatten Aufhellung empfangen ; die Stille darf nur durch das Geblök einer nahen umhergrasenden Herde, oder durch den Gesang einiger Vögel verdrängt werden. »151 Die Rolle der Gartenkunst als Grenzwächterin könnte heikler nicht sein. Schiller aber zeigt sich großzügig, wenn man durchaus die Hand des Gärtners sehen dürfe : Es müsse nur die Natur « in ihrer ganzen Größe und Freiheit erscheinen, und alle Kunst scheinbar verschlungen haben .»152

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Fernnatur Nicht nur die Idee dieser ästhetisch – zwischen Gemachtem und Gewordenem – erlebten Natur fußt auf einer langen Tradition, auch der ausdifferenzierte Raum zwischen Haus, Garten und Landschaft hat Geschichte. Die verschiedenen Bedeutungsdimensionen des Landschaftsraums, der Natur in verschiedener Weise zeigt, sind noch einige hundert Jahre älter als die Debatte um das Natürliche und erstmals aus der norditalienischen Villenliteratur der Spätrenaissance überliefert. Kann man für damals auch noch nicht von einer naturästhetischen Erfahrung im engeren Sinn sprechen, so tritt die ‹ Natur › in diesen Schriften doch in verschiedener Weise sinnfällig in Erscheinung. Erstmals stellt sich vom ‹ Landhaus › aus eine abgestufte Beziehung zur Landschaft dar, wie sie für den Großstädter noch entscheidend werden wird. Jacopo Bonfadio äußerte sich in einem Brief vom August des Jahres 1541, Bartolomeo Taegio durch einen in Mailand des Jahres 1559 publizierten Dialog De Villa über die verfeinerte Naturvorstellung ihrer Zeit.153 Von der terza natura eines streng geordneten Villengartens schweifte ihr Blick auf die secunda natura – den kulturlandschaftlichen Mittelgrund –, von diesem weiter in die Ferne der prima natura.154 Diese Hierarchisierung des ländlichen Raums anhand des Grades seiner physischen Bearbeitung durch den Menschen, durch Stufen der Aneignung, belegt dabei, wie Natur verschiedenartig erlebt wurde : nämlich so, wie sie sich den Augen eines Villenbewohners darstellte. Hierfür war die Einführung einer neuen Terminologie hilfreich. Zweifellos liegen die Berge um den Gardasee, Comer See oder Lago Maggiore, wo Taegio und Bonfadio verweilen wie viele andere Bewohner ländlicher Villen, nicht völlig unberührt da, sie werden indes erstmals zum Symbol einer vom Menschen unberührten Natur.155 In der Ferne, auf den Gipfeln, wo man tatsächlich nichts pflanzt, keine Felder pflügt, soll eine solche ‹ andere › Natur existieren. Die so bezeichnete Dreiteilung des Raumes beschreibt eine vom Menschen gesetzte Ordnung, die eben auch eine prima natura enthielte, einen erlebten, nicht weiter gestalteten Ort, in Opposition gesetzt zum Haus, dem Ausgangspunkt dieses Erlebnisses.156 Vielmehr als ein realer Ort scheint darin ein geistiges Bedürfnis

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innerhalb der bewirtschafteten, agrarisch geprägten Kulturlandschaft angesprochen, das neuerlich und vielleicht das erste Mal – in räumlichen Kategorien von der ‹ Unberührtheit › der Natur spricht : Das ‹ Wohnen › ist die Bedingung ihrer Möglichkeit. Es ist nicht leicht einzusehen, dass die Landschaft – zumindest als Modus der Naturerfahrung – das Ergebnis einer historischen Entwicklung darstellen soll ; dass ‹ Natürlichkeit › verschiedene Bedeutungen annehmen kann. Schon Jacob Burckhardt bringt allerdings die Möglichkeit, die Natur als ‹ schön › zu erfahren erst mit der Landschaft der Renaissance in Verbindung und erläutert ebenfalls eine sich nur langsam wandelnde Erfahrungsqualität. In seinem von Mies gelesenen und nie an den Eigentümer, Alois Riehl, retournierten Buch Die Kultur der Renaissance in Italien spricht er vom « Resultat langer und komplizierter Kulturprozesse »157, einer Landschaft als Spätform kulturell angeeigneter Natur : « Ihr Entstehen lässt sich schwer verfolgen, indem ein verhülltes Gefühl dieser Art lange vorhanden sein kann, ehe es sich in Dichtung und Malerei verraten und damit seiner selbst bewusst werden wird. » Das Naturgefühl der italienischen Renaissance unterscheidet Burckhardt dezidiert von der Naturwahrnehmung der Antike, ihren damals noch « beschränkten », bei Homer dennoch « starken Eindruck ». Sokrates, der antike Städter, hatte etwa bei seiner Begegnung mit der Landschaft vor den Toren Athens noch bemerkt : « Felder und Bäume wollen mich nichts lehren. »158 Für die räumliche Erfahrung der Natur als Landschaft aufschlussreich ist Burckhardts Darstellung der mittelalterlichen Minnesänger : « Dieselben vertraten das stärkste Mitleben in den einfachsten Erscheinungen, als da sind der Frühling und seine Blumen, die grüne Heide und der Wald. Aber es ist lauter Vordergrund ohne Ferne .»159 Die Landschaft unterscheidet er hier wie schon Kant von einer bloß sinnfälligen Natur, sie wird zudem mit der Erfahrung der ‹ Ferne › verknüpft, wenn es über die lateinischen Dichtungen der fahrenden Kleriker im Weiteren heißt, ihnen « fehlt noch der Blick in die Ferne, die eigentliche Landschaft ». Burckhardts drittem Kapitel über die Entdeckung der landschaftlichen Schönheit geht daher die wesentliche Feststellung voraus, die Entwicklung der Naturwissenschaften habe die landschaftliche Beziehung zur Natur begleitet, die « empirische Naturkunde »160, der Entdeckerdrang der Italiener habe

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ihr sogar vorausgehen müssen : « Allein außer dem Forschen und Wissen gab es noch eine andere Art, der Natur nahe zu treten »161 – die landschaftliche. Ein spezifischer Typus Mensch tritt daher mit dem landschaftlich empfindenden Individuum auf : « Er eignet sich die Natur nicht selbst an, er bearbeitet nichts »162 – jeder ein « Zentrum des Erlebens »163. Der von Burckhardt beschriebene Umbruch, der noch für die heutige ‹ Freude › an der Landschaft bestimmend bleibt, hatte indes nicht nur Auswirkungen auf die Erfahrung der Natur und den ländlichen Raum, sondern auch auf den ‹ Typus Villa ›, aus dem das Landhaus sich entwickelt. Heinrich Drerup hat in einem grundlegenden Aufsatz Bildraum und Realraum in der römischen Architektur das häusliche Fernverhältnis auf die räumliche Konfiguration des römischen Hauses bezogen und die Villa bis in ihre antike Frühgeschichte zurückverfolgt.164 Das Verhältnis des häuslichen Alltags zum naturhaften Fernraum nimmt im Auguralraum des römischen Tempels, der « Frühform eines expansiven Raumempfindens »165, seinen Anfang. In der Folge wird die Aussicht aus dem Wohnraum nach dessen Modell zum zentralen Aspekt der villa urbana : Man genießt sie « beim Verweilen »166. Nicht nur stellt das römische Haus hierfür bereits exzentrische Orte zur Verfügung – Exedren, Lauben, Portici, Höfe, Türme –, mit seinen Raumfluchten, rahmenden Türen und Fenstern ist es Erweiterung und Hilfesteller des menschlichen Auges. Schon Vitruv erläutert die konventionelle Abfolge der Villen-Räume in seinem Architekturtraktat und gibt dabei den Rat, sie auf dem Land umzudrehen : Über das Vestibulum, Peristyl und Atrium gelangt man dort ins Tablinum.167 Das entspräche ganz dem ländlichen Aufenthalt, währenddessen der geschäftliche Empfang sichtlich in den Hintergrund rückt und das Tablinum, in der Stadt der Ort des negotiums, neue Bedeutung erhält – ähnlich wie die ‹ Halle › des modernen Landhauses. Auch für die städtische Villa in günstiger Lage, die villa pseudourbana, wird dieses Schema übernommen und dem Tablinum der Mysterienvilla – unweit der Stadtmauer Pompejis gelegen – durch Zuordnung einer Exedra sogar ein Raum zum Ausblicken vorgelagert. Das Haus bekommt einen Kopfbau, in dem man sich nun den Freuden des otiums widmen kann, obschon man sich weiterhin in Stadtnähe aufhielte. Man könnte auch von einer

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Art Portikus sprechen, der sich nicht den ankommenden Gästen zuwendet, sondern der Landschaft – wie beim Haus Riehl.168 Der Typus eines ländlichen Stadthauses war begründet und durch den Fernblick verwirklicht.169 Was aber bedeutet die ‹ Natur › im Zusammenhang mit der Entwicklung der römischen Haustypologie, angesichts der langsamen Genese der Erfahrung von Natur als Landschaft, wie sie Burckhardt erst für die Renaissance festgestellt hat? Drerup hält für die Ferne jenseits eines solchen Hauses fest : « Die Dinge außerhalb führen nicht das ihnen eigene Leben, existieren nicht an sich, sondern verändern sich in Requisiten eines für das betrachtende Auge hergerichteten Blickfeldes, sie werden zur Szenerie, die durch vier Seiten des Fensters bildhaft begrenzt ist. »170 Als Zeugen dienen ihm Plinius, der vom Gartensaal, dem Lieblingsraum seines Laurentinischen Landguts, berichtet, oder Cicero, der einen Brief an seine Freund Atticus in die Stadt richtet.171 Die Landschaft ihrer Villen war noch kein Echoraum, kein « Korrespondenzphänomen seelischer Angelegenheiten »172, als den der Archäologe Harald Mielsch die ästhetische Naturerfahrung trefflich kennzeichnet. Die Umgebung werde zwar an bestimmter Stelle im Raumgefüge des römischen Hauses gerahmt, ausgewählt, hervorgehoben, bleibe ihm aber untergeordnet, werde mit der Gestik des Triumphs behandelt und als vom Betrachter abgetrennte Welt angesehen. Den Bergen werde demnach kein eigenes ‹ Recht › zugebilligt : Nicht ein kontinuierlicher Landschaftsraum, sondern das « Erstarren »173 des Organischen zum Bild liege im Auge des römischen Villenbewohners. Es entstand noch nicht der Eindruck einer geschichteten Räumlichkeit, an dem der Hausraum teil hätte – der äußere FernRaum ist ein reiner Bildraum, ohne Lebendigkeit, die nicht nur Schiller und Kant für den Gehalt des naturästhetischen Empfindens als wesentlich erkannt haben. Anders gesagt : Man war noch nicht von einer Landschaft umgeben, in keine ‹ Einheit der Gegensätze › gesetzt, auf die es Mies noch ankommen wird. Jahrhunderte später, im Dialogbuch De Villa , in Nachfolge der antiken Tradition, aber mit einer anderen Neugier für die Natur ausgestattet, erzählt Vitauro seinem städtischen Freund Partenio von einem gewissen Cesare Simonetta und dessen Villa Castellazzo. Sie sei vom schönsten

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Garten umgeben, den er je gesehen habe. Seine terza natura beschreibt er auf Bitten Partenios – und somit seinen Lesern – als formale Gartenanlage mit reicher Bepflanzung von sinnlich-betörender Kraft.174 Er hält eine Eloge auf den geordneten Hausgarten, seinen Gärtner und die ausgesuchte, betörende Pflanzenpracht – dorthin zurück wollen auch die Gartenreformer um 1900. Zwischen den beiden Freunden eröffnet sich jedoch ein Disput über den Vorrang des Naturschönen der ‹ Natur › vor dem Kunstschönen eines Gartens, währenddessen Vitauro seinen Blick wendet und auf die Landschaft richtet. Dem Menschen entginge etwas in seinem Garten, der allein auf die Kunst des Schmückens beruhe, der – ohne diese Verbindung zur Landschaft – auch in der Enge der Stadt liegen könne. Sein entscheidendes Argument für die Besonderheit der prima natura fällt in der Gegenüberstellung der gezähmten Gartennatur mit den ungezähmten Bergen : Die Lebendigkeit der unberührten Natur gelte mehr als die verlockendsten Düfte und süßesten Früchte, denen allein sinnliche Reize anhafteten ; die ferne Natur sei etwas ganz anderes, böte gesteigerte Freuden, wie sie ein Garten nicht leicht anregen könnte – selbst wenn auch dort Pflanzen frei wüchsen. Und so entgegnet Vitauro seinem Freund : « Vom Landhaus aber genießt man auch eine Aussicht auf die wilden Pflanzen der Natur, die auf hohen Bergen wachsen und wertvoller und erinnerungswürdiger erscheinen als die kultivierten Gewächse eines Gartens. »175 Es sind dem Auge als wild erscheinende Pflanzen in wilden Bergen, die eine besonders wertvolle Erfahrung darzustellen beginnen – aufgrund « der Nähe des Gegensätzlichen » : « Per la vicinanza del lor contrario. »176 Andere Worte hat Vitauro noch nicht zur Verfügung, teilt jedoch seine eigene, unmittelbare Erfahrung mit der Nachwelt und deutet auf den Wert, den diese Natur für sie haben wird. Und so ist es nicht verwunderlich, dass in der vielleicht ersten Auszeichnung eines solchen ästhetischen Erlebnisses, in den Miscellanies in verse and prose des Engländers John Dennis aus dem Jahr 1693, die schöne Kulturlandschaft zugunsten der Betroffenheit gegenüber einer nun eben als erhaben erlebten Bergwelt weichen muss, denn die Natur « bewegt uns weniger, wenn sie versucht, uns zu gefallen »177, bekräftigt er diese Entwicklung ein weiteres Mal.178 Das neue, in der Ferne und dennoch unmittelbar sich darstellende

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‹ Ereignis Natur › beruht auf dem Einbrechen ihrer Dynamik und Größe, des Spiels von Wetter und Licht, der Tages- und Jahreszeiten in den Alltag der Menschen, verstärkt durch das Mittelglied eines Gartens, übergreifend in den Raum des Wohnens. Diese Erfahrung sollte auch dem privilegierten Großstädter nicht vorenthalten bleiben – zumal er in Landhäusern zu wohnen begonnen hat. Der erste Garten Mies, der das Raumerlebnis seiner Häuser zunächst auf kleinen Blättern mit Bleistift skizziert, mithilfe dieser entwerferischen Vergewisserung durch imaginäre Räume sich bewegt wie mögliche Bewohner später durch reale, gestaltet scheinbar ganz nebenbei reduzierte Landschaftsansichten. Wenige ‹ Zeichen › genügen ihm, die zum Alphabet eines über Jahrhunderte gereiften, kulturellen Eindrucks gehören : Baumgestalt, Waldsaum, Wasserfläche, Bergkontur etc. Es sind raumbildende Elemente mit ‹ Tiefe ›. Wo die Bauplätze seiner Wohnhäuser dieser Form landschaftlicher Natur nicht entsprächen, wo sich der Blick in die gelöste Ferne einer Flusslandschaft, Berglandschaft, Wiesenlandschaft etc. nicht eröffnete, gestört wäre, übernimmt es das Haus – und somit der Entwurf des Architekten – den ‹ Bildausschnitt › zu definieren. Bei Schiller hieß es : « So wie nach und nach die Natur anfing aus dem menschlichen Leben als Erfahrung und als das (handelnde und empfindende) Subjekt zu verschwinden, so sehen wir sie in der Dichterwelt als Idee und als Gegenstand aufgehen. »179 Das Wort ‹ Dichterwelt › könnte durch das Wort ‹ Architektur › ausgetauscht werden – durch die Erfahrung eines Landhauses und damit aus Distanz. Detektiert der Zeichner Mies die ästhetische Erscheinungsform der Natur in der Landschaft, sucht er als Architekt nach der Form des entsprechenden Hauses. Haus und Gedicht vermitteln eine Erfahrung, die sie durch poetische Verwandlung hervorzubringen helfen ; Haus und Natur wurden sentimentalisch, wie Schiller den modernen Naturbezug pointiert erfasst und die bereits dargestellte Entwicklung auf den Begriff bringt. Er deutet den Spaziergang des Städters hinaus in die Landschaft als Wanderung durch die Kulturgeschichte der Natur und somit gleichsam als geistige

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Wandlung des menschlichen Naturverhältnisses im Sinne eines Ideals. In seinem gleichnamigen Lehrgedicht berichtet er von einer idealen Stufenfolge, die ihren Ausgang bei der physischen Abhängigkeit des Menschen von der Natur nimmt, bis sich seine langsam gewonnene Macht schließlich zur ästhetischen Kontrolle seiner Herrschaft über die Natur wandelt.180 Dieses letzte Stadium im menschlichen Naturverhältnis sei Vorbild für die Kunst, schreibt Schiller in seinem Traktat Über naive und sentimentalische Dichtung : « Der Dichter, sage ich, ist entweder Natur, oder er wird sie suchen. Jenes macht den naiven, dieses den sentimentalischen Dichter. »181 Der rein physischen Beziehung zur Natur ist der Künstler in dem Maße entwachsen, in dem er sich aus ihr entfernt und sich ihr ‹ gestaltend › doch wieder annähert : « Die Übereinstimmung zwischen seinem Empfinden und Denken, die in dem ersten Zustande wirklich stattfand, existiert jetzt bloß idealisch ; sie ist nicht mehr in ihm, sondern außer ihm ; als ein Gedanke, der erst realisiert werden soll, nicht mehr als Tatsache des Lebens. »182 Diesen Gedanken hat auch Muthesisus in Worte zu fassen versucht und vom Rhythmischen einer neuen Gestaltungsweise gesprochen, durch die es wiedergewonnen werden sollte. Und so liegt das Haus Riehl am Beginn von Mies’ Landhausentwürfen und doch bereits in jenem topologischen Raum, in dem die Ferne Teil eines Bedeutungsgeschehens geworden ist. In der bislang einzigen,183 umfassenden Untersuchung über die Rolle der Gartenkunst im Werk von Mies van der Rohe, Garten, Natur und Landschaftsprospekt, hat die Kunsthistorikerin Christiane Kruse festgehalten, dass die landschaftsarchitektonischen Prinzipien des angehenden Architekten bereits hier, in diesem ersten Bau, zu finden wären. Diese zeigen sich ebenso wenig originell wie das Haus selbst – typisch eben, darüber hinaus prägend für sein weiteres Werk. Kruse fasst die immer wieder variierte Grunddisposition der Mies’schen Landhäuser am Beispiel seines Erstlings zusammen : « die Positionierung des Hauses auf Stützmauer oder Sockel ; die belvederehafte Gestaltung der Wohnräume ; die perspektivische Ausrichtung des Blicks ; die bildhafte Rahmung der Ausblicke durch architektonische und gärtnerische Elemente ; die Steigerung des Ausblickserlebnisses durch Achsenbrechungen »184

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Im erstaunlich spät einsetzenden Interesse für Mies’ Gartenräume hatte Kruse in den 1990er-Jahren gerade noch Gelegenheit, in Kontakt mit lebenden Mitarbeitern aus Mies’ Büro zu treten.185 Ihre Darstellung musste dennoch lückenhaft bleiben, gingen im Zweiten Weltkrieg doch Unterlagen aus der Frühzeit von Mies’ Berliner Büro verloren, wie sein Mitarbeiter Sergius Ruegenberg ihr im persönlichen Gespräch mitteilte.186 Anhand ihrer Analyse kann man eine Einteilung der Projekte aus Sicht des Gartens gewinnen : in Aufträge, bei denen über die Gartengestaltung nichts mehr bekannt ist ; in Projekte, bei denen Mies mit Gärtnern oder Landschaftsarchitekten zusammenarbeitet ; schließlich in Bauten, bei denen er für die Gestaltung des Gartens verantwortlich zeichnet.187 Wie stark sich sein entwerferisches Engagement auf die Außenanlage überträgt, kann nicht letztgültig beantwortet werden – die beiden Villen in Krefeld, die erhaltenen Skizzen für das Haus Tugendhat oder seine ‹ Einmischung › bei der Gestaltung des Gartens für das Ehepaar Lemke werden indes belegen, dass Mies die Gartengestaltung während seiner architektonischen Entwurfsarbeit im Auge behielt. Das überrascht nun nicht mehr : Haus und Garten sind nicht voneinander zu trennen, wie es der Berliner Reformkultur entspräche, innerhalb derer Mies sein Selbstverständnis als Architekt entwickelt. Und doch rückt der Garten angesichts der Bedeutung der Landschaft in den Hintergrund – oder, besser  – in den Mittelgrund einer räumlichen Staffelung. Die Opposition von Haus und Landschaft wird entscheidend, um die Natur als ästhetische Erfahrung im Wohnraum zu erleben. Bei seinem ersten Garten für das Haus Riehl zeigt sich gleich die Art der Zusammenarbeit mit dem Nachbarmetier : Während der schlichte Überblicksplan der Anlage, den Muthesius in der zweiter Auflage von Landhaus und Garten aus dem Jahr 1910 publiziert, noch geometrische Rosenbeete und Rasenfelder zeigt, wird der Vorgarten durch den Gärtner und Staudenzüchter Karl Foerster reichhaltiger bepflanzt, worauf schon Kruse hinweist.188 Ein Stück von Mies’ Haus und ein Blumenbeet zieren das Cover seines Buchs Winterharte Blütenstauden und Sträucher der Neuzeit von 1911.189 Auf der farbigen Vignette sieht man jene Stelle, an der eine Stützmauer besagte Gartenbereiche voneinander trennt : den unteren, landschaftlichen, vom oberen, geometrischen – über die Mauer

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blickt man nicht. Naturgemäß interessieren den Gärtner vor allem seine gut wachsenden Pflanzen.190 Mies gibt demnach die in den eigenen Plansätzen publizierte Bepflanzung des Gartens auf und seine gärtnerisch-botanische Verfeinerung aus der Hand. Sie ist ihm en détail womöglich nicht wichtig genug, um etwa auch zur Korrektur der Publikationspläne zur führen. Möglich auch, dass Foerster erst später aktiv wird, der Architekt sogar zur Hinzuziehung eines Gärtners geraten hat, was am wahrscheinlichsten wäre angesichts seiner eigenen Unerfahrenheit in diesen Belangen. Mies’ botanisches Interesse bleibt indes wohl gering – darüber ist heute wenig mehr festzuhalten als seine offensichtliche Vorliebe für Rosen. In den 1950er-Jahren wird sein Chicagoer Büro telefonisch auch locust trees in die Ausführungspläne der Neuen Nationalgalerie hinein monieren, wie Notizen auf einem Plan aus dem Archiv des Museum of Modern Art in New York bezeugen : einen Baum, der ursprünglich im atlantischen Nordamerika heimisch war und die natürliche Sukzession an Orten katastrophaler Zerstörungen einleitet. Das träfe sich bestens für das im Krieg zerstörte Gebiet Berlins, unweit dessen Mies sein Büro geführt hat.191 Aber hat er sich denn für die Symbolik von Pflanzen überhaupt interessiert? Jedenfalls sind ihm Bäume wichtig, manchmal auch ein charakteristischer Baum, auf den er ein Haus ausrichtet. Die Robinie indes trägt wunderbare Blüten und hat Dornen : wie Rosen. Soziologie der Natur Was für Mies’ gärtnerische Ambition auf den ersten Blick ernüchternd erscheint, ist bei genauerem Hinsehen für das landschaftsräumliche Paradigma entscheidend : Beim formalen Nahbereich des Hauses, dem Garten, arbeitet Mies mit der Nachbardisziplin zusammen. Ändern wird sich darin grundsätzlich wenig, auch wenn Mies diese Aufgabe durchaus auch selbst übernimmt und selbst geometrische Beete zeichnet – samt Rosen. Entschiedener wird sich seine Haltung bei der architektonischen Einbettung des Wohnraums in den größeren Landschaftsraum zeigen. Beim Haus Riehl war es ein zentraler Raum, auf die Landschaft ausgerichtet, durch die Stützmauer in Opposition zur fließenden Linie des

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Griebnitzsees und seiner umgebenden Wälder gesetzt. Die Fernschau von diesem Ort wandelte Garten und Haus zu einem Teil des ästhetischen Fernraums. Nach Kontakt mit den Forderungen der künstlerischen Avantgarde, der intensiven Arbeit an den großteils nicht realisierten Haus-Projekten der 1930er-Jahre, nach seiner Emigration in die USA , wird das Wohnhaus sich auf einen gläsernen Pavillon reduzieren und sich das Gefühl des Erhabenen ins unmittelbare Gegenüber der Natur verlagern.192 Wie bereits bei Mies’ erstem Haus, wird sein Verhältnis zu Garten und Landschaft von der Auseinandersetzung mit der Wohnform vermögender Bürger geprägt. Er widmet sich der ‹ Aufgabe Landhaus › in Nachfolge der Villen-Typologie, worin sich der moderne Naturbezug über die Jahrhunderte entwickeln und räumlich manifestieren konnte. Auf diese Weise kann er grundsätzliche Überlegungen über ein ‹ modernes Landhaus › anstrengen und dessen Formung weit über Muthesius’ kurze Landhausbewegung ausdehnen. So sind weder das ‹ soziale Grün ›, noch die Selbstversorgung, noch der Siedlergarten oder der Volkspark Mies’ Anliegen. Wahrscheinlich hat diese, auf den ersten Blick elitäre und doch weitgehend aus seiner Biografie erklärliche Haltung, über die er bis auf wenige Ausnahmen schweigt und die sich auf die ästhetische Beziehung zur Natur konzentriert, nicht nur die Einordnung seines Werks in die Geschichte der Gartenkunst erschwert. Manfredo Tafuri und Francesco Dal Co meinten noch Ende der 1970er-Jahre in ihrer Architekturgeschichte der Gegenwart : « Für Mies ist die Welt, wie sie ist, und eine Änderung ihrer Strukturen ist nicht möglich. Der Zeitgeist ist ein kategorischer Imperativ, und jede seiner besonderen Kundgebungen kommt letztlich einer andern gleich. ‹ Der Forderung unserer Zeit des Realismus und Funktionalismus muss entsprochen werden ›, hatte er 1924 geschrieben und zudem die ‹ Größe › des Imperativs, der ins Anonyme führt, bestätigt. »193 Bei Mies heißt es dagegen in einem Vortrag aus dem März des Jahres 1926 : « Man ist begeistert über neue Erfindungen und scheut keinen Augenblick davor zurück, die kühnsten Neuerungen zur Anwendung zu bringen, sobald wirtschaftliche Vorteile damit verknüpft sind. Aber man weigert sich, die baukünstlerischen Folgerungen aus diesem Wechsel

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des Lebens zu ziehen. »194 Mies macht eine Entwicklung in Bauen und Denken durch, die durchaus ‹ dialektisch › genannt werden kann.195 Er sucht Antwort auf eine in ihren ‹ geistigen und materiellen Bedingungen › erschütterte Zeit. Zweckrational werden seine Häuser nie sein, oder gar Hugo Härings « Leistungsform »196 verpflichtet. Wenn er in einem Vortrag aus dem Jahr 1924 auch die « wissenschaftliche Methode »197 und die « technischen Mittel » bei der Erwähnung des Gutshofs Garkau hervorhebt, favorisiert er selbst doch stets den großen, zentralen Raum. So hat sich bis heute der an Häring – den Freund und zeitweiligen Atelierpartner Am Karlsbad 24 – gerichtete Appell erhalten : « Mach die Räume jross jenug, Hugo, kannste alles drin machen! » Mies’ großer Wohnraum korrespondierte aufs beste mit der landschaftlichen Weite. Doch ‹ Revolution › als einzig möglicher Gestus zur Veränderung der Verhältnisse entspräche dem gewachsenen ästhetischen Naturverhältnis sowieso nicht. Betrachtet man das Landhaus und seine Landschaft hingen als ‹ ästhetisches Phänomen ›, die ‹ wohnende Kontemplation › als Reaktion auf die Großstadt und ihre Begleiterscheinungen Entfremdung und Verdinglichung, gelangt man zu einer nicht unwesentlichen gesellschaftskritischen Deutung aus der Zeit von Mies’ Berliner Anfängen. Der moderne Mensch hat sich vom « Kampf mit der Natur »198 in einen neuen Kampf begeben, in dem es gilt, die eigene Individualität gegenüber der « Übermacht der Gesellschaft » zu behaupten, erklärt der Soziologe Georg Simmel. An bekannter Stelle seines Aufsatzes Die Großstädte und das Geistesleben aus dem Jahr 1903 definiert er den Typus des modernen Großstädters als « Unterschiedswesen »199, wenn seine ständig wechselnden Ansprüche, Ereignisse, Eindrücke zur « Steigerung des Nervenlebens » führten. Folglich suche er Schutz in der « Blasiertheit »200 und « Reserviertheit » neu erlernter Verhaltensweisen. Simmel untersucht diese Entwicklung vor der Folie der kapitalistischen Ökonomie, dem schon bei Scheffler bestimmenden Antrieb der Metropole, betont allerdings die Folgeerscheinungen auf die Psyche des Städters : « Indem das Geld alle Mannigfaltigkeiten der Dinge gleichmäßig aufwiegt, alle qualitativen Unterschiede zwischen ihnen durch Unterschiede des Wieviel ausdrückt, indem das Geld, mit seiner Farblosigkeit und Indifferenz, sich zum Generalnenner aller Werte aufwirft, wird es der fürchterlichste Nivellierer, es höhlt

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den Kern der Dinge, ihre Eigenart, ihren spezifischen Wert, ihre Unvergleichbarkeit rettungslos aus. »201 Statt nur um Nahrung und um Geld zu kämpfen, gelte es, die dadurch ausgelöste Gleichgültigkeit den Dingen gegenüber zu überwinden. Simmel zeigt auf, wie dies ästhetisch zu bewältigen wäre. Im Jahr 1913 stellt Simmel in einem Beitrag für die Zeitschrift Die Güldenkammer seine Gedanken zu einer Philosophie der Landschaft vor. Sie hängen eng mit den Auswirkungen der Abstraktion und Zergliederung großstädtischer Lebensvollzüge zusammen. Er definiert in dieser kurzen, aber einflussreichen Schrift die Landschaft keineswegs als grüne Idylle, betont aber zugleich ihre ästhetische Einheit – « Menschenwerke »202 wären in sie eingeschlossen wie in die Stadtlandschaften des Landhauses : « Während sich hieraus unzählige Kämpfe und Zerrissenheiten im Sozialen und im Technischen, im Geistigen und im Sittlichen ergeben, schafft die gleiche Form der Natur gegenüber den versöhnten Reichtum der Landschaft, die ein Individuelles, Geschlossenes, In-sich-Befriedigtes ist [ …] und dabei widerspruchslos dem Ganzen der Natur und seiner Einheit verhaftet bleibt. »203 Dem modernen Bewusstsein erschließe sich aus der « unzerteilbaren Einheit »204 der Natur eine sinnlich fassbare Einheit : Landschaft. Simmels Definition zufolge ist sie ein Ausschnitt aus der Einheit der Natur, der selbst eine Einheit darstellt. Gegenüber anderen Gegenstandsbereichen der modernen Welt, in denen « das Erkennen Selbstzweck geworden »205 sei, ähnelten ihre « lebensbestimmenden Energien »206 jenen der Kunst. Die Landschaft sei « ein Kunstwerk in statu nascendi », anders als in der verunsichernden Vielfalt der Stadt in ihr vereinheitlichende, künstlerisch-formende Energien am Werk.207 Tragende Idee seines Aufsatzes ist somit die landschaftlich empfundene Einheit der Natur, die Simmel der großstädtischen Vielheit der Ansprüche gegenüberstellt. Die ‹ geschaute › Einheit der Landschaft überträgt sich nun auf den Menschen selbst : « Als ganze Menschen stehen wir vor der Landschaft. »208 Die Jeweiligkeit der dem Einzelnen gegebenen, charakteristischen Landschaft, somit die « frohen, ernsten, erregten »209 etc. Landschaftserscheinungen, stellte ein Remedium gegen die Abstumpfung und Vereinnahmung des Großstädters dar. Auch Simmel setzt daher die erfahrene

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Freiheit der Natur mit der Freiheit des Empfindens gleich. Den ontologischen Gehalt dieser Erfahrung kennzeichnet Simmel zu Beginn seiner Überlegungen als « Für-sich-Sein »210 der Natur in landschaftlicher Erscheinungsweise. Wenige Jahre vor seiner Veröffentlichung zur Rolle der Landschaft in der modernen Großstadtkultur hat Simmel sich über den Bilderrahmen geäußert.211 Dass gerade dieses Utensil seine Aufmerksamkeit erregt, dessen Stellenwert in der modernen Kunst von untergeordneter Bedeutung scheint, verweist nicht nur auf das Interesse seiner ‹ soziologischen Ästhetik › an den Randerscheinungen des Alltags. Die Frage des Rahmens trifft für Simmel den Kern der Sache, helfe er doch, den Charakter ästhetischen Empfindens besser zu verstehen, denn der « Charakter der Dinge hängt in letzter Instanz davon ab, ob sie Ganze oder Teile sind. »212 Der Rahmen stelle eine Grenze dar, diese habe die Doppelfunktion, das Umgrenzte zusammenzuschließen und dabei nach außen hin seine Integrität zu sichern. Er schaffe, was auch für die ästhetische Erfahrung zunächst unentbehrlich ist : Distanz zwischen Welt und Werk. Werde der Bilderrahmen den flüchtigen Erscheinungen des Lebens durch Wertschätzung des von ihm Gerahmten gerecht, nehme er zugleich eine Vermittlerrolle zwischen den Möbeln des Raums und dem Kunstwerk, dem gerahmten Bild oder eben einem Landschaftsprospekt ein, sorge für die Verknüpfung des Besonderen, Autonomen mit der alltäglichen Lebenssituation : « Das Kunstwerk ist in der eigentlich widerspruchsvollen Lage, mit seiner Umgebung ein einheitliches Ganzes ergeben zu sollen, während es selbst doch schon ein Ganzes ist ; es wiederholt damit die allgemeine Schwierigkeit des Lebens, dass die Elemente von Gesamtheit dennoch beanspruchen, autonom ganz für sich selbst zu sein. »213 Der Bilderrahmen stütze das Kunstwerk in seinem ‹ Für-sich-Sein › als « Insel in der Welt ».214 Anders als beim kunstgewerblichen Gegenstand, sei seine Wirkung die eines « unverdienten Geschenks »215. Im selben Maß, in dem das gemalte Bild die Lebendigkeit der Natur in Kunst zu verwandeln, die Augen landschaftlich zu sehen gelernt haben, würde das Landhaus einen Raum aufspannen, durch den die Fernlandschaft Platz im großstädtischen Wohnen findet. Spätestens seit den 1930er-Jahren wird sich bei Mies die Öffnung zum Landschaftsraum

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als ‹ verglaste Wandscheibe › darstellen – bar jeden traditionellen ‹ Schmucks ›. Die Gleichsetzung des Bilderrahmens mit einem Fensterrahmen liegt nahe, schreibt Simmel in die historische Entwicklung des Rahmens doch eine kleine Geschichte architektonischer Formen ein, wenn er seine Präferenz für den modernen Rahmen gegenüber dem ‹ architektonischen Rahmen › ausdrückt. Letzterer entspräche einem historischen, historistischen Rahmen, der seiner dynamischen Aufgabe, zugleich Grenzhüter und Vermittler an die Umgebung zu sein, nur bedingt nachkomme : « Hier sind die Seiten oft als Pilaster oder als Säulen gebildet, die ein Gesims oder einen Giebel tragen ; dadurch ist jeder Teil und das Ganze sehr viel differenzierter und bedeutsamer als bei einem modernen Rahmen .»216 Gegenüber dem alten Rahmen stellt der allseitig gleiche, moderne Rahmen für Simmel einen Fortschritt dar : Er tritt gestalterisch nicht so stark in Konkurrenz mit dem Gemälde, schließe dieses nicht so stark von der Welt ab. Diese ‹ konstruktive Gelenkstelle › wird in Mies’ Bauten wiederkehren, wenn es um das Verstärken des Landschaftseindrucks im Innenraum geht. Und auch Simmel betont, die Kultur der Moderne müsse die ästhetische Erfahrung in den ‹ wohnenden Alltag › integrieren, sonst erwüchse « aus den nebeneinander gelegenen, gegeneinander selbständigen, selbstgenügsamen Wesen ein übergreifendes Gebilde, an das jene gleichsam ihre Seele, ihr ‹ Für-sich-Sein › abgeben, um erst als dessen mechanisch funktionierende Glieder einen Sinn ihrer Existenz zurückzugewinnen. » In Simmels kleiner Abhandlung über hochalpine Landschaften wird die Erfahrungsqualität des erwähnten ‹ Für-sich–Seins › deutlicher. In der Firnlandschaft des Gletschers, wo sich die « zerflatternde Unruhe der Formen »217 in einem gespannten Verhältnis zur « lastenden Materialität » ihrer schieren Masse befinde, stelle sich das Aufbrechen der Form zu einem « Absoluten der Wahrnehmung » dar. Der « Massenmoment »218 des Hochgebirges – in anderer Weise der Ozeane – führe zur Situation, dass die dinghafte Präsenz der Natur über sich selbst hinaus weise und symbolisch werde.219 Im Gegensatz zum Alltag, den « Niederungen der Täler », herrsche am Gipfel absolute Beziehungslosigkeit, Unzeitlichkeit und Ungeschichtlichkeit – kein menschlicher Gebrauch und Nutzen werde sichtbar, nicht einmal die Natur zeige sich zusammenhängend :

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« Hier gründet sich das Gefühl des Erlöstseins, das wir der Firnlandschaft in feierlichsten Augenblicken verdanken, am entschiedensten auf dem Gefühl ihres Gegenüber-von-Leben. »220 Die dem Menschen gegenüber gleichgültige, hochalpine Natur hat jeden Eindruck von Geformtheit und Fremdbestimmung verloren, « denn alles Geformte ist als solches ein Begrenztes .»221 Dort oben sei alles schiere Quantität, in der Erfahrung des Naturerhabenen entdeckt Simmel das absolute ‹ Für-sich-Sein › der Dinge. Diese Natur lässt selbst ihr Werden hinter sich und sie stellt sich der Wahrnehmung referenzlos dar. Alpenreisen haben diese Erfahrungswelt schon zu Simmels Lebzeiten touristisch in die Alltagsbewältigung des Großstädters integriert – und diese Erfahrung doch aus dem Alltag gerissen. Im Jahr 1895, achtzehn Jahre vor seinen Erkenntnissen über die Ästhetik der Alpen, spricht er von einem ökonomisierten « Großbetrieb des Naturgenusses »222. Unter Kritik steht die Angleichung dieser hochalpinen Welt an urbane Lebensräume nicht allein durch den Massentourismus, sondern durch die brutale Konfrontation mit der Technik – etwa in Form der Eisenbahn, die die Maßstabslosigkeit der Berge nivelliere. Simmels Text entzündet seine Kritik an der allzu kurzsichtigen Wirkung, die die hochalpine ‹ Naturausgesetztheit › dem urbanen Menschen bereite, denn « wir nehmen wenig oder nichts aus ihnen mit, um unsere anderen inneren Wohnräume damit zu schmücken. »223 Auch die Idee des Bergsteigers, seinen heroischen Kampf mit der Natur, tut er ab. Man suche in dieser Vorstellung vorgeblich die Größe der Natur, fröne allerdings nur egoistischen Interessen.224 Die Firnlandschaft identifiziert er hingegen bereits mit einer « irdischen Überirdischheit »225, nach der sich das Individuum sehne wie nach dem, « was schlechthin anders ist als das Ich ». Nunmehr ginge es nicht um die Widerspiegelung der Ganzheit der Natur für das in der Großstadt an seiner alltäglichen ‹ Fragmentierung › leidende Subjekt, sondern um die Erkenntnis der radikalen Andersheit der Natur – man könnte auch sagen um das Erhabene, das neuerlich aus der schönen Kulturlandschaft ‹ herausfällt ›. Und doch nimmt die gewöhnliche Kulturlandschaft diese Erfahrung räumlich in sich auf. Das tut auch Simmel in seiner späteren Philosophie der Landschaft : Landschaft wird zu einem Ganzen, als ein Teil der Natur bliebe sie dennoch Erinnerung eines größeren Ganzen,

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dem man nie habhaft werden könne. Sie bleibt in ihrer Lebendigkeit ‹ offen › für das ‹ Darüber-Hinaus ›. Auch die Philosophin Cornelia Klinger legt das Augenmerk auf das Subjekt, dem die Landschaft ja auch bei Simmel sich erst zeigte : « Die Natur wird zum Echo, zum Medium, zum Instrument der Expression des menschlichen Gefühls ; sie reflektiert, was an Gefühl in sie investiert wird. Das Subjekt sucht in der Natur ein Anderes, um sich selbst zu finden. »226 So auch Martin Seel in seiner Ästhetik der Natur : « Das Subjekt also, was sonst, ist die Pointe der Landschaft. »227 Er spricht nun von einer « Einheit ohne Ganzheit »228. Ihre Andersartigkeit liege darin, dass sie nicht auf den Begriff zu bringen sei in der Erfahrung ihrer Unmittelbarkeit : « Das ist die Faszination der Natur für ein Subjekt, das sein Selbstsein darin findet, über jedes geschlossene Verständnis seiner selbst hinausgehen zu können. Die Einheit der landschaftlichen Anschauung ist Einheit ohne Ganzes. » Gerade in der Stadt, wie er betont, sei diese spezifische Erfahrung von Offenheit wichtig : « Schließlich ist es der ganze Sinn eines wahrnehmenden Sicheinlassens auf Landschaften, dass wir in ihnen nach draußen gelangen : in ein zugleich reales und metaphorisches Draußen. [ …] wenn wir die Bindung an die pragmatischen Orientierungen lockern, die unser normales Verhalten im Raum bestimmen ; wenn wir uns nicht länger mit festgelegten Zielen in diesem Raum bewegen, sondern uns freihalten für die irreguläre Gegenwart des größeren Raums selbst. Wie immer wir solche Gegenwarten durch Formen des Bauens, der Landschaftsgestaltung und -erhaltung in Stadt und Natur möglich zu machen versuchen – der Prozess ihrer Präsenz übersteigt alles Machen. »229 Mit Simmel – zur Zeit von Mies’ Aufenthalt in Berlin – bleibt die Landschaft jene Erfahrungsweise von Natur, die in den menschlichen Lebensraum eingelassen wäre, solange sie sich in ihrem ‹ Für-sich-Sein › darstellt. Dies wäre nicht nur der Gehalt der von ihr stimulierten ästhetischen Erfahrung, sondern zugleich ein Bedürfnis, das der ‹ urbane Mensch › an sie heranträgt : Er erfährt ‹ Lösung › von den Herausforderungen der Großstadt durch eine ästhetisch sich präsentierende, selbsttätige Natur. Diese korrespondiert mit der in ihr erfahrenen Freiheit. Es ginge nicht mehr um Landschaften bestimmter Typologie, nicht die Idylle oder

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Pastorale, nicht um Flucht aus dem Alltag, sondern um eine Wahrnehmungsweise und um Orte, an denen sie angeregt würde. Diese Landschaft ist die historische Kulturlandschaft und zugleich die Besonderheit der naturhaften Elemente in ihr, durch die sie sich als besonders für den modernen Städter darstellt. Seine ästhetische Existenz steht im Widerstreit zu den Herausforderungen der modernen Rationalität. Mit dem Kulturgeografen Ulrich Eisel stellt sie sich im « Aushalten von Widersprüchen »230 dar. Widersprüche, die der Kluft zwischen dem Wunsch nach einer konkreten Lebenswelt und den universalistischen Folgeerscheinungen einer ökonomisierten, technizistischen Moderne entspringen. Würde man einseitig agieren, drohe – wie der Philosoph Axel Honneth meint – der Verlust an « interessierter Anteilnahme »231. Man ginge der « qualitativen Erschlossenheit » seines Lebensraums verlustig. Für Mies wird sich gerade die moderne Technik als genuine Möglichkeit darstellen, räumlich Ordnung im Chaos der Zeit zu schaffen. Mies, der Simmel gelesen hat, wird nach Kontakt mit dem Denken Romano Guardinis danach trachten, das Leben der Bewohner mit dem Leben der Natur in eine ästhetisches Beziehung zu setzen. Das im landhäuslichen Wohnen dabei erfahrene Versprechen, das sich gegenüber der verdinglichten Alltagsrealität als Freiheit zum individuellen Sein und als Befreiung der Dinge zu ihrer ‹ lebendigen Konkretheit › darstellt – als landschaftliche Erfahrung –, müsste zurückwirken auf die Form des Hauses. Die Frage bleibt bestehen : Welche Gestalt ein solches, modernes Landhaus annehmen sollte?

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Das neue Haus

Eigenheime

In der ersten Hälfte der 1920er-Jahre präsentiert sich Mies mit seinen berühmten ‹ fünf Projekten › der Öffentlichkeit. Der Architekt einiger traditioneller Wohnhäuser, die nach dem Haus Riehl in den Berliner Villengegenden Neubabelsberg, Zehlendorf, Charlottenburg und Grunewald entstanden, heute nicht mehr existieren oder gar nicht zur Realisierung kamen, gilt nun als einer der avanciertesten Architekten der Weimarer Republik. Seine Stellung unter den fortschrittlichen Architekten der Zeit deutet sich etwa durch die Teilnahme an wichtigen Ausstellungen an. So ist er auf der von Walter Gropius in Weimar ausgerichteten Internationalen Architekturausstellung im Spätsommer 1923 präsent oder auf Theo van Doesburgs Galerieausstellung Les Architectes du Groupe de Styl im Oktober desselben Jahres in Paris. Angestachelt durch die avantgardistischen Berliner Künstlerkreise, beeinflusst vom Werk Hendrik Petrus Berlages und Frank Lloyd Wrights, und doch auf ganz eigene Weise, loten diese ‹ Idealprojekte › für zwei Glashochhäuser, ein Bürohaus in Eisenbeton und zwei Landhäuser die Möglichkeiten einer neuen architektonischen Sprache aus. Alle gehören sie ins Ideenreservoir einer in dieser Form nie verwirklichten Baukunst der Moderne. Dass der ‹ Typus Landhaus › zweifach unter Mies’ ‹ fünf Projekten › vertreten ist, bezeugt nicht nur die programmatische Bedeutung dieser Bauaufgabe. Dieser Umstand verweist auch auf die Weiterentwicklung eines Konzepts : Mit einem Landhaus hat er zu bauen begonnen, über das Landhaus macht sich Mies Gedanken, als es darum geht, persönliche Lebensvorstellungen in der Großstadt zu verwirklichen. Es war – auf Ebene architektonischer Ideen – eben doch nicht seine Intention, die Architektur jährlich neu zu erfinden, wie Philip Johnson anlässlich der ersten Personale des Architekten in New York behaupten wird.232 Mies befindet sich auf einer kontinuierlichen Suche : « I don’t think there is a change. I think there is a natural development »233, wird er selbst die Frage beantworten, wie es möglich gewesen war, dass sich seine architektonische Sprache so radikal wandeln konnte. « A peculiar year »234 wird er dann allerdings das Jahr 1926 nennen : Für diesen Moment der

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Koinzidenz geistiger und baulicher Bestrebungen, vermerkt er lapidar : « Whitehead, Schwarz, Scheler » – und weist so tatsächlich auf einen Wandel in seiner Auffassung hin, der mit der Avantgarde indes wenig zu tun hat. Drei Jahre zuvor, im ereignisreichen Jahr 1923, hat Mies mit dem Haus für den Berliner Buchhändler Georg Eichstädt ein weiteres Bauwerk ‹ im Stile › Schinkels fertiggestellt, mit dem Landhaus aus Backstein, dem letzten seiner progressiven ‹ fünf Projekte ›, zugleich einen ins Abstrakte gesteigerten Prototypen der Verbindung von ‹ Nähe › und ‹ Ferne ›. Es ist weniger ein Haus als ein Manifest. Manifeste haben den Vorzug, Zusammenhänge besonders deutlich zu machen. Nachdem Mies zuvor seinen zweiten Entwurf für ein Glashochhaus, im Folgejahr das Bürogebäude so wie das Landhaus in Eisenbeton auf der Großen Berliner Kunstausstellung präsentierte, hängt er dort, in der Abteilung der progressiven Novembergruppe, nur zwei Bildtafeln. Die vorausgehenden Projekte waren jeweils mit mehreren Zeichnungen, sogar mit Modellen vertreten ; nicht so das Landhaus aus Backstein. Man kann sich den außergewöhnlichen Eindruck kaum vergegenwärtigen, den die aus senkrechten und waagrechten Linien gefügte Komposition den Besuchern beschert haben muss, so sehr ist der Grundriss durch seine pointierte Darstellungsweise in die Architekturgeschichte der Moderne eingegangen.235 Auch beim Rezensenten der ersten Stunde, dem Kasseler Architekten und Hochschullehrer Hans Soeder, hat er einen kräftigen Eindruck hinterlassen. Soeder, Mitglied der 1926 in Berlin unter Federführung von Mies und Häring gegründeten progressiven Architektengruppe Der Ring, zeigt sich in der Zeitschrift Der Neubau fasziniert vom Landhaus aus Backstein und bezeichnet es als « stärkste und zukunftsreichste Leistung »236 der Ausstellung. Er vergleicht die grafische Komposition mit Musik : Durch das Landhaus aus Backstein sei « auf einer höheren Ebene der Weg der rationalen Rechnung überwunden, die Mathematik mit Musik erfüllt – mindestens im Grundriss des Hauses. »237 Noch Jahrzehnte später, im Jahr 1964, im posthum erschienen Werk Urformen abendländischer Baukunst, wird es ihm um die « irrationalen Bindungen » der Architektur gehen – wie er ihren geistigen Gehalt nun nicht weniger nebulös nennt. Dabei entwirft

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Landhaus aus Backstein, Potsdam-Neubabelsberg 1923 / 24

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er ein Geschichtsbild, das Mies zupass käme : « Unzweifelhaft können ausgeformte Stilepochen keine Vorbilder für Neuschöpfungen darbieten. Aber Einblicke in die Ursprünge und in die Verwandlungsvorgänge des Ursprünglichen zur geprägten Form vermögen sehr wohl den schöpferischen Menschen anzusprechen und die seiner jeweiligen Epoche gemäßen Entscheidungen zuverlässiger zu unterbauen, als dies im schmalen Bereich des ausschließlich Zeitbedingten möglich wäre. »238 Welche ‹ Urform › stellt sich also in diesem neuen Landhaus dar? Auf der Großen Berliner Kunstausstellung spielen die lose gruppierten Wandscheiben ihre grafischen Qualitäten überzeugend aus, während die Anmutung des plastischen, verschlossener wirkenden Baukörpers sich dazu in Kontrast setzt. Mies hat das Arrangement der beiden Blätter nicht dem Zufall überlassen.239 Die Perspektive des Landhauses sollte mittig über dem Grundriss zu hängen kommen. Gegenüber den kühnen Hochhausentwürfen oder dem Landhaus in Eisenbeton – einem der frühesten Bauten, die das Motiv des Bandfensters thematisieren – scheint die radikale Form des Grundrisses mehr zu wollen, eine übergeordnete, geistige Idee zu vermitteln. Welche Raumauffassung kommt in der bewusst gesuchten Dualität von Grundriss und Perspektive zum Ausdruck, die wie ein Kippbild Offenheit und Verschlossenheit zu symbolisieren scheinen? Wie ließe es sich in diesem Bauwerk wohnen, das ortlos erscheint und sich doch durch drei Koordinatenachsen in Form ausgreifender Mauerzügen ans Zeichenblatt heftet? Worauf würde ein Bewohner dieses Hauses blicken, aus einem Landhaus ohne Land, ohne Anzeichen von Gewächsen, auf dieser lapidaren Darstellung, die den Außenraum als weiße Leere wiedergibt? Oder handelte es sich doch weniger um ein Haus als um ein grafisches Kunstwerk? Wolf Tegethoff hat die bis heute grundlegendste architekturhistorische Untersuchung zu Mies’ Landhäusern angestellt. Den frühestmöglichen Entstehungstermin des Landhauses aus Backstein legt er mit Herbst 1923 fest, den wahrscheinlichsten Termin auf Anfang 1924 – im Frühjahr vor der Großen Berliner Kunstausstellung.240 Von den erwähnten Originalplänen sind fotografische Abzüge am New Yorker Museum of Modern Art und im Archiv der Mannheimer Kunsthalle überliefert. Im Umlauf befinden sich auch spätere, aus dem Chicagoer Büro von

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Mies’ Musterhaus, Deutsche Bauausstellung Berlin 1931

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Mies stammende Darstellungen, die im Zusammenhang mit Werner Blasers Publikation aus der Mitte der 1960er-Jahre stehen.241 Auch sie stellen gewissermaßen Originale dar, ‹ verzerren › jedoch die Dimensionen des Wirtschaftstrakts, bilden nun – im Gegensatz zur eigenhändigen, plastischen Schraffur des Architekten auf der älteren Zeichnung – den Backsteinverbund ab, akzentuieren durch Rücksprünge einen Kaminblock. Die so andeutungsweise eingekehrte Wohnlichkeit verfremdet den ursprünglich radikaleren Ausdruck. « Wohnräume » und « Wirtschaftsräume », so lauten die textlichen Eintragungen auf der heute verlorenen Darstellung – in Versalien über den Grundriss geschrieben, dahinter ein Punkt. Die erhaltene Mannheimer Fotografie enthält zusätzlich einen wohl originalen Schriftzug, der links oben vermerkt : « Grundriss zu einem Landhaus in Neubabelsberg ». Ansonsten weist wenig auf die Plandarstellung eines Hauses hin. So sehr die beiden Zeichnungen des Projekts in Bleistift, Kohle und schwarzer Fettkreide aufgrund ihres Abstraktionsgrades einen Idealentwurf darzustellen scheinen, meldet Tegethoff – in Anbetracht offensichtlicher Unterschiede in der Ausführungsqualität beider Pläne – Bedenken an dieser Einschätzung an. In seinen auf akribische Archivarbeit gestützten Überlegungen kommt er zum Schluss, dass die Entstehung der perspektivischen Darstellung als vorgängig und in Verbindung mit dem wenig älteren Landhaus in Eisenbeton zu erklären sei. Und schließlich meint er, Mies habe auch das zweite Landhaus, jenes aus Backstein, für sich selbst entworfen – es wäre ebenfalls ein Haus von Mies für Mies gewesen. Belegt ist das durch einen Text Paul Westheims, den dieser im Jahr 1925 im Kunstblatt veröffentlichte. Der darin vermittelte Wissensstand lässt auf persönliche Informationen durch den Architekten schließen ; beide Projekte werden dort als « Häuser für den Architekten »242 betitelt. Der Grundriss des Landhauses aus Backstein könnte somit – als Vorentwurf und Weiterführung eines realen Bauprojekts für ein Eigenheim des Architekten – zur Adaptierung des Landhauses in Eisenbeton für ein neues Grundstück gedient haben. Oder aber, er könnte – in gewisser Eile und als Ergänzung der Perspektive – für die Berliner Ausstellung entstanden sein, was die unterschiedliche zeichnerische Genauigkeit bestätigte.

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Haus Kröller-Müller, Attrappe aus Holz und Leinwand, Wassenaar 1912

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Er changiert zwischen Abstraktion und Konkretion und zielt auf die Revision hergebrachter Wohnvorstellungen ab, die er allein kraft seiner Form in Frage stellt. Nüchtern stellt Mies seinen Entwurfsansatz für das erste, konstruktiv innovativere seiner beiden Eigenheime unter den ‹ fünf Projekten › dar : « Der Hauptwohnteil wird von einem vierstieligen Bindersystem getragen. Dieses Konstruktionssystem wird umschlossen von einer dünnen Eisenbetonhaut. Die Haut bildet sowohl Wand als Decke. Die Decke ist von den Außenwänden zur Mitte hin leicht geneigt. Die durch die Schrägstellung der beiden Dachhälften gebildete Rinne ermöglicht die denkbar einfachste Entwässerung des Daches. Alle Klempnerarbeiten kommen in Fortfall. Aus den Wänden habe ich an den Stellen Öffnungen herausgeschnitten, wo ich sie für die Aussicht und Raumbeleuchtung brauchte. »243 Das klingt wie ein technischer Leistungsbericht, der in einem Vortrag durch Lichtbilder unterstützt wird. Er steht in harschem Kontrast zur beinahe pittoresken Perspektive des Landhauses in Eisenbeton mit pastellfarbener Kreide, die aus dem Korpus seiner Zeichnungen heraussticht. Die Baubeschreibung betont Mies’ entwerferische Auseinandersetzung mit einer à jour gehaltenen Konstruktionsform. Zieht man das nicht erhaltene Modell des Landhauses in Eisenbeton von 1923 hinzu, herrscht dennoch die Typologie klar umgrenzter, rechteckiger Raumsegmente vor, die mächtig und schwer anmuten. Soeders Musik erklingt noch nicht. Im Außenraum verschränkt sich das Haus mit gegossener ‹ Haut › durch gewöhnliche Stützmauern, Treppen, angedeutete Beete und seinen Baukörper konventionell mit dem Grundstück. Schon hier ziehen zwar Terrassenmauern bis an den Rand des Modells, durch unterschiedliche Höhen und Anschlüsse ans Gebäude und klar zuweisbare Funktionsbereiche erhalten sie etwas Herkömmliches, das auch die nüchterne Ästhetik nicht zu kaschieren vermag. Die großzügigere Gestik der Außenräume war Mies durch seine früheren Villen oder den ersten Hausentwurf für sich selbst und seine Familie in Werder von 1914 gewohnt. An den mehr als ein Jahrzehnt später veröffentlichten Ansichten, die seine Genese nachvollziehbar machen, zeigt sich bereits ein zaghafter Wandel im architektonischen Kompositionsprinzip : Der anfangs spiegelsymmetrisch angelegte Hauskörper

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wird aufgebrochen, sodass sich daraus zwei zu einem ‹ L › aneinander gelagerte, hierarchisch abgestufte Volumen entwickeln, die kommende Entwürfe erahnen lassen. Ähnlichkeit und Diskrepanz zur wenig später am ansteigenden Ufer des Griebnitzsees – nahe dem Hause Riehl – tatsächlich errichteten Villa Urbig stechen ins Auge. Sie stellt sich in einem purifizierten Neo-Klassizismus dar, einer zwischen Abstraktion und ‹ Stilform › oszillierenden Haltung, die Mies beim Entwurf für das Haus Kröller-Müller im holländischen Wassenaar zu avancierterem Ausdruck führt. An der Küste der Nordsee, auf einer Lichtung gelegen, handelt es sich um jenes Projekt, durch das Mies aus dem Büro Behrens ausscheiden und erstmals mit dem Privathaus als Ort des Wohnens mit Kunst konfrontiert wird. Es ist jener Moment in seiner architektonischen Entwicklung, für den er in späteren Aussagen tatsächlich einen klaren ‹ Bruch › in seiner Haltung in Anspruch nehmen wird – im Angesicht von Berlages Ziegelbauten, denen er auf der Reise begegnet : « His architecture was brick, and it may have looked medieval, but it was always clear. »244 Allerdings ist die hier erwähnte Mischung aus konstruktiver Klarheit und mittelalterlichem Ausdruck wenig hilfreich, will man Mies’ Haltung einem simplizistischen ‹ Vorwärts › zuordnen. Auf dem für sich selbst und seine Frau erstandenen Grundstück in Werder entwickelt er ein bescheideneres Gebäudeensemble mit dennoch imposanter Gartenanlage, die sich in strenger Geste aus einer großen Freitreppe, Skulpturen, einer geometrischen Wiesenfläche, einem abgesenkten Rosenbeet und einem dichten Hain zusammensetzt. Auffällig ist die der asymmetrischen Hausform kontrastierende, große Gartenachse, die hofseitig durch eine bewaldete Fläche schneidet – wie schon bei Muthesius’ Haus an der Rehwiese. Auf der ‹ Landschaftsseite › sollte das Haus von seiner wohl guten Aussichtslage profitieren : Zwei große Einzelbäume rahmen den Blick aus der sala terrena, lösen sich im parkähnlichen Gelände von einem Hain. Von dort aus könnte sich ein Fernpanorama eröffnet haben, wie es dem malerischen Werder entspräche, südlich von Potsdam an der Havel gelegen. Erneut sucht Mies eine offene Wasserfläche für den fernräumlichen Außenraumbezug zu inszenieren. Hier, an einem realen Ort, führt er die Wichtigkeit der Landschaft ausdrücklich vor Augen. Nicht nur ist das Grundstück naturräumlich

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außergewöhnlich und in Mies’ Skizzen landschaftsarchitektonisch durchkomponiert, der Baukörper tritt vollends hinter die schlossartige Außenanlage zurück. Sie wird beim Landhaus aus Backstein gerade nicht dargestellt. Ihr Fehlen aber ist von Bedeutung. Die dort ins Nichts, bis an den Blattrand ausgreifenden Mauerzüge haben wesentlichen Anteil an der Rätselhaftigkeit des Projekts, das eben doch in die konkreten Lebensbezüge des Architekten und seiner Familie eingebunden ist : Das Haus in Werder blieb Papier, Mies ist ab dem Jahr 1922 wieder auf der Suche nach einem Bauplatz, wie sein Briefverkehr belegt.245 Zwei Straßennamen fallen, beide in einer Lage, die ebenfalls nahe legte, sein nie errichtetes Eigenheim solle sich in den Dialog zu einer besonderen Landschaft begeben : Sowohl von der Höhenstraße als auch von der Schwanenallee Ecke Hasengraben ließe sich der visuelle Bezug herstellen zum Heiligen- oder Glienicker-See, eventuell sogar zur fernen Friedenskirche oder zum Schloss Klein-Glienicke. Dass die Mauerzüge im Grundriss des Landhauses aus Backstein daher einfache Gartenmauern wären, die fremde Blicke vom Grundstück fern hielten, oder auch nur den Wohntrakt vom Wirtschaftstrakt optisch trennten, um so das Wohnen in seiner « reinsten und höchsten Form »246 zu erlauben, wie Tegethoff argumentiert, berücksichtigt zwar visuelle Bezüge, erklärt ihren konzeptionellen Ursprung aber einseitig : durch den Blick auf das Bauwerk. Der Blick nach draußen, auf die Landschaft, wird dabei zunächst vernachlässigt. Mögen sie auch aus Stützmauern im Gelände hervorgegangen sein, von denen die Perspektive noch eine andeutet – das Wohnen erhielte durch sie einen andersartigen Sog, eine Offenheit zur Ferne jenseits des Dargestellten, zu einem Bezugspunkt, der nicht Teil der Pläne ist – nicht sein kann. Übers Blatt hinausragend, scheinen die Linien ins Unendliche auszufließen : jenseits des Gebauten. Sogwirkung Vielleicht um seine Prägnanz zu steigern, vielleicht um diese besondere musikalische Rhythmik zu erzielen, bricht Mies beim Landhaus aus Backstein nicht nur das Hausvolumen auf, sondern treibt die Verfremdung des Grundrisses so weit, dass er wie ein Befreiungsschlag

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wirkt : Um Wohnräume im herkömmlichen Sinn kümmert er sich nicht. Allerdings musste die prominente Hängung des Projekts auf einer Kunstausstellung auch die werbende Kraft der schieren Bildwirkung einkalkulieren : Eine « Ausdruckssteigerung »247, die ihn zur « freieren Darstellung » bewogen haben mag. Wie das ähnlich strukturierte Raumgefüge beim Haus Lessing verdeutlicht – wohl ebenfalls um 1923 für Neubabelsberg entstanden –, hat Mies das Konzept eines zentrierenden Grundrisses dennoch nie grundsätzlich aufgeben. Die ‹ Halle › des Hauses Riehl kehrt in diesem Wohnhaus, von dem nur ein Grundriss erhalten ist, in großzügiger Form wieder, bildet den Mittelpunkt der scheinbar dispers am Blatt sich verteilenden Räume. Wo die Landschaft sich nicht entsprechend dargestellt haben mag, verhelfen hier umschließende Außenmauern und Höfe zu einem unverstellt-freien Himmel. Die dienstbaren Räume des Hauses umgreifen eine Wohnhalle und verstärken ihre Beziehung zur Landschaft, ein Wohn-Zentrum, aus dem die primären Bedürfnisse in den Kranz umgebender Räume hinausgeschoben sind : Küche, Speisesaal, Anrichte, Garderobe, Treppenhaus, Bibliothek etc. Das Wohnen wäre hier ‹ rein ›, befreit von anderen Zwecken – ein Ort des kontemplativen Aufenthalts mit Blick auf die inszenierte Landschaft. Beim Landhaus aus Backstein ist kein Hof nötig, der die karge Gestik des Grundrisses stört. Der nordwestliche Bereich des Blattes wird nichtsdestotrotz vom ‹ Wohnbereich › des Backsteinhauses abgeschieden. Nun, da deutlich wurde, dass zumindest in Teilen ein realer Bauplatz in die Pläne eingeflossen sein könnte, findet diese Maßnahme möglicherweise gerade darin ihre Begründung. Diese Zone übernähme die Erschließung und wäre unmittelbar zur nachbarschaftlichen Bebauung ausgerichtet. So aber bliebe gesichert, dass die dynamisierende Kraft der Komposition die Blicke der Bewohner entlang der ausgreifenden Mauerzüge in alle Himmelsrichtungen leitete, im ausgewiesenen Sichtfeld hielt, sie aufweitete und auf die Ferne richtete ; unliebe Seitenblicke aber prallten ab. Im Geschoß darüber würden weiterhin Mauern die Aufgabe der Blicklenkung übernehmen : Die ‹ geöffnete Wand › ist hierbei von derselben Wichtigkeit wie die ‹ geschlossene ›. Doch kreuzen sich die drei langen Mauerzüge nicht in einem zentralen Wohnkern. Die Gegensätzlichkeit

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der kreisenden Bewegung im Innenraum und der Ruhe des leeren Außenraums, der in sich gewandten, rhythmisierten Mauerscheiben des Wohnraums und der nach außen geworfenen Mauerzüge ist für diese doppelte Raumerfahrung konstitutiv : Innenraum und Außenraum stellen zwei aufeinander bezogene, polare Raumsysteme dar. Wie sehr es hierbei um die Suche nach Ausdruck für ein neues Wohngefühl geht, wird Walter Riezler später festhalten, als sich das Wohnen wieder im zentralen Raum des Hauses Tugendhat sammelt : « Alles Statische, in sich Ruhende tritt zurück hinter der Dynamik dieser ineinander gleitenden Raumteile, deren Rhythmus seine Lösung erst im Freien, im Einswerden mit dem Allraum der Natur findet. Der Raum ist, wenn man so will, ‹ atonal › oder ‹ polytonal › im Sinne der modernen Musik wie auch der Malerei, und daher Ausdruck eines allgemeinsten Weltgefühls, in dem sich, wie in der Philosophie, ein völlig neues Weltbild ankündigt. »248 Ein Bildraum, ein symbolischer und zugleich konkreter Gegenraum wäre das Draußen für diese Landhäuser, der wohnend erlebt werden müsste, den Takt des Wohnens bestimmend : ein Draußen, das draußen bleibt und drinnen ist. Durch seine Apodiktik wurde Mies’ Darstellung des Landhauses aus Backstein bekanntlich in die Nähe der Kunst gerückt. Die gedankliche Nähe dieses Entwurfs zu Theo van Doesburgs Gemälde Rhythmus des Russischen Tanzes aus dem Jahr 1918 hat erstmals Alfred H. Barr Jr. in einem Ausstellungskatalog Cubism and Abstract Art 1936 hergestellt. Mies und seine späteren Interpreten haben dies zu entkräften gesucht. War die Nähe zu jener Kunst, die der Architekt selbst gesammelt hat, zweifellos für die Anerkennung seiner eigenen Arbeit nicht ohne Nutzen, war sie dem Verständnis des Hauses nicht unbedingt dienlich.249 Mies musste Doesburgs Position jedenfalls aus einem Artikel für die ersten Ausgabe der Zeitschrift G – Material zur elementaren Gestaltung von 1923 kennen, als er sein eigenes Projekt gerade entwickelt. Im Umkreis der Zeitschrift, die Werner Graeff und Hans Richter damals gründeten, trifft er mit El Lissitzky und Theo van Doesburg zusammen, unterstützt die ersten Ausgaben auch finanziell. In seinen Lebenserinnerungen erklärt Richter, das Landhaus aus Backstein wäre der Gruppe als Haus für Neu-Babelsberg vorgestellt worden, man erkannte in dessen Ausdruck eine Verbindung

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zur Sprache der Avantgarde-Kunst, setzte es in Verbindung zu den Gemälden der Zeit, zur Musik, zum Film.250 Während sich die Strukturen auf den Darstellungen van Doesburgs und Mies’ tatsächlich ähneln, weichen die beiden Kompositionen entscheidend voneinander ab, wenn es um die Positionierung auf dem Blatt geht. Die in drei Himmelsrichtungen ausgreifenden Mauerzüge des Landhauses fehlen in van Doesburgs Gemälde – somit auch die Entgegnung der ‹ unruhig-tanzenden › Innenräume zu den ‹ leeren › Flächen des Hausumraums : Es ist ein Proprium des architektonischen Raumes, dass es ein Außen gibt. So ist die ‹ Unendlichkeit › des Landhauses – bei aller darstellerischer Abstraktion, die es ins Interesse des Publikums rückt – ebenso wenig abstrakt zu verstehen, wie sein Innenraum eine homogene Einheit mit dem Außenraum bilden soll. Mies wird sich gegen jegliche ‹ grafische › Architekturauffassung wenden – und somit auch gegen eine ‹ Baukunst ›, der das Bauen abhandengekommen wäre. Der « fünfte Punkt » aus van Doesburgs Manifest Auf dem Weg zu einer plastischen Architektur von 1924 dürfte ihm daher in seiner abstrakten Logik zu weit gegangen sein : « The subdivision of functional spaces is strictly determined by rectangular planes, which [ …] can be imagined extended into infinity, herby forming a system of coordinates in which all points correspond to an equal number of points in universal, unlimited open space. »251 Als retrospektive Gegenreaktion zur einseitigen Deutung seines Frühwerks im Dienste der Avantgarde – zu der er selbst einiges beigetragen hat – wird Mies im Jahr 1960 seine dezidierte Ablehnung jeglicher formalistischer Entwurfshaltung sogar direkt auf die Person van Doesburgs beziehen : « I liked van Doesburg, but it was not as though he knew very much about architecture. »252 Wenn Soeder in seiner Deutung des Landhauses aus Backstein allerdings die Fuge als Vorbild des Mies’schen Raumsystems nennt, so dient dies dem besseren Verständnis. Diese musikalische Kompositionsform gilt als « Krönung des kontrapunktischen Stils »253, als Weise der « Zusammenführung der Stimmen ». Stimmen, die im Gegensatz zueinander stehen. Denn anders als zueinander, sind die Wohnräume grafisch vom Außenraum durch einen Doppelstrich geschieden, durch den Mies die Verglasung dargestellt. Das Glas erhält hier eine duale Funktion, die sich

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im Zusammenspiel von Grundriss und Perspektive des Landhauses in der gewählten Hängung verdeutlicht. Es verschließt sich nach außen, scheint durch die nackten Glasflächen sogar gegen den Außenraum abzustrahlen. Freilich wurde gerade die Unterscheidung von Innen und Außen im Sinne des offenen Grundrisses – mitsamt einer Präferenz für großzügige Verglasungen – unter den Programmatikern der Moderne als veraltet angesehen.254 Walter Curt Behrendt sprach in einer der ersten und einflussreichen Rezensionen vom profanen « Ineinanderfließen »255 der Räume, verwechselte dabei das Landhaus aus Backstein mit jenem in Eisenbeton und verkannte die entscheidende kontrapunktische Spannung : Glas, wie aus Mies’ Äußerung zur Intention seines Glashochhauses hervorgeht, wird als eine Membran verstanden, die nach außen reflektiert, nach innen den Eindruck von Offenheit und Freiheit zulässt. Philip Johnson wiederum bemerkte im Jahr 1947, « indoors and outdoors are no longer easily defined, they flow into each other » – und trägt ebenfalls zur Etablierung der Gleichartigkeit von Innenraum und Außenraum bei. Er betont, Mies habe sich Wrights Raumkonzept auf originelle Weise zu eigen gemacht und bezieht sich dabei auf die neue Rolle der Wand : « The unit of design is no longer the cubic room but the free-standing wall, which breaks into the landscape. »256 Durch Berlage – der nach einem Amerika-Besuch mit Wrights Ideen in Verbindung gekommen ist – und das für eine ganze Generation prägende Erlebnis der Berliner Ausstellung seines Werks im Jahr 1910 – mitsamt der Publikation einiger Wohnhäuser Wrights in der berühmten ‹ Wasmuth-Mappe › – war Mies mit dem amerikanischen Architekten vertraut. Ihm galt auch gleich ein Besuch – nach seiner Ankunft in den USA . Offensichtlich wird er von Wrights ‹ Windmühlen-Grundrissen › beeinflusst :257 Indem das Fenster sich von einem bildartigen Ausschnitt in der Wand zur wandgroßen Öffnung entwickelt, indem nun Mauern die Landschaft fassen, wird diese Teil des bewohnten Raums. Sie stimmt ihn. Geht der Architekt einer ‹ organischen Architektur › jedoch von Symmetriebildungen aus, lagert Räume an ausgreifende Achsen und erreicht so die wirksame Verzahnung von Außen und Innen, geht Mies bei seinem Landhaus anders vor. Seine Mauern segmentieren den Außenraum –

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Wohnräume sind daran nicht angelagert. Die flüchtenden Mauerzüge verankern das Haus-Gefüge, haben mit der Koordinierung des Außenraums für den Innenraum zu tun. Der Innenraum stellt sich als Anordnung miteinander kommunizierender – ineinander ‹ fließender › – Raumzonen dar, die für sich keinen klaren Abschluss finden, wie es Mies grafisch durch die Gleichwertigkeit der Räume, die pauschale Funktionszuweisung und die gleich stark dimensionierten, isoliert gesetzten Mauerscheiben betont. Der Außenraum indes liegt ihnen gegenüber : als weiße Fläche. Karl Heinz Hüter meint über die avancierte Raumauffassung der Zeit, dass sie nicht mehr eine fixierte Position, eine Perspektive bevorzuge, sondern die Vielzahl der darin eingenommenen Bewegungen ins Zentrum rücke.258 Will man Mies’ Entwicklung in den 1920er-Jahren weiterhin unter Einfluss der Architektur-Avantgarde erzählen, so liest man in einer der diesbezüglich wohl einflussreichsten Schriften, bei Laszlo Moholy-Nagy, von der Bestimmung des Raums als « lagebeziehung der körper. »259 Der Raum stünde in direkter Beziehung zum menschlichen Körper und dessen Ausdrucksvermögen. Mehr noch, wäre er ohne das menschliche Erleben unvollständig, « dem menschen wird der raum – die lagebeziehung der körper – zuerst mittels seines gesichtssinnes bewusst. dieses erlebnis der sichtbaren lagebeziehungen kann durch bewegung : veränderung der eigenen lage – und mittels des tastsinnes parallel erlebt, kontrolliert werden. [ …] primitiv formuliert erfasst der mensch also den raum : von seinem gesichtssinn aus in erscheinungen wie : weite perspektiven, sicht treffende, schneidende flächen, ecken, klare durchsichten, durchdringungen. »260 Das Zusammenspiel aus Bewegung und Sehsinn, von dem auch Mies’ Raumkonstellation im Landhaus zu sprechen scheint, ist das zentrale Thema Moholy-Nagys. Die Bewegung wird als grundlegendes Mittel der Raumerfassung definiert : « von der seite des subjekts aus ist also raum am unmittelbarsten erlebbar durch bewegung, auf eine höhere art durch den tanz. der tanz ist gleichzeitig ein elementares mittel zur erfüllung raumgestalterischer wünsche. » Der Blick nach draußen erforderte Konzentration, Ruhe, Stillstand im Bewegungsfluss – zumindest für einen Augenblick. Der Außenraum fordert zu ‹ Halt › auf, bleibt den Wohn-Bewegungen indes verschlossen.

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Der Hausraum müsste demnach als geteilt verstanden werden : In einen tatsächlich zugänglichen Wohnraum, jenen Ort, über den ein Bewohner frei verfügt, in dem er sich immer noch einrichtet – und in einen FernRaum. Nicht nur setzte dieses Raumerlebnis der Bewegungskultur eine Blickkultur gegenüber, sondern ein um sich selbst kreisender Wohnalltag ist ergänzt durch das ‹ Haltemoment › der landschaftlichen Erfahrung. Der architektonische Innenraum braucht hierfür einen klaren Abschluss, wie schon Tegethoff bemerkt hat : « Die wahrnehmungsbedingte Umsetzung des Außenbereichs in einen rein visuell erfahrbaren Bildraum beinhaltet bei aller Offenheit und Transparenz des Baukörpers die Aufrechterhaltung der Trennung zwischen den beiden Sphären. Die gläserne Scheidewand bildet daher nicht nur eine physische Schranke, sondern bezeichnet dank ihrer rahmenden Funktion ebenso auch eine ästhetische Grenze. »261 Sie kann auch deshalb als « ästhetische Grenze » gelten, weil sich an dieser Stelle die Konstruktion im Wechselspiel mit dem landschaftlichen Eindruck anreichert, weil der Haus-Umraum durch den Rahmen zur Landschaft wird. Mies selbst kommt nur einmal, in einem Vortragsmanuskript vom 19. Juni 1924, auf das Landhaus aus Backstein zu sprechen, in einer Passage, die die Bedeutung des Raumes für den Entwurf hervorstreicht : « Bei dem Grundriss dieses Hauses habe ich bisher übliche Prinzipien der Raumschließung verlassen und statt einer Reihe von Einzelräumen eine Folge von Raumwirkungen angestrebt. Die Wand verliert hier ihren abschließenden Charakter und dient nur zur Gliederung des Hausorganismus. »262 Die Wand also ist das zentrale Thema der Architektur, die durch sie erzielte Gliederung und Moderierung der Raumbezüge, die Wirkung des Raums steigernd. Statt das Wohnhaus als Gefüge abgeschlossener Kammern zu verstehen, definiert Mies die Wand nun als opakes, freistehendes Element, das stellenweise ganz selbstverständlich in Glasflächen übergeht. Bei dieser Verwandlung der Innenräume zu Raumzonen tritt ihre Nutzung in den Hintergrund. Sie erklären sich durch die Weise ihres Bezug zueinander und zum Außenraum. Die auskragenden Dachplatten übernehmen horizontal ähnliche, lenkende Aufgaben wie die stehenden Wandscheiben, vermitteln und schließen ab, gehen von hellen Decken über in den tiefen Himmel.

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Anders als beim Haus Riehl und der moderaten Gartenkunst um 1900, hat Mies beim Landhaus aus Backstein jede gärtnerische Vermittlung zum Landschaftsraum eliminiert und sein Interesse gänzlich auf die Polarität von Nähe und Ferne konzentriert. Er stellt durch Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Wohnmodell die grundsätzliche Frage, wie Architektur der Aufgabe des Wohnens gerecht werden könnte, ohne in eine neue Repräsentationskultur zu verfallen. In seinem Aufsatz Form und Bedeutung in der Architektur problematisiert Julius Posener diese Entwicklung, wenn er den epochalen Bruch in der Architektur darin ausmacht, dass im « Zeitalter der expansiven Technik »263 die « Übereinkunft darüber, wie ein Haus gebaut wird und darüber, was ein Haus ist » aufgekündigt worden sei. Das Einverständnis über eine gemeinsame Wohnform sei verloren – meint Posener. Auch deshalb, weil es jene Bauherren nicht mehr gebe, die danach verlangten. Mit dem Ersten Weltkrieg sei das Selbstverständnis, die Konvention über die Form des Wohnens abhandengekommen.264 Mies sucht die Erfahrung eines Landhauses in einer Weise auszudrücken, die seinen ‹ Gehalt › in die neue Zeit rettet. Es mag daher durchaus zutreffen, was Posener dieser Architektur vorwirft : « aus dem ganzen Haus ein Ornament »265 zu machen. Nicht indes im ironisierenden Sinn, sondern im Sinn eines ‹ Passstücks ›, das die Landschaft erlebbar macht. Bewegliche Häuser Auf der Tagung des Deutschen Werkbundes im Juni 1930 in Wien erklärt Mies : « Die neue Zeit ist eine Tatsache ; sie existiert ganz unabhängig davon, ob wir ‹ ja › oder ‹ nein › zu ihr sagen. [ …] Auch die Frage der Mechanisierung, der Typisierung und Normierung wollen wir nicht überschätzen. Und wir wollen die veränderten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse als eine Tatsache hinnehmen. Alle diese Dinge gehen ihren schicksalshaften und wertblinden Gang. Entscheidend wird allein sein, wie wir uns in diesen Gegebenheiten zur Geltung bringen. »266 Hierfür wird man ihn später kritisieren, man wird ihm vorwerfen, er wolle die vorherrschenden Bedingungen nur verfestigen. Doch fügt er sich nicht einfach in den geschichtlichen Prozess. Auf der Internationalen Berliner

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Bauausstellung, abgehalten vom 9. Mai bis 2. August 1931 auf dem sieben Hektar großen Gelände am Reichskanzlerplatz, hat Mies gemeinsam mit Lilly Reich die Möglichkeit, zur Frage des zeitgenössischen Wohnbaus Stellung zu beziehen. Nun wird gebaut – ein konkretes Haus-Modell. Er bemerkt über die von ihm kuratierte Abteilung : « Die Wohnung unserer Zeit gibt es noch nicht. Die veränderten Lebensverhältnisse aber fordern ihre Realisierung. »267 Diesmal treten seine Argumente nicht in Form zweier abstrakter Zeichnungen auf, sondern in einem gebauten Musterhaus. Wieder fehlt die Landschaft – nun aber aus ganz profanen Gründen : Man baut in einer Halle. Die Rezeption von Wilhelm Lotz in der Form – der Zeitschrift des Werkbunds, in der Mies gelegentlich zu publizieren pflegt – belegt, wie sehr dieser Wohnvorschlag absticht von den anderen ausgestellten Projekten. Über das neuerliche ‹ Idealhaus › berichtet Lotz ausführlich durch zwei Beiträge in zwei aufeinander folgenden Ausgaben : « Zwischen den Kleinwohnungen haben Mies van der Rohe und Lilly Reich ihre Flachbauten errichtet, geräumige, üppige Einfamilienwohnungen, die mit den Problemen, mit denen sich die Kleinwohnung befassen musste, nichts mehr zu tun haben. Viele haben dieses Nebeneinander nicht verstehen können und den Erbauern vorgeworfen, dass sie neben den Proletariergrundriss ein modernes Luxusgebilde stellen. [ …] mit diesen Häusern ist nichts Geringeres gegeben als eine große, in die Zukunft hineingestellte Zielsetzung für das Wohnproblem. »268 In diesen Wohnhäusern wäre « der Architekt [ …] im besten Sinne der Anwalt der wirklichen menschlichen Wohnbedürfnisse, die er soweit wie möglich auf dem Boden der realen Situation durchzusetzen versucht », der « Mensch im geistigen Sinne zum Maßstab des Räumlichen geworden ; hier ist, wenn man so sagen will, das Künstlerische der Raumgestaltung in einem neuen Sinn zum Ausdruck gekommen. Wer bei diesen Häusern nach dem Bauherrn fragt und ihn real und leibhaftig als Typus einer besonderen Klasse sieht, versteht diese Ausstellung falsch, denn der Bauherr ist schlechthin der neue Mensch. » Mies war sich der realen Wohnungsnot seiner Zeit als Kurator der Ausstellung bewusst und reserviert seinen Hauptbeitrag dennoch für eine Aufgabe, die ihm offenbar vordringlich erscheint, nämlich dafür, dem

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« geistigen Wohnbedürfnis » des « neue Menschen » Rechnung zu tragen – nimmt man Lotz beim Wort. Mit diesem ‹ Geistigen › kennzeichnet dieser die andere Seite des Neuen Bauens, die weder zum repräsentativen bürgerlichen Wohnmodell in Beziehung steht, noch zum ‹ Bauen für das Existenzminimum ›. Diese Zuspitzung hat auch Tegethoff für das Landhaus aus Backstein in Anspruch genommen : « Die Vielzahl der Funktionsabläufe, die im wechselseitigen Zusammenspiel erst das Leben in seiner Gesamtheit ausmachen und insofern das Wesen des Wohnbaus bestimmen, sind im vorliegenden Entwurf auf ein einziges Ziel hin ausgerichtet, dem sich alle anderen Aspekte unterzuordnen haben : die Gestaltung des Wohnens in seiner reinsten und höchsten Form zum Zweck der Selbstverwirklichung des modernen Menschen. »269 Nichtsdestotrotz entwirft Mies für diese Ausstellung auch eine knapp gehaltene Wohnung für Junggesellen, Lilly Reich ein Boardinghaus. Der Innenraum von Mies’ großzügigerem Muster-Haus auf der Bauausstellung – das in einer Entwurfsdarstellung mit Kohlestift durchaus dem Hauptwerk dieser Jahre, dem Haus Tugendhat, aber auch den Krefelder Wohnhäusern ähnlich sieht – stellt sich als eingeschoßiges Geflecht großzügiger Wohn-, Ess- und Schlafzonen dar, die sich jeweils zu hofartig geschlossenen oder zur Landschaft geöffneten Außenräumen orientieren. Eine pragmatische Version des ‹ Backsteinhauses ›, in der – wie schon beim Stuttgarter Sonderraum der Glasindustrie 1927 – nun auch die Materialität der Wände zum Thema wird. Tritt man in den Vorraum des Musterhauses, begibt man sich nach einer 180-Grad-Wendung in einen geräumigeren Empfangsbereich. Von einer Wandscheibe getrennt, liegt dahinter der auf zwei Seiten vollends zum Außenraum geöffnete Ess- und Wohnbereich. Das Haus muss ergangen und entdeckt werden, ohne dass es noch Türen oder Schwellen bedürfte, um die unterschiedlichen Räume zu definieren. Die intimeren Schlafräume werden durch eine eingestellte, halbrunde Nasszelle voneinander getrennt und beziehen sich auf den partiell zur Landschaft geöffneten Hof. Hier nun arbeiten dem vollends verglasten Innenraum davor gelagerte Wandscheiben in jenem Maß zu, in dem der Ausblick moderiert werden soll. Nicht überall stellt sich offenbar die fiktive Landschaft dem Bewohner günstig dar. Anders gesagt : Diese

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wäre entscheidend für das Maß der Öffnung. Während Wandscheiben den Innenraum funktional gliedern, erfüllen sie zudem die Aufgabe, die Bezüge zum Außenraum zu inszenieren. Und so zeigt der Grundriss des Musterhauses – trotz der seltsam-künstlichen Situation einer ingenieursmäßig errichteten Halle mit Topfpflanzen – ausgreifende Wandelemente, die sich ‹ falten › können. Der ‹ Hofraum ›, in Lotz’ Artikel als wichtiger Beitrag zum städtischen Raumproblem gewertet, erlaubte intime Außenräume – entgegen dem « süßen Panoramabild »270, das von Walter Gropius’ Apartmenthaus nebenan inszeniert werde –, wäre die dichte Gruppierung solcher Patio-Häuser möglich, womit Mies sich in den späten 1930erJahren und auch in Chicago am IIT noch beschäftigen wird. Nach dem Landhaus aus Backstein verfeinert sich also das ‹ Kompositionsprinzip frei stehende Wand ›. Mit der Doppelbelegung von Glasscheibe und Wandscheibe als Raumabschluss und Sichtabschluss ist das ‹ ABC › des neuen Landhauses durch wenige, einfache Bauglieder gefestigt und durch den ‹ Horizont › der Dachplatte sowie den geometrisch-strengen Plattenbelag in unmittelbarer Hausnähe komplettiert. Auch die überschlanke ‹ Säule › ist nun präsent. Mies vollzieht einen Schritt in Richtung jenes Vokabulars, das zur « räumlichen Revolution »271 dieser Zeit beigetragen hat, wie Colin Rowe es ausdrückt : « Wie alle anderen räumlichen Prinzipien ergab sich der Raum des International Style aus einer Neubewertung der Funktionen, die der Stütze, der Wand und dem Dach gemeinhin zukommen, und in seiner entwickeltsten Form postuliert er eine Skelettkonstruktion, deren tragende Funktion getrennt von der nichttragenden Funktion der räumlichen Gliederung zu formulieren war. » Dabei nutzt der Architekturhistoriker den Begriff ‹ International Style ›, um sich zum Prädikat eines neuen, modernen Stils in ein kritisches Verhältnis zu setzen – es ging ihm in den 1950er-Jahren darum, Mies’ Werk in den Kanon einer Klassik mit langem Atem einzuordnen, die um 1800 – aber auch um 1900 und darüber hinaus – noch nicht zu Ende war. Und so verwendet Rowe den Begriff ‹ Orthodoxie ›, um die kompositorischen Mittel einer ‹ klassischen › und doch ‹ modernen › Haltung zu definieren : Wandscheibe, Deckenplatte, Stütze.272 Im Begleittext ihres Wohnhauses für die Mustersiedlung am Weißenhof haben Le Corbusier und Pierre Jeanneret Fünf Punkte zu einer neuen

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Architektur formuliert. In diesem einflussreichen Manifest heißt es : « Die gesamte Architektur dreht sich ausschließlich um die Maueröffnung. Der armierte Beton bringt auf einmal durch das Langfenster die Möglichkeit der maximalen Beleuchtung. »273 Die Abwendung von der Stilform und Hinwendung zu konstruktiven Ausdrucksmitteln ist kein Selbstzweck, die Fünf Punkte Le Corbusiers und seines Vetters enden daher mit folgendem Satz : « Die dargestellten fünf grundlegenden Punkte bedeuten eine fundamental neue Ästhetik. »274 Bekanntlich hat Le Corbusier bereits 1914 mit seinem Maison Dom-Ino die aus den Möglichkeiten des Bauens mit armiertem Beton gewonnene Raum-Entwicklung vorexerziert : die Trennung von Raumabschluss und Tragwerk. Scheinbar unbeeindruckt davon erkennt Mies diesen Grundsatz im Kontext des Barcelona-Pavillons.275 Sein berühmtes Bauwerk für die Weltausstellung von 1929, das nur sich selbst und den neuen Raum ausstellt, gilt als Paradebeispiel und – neben dem Haus Tugendhat – als Höhepunkt unter seinen europäischen Bauten. Alle drei Elemente, Stütze, Wandscheibe, Dachplatte, sind in diesen beiden Gebäuden präsent und zu eigenständigem architektonischem Ausdruck verwirklicht. Mit einer konstruktiven Logik hat das wenig zu tun, dürfen Stützen sich hier doch durchaus in Wandscheiben verbergen. Das neue Landhaus als ‹ Passstück › der Landschaft setzt allerdings nicht nur ein flexibles und doch robustes architektonisches Vokabular voraus, sondern auch einen naturräumlich charakterisierten Ort, auf den es sich ausrichtet. So besehen, mit Blick auf die Nüchternheit von Mies’ Musterhaus, das die dumpfe Atmosphäre einer ‹ Baumesse › nicht scheute, ginge es um ein Haus, das auf die Suche geht nach der Landschaft, um von dieser ‹ affiziert › zu werden. Die vorzufindende Kulturlandschaft wiederum wäre auf das Landhaus angewiesen, das sie zum Tiefenraum des Wohnens schärft. Schauplatzwechsel : Ein weiteres, nun wirklich gebautes, heute sogar zu besichtigendes Fallbeispiel aus dem umtriebigen Jahr 1923, an dem auch das Bauhaus ein erstes Bauhaus-Haus ausstellt und sich feiert. Corseaux am Genfer See : Le Corbusiers Vater scheint diesen Ort geliebt zu haben. Als die Familie im Jahr 1919 aus der zu groß gewordenen Villa Jeanneret-Perret in ein Chalet nach Les Chables oberhalb von Vevey zieht, schwärmt er von der bergigen Landschaft, dem See, den er nicht mehr

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missen will. Unmittelbar am Wasser gelegen, präsentieren die erhabenen Kräfte des Lac Léman die Landschaft als Naturschauspiel : Hier sollte ein Haus entstehen, mit dem man so nahe ans Ufer rücken wird, dass für die wechselnden Wasserstände durch einen Pufferraum unter dem Gebäude gesorgt werden muss. Das Naturerlebnis ist unmittelbar an die petite maison gerückt. Die neue elterliche Bleibe stellt das Resultat einer gefunden Korrespondenz zwischen Landschaftsraum und Wohnraum dar. Die gewachsene Kulturlandschaft der Westschweiz hat die Familie dorthin geführt, der Architekt setzt in sie ein Instrument ihres Erlebens. Mit « dem fertigen Plan in der Tasche »276, wie Le Corbusier schreibt, habe er sich auf die Suche nach dem geeigneten Terrain gemacht. Sein Projekt fängt die bewunderte Landschaft an einem präzise gewählten Ort ein, stellt sie auf Dauer, in ein Panorama, das die ganze Hauslänge einnimmt und den gesamten Innenraum landschaftlich imprägniert. Romantisch-schwelgerisch stellt sich dem Architekten diese Situation zunächst nicht dar : « Zuerst einmal muss man wissen, wie man entsprechend den Zusammenhängen vernunftgemäßer Funktionen zu wohnen hat »277, schreibt er. In einem Brief zeigt er dennoch, wie bemerkenswert er die dynamisch sich wandelnden Stimmungen der Natur findet : « Im Winter wirkt dieser Ort extrem würdevoll. Er ist einfach gewaltig, noch ausgedehnter als im Sommer und von einer eindrucksvollen, beinahe arktischen ‹ Weichheit › gekennzeichnet : Die Bergkulisse im Hintergrund verschwindet und der See scheint ein Meer zu sein. »278 Das bescheidene Haus für zwei ältere Menschen wird zur Beobachtungsstation in ausgezeichneter naturräumlicher Situation, der er sich in vielen Landschaftsdarstellungen zeichnerisch versichert und sich so in die Stimmungen vor Ort einfühlt. Das Haus erlaubt die Wiederholung der bei Spaziergängen und Aufenthalten im Freien erlebten Landschaftseindrücke. Darüber hinaus böte die Fläche des Sees mit den dahinter steil ansteigenden Felswänden und zerklüfteten Gipfeln der Savoyer Alpen ein einzigartiges Schauspiel, das eben auch « verschwinden » könne, wenn – jahreszeitlich bedingt – aus dem See ein « Meer » würde, wenn er sich zur Unendlichkeit weitet. Diese naturästhetische Erfahrung ist Auslöser für den Entwurf des ersten « Bandfensters »279. Der länglich-schmale, einseitig geöffnete Wohn-

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raum erhält den Charakter einer Sehmaschine, eines erweiterten Blickapparats. Besonders deutlich macht das eine kolorierte Perspektive des Innenraums. Auf ihr erscheinen die Berge wie Einrichtungsgegenstände, als Teil des Wohnens – und doch haben sie nichts Domestiziertes an sich, behalten ihre meist winterlich gestimmte Erhabenheit im Blau der Zeichenfarbe. Die Landschaft ist keine Zutat zu solchen Häusern, sie bestimmt ihr Wesen. Le Corbusier bezieht sie direkt in seine Äußerung zum modernen Haus ein. In einem Vortrag vom 11. Oktober 1929, vor der Gesellschaft der Kunstfreunde von Buenos Aires, stellt er den ‹ Plan des modernen Hauses › nicht nur in Beziehung zur gerade im Bau befindlichen Villa Savoye, sondern legt seine Vorstellung der modernen Landschaft paradigmatisch dar. Gedanklich das Publikum durch die Räume seiner Häuser führend, diese zugleich in Skizzen erläuternd, meint er : « Überall herrscht Verkehr. »280 Alles ist erschlossen ; auch die Landschaft am Genfer See : « Ein einziges Fenster von 11 Metern Länge verbindet und erhellt alle diese Räume ; es gibt den Blick frei auf eine großartige und wunderbare Landschaft : auf den bewegten See und die Berge im Licht. » Über den Entwurf der berühmten Villa Savoye meint er : « Sehen Sie sich den Schnitt an : überall Luft und Licht. Und hierdurch werden architektonische Eindrücke von einer Mannigfaltigkeit vermittelt, die jeden Besucher, der mit den durch die moderne Technik ermöglichten architektonischen Feinheiten nicht vertraut ist, verblüffen. Die einfachen Stützpfeiler des Erdgeschoßes teilen die Landschaft in regelmäßige Abschnitte, so dass Begriffe wie ‹ vor ›, ‹ hinter › oder ‹ neben dem Haus › gar nicht mehr in Frage kommen. »281 Hier folgt erneut das Wohnerlebnis dem Erlebnisgehalt der Landschaft : Es « wird ihnen vorkommen, als sei ihr häusliches Leben einem Gesang Vergils entnommen. »282 Aber freilich ist diese bukolische Landschaft « dem Quell der modernen Materie abgerungen. Lyrik und Poesie : Geschenke der Technik. » In seinem Manifest Städtebau, das acht Jahre vor dem berüchtigten Athener CIAM-Kongress von 1933 unter dem Titel Urbanisme Le Corbusiers Stadtanalysen versammelt – wenige Jahre also vor der ‹ Villa Le Lac › am Genfer See – scheinen Natur und Mensch, beide, von einer rationalen Ordnung bestimmt. Der Städtebauer hält fest, dass « die Gerade ein

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ihm angeborenes Mittel ist und für sein Denken ein erhabenes Ziel darstellt. »283 Deshalb entspräche es auch der Natur seines Denkens, wenn die neue Stadt als Gitternetz auf einer leeren Fläche angelegt würde : « Der Mensch untergräbt und zerhackt die Natur. Er widersetzt sich ihr, er zwingt sie nieder, er richtet sich in ihr ein. Kindliche und großartige Arbeit! »284 Die scheinbar ‹ intakte › Natur der Illustrationen stimmt erst nach dem menschlichen ‹ Zugriff › das Erlebnis des monumentalen Stadtkörpers. Die Stadtlandschaft erscheint hier zwar als ebenso vorgängig wie am Genfer See, müsste aber in dieser Stadtutopie vollkommen neu ‹ gepflanzt › werden. Auf dem Boden seiner Großstadt, der Geometrie, dem Verkehr und Hochhaus verpflichtet, gedeihen in der Ruhe nach dem Kraftakt riesige Bäume – eine beinahe bedrohliche Idylle : « Die Sonne dringt überall hin, ebenso die Luft. Der Garten ist mit roten Backsteinen gepflastert, seine Wände mit Efeu und Klematis bekleidet ; Okubas, Spindelbäume, Lorbeer und Thuja bilden in gewichtigen Zementkübeln oder in Töpfen geschlossene Gruppen ; Blumen der Jahreszeit erheitern das Gemüt : ein wirklicher Hausgarten mit leichter Pflege. Vor Regen geschützt ist der Tisch darin aufgestellt. Man isst, man plaudert, man ruht im Freien »285, heißt es da. Der Schein des Naturschönen trügt, die frivol beschriebene Pflanzenwelt der gigantischen Neustadt maskiert nur die Willkür und Mechanik solchen Planens. In Mies’ amerikanischen Projekten wird ein Landschaftsarchitekt Sorge tragen, dass seine Campus-Bauten und Hochhäuser in einer dicht begrünten ‹ Landschaft › liegen. Richard Ingersoll hat festgestellt, dass die in Mies’ Plandarstellungen aufscheinende Diskrepanz zwischen Bauwerk und baumbestandener, pittoresker Außenanlage zur Meinung geführt habe, Mies beschäftige sich nicht mit diesem Verhältnis, überlasse sie bestenfalls dem Landschaftsarchitekten Alfred Caldwell, mit dem er immer wieder zusammenarbeiten wird. Doch « while one usually thinks of Mies as a master of inert steel and glass boxes, it could just as well be said that his true mission was to create grand vistas using natural elements of water and plants. »286 Der Gegensatz von Konstruktion und ‹ Natur › in der Gartenkunst des Neuen Bauens ist etabliert – nicht aber die Trennung, sondern der erlebte Zusammenhang wird für Mies

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entscheidend. Er wird sich im Mai 1959, im Interview mit der BBC, ganz deutlich darüber äußern, was als sein ‹ landschaftliches Prinzip › gelten kann. Neben einer « gewaltigen Versammlungshalle », gibt er an, nach wie vor als einzig offenen Wunsch die Errichtung eines Hauses für sich selbst zu hegen – « ein einfaches, aber sehr großes Haus »287. Aus diesem, wie aus dem Hochhaus, könne man « beobachten, wie sich der Himmel und auch die Stadt selbst alle Stunden verändern. Ich glaube, das ist wirklich neu in unserem Konzept vom Wohnbau. » Neu daran konnte freilich nicht sein, dass man nach draußen schaut. Was diese Aussage auszeichnet, ist der inhärente Respekt vor der Eigendynamik der Natur, ihre Korrespondenz mit dem Raum des Wohnens, der sich – wie die Stadt – durch die ästhetische Erfahrung weitet. Und so ist es frappant, dass die Glasflächen des Landhauses aus Backstein nichts zeigen. In ihnen spiegelt sich nichts, sie geben nichts preis von ihrem Inneren. Anders die Darstellung seines Hochhausentwurfs, des zweiten der ‹ fünf Projekte ›, bei dem die Konturen des Innenraums durch das Glas hindurch scheinen, Innenraum und Außenraum optisch ineinander übergehen, die gläserne Membran selbst unsichtbar bleibt, wirkt das Glas in der Perspektive des Landhauses körperhaft, weiß, wie ein Schirm. So schwierig es ist, hier von einer Landschaft zu sprechen, in Ermangelung jeglichen naturhaften Elements, das diesen weißen Blattraum aus der Abstraktion ins Konkrete überführte, so sehr trifft sich dies mit den grundsätzlichen Überlegungen Werner Flachs, die er in seinem Aufsatz Die Fundamente der Landschaftsvorstellung als « integrierenden Kerngedanken »288 eines modernen Landschaftsbegriffs aufsucht. Sie sei die Erfahrung von etwas, « das sinnlich wahrnehmbar ist, als etwas, das nicht sinnlich wahrnehmbar ist. »289 Dieser Erfahrung liegt eine ‹ Spannung › zugrunde. Im ‹ Schauen auf die Welt › durch die Zentralperspektive, der Mies’ eigene Skizzen stets verpflichtet bleiben, komme die « Affinität zum Ganzen »290 und die « Nichtigkeit des willkürlichen Standpunktes » gleichermaßen zum Ausdruck, wie Albrecht Koschorke in seiner Geschichte des Horizonts festhält. « Der neuzeitliche Bildbegriff, der sich vom religiösen Erleben emanzipiert, bewahrt gleichwohl die Struktur dieser Verschiebung. Er führt aus der vorkünstlerischen Realität heraus in eine ästhetische Ordnung. »291 Mit

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der perspektivischen Bildkomposition ist der mittelalterliche Symbolraum zum modernen Tiefenraum geworden – das geöffnete Fenster, der Fensterrahmen ist sein Vorbild. Der Kunsthistoriker Gerd Blum bezieht dieses ‹ Sehen › der Landschaft auf zwei Typen des Umraums einer Villa : « Hügeltheater » versus « Bildfenster ». Ersterer berufe sich auf das « Mikrokosmos-Makro-kosmosModell » des Vitruvianismus, unterliege also einem antiken, idealisierenden Naturbegriff. Dem idealen Ort der Antike stünde in der Moderne hingegen die reale Natur als Landschaft gegenüber ; während das ‹ Hügeltheater › auf einer prästabilisierten Ordnung der Natur fuße, sei das moderne Naturverhältnis als Blickbeziehung naturgemäß vom Menschen abhängig : « Als ‹ Ganzheit › erscheint dieser erst, indem das im Sichtfeld des Fensters präsentierte kontingente Fragment der Sichtbarkeit in die Ordnungsvorgabe eines architektonisch gerahmten und harmonisch proportionierten Sichtfeldes einbeschrieben wird. Es erscheint damit gleichsam als ein von Menschenhand komponiertes Gemälde. »292 Auch für Blum hängt dieses Dispositiv also mit dem neuzeitlichen Individuum zusammen, das sich gegenüber der als ästhetische Einheit gesichteten Natur der Landschaft konstituiert.293 In die Abstraktion solcher Gedanken hat sich Mies nicht verstrickt – wenngleich er ein Nachdenken darüber doch provoziert. Für die Entwicklung der Mies’schen Landhäuser und ihrer Beziehung zum Außenraum hat Tegethoff das Vorhandensein einer ästhetischen Grenze vorausgesetzt. So erst stelle sich diese Landschaftserfahrung ein ; dies « aber verlangt, dass ein Überschreiten der Trennlinie und somit ein unvermitteltes Hinüberwechseln in eine andere Wahrnehmungssphäre unter allen Umständen zu verhindern ist, soll nicht der zuvor gewonnene Eindruck sogleich wieder in Frage gestellt werden. Es wäre dies der ernüchternde Schritt hinter die Kulissen – und zwar auf direktem Wege über die Bühne. »294 Tegethoff spricht von einer Bühne, um die Inszenierungsqualität dieser Landhäuser zu betonen. Freilich nimmt man an diesem Schauspiel wohnend teil, wenn schon nicht – oder nur ausnahmsweise – durch den Tanz. Nicht Außen, nicht Innen, verstärkt der Landschaftseindruck die Differenz der verschiedenartigen Erfahrungsräume, an denen man teilhat – eines bewohnten Raums und eines Raumes, in dem die Natur wohnt. Welche ‹ Natur ›?

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Exkurs zu Ritters ‹ Theoria › Der Philosoph Joachim Ritter295 hat im Rückblick aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den entscheidenden Zusammenhang zwischen Ästhetik und Rationalität, zwischen Natur und Freiheit, der modernen Großstadt und der Landschaftserfahrung des Städters hergestellt – und hellt so Flachs knappe Definition des Gehalts dieser modernen Erfahrung auf. Ritter geht ideengeschichtlich zurück bis zu den Ereignissen der Französischen Revolution : Am 10. Dezember 1793 wurde erstmals ein der Vernunft gewidmetes Fest zelebriert und Kirchen hierfür mit Gärten ausstaffiert. Gerade sie sollten das liberale, aufgeklärte Denken beherbergen. Der Pariser Architekt Alexandre-Théodore Brongniart setzte etwa in den Plan für seinen brachialen Umbau der Kathedrale Saint-André in Bordeaux einen Berg an die Stelle des Altars ; ein Naturspektakel, eingezwängt zwischen die engen Wände eines lang gestreckten Chorraums. Was war geschehen? « Man beginnt, Gott in der Natur zu suchen ; man will das Göttliche in die Natur retten, das die geschichtlich-politische Gegenwart von sich ausschließt. Die politische Umwälzung der Zeit hat den Sinn der metaphysischen Tradition und ihre Wahrheit in Frage gestellt ; sie schickt sich an, sie zu vernichten »296, schreibt Ritter, um den Umbruch des Naturverhältnisses im Zeitalter der Aufklärung zu kennzeichnen. Seine Theorie der Landschaft überspannt den langen Bogen einer Moderne, die mit der Entwicklung der naturästhetischen Erfahrung aufs engste verwoben ist ; sein kurzer Text Landschaft ist bis heute Ausgangspunkt des Nachdenkens über die moderne Naturbeziehung des Menschen – zugleich ist er eine Untersuchung der Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, wie der Untertitel dieses zentralen Aufsatzes aus dem Jahr 1963 lautet. Vorgängig zur Landschaft publiziert Ritter zu Hegel, zu dessen Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution.297 In geschichtsphilosophischer Perspektive habe sich in den Pariser Ereignissen von 1789 erstmals die Freiheit des einzelnen dargestellt ; in diesem Moment historisch gewordener Vernunft werde zur politischen Realität, was Hegel als das Prinzip der « ursprünglichen metaphysischen Freiheit des

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Selbstseins »298 verstanden habe. Dieses aktualisiere und konkretisiere sich in der neuzeitlichen Subjektivität : « Durch diese Subjektivität wird auf dem Boden des geschichtlichen Daseins selbst das aufgenommen, was der Verstand von seiner objektiven dinglichen Realität ausgeschlossen hat ; sie bewahrt in ‹ Gefühlen und Stimmungen › die Schönheit und Wahrheit, die der Verstand preisgibt. »299 Subjektivität, frei geworden zur Reflexion über die Umstände ihrer selbst, findet in der modernen Gesellschaft das alte Metaphysische durch die Betrachtung der Natur in neuer Form wieder. Diese Dynamik ist es, die Ritter zur griffigen Formel der Entzweiung300 führt, mit der er die Moderne charakterisiert.301 In diesem Sinn sei es der Subjektivität aufgetragen, Zukunft und Herkunft, objektiviert-technische Lebensvollzüge und die gegenläufige Erfahrung der Natur als Landschaft aufeinander zu beziehen.302 Dem Individuum selbst käme die Aufgabe zu, « die Freiheit, die die Gesellschaft freigibt und der sittliche Staat sichert, mit substantiellem Leben zu erfüllen. »303 Ritter erklärt die Wirkungsweise des Ästhetischen demnach aus der Entzweiungsstruktur der modernen Welt. Ihr Modell findet er in der antiken theoria. Für die antike polis habe noch gegolten, wofür Hans Blumenberg in seinem Buch Die Legitimität der Neuzeit poetische Worte gefunden hat : « Diese Natur ist wesentlich ‹ aus sich selbst ›, und sie ist wesentlich ‹ aus sich selbst › wahr. Solche Natürlichkeit der Wahrheit lässt sich unmittelbar dem Gedanken einfügen, der die Welt als Kosmos versteht und die theoretische Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit als ein Stück dieser Ordnung teleologisch interpretiert, indem er die Erkenntnisfähigkeit des Menschen als Entsprechung einer ‹ Eigenschaft › der Dinge, ihrer Intelligibilität nämlich, deutet. »304 Die Verbundenheit von Denken und Sein, die sympathetische Stellung des Menschen im Kosmos provozierte noch kein Hinterfragen, gab keinen Anlass, die « theoretische Neugierde » zu wecken. Den argumentativen Drall, den Ritter dem theoria-Begriff gibt, um ihn in Verbindung zur ästhetischen Erfahrung von Landschaft zu setzen, hängt mit der Überführung des alten Korrespondenzverhältnisses zusammen, das Blumenberg beschrieben hat. Nun wird es zu einem ästhetischen Verhältnis und findet im Individuum seinen Resonanzraum.

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Wie aber entwickelt sich die moderne Landschaftserfahrung aus der antiken theoria? Sie war schon in der Antike die « anschauende Betrachtung »305 und hat sich gegen die « Sphäre des praktischen Handelns abgegrenzt », meint Ritter. Durch « festliche Schau des göttlichen Ganzen » hatte man teil an der kosmischen Natur.306 Landschaft, das ist nach Ritters Definition hingegen eine « Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist : Nicht die Felder vor der Stadt, der Strom als ‹ Grenze ›, ‹ Handelsweg › und ‹ Problem der Brückenbauer ›, nicht die Gebirge und die Steppen der Hirten oder Karawanen (oder der Ölsucher) sind als solche schon ‹ Landschaft ›. Sie werden dies erst, wenn sich der Mensch ihnen ohne praktischen Zweck in ‹ freier ›, genießender Anschauung zuwendet, um als er selbst in der Natur zu sein. »307 Dieses Konzept setzt neuerlich den Ausdruck und den Ort der modernen Subjektivität in eins : Landschaft wird zum Ort des Naturästhetischen, diese aber zugleich auch ein Modus, in dem der Mensch ohne Beschneidung seiner vollen Vernunft lebe. Die industrielle, arbeitsteilige Gesellschaft bereitet die Grundlage dieser Natur-Erfahrung.308 Explizit heißt es auch, « Subjektivität geht gegen die verdinglichende Objektivität des Verstandes »309 vor. Diese Wende zur Ästhetik wird allgemein weniger beachtet als das in derselben Entwicklung angelegte Fortschritts-Paradigma. Der Philosoph Jörg Zimmermann hält fest : « Die im Denken der Romantik kulminierende Transformation des metaphysischen in den ästhetischen Naturbegriff ist als einer der bedeutendsten kulturgeschichtlichen Vorgänge des 18. Jahrhunderts bezeichnet und gewürdigt worden, hat aber allgemein viel weniger Beachtung gefunden als die Ablösung des metaphysischen Naturbegriffs durch das mechanistische Weltbild der neuzeitlichen Wissenschaft. »310 Dem cartesianischen cogito ergo sum sei ein « sentio ergo sum »311 beizustellen – der empirischen modernen Naturwissenschaft steht eine die Sinne faszinierende Augenblicklichkeit der landschaftlichen Erfahrung gegenüber. In der antik-mittelalterlichen theoria führte die festliche Schau vom Sinnfälligen zum Ganzen, zum Kosmos : der ‹ Ordnung ›. Es handelte sich bereits um das Modell eines Verweises, der Struktur der ästhetischen Erfahrung nicht unähnlich. Darüber hinaus stellt sich die Entzweiung in der Ausdifferenzierung der Vernunft dar :

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Was einmal in ‹ theoretischer Erkenntnis › als Ganzes geschaut worden ist, spaltet sich in verschiedene Zugänge zur Natur auf, die allerdings komplementär aufeinander bezogen blieben – wie beim Zusammenspiel von Konstruktion und Landschaftseindruck im modernen Landhaus. Ritter bekräftigt dies, wenn er das kontemplative Naturverhältnis des modernen Menschen auf die Naturästhetik des deutschen Idealismus bezieht : « Kants ästhetische Theorie ist so in einem epochalen Sinne die Bestätigung der Herkunft der Natur als Landschaft aus der Tradition der philosophischen Theorie. Mit Kant erreicht die Geschichte der Landschaft die Stufe, auf welcher die Darstellung des ‹ Übersinnlichen › der Natur dem Vernunftbegriff entzogen ist ; ihre ‹ Contemplation › hat sich daher in die ästhetische Betrachtung transformiert. »312 Kontemplation, theoria, ist ein reflexiver Vorgang, handlungsentlastet, keinem Zweck verpflichtet. In seinen Vorlesungen zur Ästhetik bestärkt Ritter die Exklusivität dieser Erfahrung, da der Gehalt des Ästhetischen durch die ratio nicht erschlossen werden könne.313 Die große Stadt, eine Veröffentlichung Ritters im Nachklang der Brüsseler Weltausstellung von 1958,314 nimmt ihren Ausgangspunkt in der besorgten Feststellung, dass die Zusammenhänge der modernen Entzweiung nicht erkannt würden. Eine pauschale Technikkritik, die nicht bedenke, dass die moderne Technik in Beziehung zur Erfahrung von Schönheit stehen müsste, stellt für ihn die zur « Festigkeit und Allgemeinheit einer philosophischen Theorie »315 gewordene Stimmung der 1960er-Jahre dar. In Nietzsches Zarathustra habe sie ihr Vorbild gefunden. Sie besage, der wahre Mensch müsse die Zivilisation – mit ihr die Stadt – hinter sich lassen, sich auf den Berg, in Menschenferne zurückziehen, um dort zu sich selbst zu finden.316 Zu den Vorbildern dieser nicht neuen, aber in der Nachkriegszeit neu aktivierten, anti-urbanen Zivilisationskritik zählt Ritter eine Riege von Endzeitpropheten, darunter Spengler, Tolstoi, Gauguin, Jünger, Heidegger.317 Anders als in solch romantischem Eskapismus, wird für ihn deutlich, dass es nicht um den aus Ekel vor der Zivilisation Flüchtenden, sondern den in ihr Wohnenden gehen müsse. Dieser wendet sich gegen eine gesteigerte « romantische Subjektivität »318, die sich selbst zu überwinden suche und dabei doch immer nur aus sich heraus romantisiere, sich selbst absolut setze und die Bedeutung seines

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‹ Gegenübers › aus dem Blick verliere – das hat bereits Simmel für den Bergsteiger festgestellt. Ritters ideengeschichtlich fundierte Theorie der Landschaft ist es konsequenterweise nicht darum zu tun, dem weltabgewandten Versprechen des tropischen Urwalds, der Südsee, den Meerestiefen, der Arktis oder der Wüste das Wort zu reden. Wie Sokrates die Natur vor den Toren der antiken Stadt fremd und nichtsagend blieb, so bekräftigt Ritter, dass der Ursprung jener Entwicklung, die durch die neuzeitliche Subjektivität in der Landschaft ein neues Ganzes finde, ebendort liege : in der Großstadt. Das Interesse des Städters an der Landschaft wäre von der Stadt ebenso wenig loszulösen wie die Aufgabe, die in der Landschaft aufgehobene Mensch-Natur-Beziehung zu gestalten, denn erst das städtische Leben setzt den Mensch zu seinem Selbstsein frei : « Die Einheit von Menschsein und Stadt geht in die geistige Überlieferung Europas ein .»319 Jede Einseitigkeit im Gestus des ‹ Rettens › versäume die komplexe Beziehung zur modernen Welt, in der Subjektivität ästhetisch, religiös, historisch, existentiell den Zustand ihrer Entzweiung aushalten müsse.320 Für das gelingende Wohnen ist ein Hinausgehen in die Landschaft notwendig, hat Ritter vermerkt. Für seine Philosophie der Entzweiung gilt : « Natur als Lebenswelt des Menschen heißt Landschaft [ …]. In die Natur als Landschaft geht der Mensch hinein und sucht sich selbst, Erquickung und Kraft ; er findet in ihr seine Stimmung ; Schmerz, Einsamkeit, Freude werden zu Phänomen der Landschaft selber. »321 Entweder aber, so scheint er nahezulegen, dieses ‹ Wohnen › ist exzentrisch, aus der Praxis herausgenommen, oder es wird in einem ganz praktischen Sinn verstanden : Zu wohnen hieße, die Entzweiung auszuhalten und ästhetisch zu überbrücken, indem man sich aus praktischen Weltzugängen alltäglich zu lösen versteht. Dazu müsste das Haus – und seine Gegenstände – anregen. Genau darin liegt die Aufgabe : Dass man sich in der Welt vollumfänglich einrichte, diese auch gestalte. Der Wechsel von der praktischen zur ästhetischen Naturzugewandtheit müsste alltäglich immer wieder und immer wieder neu vollzogen werden. Es käme darauf an, wie gewohnt würde. Als Gegenbild zur ästhetischen Gegenwart des Naturschönen bemüht Ritter den Begriff « Verdinglichung »322 in seinem Text Landschaft an zwei

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Stellen. Im Gegensatz zur Kritischen Theorie wird er in den Zusammenhang mit jener Rationalität gebracht, die die Freiheit des Menschen von der Natur als Naturkraft erst gewähre. Ritter warnt vor Ideologien : Im Sinne der Kontinuität der antiken, weltdurchdringenden Vernunft, auf die er sich beruft, müsse ihre entzweite Einheit durch « Vertrauen zu einer gegenwärtigen Wirklichkeit »323 getragen werden. Folgerichtig ergänzt Ritter, dass Landschaft keineswegs wilde, unberührte Natur sei. Natur werde immer erst in theoretischer Einstellung zur Landschaft, immer « gehört der Mensch als Betrachter dazu. »324 In ihr wiederum hätte der rational-zupackende Naturbezug nur Platz, wo er landschaftlich « gehalten ist ». Wie sich an zentraler Stelle seines Aufsatzes Landschaft gezeigt hat, erscheint Natur als Landschaft, wo sie handlungsentlastet erfahren wird – dem « fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig. »325 Das ‹ freie Spiel › der Kritik der Urteilskraft scheint in dieser Passage anzuklingen und einen Hinweis darauf zu geben, wie Praxis und ‹ Theorie › notwendigerweise zusammenfänden. Nur andeutungsweise gelingt es Ritter jedoch, die kleingliedrige Agrarlandschaft – den realen, selbst historisch gewordenen Ort der modernen Landschaftserfahrung – mit der Gartenkunst zusammenzuführen ; dann nämlich, wenn die Landschaft ihre Bedingung in der « durch Arbeit vermittelten Unterwerfung der Natur als Dasein von Freiheit »326 erhält. Dies wirft die Frage nach der Vermittlungsaufgabe der Gestaltung auf : Offen blieb, wann eine zur Objektivierung tendierende, technisch angeleitete Praxis und ihre Artefakte tatsächlich in der Natur « gehalten » würden, wann also die Entzweiung in der landschaftlichen Erfahrung « aufgehoben » wäre. Diese Fragestellung ist bereits aus Schillers Überlegungen bekannt. Auch Ritter definiert die Gartenkunst als entscheidende Praxis des Umgangs mit Natur. Sie stellt sich als ‹ gemischte Tätigkeit › dar. Auch für die Architektur träfe dies zu : Beide bringen durch Gestaltung, rational angeleitetes Tätigsein, die Natur in eine Form, in der sie sich ästhetisch präsentieren soll, ‹ landschaftlich › würde. Der Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts führe das vor, darin einbeschlossen ein ganz bestimmter, als natürlich erachteter Ausdruck.327 Ritters Konzept umgreift Simmels soziologische Analyse und geht zugleich zurück auf die ästhetische Theorie des 18. Jahrhunderts. Im Wohnen wären beide Pole der

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ausdifferenzierten Vernunft aneinander vermittelt, nichts anderes scheint er mit folgender Äußerung andeuten zu wollen : « Die zur Gartenkunst gehörige ‹ gestaltete › Landschaft kann in diesem Sinne als die Ergänzung der in ihrer Nutzung verschwindenden Natur durch das nicht weniger künstliche Werk verstanden werden, mit dem sie dazu gebracht wird, sich als freie Natur darstellend, im Horizont der Gesellschaft zu bleiben .»328  Entzweiung hat gestalterischen Zusammenhalt zur Folge. So jedenfalls stellt sich die zentrale gestalterische Aufgabe nunmehr dar : objektivierende und ästhetische Naturbezüge zu moderieren. Ritter wird in seiner Vorlesung über Philosophische Ästhetik noch deutlicher und setzt die « gesellschaftliche »329 und « wissenschaftliche » Natur in den Gegensatz zur « landschaftlichen ». Unter dem Begriff « Natur » sei heute nicht nur Verschiedenes zu verstehen, sie schlösse ein Werturteil ein, denn in den nicht-landschaftlichen Zugängen sei « die Subjektivität reduziert [ …] auf ein Funktionssein. » Der Rätselcharakter, das Unabgeschlossene, das sich im ästhetischen Versprechen mitteilt, entspricht Simmels ‹ Für-sich-Sein ›.330 Die Rittersche Erfahrung von Landschaft muss daher präzisiert werden : Sie besteht im Aufgehoben-Sein dieser Naturerfahrung im gestalteten Raum, der geistigen Anregung, die das Individuum erfahren könnte, wo es sich selbst als ‹ frei › erlebt. Das ‹ Hinausgehen › aus praktischen Weltbezügen müsste im ursprünglichen Sinn verstanden werden, nicht als Weltabkehr, sondern als Modus des In-der-Welt-Seins. Gerade dies stand schon am Beginn von Ritters Landschaftstheorie : das Allgemeinwerden der Sonder-Schau antiker Philosophen im Kontext der modernen Gesellschaft. Und so stellt die folgende, seinem Essay nachgereichte Bemerkung dessen eigentliches Zentrum dar : « In der Tat mag hier ein Schlüssel zum Verständnis der von der Gesellschaft assimilierten und damit aus ihrer ästhetischen Funktion herausgelösten Landschaften liegen. Sie können die Bestimmung haben, dass in einer dialektischen Aufhebung der die Landschaft einst konstituierenden Entgrenzung des Wohnens und so in einer Wiederkehr des Gartens die zur Landschaft gestaltete Natur zum Raum des durch die Gesellschaft gesetzten Wohnens wird. »331 Das Wohnen wäre dort « entgrenzt », wo es ein ‹ Lebendig-Konkretes › als sein Gegenüber vorfindet.

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Um 1800 Angesichts dieser ideengeschichtlichen Entwicklung greift eine architekturgeschichtliche Darstellung zu kurz, die sich bei der Korrespondenz von Hausraum und Landschaftsraum allein auf die Moderne des 20. Jahrhunderts beschränkt. Das Landhaus als Instrument der ‹ Sinnesschärfung › hat einen programmatischen Vorläufer in der Architekturgeschichte – ebenfalls im Paris des 18. Jahrhunderts. Boullée, ursprünglich zum Maler ausgebildet, auf Wunsch seines Vaters während des Studiums zur Architektur konvertiert, bald junger Professor an der Pariser École des ponts et chaussées, widmet sich nach einer gerichtlichen Auseinandersetzung mit einem Auftraggeber emphatisch der universitären Lehre und jenen Idealprojekten für öffentliche Bauten, die er nie verwirklichen wird. Wenige Jahre vor seinem Tod schließt er mit dem Traktat Architecture, essai sur l’art sein theoretisches Manifest ab.332 Es gibt noch heute Aufschluss über die Rolle der naturästhetischen Erfahrung für die Architekturtheorie nach Ende des Vitruvianismus. Schon in der Einleitung stellt Boullée die rhetorische Frage : « Was ist Architektur? Soll ich Vitruv folgen und sie als die Kunst zu bauen definieren? Sicherlich nein! In dieser Definition steckt ein grober Fehler : Vitruv verwechselt Ursache und Wirkung. »333 Architektur müsse nämlich die Eigenschaften einer Wissenschaft mit jenen einer Kunst vereinen : Erstere betreffe das Bauen als praktische Tätigkeit ; zudem aber habe sie die Aufgabe, die Architekturzeichnung in die Wirklichkeit zu überführen. Mit dieser Forderung kommt Boullée nicht nur seiner ursprünglichen Berufung nach, sie ist von tiefergehender Bedeutung für die theoretische Bestimmung des Fachs. Mit seinen monumentalen Architekturdarstellungen entwickelt er eine Präsentationsweise, die den architektonischen Baukörper durch Licht und Schattenwurf zu beleben, ästhetisch zu stimmen versteht : Es kommt ihm forthin auf den Ausdruck eines Bauwerks an. Durch ansprechende zeichnerische Darstellungen würde dieser erprobt, Zeichnungen zeigten auf ‹ malerische Weise › das Mögliche, das auch in der Realität angelegt wäre, wo man das Bauwerk im Hinblick auf seine Wirkung prüft, ihm schließlich mit jener Einstellung begegnet, mit

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der man auch ein Kunstwerk betrachtet. Ergebnis und Intention einer solchen Baukunst wären in der Zeichnung früh vereint – und gesichert. Sie würde zu einer ideellen Kunst nach Maßgabe des ästhetischen Erlebens. In seinem Essai schreibt Boullée : « Im Kenotaph für Newton versuchte ich das großartigste aller Bilder, das der Unendlichkeit, zu verwirklichen ; durch dieses Bild erhebt sich unser Geist zur mystischen Betrachtung des Schöpfers, und wir verspüren den Hauch himmlischer Empfindungen ; schließlich ist das, was ich die Architektur der Schatten genannt habe, eine Entdeckung in der Kunst, die mir allein gebührt und die ich meinen Nachfolgern auf diesem Gebiet als Vermächtnis hinterlasse. »334 Der Revolutionsarchitekt rühmt sich, den Schattenwurf zum Thema gemacht zu haben. Der Schattenwurf als Charakter gebende Eigenschaft externalisiert die zentrale Bedeutungsquelle, verlegt sie in die Natur : für Schatten braucht man bekanntlich Licht. Boullées berühmten Darstellungen eines monumentalen Kenotaphen für den 1727 in der Westminster Abbey zu Grabe getragenen Physiker Newton entstanden um das Jahr 1783. Nicht ohne Grund ragt dieses Monument aus den illustrierten Vorschlägen seines Traktats heraus, die seine theoretischen Überlegungen bekräftigen sollten. Mit Boullée findet jene Debatte der ‹ Anciens › und ‹ Modernes ›, die an der von Colbert gegründeten Académie geführt wurde, nicht nur ein mögliches Ende, sondern – wie Adolf Max Vogt vermerkt hat – wäre es die Aufgabe künftiger Architekten, die neue Kosmologie, die Newton in seiner Principia 1686 dargelegt hat, auch architektonisch widerzuspiegeln.335 Ein neues Naturbild verschafft sich Raum, der Architekt wird « Inszenator der Natur ; mit ihren kostbaren Gaben muss er die Wirkung ihrer Bilder schaffen und unsere Sinne bändigen. Die Kunst, Bilder in der Architektur zu kreieren, beruht auf der Wirkung der Körper. Das macht ihre dichterische Kraft aus. »336 Mit den Mitteln einer Körper- und Raumkunst will Boullée auf eine moderne, wissenschaftlich begründete Theorie der Natur antworten – mit einem gestimmten Raum in einem platonischen Körper, in einer Kugel, die den Abendhimmel zeigt, wenn es draußen Tag ist. In ihrem Inneren, unter einem künstlichen Firmament, würde sich der Besucher vereinzelt vor dem Leergrab Newtons wieder-

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finden. Diese Baukunst, konstruktive Möglichkeiten weit übersteigend, soll unmittelbar wirken und betroffen machen durch die Größe der Gefühle, die ihr monumentaler Raum hervorruft. Die Allianz aus Kunst und Wissenschaft im Kenotaphen ist kein Zufall.337 Sir Isaac Newton erfährt im 18. Jahrhundert nicht zuletzt deshalb Länder übergreifende Verehrung, weil ein Denken ein Naturverständnis symbolisiert, das die Verstandestätigkeit in Korrelation zur Sinnlichkeit setzt. Die Balance zwischen einem qualitativen und quantitativen Naturbegriff kennzeichne den in der Schule der spätscholastischen Platoniker von Cambridge ausgebildeten Newton. Der Philosoph Ernst Cassirer legt in seiner Philosophie der Aufklärung dar, wie sich die empirische Naturwissenschaft mit Newton gegen das mechanistische 17. Jahrhundert wendet, das noch unter der Ägide Descartes’ stand. Mit seiner induktivanalytischen Methodik mache Newton nur ‹ Vorschläge › zum Verständnis des Kosmos : Die Berechnung trete in den Hintergrund. Er lege Prinzipien seiner Deutung offen, die er keineswegs in starre Formeln gieße, sondern in der physisch nachvollziehbaren Gravitationskraft zusammenfasse. Cassirer kann die Bedeutung der ‹ erlebten Natur › für die Aufklärung daher gar nicht gering genug veranschlagen :338 Im Weltgefühl der Aufklärung bricht der endliche Schalenhimmel des Aristoteles zur Unendlichkeit einer gegenwärtigen Welt auf.339 In Boullées Kuppelbau wird dieser ideengeschichtliche Umbruch zum Raum der Architektur, ist bezogen auf den erlebenden Menschen – die Natur wird ‹ sprechend ›. Cassirer betont, dass die Moderne wesentlich dadurch gekennzeichnet sei, vom « Geschaffenen » zum « Schaffen »,340 von der gesetzten höheren Ordnung zu einer lebendigen Beziehung zur Natur voranzuschreiten. Es käme in Newtons Denken auf die vereinte Dualität der Erkenntnisvermögen an, um die ästhetische Erfahrung als vermittelndes Glied verstehen zu können : « Der moderne Naturbegriff, wie er sich seit der Renaissance immer klarer und fester gestaltet und wie er in dem großen System des siebzehnten Jahrhunderts [ …] seine philosophische Begründung und Rechtfertigung sucht, ist vor allem durch dieses neue Verhältnis charakterisiert, das sich in ihm zwischen Sinnlichkeit und Verstand, zwischen Erfahrung und Denken »341 entwickelt. Ritters ‹ Theorie der Entzweiung › klingt an. Die Hinwendung zur subjektiven

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Boullée, Federzeichnung des Newton-Kenotaphen (Nachtansicht), 1784

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Erfahrung teilt Newtons Wissenschaft hingegen auch mit der Entwicklung einer systematischen philosophischen Naturästhetik, mit Alexander Baumgarten, der die sinnliche Erfahrung als gnoseologia inferior erstmals erkenntnistheoretisch würdigt und die Ästhetik als eigene Disziplin von der Kunsttheorie abscheidet. In seinen Meditationes philosophicae von 1735 unterscheidet er Gefühl und Sinnlichkeit als der Kunst zugrunde liegende Erkenntnisformen von der rational-logischen Verstandeserkenntnis. Zum Zeitpunkt von Boullées Essai war die ‹ harmonikale Ordnung › der Baukunst also bereits angegriffen – über die Proportionen der Säulenordnung hatte das so genannte ‹ Mikrokosmos-Makrokosmos-Modell › das Bauwerk dem Menschen angeglichen, den Menschen durch seine Gestalt dem Kosmos eingegliedert. Nicht nur die miniaturisierte Kolonnade in der monumentalen stereometrischen Großform seines Tempels der Vernunft belegt den Verlust dieses Erklärungsmodus und damit einen Umbruch im Naturbild des Menschen, Boullée ist der Erste, wie Dorothea Lehner in ihrer Untersuchung der französischen Architekturtheorie des 18. Jahrhunderts darstellt, der auf Säulenordnungen verzichtet. Nicht auf die mimetische Nachahmung der Natur, sondern aus der empirisch gestützten Wirkung primärer Formen, von denen die Kugel die vollkommenste sei, sucht Boullée eben eine neue, allgemeine ‹ Ordnung › zu entwickeln. Dass Architektur « aus den Körpern entsteht »342, gilt für Boullée als Grundlage einer Baukunst, die weiterhin auf Regeln beruhen müsse, um allgemein gültig zu sein. Seine von der empiristischen Philosophie John Lockes gestützte Annahme, dass die Welt durch Regelmäßigkeit, Symmetrie und Vielfalt gekennzeichnet sei wie der menschliche Organismus, verankert die Architektur in einer wissenschaftlichen Argumentation.343 Es erscheint daher zunächst, als erklärte sich die Wirkung der architektonischen Form rein psychologisch : Allen Menschen wäre diese Architekturerfahrung zugänglich ; sie stünde deshalb allen offen, weil sie auf allgemein-psychischen Wahrnehmungsmustern basiere. Immanuel Kant kommt in der Kritik der Urteilskraft zu einem durchaus würdigenden Schluss über eine solche psychologische Ästhetik, als deren wesentlicher Vertreter Edmund Burke mit seiner Philosophical Enquiry into the Origin

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of our Ideas of the Sublime and the Beautiful gilt. Burke übernimmt aus der antiken Rhetorik den Begriff des Erhabenen und reagiert mit seinem Buch im Jahr 1757 auf die empirisch-sensualistische Physik seiner Zeit : Die Natur löse Empfindungen im Menschen aus, wie jenes sonderbare des Erhabenen, einen deligthful horror, ein schmerzvolles Vergnügen.344 Sinnesdaten rufen körperliche Reizreaktionen im menschlichen Nervensystem hervor – daran angebunden sind Behagen und Unbehagen.345 Dass Boullée von Burke beeinflusst wird, wie auch vom Sublimen, dessen Urschrift durch Nicolas Boileaus Longinus-Übersetzung bereits 1674 auf Französisch zugänglich war, belegt etwa die Rolle des Lichts, die in Burkes Enquiry hervorsticht : « Ich glaube, dass Gebäude, die eine Idee von Erhabenem hervorbringen sollen, vorwiegend dunkel und trüb sein müssen. »346 In der Folge führt er aus, wie im Kontrast von Hell und Dunkel eine erhabene Stimmung hervorgerufen werden könne – beim Gang durch den Kenotaphen würde dieser Mechanismus vortrefflich demonstriert.347 In einem Gebäudelängsschnitt durch Boullées Kuppelraum einer Métropole wird das Schauspiel einer direkten, sinnlichen Einbindung der Natur in den Kircheninnenraum vollzogen : Ergänzend zum barocken Deckengemälde, das die Kuppel durch Bilder von Wolken scheinbar zum Himmel öffnet, stellt er in seiner Zeichnung ‹ echte › Wolken dar, die durch große Öffnungen in Kuppel und Turmschaft eingedrungen sind. Architektur und Natur vermischen sich, das illusionistische Deckengemälde ist ergänzt – Ed io anche son pittore, eröffnet Boullée seinen Essai mit den Worten Correggios und staffiert die Architektur durch eine Versöhnung von Raum und Fläche mit ‹ natürlichen › Mitteln aus. Er spricht vom « Ins-Werk-Setzen der Natur »348, mettre en œuvre de la nature, und meint den Verwandlungsgedanken einer dem Mensch als Naturgewalt entgegentretenden Natur, die sich nun, im ‹ Rahmen › der Baukunst, zur ästhetischen Kraft wandle. Die Natur selbst ist es, die zu Wort kommt – durch die poetische Kraft eines Bauwerks. Poetisch ist nach Aristoteles, was sein kann ; die Freiheit zum Möglichen, die Verwandlung der Mittel zu Zwecken.349 Es ginge daher nicht um die Objektivierung des Bauwerks durch die Reduktion auf psychologische Wirkungen, seine Körperhaftigkeit im Zusammenspiel mit dem

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dynamisierenden Licht. Die Eignung zum Architekten setzte eine Kenntnis der poetisch wirkenden Natur voraus. Es ginge darum, « die gesamte, verstreute Schönheit der Natur zu vereinigen »350, wie Boullée meint. Lehner beschreibt diesen Vorgang detailliert : « Die Architektur hat jetzt die Aufgabe, den symbolischen Gehalt des Gegenstandes, den sie abbildet, zu beschreiben. Sie ist nicht mehr selbst symbolische Nachahmung, das heißt, sie ist nicht mehr wirklicher Tempel im Kleinen, wenn sie den großen Tempel der Welt abbildet. »351 Die Mittel der Architektur sind seit den Anfängen der Architektur beinahe dieselben geblieben : Auch das Pantheon wäre ein Kuppelbau mit einer großen Öffnung im Zenit ; auch diese Kuppel böte durch das einfallende Licht, durch seine Reinheit und Kraft ein beeindruckendes Schauspiel. Wenn uns heute seine Raumwirkung beeindruckt und seine Symbolformen, seine Funktion als ‹ Tempel aller Götter › außer Acht bleibt, dann gerade zeigt sich der Wandel im Empfinden des Menschen. Boullée geht so weit, dem naturästhetisch gestimmten Ausdruck eines Bauwerks Allgemeingültigkeit zu unterlegen, sofern er « Macht über unsere Herzen besitzt »352. Er appelliert daher an die menschliche Empfindungsfähigkeit für die Schönheiten der Natur, an seine Urteilskraft.353 Er ist ganz wörtlich zu verstehen, wenn er seine eigene Motivation beschreibt : « Trotz aller Anstrengungen unserer modernen Architekten machen sie den Eindruck von Männern, die sich zwar mit Architektur beschäftigen, die aber nur die Ideen ihrer Vorgänger sklavisch übernehmen und ausführen. Lange dachte ich darüber nach – ohne Erfolg. Doch gewohnt, mich an Widerständen zu stärken, fuhr ich fort nachzudenken, ohne mich entmutigen zu lassen. Schließlich zeigt sich ein Hoffnungsschimmer, als ich mich der dunklen oder geheimnisvollen, in Wäldern beobachteten Stimmung erinnerte und der verschiedenartigen Eindrücke, die diese auf mich gemacht hatten. »354 Wenn er über die Möglichkeit eines modernen Tempels nachdenkt, erinnert Boullée sich ans eigene Erlebnis im Wald – an dessen symbolische Bedeutung, die als bewegende Stimmung in seinem Gedächtnis haften geblieben ist. Über die Wirkung des NewtonKenotaphs meint er daher in seinem Essai : « In den Grabmonumenten beschwor ich das Grauen vor dem Tod herauf und führte dadurch den Menschen zu moralischen Grundsätzen zurück. »355 Dass diese, mehr

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als hundert Meter über dem allein gelassenen Besucher zum erhabenen Sternenhimmel gewordene, Kuppel ihre Wirkung täte, anregte zur transzendentalen Idee des Lebens, wird in der Zeichnung direkt nachvollziehbar – vom Raumeindruck wäre man überwältigt gewesen. Durch den Newton-Kenotaphen zeigt sich die Verschränkung des architektonischen Raums mit der naturästhetischen Wirkung, die – wie eine ‹ Urform › der Baukunst – unmittelbar auf Körper und Geist einwirkt. Kant äußert sich über die Ästhetik des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft : « Darum aber, weil das Urteil über das Erhabene der Natur Kultur bedarf (mehr als das über das Schöne), ist es doch dadurch nicht eben von der Kultur zuerst erzeugt, und etwa bloß konventionsmäßig in der Gesellschaft eingeführt ; sondern es hat seine Grundlage in der menschlichen Natur, und zwar demjenigen, was man mit dem gesunden Menschenverstande zugleich jedermann ansinnen und von ihm fordern kann, nämlich in der Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d.  i. zu den moralischen. »356 Der Architekt handelt, wenn er Bauwerke errichtet, zugleich immer auch wie ein ‹ Naturwissenschaftler ›, vertraut auf die rationale Berechnung, konstruiert ein die physis schützendes Gehäuse. Entscheidend aber ist : Dass sich Architektur darin nicht erfüllte.357 Schinkels Ferne Den Umbruch von der Symbolik der Säule zum ästhetischen Erleben eines bedeutungsvoll gestimmten architektonischen Raums hat Boullée vorbereitet.358 Bekräftigten seine architektonischen Studien die Utopie eines bürgerlichen Idealstaats, der sich durch öffentliche Projekte einen gigantischen Stadtraum verschafft, verbreiten sich diese Ideen durch Schinkels Freund und Lehrer Friedrich Gilly auch in Preußen. Durch « heroischen Pathos »359, « geometrische Strenge » und die « gigantische Dimension » seiner Idealbauten sucht Boullée den Anschluss an die Geschichte – vor allem an die griechische Antike. Wie Julius Posener hingegen für Karl Friedrich Schinkel, den Architekten des Königs, bemerkt, war bei diesem der « Reiz seiner besten Räume [ …] stark an die Konstruktion gebunden. » Und so lautet Schinkels Grundsatz : « Architektur ist Konstruktion »360.

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Nicht eigentlich die Säulenordnung ist für Schinkel der zentrale Topos, um Fragen der Bedeutung in der Architektur zu diskutieren, sondern der Ausdruckswert der Konstruktion. Sie müsste auch für ihn ‹ Charakter › haben. Die Sichtbarkeit der wesentlichen Bauglieder, die Schinkel hierfür einfordert, hat die Prüfung des Verhältnisses der Teile zueinander zufolge, darüber hinaus ihrer möglichen Verzierung – übergeordnet aber bleibt der Ausdruckswert, den die Konstruktion beim Betrachter bewirken solle : « Ruhe »361, « Festigkeit » und « Sicherheit » solle sie ausdrücken, denn danach verlangten die Bedürfnisse des modernen Menschen, meint schon Schinkel : « Die moderne Zeit kommt bei den dringenden Geschäften für die Existenz des Individuums nicht zur Reflexion und geht in geängstigtem Treiben auf. »362 Mit anderen Worten : Es wäre Aufgabe der Baukunst, durch Ruhe den Menschen positiv zu stimmen und die Architektur als « Träger unserer Ideen »363 zu stärken. Die Überwindung der Natur der Schwerkraft gleicht für Schinkel einer Urtat menschlichen Raumschaffens, denn « Konstruktion ist Überwindung des Widerstandes »364. Sollte sich darin aber kein architektonisches Motiv mehr darstellen, weil es nichts mehr zu überwinden gibt, verflüchtigte sich jenes Moment, das auch als ‹ Für-sich-Sein › der Natur benannt war. Auch die Konstruktion vollzieht dieses Spiel mit dem ästhetischen Schein : durch die darin ausgedrückte Dankbarkeit, dass etwas ‹ hält ›, weil es doch auch ‹ fallen › könnte. Ein weiterer historischer Zwischenschritt macht die Tradition, in der Mies als Konstrukteur steht, deutlich. Wenn Paul Westheim im Kunstblatt vom Februar 1927 das erste Mal über Mies’ Schaffen Bilanz zieht, dann tut er dies, indem er die Verwandtschaft mit Schinkel herstellt. Doch habe Mies es vermieden, das « Wiederanknüpfen an Schinkel »365 auf « sehr falsche Weise » zu vollziehen. Im Gegenteil, habe er verstanden, « aus dem noblen, ganz eigen und persönlich durchgeführten Klassizismus Schinkels ein Formenrepertoire » zu übernehmen ; nicht wie ein « Stilrezept » dürfe man Schinkels Vorbildlichkeit sehen, meint Westheim – ein Missverständnis, das er in Mies’ frühen Bauten durchaus wirksam sieht –, sondern in « freier Übertragung »366. Nicht ganz überraschend, bedenkt man die Zeit, in der die Rezension verfasst wurde, wäre der « Wohnprozess » das Entscheidende dieser Bau-

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ten. Und so haben alle ‹ fünf Projekte › Platz in diesem Artikel – bis auf das Landhaus aus Backstein. Neuerlich ist das Wort ‹ Bühne › in Gebrauch, diesmal aber bei der Abkehr von einer kulissenhaften Wohnlichkeit, die das Leben nach ebensolchen Regeln festschreibe : Räume, ein jeder « eine Zelle für sich mit andersartiger Dekoration »367, das gelte für Mies nicht mehr. Aus der « Wohnbestimmung » heraus, nicht mehr durch die Ausstattung seien sie zu fassen. Westheim erklärt dieses Prinzip am Beispiel des Hauses Lessing. Den Argumenten des Kritikers musste es zugänglicher erscheinen als das Landhaus aus Backstein. In welche Kontinuität setzt er Mies nun aber als « begabtesten Schinkelschüler », dessen Baukunst er nicht nachahme, sondern fortführe? Von Mies’ sechswöchiger Reise nach Italien im Jahr 1908, auf die er aus der Riehlschen Obhut entsandt wird, ist wenig überliefert.368 Im Oktober desselben Jahres tritt er in die Dienste von Peter Behrens, der vor kurzem den Auftrag erhalten hat, für die AEG tätig zu werden. Die Empfehlung von Pauls Bürochef und das Haus Riehl waren dafür Expertise genug. Behrens’ Büroausflüge ins nahe Potsdam zu den Gärten Lennés und Bauten Schinkels dürften Mies nachhaltig beeindruckt haben. Beim Entwurf für ein Bismarck-Denkmal auf der Elisenhöhe bei Bingen im Jahr 1910, der in die engere Auswahl der Jury gelangt, mag er sich mitunter an Schinkels Ideal-Entwurf für das Schloss Orianda inspiriert haben ; den bald entstehenden Häusern, darunter jenes für den Kunstsammler Hugo Perls, ist jenes « erstaunliche Gefühl »369 für das architektonische Maß am Werk, das auch Westheim anspricht. Schinkel wird Mies aus erster Hand durch Behrens’ Bemühen vertraut, das Elementare der architektonischen Konstruktionsform aus der zeitgebundenen Stilform zu isolieren. Wie für den älteren Behrens, wäre dies auch für Mies ein unumgängliches Exerzitium, ein Ausgangspunkt, bei dem man nicht stehenbleiben kann, zu dem man jedoch zurückkehrt wie zu den großen Bauten der Geschichte. Aber das tat bereits Schinkel selbst. Anders als Mies, der mit dem Bürokollegen Joseph Popp nur sechs Wochen über München nach Rom, Florenz und Vicenza reist, wo ihm Palladios Zentralgrundriss der Rotonda « sehr formal »370 erschienen ist, bricht Schinkel zu einer zweijährigen Italienreise auf.371 Beide stehen am Beginn ihrer Laufbahn ; mit seinem Freund und Mitschüler an der

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Bauakademie, dem Zimmermannssohn Johann Gottfried Steinmeyer, tritt Schinkel seine Italienreise 105 Jahre zuvor, im späten Frühling des Jahres 1803, ebenfalls von Berlin aus an. Schon kurz nach Überschreiten der Grenze entstehen Zeichnungen und Gemälde, die eine Affinität zur landschaftlichen Ferne erahnen lassen : In sanfter Linie geht sie in den Horizont über. Über Dresden durch Böhmen auf einer ersten größeren Etappe nach Wien unterwegs, malt Schinkel das blau-grüne, düstere Gemälde einer böhmischen Gebirgskette in Abenddämmerung ; davor, im Mittelgrund, die karg besiedelte Kulturlandschaft, helle Siedlungspunkte hineingestreut, eine blanke, braune Fläche im Vordergrund. Die kunstvolle Gouache, den Kletschen und Milleschauer, zwei markante Kegelberge bei Teplitz, unter goldenem Abendhimmel vor Augen. Sie zeigt indessen, welchen Wert der Reisende der künstlerischen Wiedergabe der unmittelbar erlebten Natur beimisst. Schinkels durch Farbperspektive und Tiefenstaffelung gekennzeichneter, malerischer Blick auf die Landschaft findet auf seiner ersten Italienreise immer neue Sujets, etwa die Ansicht der Hafenstadt Triest vom Karst aus oder den Golf von Sorrent, den Vesuv im Hintergrund. Und auch die Küstenlandschaft am Golf von Neapel wird dieselbe sanfte Fernkontur zeigen, zu der er das Auge des Betrachters leitet – wenn auch nun in der gänzlich anderen Stimmung des heiteren Südens, die er nicht nur auf dem Zeichenpapier nach Preußen mitbringt. Als Kulisse hinter dem Tempel von Segesta türmen sich schroffe Berge ; den Tempel der Concordia in Agrigent bildet Schinkel in einer aquarellierten Studie ab, die er später für ein perspektivisch-optisches Schaubild verwenden wird.372 Hier nun ist der Hintergrund das Meer, ein hoher, blauer Horizont in vollkommener, erhabener Ruhe. Beinahe abstrakt und ins Nichts aufgelöst, in seltsam rosa-blauer Farbigkeit erscheint schließlich der Meereshorizont rund zehn Jahre später bei einem Bühnenentwurf des Theaterreformers Schinkel. Er reiht sich in eine Entwicklungslinie mit diesen der Landschaft abgelauschten Stimmungen : Der Himmel ist mit durchsichtigen Wolken verhangen, der glatte, tiefe Horizont leer, offen für das zu spielende Stück, in dem Kunst und Leben zusammenfinden sollen. Eine solcherart räumlich gefasste

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Emotion, Ausdruck von Ruhe, wird in einem letzten Idealprojekt wiederkehren : Schloss Orianda. Die Malerei verschafft Schinkel im Jahr 1809 erste Kontakte zum preußischen Königshaus.373 Seine Panoramen zeigen große Wirkung auf das Publikum. Es sind Stimmungen, die das Leben zur Kunst erheben, von Musik begleitet, zu Lichtspielen gesteigert, verbildlichen sie poetische Ideen im Raum – bevor sie gebaut werden. Schinkel gerät so auch in Kontakt mit dem Berliner Schauspielhaus, für das er berühmte Bühnenbilder gestaltet ; letztlich wird ihn sein Verständnis für die illusionistischen Aspekte des Schauspielens nach einem Brand für dessen Neubau am Gendarmenmarkt prädestinieren. Die atmosphärischen Illusionen von Bildraum und Bühnenraum gilt es künftig allerdings ins Leben seiner Bauwerke zu übersetzen ; das poetische Programm dieser Architektur ist abgesteckt – sie wird nicht in der Akzeptanz des Gegebenen verharren, sondern dieses ideenhaft verwandeln, wie es Boullée noch nicht realisieren konnte. Die Philosophin Petra Lohmann hat in der Verbundenheit Schinkels mit dem deutschen Idealismus einen Schlüsselmoment seines Werks aufgezeigt. Die Aufgabe, die er der Architektur beimesse, beschreibt sie als « Kultivierung des Lebens »374. Über die illusionistische Wirkung des Panoramas meint sie : « Das Illusorische besteht darin, dass der Rezipient im ästhetischen Zustand der Anschauung des Panoramas den realen Raum ausblendet und mit der dargestellten Architektur im Panorama solchermaßen eine Einheit bildet, ‹ als ob › er selbst den sich darbietenden Raum erschließen könnte. Darüber hinaus wird durch die Überwindung der realen Raumspaltung zwischen Rezipient und Panorama eine neue Spaltung bewirkt, d. i. die von idealrealem und reinidealem Raum, die sich im Reich der Phantasie der Rezipienten abspielt .»375 So könnte das Programm einer Architektur lauten, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Wirklichkeit zu einem Ort ästhetischer Kontemplation zu wandeln und in ihr – für den kurzen Moment des Erlebens – ein Ideal zu verorten.376 Die Erinnerung, das selbst erlebte, geglückte Zusammensein von Mensch und Natur, der erfahrungsoffene Mensch sind ihr zentrales Thema. Am 8. Mai 1804 sticht man von Neapel aus in See. Acht Tage später beginnt Schinkel mit der Besteigung des berühmtesten sizilianischen

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Berges : « Schöne Ansichten der Küsten von Taormina und der Täler des Ätna »377, berichtet er in seinem Itinerarium. Tags darauf setzt man den Anstieg zum Gipfel fort, nach Nächtigung in einem Stall des Borgo Petara heißt es : « Monte Rosso von roter Farbe, Aschenfeld, schwarz, ohne Vegetation. Lavaströme. [ …] Die Bäume fangen hier erst an auszuschlagen, da unten schon alles in vollem Laube stand. Um Mitternacht bei Mondschein Aufgang zum Gipfel. » Der Gipfel, in Rauch und Nebel gehüllt, erlaubt keine Annäherung, man frühstückt im Schnee und überblickt die ganze Insel bis nach Kalabrien : Ein « majestätischer Anblick » bei Sonnenaufgang, doch auch Kälte und Sturm, große Mühen und « grässliche Formen der hervor gefluteten Lava ». In der Ortschaft Giarre wird Schinkel eine kleine Kirche vorfinden und in einer Tuschezeichnung festhalten. Sie scheint aus Lava erbaut, so als fände die Natur in der Architektur zu einer romantischen Verbindung, als wäre die vulkanische Natur keine zerstörerische Kraft. Doch auch die Gefahren der Natur werden erzählerisch ins Naturerlebnis eingebunden : « Tiefe Stille herrschte ringsum, nur in langen Pausen rief der Wolf aus unteren Wäldern herauf, der Gedanke an die Unterwelt der Alten drängt sich in dieser schwarzen, nächtlichen Wüste des Gebirgs unwiderstehlich auf. »378 So schreibt Schinkel über den Moment, nachdem der Bergführer ihn aufgeweckt hat, bevor man den letzten Aufstieg unternimmt. Über das Erlebnis in Gipfelnähe will er nicht viel sagen, es scheint ihn vollends zu ergreifen und er meint, « die ganze Erde unter mir mit einem Blick zu fassen »379. Eine Zeichnung zeigt die gegen den Schneesturm und die Mühen des Aufstiegs ankämpfende Gruppe, wehenden Mantels wendet sich Schinkel und streckt seinen linken Arm zur aufgehenden Sonne. Diese « Krönung seiner Reise » setzt das Individuum und seinen Entdeckerdrang in Bezug zur unwirtlichen Natur, von der Erfahrung ihrer Erhabenheit erfüllt. In den weiten Landschaftsräumen seiner Bilder ist dieser Zusammenhang festgehalten. Schinkel kann sich so wohl am besten in ‹ Worte › fassen.380 Die Tagebuchnotiz vom 24. Mai 1804 lautet : « Ich trachte nicht, die Empfindungen darzustellen, die das Gemüt an diesem Platz ergreift, indem ich unnütz sprechen würde. »381 Nicht die Macht des Einzelnen über die Natur, sondern die geistige Überlegenheit des Menschen über ihre physische Kraft, der Vorrang der

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Schinkel, «Aussicht vom Gipfel des Ätna bei Sonnenaufgang », 1804

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ästhetischen Erfahrung vor der begrifflichen ‹ Rationalisierung › der Welt kommt in dieser Federzeichnung zum Ausdruck und erreicht die Form eines poetischen Gleichnisses, wenn die Sonne als Symbol und als reale Erscheinung über dem Horizont aufsteigt. Aus diesen elementaren Erfahrungen zieht Schinkel Lehren für die Architektur. Er wird am Ende seines Nachdenkens über das Zusammenspiel von Konstruktion und Natur, wohl um 1830, im Architektonischen Lehrbuch festhalten : « Wir haben auf dem Erdenleben nichts als die Natur mit ihren Gestalten. [ …] Die Anwendung derselben und dieselben durch Auffassung eines gebildeten Auges als Träger unserer Ideen zu benutzen darin liegt das ganze Feld der schönen Kunst in der Architektur » ; und weiters : « Das Wort ist da, um Begriffe auszudrücken, in Worten denken, ist in Begriffen denken – dem entgegengesetzt ist das Denken in Anschauungen. »382 Diese « Anschauung » müsse dem Begriff immer vorausgehen, sei ihm übergeordnet : « Worte sind vieldeutig, der daraus folgende Begriff vielfach verschiedenartig zu bilden – Die Kunst gibt aber das Ding selbst und lässt keinen anderen Sinn zu als der vorgestellt und mit den Sinnen aufgefasst ist die Sprache der Kunst ruht auf Gegenständen der Natur – und zwar am sichersten auf die Naivsten und einfachsten, als höchsten Gegenständen der Natur – in den noch keine menschlichen Begriffe und Auslegungen die Natur missverstanden haben. » Schinkel verknüpft in dieser Textpassage die künstlerische Anschauung mit einer allgemeinen Erfahrung von Wirklichkeit : Wo der « Charakter » des solcherart erfahrungsoffenen Individuums gebildet werde, stellten die in der Natur übermittelten Ideen sich ‹ allgemein › dar, weil sie jedem in solch vorbegrifflichen Momenten gegeben seien. « Schönheit, – Charakter »383, wie er bruchstückhaft notiert, diese Erfahrung gelte es zu würdigen. Die Gefahr gestalterischer Beliebigkeit erkennend, weicht Schinkel erstaunlicherweise gerade ins Reich ästhetischer Erfahrungen aus, um Gültigkeit für das Kunst- und Bauwerk zu erlangen. Dem Begriff spricht Schinkel negative « Vieldeutigkeit » zu, während die Natur das Individuum direkt durch die « Anschauung » rühre. Die am Ätna gemachte Erfahrung des Erhabenen wird konstitutiv für das Verhältnis des modernen Individuums zur Natur : Schinkels Erinnerung an die landschaftliche Morgenstimmung auf dem Ätna verbindet

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mit diesem genuinen Moment des Erhabenen die versöhnliche Zeichnung der Einheit von Mensch und Natur, durch die aufgehende Sonne, die sich durch die wütenden Wolken drängt, diese zerstäubt, die Menschen wärmt, überhaupt erst aufblicken lässt aus dem bitteren Schneegestöber. Beide ästhetischen Grunderfahrungen, das Schöne wie das Erhabene, bleiben im Naturbezug seiner Bauten erhalten und werden zuvor schon durch die Zeichnung ins Werk gesetzt. Doch Schinkel interessiert auf Sizilien nicht nur die große Perspektive und erhabene Ferne. Die Erfahrung landschaftlich-aufgehobener Bauten und Menschen während seiner Reisen durch den Süden kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er trifft auch auf phantastische Konstellationen – vor allem bei der beschwerlichen Reise ins Innere Siziliens –, von Räubern, Skorpionen, Schlangen und großer Hitze begleitet. Ländliche Häuser inspirieren ihn zu ganz anderen idealisierten Arrangements aus Natur in bäuerlicher Kultur, die er skizzenhaft oder auch aufs Detail versessen abbildet. Sie haben jeden symbolischen Ballast der Stilform abgeworfen, erscheinen organisch mit der Landschaft verwachsen, harmonisch in ihr aufgegangen. Schinkels Reise erscheint an diesem Punkt als Rückgang in die Urgeschichte der Architektur, auf eine lokale Bauweise, die mit der Natur verschwistert ist. So etwa zeigt die Ansicht eines sizilianischen Wohnhauses eine hohe Laube mit weit ausladenden, grazilen, zugleich rustikalen Holzstäben, die – wie lebendige Äste eines Baums – stark bewachsen sind und Schatten spenden. Das Haus ist so in die Topografie gesetzt, Steintreppen verbinden es mit dem felsigen Grund, der in den glatten, stereometrischen Baukörper übergeht, in den nur wenige, sparsame Öffnungen geschnitten sind. Einfache Pultdächer und Bögen bestimmen die zurückhaltenden Hausglieder. Anders als bei der auf Rationalität und Erklärung angelegten Laugierschen Urhütte, scheinen sie dem Bauwerk ein Wachstum einzuschreiben, das durch ein ungezwängtes Hinzufügen entsteht – aus den Bedürfnissen der Bewohner, einer steinernen und wachsenden Natur. Die Zeichnungen Schinkels, die sein Reisen begleiten, reflektieren und dokumentieren, übertragen nicht nur Formen und Ideen auf spätere, eigene Bauten, sind nicht nur architektonische Studien, sondern eigentlich Landschaftsgemälde, die eine organische Ganzheit darstellen – in

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das die preußischen Könige durch die Hand ihrer Gärtner und Architekten ihre Besitztümer verwandeln wollen : zur Einheit von Architektur und Natur. Das Haus ist in dieser romantischen, malerischen Frühphase noch nicht herausgelöst aus der organischen Ordnung, trägt den Ausdruck der Topografie und Vegetation, seiner Form bleibt der bäuerliche Gebrauch eingeschrieben, übertragen in eine architektonische Idealisierung, getragen stets durch ein auf die Praxis bezogenes Leben. Und doch entspringt diese Erfahrung einer Reise, dem eigenen Alltag entkommend. Durch Besuch von August Wilhelm Schlegels Berliner Vorlesung wird Schinkel im Norden mit einem spezifischen Begriff von Poesie in Kontakt kommen : « dass es in allen schönen Künsten, außer dem mechanischen (technischen) und über ihm, einen poetischen Teil gebe. »384 Wie der « Trivialbegriff des Gegenstandes » und die « artistischen poetischen Zwecke » im Werk zusammenfinden, das scheint sein zentrales Thema zu werden – abseits der idyllischen Erfahrung Italiens. Hierfür muss er sich zunächst das Erfahrene – nun doch in Begriffen – aneignen. So meint Schinkel : « Die Architektur ist die Fortsetzung der Natur in ihrer konstruktiven Tätigkeit. Diese Tätigkeit geht durch das Naturprodukt Mensch. »385 In Schinkels Skizzen zu einem Architektonischen Lehrbuch findet sich eine zentrale Formulierung dieser Beziehung : « Die Beschäftigung der Kunst ist die Darstellung der Natur eines in die Idee versunkenen Naturgegenstandes, dadurch also dass dieselbe in die Idee versunken ist, unterscheidet sie sich von den empirischen Wissenschaften und ist von derselben gerade das Entgegengesetzte. » Durch seinen nur wenig älteren Freund und Lehrer Friedrich Gilly hat Schinkel auch Zugang zu Kants Kritik der Urteilskraft von 1790. Dort hat der Königsberger Philosoph jenen Mechanismus des Erinnerns von Sinn und Bedeutung in der Kunstform als Aufgabe des Symbolisierens aufgefasst. Kant schreibt im berühmten Paragraph 59 von der Rolle des Symbols als Möglichkeit der « Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann. »386 Die ‹ Anschauung ›, von der hier die Rede ist, wäre Ausdruck einer ‹ Ideenlehre › der Architektur. Schinkel wendet sich also wieder der Säule zu. Doch was einst im Ornament, eingeschlossen in den Kanon der Stilformen, Teil einer Regel-

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ästhetik war, ist nun zu jenem Moment der Gestaltung geworden, das durch Verweis, durch Symbolisieren etwas ins Denken einbrechen lässt, das diesem nicht ‹ gehört ›. Schinkel bemüht sich, die Wirkung, den Charakter der von ihm entworfenen ‹ Ordnungen › an der eigenen Erfahrung zu prüfen ; seine Bauten nehmen diese Reflexion in sich auf. Deutlich ist das bereits beim Grabmal der jung und unerwartet verstorbenen Prinzessin Luise, für das er einen gotischen Saal vorschlägt. Erscheint ihm die griechische Tektonik zu diesem Zeitpunkt noch schwer und irden, verbindet er den gotischen Raum mit einer sich verwandelnden Lichtstimmung, die ihm gleichermaßen als heiter und feierlich gilt. Sie ist mit der architektonischen Konstruktionsform unmittelbar verbunden. Nicht ohne Grund beschäftigt Schinkel, wie die Natur der Schwerkraft in der Idee des Halts, Haltens, daher des Widerstehens gegen das ‹ Fallen › überführt werden könne. Schinkels eigene Kapitell-Entwürfe für das Peristyl von Orianda oder auch die Säulenbündel der gotischen Halle für Luise stellen versteinerte organische Ornamente dar, wie er sie bereits aus der Studie für ein Landhauses bei Syrakus – aus der Landschaft heraus – entwickelt hat. Eine lavierte Federzeichnung von 1804 zeigt den Zusammenhang dieses Landhauses mit der felsigen Topografie, verzahnt mit Felsen durch Pergolen, verwachsen durch Pflanzen – daneben, isoliert, ein Pflanzenkapitell. Es scheint, als beziehe Schinkel sich durch den auf diese Weise entwickelten ‹ Knoten › der Konstruktionsform auf die Natur selbst, stimme durch sie den architektonischen Raum. Auch Berlage wird so vorgehen, auch Behrens – und schließlich auch Mies. Alle machen sie weitere Schritte bei der Entwicklung dieses Themas. Doch Schinkel warnt : « Sehr bald geriet ich in den Fehler der rein radikalen Abstraktion, wo ich die ganze Konzeption für ein bestimmtes Werk der Baukunst aus seinem nächsten trivialen Zweck allein und aus der Konstruktion entwickelte, in diesem Fall entstand etwas Trockenes, Starres, das der Freiheit ermangelte und zwei wesentliche Elemente : das Historische und das Poetische ganz ausschloss. »387 Schinkels Studien für ein Lehrbuch stellen seine elementare Beschäftigung mit der Bewältigung dieses Themas durch die primären konstruktiven Mittel der Architektur dar : Säule und Gebälk. In verschiedenen

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Dimensionierungen, in Relation gesetzt zur unmittelbaren Wirkung auf den Betrachter, werden sie durchbuchstabiert. Neuerlich wird zunächst in Zeichnungen – durch das phantasievolle Auge – erprobt, was er danach erst in Worte fasst, zuvor aber bereits in anschaulicher Begründung gefunden hat. So vermerkt er zu seinen Skizzen Über architektonische Charaktere, um 1820 : « ‹ fig. H › die höchste Ruhe, welche durch Bauen hervorgebracht wird ; die einfachen Schwere-Gesetze in großen Maßen wirksam. ‹ fig. I › dasselbe, welches sich aus dem Charakter der Schwere hervorhebt. ‹ fig. K › welches den Charakter der Schönheit gewinnt, Ruhe, Freiheit, Verhältnis. »388 Die Idee der Unendlichkeit des Möglichen, aus der sich die Architektur als Kunst speise, berührt einen Bereich, der außerhalb ihrer liegt und doch mit der Konkretheit des Bauens zu tun hat. Schinkel spricht daher von einem « Ideal » und weist auf einen offenen Prozess hin, in dem das Gemachte durch Zeit, Geschichte, Konstruktion, Wissen und eben die Natur in ihrer poetischen Gestalt sich etwas je zu Eigen machen müsse, das offenbar nicht gemacht werden könne.389 Die Forderung nach einem bestimmten architektonischen Ausdruck, gefasst in einer Stilform, verschiebt sich zur Erkenntnis eines grundlegenderen Zusammenhangs : Man könnte von einem Wechsel von der Symbolform zum Prozess des Symbolisierens sprechen, der Einbindung der aktiven Erfahrung, zu der der Einzelne durch Architektur angeleitet wird. Schinkel erklärt über die Rolle des Gefühls im Zusammenhang mit den poetischen Möglichkeiten zeitgenössischer Architektur, dass « er auf dem Punkt in der Baukunst angekommen sei, wo das eigentlich artistische Element seinen Platz in dieser Kunst einnähme, die in allem übrigen ein wissenschaftliches Handwerk sei und bleibe, dass auf diesem Punkte, wie überall in der schönen Kunst, das Wesen einer wirklichen Lehre schwer sein müsse und sich am Ende auf die Bildung des Gefühls reduziere. » Für ihn ist das Symbol Hinweis auf ein Geistiges – es deute auf Ideen,390 werde zum Verweis, weil es seine historische Stelle im Gefüge des Bauwerks verlassen habe und wieder direkt von jenem Organischen spreche, aus dem es einst Vitruv zufolge durch die Entdeckung des Kallimachos entstanden ist. Diese organische Symbolform bliebe lebendig im Nachvollzug, als ‹ Arabeske ›, meint der Kunsthistoriker Andreas Haus in seiner Studie Karl Friedrich Schinkel als Künstler. Sie sei ein

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« poetisches Sinnbild, das ein Prinzip des dauernden Werdens und der räumlichen Unabgeschlossenheit der Form »391 darstelle. Schinkel selbst meint dazu in seinen kleineren romantischen Skripten, die nicht aus der Lehrbuchmappe stammen : Architektur als Bedeutungsträger sei eine « große Arabesque, eine innige Verkettung einer stetigen Gedankenreihe welche ihre Richtung ins Unendliche hin zu dem einen Höchsten nimmt. »392 Wieso verweist Schinkel gerade auf die Dienst tuende Konstruktion, die doch selbst der technischen Logik gehorchen muss, damit sie ‹ hält ›? Gerade dort – wie schon im Moment des Naturerhabenen –, wo physische Kräfte wirken, dort würde ästhetisch die Herrschaft der Idee über den schieren Zweck in Erscheinung treten : durch « höhere Herrschaft über die Natur »393. Allerdings ist mit dem « organischen » Kapitell – dem Hinweis auf die Unendlichkeit der Ideen, die sich im Bauwerk immer neu konkretisierten – noch nicht der Schlusspunkt erreicht in der Naturbeziehung von Schinkels Bauten. Es käme darauf an, dass ihr Verweis auf ein ‹ Anderes › zur Erfahrung des architektonischen Raumes selbst würde. Das war zuvor schon Boullées Intention, eine Architektur als Hohlform, die ohne Naturstimmung ‹ charakterlos › bliebe, wie seine ausführliche literarische Beschreibung der Wirkungsform des Newton-Kenotaphs plastisch darstellt : « Mit der Zeichnung vor Augen kann man sehen, was man für unmöglich gehalten hätte. Man sieht ein Monument, in dem der Betrachter wie durch Zauberhand in die Lüfte und auf den Wolken in die Unendlichkeit des Raumes getragen wird. [ …] wohin man auch immer blickt (wie in der Natur), man gewahrt nur eine fortlaufende Oberfläche – ohne Anfang, ohne Ende –, und je mehr man sich in ihr bewegt, desto größer wird sie. Diese Form, die niemals verwirklicht wurde, bewirkt durch ihre Krümmung, dass der Betrachter sich dem, was er ansieht, nicht nähern kann. Wie durch hundert starke Kräfte wird er an dem Platz festgehalten, der ihm zugeteilt ist, und dieser im Zentrum liegt, hält er einen Abstand ein, der die Wirkung der Illusion noch verstärkt. [ …] Frei und abgesondert von allen können seine Blicke sich nur der Unendlichkeit des Himmels zuwenden. Das Grabmal ist der einzige materielle Gegenstand. »394 Für Boullée wie für Schinkel – und auch für Kant – gilt

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Schinkel, Schloss Orianda auf der Krim, 1838

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das Firmament als das Erhabenste der Natur, weil es vom Menschen nicht belangt werden könne – weil in ihm ein « Urtypus vor uns steht »395. Die unendliche Ferne ist ein Gegen-Raum, zu dem der Hausraum sich in jeder Epoche, in je eigener Weiser verhalten müsste. Feier der Ferne Im früh industrialisierten England, im Jahr 1826 vorab sozusagen den Folgen einer kommenden Zeit begegnend, begeistert von technischen Neuerungen, deutet sich Schinkel vielleicht endgültig an, dass seine Zeit an einer Grenze der Darstellbarkeit angelangt ist : einer Grenze historischen Ausdrucksformen. Die historische Form reicht nicht mehr dort hin, wohin das Denken strebt. Wenn in der ästhetischen Erfahrung – dem ‹ freien Spiel der Erkenntniskräfte › – das konkret Erlebte immer neu und offen an Vernunftideen vermittelt würde, wären diese nicht nicht mehr regelhaft ins Werk zu setzen. Es wird die angebrochene Moderne in ihrer geistigen Wucht geradezu auszeichnen, dass ihre Gestalter sich in ein bewusstes, je eigenes Verhältnis setzen müsse zu Fragen der Bedeutung. Adorno hat bereits darauf in seinem Wiener Vortrag hingewiesen. Diese Tatsache wird alle Diskussionen um eine verbindliche Ästhetik der Moderne begleiten und liegt doch schon in ihrem Wesen beschlossen – darin, dass etwas zur Sprache kommt, dem gegenüber wir letztlich sprachlos sind. Nirgendwo wird dieser grundlegende Wandel deutlicher als im Raum der Transzendenz. So erhebt sich über Schloss Orianda ein kleiner Tempel auf den Schultern einer monumentalen Anlage. Zu ihm gelangt man über den üppigen, von Säulen umstandenen Gartenhof ; ihre Blatt-Kapitelle verweisen ganz direkt auf die hier gedeihenden Pflanzen. Statt einer verschlossenen Cella, dem Heiligsten des klassischen Tempels, in dem das Standbild des Gottes aufbewahrt war, fände man am Schlusspunkt dieser eindrücklichen Promenade verglaste Wände vor. Wie würde dort ein Gott verehrt, verbunden mit der erhabenen Ferne, mit Luft, Wasser, Weite? Bei der Rückkehr schließlich in die Wohnräume dieser Residenz, die sich zwischen das « religiöse Erlebnis » und die felsig-nackte Natur wie

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eine vermittelnde Schicht legen, wandelt man erneut durch eine zum Garten geläuterte Natur. Hier finden sich Schinkels Gedanken verräumlicht, das Beziehungsgeflecht der in seinem Lebenswerk schrittweise entwickelten Möglichkeiten, Architektur zum Instrument von Bedeutung zu machen, in einem weiteren Idealprojekt verwirklicht : in der schönen, gärtnerisch kultivierten Natur, der Raum schaffenden, geschichtsbehafteten Konstruktionsform und dem auf die erhabene Ferne bezogenen Höhepunkt dieser Raumfolge. Schinkel, über die Wirkung der zwischen die Säulen des Tempels eingestellten Glastafeln, das die geschlossene Wand der Cella durch neue technische Möglichkeiten ersetzt : « Man ist im Stande einen Raum ganz vor der Witterung zu schützen und abzuschließen, in welchem man dem Grade des Lichts und der Heiterkeit nach fast wie im Freien lebt. Dies Kunstbestreben und seine Produkte haben etwas Poetisches oder können es haben, sie können vollkommen Styl halten. »396 Er mag den Auftrag der Zarin Alexandra Feodorowna – der preußischen Prinzessin – für eine Sommerresidenz am Schwarzen Meer im Jahr 1838 mit Absicht falsch verstanden haben. Vom Potsdamer Charlottenhof beeindruckt, hat sie eigentlich nach einem ähnlichen Entwurf verlangt : einem ‹ Landhaus ›. Schinkel aber, um der erhabenen Landschaft gerecht zu werden und ein grandioses Manifest des Möglichen zu zeichnen, geht zurück auf eine ‹ zusammenfügende Kompositionsweise › und setzt ein mächtiges, nach Außen hin beinahe abstraktes Ensemble auf den Felssporn, ergänzt so die Naturform um eine Kulturform : beinahe wie eine Anlage Boullées. Der auf gewaltigen Substruktionen ruhende Tempel und seine umgebenden Bäume scheinen aus einem Museum zu wachsen, einer Art Grotte, in der nicht nur die Baugeschichte ausgestellt, sondern die politische Forderung nach einer im Griechentum verwurzelten, russischen Kultur vor Augen geführt werden sollte.397 Über Geschichte und diese über der Natur thront der verglaste Tempel, nicht mehr Ort des Rückzugs, sondern ein Belvedere, zu dem man über eine monumentale, einläufige Freitreppen gelangt : Ein bekanntes Motiv, das Schinkel ähnlich in Schloss Klein-Glienicke anwendet oder auch in Charlottenhof, wenn der von einer Wand gefasste, bei sich ruhende Blick plötzlich der umgebenden Landschaft ausgesetzt ist, wo sich die Firstkante mit dem Horizont verbindet, bis er das Bauwerk vollends erfasst.

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Gerade hier, in diesem letzten Wunschtraum eines Architekten, realisiert dieser, was er für Zivil- und Ingenieurbauten erkannt hat : « Die Neigung der Moderne und besonders durch die Kultur des Nordens angeregt : mehr Licht in das Innere der Gebäude zu haben, wodurch größere Tür- und Fensteröffnungen entstehen, hat sehr viel zu einer gänzlichen Umgestaltung der Architektur beigetragen .»398 Am Ort der Götter trifft die Moderne ein. Dort sammelt sich der erstaunte Blick eben nicht in einem abschließenden Innenraum, sondern kehrt, durch das Dach behütet, ins eigene Innere zurück, reflektierend und zugleich um sich blickend. Der ‹ Hausraum › ist ästhetisch mit der Landschaft verbunden.399 In diesem Entwurf zeigt sich die Verbindung von Architektur und Natur in einem idealen Gleichgewicht des Erlebens. Wer aus dem Garten in die Höhe steigt, träfe nicht nur auf einen Tempel, sondern auf Vorboten eines modernen Glaspavillons. Die ‹ hohe Stadt › wäre eine idyllische Einheit der Gegensätze gewesen. Schinkels Ideal der Ruhe aktualisiert das symbolische Gleichgewicht der Säulenordnung durch die im Bauwerk geborgene Dynamik der Natur. « Die Baukunst erfordert vor allem Ruhe »400, notiert er sich. Die Spannung zwischen Natur und Technik ist damit nicht aufgelöst, die Industrialisierung hat zwar ihre äußere Kraft gezeigt, erst im 20. Jahrhundert wird sie als geistige Macht bis ins Bewusstsein der Großstädter vordringen. Am Ende dieser Entwicklungslinie wird auch bei Mies ein Tempel stehen : Ein Wohnraum für eine einzelne Person. Sein Raum ist die Lichtung, der künstlich im Dickicht freigeräumte Himmel, die Stätte, der Ursprung der Stadt.401 Eine scharf gezogene Grenze zwischen Kultur und Natur – oder auch der Ort einer dialektischen Einheit, da eine Lichtung ihre Form im Grunde stets wandelt. Der Herausforderung, der sich ein Wohnender in Mies’ Bauten stellt, sie hängt mit dem Anspruch an eine kontemplative Existenz zusammen : ausgesetzt den Zyklen der Natur und doch physisch durch die Form der Konstruktion behütet ; geistig behütet, indem diese durch Natur gestimmt wird. Man könnte Mies einen ‹ hohen Ton › vorwerfen – wie es die zeitgenössische Kritik durchaus tat –, dem er so selbstverständlich Raum verschafft, dass er selbst sich nicht darüber äußert. Dass diese Ideen für Mies tatsächlich zentral sind, ist durch eine Aussage verbürgt. Über das Haus für Edith

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Farnsworth befragt, trifft er eine einmalige Äußerung über die Natur als ‹ Antriebskraft › der Architektur : einer ‹ Hohlform ›, deren Wirkung auf die landschaftliche Stimmung angewiesen wäre : « Ich trachte meine Bauten zu neutralen Rahmen zu machen, in denen Menschen und Kunstwerke ihr eigenes Leben führen können. Um das zu tun, ist eine respektvolle Haltung den Dingen gegenüber notwendig. [ …] Auch die Natur sollte ihr eigenes Leben leben. Wir sollten uns hüten, sie mit der Farbigkeit unserer Häuser und Menschen zu stören. Doch wir sollten uns bemühen, Natur, Häuser und Menschen zu einer höheren Einheit zusammenzubringen. Wenn Sie die Natur durch die Glaswände des FarnsworthHauses sehen, bekommt sie eine tiefere Bedeutung, als wenn Sie außen stehen. Es wird so mehr von der Natur ausgesprochen – sie wird ein Teil eines großen Ganzen. »402 Auf diese Einheit der Gegensätze kommt Mies 1958 zu sprechen – auf Nachfrage seines Interviewpartners. Doch schon früher sucht er in der Konstruktion, in Nachfolge Schinkels, und im Raum, in Nachfolge Boullées, nach Möglichkeiten ihres Ausdrucks, nutzt die Zeichnung ebenfalls als eine Art Testgrund seiner Architekturauffassung. Durch seine ‹ fünf Projekte › wurde dies zum ersten Mal eindrücklich.

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Raum der Konstruktion

Mies schreibt

Das Landhaus aus Backstein wäre keineswegs ein purer Backsteinbau gewesen, wie es der Name insinuiert. Die Geschoßdecken hätten, bei gesetzter Anordnung der Mauerscheiben, aus armiertem Beton konstruiert werden müssen, wie es die perspektivische Darstellung des Bauwerks mit seinen hellen Stirnflächen auch nahelegt. Es hätte sich um eine Mischbauweise aus Ziegel, Beton, Eisen und Glas gehandelt. Schon damals geht es Mies um einen Umgang mit dem Material und sein Erscheinen in der Konstruktion, das beim Betrachter das Gefühl der ‹ Überstrapazierung › provozieren sollte. Den stärksten Vorschub in diese Richtung wagt er wohl beim expressiven Denkmal für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Auf dem Friedhof in Berlin-Friedrichsfelde lässt er 1926 die Ziegel scheinbar gegen die Schwerkraft schichten : Je ein Binderverband schließt die auskragenden, horizontal gegeneinander verschobenen, auf diese Weise bauplastisch wirksamen Läuferverbände ab. Die gebaute Masse scheint zu schweben. Wären die Auskragungen nicht derart groß, könnte das Monument immerhin in Kragbauweise zusammengefügt worden sein. Doch für den konstruktiv Unkundigen – wie auch das unmittelbare ArchitekturErlebnis – bleibt die tatsächliche Konstruktion im Verborgenen und das rätselhafte Schweben wird als Analogie zur Kraft jenes politischen Widerstandes deutbar, den die im Aufstand gegen das System Gefallenen geleistet haben. Die Konstruktion tritt also in Verbindung mit einer Bedeutung, die sich im Ausdruckswert des Denkmals direkt darstellt ; die Architektur erschließt sich im Nachvollzug der aufgehobenen Schwere, durch Einfühlung in die Tektonik einer dem Ziegel fremden Konstruktionsweise. Über Stahlstäbe sind sie mit einem Betonkern kraftschlüssig verbunden. Unter Einfluss neuer bautechnischer Möglichkeiten blickt Mies nüchtern auf historische Konstruktionsformen zurück : « Da ich selbst aus einer Familie von Steinmetzen stamme, bin ich mit dem Handwerk sehr genau vertraut – und zwar nicht nur als ästhetischer Betrachter. Meine Empfänglichkeit für die Schönheit handwerklicher Arbeit ist kein Hinder-

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« Echeveria Gibbiflora var. Melia Ilica », 1924

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Denkmal für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Berlin-Lichtenberg 1926

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nis für die Erkenntnis, dass das Handwerk als Wirtschaftsform verloren ist. [ …] wir können es nicht mehr retten, wohl aber können wir die industriellen Methoden so vervollkommnen, dass wir etwas der mittelalterlichen Handwerksqualität Gleichwertiges erzielen. »403 Dies hieße jedoch auch, dass der Hinwendung zu fortschrittlichen Materialien übergeordnete Prinzipien eingeschrieben bleiben. Es geht um ein ‹ Mehr › der Konstruktion, das Mies ‹ Struktur › nennen wird, die das Raumerlebnis verändert : « Wenn die Konstruktion zu einem Ausdruck erhoben wird, dass man ihr einen Sinn gibt, dann hat man eigentlich schon über Struktur zu sprechen. Die Konstruktion erfüllt eigentlich einen Zweck, und die Struktur gibt diesem Sachverhalt einen Sinn. »404 Im Herbst 1966, als ihm in West-Berlin der drei Jahre zuvor geschaffene Große BDA-Preis verliehen wird, wenige Jahre also vor seinem Tod, meint er, dass man die Grammatik der Architektur wie eine Sprache beherrschen müsse, um sich in ihr auch poetisch äußern zu können. Die Konstruktionsweise bestimme die Details, die Details erst schaffen den Zusammenhang des Ganzen. Diese Details aber blieben direkt, räumlich erlebbar : wie bei Schinkel. Für ein Monument wäre eine solche symbolische ‹ Beladung › der Konstruktion selbstverständlich ; in besagtem Fall waren die beiden Märtyrer des Spartakistenaufstands an eine Mauer gestellt und erschossen worden. Die Ziegelblöcke des Denkmals erheben sich symbolisch auch über die Schwere des physischen Fallens, des Todes. Der in Großbuchstaben in eine Skizze von Mies hineingesetzte, später entfernte Schriftzug ICH WAR ICH BIN ICH WERDE SEIN weist mithin in diese Richtung. Doch ist darin auch ein Grundthema in Mies’ Auffassung als Konstrukteur benannt : Im Material als geistig zu formender Grundlage des Bauens, ergo nicht im Material selbst, liegt Bedeutung. In der Struktur eines Bauwerks gelange sie zu dauerhaftem Ausdruck. Sein Verhältnis zur Technik klärt Mies nicht ausschließlich durch Projekte – ob realisiert oder auf Papier. Als Mitglied der progressiven Novembergruppe und des Ring hat er sich dazu verpflichtet, aktiv für das Neue Bauen einzutreten. Die ersten Jahre kurzer, veröffentlichter Texte und einer eingeschränkten Vortragstätigkeit, beginnend mit einer Äußerung in Bruno Tauts Frühlicht aus dem Jahr 1922, sind gekennzeichnet

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vom Appellcharakter der Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Baugeschehen, vom Drängen nach einer zeitgemäßen Baukunst – dem Versuch, die Rahmenbedingungen der Architektur in wenige, bestimmende Worte zu fassen. Sie werden noch von Fortschrittsgläubigkeit angetrieben, demonstrieren die Aufbruchsstimmung seiner ‹ fünf Projekte › nun in Worten. Zugleich offenbart sich – vor dem Hintergrund der Entwicklung, die Mies’ Denken durchmachen soll – eine noch nicht zum Ziel gelangte Suche nach geistigen Grundlagen des eigenen Handelns. Fritz Neumeyer nennt diese kommende Architektur, die sich langsam aus Mies’ Ursprüngen entfaltet, eine « neue, nicht einseitig gerichtete Moderne »405. Mies’ Vorträge und Texte – etwa für Frühlicht, für das Organ des Werkbunds, Die Form, und für die durch ihn mitgetragene Zeitschrift G – erhalten erst nach 1926 einen solchen Schwerpunkt. Die frühesten Texte, die Neumeyer in seinem Buch Das kunstlose Wort gesammelt hat, bestärken die Annahme einer Zäsur um dieses Jahr, das Mies selbst in einer bereits genannten Notiz als besonders ausweist. Die zentrale Auseinandersetzung mit dem Denken des katholischen Theologen Romano Guardini wird durch die Lektüre einiger weiterer Autoren angereichert, deren Gedanken Mies’ Bauen ein Leben lang begleiten werden. Er setzt sich ihnen aus, markiert entscheidende Stellen, nimmt sie wie einen persönlichen Handapparat mit in die Emigration. Doch selbst die wörtliche Übernahme ganzer Passagen in seine eigenen Vorträge darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass nur Vermutungen angestellt werden können, wie diese Suchbewegung nach geistigem Rückhalt den Praktiker beeinflusst, der die Leseerfahrungen seinen Interessen und seinem Wissenshorizont angleicht. In der kurzen Baubeschreibung seines zweiten Glashochhauses von 1922 und in einem weiteren Beitrag über sein Bürohaus in Eisenbeton von 1923 geht es allein um die durch eine « Haut- und Knochenarchitektur »406 gewonnenen, neuen Freiheiten – aus Sicht der technischen Machbarkeit. Im Mittelpunkt steht das Eisenskelett des verglasten Hochhauses : nach außen ein Spiel der Lichtreflexe, innen nur durch Treppenhäuser und Aufzugstürme gegliedert. Beim Bürohaus aus Eisenbeton stülpt sich wiederum die Geschoßdecke an der Fassade jeweils zwei Meter in die Höhe und formiert so die Außenwände, lässt nur Raum für die über den

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Regalen durchlaufenden Fensterbänder, die offenbar nicht zum Hinausblicken gedacht sind : Eher geben sie Einblick in das kräftige, dennoch optimierte Skelett. Neue Bauweisen und Materialien in ihrer radikalen, ingenieurmäßigen Reduktion sollen hier scheinbar aufs Äußerte vorangetrieben und vom Architekten für die Zwecke einer ausdrucksstarken, von ihrem städtischen Umfeld abstechenden Architektur adaptiert werden. Über die Bedeutung ihres Ausdrucks schweigt Mies – noch. Den « raumgefassten Zeitwillen », das « Wesen der Aufgabe » findet er darin, ein Bürohaus mit angemessener Raumtiefe dem ökonomischsten Konstruktionsprinzip gemäß zu denken. Freilich entsteht damit wieder Form, diese sei indes nicht mehr « Ziel »407, sondern « Resultat » der Architektur, wie er 1923 in seinem Text Bauen verlautbart – das Resultat einer rationalen Gleichung. Passagenweise wörtlich wiederholte Äußerungen haben den Charakter einer durch das Schreiben erzielten Selbstvergewisserung – je apodiktischer die Apologien der technischen Machbarkeit, desto bestärkender. Im Eindruck der Massenkultur und der Wucht der neuen Möglichkeiten fällt sogar der Satz : « Der Einzelne verliert immer mehr an Bedeutung. »408 Auch dem wird er später widersprechen : Auf das Erleben des Einzelnen kommt es ihm bald an. In ihrer Drastik gesteigert wird diese Aussage nur noch durch die wenige Absätze später fallende Bemerkung : « Der Zweck eines Bauwerkes ist sein eigentlicher Sinn. » All das bezeugt eine gewisse Asymmetrie des bauenden und schreibenden Architekten. Wolfgang Pehnt bekräftigt die auf der Berliner Bauausstellung offensichtlich gewordene Tatsache, dass Mies wenig mit der Wohnungsnot der Zeit und einer pragmatischen, an rein technischen oder gesellschaftspolitischen Leitbildern orientierten Moderne zu tun hat : « Wie im Falle Le Corbusiers waren in den zwanziger Jahren die Bauherren Mies van der Rohes vermögende Leute, die außer dem Geld auch die Aufgeschlossenheit der Avantgarde gegenüber besaßen und deren gesellschaftlichen Repräsentationspflichten die weiten und zugleich zeremoniellen Wohnräume Mies van der Rohes entsprachen. »409 Dazu zählen auch Sozialisten und gesellschaftskritische Bauherren, wie Martha und Karl Lemke, oder etwa jene Kreise, die ihn tatsächlich als Architekten einer nicht allein baulichen Revolution ausgemacht haben wollen.410 Mies geht – im Sinne

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eines Bauens für die Masse – in den frühen Zwanzigerjahren dennoch so weit, die Entwicklung neuer Materialien aktiv zu fordern. Maschinell gefertigt, sollten sie zur Rationalisierung des Bauens auf einer zeitlich optimierten Baustelle beitragen. Am Ende des industriellen Bauens stünde nicht weniger als die « Vernichtung des Baugewerbes »411 in seiner bisherigen Form. Und auch in seinem Programm für die Berliner Bauausstellung fordert er ein « Herausarbeiten der wirklichen Wohnbedürfnisse »,412 spricht aber auch die « Diskrepanz zwischen wirklichem Wohnbedürfnis und falschem Wohnanspruch » an. Es mag durchaus zutreffen, auch der wirtschaftliche Druck und die der Architektur äußerlich bleibende Forderung nach ‹ Menge › haben Mies davon abgehalten, sich tiefergehend im Sozialbau zu engagieren. Auch wenn er sich immer wieder diesbezüglich ‹ zu Wort › meldet – vom Geschoßwohnbau der Stuttgarter Weißenhofsiedlung über die Junggesellenwohnung der Berliner Bauausstellung bis hin zu Entwürfen für Reihenhäuser in Amerika. Im programmatischen Text Baukunst und Zeitwille von 1924 sieht Mies dort eine falsche, romantische Geschichtsschreibung am Spiel, wo die Baukunst der Vergangenheit nicht als Zweckbaukunst erkannt würde. Doch erteilt er weder der Geschichte noch der architektonischen Gestaltungsleistung eine volle Absage ; eher scheint es ihm darum zu gehen, wieder Tritt in dieser Geschichte zu fassen : « Erst dann werden unsere Nutzbauten ins Baukünstlerische hineinwachsen, wenn sie bei ihrer Zweckerfüllung Träger des Zeitwillens sind. » Ihm liegt das Bauen als elementarer Vorgang vor Augen, seinem Publikum auf einer öffentlichen Tagung des Bundes Deutscher Architekten in Berlin unter dem Titel Wie retten wir uns aus der Wohnungsnot ? Es muss wieder gebaut werden ! zeigt er ein Indianerzelt, eine Blatthütte, Eskimobehausungen, « die eindeutig aus Zweck und Material gestaltet sind. »413 Selbst das Bauernhaus erfährt Wertschätzung, wird zum Vorbild aus alter Zeit, erfüllte es doch einmal die einfachen Bedürfnisse des Menschen, wie es heute nur noch das Passagierschiff täte. In ihm stellt sich Mies gegenwärtig der Höhepunkt im Reigen baulicher Elementarleistungen dar : Auf der achten seiner Abbildungen ist die Imperator, ein modernes Schiff, zu sehen. Konsequenterweise setzt er in dieser Erzählung seine Profession in eine ganz und gar pragmatische Verbindung zur Landschaft : « Jede Kul-

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tur ist abhängig von der Landschaft und ihren wirtschaftlichen Voraussetzungen. »414 Ländliche Bauten seien « aus den Urmaterialien der Landschaft gestaltet. Man hat sie nicht erfunden, sondern sie sind im wahrsten Sinne des Wortes gewachsen aus den Bedürfnissen ihrer Bewohner und zeigen wie sie Tat und Charakter der Landschaft, in der sie eingebettet liegen .»415 Den großen Bauten der Vergangenheit indes korrespondierten heute Brücken, Wehre, Industrieanlagen. Mit dieser Einsicht wird Mies sich weiterhin identifizieren, dass jede Epoche die avanciertesten Möglichkeiten der Technik in Architektur verwandeln müsse : Auch die großen Leistungen der Vergangenheit, Tempel, Basiliken, Kathedralen, sind anonymer Ausdruck des Zeitwillens, Ausdruck von Zwecken, und wurden zu Symbolen ihrer Zeit.416 Wie nur könnte diese ‹ Verwandlung › gelingen, das hat bereits Schinkel gefragt und sich gegen ein « kaltes Verstandeswerk »417 wie auch die « sklavische Nachahmung » des Vergangenen gewandt. Solche Zusammenhänge stehen für Mies am Beginn einer gerafften, erstaunlichen Zivilisationsgeschichte, an deren Ende Le Corbusiers Pläne für Abriss und Neubau der Pariser Innenstadt stehen. Der Kontext, den Mies beschwört, ist das Zeitalter der Großstadt und des Neubeginns. Die Geschichte, mit der er davon erzählt, tritt im Licht einer ungebrochenpositiven Kraft auf. Für diese Gegenwart gelte : « Jetzt gibt es nur noch Wirtschaft. Sie beherrscht alles. »418 Das intensive Großstadtleben stellt er folglich als ebenso profan und vernünftig dar, wie es das Bauen noch werden müsse,419 denn die « Bauerei »420 müsse vom « ästhetischen Spekulantentum » befreit werden. Mies charakterisiert seine Zeit als technifiziert, tempovoll, verkehrsreich, von der Grenzenlosigkeit der Industrie und des Handels bestimmt.421 Diese Aussagen muten teilweise tautologisch und reduktionistisch an. Die Aufgabe des Wohnhauses sei es etwa, das Wohnen zu organisieren ; schon « der Bauplatz, die Sonnenlage, das Raumprogramm und das Baumaterial »422 lieferten die entscheidenden Entwurfskriterien. Im Jahr 1926 ist Mies Vizedirektor des Deutschen Werkbunds. Für die Konstruktion seines viergeschoßigen Wohnblocks im Ensemble der ersten Werkbundsiedlung wählt er ein mit Hochlochsteinen ausgefachtes Eisenskelett bei flexibel anzuordnenden Zwischenwänden. Innerhalb

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des starren Taktes der Wohnungstrennwände konnte sich das Wohnen flexibel entfalten, innerhalb der Schale der Außenwände zeigt sich das bereits bekannte ‹ Spiel › aus Wand und Stütze, das den Raum moduliert. Dementsprechend wirken die dunklen Wohnungswände aus Sperrholz zwischen der hell verputzten Decke und dem gräulichen Linoleum auf den Abbildungen der Publikation Bau und Wohnung tatsächlich wie ein Teil des Mobiliars. An jedem Geschoß werden verschiedene Wohnbedürfnisse durch Umstellung der Raumkonstellationen demonstriert, wie die doppelseitige Abbildung der Grundrissvarianten dem Leser grafisch verdeutlicht. Mies ist für diese Begleitpublikation der von ihm ausgerichteten Ausstellung am Weißenhof in Stuttgart verantwortlich. Im Vorwort schreibt er : « Es ist nicht ganz zwecklos, heute ausdrücklich hervorzuheben, dass das Problem der neuen Wohnung ein baukünstlerisches Problem ist, trotz seiner technischen und wirtschaftlichen Seite. Es ist ein komplexives Problem und deshalb nur durch schöpferische Kräfte, nicht aber mit rechnerischen oder organisatorischen Mitteln zu lösen. »423 Und auch im amtlichen Katalog zur Ausstellung, die sich mit der Frage des Wohnens in der Gegenwart beschäftigt, meint er : « Das Problem der Neuen Wohnung ist im Grunde ein geistiges Problem. »424 Ein Grundriss also ist nun gerade kein Rechenspiel mehr, das neue Wohnen weder durch die rationale Bezwingung der Wohnungsnot und längst nicht mehr durch die Repräsentationskultur des Wilhelminismus oder einen neuen gestalterischen Formalismus zu erreichen. Im Jahr 1927 heißt es dann in der Zeitschrift Die Form : « Das Leben ist das Entscheidende. In seiner ganzen Fülle, in seinen geistigen und realen Bindungen. »425 Darauf folgt Mies’ zentrales Paradigma : « Nur Lebensintensität hat Formintensität. » In einem Düsseldorfer Vortrag – ebenfalls aus dem Jahr 1927 – wird diese neue gedankliche Hierarchie befestigt, die vorausgehende darin durchaus nicht aufgehoben : « Denn nur wo Baukunst sich auf die materiellen Kräfte einer Zeit stützt, kann sie der räumliche Vollzug ihrer geistigen Entscheidungen sein. Das aber ist der eigentliche Sinn, und zu keiner Zeit ist es anders gewesen. »426 Es ginge um eine Verzahnung materieller und geistiger Prinzipien – doch reichten die geistigen Prinzipien der Architektur tiefer zurück in die Ideengeschichte des Bauens,

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während Mies’ vehemente Forderung bestehen bleibt, die moderne Technik mit ihnen zu versöhnen. Nur so könnten die technischen Mittel zum Ausdruck der Epoche werden. Gedankenhintergründe Beinahe möchte man spekulieren, das Exzerpthafte von Mies’ Umgang mit der einmal erwählten Literatur spiegelt sich in seiner Arbeit als Architekt wider : Aus dem Vorhandenen das Tragfähige destillieren. Die Wiederholung und Verknappung dient der Verdeutlichung, aber auch der persönlichen Aneignung des Gelesenen. Im Februar 1928 wendet sich Mies in Berlin mit seinem zentralen Vortrag Die Voraussetzungen baukünstlerischen Schaffens427 an die Öffentlichkeit. Er enthält sein durch Dias wirksam unterstütztes neues ‹ Programm ›. Einladungen nach Stettin und Frankfurt am Main folgen, auch die Presse berichtet. Sie scheint von der Epigrammatik des Vortrags, der lapidaren Sprache weniger überzeugt als vom ‹ Baumeister Mies ›, in dem man seit einiger Zeit eine zentrale Figur des Neuen Bauens identifiziert. Der Berliner Börsen-Anzeiger vom 2. März bescheinigt ihm zwar « geistige Klarheit und zwingende Linienführung », das Berliner Tagblatt vom selben Tag zeigt sich aber skeptisch über die im Vortrag entwickelte, euphemistische Zukunftsperspektive, angesichts der in großen ideengeschichtlichen Schritten durchmessenen Vergangenheit : « Trotz seiner Kenntnis der Wirkungsgesetze in der Geschichte, macht er in die Zukunft schauend Ergänzungen, die zu ‹ Illusionen › führen, da sie Äußerungen seines Wunsches sind. »428 Nun gilt es für Mies, die « Baukunst nur von ihrem geistigen Zentrum aus aufzuschließen und nur als Lebensvorgang zu begreifen. [ …] Baukunst ist ein räumlicher Vollzug geistiger Entscheidungen », bekennt der Architekt und trifft auf Skepsis. Als Grundmuster der baukünstlerischen Entwicklung dient ihm die seit der Antike sich wiederholende Opposition aus « Ordnung » und « Chaos » – einer Ordnung, die sich immer wieder einstellen müsse. Im Mittelalter herrschte noch Sicherheit durch die « Allianz aus Glauben und Wissen », führt Mies weiter aus, der Sieg des Nominalismus zersetze jedoch diese Ordnung, « leere Nomina » blieben zurück.

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War der Schritt von der Antike zum Mittelalter von der Bildung der christlichen Gemeinschaft begleitet, wird die Neuzeit auch bei Mies nicht mehr mit der « Eliminierung », sondern mit der « Loslösung des Individuums » verbunden : « Die Tat des auf sich gestellten Einzelnen wird immer bedeutungsvoller. Man studierte die Natur, die Beherrschung der Natur wurde Sehnsucht der Zeit. » Im Hinblick auf den Menschen, auf die Frage der Lebensintensität, nimmt Mies den Gedanken einer dienenden Technik auf, die sich angesichts des Fortschritts der Wissenschaft und der unausweichlichen Massenkultur mit der « Ökonomik » versöhnen müsse : « Ihr rationales Gesetz wird erkannt und ihre Wirksamkeit entfesselt. » Der Freiheit und « Bewusstheit » des Individuums stehen die Masse, der Verkehr, die Herrschaft der Wirtschaft gegenüber. Nur mit Hilfe der richtig angewandten Technik ließe sich wieder eine (neue) Ordnung befestigen : durch Einbindung der frei liegenden Naturkräfte. Am Beispiel eines Bildes der Paulsenlampe erklärt er das Resultat wissenschaftlicher Arbeit, das nicht Entwurf, sondern technische Konstruktion sei. Mies’ Vortrag ist nicht nur vom Gedanken einer entzweiten Kultur bestimmt, sondern bereits vom Denken Romano Guardinis und Rudolf Schwarz’ – seiner geistigen und realen Weggefährten. Schwer verständlich musste den Hörern und Rezensenten die abstrakte Forderung nach einer solchen Ordnung bleiben, die dem « Leben freien Spielraum zur Entfaltung lässt » und « auf den Menschen bezogen ist ». Genügte allein der Hinweis, die Technik und Wirtschaft wären « nur Rohmaterial » und dass es gerade jener Architekten bedürfe, die nicht « im Schutze der Konventionen stünden », um dieses Rohmaterial ordnend zu verwandeln? Wie wäre das zu verstehen, « die Aufgabe der Naturbeherrschung zu lösen und zugleich eine neue Freiheit zu schaffen », eine « Unendlichkeit, die aus dem Geiste hervorgeht »? Konnte Mies seinem Publikum auf diese Weise vermitteln, dass Freiheit und Technik zwei aufeinander bezogene Gegensätze wären? Ohne Zweifel, ohne Mies’ vorausgegangene Lesefrüchte blieben diese Sätze leer. Man muss die Hintergründe kennen, die ein von Fritz Neumeyer aufgearbeitetes Notizheft partiell offen legt. Die losen Blätter stammen wohl aus den Jahren 1927 und 1928. Unklar bleibt, ob die in ihnen enthaltenen Gedanken, die in den Vorträgen dieser Jahre kulmi-

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nierten, fortgesetzt wurden. Jedenfalls muss von einem entscheidenden Moment in Mies’ intellektueller Biografie gesprochen werden. Der Inhalt seiner Aufzeichnungen teilt sich in Vortragsnotizen und freie Exzerpte ; im Anhang seines Buches versieht Neumeyer sie mit einer Konkordanz : Mies hat sich in diesem Prozess nicht die Mühe der Referenzierung aus Büchern entnommener Gedanken gemacht. Weniger das Material zur exakten Wiederverwendung, denn ein erster Schritt zum eigenen Gedankengebäude wird hier vorgeführt.429 Neben Guardini sind auf 80 Blättern Friedrich Dessauer, mit seiner damals druckfrischen Philosophie der Technik, und Leopold Ziegler, mit dem ebenfalls 1927 erschienenen Buch Zwischen Mensch und Wirtschaft, präsent. Hieran reift der Architekt : ‹ Wirtschaft ›, ‹ Technik », ‹ Massengesellschaft › lauten die thematischen Kerne, die in seinem Vortrag wiederkehren. Ein neugieriger, eklektischer Geist führt sich ein der Universität fernes, auf das Verständnis des eigenen Tuns ausgelegtes Studium zu – ein konzentrierter Ausdünnungs- und Bewährungsprozess unter dem Röntgenblick eines vorsichtigen wie wachen, weil nachzügelnden Denkers. Mies wird sich darüber 1965 – nicht ohne Selbststilisierung – äußern : « I had no conventional architectural education. I worked under a few good architects ; I read a few good books – and that’s about it. »430 Erstaunlich, wie sehr er das auszulotende Verhältnis zwischen Technik, Wirtschaft und Architektur zum Anstoß nimmt, um seinen eigenen Standpunkt zu definieren. So notiert er sich aus Leopold Zielgers Buch Zwischen Mensch und Wirtschaft : « Die Gestaltung einer organischen Wirtschaft ist das, was uns not tut. »431 Der 1958 verstorbene Privatgelehrte vermittelt dem Architekten einen spezifischen Ordnungsbegriff : Die kapitalistische Wirtschaft dränge den einzelnen Arbeiter in die Organisation des Betriebs, um dessen Wirkungsgrad durch « Teilung und Zusammensetzung des Arbeitsvorganges »432 zu steigern. Der solcherart Vereinzelte werde Teil der Organisation, seine Tätigkeit sei fragmentiert. Zumeist herrscht ein durchaus positiver Geist vor, doch der « Potenzierung » des Arbeitsvorgangs in der Organisation der Fabrik stehe die « Depotenzierung » des Arbeiters gegenüber, der seiner « beruflichen wie wirtschaftlichen Ganzheit, Geschlossenheit, Allseitigkeit » beraubt sei.433 In einer « zermalmenden Eintönigkeit »434 werde das Individuum selbst zur Ma-

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schine, da nur noch gewisse Einsätze der Muskelkraft, gewisse Bewegungen gefragt seien in dieser Arbeitswelt. Mies findet in Zielgers Werk – um Seite 50 – Passagen, die ihm wieder eigene Notate wert sind. Der Blick auf das vielzellige Lebewesen, der Vergleich des « Organischen » mit der « Organisation » scheint ihn besonders interessiert zu haben : « Die Natur geht also den Weg von verhältnismäßig ungegliederter Ganzheit zu hoch gegliederter Ganzheit, geht mithin auf jede Weise von Ganzheit zu Ganzheit und differenziert genau nur insofern, als sie auf höherer Stufe integriert »435, notiert er auf Blatt 71 seiner Exzerpte. Doch was meint Ziegler damit? Ein vielzelliger Organismus unterscheide sich dadurch vom System einer Fabrik – in der jeder seinen kleinen Arbeitsschritt verrichte, um schlussendlich ein « Produkt » hergestellt zu haben –, dass gewissermaßen Identität herrsche zwischen Zelle und vielzelligem Organismus, dessen Teil er ja ist, da das Ganze ihn « innig einbezieht »436. Der Organismus also, könnte man zusammenfassen, strebt nach Ganzheit, die Organisation nach einem Industrieprodukt, das die dissoziierte Arbeitsleistung voraussetzt. Nochmals anders gesagt : Organismus und Organisation stehen einander gegenüber, Natur und Industriekultur. Dies schlage auf das Leben zurück : durch soziale Fragmentierung. Wofür Ziegler schließlich plädiert, ist ein organisches Wirtschaftssystem, das er gleich im ersten Kapitel seiner Aufsatzsammlung entwickelt. Diese Analyse des Kapitalismus, mithin die Forderung nach einer sinnhaft-organischen Gemeinschaft, vermittelt Mies ein Bild der Technik als organische Erweiterung, als zunächst physikalische, dann erst ökonomische Steigerungshilfe menschlicher Arbeit.437 Erst der Kapitalismus verfremde sie – in ähnlicher Weise, wie er die Wirtschaft dem Menschen entfremde : Sie werde seit dem « Ausklang der Renaissance »438 zur « Magd der Ökonomik », habe ihren Charakter gänzlich verändert, werde vom « lebendigen Organ zum toten Mechanismus »439. Erst die Allianz aus Kapitalismus, fossiler Energiegewinnung und technischem Fortschritt hat die Formierung der großstädtischen Massengesellschaft möglich gemacht. Mies wird von einer « schicksalsvollen Verknüpfung »440 sprechen, durch die Wissenschaft und Technik in den « geschlossenen Zusammenhang » der Natur einbrechen.

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Auch mit der doppelten Bedeutung der Technik kommt Mies bei Ziegler in Berührung. Sie sei ein Werkzeug und setze der Menschheit eine problematische « Schranke »441, dort, wo das Leben in seiner « schöpferischen Selbstentfaltung eingeschränkt sei. » Ziegler kommt auf das Organische, die sinnliche Ganzheit des Lebendigen, zurück, mit dem er eine sinnhafte Lebensweise verbindet. Er gibt Mies darüber Auskunft, wie mit der problematischen und doch für seine Zeit konstitutiven Technik umzugehen sei, will man sich nicht eskapistisch vor ihr verschließen. Der moderne Mensch befinde sich auch dieser Auffassung nach in einer geteilten Welt : Die Scheidelinie verliefe zwischen dem richtigen und falschen Gebrauch der Technik : « Die Technik selber spricht hier ihr Schiboleth, welches den Weg der Menschheit in zwei auseinanderstrebende Richtungen gabelt, – hüben zur Herrschaft über die materiellimpersonalen Naturkräfte führend, drüben zur Meisterung immateriellpersonaler Seelenkräfte. »442 Zwischen diesen Weisen des Weltbezugs gelte es zu wählen, zwei « Gegenwelten », wie Ziegler festhält. Mies erkennt allerdings, dass der Weg zur Ganzheit keine Richtungsentscheidung erfordert. Eine Architektur, die sich der Technik bediene, schafft Freiraum. Mit dem von Friedrich Dessauer übernommenen Konzept des « Dienstes » kann er die Forderung nach ihrer richtigen Anwendung stellen : « Technik gruppiert die neue Gesellschaft – Verknüpft alle untereinander, schafft eine neue Ordnung nach dem Dienst statt nach dem Verdienst »443, heißt es in Dessauers Philosophie der Technik. Dieser Satz sticht Mies ins Auge, in seinem Notizheft hält er weiters fest : « Die Idee des Verdienens muss zur Isolierung führen. Die Idee des Dienstes führt zur Gemeinschaft. »444 Technik übernimmt nun nicht nur die Aufgabe, ‹ Ordnung › herzustellen, sie bereitet den ‹ Rahmen › der Architektur, sie hilft bei der « Konkretisierung der Idee zum Gegenstand »445. Der Philosoph Paul Ludwig Landsberg nun, bei Edmund Husserl in Freiburg und Max Scheler in Köln ausgebildet, stützt durch seinen Erstling Die Welt des Mittelalters und wir. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über den Sinn eines Zeitalters ein Geschichtsverständnis, aus dem Mies den Begriff der Ordnung vor allem übernommen haben dürfte : « Die Geschichte des Abendlandes wiederholt in eherner Gesetzlichkeit

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eine Abfolge von menschlichen Wesensmöglichkeiten überhaupt, indem sie von der Ordnung zur Gewohnheit und von der Gewohnheit zur Anarchie hinabsteigt, um dann von der Anarchie zur Ordnung wieder zu gelangen. »446 Mies findet in diesem Buch auch den Begriff des « Schöpferischen » wieder447, außerdem das Modell einer in jeder Zeit vorherrschenden, sich aber immer wieder wandelnden ideengeschichtlichen Grundstruktur aus « Position »448 und « Antiposition », von « Nein » und « Ja ». Mit diesem abstrakten Befund ist in anderen Worten wiederholt, dass in der Neuzeit Leben und Form auseinander getreten wären,449 worin sich die entscheidende Anschlussstelle an Dessauer und Ziegler, in der Folge an die Überlegungen von Guardini und Schwarz – an die Lehre des ‹ Zusammenfalls der Gegensätze › darstellt. Am Schluss von Landsbergs Buch steht ein praktischer Befund, der Mies durchaus in seiner eigenen Situation getroffen haben mag : « Seit Descartes und Kant ist für den neuzeitlichen Europäer die frühere Welt in viele Umwelten zerbrochen [ …]. Eine neue Jugend durchmisst aufs Neue die Bahn von der Gewohnheit durch die Anarchie zur Ordnung. »450 In der Stufenfolge Ordnung – Gewohnheit – Anarchie – Ordnung wäre auch gegenwärtig eine neue Ordnung möglich, heißt es da im Jahr 1922. Diese geschichtsphilosophische Grundlage genügt Mies offenbar, um an Dessauers positives Bild dienender Technik anzuschließen : Er proklamiert eine Technik, in der die Naturgesetze durch sich selbst überwunden werden müssten und der Mensch sich entweder als « Herr »451 oder « Knecht » ihnen gegenüber verhalten könne : « Man kann auch sagen : die Kunst des Technikers ist eine Mäeutik [ …], eine Entbindungskunst von Zweckideen in die sichtbare Welt. Es ist nicht eine Entfernung von der Natur, sondern Mitwandern mit der Natur zur ‹ Mehr-als-Natur ›, zum Metakosmos. » Dessauer stellt die Technik daher als Möglichkeit dar, die « naturgesetzliche Beengung »452 zur « Befreiung von naturgesetzlicher Gebundenheit » zu verwenden. Das aber sind die Grundlagen der modernen Naturerfahrung als Landschaftserfahrungen, der die « technischen » Konstruktion eine Möglichkeit bereitet, über sich selbst hinauszuwachsen und vice versa.

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Schwarz und der große, gerichtete Raum In Dessauers Philosophie der Technik kommt Rudolf Schwarz mehrmals vor. Sowohl Dessauer als auch Ziegler führen Technik und Wirtschaft zurück auf den Menschen und seine Möglichkeit zur geistigen Entwicklung, auf die Gesellschaft, in der er lebt. Auch für Schwarz hat die Technik dienenden Charakter – wird so zum Träger architektonischer Bedeutung. Schwarz und Mies haben einander im Berliner Umkreis Romano Guardinis in den 1920er-Jahren kennen gelernt. Daraus entwickelt sich eine Freundschaft, nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein Briefwechsel. Mies versorgt den in Deutschland Zurückgebliebenen mit Nahrungsmittelpaketen ; als er im Juni 1953 nach Europa reist, feiert man ihn an der Düsseldorfer Kunstakademie, für die ihn Schwarz als Direktor gewinnen will.453 Nicht nur Mies’ Diktum vom « räumlichen Vollzug geistiger Entscheidungen » dürfte stark von Schwarz’ Schriften beeinflusst worden sein, die er in seiner Bibliothek führt. Der Zusammenhang von Raum und technischer Form als dialogische, mit dem Menschen in Beziehung tretende ‹ Gestalt ›  rührt womöglich aus der Beschäftigung mit dessen Schriften. Das ‹ Gewachsene › spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Wolfgang Pehnt meint in seiner Monografie, Rudolf Schwarz – Architekt einer anderen Moderne, es sei die Ansicht der « Freiheit des Menschen im Raum »454, die beide teilten : « Der Baumeister sichert sie, indem er dem Leben in der Objektivität der baulichen Gestalt zu seinem Recht verhilft. » Im Jahr 1948 ergeht ein Brief von Schwarz an Mies. Darin heißt es : « In Ihren Bauten hat sich das uralte Wissen bewahrt, dass das Leben nie besser gerät, als wenn es in das große Gesetz einer strengen objektiven Form eingebettet ist, die seine Zartheit behütet, und dass das Leben am menschlichsten gelingt, wenn es vor dem offenen Horizont des großen Maßes geführt wird. »455 Vom « lebenden Menschen »456 her könne der « riesenhafte [ …] wirtschaftliche Apparat »457, die « gewaltige Technik » bewältigt werden, schreibt wiederum Mies in seinen Voraussetzungen baukünstlerischen Schaffens. Naturherrschaft versus Freiheit, dieser Gegensatz müsste in einer « intensiven », aus dem Glauben an die « Kraft des Lebens »

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gewonnenen Baukunst bewältigt werden. Es ginge neuerlich um die epochale Gestalt der Technik. Mies hat Schwarz’ Aufsatz Vom Sterben der Anmut gut studiert. « Aus menschlicher Hand wird niemals tote Natur hervorgehen »458, heißt es dort rätselhaft. Der Aufsatz widmet sich im Jahr 1928 der Frage der Abstraktion – dem Ausdruck des Technischen. Schwarz sucht in einer komplexen theoretischen Reflexion die Technik nicht nur durch ihren Dienstcharakter auf das Leben zu beziehen, sondern einen zweipoligen Charakter in ihr selbst aufzuspüren. Die Abstraktion, das sei nicht nur ein Wesensmerkmal von Serie und Wiederholung im industriellen Massenprodukt, sondern geschehe überall dort, wo sich dem Naturwüchsigen – « Pflanze, Tier, Landschaft und natürliches Volk »459 – ein Werk, das Menschengemachte, gegenüberstelle. Bei dessen Gestaltung käme es auf einen Menschen an, der seine « geistige Form » – das Werk – noch immer, auch in der Moderne, zur unmittelbaren Anmut des Natürlichen heranbilden könne.460 Ähnlich wie Mies erkennt Schwarz das Technische als « Offenbarungsform »461 der Zeit, die aus sich selbst heraus auf das Organische, auf den Menschen zurückgebunden werden müsse : « Auch das muss man bedenken, dass man im Werk wohl wohnen, aber nicht aufgehen kann und dass es einer polaren Ordnung angehört, in der sich notwendig auch ein Raum findet, wo kein Werk mehr ist. »462 Das technische Werk, das durch Gleichgültigkeit dem Einzelnen gegenüber, durch Verallgemeinerung und Rationalität gekennzeichnet sei, muss zum Instrument für den Menschen werden, wie der Architekt Thomas Hasler für Schwarz’ Denken festhält : « Technik ist für ihn nicht Zweck, sondern Instrument, um Ideen zu ‹ transportieren › ».463 Schwarz selbst führt Peter Behrens’ Arbeit für die AEG an, bei der er einen « Lichtschalter durchgeistigt »464 habe und so auf andere Weise « gefällig » gemacht, ohne dass er in historischer Formensprache verharre. Der menschliche Geist wird zum Schlüsselwort von Schwarz’ dichtem Text. Der Prozess der Industrialisierung und Technisierung der Architektur wird als geschichtliche Notwendigkeit angesehen, in der jedoch die « humane Haut unserer Zeit zerschleißt und dünn wird »465. Das Organische erscheint hier zunächst als eine Art Zwischenstufe : « Durch das

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Organische hindurchgegangen, findet das Geistige im Menschen erst seine würdig-weite Wohnung in den großen Einöden der Natur. Auf den hohen Bergen, an den Küsten des Meeres, unter dem Kreislauf der Gestirne, in der Monotonie der Wüste erwacht das Größte und Härteste im Menschen zu seiner Freiheit. Es ist nicht Sehnsucht, sich zu verlieren, sondern die Hoffnung, sich zu finden, die ihn dorthin treibt. Und doch, an den äußersten Rändern seiner Existenz, errichtet er seine größten und stolzesten Kathedralen ; dort erbaut er sich seine einsamsten Welten, gebildet aus den geistdurchdrungenen Urkörpern der Stereometrie .»466 Das monumentale Bauwerk ist auf die erhabene Wirkung extremer Landschaften bezogen, die mathematisch-geometrische Präzision auf die Rohform alter Pyramiden und Tempel zurückgeführt. Die Faszination seiner Zeit für die Ingenieurform verbindet Schwarz auf eigentümliche Weise mit den Leistungen der frühen Hochkulturen, Griechenlands und auch des Mittelalters, die « zwischen Wüste und Wüste » durch « große Raum- und Körperwürfe, Zylinder und Kegel » eine fortwährende, von Geist durchtränkte Kultur entwickelt hätten. Es sei eine Zeit der Entscheidung, in der er gerade lebe, betont Schwarz : « Sehen wir recht, so ist in der Analogie der abstrakten Gestalt das Angebot einer großen neuen Kultur gegeben, ein Angebot, das Aufgabe ist und das verscherzt werden kann. »467 Die Wirkung einer solchen Gestalt übermittelt sich schlagartig jenen, die an einem sonnigen Sonntag den Gottesdienst in der Aachener Kirche St. Fronleichnam besuchen. Am 21. Dezember, innerhalb des Jahres 1930, als seine erste Kirche fertiggestellt, vertraut Schwarz auf die Präsenz des weißen Baukörpers im Stadtbild und den scheinbar puren Raum, in dessen hoch aufragendes Kirchenschiff von oben, durch einen Kranz annähernd quadratischer Fenster, sattes Licht einfällt wie durch eine nun magisch belebte, ehedem kalte Wand. Es ist vielleicht weniger ein Sakralraum, als ein moderner Raum per se : herausfordernd und anregend. Diese Abstraktion wird von Mensch und Sinn bewohnt : « Noch in abstrakter Form bleibt heimlich geborgen organische Anmut, und noch in organischer Struktur ruht still die abstrakte Möglichkeit »468, schreibt Schwarz. Er bezieht die Versöhnung der Abstraktion mit der organischen Form schließlich auf eine

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« blühende Mitte », auf das Leben, und scheint damit wiederum den Menschen selbst zu meinen : sein Erleben. Es sind Pflanzen in statu nascendi, Knospen, die er zur anschaulichen Erklärung seiner geistigen Baukunst heranzieht. In der kristallinen Konstruktionsform der Gotik entdeckt er die Krabbe als zu « erfühlendes Mehr »469 des Bauwerks, als Organisches im Werk. Es sei kein « willkürliches Ornament der Steinmetze, sondern das liebe Unterpfand des in dieser Architektur verborgenen heimlichen Lebens, das so viel mehr ist als nur ein ‹ Kristall ›. » Diese Werkform erhält dort Leben, wo der Mensch ihre Anmut erlebt, denn wie ein Baum – den Schwarz mit der Form der Krabbe assoziiert – im Winter temporär erstarre, um im Frühling wieder lebendig zu werden, so auch die architektonische Form, wo sie zur Gestalt wird. Ihre Lebendigkeit hat mit Ausdruck und Erleben, mit Zeitlichkeit zu tun, der zeitlichen Veränderung, die sie dort vollziehe, wo sie mit der realen Natur in Wechselwirkung tritt. War die streng-geistige Form noch bezogen auf die Ödnis der Wüste, so wandelt sich die im Stein verborgene « Knospe » zum Organischen, wo sie in der Stimmung des Raumes durch Licht, Schatten, wo eine selbsttätige Natur die Gefühle des Betrachters anregt : So erst würde sie wirklich zu einer Knospe, aktualisiere sich die abstrakte Form. Nicht von tektonischer Einfühlung ist also bei Schwarz die Rede, sondern von der Verlebendigung der Konstruktionsform im Raum. Dessen wechselnde Stimmungen scheinen den Jahreszeiten zu gleichen ; die Gestalt der Konstruktionsform wäre neuerlich nicht ohne diese Belebung durch die ‹ landschaftliche Stimmung › zu verstehen, die einen Raum erfüllt, den die Konstruktion aufrichtet. In seinem Aufsatz Über Baukunst von 1924 heißt es dazu : « Konstituierendes Element der Baukunst ist der architektonische Raum, also das, was in dem Gefäß der Wände und Decken, der Böden und Stützen eingeschlossen ist. Ein zartes, immer fließendes und immer hervorgebrachtes Gebilde von Licht und Leben. Man darf diesen Raum nicht absolut fassen, denn es kommt ihm keine absolute Existenz zu, sondern nur in Bezug auf ein menschliches, leibseelisches Zentrum : er ist der neue, größere Leib des Menschen, und schwingt in den Rhythmus des menschlichen Lebens. »470 Doch bleibt die architektonische Form für die dialogisch erfahrene Raumgestalt wichtig,

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stellt Hasler in seiner Schwarz-Monografie Architektur als Ausdruck fest : « Voraussetzung für die Beziehungsfähigkeit der Teile, für den Dialog der beteiligten Formen, ist der Gestaltcharakter der Bauteile, also jene Formqualität, die dem Subjekt das Erkennen eines Gegenübers überhaupt erst ermöglicht. »471 Über diesen Brückenschlag zwischen Abstraktion und Leben, den Schwarz in der Wegweisung der Technik mit Albert Renger-Patzsch’ Schwarz-Weiß-Fotografien illustriert, meint er : « Landschaftsraum wie architektonischer Raum stehen einem äußeren, metaphysischen Vorstellungsraum gegenüber. Das ist für Schwarz die ‹ philosophische Voraussetzung › für die Baukunst. »472 In diesem Sinn ist Schwarz’ Architektur gerichtet, die Auflösung der Gegensätze zwischen dem Organischen und dem Abstrakten erfolgt durch die Erfahrung einer übergeordneten Ganzheit. Mies hat in Landsbergs Buch Die Welt des Mittelalters und wir den mittelalterlichen Gott im ‹ Ordo-Gedanken › angetroffen – der ehedem religiöse Gehalt dieser Idee wurde durch Augustinus philosophisch an die Neuzeit vermittelt, wenn dieser erklärt : « ‹ Nihil enim est ordinatum, quod non sit pulchrum ›, alles Geordnete ist schön, atmet noch ganz den edelsten Griechengeist. Die Ordnungslehre des Augustinus ist seine Lehre der rationes aeterneae, der ewigen Vernunfwahrheiten. »473 In der Moderne zeige sich diese in der Erfahrung des Schönen. Mies übernimmt den Wandel der platonischen Idee der Schönheit zur ästhetisch vermittelten Erfahrung des Schönen in sein Denken – wie Schwarz es dargelegt, wie Schinkel es vorbereitet hat. Der philosophische Zusammenhang hat sich Mies bei der Lektüre von Landsberg mitgeteilt ; die aus dem Christentum etablierte Unterscheidung zwischen « uti » und « frui » – zwischen « Mittel zum Zweck » und « Selbstzweck », die sich ehedem im Verhalten des Menschen zur Welt und dem Verhalten gegenüber Gott ausgedrückt habe, überträgt sich in der Moderne auf das ‹ Für-sich-Sein ›. Was im gotischen Tragwerk die Knospe, halb Schmuck, halb konstruktive Notwendigkeit war, als – mithin symbolische – Auflast, leistet bei Mies künftig eine architektonische Detailkultur, die das Zwingende der technischen Form, ihre rational-berechnende Logik, durch Ausdruck im Raum ästhetisch wandelt.

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Rudolf Schwarz betont, die « Zerrissenheit »474 des Menschen in der Moderne erlaube nicht den Rückgang zur antik-mittelalterlichen ordo. Die einzige « feste, unverrückbare Ordnung » sei die des « Lebens selbst ».475 Wie stark diese Ideen in Mies’ Denken nachhallen, sogar ihre Diktion beibehalten, wie sehr sie zum eigentlichen Kern seiner Lehre gehören, zeigt er in seiner Antrittsrede als Direktor des Armour Institute of Technology in Chicago : « Wir wollen aber eine Ordnung, die jedem Ding seinen Platz gibt. Und wir wollen jedem Ding geben, was ihm zukommt, seinem Wesen nach. Das wollen wir tun auf eine so vollkommene Weise, dass die Welt unserer Schöpfungen von innen her zu blühen beginnt. Mehr wollen wir nicht. Mehr aber können wir nicht. Durch nichts wird Sinn und Ziel unserer Arbeit mehr erschlossen als durch das tiefe Wort von St. Augustin : Das Schöne ist der Glanz des Wahren. »476 Die Möglichkeit der Schönheit beruht noch immer auf der Entzweiung der modernen Vernunft. Mies fasst den unhintergehbaren geistigen Grund seiner Zeit im selben Vortrag zusammen : das « mechanistische Ordnungsprinzip » – materiell und funktional – stünde dem « idealistischen Ordnungsprinzip » – ideell, formal – gegenüber, beide aber seien auf einseitige Ziele gerichtet. Es ginge um die Vermittlung des Lebens durch die technische Form, der dann erfahrbaren Schönheit. Mies findet sie im Modell des « organischen Ordnungsprinzips »477, einer « Sinn- und Maßbestimmung der Teile und ihres Verhältnisses zum Ganzen », worin noch die alte Proportionslehre nachklingt und doch Erweiterung durch das ‹ Lebendige › findet. Ästhetik der Konstruktion Am 14. April 1963 verfasst Mies einen kurzen Nachruf auf seinen Freund Rudolf Schwarz. Zum Anlass einer Gedächtnisausstellung in Köln schreibt er : « Sein ganzes Wesen – nicht nur sein Tun, sondern auch sein unvergleichlich tiefes Denken – war ein stetes Bemühen um Klarheit, Sinn und Ordnung. Rudolf Schwarz war ein denkender Baumeister, und Baukunst war ihm gestaltete, sinnerfüllte Ordnung. »478 Sein letztes Manuskript wiederum verfasst Schwarz am 27. März 1961, wenige Tage vor seinem Tod. Es handelt sich um die Geburtstagsadresse

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der Düsseldorfer Kunstakademie an Mies. Dieser war 75 Jahre alt geworden : « Es ist auch nicht sinnlos, solchen Glückwunsch mit einem Datum zu verbinden, denn es ist eine sehr große Sache, dass das Leben des Geistes mit all seinem Jubel und seiner Niedergeschlagenheit, seinem stürmischen Fortschritt und seiner müden Verhinderung eingeortet ist in die Aufgänge und Untergänge der Sonne, den Wechsel der Tage und Nächte, die Winter, Frühlinge, Sommer und Herbste der Erde. Wir vergaßen, was noch den großen Astronomen der Neuzeit ein selbstverständliches Wissen war, dass in den Umläufen der Gestirne die Melodie des Weltalls erklingt, dass die verlässliche astronomische Zeit Wohlklang ist, in dessen Güte das Leben gebettet und bewahrt ist .»479 Schwarz’ Würdigung stellt wohl in knappster Form den übergeordneten Baugedanken seines eigenen Werks dar, für den der ‹ höhere › Kreislauf der Natur von nicht geringer Relevanz ist : « Der Baumeister gestaltet eine vorliegende Aufgabe, indem er aus der bescheidenen Forderung ihrer niederen Notwendigkeit ihr Geistigstes hervorbringt und so die Gestalt und Bewegung des Geschöpflichen ins Räumliche freigibt, und dann zieht er darum die Wand als letzte Begrenzung. So wird ihm der Raum zum Weltall und die Wand zum Weltfirmament und er erneuert die Schöpfung. In mancher Beziehung gleicht er dem rechnenden Gelehrten, der die Welt in seine bedenkende Seele hineinnimmt und so in seinem Bedenken größer ist als das Weltall, das ja in ihm Raum hat und um das er seine Seele herumtut. »480 Das ästhetische Sinnversprechen der Natur wird im Raum der Architektur ausgesprochen – der auch Berechnung und niedere Notwendigkeit ist. Der reflektierende Mensch wäre in ihm in der « strengen objektiven Form eingebettet », frei zum eigenen Erleben – so spricht Schwarz über Mies und findet in dessen Werk wieder, was jener aus Schwarz’ Schriften erfahren haben mag. Doch wie genau verhält sich der große, gerichtete Raum zur Besonderung der technischen Konstruktionsform? Schon im bereits erwähnten Text über seinen zweiten Entwurf für ein Glashochhaus von 1922 sprach Mies vom Ausdruckswert des Stahlskeletts, einer Ingenieurleistung, die er als künstlerische Leistung dem « trivialen Formenwust »481 gegenüberstellt. Schon in dieser Werkphase war eine Spur angelegt, die nicht der puren « Manifestation technischen Könnens » das Wort redete.

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Mies bringt im Jahr 1950, unter dem Titel Technik und Architektur, seine Intention auf den Punkt : « Wo immer die Technik ihre wirkliche Erfüllung findet, dort erhebt sie sich in die Sphäre der Architektur. [ …] Es ist richtig, dass die Architektur von Fakten abhängig ist, aber ihr eigentliches Wirkungsfeld liegt im Bereich des Ausdrucks. »482 Den Aspekt des Ausdrucks erkennt auch Neumeyer als grundlegend für Mies’ Werk : « Es ging ihm darum, die von der Konstruktion ausgelösten ästhetischen Sensationen zu erschließen und in eine eigene architektonische Wirklichkeit zu übersetzten »483. Dass Mies in seinem Aufsatz von 1922 auf das Glas als Fassadenhaut zu sprechen kam, ist daher nicht mit der schlichten Transparenz, sondern gerade dem Gegensätzlichen, der komplexen Spiegelung in Verbindung zu bringen, für die er bereits sensibilisiert war : « Meine Versuche an einem Glasmodell wiesen mir den Weg, und ich erkannte bald, dass es bei der Verwendung von Glas nicht auf eine Wirkung von Licht und Schatten, sondern auf eine reiches Spiel von Lichtreflexen ankam. » Schon in den 1920er-Jahren war es das Werden, der Zustand des Prozesshaften, der Mies faszinierte und nicht vorschnell mit dem rohen technischen Ausdruck zu verwechseln wäre, dem Geschmack der Zeit für die Ingenieurästhetik. Danach richtete sich schließlich auch der Grundriss des ‹ amöbenhaften › zweiten Versuchs für ein Hochhaus an der Friedrichstraße : die Stadt als Lichtreflex im Haus, das Haus als Spiegel des Himmels, die « Natur des Lichts »484 ganz gegenwärtig. Es ginge aber nicht um die Ästhetisierung des Technischen. Mies wendet sich in einem Brief an Walter Jackstein vom 13. September 1923 gegen eine solche Tendenz, die er im « Bauhaus-Gedanken »485 entdeckt haben will. Seine Äußerung in der Zeitschrift G steht im Zusammenhang mit den auf einer Reise nach Dessau gewonnenen Eindrücken eines dort vorherrschenden « konstruktivistischen Formalismus ». In einem Brief an Theo van Doesburg vom 27. August desselben Jahres findet sich bereits Mies’ Unterscheidung zwischen einem « konstruktiven Formalismus »486 und dem wirklichen « konstruktiven Schaffen ». Das beschäftigt Mies noch retrospektiv, Rudolf Schwarz aber wird genau diesen Einwand gegen Walter Gropius und das Bauhaus in der berühmten Debatte aus dem Jahr 1953 hegen : Als « der Materialismus ins abendländische

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Denken einbrach »487, habe die kontinuierliche Entwicklung der Architektur geendet. Als entscheidendes Datum hierfür macht er den Ersten Weltkrieg schlagend. Eigentlich erfragte Alfons Leitl, Chefredakteur der damals wichtigen liberalen Architekturzeitschrift Baukunst und Werkform, einen Beitrag des von ihm geschätzten Schwarz, der sich mit der Verbindung von Schreiben, Denken und Bauen beschäftigen sollte. Damit begnügte sich dieser nicht und nahm die Bitte zum Anlass, die Lage der Architektur in Deutschland grosso modo zu thematisieren, wünschte keine Eingriffe in seinen Text Bilde Künstler, rede nicht durch die Redaktion. Aus dem ungemildert scharf an die Leser gelangten Text entwickelte sich eine der heftigsten Architekturdebatten der Nachkriegszeit, die unbewältigte Themen der Bauhaus-Moderne erfasste. Ihre beiden Pole hießen Rudolf Schwarz und Walter Gropius. Suchte der eine – in Deutschland verblieben, mit dem Wiederaufbau und dem Bau der modernen Kirche beschäftigt – sich nachdenklich und kritisch zu geben und seine generelle Kritik am Bauhaus festzumachen, verließ sich der andere – erfolgreich in den USA, als ehemaliger Dekan von Harvards Architekturfakultät in Pension, mit seinem Büro beruflich noch immer erfolgreich – auf seine Verteidiger im Heimatland, und lehnte sich zurück : « I myself will keep a detached attitude »488 – « Ich halte mich da raus ». Das konnte er sich leisten, denn Gropius erlebte eine Lawine des Zuspruchs aus seiner deutschen Heimat. Die Folgeausgabe von Baukunst und Werkform versammelt sieben, vorrangig Gropius wohlgesonnene Stimmen zu einer Doppelausgabe. In einer umsichtigeren Duplik, Was dennoch besprochen werden muss, meinte Schwarz bei seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff ‹ Funktionalismus › : « Wir sind keine Ingenieure, sondern Architekten und haben ganz anderes zu vertreten, nämlich das unverstümmelte Leben in seiner lebendigen Ganzheit. »489 Das « Jahr Null der Architektur » drehte er dabei auf 1900 zurück – was am Bauhaus betrieben worden ist, sei nichts anderes als die Ästhetisierung des Technischen gewesen. Die Diskrepanz indes, zwischen Mies’ vorwärtsgewandtem Denken und der « Verarmung des Bauens » in der Nachkriegsmoderne, in der Schwarz neuerlich eine Folge des Bauhaus erkennen wollte, wird in

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einem dokumentierten Wortwechsel evident, den Schwarz und Mies anlässlich dessen Europabesuchs im Jahr 1953 führen – zugleich aber auch ein tiefes Einverständnis zwischen den beiden. Leitl hat das öffentliche Gespräch abgedruckt . Mies : « Schwarz, was wollen Sie eigentlich? »490 Schwarz : « Wir sollen wieder begreifen, dass Baukunst nicht Funktion ist, dass sie im Geheimnis wurzelt, nicht in der Rechnung. Das ist doch auch Ihre Meinung gewesen? » Mies : « Sicher, das habe ich immer vertreten. Nur : meinen Sie nicht, dass auch die Kathedralen Logik, Konstruktion, ‹ Rechnung › sind  ? [ …] Die Funktion ist eine Kunst! Die Konstruktion ist eine Kunst! Vom Einfall kann Baukunst nicht leben. Einfälle sind keine Ideen. Würden Sie für einen Einfall sterben? Das kann man nur für Ideen? » Einfälle seien keine Ideen, für Ideen aber lohne es sich noch immer zu sterben, entgegnet der meist so lapidare Mies. Er will sich in dieser Debatte wohl eines zu engen Moderne-Begriffs entziehen, der die Ausdünnung des damaligen Bauens retrospektiv zu begründen sucht. Seine eigene Kritik an einer formalistisch aufgefassten Konstruktion, das Beharren auf der Konstruktion als Ort architektonischer Bedeutung, kann sich auf ein weiter zurückgehendes historisches Datum berufen, das noch weit vor das Jahr 1900 zurückreicht – wie bereits dargestellt wurde. Mies’ eigenes Konzept einer mit Ideen behafteten Konstruktionsform, das in den folgenden Jahrzehnten heranreift, hat seinen konkreten Ursprung in den eigenen Anfängen : « Berlage war es, der gesagt hat, dass nichts gebaut werden sollte, was nicht klar konstruiert ist. »491 Das wird zu Mies’ Grundsatz. Die Konfrontation mit Berlages Architektur nennt er als persönliches Initiationsmoment, die Amsterdamer Börse als Gebäude von mittelalterlichem Charakter, das dennoch modern erscheine. Die Forderung nach einer Architektur der « klaren Konstruktion » gilt Mies folglich als « Grundtatsache ». Sein Sommer in Den Haag, in Wassenaar, wo sich sein Entwurf für Haus für Anthony George Kröller und Helene Müller breit in die Landschaft erstreckt, jenes bereits erwähnte Projekt aus dem Jahr 1912, das Schinkels Casino von Klein-Glienicke so sehr ähnelt, verhilft ihm zur Bekanntschaft mit Hendrik Petrus Berlage.492 An diesem Punkt seiner Entwicklung als Architekt erkennt er die essentielle Rolle der Konstruktion und stellt sich in deren lange ideengeschichtliche

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Tradition. Der Eindruck unmittelbar auf den Betrachter wirkender Materialien in Verbund mit der Konstruktionsform gesetzt, habe bei Berlage « gar nichts Historisches mehr. »493 Die Alte Börse von Amsterdam, im Jahr 1903 fertiggestellt, insbesondere die Börsenhalle, setzt jenen Dialog fort, den bereits Schinkel mit der Konstruktion als Ort von Kontinuität und Erneuerung führte.494 Die Haltung von Mies’ ‹ Lehrern ›, mit denen er persönlich in Kontakt steht, von Behrens und Berlage, ähneln einander an diesem entscheidenden Punkt, selbst wenn Mies und Behrens über die architekturgeschichtliche Rolle des holländischen Baumeisters anderer Meinung gewesen sein dürften.495 Dessen Gedanken über Stil in der Baukunst, ein Jahr nach Fertigstellung der Börse als Vortrag im Museumsverein Krefeld gehalten, beginnen mit einem Blick in die gestimmte Stadtlandschaft eines Herbstabends, « einer Stimmung, zu der Schweigen besser passt als Reden »496, « das ganze ein Bild von erhabener Ruhe. » Berlage kritisiert in der Folge nicht nur die fehlende künstlerische und geistige Regung in der Monumentalarchitektur des 19. Jahrhunderts, setzt sie in den Gegensatz zum Vorpreschen der Naturwissenschaften und einer vorwärtsstrebenden Technik, sondern spricht vom Fehlen einer « gewissen Lebensweihung »497. Die « Übereinstimmung zwischen einem geistigen Kern [ …] und dessen Abspiegelung in stofflicher Form » wäre der Architektur seiner Zeit verloren gegangen. Dieser fehlende geistige Ausdruck der Zeit hänge mit dem Schein zusammen, den eine rein aufs Materielle versessene Kultur allein noch zu erzeugen fähig wäre. Ihre einzige ‹ Währung › sei das Geld. Die Sichtbarkeit der Konstruktion hat folglich auch den Charakter eines moralischen Appells ; ähnlich wie bei Schinkel müsse ihre Verzierung « vollkommen mit ihr verwachsen sein »498, um den « vollen Körper » des Bauwerks auszubilden. Die Erfahrung von ‹ Ruhe › ist auch für ihn ein Gradmaß des Gelingens. Dabei differenziert Berlage die « reizende Ruhe »499 von der « erhabenen », um so verschiedenen Bauaufgaben gerecht zu werden und hebt den Innenraum als Ort des Architektur-Erlebnisses hervor : « Architektur ist die Kunst der Raumumschließung, so ist daher auf den Raum, in architektonischer Beziehung, konstruktiv, sowie dekorativ der Hauptwert zu legen, und ein Gebäude soll daher nicht in erster Linie Manifestation

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nach außen sein. »500 Die wirksame Stelle der Konstruktion aber ist für ihn – mit explizitem Bezug auf Gottfried Semper – die bauliche Fuge, die ‹ Naht ›, für deren Gestaltung man just bei der Beschränkung und Absichtslosigkeit der Natur in die Lehre gehen müsse. Sechs Jahre danach, auf der Jahresversammlung des Verbands Deutscher Elektrotechniker, spricht Behrens über den Zusammenhang von Kunst und Technik. Er nähert sich dem Thema – sein Publikum direkt adressierend – aus Sicht einer fortschrittlichen Technik, sucht das spannungsreiche Feld zwischen Ingenieur und Architekten auszuloten, wie einst schon Richard Lucae, Schinkels Nachfolger an der Bauakademie. Zweifellos könnten auch Zweckbauten und sogar Maschinen einen « gewissen ästhetischen Eindruck »501 erwecken, denn der Eindruck weit gespannter Konstruktionen und großer Hallen habe dieses Potenzial. Zugrunde liege ihm die Folgerichtigkeit und Kühnheit des Ingenieurbaus. Auch Behrens trifft die elementare Unterscheidung zwischen « rein mechanischen » und « architektonischen » Prinzipien – erstere entsprächen einer Natur, die noch nicht im Wechselspiel mit der Kultur erscheint, einer noch ungebremsten, physischen Kraft  – auch hier wirkt ein Dualismus. Die Rolle der Technik wird von Behrens jedoch auf die eines « kritischen Faktors »502 im künstlerischen Gestaltungsprozess reduziert, ihre notwendige Überführung in eine ästhetische Erscheinung liegt seinen Überlegungen zugrunde wie denjenigen seiner Vordenker. Der sparsamen Reduktion in Detail und Materialeinsatz bei Mies, geht bei Behrens – als Reaktion auf die Defizite eines puren technischen Ausdrucks – der « raumkörperliche Gedanke »503 voraus. Die raumkörperliche Wirksamkeit der Architektur wird Mies freilich ebenfalls für sein Werk adaptieren. Zu sehr hafte an der technischen Form, die noch nicht durch die Hände des Architekten gegangen wäre, etwas Pragmatisches, Errechnetes : « Das Eisen sowohl wie das Glas entbehren naturgemäß in der Erscheinung des Voluminösen der geschichteten Steine. Aber durch eine wohl überlegte Verteilung von Licht- und Schattenflächen in der Fassade, indem große Glasflächen mit eisernen Stützen zu einer Ebene zusammengezogen werden und andererseits Horizontalverbindungen kräftig hervortreten, kann dem Gebäude von Stabilität zur Körperlichkeit verholfen werden und dadurch auch ästhetisch das Gefühl von Stabilität

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zum Ausdruck gebracht werden. » Die Stabilität als Ziel und Ausdruck von Architektur in einer Zeit der Beschleunigung, erzwungen durch den Kontrast von Flächen-Feldern und einzeln hervortretenden, konstruktiven Elementen, die handwerkliche Aufmerksamkeit gegenüber der Industrieform wird Mies direkt übernehmen und forcieren.504 Und natürlich auch das Spiel von Licht und Schatten am Baukörper. Es wäre, wie Behrens in seinem Vortrag ausführt, die architektonische Aufgabe der Zeit, der Dynamisierung des großstädtischen ‹ Blickens › durch den architektonischen Ausdruck etwas zu entgegnen und – wie Schwarz anhand des AEG-Lichtschalters dargestellt hat – zu konkretisieren, ‹ anschaulich › zu machen, alltäglich verstehbar. Den Schritt vom schweren Körpergebilde Architektur zur Reduktion der Mittel macht Mies erstmals gerade bei Behrens’ Moabiter Turbinenhalle. Er hatte im Büro Behrens die Detailplanung der Hoffassade zu übernehmen – mit ihr wird auch jener Ausspruch in Zusammenhang gebracht, der den Unterschied zwischen den beiden Generationen in bündige Worte fasst : « Weniger ist mehr. »505 Bereits bei dieser Aufgabe nimmt Mies die Doppel-T-Stützen aus Stahl in sein Repertoire auf, um im Verbund mit Glas und Backstein die Fassade zu gliedern.506 Bei Behrens hat er die « große Form gelernt »507 ; ihr Gelingen hängt mit der Aufmerksamkeit für das Detail im Zusammenspiel von Fläche und Raum zusammen – der Schaffung eines Raumeindrucks. Auch Walter Gropius strebt den leichten, abstrakten Ausdruck an. Und doch unterscheiden sich beide Behrens-Mitarbeiter gravierend voneinander. Gropius’ Schuhfabrik Fagus bei Alfeld an der Leine aus dem Jahr 1911 gilt als meisterhafter Vorgänger der kommenden, geometrischen Bauhaus-Moderne. Leonardo Benevolo hält fest : « In diesem Gebäude hat sich ein überaus labiler Übergangszustand kristallisiert, und darauf beruht wahrscheinlich sein außergewöhnlicher Zauber, es ist, als habe sich der von der Behrensschen Formensprache ausgehende formalstilistische Apparat später abgeschwächt, bis auf wenige, lediglich chronologisch bezeichnende Formeln, während alle technischen Elemente eine geschlossene, kohärente Gestaltung erfahren haben, wobei sie jedoch fast nackt zutage treten, mit aller Frische und Flüchtigkeit, welche diese Lage mit sich bringt. Nahezu das ganze Fagus-Werk lässt sich so rein

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technologisch aufschlüsseln, während die stilistischen Erfordernisse auf einen ganz dünnen Firnis reduziert sind .»508 Im Jahr 1913, als Mies ein eigenes Büro in Berlin eröffnet, äußert sich Gropius über Die Entwicklung moderner Industriebaukunst und stellt darin den folgenreichen und missverständlichen Vergleich mit reinen Zweckbauten – amerikanischen und kanadischen Kohle-, Getreidesilos und Werkhallen – an.509 Er fordert die Mitarbeit des Künstlers an der maschinellen Herstellung, sind doch im Handwerk noch Künstler, Techniker und Kaufmann vereint gewesen.510 Eine Erfolgsformel, die auf die neue Zeit angewendet werden müsse durch die Vermittlung zwischen den – nunmehr in eigene Berufe aufgeteilten – Fertigkeiten im Industrieprodukt. Schließlich liegt darin ja auch Behrens’ Pioniertat für die AEG, der es jedoch keineswegs um die « Nacktheit des Technischen ging ». Anders als dieser, anders eben auch als Schwarz und Mies, bleibt die Schönheit des Industrieprodukts für Gropius an eine künstlerische Betätigung gebunden, die das ‹ Technische › nicht direkt problematisiert. Er schreibt eine Pionierschrift des Industriedesigns : « Führende Großbetriebe haben bewiesen – und das gibt den Ausschlag – dass es sich auf die Dauer bezahlt macht, wenn sie neben technischer Vollendung und Preiswürdigkeit auch für den künstlerischen Wert ihrer Produkte besorgt sind und mit ihnen Geschmack und Anstand unter die Menge tragen. Sie ernten damit nicht nur den Ruhm, Kultur zu fördern, sondern, was im kaufmännischen Leben fast immer gleichbedeutend ist, auch pekuniären Gewinn. »511 Im Sinne eines neuartigen ‹ Baumanagers › drängt Gropius den « Baukünstler » nach klarer Organisation und Ökonomie, sieht ihn an der Seite des Unternehmers, das Unternehmen « mit der zunehmenden Zufriedenheit Arbeitsgeist und Leistungsfähigkeit des Betriebes wachsen. » Mies hingegen notiert in den 1920er-Jahren kritisch im Geiste seiner Dessauer-Lektüre : « Heute. / Entfaltung der Technik, / der Wirtschaft. / Verquickung des Technischen, / des Wirtschaftlichen mit / der finanziellen Spekulation. »512 Er selbst klärt später im Aufsatz Technik und Architektur dieses Verhältnis durch die erhellende Gegenüberstellung : « Fakten »513 versus « Ausdruck ». Die Technik führe erst dort zu Architektur, wo sie ein « Kampfplatz des Geistes » sei : Technik und Architektur – gegensätzlich doch zusam-

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mengehörig – aneinander zu vermitteln, das fordert Mies. So ist es in der AEG-Turbinenhalle vorbildlich geschehen : « The functional elements of

a factory executed throughout in new materials were here for the first time in Germany architectonically ordered with no dependence on decoration of any sort »514, meint Henry-Russell Hitchcock und beansprucht für Behrens’ Bau den Geist von Schinkels Schauspielhaus. Die Betonung liegt dabei auf jener architektonischen Ordnung, die der Künstler Behrens mit dem Bauingenieur Karl Bernhard erzielt hat und so eine Maschinenhalle in eine Ikone der Industriekultur verwandelt : aus wenigen, industriell hergestellten Elementen zusammengesetzt, nicht auf Zur-Schau-Stellung der technischen Möglichkeiten aus, sondern dem Ausdruck einer Idee verpflichtet. Walter Rathenau, Gründer der Allgemeinen Electricitäts Gesellschaft, der ebenfalls im Kreis der Riehls verkehrte, hat die Bedeutung dieser Art von Formgabe erkannt. Schon bei der Corporate Identity seiner Firma geht es um ihre Vermittlungsaufgabe, die sie für abstrakte Güter, technische Objekte zu erbringen habe, damit man sie eben auch ‹ verstehe ›. Oft wird für die 1909 bis 1910 im Berliner Stadtteil Moabit erbaute Turbinenfabrik der AEG sogar die Analogie zum klassischen griechischen Tempel gesucht. Nicht der erste monumentale Industriebau in Deutschland, aber womöglich das erste symbolische Bauwerk dieser Art, für das die Ausdruckskraft von Stahl, die wandfüllende Schwere von Beton und ein zeichenhaftes, polygonales Dachtragwerk eingesetzt werden – formale Entscheidungen allesamt, die Behrens in Diskussion mit der Bedeutung der Aufgabe abwiegt – und Gropius wieder vom Baukörper abstreift.515 Der Behrens-Forscher Tilmann Buddensieg hält fest : « Die Intentionen von Behrens griffen über eine bloß materialgerechte Wahrheit, über die Offenlegung des statischen Systems, dessen ‹ Nichtigkeit des Durchsichtigen › hinaus. [ …] Die ‹ innige Verbindung › zwischen der Arbeit des Ingenieurs und des Architekten vollzog sich für Behrens erst, wenn die Halle die Arbeitsprozesse in ihrem Inneren nicht nur als Aufgabe des Statikers verankerte und ertrug. Ihm ging es darum, diese Arbeit in ihrer kollektiven Anstrengung und Leistung, in ihrem materiellen Wert abzubilden, darzustellen und mitzuteilen. Diese Analogiebildung verweigert sich der schlichten Ebene der ‹ Zweckform › und der ‹ Materialgerechtigkeit ›.»516

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‹ Analogiebildung ›, so lautet der Mechanismus, den Buddensieg hier entdeckt : zwischen dem « Inhalt » und der technischen « Form ». Es geht einmal mehr um ein « Was »517 vor dem « Wie », wie Mies sich ausdrückt. Und neuerlich ist das ‹ Wie ›, die Frage nach der künstlerischen Durchdringung der technischen Form, Aufgabe des Gestalters und die drängende Aufgabe der Epoche. Behrens’ Bauwerk ruft im Connaisseur wie im Laien die Erinnerung an vergangene Bauten hervor – seine Fabrik ist historisch fundiert und strahlt doch eine neue typologische Klarheit aus, die Auswechslung des ornamental-figürlichen Repertoires hat hier eine neue Ebene erreicht. Ihre Detailkultur führt zu einer strukturellen Feinheit, ohne in Abstraktion zu enden, denn weitere Abstraktion wäre heikel – wie nicht nur Schinkel erkannte. Die ‹ Knotenpunkte › der 123 Meter langen Fassade in der Berlichingenstraße, bei dem sowohl die Traglast der inneren Laufkräne als auch des Dachtragwerks in die Fundamente abgeleitet werden, gestaltet Behrens in Form eines imposanten Stahl-Gelenks. Es erscheint wie die Reinkarnation einer Säulenbasis. Hier ist der Kraftfluss spürbar – in einer anschaulichen Bedeutungsform der Technik. Behrens’ Biograf Stanford Anderson erklärt : « Behrens himself wanted to express the quality, scale, and cultural significane of this ‹ new nature ›, convinced that such an expression required the formulation of a symbolic structure outside the province of the engineer. »518 Die « zweite Natur » der Technik, eine Halle für Turbinen, die das Leben erst in seine modernen Bahnen lenken, befreit von den natürlichen Rhythmen von Tag und Nacht, der ‹ Anschaulichkeit › des offenen Feuers, der Mechanik frühindustrieller Apparate, Ermöglicher des großstädtischen Lebens, bliebe angewiesen auf die konkrete Erscheinungsform. Diese setzt sich in den Dialog mit einer sinnfälligen Natur, mit Kraft, Schwere, Licht etc., transponiert diese und wird so selbst gewandelt. Das Kämpfergelenk, pars pro toto für den Gesamteindruck des Bauwerks, scheint Mies im Gedächtnis geblieben zu sein wie die ‹ Krabbe › aus Schwarz’ Text.

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‹ Struktur › Mies äußert sich negativ gegenüber dem industriell bedingten Wunsch nach Vorfabrikation, die er als « unnötige Beschränkung »519 des Architekten ansieht. Das gilt indes nicht für die einzelnen konstruktiven Elemente eines Tragwerks. Diese Elemente und ihre Verbindung werden zum Thema seiner Stahl-Glas-Bauten, zur Basis einer ‹ fundamentalen Konstruktion ›, die ‹ Struktur › werden müsse. Diese beiden Begriffe prägt er während seines Nachdenkens über eine der Vernunft – nicht der Fantasie, aber auch nicht der Ratio – geschuldete, neue konstruktiv bedingte Formensprache. Deren Reduktion, Wiederholung und Verfeinerung erklären sich aus dem Bestreben, Allgemeingültigkeit zu erlangen und so, statt Prosa, Poesie zu sprechen : Durch eine ‹ Einfachheit  ›, die nicht ‹ banal › wäre – um Mies’ zu paraphrasieren. Wie er seinen Chicagoer Mitarbeitern in Gesprächen erklärt, ginge es noch immer darum – auch als sein Büro in Amerika längst etabliert war –, die einer Epoche jeweils mögliche « Ordnung »520 zu erfassen : « Alles erfasst von der selben Idee ». Dieser Mies’sche Rigorismus unterscheidet den Begriff ‹ Konstruktion › von der ‹ Struktur ›, einem Kunstwort, in dem der Architekt die ganze Bedeutung seiner Herangehensweisen zu konzentrieren scheint, ohne eindeutigen Aufschluss darüber zu geben. Durch sie, darf man vermuten, gliedert Mies seine Epoche in die Kontinuität der Baukunst ein. Diese indes stellt sich nicht mehr als Stilgeschichte dar, ihr formaler Ausdruck wäre das Ergebnis, nicht das Ziel, wie Mies selbst bereits früh in seinen Überlegungen erkannte. Die Baukunst drücke die « Prinzipien » einer Epoche aus – unabhängig ob sich diese in Stahl, Glas oder in Stein und Backstein manifestierten. Keineswegs aber scheint damit gesichert, dass dies gelingen würde. Mies deutet an : « Jede Epoche leistet so viel, wie sie zu leisten wagte. » Er sieht seine gestalterische Tätigkeit vielleicht wie in einem Versuchslabor, in dem Ideen in Projekten getestet, vorbereitet werden und nicht immer zur Realisierung gelangen müssen, um dennoch Teil derselben Denkbewegung zu sein. Diese Herangehensweise gilt nicht nur für die ‹ fünf Projekte ›, sondern generell für eine Haltung, die an Ideen kontinuierlich arbeitet, diese nachschärft, prüft, als lägen sie in der Luft und man

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müsste sich mit ihnen nur in Berührung setzen durch die Arbeit an der konkreten Bau-Aufgabe. Mies zeigt sich hingegen wenig bereit, darüber mit Kollegen oder gar mit Bauherren zu sprechen – im Gegenteil : « Ich diskutiere nicht mit ihnen über meine Ideen », meint er und bezieht eine Position, die heute starr und herrisch wirken muss, um doch im selben Moment zu betonen, jedermann müsse diese Architektur verstehen können. Wie die Technik der Architektur und ihrem Ausdruck dient, so sieht sich Mies hier im Dienste der Epoche. Zu ihrem Wesen müsse man vordringen – durch Vereinfachung auf das Notwendige und paradoxerweise zugleich den Bruch mit dem Notwendigen. So erscheint es keineswegs widersprüchlich, dass die ästhetische Kategorie des Erhabenen den Ausdruck dieser Architektur bestimmt wie jene Boullées. Mies erklärt sein Prinzip an einer raren, seine Entwurfshaltung darlegenden Stelle : Die Crown Hall erhielte ihre hervorragende Bedeutung nicht nur aus ihrer Gestalt, sie setzt sich als einzige über den städtebaulichen Raster des Campus hinweg, indem sie einen ‹ neuen Maßstab › einführt und ihre konstruktiven Elemente das Schema transzendieren.521 Erscheint dies auf den ersten Blick wie ein formalistisches Spiel, setzt sich Mies doch mit jenen alten Prinzipien der Baukunst auseinander, die etwa in Berlages Entwurf für die Börsenhalle am Werk sind, wo Säulen über den Scheitelpunkt der darunter liegenden Bögen gestellt sind – ein konstruktiver ‹ Fehler › mit Ausdruckswert. Brüche der Ordnung, die Ordnung stärkend, das ist kein leichtfertiges Kompositionsprinzip. Mies bezieht sich wieder auf Augustinus, neuerlich auf Gegensätze referenzierend, die « wahre Ordnung » als Anordnung « gleicher und ungleicher Dinge ». Anders als in der klassischen Architektur ist daher nicht die « klingende » Vollständigkeit bedeutsam, der nichts mehr hinzuzufügen wäre. Und doch war man bei Mies’ Chicagoer-Antrittsrede gewissermaßen auch an Leon Battista Albertis bekannte Definition architektonischer Schönheit erinnert, dass nämlich « die Schönheit eine bestimmte gesetzmäßige Übereinstimmung aller Teile, was immer für einer Sache, sei, die darin besteht, dass man weder etwas hinzufügen noch hinwegnehmen oder verändern könne, ohne sie weniger gefällig zu machen. »522

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Alberti wiederholt das in Max Theuers Wiener Übersetzung seines Traktats über die Baukunst in ähnlicher Form 200 Seiten später. Der Renaissancearchitektur und Theoretiker spricht dort auch vom Ebenmaß eines Bauwerks, das durch die bestimmte Zahl erzielt werde, die den Zusammenklang der Teile durch Beziehung und Anordnung sichere : Das « vollkommenste und oberste Naturgesetz »523 fordere dies. Einmal ist es die Schönheit der Natur, dann die des menschlichen Körpers, die diesen Sätzen voraus geht. Man ist sich nicht ganz sicher, ob sich im Bauplan des Körpers die antike harmonikale Ordnung zeigt, oder ob bereits ein ‹ moderner Schönheitssinn › ganz unmittelbar wirkt, der das Bindeglied darstellte zwischen der Form und ihrer Bedeutung, indem sie nämlich von gewisser Wirkung auf den Betrachter wäre, beim Anblick des Himmels oder einer Pflanze, einer Natur, die « sich infolge der Schönheit tagtäglich zu überbieten nicht aufhört. Z. B. um alles andere außer acht zu lassen, in der Färbung der Blumen. »524 Ohne sich an Blumen zu entzünden, ist es diese Wirkung, die auch Mies seinen Bauten einschreiben will. Ungeachtet der regelhaften Befolgung antiker Zahlenlehren, hat er deren räumlichen Wohlklang durch Schinkels Bauten selbst erfahren, testet künftig den Zusammenklang der konstruktiven Glieder im realen Raum an Modellen und mockups. Dabei aber ist weder die richtig errechnete Lösung noch ein starres Proportionssystem ausschlaggebend, sondern die räumliche Wirkung des Details. Alexander Tzonis und Liane Lefaivre beschreiben in ihrem Buch Classical Architecture : The Poetics of Order die Möglichkeit der klassischen Formensprache, eine poetische Welt neben der realen zu erschaffen. Durch Bezug auf Aristoteles’ Begriff der Katharsis bringen sie die Baukunst der Antike mit der Bühne und der Tragödie in Verbindung. Das Gebäude müsse dabei als temenos, als Grenzwächter auftreten :525 « The effect of this juxtaposition of the two realms, poetic and ordinary, is purification, which in the modern world has a clear critical purpose as the divinatory one had in archaic culture. »526 Sie formulieren eine mögliche Beschreibung von Mies’ ‹ Bruch › mit einer mechanischen Ordnung und ziehen den Begriff ‹ Verfremdung › heran, um nicht zuletzt auf die soziale und ethische Dimension der Architektur hinzuweisen : « The world of the building in this case is not only about what is but also about

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what must be done, not only about truth and epistemology but also about goodness and morality. »527 Es erscheint nur auf den ersten Blick wie ein Widerspruch, wenn Mies für seine ‹ minimalen › Detaillösungen handwerkliche Mühen und avancierte technische Produktionsmethoden gleichermaßen bemüht, um auf diese Weise jedoch, durch einen weiteren ‹ Bruch ›, den Knotenpunkt der Konstruktionsform zu aktivieren. Auf der Suche nach einer poetischen Konstruktion gewinnt er ‹ Struktur › gerade aus der Verwandlung serieller Industrieprodukte zur Ausdrucksform. Die so entwickelten, wenigen wie charakteristischen Details seiner Projekte changieren stets zwischen einem konstruktiv-notwendigen und ästhetisch-ausdrucksstarken Moment : die mit Chrom ummantelten Kreuzstützen seiner Wohnhäuser und seines Pavillons für die Weltausstellung 1929, die Doppel-T-Profile als strukturierende Fassadenelemente seiner amerikanischen Hochhäuser, die Ecklösung seiner ‹ Industriebauten › am Campus des IIT, schließlich die Neuinterpretation des Tempels als Halle für die Kunst bei der Neuen Nationalgalerie. Die scheinbare Minimierung der Konstruktion durch Verwendung standardisierter, aber eben nachbearbeiteter oder a-logisch verwendeter Elemente, die Reduzierung auf wenige Leitdetails sind Teil einer Sprache, deren Besonderheit immer aus realen Notwendigkeiten hervorgeht. Wie Georg und Dorothea Franck festhalten, werden sie so poetisch, denn Dichtung « spricht nicht nur zum Intellekt, sondern auch zur Sinnlichkeit. »528 Mies’ Details sprechen eine Sprache der « Motiviertheit », die sich auf Intellekt und Sinnlichkeit gleichermaßen berufe. Für dieses Entwurfsverständnis gelte seit längerem das Wort ‹ klassisch ›, weil es nach Verallgemeinerung strebe, nicht bei der eigenen, kreativen Subjektivität halt mache. Georg und Dorothea Franck bestätigen den Primat einer besonderen Wahrnehmungsweise, für die solche Formen unterhalb der Auffälligkeitsgrenze bleiben müssten und somit gerade subtil wirkten. Mies selbst schätzt das « Überformte »529 ebenso wenig wie das « Ungeformte » – wie er in seinem Beitrag Über die Form in der Architektur schon im Jahr 1927 festhielt. Was er für den Gestaltungsprozess reklamiert, so darf man annehmen, gilt reziprok für die Gestaltwahrnehmung. Technische Form wird bei Mies zur Ausdrucksform, nicht weil sie in erster Linie

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absichtsvoll in neuer Sprache sich darstellt, sondern weil sie auf die ästhetische Affizierbarkeit der Betrachter hofft. Sie wird poetisch, weil sie aus jener technischen Regelhaftigkeit ausbricht, der sie entstammt, um ihr – mit den ihr eigenen Mitteln – zu opponieren. Die Mies’sche Konstruktionsform – der Logik der Maschine, dem absolut Notwendigen abgelauscht – ist « nicht Selbstoffenbarung »530, sondern « Dienst », wie er notiert. In den Kohlezeichnungen der beiden Hochhausprojekte für die Berliner Friedrichstraße liegt diese, sich des sinnlichen Ausdrucks der technischen Abstraktion bedienende Architektur begründet. Genau genommen ist es jedoch nicht mehr das Technische, das seine Wirkung entfaltet : « Die Doppel-T-Träger durchbrechen die reine Selbstbezüglichkeit des Technischen. Vermittelnd organisieren sie, die Selbstreferenzialität der Struktur durchbrechend, die ‹ Öffentlichkeit › der Architektur, d. h. die Beziehung zwischen dem Betrachter und dem architektonischen Objekt »531, meint auch der Architekturtheoretiker Jörg Gleiter. Mit seiner ‹ Lisene › – die mittlerweile in den Kanon architektonischer Motive eingegangen ist – interpretiert Mies ein Element aus dem Repertoire der klassischen Architektur, als Mittel zur optischen Gliederung einer Fläche : ‹ Scheinarchitektur ›. Er entwickelt es allerdings konsequent aus den Bedingungen des Stahlbaus. Sollte ursprünglich das Primärtragwerk zum Ausdruckscharakter des Hochhauses beitragen, wie schon in den 1920er-Jahren, war dies durch Reglementierungen des Brandschutzes in Amerika nicht mehr möglich : Die Einschränkungen der Realität dienen zu ihrer Überhöhung. Da Mies die Stützen folglich mit Beton ummanteln muss, wandern ihre Stellvertreter als Ausdruckswert  532 vor die Fassade, um dort zugleich die Fugen zwischen den Fensterpaneelen zu überdecken, immer also auch eine praktische Funktion zu erfüllen, keine schiere Zutat zu sein. Bleiben sie der Form nach industriell in Serie hergestellte Produkte, erhalten sie neue Bedeutung – und Ausdruck. Wie aber beim Hochhaus in der Friedrichstraße, ist hierfür das Wechselspiel von architektonischem Objekt und Betrachter auf ein Drittes angewiesen, um ‹ motiviert › zu werden. Im Jahr 1922 handelte es sich um die Spiegelwirkung des Glases und das Treiben in der modernen Stadt. Beim Zusammenspiel mit der ästhetischen Wirkung der Natur tritt ihr

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« Projekt für ein Glashochhaus », Berlin 1922

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‹ Für-sich-Sein › ins Wechselspiel mit der Konstruktionsform und löst das in ihr enthaltene Gestaltpotenzial ein. Neuerlich ist es der Schatten des sich an den reliefierten Fassaden brechenden Lichts, der zum Ausdrucksgehalt des Bauwerks beiträgt. Von einer ‹ Architektur der Schatten › war ja bereits in Boullées Essai mehrmals die Rede, wenn er vom erhabenen Charakter eines Gebäudes sprach : « Das Spiel voll Licht und Schatten bringt unzählige überraschende Eindrücke hervor, die uns allesamt bezaubern. Aber über die schönen Tage legt sich der dunkle Reif. Wie traurig sind die Tage! Die himmlische Fackel ist erloschen. Dunkelheit umgibt uns. Der schreckliche Winter lässt unsere Herzen erstarren. [ …] satt reizender Waldwinkel ragen nur noch kahle Baumskelette auf, ein Trauerflor bedeckt die Natur. [ …] O Natur, wie wahr ist es doch, dich das Buch der Bücher zu nennen, das allesumfassende Wissen! Nein, ohne dich vermögen wir nichts! »533 Der amerikanische Architekturtheoretiker Michael Hays spricht in Mies’ Fall vom « Versuch, subjektive Erfahrung in objektivierte Formen und Bilder umzusetzen, die in den so offengelassenen Erfahrungsraum zurückfließen. »534 Robin Evans wiederum hat sich an jenem seltsamen ‹ Säulchen › verwundert, das in einer magisch wirkenden Zeichnung für den Barcelona-Pavillon wie ein Zugseil die beiden Flächen des Bodens und der Decke zusammenhält, immateriell, durch zwei dünne Linien, während die Steinflächen in dieser Perspektive realistisch dargestellt werden, in ihrer typischen, natürlichen Aderung erscheinen. Evans spricht von den Paradoxien der Konstruktion, die sich in dieser Darstellung manifestieren : « When you see those little steel posts, cruciform and cased in chrome so as to dissipate their meagre substance into attenuated smears of light, you cannot seriously regard them as the sole means of support (which they are not), or even as the principal means of support (which they are). »535 Einige dieser Stützen sind nicht sichtbar ; andere, die sichtbar sind, sind unsichtbar, weil sie den Umraum spiegeln. Am Schluss seines Essays beschreibt Evans das zugrunde liegende Prinzip ebenfalls anhand von Mies’ Lake Shore Drive Apartment Building in Chicago, wo technisch beherrschte Naturkraft sich zu ästhetischem Ausdruck wandelt. Er blickt auf die helle Decke der Kolonnade über der Mies’ Lisenen empor zu klettern scheinen, auf die spiegelnde Fläche

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860–880 Lake Shore Drive Apartment Buildings, Chicago ca. 1950

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des Travertin-Plattenbelags, den dazwischen eingeschlossenen Raum, und bemerkt : « The towers at Lake Shore Drive do not represent a remission of mass. They do not rise against the pull of gravity ; gravity does not enter into it. They make you believe, against reason, that they do not partake of that most pervasive and relentless of all natural forces. »536 Durch das Spiel von Licht und Schatten wirken die Glieder der Fassade nicht überflüssig, das Gebäude wie ein Widerhall des dynamischen Wandels von Himmel und Licht, der seine ‹ Form › erst vollendet. Raumform und Konstruktionsform wirken hier zusammen, in diesem landschaftlichen Moment, wenn ein Bauwerk, das Licht, den See rahmt und sich darauf stützt. Die Materialität dieser Struktur-Elemente, die keineswegs auf die Gliederung der Fassade beschränkt blieben, ist insofern wesentlich, als sie entweder Natur spiegeln oder Natur sind ; freilich verfeinert, um den ästhetischen Sinn zu kultivieren. Im Falle des Steinmetzsohns Mies sind es vor allem wertvolle Steine wie Onyx oder römischer Travertin, grüner Serpentinit der Insel Tinos oder auch Ebenholz und Leder oder schwere Stoffe oder leichte Naturseide. Das Glas, das aus dieser Reihe hervorsticht, in seiner schweren Stofflichkeit und Farbigkeit aber von Mies und Lilly Reich vielfach erprobt wurde, ist nicht allein durch sein « reiches Spiel an Lichtreflexen »537 von besonderem Gehalt. Das Glas öffnet sich, indem es sich füllt : durch Eindrücke, die sich spiegeln, verdoppeln, verdunkeln. Glas und Metall sind es, die im Raum spiegeln, verdoppeln, verschwimmen, in vielfach abgestufter Weise zwischen Offenheit und Opazität ihre Anmutung wandeln, wundersam, vielleicht nach dem Vorbild des Onyx, den Mies hinterleuchtet und dünn aufschneiden lässt. In den Worten Schinkels, aus dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts : « In der Baukunst muss wie in jeder Kunst Leben sichtbar werden, man muss die Handlung des Gestaltens der Idee sehn, und wie die ganze bildliche Natur ihr zu Gebote steht und sich hervordrängt, um ihrem Willen zu genügen. Das Werk der Baukunst muss nicht dastehen als ein abgeschlossener Gegenstand, die echte wahre Imagination, die einmal in den Strom der in ihm ausgesprochenen Idee hineingeraten ist, muss ewig von diesem Werk aus weiter fortgestalten und ins Unendliche hinausführen. [ …] Ein Streben, ein Sprossen, ein

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Kristallisieren, ein Aufschießen, ein Drängen, ein Spalten, ein Fügen, ein Drücken, Biegen, Tragen, Setzen, Schmiegen, Verbinden, Halten, ein Liegen und Ruhn, welches letztere aber hier im Gegensatz mit den bewegenden Eigenschaften auch absichtlich angeordnet und in so fern auch als lebendiges Handeln gedacht werden muss, dies sind die Leben andeutenden Erfordernisse in der Architektur. »538 Mies’ typische Kreuzstütze wird verchromt, wo sie im Sonnenlicht steht und den Fernraum aufnimmt, dunkel beschichtet, wo sie im Schatten liegt und dessen Schwere verkörpert. Dass der technische Träger von einer edel-gerundeten Hülse umgeben ist, mag also erneut mit der Wirkungsentfaltung des ‹ Spiegelns › zusammenhängen. Bei der Berliner Nationalgalerie wird sein Querschnitt in Form eines Kreuzes mit gleich langen Armen und ‹ Flanschen › offen präsentiert : die Aufmerksamkeit richtet sich auf die klassischen Gelenkpunkte der Säulenordnung : ‹ Basis › und ‹ Kapitell › – und die Neuinterpretation der Entasis. Der Formgabe kommt noch immer die bedeutungsvolle Aufgabe zu, die rein technische Lösung hinter sich zu lassen. Im Verbund mit der Wirkung ausgesuchter Materialien verdeutlicht sich der in unmittelbarer Erfahrung vermittelte Gehalt des Architektonischen. Im Jahr 1924, in seinem Text Baukunst und Zeitwille, zeigte sich Mies zwar skeptisch über die Rolle des Handwerks, bekannte aber auch dessen unbezweifelbare Schönheit. Es ginge also darum, « die industriellen Methoden» so zu «vervollkommnen, dass wir etwas der mittelalterlichen Handwerksqualität Gleichartiges erzielen »539. Der « Reiz der alten Werkund Backsteine » ist Mies so bekannt und so gültig wie jener des handwerklich verfeinerten Details. Er wird dort das Handwerk hinzuziehen, wo die Maschinen enden. Mies hat von Schwarz gelernt, das noch im abstrakten technischen Element, vielleicht gerade darin, die Möglichkeit der « Wandlung »540 liegt, denn « noch in abstrakter Form bleibt heimlich geborgen organische Anmut, und noch in organischer Struktur ruht still die abstrakte Möglichkeit. Eine von beiden absolutiert ist überhaupt nicht mehr Form, sondern doktrinäre Dürftigkeit. »541 Mies’ Verständnis der Form ist daher prozesshaft – wie Schinkel es für sich mit der Metapher der ‹ Arabeske › auszudrücken suchte ; ein Wechselspiel von Dynamik und Statik – wie es auch Schwarz am Schluss seines

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Aufsatzes Vom Sterben der Anmut formulierte, der erstmals 1927/28 in der katholischen Zeitschrift Die Schildgenossen, im Umfeld Romano Guardinis, erschien. Im gleichen Jahr verdeutlichte dieser in seinen Briefen vom Comer See, dass die Erfahrung der Landschaft – mit einer in sie « eingelassenen » Technik – « Gegensätze » aufzulösen vermöge. Der aufgehobene Gegensatz zwischen Natur und Kultur, der in diesen Bauten anklingende Unterschied zwischen dem ‹ Vollständigen › und dem ‹ Unvollständigen ›, dem ‹ Gewordenen › und ‹ Gemachten ›, die ästhetisch erfahrene Lebendigkeit greift auf die Form, auf den architektonischen Raum über, der das Leben bestätigt und gleichermaßen in Frage stellt, wo die physis sich selbst nicht genügt. Doch eine Architektur nach dem « Vermögen der Jahreszeiten »542 kennt nicht nur die Schattenseite des Lichts. Es obliegt dem Raum « in Verbindung mit dem Tiefsten und Besten des Menschen »543 zu treten, hat Schwarz in seiner Wegweisung der Technik erklärt. Dafür benötigte er wiederum Gestalt. Doch sei das moderne Leben eben ein « Wagnis », « knapp, scharf, karg », es « verzichtet auf Nebensächliches, auf Zierrat, vermeidet Umwege ». Der richtige Gebrauch der Technik, seine Dienstbarkeit für höhere Zwecke, dass sie nicht ihren Zweck in sich selbst finde, das ist der Ausweg, den Schwarz beschrieben hat und Mies in seine Architektur übernimmt. Doch bliebe eine Differenz der dienstbaren Technik zur organischen Lebendigkeit bestehen : « Man hat gesagt, ein vollendet zweckmäßiges Ding sei schön. Das ist zutreffend, aber es gibt eine Schönheit viel höherer Art, und um an dieser transzendenten Schönheit teilzunehmen, muss das Gerät einen wandelnden transitus durchmachen, indem es eben wieder aufhört, ‹ Gerät › zu sein. »544 Das entscheidende Argument, durch das Schwarz den architektonischen Raum kennzeichnet, ist die in ihm erfüllte « Forderung nach echter Gemeinschaft ». Nicht zuletzt deshalb stellt für ihn der Kirchenraum den ‹ Königsweg › der Architektur dar. In der Gemeinschaft ist nach Schwarz das Leben als « lebendige Beziehung »545 verwirklicht, im Nächsten findet der Mensch dort seinen sinnhaften Gegenpol. Mies übernimmt die Form dieses Raums in den Wohnraum und somit die Herausforderung, vor den die ‹ große Form › einen einzelnen Bewohner stellt : Im Landhaus fände dieser sich einer lebendigen Natur landschaftlich gegenüber.

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Die Landschaft im Garten

In den Bergen und am See

Im September 1930 wird Mies van der Rohe Direktor des Bauhaus.546 Die Empfehlung kam von Walter Gropius, Gründungsdirektor der 1919 aus der Weimarer Kunstgewerbeschule hervorgegangenen Institution. Erst ein Jahr nach Verlegung der Schule nach Dessau im Jahr 1927 wird das Fach Architektur in das Curriculum aufgenommen und der Basler Architekt Hannes Meyer Teil des Lehrkörpers. Gropius hat ihn als seinen Nachfolger vorgesehen ; eine Position, die er nach dessen Rücktritt 1928 auch besetzt. Doch schon nach zwei Jahren wird der Kommunist Meyer auf Drängen des liberalen Oberbürgermeisters Fritz Hesse entlassen und Mies gebeten, seine Stelle einzunehmen. Die Studentenschaft ist in Aufruhr, der neu berufene Direktor ruft die Polizei, lässt das Bauhaus für einige Wochen sperren, suspendiert die Studenten. Anschließend nimmt er jene wieder auf, die sich im persönlichen Gespräch als geeignet erweisen. So sehr Mies im politisierten Klima als Vertreter des Establishments angesehen wird, so sehr lehnt er Meyers materialistische Weltsicht ab. Lange später, im Jahr 1968, im Gespräch mit seinem Enkel Dirk Lohan, erklärt er, dass er eben Architekt sei und kein « world improver »547. In seinen Leitgedanken zur Erziehung in der Baukunst unterscheidet er dennoch zwischen « Lehre » und « Erziehung ». Letztere, die er an seiner Schule anstrebe, suche nach der Vermittlung von Werten : Die Ausbildung im Fach Architektur hängt für Mies mit der Bildung des Menschen zusammen und soll « aus dem Bereich des Zufalls und der Willkür in die klare Gesetzmäßigkeit einer geistigen Ordnung führen. »548 Mit Politik hat dieser hehre Anspruch scheinbar wenig zu tun. Solche Werte eignen sich jedenfalls kaum für eine Revolution in der Architektur, die sein Vorgänger auf das Kalkül einfacher Formeln zu bringen suchte. Die Baukunst wurzelt zwar in der « Einfachheit des Zweckhaften » – dem Bereich des « Lernens » –, « reicht aber hinauf über alle Wertstufen bis in den höchsten Bereich geistigen Seins, in die Sphäre der reinen Kunst »549, wie Mies im deutschen Manuskript seiner Antrittsvorlesung am Chicagoer Armour Institute of Technology (AIT) ausführt. Im überlieferten Lehrplan

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der zweiten Architekturschule, die er leiten wird, bereitet die Vermittlung architektonischen Materialwissens die Basis für insgesamt drei Ausbildungsphasen. Im zweiten Schritt sollte der Zweck ihrer Anwendung untersucht werden, bis man zur Synthese durch die « Verwirklichung im Bauwerk » gelange. Begleitet würde der Unterricht auf allen Stufen durch Vermittlung von Wissen in Theorie und Geschichte. Das zentrale Thema des letzten Teiles der Bildung zum Architekten lautet : die Abhängigkeit des Bauens von der geistigen Situation der Epoche, die Einsicht in die Notwendigkeit der eigenen schöpferischen Leistung. Mies wiederholt in der Lehre seine Selbstschulung. Mehr noch, es zeigt sich seine Auffassung von Architektur als einem Handwerk, das auf soliden Füßen stehen muss – dem Wissen über Materialien, Typologien, dem Bewusstsein für die Geschichte des Fachs –, das sich aber erst dort erfüllt, wo die Baukunst darüber hinauswächst und sich zur ‹ G egenwart › in ein bewusstes Verhältnis setzt. Und so lässt er am Bauhaus der unter Meyer aufgeheizten Stimmung klare und einfache architektonische Aufgabenstellungen folgen. Das unter der Direktion Meyer eingeführte Begleitstudium in soziologischen und psychologischen Fächern behält Mies bei – unter weitestgehendem Austausch der Referenten. Unter Meyer waren Repräsentanten der Berliner Gruppe und des Wiener Kreises als Gastreferenten geladen. Mies’ Wahl fällt unter anderem auf den Kölner Privatgelehrten Helmuth Plessner. Lehrt der 1922 um Moritz Schlick sich formierende Wiener Kreis das Vorbild der exakten Wissenschaften für den philosophischen Gedanken, gilt Plessner – gemeinsam mit Max Scheler – als Begründer der Philosophischen Anthropologie. Von beiden führt Mies Schriften in seiner Bibliothek, von ersterem auch dessen Hauptwerk, Die Stufen des Organischen und der Mensch aus dem Jahr 1928, sowie das fünf Jahre ältere Buch Die Einheit der Sinne. Im Bauhaus-Tagebuch verzeichnet Mies unter « 17. 2. 32 » : « Dr. Plessner : ‹ Mensch und Umwelt › »550 – und war wohl, als Zweiter Vorsitzender des Deutschen Werkbunds, auch in dessen Einladung auf die Kölner Tagung des Werkbunds im Oktober desselben Jahres involviert. Diese Umstände sowie Plessners dortiger Vortragstitel Wiedergeburt der Form im technischen Zeitalter verleiten den Philosophen Hans-Joachim Dahms dazu,

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seinen Einfluss auf Mies nicht hoch genug einschätzen zu wollen, denn « die Verpflichtung auf die Prinzipien des Neuen Bauens einerseits und die Kritik an einer als verfehlt empfundenen technokratischen Utopie bei vielen funktionalistischen Architekten andererseits, entsprachen exakt Mies’ Geisteshaltung in den frühen 1930er-Jahren. Man hat also Ursache, Helmuth Plessner für denjenigen Philosophen zu halten, der seinen Ansichten damals am nächsten kam. »551 Und tatsächlich findet sich auch in der Einheit der Sinne der hier mehrmals hinzugezogene Begriff ‹ Anschauung › wieder – als Alternative zur, hier ebenfalls öfter aufgetauchten, Opposition rationaler und sinnlicher Wirklichkeitsbezüge. Plessner spricht von einem ‹ anschauenden Bewusstsein ›, fasst die ‹ Intuition › – neben der ‹ Beobachtung › – als Form der Kontemplation auf und somit als spezifischen Wirklichkeitsbezug, als « offenes, hinnehmendes, zur Sache ohne viel Umstände, ohne die trübenden und abblassenden Zonen des Grübelns, Vergleichens, Abwägens sich aufschwingendes Verhalten. »552 Die Exzentrizität, das reflexive Verhältnis zur Wirklichkeit, darin besteht bekanntlich der Kern seiner Anthropologie, in der sich « die schauende Haltung gegen naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Erkenntnismethoden gleichermaßen richten kann. »553 Im Dingbezug der Mies’schen Räume, in der Verbindung zur Konkretheit des Erlebten, der im landschaftlichen Erleben enthaltenen Kritik einseitiger Weltbezüge werden solche Überlegungen wiederkehren. Am Bauhaus, wo für die Umlenkung der ‹ positivistischen Spur › Meyers in andere Konzepte wohl zu wenig Zeit bleibt, übernehmen seine Freunde Lilly Reich und Ludwig Hilberseimer auch administrative Aufgaben, während Mies sich um die fortgeschrittenen Studenten kümmert und zwischen Dessau und Berlin pendelt – weiterhin der Standort seines Architekturbüros. In den Entwurfskritiken fordert er dazu auf, die studentischen Projekte immer wieder neu zu bearbeiten, zu verbessern : ‹ Versuchen Sie es nochmals! ›, lautet sein Lehrprinzip. In diesem Zusammenhang beschäftigt er sich intensiv mit dem Hofhaus-Typus. Wolf Tegethoff hat darin eine Reaktion auf die zunehmend repressive politische Stimmung in Deutschland gesehen.554 Das Abkapseln von der Umgebung mag der Zeit entsprochen haben, in der es wieder zu Aufständen

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in den Straßen kommt und das Bauhaus unter Aufsicht eines Komitees gestellt wird, geleitet von Paul Schultze-Naumburg. Im August 1932 erfolgt im Dessauer Gemeinderat auf Antrag der NSDAP der Beschluss zur Auflösung der Institution – die Schule wird zugesperrt. Mies gelingt es im Oktober dieses Jahres, den Lehrkörper und die Studenten in einer aufgelassenen Telefonfabrik in Berlin-Steglitz unterzubringen.555 So kommt es erst 1933 zu ihrer endgültigen Schließung. Danach unterrichtet er – gemeinsam mit Lilly Reich – eine kleine Zahl Studenten in seinem eigenen Büro Am Karlsbad 24. Eine sechswöchige Sommerschule führt diese Gruppe in die Nähe von Lugano. Die Aufgabe bleibt einfach – es gilt, ein Haus in alpiner Gegend zu entwerfen, wie man sie beim Aufenthalt in den Bergen unmittelbar erlebt. Trotz der wohl angespannten finanziellen Situation denkt Mies neuerlich über ein Haus für sich selbst nach. Offenbar von der Entwurfsaufgabe angeregt, handelt es sich um ein Landhaus für einen Bauplatz in Südtirol, in der Nähe von Meran. Mit seiner Familie hat er dort bereits Urlaub gemacht, vielleicht sogar einen konkreten Ort lieb gewonnen, ins Auge gefasst. Einige überlieferte Skizzen machen seine Überlegungen zu diesem ‹ Haus in den Bergen › noch heute nachvollziehbar. Diesmal wird es an den bevorzugten Ort bewegt : wie schon Le Corbusiers Haus am Genfer See für dessen Eltern. Mies’ Projekt streckt hingegen zwei Arme in die Bergwelt.556 Erstmals entwirft er ein Landhaus in naturräumlicher Umgebung, in ‹ freier Landschaft ›. Er kann es auf die erhabenen Berge ausrichten und muss keine Rücksicht auf nachbarliche Bedürfnisse nehmen. Einzig die Topografie kommt erschwerend hinzu und muss bewältigt werden – eine Gegebenheit, die Mies allerdings schon im städtischen Umfeld zupass kam, um seine Bauten in den ‹ Landschaftsraum › einzuordnen. Auch die gewählte Hausfigur hat er bereits beim Hausentwurf in Werder für sich selbst erprobt : ein einfacher Typus, ein gebauter Winkel. Der Lage in der Landschaft gilt augenscheinlich das vorrangige Interesse ; bevor der Grundriss näher ausgearbeitet wird, erfordert die Positionierung und Massengruppierung an einem solchen Ort die volle Aufmerksamkeit des Architekten.

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Mies setzt das Bauwerk auf ein künstliches Plateau. Die Mauer der dafür nötigen Substruktur geht direkt in die Wände des Wohnhauses über, die talseitig verschlossen wirken, zur künstlichen Ebene zwischen den beiden Gebäudeflügeln aber offenbar verglast werden sollten. Wie seine Bleistiftstriche nahe legen, könnte es sich um Steinmauern oder Ziegelwände gehandelt haben. Einer einzigen Schwergewichtsmauer gleich, lehnt sich das Haus an den sanft fallenden Hang und setzt sich doch prominent darauf : wie eine stereometrische Architektur Schinkels, die sich gegenüber der Natur behaupten muss und sich dabei inszenatorisch einfügt – ein miniaturisiertes Orianda, könnte man übersteigerte Analogien ziehen. Statt prächtiger Gartenhöfe rahmt die frei aufliegende Dachplatte einen knorrigen alten Baum, der auf gewachsenem Terrain steht. Die annähernd quadratische Terrasse ist zweiseitig von einem Wald umstellt und erhält so die Intimität eines Hofes. Eine an dessen Saum positionierte Skulptur scheint mit der größeren Gesamtkomposition abgestimmt, ausgerichtet auf die breite Öffnung der Mauer, den markanten Einzelbaum vor dem Haus, vielleicht auf einen fernen Bezugspunkt – eine Berggruppe, die seine Skizze imposant im Hintergrund des Hauses positioniert. Gewissermaßen im Rohzustand einer Entwurfsidee verblieben, stellt sich das ‹ Haus in den Bergen › nicht so sehr als wohnlicher Aufenthaltsort für urlaubende Städter dar, die Situation auf einer der perspektivischen Skizzen erinnert eher an eine archaische Kultstätte. Die Skulptur bestärkt diesen Eindruck. Ihr Form markiert den Ort als Ruheraum der Kontemplation inmitten von Weite und erhabener Höhe. Das Plateau ergänzt nicht nur die Topografie, sondern schafft durch den Ausgleich des Gefälles einen Ort, der paradoxerweise wie eine Lichtung wirkt, die sich halb aus Bauwerk, halb aus Baumbestand konstituiert. An der Grenze von Natur und Kultur steht die erwähnte Skulptur. Durch die künstliche Ebene und den Höhensprung zum gewachsenen Terrain distanziert sich das Bauwerk vom Ort, hebt sich ab, wirkt erneut als ein Instrument der Fernvermittlung. Es handelt sich um ein einfaches Prinzip, das bereits beim Haus Riehl verfolgt wurde und beim Haus Muthesius zu beobachten war. Möglich wird es durch die Positionierung des Hauses am Geländesprung ; die ver-

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schiedenen ‹ Klimate › des Außenraums entwickeln sich aus dem Dialog zwischen Architektur und Natur. Ihm unterliegen verschiedene landschaftsräumliche Vorstellungen : die Umschlossenheit des Gartens, die Weite und Tiefe dieser ‹ realen › Landschaft eines fiktiven Bauwerks. Das Haus führt auf einfache, aber dezidierte Weise einen Maßstab ein – ohne den Innenraum überhaupt zu thematisieren, ohne verdeutlichende Wegbezüge, Raumprogramm etc., allein durch Raumbildung und Sichtachsen – ähnlich wie beim Landhaus aus Backstein. Es transportiert einen architektonischen Typus in die Alpen, den Mies schon früh aus dem Gefüge im rechten Winkel zueinander stehender, linearer Mauerzüge entwickelt. Aus ihrer Ausrichtung und divergierenden Länge, in ihren ‹ Fugen › entfaltet sich der Landschaftsbezug des Hauses. Dem um 1930 verfestigten architektonischen Repertoire, das konsequent auch in den Bergen zum Einsatz kommt, haftet etwas Universelles an. Es bewährt sich durch Ausrichtung auf den konkreten Ort, durch die Ambivalenz aus ‹ Verschwinden › und ‹ Behaupten › im Landschaftsraum.557 Grüne Präferenzen Nicht nur ähnelt der Baukörper am Obersee in Berlin-Hohenschönhausen demjenigen für das eigene Ferienhaus in den Bergen, das Haus Lemke, mit dessen Planung Mies im Februar 1932 beginnt, nimmt als letztes realisiertes Bauwerk vor der Emigration eine Schlüsselposition in Mies’ Werk ein. Die von den Bauherren gewünschte Einfachheit zwingt den Architekten erneut zu entwerferischer Beschränkung. Dabei vereint er in einem Entwurf verschiedene typologische Ansätze, wie die Biografin dieses Bauwerks, Wita Noack, in ihrer Monografie Konzentrat der Moderne festhält : « Der Bau ist eine Vereinigung von zwei verschiedenen, fast gegensätzlichen Konzepten, einem nach außen gerichteten Landhaus oder auch einem Pavillon einerseits, einem nach innen orientierten Hofhaus andererseits. »558 Im Hinblick auf den Landschaftsbezug lassen sich Pavillon und Hofhaus jedoch auch als Varianten charakterisieren, die dasselbe Ziel verfolgen : Es ginge immer wieder um den Einbezug des landschaftlichen Außenraums in den Wohnraum.

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Das Raumprogramm beschränkt sich beim Haus Lemke auf das Minimum für eine Familie von zwei Personen : Wohn- und Esszimmer, Küche und ‹ Mädchenzimmer ›, Arbeitszimmer, Schlafzimmer und Bad. In einer entwerferischen Suchbewegung verwirft Mies erst eine zweigeschoßige Lösung und findet zum kompakten Konzentrat dieses Hauses.559 Seine unscheinbare Erscheinung führt in der DDR der 1980er-Jahre zur Umnutzung als Wäscherei, dann als Versorgungsstätte für die umliegenden Gästehäuser des Ministeriums für Staatssicherheit.560 Teile des Gartens werden als Parkplatz versiegelt. In Mies’ ersten Entwürfen überspannt noch eine Dachplatte mit einer schlanken Stütze mehrere Wohntrakte, die einen geöffneten Hof ausbildet – wie in den Bergen. Der Blick aus dem Wohnraum des erhaltenen Vorentwurfs belegt ein Haus als ‹ Rahmen › der weitläufig erscheinenden Landschaft. Zwei mächtige Laubbäume umfangen den pittoresken Ausschnitt und halten die gegenüberliegende Seite des Obersees präsent. Dieses Panorama erscheint jenseits des geometrisch gepflasterten Hofes und wird doch in den Innenraum ‹ projiziert ›. Tatsächlich ist für die Gesamtanlage des Hauses Lemke die landschaftliche Anlage entscheidend. Diesmal aber ohne Berge – auch wenn hie wie da eine organische Konturlinie den Horizont seiner Zeichnungen kennzeichnet. Die Formen der Darstellung bleiben dieselben, das geistigen Konzept ebenfalls, der konkrete Ort wird Teil einer übergeordneten räumlichen Typologie, die das Bauwerk hervorruft, indem es sich einfügt. Dass mit dieser Rahmung des Wohnens durch die helle, schwebende Deckenplatte ein kontinuierlich entwickeltes Motiv in Mies’ Gestaltungsrepertoire benannt ist, darauf hat bereits der Architekt Jörn Köppler hingewiesen.561 Besonders klar wird dies zu früherem Zeitpunkt bei der Ergänzung des Hauses Perls in Berlin-Zehlendorf, das Mies um 1911 noch in Anlehnung an Schinkels Klassizismus plante. Im Jahr 1928 setzt er mit den Mitteln eines – sozusagen – ‹ abstrakten Klassizismus › eine Bildergalerie im rechten Winkel an das Wohnhaus ; dort sollte der neue Eigentümer und Kunstsammler Eduard Fuchs seine Sammlung unterbringen.562 Der asymmetrische Anbau erhält eine kleine Dachterrasse, die von einer zarten Betonplatte behütet wird und das Attikagesims des Hauptbaus neu interpretiert – als wollte ein Architekt sich in einem Bauwerk seine

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eigene Entwicklung direkt vor Augen führen, fehlt nach rund 17 Jahren das Satteldach. Die Strenge der Fassade mit fünf Balkentüren bleibt erhalten. Der neue Baukörper mutet in Mies’ Aufrissstudien nackt und kantig an – als stelle sich einem Architekten der Moderne die Aufgabe, ein ‹ historisches Bauwerk › zu entwerfen. Die Loggia indes fungiert als gebautes Blickfeld. Köppler hält nach eigener Überprüfung fest : « Betritt man die Dachterrasse, so wird [ …] der Blick in seltsam intensiver Weise auf die die Terrasse säumenden, mächtigen Baumkronen gelenkt. Sie werden gerahmt von der Unterkante der Deckenplatte. Verweilt man länger an dieser Stelle, erkennt man auch den Grund der Intensität dieser In-Werk-Setzung des Bildes der Natur, ist die Deckenplatte doch mit einem leichten Bogenstich versehen »563. Dem Ausblick auf die Natur des Gartens – die charaktervollen Kronen alter Bäume – antwortet das Haus durch die streng lineare Kante, die sich biegen muss, um gerade zu erscheinen, nicht unähnlich dem Ausdruckswillen der klassischen Tempelarchitektur. Gemeinsam wird der Ort schön, durch den Widerhall der gestimmten Natur im Gebauten. Hier wird früh im Werk des Architekten verständlich, was dieser mit der Wandlung der Konstruktion zur Struktur meint : Durch die sanfte Linie, das Organische, erlebt man das geometrisch-klare Gebilde des Hauses anders. Auf diese elementaren Mittel tektonischen Fügens, auf Säule und Balken, muss Mies beim Landhaus Lemke verzichten. Karl Lemke und seine Ehefrau Martha, die ihr Haus nach Fertigstellung nur etwa zehn Jahre bewohnen können, wünschen sich ein « kleines und bescheidenes Wohnhaus »564. Es wird auf einer Grundfläche von 15 auf 20 Metern in den Jahren 1932 und 1933 errichtet. Mit dem ehedem großzügig verglasten Obergeschoß der frühen Entwurfsphase, von der Studien erhalten geblieben sind, geht der entwerferische Konnex zum verglasten Zentralraum verloren, den Mies in Europa sogar beim Haus Tugendhat nur ansatzweise verwirklichen, der jedoch die Häuser Gericke und Hubbe in ihrem ‹ Wohn-Kern › bestimmen wird. Die Idee einer von der Natur imprägnierten ‹ hellen Kammer › ist indes auch im Haus Lemke realisiert. Und das gleich zwei Mal. Lemke, Sammler deutscher und niederländischer Kunst des 16. Jahrhunderts, ist durch Fuchs auf Mies aufmerksam geworden. Seine Firma, eine Graphische

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Kunstanstalt und Druckerei, genießt einen guten Ruf, arbeitet für Kunstinstitutionen, pflegt Kontakte zu Künstlern, die womöglich sein Interesse für moderne Architektur anregen. Das Haus müsste demnach auch gewisse repräsentative Funktionen erfüllen. Der letztlich eingeschoßig ausgeführte Baukörper bildet besagtes ‹ L › mit zwei in etwa gleich langen Armen ; durch ein verglastes Foyer sind die beiden Flügel von Arbeitsraum sowie Wohn- und Speiseraum visuell und funktional miteinander verbunden. Zur Straßenseite und zum Nachbargrundstück lagert sich eine zweite, ‹ dienende › Raumschicht an – einerseits befinden sich dort die Garage und das Bad, andererseits Küche, Abstellraum und das Dienstmädchenzimmer. Die zentralen Aufenthaltsräume sind zur Terrasse hin einseitig verglast, sie bilden zwei Herzstücke eines Hauses. Durch Ausrichtung und Nutzung voneinander verschieden, stehen sie miteinander im Dialog – vor allem über den umschlossenen ‹ Hofraum ›. Zur Straße verschließt sich das Bauwerk, wirkt eher wie eine unverputzte Gartenmauer aus Normalformat-Ziegeln denn das Haus eines Unternehmers. Es sind die Geometrie des Grundrisses und die großflächigen Öffnungen zum ‹ Innenhof ›, die durch Sichtbeziehungen eine besondere räumliche Stimmung hervorrufen, das Haus nicht klein erscheinen lassen, es zum verblüffenden Raumerlebnis machen – trotz oder wegen seiner räumlichen Ökonomie. Schon vor Eintreten ins Foyer, im Vorbereich zwischen Straße, Garagenzufahrt und verglaster Eingangstür, erlebt man eine seltsame Weitläufigkeit, eröffnet sich doch der Blick schräg durch mehrere Raumschichten bis zum Obersee. Richtet man ihn – nach Eintritt ins Haus – gerade, erschließt sich die volle Tiefe des Hauses, zur Linken bis zum Schreibtisch Lemkes und weiter über den gerahmten Gartenblick des Schlafzimmers in den Garten, steht die Tür dorthin offen. Die erlebte räumliche Komplexität des an sich klaren Grundrisses, die durch sie erreichte Verschränkung von Innen- und Außenraum, von Innen-Außen-Innenraum verstärkt sich, wenn man die Sichtachsen der beiden ausgestreckten Räume näher untersucht. Wie verhält sich die gewählte Form des Winkels der zueinander durch große Glasflächen an der Längsseite geöffneten Wohnräume – des Esszimmers, Wohnzimmers im nördlichen Flügel, des Arbeitsbereichs auf

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der Ostseite – zur Idee der « ästhetischen Grenze »? Damit war jene spezifische Beziehung zwischen Außenraum und Innenraum benannt, die beide inszenatorisch voneinander trennt, um dennoch von einem ‹ offenen › Raumgefüge zu sprechen. Beim Aufenthalt in einem der beiden Haus-Flügel muss der Bewohner die Erfahrung eines ‹ Doppelgängers › gemacht haben, sieht er doch zugleich einen ähnlichen Raum gegenüber, darin womöglich den Mitbewohner – so, als beobachte er sich selbst beim Wohnen, während er vielleicht vom Gegenüber ebenso beobachtet würde. Dabei aber durchkreuzt der Blick die Terrasse und wird von zwei dünnen Membranen der durch feine Stahlsprossen gehaltenen, quadratischen Gläser gefiltert. Ein elegantes Detail von raumstimmender Wirkung, das sich später beim Haus Ulrich Lange in Krefeld wiederfindet. Nicht der größtmöglichen Öffnung tragen die darin eingelassenen Glastüren Rechnung, es sind einfache Doppelflügeltüren, die den Außenraum erschließen, eingelassen in die verglasten Fronten. Vor allem der nahe Nussbaum im Winkeleck des Bauwerks und die Lichtstimmung übermitteln Jahreszeit und Tageszeit direkt an den Innenraum. Diese Gegensätzlichkeit der naturräumlichen Stimmung zur eingerichteten Lebenssphäre in den beiden Flügeln des Hauses, in denen man immer auch für sich bleiben könnte und doch nicht alleine wohnte, bestärken die dunkel-schweren Möbel Lilly Reichs und Mies van der Rohes.565 Fotografien der Zeit halten diese Atmosphäre fest : Der Boden wird von den Lemkes mit orientalischen Teppichen ausgekleidet, die Glasflächen zum Hof wie auch zum Foyer lassen sich mit einem hellen Vorhang vollständig verhängen. Stuhl und Arbeitstisch werden auf die lange Achse ausgerichtet, die vom Arbeitsraum bis zum Eingangsbereich des Hauses reicht. Er steht dort behäbig wie ein Thron, den intimsten Raum, das Schlafzimmer, im Rücken. Der verglaste Bücherschrank an der seitlichen Wand spiegelt den Außenraum und ist zugleich ein repräsentatives Symbol von Gelehrsamkeit. Der Eindruck einer Bühne verstärkt sich, auf der man für sich selbst und seinen Partner ein Schauspiel aufführt, manchmal für Gäste – eine Form der Bewusstwerdung des Wohnens beim Wohnen, die sich nicht einstellen muss, aber kann. Die diagonale Beziehung vom Inneren ins Außen ins Innere wird angereichert durch die tatsächliche Spiegelung

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des Selbst, im Falle der geschlossenen Vorhänge auf der gegenüberliegenden Seite. Die nüchtern-gläserne Fassade würde dann nicht mehr den Blick in die jeweils andere Wohnhälfte freigeben, sondern zur Spiegelfläche werden. Es spiegelt sich darin aber auch die jeweils gerade Blickachse des gegenüberliegenden Flügels. Damit ist jene optische Verlängerung des Innenraums gemeint, die die landschaftliche Ferne über die Terrasse in den Wohnraum hereinholt : Dem Arbeitsraum wäre der Nutzgarten an der westlichen Grundstücksgrenze zugeordnet. Der Blick dorthin wird durch den geometrischen Bodenbelag des Hofs, den Himmel, links einen krummen Nussbaum und jenen am inneren Gelenkpunkt der beiden Hausflügel gerahmt. Ein Baum ist das eigentliche Zentrum des Hauses, der Mittelpunkt einer neuerlich dynamischen Komposition, die ihren Haltepunkt im Außenraum findet. Vom Wohn- und Esszimmer indes schaut man geradewegs in die größtmögliche Ferne. Die beiden schmal-langen Grundstücksstreifen an der Oberseestraße 56–57 – der heutigen Nummer 60 – verlaufen leicht abschüssig zum still daliegenden Gewässer. Am Ufer stand ein alter Lindenbaum, der neuerlichen den Ausblick vermittelt. Auf die durch ihn markierte Raumtiefe, die in der Bepflanzung des gegenüberliegenden Ufers einen Fluchtpunkt für den Ausblickenden bereit hält, hat sich die Entwurfsidee des Architekten schon anfangs bezogen : Bäume im Rahmen des Hauses ragten über dessen Dachplatte hinaus in den Himmel voll bauschiger Wolken. Eine heitere Stimmung, die der strengen Haus-Geometrie opponiert. Diese Ausrichtung in die Raumtiefe des Grundstücks – und darüber hinaus – wird im Wohnraum erlebbar, nachdem man die Haustiefe, den Vorraum und etwa ein Viertel des Wohnbereichs durchschritten hat. Erst dann öffnete sich die Längswand durch die beschriebene Glasfläche. An dieser Stelle positioniert Mies ein Sofa. Man müsste sich um 90 Grad drehen, damit die beiden Blickachsen die Terrasse imaginär zum Hof schließen. Die winkelige Hausfigur würde durch die von ihr provozierten Sichtbeziehungen vervollständigt, die Landschaft Teil der Komposition, beide Flügel des Hauses in eine imaginäres Spiel verwickelnd. Der Blick vom Arbeitsraum zum See wird hingegen vom Mauervorsprung des

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Haus Lemke, Berlin-Weißensee um 1933

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Gegenschuss und Gegenwelt : Arbeitszimmer mit Schreibtisch, um 1937

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Bauwerks versperrt. Erst vom Schlafzimmer aus wird der Seeblick durch ein Fenster vermittelt – es ist mit Parapet in die Mauer geschnitten und liegt ursprünglich auf der Achse des Ins-Haus-Eintretenden. Wie wichtig gerade in diesem Haus räumliche Beziehungen und konstruktive Details sind, zeigen die erwähnten, nicht ganz raumhohen Stahl-Glastüren, die den Eindruck einer gefilterten Durchlässigkeit erzeugen. Wie ein Leitthema dienen sie als Eingangstür, als Tür vom Foyer zu den Haupträumen bzw. als Türe zur Terrasse. Oder etwa die nachträgliche Verbreiterung, des im Bauantrag vom Juni 1932 als « Halle » firmierenden Arbeitszimmers : Misst die Raumbreite anfangs noch rund drei Meter und entspricht dem Foyer, würde also die Enfilade betont, an deren Ende die gerahmte Landschaft im Schlafzimmer liegt, so zeigt er sich im planlichen Nachtrag vom März 1933 um rund 60 Zentimeter verbreitert. Somit aber wird der Raum aufgewertet und der beschriebene Dialog mit dem gegenüber liegenden Wohnraum gestärkt. Diese Raum-Blick-Sequenzen und die empfundene, intime Offenheit des auf Fotografien und Zeichnungen blockhaft-geduckt wirkenden Baus müssen vor Ort nachvollzogen werden – vor allem die Proportionen der Innenräume, die Ruhe, Ausgeglichenheit verströmen. Carsten Krohn hat jüngst versucht, sie fotografisch festzuhalten und er spricht von einem « Phänomen »566, wenn es Mies gelinge, « auch im Außenraum Räume » zu bilden. Damit mag die genannte Staffelung aufeinander bezogener Innen-, Nah- und Fernräume gemeint sein, eine elegante räumliche Großzügigkeit, die sich nie aufdrängt, aber kennzeichnend ist für das Wohngefühl – bis heute. Auch die scheinbar abstrakte architektonische Sprache, die sich am Industriebau bedient – etwa bei den Stahlprofilen und Garagentoren –, jedoch weder Sockel noch Attika zur Gliederung des horizontal gelagerten Baukörpers nutzt, erweist sich in ihrer Einfachheit beim Besuch des Hauses als reichhaltig. Krohn hat anhand eines Bauhandbuches aus der Zeit der Errichtung festgestellt, dass Mies keinesfalls sparsam mit dem Ziegel umging, dass er beim Blockverband viel Verhau in Kauf nahm : Auch die scheinbar schlichte Gefügtheit, die blockhafte Massivität der Mauern erweist sich in Realität als Trugschluss. Die mehrschalige Konstruktion gibt weder den Kraftfluss preis, noch zeigt sie die Dachentwässerung. Ein

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entsprechender Detailplan der Stürze aus dem Mies van der Rohe-Archiv legt offen, wie verborgene Stahlträger die Last über den Fenstern nicht nur aufnehmen, sondern selbst die davor liegende Ziegellage tragen. Was dem Betrachter erscheint, ist ein gleichmäßiges ‹ Netz › wechselnder Läufer- und Binderlagen aus kohlegebrannten, rotbunten Verblenderziegeln mit Dreiviertelsteinen an den Ecken. Durch die scheckige Farbigkeit der Ziegel wirkt die Fläche belebt. Als hätte man jeden einzelnen Ziegelstein ausgewählt und ihm einen Platz im Gefüge zugewiesen, lassen sich auf den Wandflächen natürliche Muster erkennen. Das Haus ist modelliert, handwerklich, von jener naturhaften Schönheit, nach der Mies für das Wohnhaus sucht : Das bescheiden-elegante Haus reflektiert in seiner Materialität die Natur. Wie empfindlich dieses Gewebe ist, zeigt sich an jener Stelle, die durch den Rückbau der Zerstörungen der Nachkriegszeit neu aufgefüllt werden musste : Die Lebendigkeit der Mauer ist gestört. Ein erneuter Blick auf das Curriculum des AIT und auf Mies’ Antrittsrede vom 20. November 1938 : Wie viel Beachtung schenkt er dem Material und seinen Wirkungen, zumal den natürlichen Baustoffen Holz und eben auch Backstein. In selten pathetischem Ton bekennt er vor seinen künftigen Kollegen und Studenten : « Wie brauchbar ist schon das kleine, handliche, für jeden Zweck brauchbare Format. Welche Logik zeigt sein Verbandsgefüge. Welche Lebendigkeit sein Fugenspiel. Welchen Reichtum besitzt noch die einfachste Wandfläche. Aber welche Zucht verlangt dieses Material. »567 Beim Dreischritt seines Lehrprogramms vom Material über die funktionale zur geistigen Dimension des Bauens nimmt das Wohnhaus die zentrale Stellung ein. Das heimliche Leitthema dieser Landhäuser – das Durchwohnen der Landschaft, ein Wohnen als InBeziehung-Treten : so wie es sich an einem heiteren Sommerabend im Haus Lemke ereignet, das sich mit den Farben des dämmernd-dunkelnden Lichts füllt. Architekt und Gartenarchitektin Zwar befindet sich das Haus Lemke nicht in einer weitläufigen Kulturlandschaft, seine idyllische Lage hätte die bescheidene Haus-Kubatur aber nicht vermuten lassen. Es liegt in einer kleinen, künstlichen Seen-

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landschaft – heute inmitten Berlins, damals, wie eine alte Postkarte aus dem Jahr 1911 zeigt, am Rande zur offenen Landschaft Brandenburgs.568 Der 44.000 Quadratmeter große Obersee entstand ohne Absicht. In einer glazialen Senke sammelte sich im Jahr 1895 das Wasser des nahe Orankesee, den die Fabrikabwässer der Löwenbrauerei überschwemmten. Am Nordufer des zentrumsnahen, bald beliebten Ausflugsziels entwickelt sich die ländliche Obersee-Kolonie zu Hohen-Schönhausen – ein Villen- und Landhausgebiet. Ein nicht vollständig umgesetzter Bebauungsplan legt die Parzellierung des Nord- und Ostufers durch schmalschlanke Grundstücke fest, die noch heute von der Oberseestraße bis zum Wasser reichen. Da die gegenüberliegende Seeseite unbebaut bleibt, wird sie zum Panorama der beliebten Kolonie-Häuser und des Ausflugsgasthauses Terrassen am Obersee. Östlich des im Ersten Weltkrieg abgebrannten Betriebs entsteht schließlich ein Sommerhäuschen. Karl Lemke erwirbt das Doppelgrundstück von 2.782 Quadratmeter im Jahr 1930 und trägt den kleinen Vorgängerbau ab – der alten Baumbestand bleibt erhalten, wird in den Garten der Lemkes eingebunden, darunter auch Obstbäume. Wie ein Geländequerschnitt zeigt, greift Mies in die bestehende Topografie ein. Nach Aushub der Baugrube wird das Areal um das Gebäude aufgeschüttet und eingeebnet, sodass dieses nun auf einer Plattform ruht – ein diffiziler, nicht offensichtlicher Eingriff, der den Standort des eingeschoßigen Hauses zu denjenigen der Nachbarbauten erhöht. Heute erscheint es wie eingewachsen in die Gartenlandschaft. Nach den Häusern Riehl und Urbig kommt es hier wieder zur Zusammenarbeit mit dem Gärtnerbetrieb Karl Foersters ; neuerlich ist nicht gewiss, wie stark Mies’ Einfluss auf die Gestaltung der Außenanlage war. Die Einbeziehung Foersters erfolgt auf Martha und Karl Lemkes Betreiben.569 Dessen Gartengestaltung hat sich mittlerweile vom Reformstil zum Wohngarten entwickelt, der den strengen architektonischen Garten ablöst und sich vor allem in der Schweiz und in Deutschland noch vor dem Zweiten Weltkrieg durchsetzt. Zu seinem Repertoire gehören Trittplattenwege in großzügigen Rasenflächen, Natursteinmauern und Staudenrabatten. Beim Haus Lemke sollte er mustergültig umgesetzt werden. Im Mies van der Rohe-Archiv befindet sich ein von Hermann Mattern

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unterzeichneter Gartenplan aus dem Jahr 1933. Mit großer Wahrscheinlichkeit stammt er aus der Hand seiner damaligen Frau und Büropartnerin Herta Hammerbacher, die ihn in ihre Werkliste aufnimmt. Neben den ‹ naturnahen › Bepflanzungsvorschlägen sieht er das spielerische Vor- und Rückspringen des rötlichen Steinbelags von Terrasse und Gartenweg aus Weser-Sandstein vor. Anders Mies : Der Terrassenbelag geht auf der Einreichplanung scharfkantig in die Streuobstwiese über. Wita Noack hat den Zusammenhang zwischen Architekt, Bauherr und Landschaftsarchitektin rekonstruiert und dabei nachvollzogen, dass Mies nur indirekt in die Gartenplanung integriert ist, als nämlich Karl Lemke über Bauleiter Ernst Walther nachträglich eine Einschätzung des bereits bei der Firma Foerster erstellten Gartenplans erfragt.570 Am 9. Jänner 1933 erhält Mies den erwähnten Plan und ein entsprechendes Begleitschreiben Lemkes. Daraufhin bekundet er offenbar Interesse, sich mit dem Bauherrn näher darüber zu unterhalten, worauf ein weiterer Brief von Lemke am 23. Jänner an ihn ergeht. Über anschließende Absprachen ist nichts überliefert. Der Vergleich historischer Fotografien Franz Schulzes für den Katalog der Firma Thonet, die zur Inszenierung der Mies’schen Stahlrohrmöbel 1933 im Garten gemacht wurden, vermittelt ein unbeschwertes Wohnen, das ganz der Wohngarten-Idee entsprochen haben dürfte. Sie stehen indes im Gegensatz zur Möblierung der Innenräume. Über die Differenzen zwischen Mies’ Planung und dem Gartenplan hält Noack anhand dieser Fotografien fest : « Die Fotografien der dreißiger Jahre vom ausgeführten Garten vermitteln insgesamt eine freiere und landschaftlichere Gestaltung als die geometrische Strenge des Plans. »571 Herta Hammerbacher und Mies waren beim Haus Lemke zu einer für beide Seiten unlieben Zusammenarbeit gezwungen – schließlich bekamen beide jeweils den fertigen Plan des anderen vorgelegt. Die Zusammenarbeit zwischen Foerster – der seine Gärtnerei 1911 nach Bornim verlegt, durch seine Neuzüchtungen und dutzende Bücher zur prägenden Gärtnerpersönlichkeit avanciert – und Hermann Mattern firmiert jetzt als Bornimer Schule. Hammerbachers Gartenplan für das Haus Lemke entsteht zu ihrer Blütezeit und sucht die Verzahnung von Haus und Garten im Sinne des Wohngartens nach dem Motiv eines

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‹ blühendes Zimmers im Freien › – pikanterweise mit einem ähnlichen Sprachbild, wie es die Anhänger des strengen Architekturgartens verwenden. Unter Einfluss von Willy Langes Naturgartens und Karl Foersters winterharten Staudenzüchtungen rückt die Physiologie und Lebendigkeit der Pflanze ins Zentrum : Blütenstauden gelten als Vermittler zwischen Mensch und Natur. Verstärkt kritisch über geometrische Gartengestaltungen äußert Hammerbacher sich nach dem Zweiten Weltkrieg, entdeckt in regelmäßig angelegten Beeten sogar ein « feudales Herrschaftsdenken »572 und wertet etwa den harschen Bruch zwischen Waldgarten und architektonischer Anlage bei Muthesius’ Haus an der Rehwiese als Defizit : Der Übergang zur Landschaft und zum Kiefernwald bleibt für sie formal ungelöst. Solche ‹ Grenzen › will sie gestalterisch gerade auflösen. Die abgewinkelte Form des Hauses Lemke, der großzügig geöffnete, erdgeschoßige Wohnbereich entsprächen hingegen durchaus ihrer eigenen Vorstellung ; im Einfamilienhaus sieht sie die geeignetste Wohnform für den modernen Menschen und seine Familie. Diese Ansicht verfestigt sich Ende der 1930er-Jahre, mithin auch ein typologisches Gestaltungskonzept für den Hausgarten nach Maßgabe seiner räumlichen Gliederung.573 Hammerbachers Gartenidee definiert einen effizienten « Funktionsbereich » rund um das Baumwerk – in Form von Zier- und Nutzgärten mit gestaffelten Sommerblumen- und Rosenbeeten,574 die sich beim Haus Lemke bis zum nördlichen Vorgarten erstrecken, von der Straße getrennt durch eine Hainbuchenhecke. Der « Hauptgartenraum » hingegen sollte als eine sanft modellierte ‹ Lichtung › gestaltet werden – im konkreten Fall als Obstwiese, durchschnitten von einem Trittsteinweg, der durchaus gerade verlaufen darf, setzt sich der neue, landschaftliche Wohngarten doch von den alten, gekünstelten Schlängelwegen ab. Die irreguläre Form der Einzelsteine addiert sich zu einem Weg, der zum Wasser führt ; der ufernahe Geländesprung wird vor Erreichen des Sees mit einem Steingarten gestalterisch gelöst. Hier wird später ein Bootssteg liegen, für den man Mies’ Architekturbüro wieder konsultieren wird. Die Grundstücksgrenzen schließlich sollten mit Strauchgruppen ( Flieder, Jasmin, Cotoneaster, Forsythien, Feuerdorn) und Blütenstauden – der Foerstersche Rittersporn darf nicht fehlen – zur Landschaft vermitteln.

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Nach pflanzensoziologischen und pflanzenphysiologischen Aspekten sind sie zu frei ondulierenden Rabatten eines Naturgartens zusammengesetzt, wie in ihrem Gartenplan an der östlichen Grundstücksgrenze vermerkt. Bergkiefern stellen die Verbindung der Pflanzenkulisse zur kulturlandschaftlichen Umgebung her. Kurzum : Das Haus ist für Hammerbacher Ausgangspunkt des Gartens, der harmonisch in die Landschaft übergehen solle. Ihr Konzept scheint auf den ersten Blick nicht unbedingt Mies’ Idee der landschaftlichen Raumstaffelung widersprochen zu haben. Der Gartenhistoriker Günter Mader betont hingegen, dass « der Geist des Neuen Bauens und die Auffassung der Bornimer Schule – mit ihren Trockenmauern, Plattenwegen und bunten Staudenpflanzungen »575 stilistisch nicht zu vereinen sei. Und auch Barry Bergdoll spricht vor allem die Gegensätzlichkeit von Haus und Garten Lemke an, meint, die gestalterische Diskrepanz sei auf die fehlende Abstimmung der beiden Entwürfe zurückzuführen.576 Mies’ Präferenz gilt auch bei diesem Projekt in der Übernahme vorgängiger landschaftsräumlicher Elemente, die dem Haus – und somit dem Garten – ihre räumliche « Ausrichtung » geben. Für das Haus Lemke hat er nur einen Sockel geplant, eine streng geometrische Pflasterung der Terrasse und des straßenseitigen Zugangs vorgesehen : Er fasst den Garten vielleicht immer als eine Art ‹ Sockel ›, als Gelenk zur Landschaft auf. Dass ein Garten gestaltet werden müsse, ist ihm freilich bewusst. Als Teil des Hauses sieht er ihn wohl wie seine Höfe und Terrassen : still, reduziert, bewachsen von wenigen, gleichartigen Pflanzen, diese einfärbig gruppiert, nicht Ablenkung, sondern Hinführung zur Landschaft dahinter. Für Hammerbacher nun ist der Garten selbst der Ort einer intensiven « geistigen Verbindung »577 zwischen Mensch und Natur. Die von Repräsentationsaufgaben befreite Pflanzenwelt, die Einzelpflanze, drückt für sie ganz eine Lebendigkeit aus, an der man teilhaben könne. Der gravierende Unterschied zwischen Mies und Hammerbacher betrifft nicht diese tiefere Lebendigkeit der Natur, die für ein modernes Wohnhaus wichtig wurde, sondern ihr zugrunde liegendes Naturverständnis : Für die Gartenarchitektin sollte mit dem Garten ein Stück « Natur » entstehen, die Grenze von Kultur und Natur in Harmonie aufgelöst werden.

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Im Zeitraum von 1931 bis 1981 verfasst Herta Hammerbacher rund 40 Aufsätze. Die darin zum Ausdruck kommende Haltung wird als « Lehre der Symbiose »578 gekennzeichnet. Der neuzeitlichen, technischen Naturbeherrschung stellt sie eine « Ursprungsverbundenheit » des Menschen gegenüber, die ihn zur Harmonie mit der Natur befähige.579 In den 1960er-Jahren auf Jean Gebsers Begriff des ‹ integralen Bewusstseins › zurückgreifend, erklärt sie die mögliche Verbindung von ‹ Ursprung und Gegenwart › durch die Idee einer neuen Naturnähe. Die Gartenhistorikerin Jeong-Hi Go, die sich erstmals ausführlich mit den theoretischen Hintergründen Hammerbachers beschäftigt hat, fasst zusammen : « Der Mensch sei als ein Glied im großen Naturkreislauf eingebunden, das Verhältnis des Menschen zur Natur folgerichtig weder beherrschend, noch unterliegend. Sie proklamiert die Aufrechterhaltung dieses Kreislaufes als moralische Pflicht des Menschen, die nur über ‹ naturnahe Weltanschauung › erreicht werden kann. » In ihrem Hauptwerk Die Hausgärten charakterisiert Hammberbacher ihre Haltung als « landschaftliche Gestaltungsweise im 20. Jahrhundert »580. Der Englische Landschaftsgarten sei nicht « einfach eine Mode » gewesen, sondern verkörpere die Idee der modernen Natur. Diese Einschätzung deckt sich noch mit Joachim Ritters theoretischer Bestimmung des Landschaftsbegriffs. Im Zusammenhang mit ihrem gartenhistorischen Abriss spricht sie dem Landhauses zudem bei den Stadterweiterungen Berlins vor 1900 eine wesentliche Rolle zu – neben Volksparks, Villen- und Landhauskolonien. Bei der Gebiets-Entwicklung in Hohenschönhausen oder an der Rehwiese in Berlin-Zehlendorf, auf die sich die Häuser Muthesius’ und auch Hammerbachers eigenes Haus ausrichten, sei das der Fall : « Auch die Terrain-Gesellschaften übernahmen, z. B. in Nikolassee, für ihre Aufschließungen 1903 bis 1913 das landschaftliche Konzept, wobei die örtlichen Höhengliederungen und die Teile der Rinnen-Seen-Senke des Nikolassees und der Rehwiese die Leitlinien für die Straßenführungen abgaben. »581 Das landschaftliche Naturverständnis habe sich auf diese Weise in Deutschland zu einem « Lebens-, Wohnund Stadtideal » umgebildet. Und doch setzt sie sich vom Vorbild des historischen Landschaftsgartens ab, betont dies durch Hinzufügung der zeitlichen Bestimmung ‹ im

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20. Jahrhundert › zum Wort ‹ landschaftlich ›. Der moderne Mensch habe seine Beziehung zur Natur von einer betrachtenden Gegenüberstellung zur Einheit der wissenschaftlich und technisch erschlossenen Natur weiterentwickelt, denn im « landschaftlichen Garten des 20. Jahrhunderts tritt der Mensch nicht mehr als Betrachter der Natur gegenüber. Er verfügt über Erkenntnisse, technische Raffinesse und Wissenschaft, die er der Natur ablauscht, um sich der Natur wieder hingeben zu können. »582 Im Garten des Blauen Fortschrittes auf der Dresdner Gartenschau von 1936 vermengt Hammerbacher entsprechend naturwissenschaftliche und ästhetische Konzepte : Haus und Garten werden zu « Zellen » eines größeren « Organismus », der Garten ein Ort der Harmonie. Die Metapher eines « Gewächses » etc. droht die Widersprüche des modernen Lebens zu übertünchen, die moderne Entzweiung wird in einer holistischen Weltsicht aufgelöst. Problematisch ist dies nicht wegen des damit gestellten, hoffnungsvollen Anspruchs, sondern aufgrund der impliziten Gleichsetzung rationaler und ästhetischer Wirklichkeitszugänge, die entweder den Garten zum eskapistischen Rückzugsort stilisiert oder die Qualität einer ‹ gegenräumlichen › Natur – ihre ‹ lebendige Unverfügbarkeit  › – zu vergessen droht. Die ästhetisch erlebte ‹ Einheit des Gegensätzlichen › bleibt hingegen in der Spannung präsent, die Mies in der Differenz von Haus und Landschaft aufbaut. Und auch in der Architekturgeschichte der Klassischen Moderne zeigt sich eine bestimmte – wohl durch disziplinäre Schranken mitverursachte – ‹ anti-gärtnerische › Haltung, die den klaren, modernen Baukörper der Landschaft gegenüberstellt. Doch das trifft auf Mies nur bedingt zu, wie sich bereits in der schwierigen Grenzziehung zu Herta Hammerbachers Position zeigt. Zieht man Le Corbusiers frühe Begegnung mit der ‹ Lieblingslandschaft › seiner Eltern nochmals hinzu, stellt sich deutlich die Dichotomie von Haus und Landschaft dar : Die Unmittelbarkeit des Wohnerlebnisses in der Landschaft erschien Le Corbusier als « Geschenk der Technik »583. Aus seinen Ideen für das moderne Haus – freier Grundriss, freie Fassade, Stützpfeiler, Dachgarten, unabhängiges Tragwerk – folgert er in seinem Vortrag Der Plan des modernen Hauses von 1929, dass der Aufenthalt im Freien sich im Wesentlichen auf das Dach des Hauses beschränken solle. « Unsere ‹ Schachtel › erhebt sich inmitten von Wiesen über dem

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Obstgarten »584, heißt es dort. Die alleine auf der Wiese stehende Villa Savoye wird zum städtebaulichen Modell internationalen Zuschnitts : « Dieses gleiche Haus werde ich auf irgendeinen schönen Platz in Argentinien stellen ; wir werden 20 solcher Häuser haben, die aus dem Grün eines Obstgartens auftauchen – in einer Landschaft, in der noch Kühe weiden. [ …] Am Rand der Wege wird Gras wachsen, nichts wird gestört – nicht die Bäume, nicht die Blumen, nicht die weidenden Herden. Die Bewohner, die hierher gekommen sind, weil diese ländliche Gegend gerade in ihrer ländlichen Beschaulichkeit so schön ist, [ …] würden sie aus der Höhe ihrer Hängegärten oder von ihren Langfenstern aus betrachten und ihren Anblick genießen können. »585 Die Idylle trügt – diese Landschaft hatte sich nicht unabhängig vom Haus und der Bewirtschaftung des Landes entwickelt. Wie es die italienische Villenlandschaft bereits nahe gelegt hat : Kühe sind keine ‹ Staffagefiguren ›, sondern Lebewesen, die Landschaft zunächst eine Kulturform großer Spezifität und von je einmaligem Charakter. Indirekt zum Ausdruck kommt in den Zeilen Le Corbusiers jedoch ein Appell, sie nicht zu stören – und dieser wiederum wird nur dann verständlich, wenn die in den Gegensatz zur Landschaft gesetzte, moderne Lebensweise eben diese Störung gerade bewirke. Wita Noack kehrt das verfeinerte, wenn auch ebenso polare Gestaltungskonzept hervor, das Mies aus der gestaffelten Beziehung zwischen Haus, Garten und Landschaft entwickelt. Der Wechsel von Nähe und Ferne würde eine « meditative Stimmung »586 hervorrufen : « Die Architektur schafft Distanz und Nähe zugleich, indem ein Hin- und Herwandern zwischen Nähe und Ferne bzw. Architektur und Natur ermöglicht wird. Die geringe Raumtiefe der Wohnräume drängt die Wahrnehmung wie von selbst nach außen. Durch den streifenden Blick in die Nähe auf das Detail und in die Ferne wird das Gebäude selbst zum Gegenstand der Betrachtung und Kontemplation. Dieses an sich zweckfreie Betrachten erzeugt eine geistige Freiheit zur Kontemplation, indem der ideale Naturraum ganz von anderen Funktionen entlastet wird und nur als Raum der Reflexion dargeboten wird. » Auf diese Weise ist aber nicht nur die Rolle der naturästhetischen Erfahrung für das Wohnen trefflich beschrieben, sondern auch Mies’ ‹ Gartenkonzept › aus dem Wohnerlebnis wiederholt :

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Distanzierung schafft Nähe, diese regt zu Aufmerksamkeit an, vermittelt die Besonderheit der erlebten Dinge. Darin ist Joachim Ritters theoria angesprochen – die kontemplative Beziehung zur Natur als Landschaft. « Beisichselbstsein »587 und « Innerlichkeit » lauten die Merkmale des erkennenden, empfindenden und handelnden Subjekts, das im Prozess der Moderne auftritt. Die Fragmentiertheit seiner Wirklichkeitserfahrung korrespondiert mit seiner Selbsterfahrung – mit einem « besonderen Sinn »588 blickt es in die landschaftliche Natur. In diesem Konzept drohte zugleich die Abkapselung ästhetischer Subjektivität von der Aufgabe der Gestaltung seiner Lebenswelt, deren Erfahrung eine eminente Rolle gegenüber der objektivierenden Sphäre der neuzeitlichen Rationalität beigemessen wurde.589 Evidenz erlangte das ästhetische Erlebnis im Moment des Erlebens selbst, wirksam würde es, indem die dieser Form von Wirklichkeitserfahrung impliziten Ansprüche ernst genommen werden, kommensurabel sind sie einzig an den Wünschen, Bildern und Vorstellungen, die aus ihnen sprechen. Nimmt man Martin Seels Definition der landschaftlichen Erfahrung als « Einheit ohne Ganzes »590 auf, so wäre hier weniger seine Kritik an der Möglichkeit einer Naturteleologie, der Sehnsucht nach einer « höheren Einheit » – kurzum Schattierungen von Transzendenz – zu betonen. Als ästhetisches Phänomen stellt sich die Natur der Landschaft auch für Seel in ihrer « Selbständigkeit »591, ihrem « Insichruhen » und ihrem « Absehen von aller menschlicher Absicht » dar. Ihre Kontingenz aber erwiese sich als genuiner Wert für den Menschen der ‹ objektivierenden › Massenkultur. Seels Konzept einer ‹ zweiten Korrespondenz › zwischen Mensch und Natur in der Landschaft – kontemplative und imaginative Naturbezüge einbegriffen – steigert dieses Erlebnis und beschreibt einen absolut interesselosen und daher schwebelosen Zustand der ästhetischer Subjektivität, der paradoxerweise in die Praxis hinüberragt, denn der « Freiheit der Natur entspricht unsere Freiheit sowohl zum eigenen Entwurf als auch vom eigenen Entwurf. »592 In die Landschaft eingegangen ist nun aber auch ein imaginärer Raum, der Erinnerungen, Geschichten und Wünsche, erhoffte Möglichkeiten und mögliche Erlebnisse etc. umfasst und durch die ästhetische Reflexion hervorbringt. Geschaffen werden

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müssten hierfür Orte, an denen die nicht weiter reduzible Andersheit der Natur erlebt werden könnte ; Orte in unserer Gesellschaft. Würde das Wohnen kontemplativ gestimmt, so hielte die freie Natur unmittelbar im Alltag Einzug. Auch wenn er so nicht ständig wahrgenommen würde, stellte die Möglichkeit zu solcher Erfahrung, die Gegenwart solcher Natur, einen geistigen Haltepunkt dar. Dies wäre zudem wichtig für ein Bauen, das seinen Bedeutungsmoment in die Beziehung zur Natur verlagert – affiziert werden muss im Sinne Boullées von den Wirkungen der Natur, um bedeutsam zu werden : Ein simples Loch in der Decke – wie bei seinem Kenotaphen für den Physiker Newton – oder eine bestimmte Wand aus Glas bei Mies verändern den Innenraum, wenn sie mit ihm in ästhetische Korrespondenz treten. Diese kommunikative Dimension der Architektur wird zentral in einem Prozess, der bei Schinkel mit dem Wandel von der Symbolform zum Symbolisieren bezeichnet wurde. Ganz direkt werden neue technische Möglichkeiten für das Bauen nun Mittel zum Zweck der Ermöglichung ästhetischer Naturerfahrung : Auf dieses Ziel richtet Mies seine neu-alten Landhäuser aus und unterstellt seine Architektur dem Maß der ästhetischen Erfahrung. Und doch ist das ‹ Sehen › der Landschaft nicht von der vollen Körperlichkeit der Natur und des Menschen zu trennen, wie auch die Kontemplation für sich allein noch kein Wohnen ermöglichte : « Der ‹ größere Raum › der Natur ist kein angeschauter Raum, er ist ein Anschauungsraum, und zwar in der weitesten Bedeutung von ‹ Anschauung ›. Dieser Raum umfängt den sinnlich vernehmenden Leib eines Subjekts, das für seine sinnfremde und die sinnhafte Seite seiner Gestalten empfänglich ist wie für die bildhafte. Er nimmt den Raum der Natur mehr oder weniger als einen Lebenszusammenhang wahr, den er als überschaubares Geschehen ausdrucksloser und ausdruckshafter Formen erfährt. Der Raum der Landschaft ist ein naturumformter Raum »593, vermerkt Seel. In einer Fußnote ergänzt er, dass auch das « Panorama eine Illusion des Raums außerhalb des Raums »594 sei. Dieser Fernraum war aber längst Teil der Kulturlandschaft geworden, seine Bedeutung mit ihr gewachsen. Auf ihn bezieht sich eine Kontemplation, deren Blick von der Nähe in die Ferne wandert – und zurück. So besteht eine entwicklungsgeschichtliche Parallelität zwischen dem ‹ Landschaftsbild › und der Wahrnehmung von

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Landschaft als gestaffeltem Tiefenraum. Die landschaftsräumliche Kontinuität berührt die Mies’sche Konstruktion, über sie den architektonischen Haus-Raum, für den sie als eine Art Simmel’scher Bilderrahmen fungiert, der das dann Erlebte ‹ konkretisiert › und zu Bedeutung erhebt. In der Villenlandschaft kam der Fernpunkt, prima natura, ganz wesentlich der Inklusion des Unveranstalteten gleich. Dort war die Idee des Erhabenen aufgehoben, ein Konzept, das erstmals die Dynamik der Natur für die menschliche Wahrnehmung wertete : Die ferne Natur der Berge, Seen, des Meeres und der Wälder, dieser ‹ andere Raum › im Landschaftsraum wurde mit der Vorstellung einer eigenmächtigen Natur behaftet. Bei Mies bleibt dieser gestaffelte Raum im Ideal seiner Bauplätze erhalten.595 Auch in der Stadt. Er erlaubt Momente des ‹ Fürsich–Seins ›, die sich auf den Menschen übertragen – im Mittelpunkt des Wohnens. Und so geht es letztlich um eine Naturästhetik als Lehre des guten Lebens. Auch dafür findet Martin Seel gute Worte : « Das Naturschöne ist diejenige lebensweltliche Wirklichkeit, die zugleich anschauliche Intensivierung, anschauliche Präsentation und anschauliche Suspension eines nicht allein subjektiven Entwurfs vom Leben, einer nicht allein subjektiven Sicht der Dinge ist. »596 In der Architektur ist dieses Schauspiel mehrfach präsent : durch die Wandlung des naturräumlichen Draußen zur Landschaft auf der Bühne eines Hauses ; durch die Stimmung des großen Wohnraums beim ‹ Einfall › der Natur oder durch die im Zusammenklang angeregte, bedeutsame Wandlung der technischen Konstruktion an ihren ‹ Nahtstellen ›. Der erfahrungsoffene Bewohner ist hierin zwar der Protagonist, doch spielt er eine Rolle des Sich-Zurücknehmens. Wachsen lassen An zwei Häusern in Krefeld, die dem Haus Lemke zeitlich voraus liegen, wird Mies’ ‹ Gartenkonzept › deutlicher. Hier arbeitet er ohne Landschaftsarchitektin an seiner Seite, vermittelt nicht nur zwischen gärtnerischen Gestaltungskonzepten, sondern zwischen Haus, Garten und Landschaft, indem er klare ‹ Grenzen › zugunsten der Raumwirkung definiert. Ein Gärtner war schon vor Mies aktiv.

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Die beiden geschäftsführenden Gesellschafter der Vereinigten Seidenwebereien, Josef Esters und Hermann Lange, erstanden in der Wilhelmshofsallee zwei nebeneinander liegende Grundstücke : im Oktober 1921 Lange mit den Maßen 85 Meter auf 115 Meter, im August 1923 Esters ein um zehn Meter schmäleres.597 Auch in Krefeld handelt es sich um urbanes Erweiterungsgebiet, das im Sinn der Gartenstadt-Idee locker, mit von Gärten umwachsenen Villen bebaut werden sollte. Die Jentges’sche Grundbesitz GmbH Krefeld war für die Parzellierung zuständig und legt städtebaulich eine mindestens sieben Meter breite Zone als Bereich des Vorgartens fest, die den noch heute erlebbaren, ruhigen und zugleich gediegenen Charakter der Straße begründet. Leicht erhöht, hinter einem niederen Zaun, von geschwungenen Zufahrten erschlossen, liegen die beiden lang gestreckten Backsteinbauten, für die Mies im Jahr 1927 den Auftrag erhielt. Im Süden der Parzellen hingegen erstreckte sich in den 1930er-Jahren noch die flache niederrheinische Landschaft. Nicht nur begrenzte die offene Landschaft die Grundstücke, wie Almuth Spelberg in ihrer gartendenkmalpflegerischen Untersuchung aus dem Jahr 1992 darstellt, der Garten Esters existierte bereits und wurde von der Familie vor Errichtung des Hauses an den Wochenenden genutzt.598 Es handelt sich um eine Anlage im ‹ alten › Stil mit geschwungenen Wegen und Gartenpavillon. An den Grundstücksgrenzen fassen Bäume und Hecken den Gartenraum.599 Mies’ Eingriffe lassen daher direkte Rückschlüsse auf seine ‹ gärtnerischen › Präferenzen zu : Er beseitigt einen quer über den Rasen verlaufenden Weg, der auf einer erhaltenen Skizze des Bestandes aus dem Jahr 1928 noch zu sehen ist, verlegt die grauen Aschewege an die Grundstücksgrenzen. Dementsprechend verlaufen sie nun gerade, die Gartenmitte wird frei : « Ganz im klassizistischen Sinne Schinkels soll der strenge Baukörper von Vegetation umspielt und kontrastiert, aber nicht verunklart werden »600, hält Spelberg fest und kann sich bei den von Mies getroffenen Maßnahmen auf Aussagen der Hausherrin, Frau Esters, berufen. Auch beim Garten Lange folgt Mies diesem Prinzip, auch dort können die bereits kräftigen Bäume in den neuen Garten einbezogen werden. Lässt man den Vorgarten, die seitlich der Häuser angelegten Obst- und Gemüsegärten außer Acht, so entfaltet sich seine Wirkung auch ohne

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Schlängelwege : Der Hauptgartenraum stellt sich nun als von Bäumen und Blütensträuchern umstandene Wiesenfläche dar, an deren Rändern, etwa auf Höhe eines Drittels der gesamten Grundstückstiefe, Baumgruppen den Gartenquerschnitt zu einer Kulisse verengen und auf diese Weise die Tiefe optisch steigern. Ein Paar Trauerweiden (Haus Esters) und Kastanien (Haus Lange) markieren diesen Platz zu beiden Seiten, während ein nachverdichteter Saum verschiedener Gehölze den Grundstücksrand fasst.601 Die an den Schmalseiten liegende Landschaft verschwindet hinter einem pflanzlichen Schirm. Und doch : Auf einem Foto von 1938 zeigt sich deutlich eine Staffelung bis über die südliche Grundstücksgrenze hinaus : « Der Schattenwurf der entlang der Südgrenze gepflanzten Pappelreihe zeigt [ …] eine Lücke, die man dahingehend interpretieren kann, dass hier bewusst ein Ausblick in die damals noch angrenzende niederrheinische Wiesenlandschaft freigehalten war. »602 Mies’ Direktive wird evident : Die Beziehung zur offenen Landschaft – ähnlich derjenigen zum Obersee beim Haus Lemke – sollte auch hier gesteigert werden. Solange jedenfalls, bis die nachbarlichen Grundstücke bebaut würden. Für diesen Zeitpunkt musste der Architekt Vorsorge tragen, um dieses Raumerlebnis auf Dauer zu stellen. Heute, nach seiner Restaurierung, stellt der Garten eine von kräftigen Bäumen umstandene Lichtung dar. Die ehedem offene Landschaft aber ist längst bebaut. Mies hatte Maßnahmen im Garten zu treffen, um seine Raumstaffelung auch dann noch zu erhalten, wenn diese vorhersehbare Veränderung eingetroffen wäre : Die Dreiteilung der landschaftlichen Außenräume verlagert er also in den Garten selbst. Neben der erwähnten, perspektivisch-trichterartigen Verengung der Tiefenachse durch besagte Baumkulisse führt Mies ein quer zur Hauptgartenachse liegendes Rosenbeet in den Gartenraum ein. Es liegt beinahe eineinhalb Meter über der Rasenfläche und versperrt den direkten Zugang zur Wiese. Die Plattform, auf der das Haus nun gartenseitig ruht, wird als Ziegelmauer ausgebildet – im Material des Hauses –, davor liegt eine Staudenrabatte. Die erhöhte Ebene dient als Terrasse und Pflanztrog, einläufige Treppen unterschiedlicher Breite und Ausrichtung regulieren den Zugang zwischen nunmehr getrennten Gartenzonen ; Veranden, Nutzgärten, die Wäscheplätze und Garagen befinden sich in der Raumschicht

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unmittelbar seitlich am Haus. Könnte man beim entfernteren Gartenteil formal von einem ‹ Wohngarten › sprechen, so scheint Mies doch hauptsächlich die neue Terrasse für den Aufenthalt im Freien vorgesehen zu haben – dahinter und unter dem Plateau begänne nun die ‹ Landschaft ›, man durchschreitet sie, indem man sie umschreitet, behütet von der Vegetation am Grundstücksrand : wie auf einer Lichtung. Verschwände die offene Landschaft hinter der dichten Gartenbepflanzung, verschöbe sich die Hierarchie der Raumsegmente : Aus dem ‹ Mittelgrund › entwickelte sich ein ‹ Hintergrund ›, die hausnahen Bereiche rückten optisch vom Haus ab – die Öffnung zur anfangs noch am Garten teilnehmenden Kulturlandschaft kann sich schließen. So wäre der Garten von landschaftlicher Anmutung und Tiefe, der eigentliche ‹ Garten › aber architektonisch ums Haus herum gruppiert. Das ‹ Prinzip Riehl › ist – in Reaktion auf die Not eines wunderbaren Gartenraums, der keinen Fernbezug mehr aufweist – sanft modifiziert. Mies vermischt in den raren, noch erhaltenen Gartenplänen Prinzipien des Reformgartens der Jahrhundertwende mit solchen des spätlandschaftlichen Villengartens. So spricht Gustav Meyer in seinem Lehrbuch der schönen Gartenkunst von der « bildenden »603, Schatten und Licht, Form und Raum gebenden « Baumvegetation ». Mies weist den eigentlichen Funktions-Garten dem Haus zu und übernimmt zudem die Gestaltung der geometrischen Beete vor dem Haus. Diesem Außenbereich des Hauses Esters misst der Architekt größere Aufmerksamkeit bei, heißt es doch auf einer von zwei Bleistiftskizzen aus seinen Händen für den Garten des Hauses Esters : « Gartengestaltung behält sich Herr Mies noch vor » – deutlich über die Terrasse auf den Grundriss geschrieben. Es geht um die Gestaltung eines Rosenbeets, eine Gestaltungsleistung, die er offenbar nicht schnell und nebenbei erledigt. So testet Mies in einem ersten Entwurf eine komplexere Aufteilung und findet schließlich zum einfachen, längsrechteckigen Format eines mittig liegenden Rosenbeets. Direkt vor dem Haus liegt ein breiter Aufenthaltsbereich, über den man in einen westlichen, von Buchs umstandenen und ummauerten Staudengarten gelangt, wo Bänke aufgestellt werden sollen – man ist an Behrens’ Düsseldorfer Ausstellungsgarten erinnert.

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Haus Esters und Lange, Luftaufnahme, um 1930

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Auch für Christiane Kruse, jene Kunsthistorikerin, die sich erstmals umfassend mit Mies’ Gärten auseinander gesetzt hat, belegen die beiden noch erhaltenen Pläne zur Terrassengestaltung Mies’ Interesse an der Gartengestaltung. Sie kann bei ihrer Einschätzung auf eine Stimme aus seinem Büro zurückgreifen : « Wie Sergius Ruegenberg berichtet, kam es Mies darauf an, dass große Farbflächen entstehen, die, wie hier, auf eine Farbe beschränkt waren oder aber verschiedene Färbungen besaßen. Um die Wirkung solcher Farbfelder zu prüfen, hatte Mies selbst farbige Pastelle angefertigt, die jedoch der von ihm angeordneten Vernichtungsaktion von Ateliermaterial zum Opfer gefallen sind. »604 Mies’ Garten scheint sich gegenüber der Dogmatik geometrisch versus landschaftlich weitgehend indifferent zu verhalten – es sind einfach unterschiedliche Weisen der Artikulation innerhalb der entscheidenden Opposition Architektur versus ‹ Landschaft ›. Oder, wie John Dixon Hunt anhand des erwähnten Meta-Konzepts der drei Naturen meint : « It urges more subtile adjudications of landscape architecture than the habitual ones of ‹ formal › and ‹ informal ›».605 Wie ein Blick aus einem der Fenster des Hauses Esters auf einer zeitgenössischen Fotografie zeigt, hat auch das Haus selbst Anteil an der Strukturierung des Außenraums. Aus einem frühen Entwurfsstadium sind pastellfarbene Perspektiven erhalten. Die erdgeschoßige Gartenfassade stellt sich auf ihnen mit raumhohen Glastafeln dar – über einem äußerst niedrigen Parapet. Auch hier, wie später beim verworfenen, zweigeschoßigen Entwurf für das Haus Lemke, muss Mies schließlich von einer großflächig verglasten Fassade abrücken. Das ist indes weniger ideologisch begründet als ein pragmatischer Entscheid : Es dreht sich um die Gemütlichkeit und die gestalterische Beherrschung der Bautechnik, wie Kent Kleinman und Leslie Van Duzer durch den Schriftverkehr der beiden befreundeten Bauherren nachvollzogen haben.606 Es geht schlichtweg darum, die Heizkörper unter den Fenstern hinter einer hölzernen Verkleidung verbergen zu können. Wäre dies nicht möglich gewesen, hätten sie sichtbar im Raum platziert werden müssen. Neben der Beeinträchtigung des Raumeindrucks hätte die fehlende Konvektionswalze vor den Fenstern zu Raumkondensat, dem Beschlagen der

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Haus Esters, Rosengarten (zweite Entwurfsvariante), um 1927

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Scheiben, insgesamt zu einem unangenehmen Raumklima durch kältere Glasflächen geführt. Das Verbergen der Haustechnik hat letztlich für die Bauherren und Mies Vorrang und man entscheidet sich für eine ‹ Lochfassade › mit überdurchschnittlich großen Fenstern, die auf ähnliche Unterkonstruktionen wie das Haus Lemke zurückgreifen. Wolf Tegethoff misst diesen Bauten dennoch eine entscheidende Stellung in der Formulierung der neuen architektonischen Sprache bei. Mies’ « Wunsch »607 nach einem « bestimmten Architekturverständnis » käme hier zum Ausdruck, meint er, « der gezielte Versuch, Mauer durch Wand zu ersetzen und somit den Massenbau in seinen Grundbedingungen zu hinterfragen. » Womit nichts anderes gesagt ist, als dass Mies’ entwerferisches Vokabular auch in der Realität des Gebauten fortwirkt. In den Krefelder Häusern vermitteln sich – trotz der klassisch-hölzern gerahmten Türen, die in die weißen Wände geschnitten sind wie die Fenster – beim Durchschreiten immer wieder überraschende, beinahe labyrinthisch anmutende Raumbeziehungen. Das aktive menschliche Erleben des Raums ist zentral. Beim Haus Lange kann Mies dennoch erstmals ein Senkfenster einsetzen, das durch einen Motor vollständig im Kellerraum verschwindet. Die bildhaft-frontale Beziehung zum Außenraum würde verstärkt, der Blick durch dessen schiere, für einen Ziegelsturz unbotmäßige, Größe magisch auf die Bühne des Gartens gerichtet. Doch bleibt es auch hier nicht bei diesem rein optischen Bezug zwischen Innen und Außen. Hätte man im vollverglasten Raum des Vorentwurfs exponierter gewohnt, verzahnt Mies nun durch visuelle Bezüge auf andere Weise Innen und Außen miteinander und erzeugt eine räumlich-atmosphärische Korrespondenz : Wie am Obersee etabliert er einen Diagonalbezug, eine ästhetisch wirksame Interaktion von Blicken und Wohnen. Er hängt mit der gestaffelten Südfassade und der Komposition des Grundrisses zusammen. Die Fenster öffnen sich dort überraschenderweise nicht nur zum Garten, sondern zur zurückspringenden, ebenfalls durch Fenster geöffneten Fassade.608 So aber vermitteln sich neuerlich Durchblicke von Innen nach Außen nach Innen nach Außen. In den Innenraum wird Außenraum eingeschlossen.

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In den Häusern der beiden Kunstsammler würde dieser Landschaftsbezug durch Bildwerke und Skulpturen ergänzt, die dort auf Konsolen verschiedener Höhe ruhen. Und so kehren Kleinman und Van Duzer den Gehalt des Wohnens in diesen Häusern in einer ähnlicher Beschreibung hervor, wie dies Wita Noack für das Haus Lemke tat : « The diagonal views through the lower-level windows in Haus Lange and House Esters function in this fashion and produce this form of contemplation. »609 Nicht zuletzt ist hierfür durch Mies’ gärtnerische ‹ Erweiterung › des Hauses Sorge getragen. Beim Haus Tugendhat, wenige Jahre später, wird er sein Programm ‹ Neuen Wohnens › weitgehend verwirklichen können – innen wie außen, allein und durch Unterstützung einer Landschaftsarchitektin. Das ‹ Geistige ›, das in der zeitgenössischen Rezeptionsgeschichte des Hauses immer wieder das hochtrabende Thema war, wird das erste Mal ‹ greifbar ›, in einer entscheidenden Diskussion, in der sich die Qualität des ‹ neuen Landhauses › konkret darstellt. Den Geist zum Zweck Haus Tugendhat empfängt seine Gäste mit einer etwas sonderbaren Postkartenansicht des Brünner Spielbergs. Die Gliederung des Baukörpers ist bestimmt von der visuellen Beziehung zu diesem entfernt liegenden Ort : Der Hauskörper formt ein Sichtfenster. Auch die Leser der hymnischen Rezension Walter Riezlers in der Zeitschrift Die Form vom 15. September 1931 bekommen eine Fotografie vorgestellt, auf der das Haus wie ein Objektiv agiert : « Blick über die Terrasse, links die Schlafräume, rechts die Garage »610, lautet die Bildunterschrift der erwähnten Aufnahme. Barry Bergdoll hat bemerkt, Besucher wie Passanten an der Schwarzfeldgasse 45 fänden sich einer « surrealen »611 Landschaft gegenüber, da der umgrünte Stadtberg mit seiner imposanten Festung ohne Vorder- und Mittelgrund in einem dreidimensionalen Bildraum kadriert wird. Eine Schranke, in früheren Skizzen für das Haus ein Rasenstreifen, trennt den überdachten Zugangsbereich des Hauses von der Terrasse vor den privaten Rückzugsräumen. Von dort schaut der Bewohner allerdings über den weitläufigen Garten, durch Baumkronen

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hindurch – diese Ansicht wäre weniger befremdlich, verdeutlichte hingegen ebenso die Idee dieses Hauses : Es ist ein ‹ Belvedere ›. So hat man diese Gegend einst auch bezeichnet. Der Plan Hauptmann von Scheibenhofs, den er von der Stadt Brünn, ihren Vorstädten und der umliegenden Gegend im Jahr 1815 erstellt hatte, zeigt am Perimeter des Wohnhauses Tugendhat einen elegant geschwungenen, bewaldeten Hügel. Der nördliche Bereich des in etwa Nord-Süd verlaufenden Hügelzuges wird ‹ Belvedere › genannt und gehört zum in der westlichen Ebene gelegenen Augarten. Unter Kaiser Joseph II. im Jahr 1786 als erster öffentlich zugänglicher Park Mährens angelegt, befindet er sich nördlich des befestigten Stadtzentrums, an der Großen Neugasse. Gemeinsam mit dem in der Mitte des 19. Jahrhunderts vom Wiener Ringstraßen-Architekten Ludwig Förster errichteten Casino-Gebäude wird er im formalen Stil gestaltet und in Parzellen geteilt. Am Fuß dieses Belvederes geht er in einen landschaftlichen Teil über, um sich schließlich im Hügelrücken und Wald mit wenigen Wegen zu verlaufen. Auf dem Stadtplan aus dem Jahr 1914 ist der Augarten bereits nach Süden gewachsen, die gründerzeitliche Blockrandbebauung Brünns hat nach Norden aufgeschlossen. Eindrücklich ist die Veränderung des parzellierten Hangs, der sich in eine von parkähnlichen Gärten gegliederte Fläche verwandelt hat. Östlich des Hügelkamms, am Areal dieses hervorragenden Wohngebiets, unweit der Parkstraße und der städtischen Blockrandbebauung, entsteht um 1860 eine der ersten Anlagen mit Siedlungshäusern – wahrscheinlich nach dem städteplanerischen Entwurf des Wiener Architekten Heinrich von Ferstel. Für die Architektur zeichnet der lokale Baumeister Josef Arnold verantwortlich. Die herrschaftlicheren, ungefähr auf halber Höhe des Hangs, inmitten dieser neuen städtebaulichen Zone errichteten Häuser tragen die Bezeichnung « in den Gärten »612. Dort steht auch die Villa Tugendhat. Sie wird allerdings an den oberen Rand einer großen Gartenparzelle geschoben, auf noch mehr Aussicht bedacht. Dutzende Skizzen Mies van der Rohes, durch die er zur endgültigen Hausgestalt findet, aber auch die geschäftliche Korrespondenz sind heute verloren.613 Unten, an der Drobného-Straße, liegt die secessionistische Villa der Eltern Grete Tugendhats wie ein ungleiches Pendant. Alfred Löw-Beer

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hat die von Alexander von Neumann erbaute Villa im Jahr 1913 gekauft ; der Villa straßenseitig gegenüber liegt ein großer Eislaufteich – gemeinsam mit der prächtigen Auffahrt zum Haus sowie der monumentalen, spiegelsymmetrisch gegliederten Außenanlage stellt es noch heute ein prächtiges Ensemble dar, vor allem eben durch den mächtigen Garten, an dessen oberem Ende das Haus von Grete und Fritz Tugendhat zwischen Juni 1929 bis zum Einzug im Dezember 1930 errichtet wird. Zu diesem Zeitpunkt liegen noch große Flächen jenseits der Schwarzfeldgasse brach, im Südosten eröffnet sich aber schon die Aussicht auf das historische Zentrum der blühenden Industriestadt Brünn. Dorthin wird gewohnt. Diesen Eindruck hat Mies als entscheidend erkannt. Tatsächlich wendet sich der massive, in den Hang geschobene Baukörper vom Brünner Wohnviertel Cerná Pole ab, liegt unspektakulär, wenn nicht gar nachlässig-eingeschoßig an der Straße, bis zu der sich die Garage auf einer Hinterfüllung des abgegrabenen Geländes vorschiebt. Die weißen, glatten Wandflächen, das Dach – zum oberen Rahmen des erwähnten Fernblicks avanciert –, die nüchterne, mit quadratischen Platten belegte Terrassenfläche, eine mit Chrom umfangene Kreuzstütze, all das bildet eine abstrakte Komposition mit hochgerichtetem Kamin. Nur ein ungewöhnliches Treppenhaus, hinter dessen gerundeter, raumhoher Verglasung sich das hölzerne Eingangstor versteckt, weist auf verborgene Wohnqualitäten hin, hat man es nach Betreten des Grundstücks erst entdeckt. Mies setzt gegenüber seinen jungen und offenen Bauherren durch, was ihm in Krefeld nicht gelungen ist : Die Türen reichen im ganzen Haus vom Boden bis zur Decke, die Bewegung der Bewohner fließt ohne Schwellen von Raum zu Raum. Die Bedenken der Bauherren, das Holz der großen Türen könnte sich werfen, zerstreut Mies durch den Hinweis auf die Qualität des Brünner Handwerks. Nur kleinere Änderungen am Entwurf sind notwendig, die Tugendhats von seinen Plänen offenbar rundum überzeugt – schließlich waren auch bei ihnen nostalgische Nippessachen verpönt. Offenbar legte man auf herkömmliche architektonische Repräsentationsformen großen Reichtums keinen besonderen Wert.614 Das konnte man sich leisten, denn das parkähnliche Grundstück und auch das Haus selbst waren das Geschenk der Eltern Tugendhat.615

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Sie zählten zu den wichtigen Industriellenfamilien Mährens und unterstützen das junge Ehepaar großzügig – mit einem Haus, das dem neuen Selbstverständnis gebildeter Bauherren ganz zu entsprechen schien. Walter Riezlers Artikel, bestückt mit einigen von Mies freigegebenen Schwarz-Weiß-Abbildungen, wird unter dem nüchternen Titel Das Haus Tugendhat in Brünn veröffentlicht. Neben der Eingangssequenz, der gartenseitigen Dachterrasse samt einer halbrunden Sitzbank mit Treillage – von Mies’ Mitarbeiter Sergius Ruegenberg detailliert gezeichnet –, daneben eine zarte Schinkelsche Laube, beides auf den Špilberk, die Kirchturmspitzen der Stadt und den üppigen Garten ausgerichtet, widmen sich die Aufnahmen dem außergewöhnlichen Wohntrakt : Wie eine Glaszelle, auf der abgesenkten Wohn-Ebene vor fremden Blicken geschützt, von der grünen Raumschicht des dichten Wintergartens an der Schmalseite, vom tiefer liegenden, dichten Garten an der Längsseite des Hauses ‹ umzingelt ›, mutet dieser an. Der Bauherr selbst, ein Hobbyfotograf, liefert die für die Verortung des Bauwerks am Grundstück zentrale Aufnahme. Sie steht im Kontrast zu den von Mies’ freigegebenen Schwarz-WeißFotografien des Hauses, die er professionell in Auftrag gab. Fritz Tugendhat lichtet die große Trauerweide in pittoresker Farbigkeit ab – durch ihre leichte Unschärfe wirkt sie auf seiner Fotografie wie ein Gemälde. Unter diesem prächtigen Baum hat sich die Familie eingefunden. Die Stimmung ist sichtlich gelöst, nichts deutet auf jene Atmosphäre hin, die heutige Besucher in einem der Schlüsselbauten der so genannten Klassischen Moderne befallen mag : Der ‹ wohnliche › Eindruck ist entwichen. Riezlers Beitrag in der Form spricht vom « Geistigen »616, das Mies hier im Haus einer der vermögendsten Familien Mährens zu räumlichem Ausdruck gebracht habe. Man hatte sich seinen Architekten gut ausgewählt : « Da wir eine unbestimmte Vorstellung von Licht, Luft, Klarheit und Wahrheit hatten – gingen wir zu Herrn Mies »617, äußert sich Fritz Tugendhat. Seine Worte stammen aus der durch die Nachwirkung dieses Artikels ausgelösten, berühmten Debatte, die in mehreren Folgebeiträgen in der Form ausgetragen wurde. Es ginge um jene ‹ Wahrheit ›, die aus den vier genannten Begriffen heraussticht, nicht dazu zu passen scheint zum kanonischen Dreiklang – wobei statt ‹ Klarheit › natürlich das Wort ‹ Sonne › in der Begriffskette stehen sollte. Aber so war das auch gar nicht

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‹ Empfang mit Fernblick ›, Haus Tugendhat in der Form

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gemeint. Riezler nähert sich den Haus geradezu aus Abneigung gegenüber jener Architektur, die bei der « Hygiene »618 bereits halt mache. Das Haus scheint ein Desiderat beim Autor einzulösen, wenn er kritisch von einer « Wohnmaschine » spricht, zu der das moderne Haus nach Ankündigung Le Corbusiers tatsächlich geworden sei. Er würde « schon da und dort vorhersehen, dass das Endergebnis dieses ‹ Fortschritts › schließlich nichts anderes als eine gigantische Langeweile sein wird, die, wo immer sie auftritt, Symptom der seelischen Verödung ist. »619 Doch ergänzt Riezler seine Kritik um die spätere Selbstkorrektur des Schweizer Architekten. Le Corbusier wendet sich – um auf eine von ihm angestoßene Entwicklung einzuwirken? – mit einer Frage an sein Publikum, um diese sogleich selbst und schlagkräftig zu beantworten : « Wo beginnt die Architektur? Sie beginnt dort, wo die Maschine aufhört. »620 Mit Riezler spricht nach Lotz ein zweiter Zeitzeuge jene ominöse ‹ Geistigkeit › an, die man mit Mies’ Bauten mittlerweile zu identifizieren gewohnt war : « eine Geistigkeit allerdings, die sehr neuer Art, sehr ‹ gegenwartsgebunden › ist und die daher von dem Geist, der in Räumen irgend einer früheren Epoche herrscht, wesentlich verschieden ist. Es ist schon der ‹ Geist der Technik › – aber nicht im Sinne jener oft beklagten engen Zweckgebundenheit, sondern im Sinne einer neuen Freiheit des Lebens. »621 Um die « Freiheit des Lebens » ginge es diesem « neuen Wohnen », das er überraschenderweise mit dem Sakralen in Beziehung setzt.622 Das Haus, erstmals mit wandgroßen, vollständig im Sockel absenkbaren Glasscheiben ausgestattet, sommers wie ein offener Pavillon in luftige ‹ Einheit › mit dem ihn umgebenden Raum gesetzt, realisiert – ohne Einschränkung des Raumprogramms, durch finanzielle Mittel oder stilistische Vorlieben – einen Gegenort zur Simmelschen Stadt der Überforderung, der rationalen Ordnung, der Organisation der modernen Massengesellschaft. Und doch ist auch dies kein Ort der Untätigkeit. Diese ‹ Geistigkeit › meinte nicht : Freiheit als Freizeit. Sie setzt sich nicht ab von der Stadt, sondern ist ihre Konsequenz. Durch seine Exklusivität bleibt das Haus Tugendhat neuerlich ein Haus ohne direkte Nachfolger im Werk Mies van der Rohes. Es dauert nicht lange, und Riezlers Darstellung trifft auf heftigen Widerstand, der selten so deutlich und so prominent geäußert wurde.

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‹ Auf der Lichtung › des Hauses Tugendhat (Bleistift auf Papier, 20 × 29 cm)

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Er betrifft eine ‹ geheime › Botschaft, die seinem Text eingeschrieben war. In einer politisierten Debatte sollte er noch den « gescheitesten Marxisten »623 vom neuen « Raumgefühl » des Hauses überzeugen. Ihr Adressat war Roger Ginsburger, mit dem Riezler in Paris über dieses Haus bereits diskutiert hatte und der ihm im Folgeheft schriftlich antworten wird – offenbar ohne das Haus selbst besucht zu haben. Ihm ging es auch nicht um die konkreten Raumqualitäten, sondern um Prinzipielles. Ginsburger, der sich explizit zum materialistischen Geschichts- und Gesellschaftsbild des Marxismus bekennt, wiederholt interessanterweise die bereits bei Boullée diskutierten, ‹ psychologischen Argumente › gegen die ästhetische Erfahrung, um so den Luxus des Hauses zu geißeln, der sich in der riesigen Glaswand beispielhaft kristallisiere. Im ‹ Geistigen › hingegen will er nichts anderes als einen soziologisch begründeten Distinguierungswunsch der herrschenden Klasse entdecken : « Wir Marxisten ziehen nicht diese oder jene Form vor, weil sie neu oder weil sie eindrucksvoll ist. Wir versuchen wirtschaftlich und zweckmäßig zu arbeiten, um mit möglichst kleinem Aufwand möglichst große Leistung zu erzielen. Das schiefe Dach wäre uns ebenso angenehm wie das flache, wenn es ebenso nützlich und wirtschaftlich wäre. »624 Sieht man von Ginsburgers marxistischer Gesinnung ab, bleibt die Frage bis heute virulent, wie Architektur Bedeutung verliehen werden könnte. Ob man von den drängenden sozialen Fragen der Zeit absehen dürfe, das Mögliche vor Augen, die Möglichkeiten eines ‹ neuen Wohnens › praktisch erforschend. Riezler verteidigt Mies in seiner Replik freundlich wie bestimmt, indem er solch physiologischen Bedürfnissen, auf deren Ebene sein Diskussionspartner gerne stehen bliebe, die ‹ Wahrheit der Kunst › gegenüberstellt, denn das Haus Tugendhat sei ein Kunstwerk. Das verneinen auch die Bauherren nicht, die nach der ersten Begegnung mit Mies meinten, einem « wahren Künstler »625 begegnet zu sein. Nachdem sie das Haus von ihrem Architekten überreicht bekommen haben, lassen sie nichts Gegenteiliges verlauten : Der vermögenden Schicht gehörten die Tugendhats durchaus an – ihren Formen und Formeln wollten sie mit diesem Haus entfliehen.

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Blick in die ‹ Ferne › (Fotografie: Fritz Tugendhat)

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‹ Lebendige Konkretheit › (Fotografie: Fritz Tugendhat)

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‹ Anschauung › (Fotografie: Fritz Tugendhat)

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Mies als Gärtner Mies selbst hat Brünn im September 1928 besucht und ist begeistert von der Fernsicht und dem gründerzeitlichen Park der elterlichen Residenz. Ein östlich am Hochpunkt des Gartens gelegenes Sommerhäuschen weist auf die Attraktivität des Standorts hin. Auf einer Perspektive seines Büros mit der gartenseitigen Ansicht des Neubaus ist es noch Teil des Ensembles. Er wird erst während der Fertigstellung des Hauses abgetragen : Dieses hält die höchste Stelle nun selbst besetzt. Auch ein Schirm aus Bäumen umgibt das Grundstück, in den 1930erJahren sollten weitere Bäume – Platanen, ein japanischer Pagodenbaum, eine Trauerweide und auch Haselnusssträucher – gepflanzt werden,626 um sich zu den vorhandenen Eichen, Eschen, Linden, Pappeln und Nussbäumen zu gesellen. Als Bestandteile des Entwurfs erscheinen auf einer beeindruckenden perspektivischen Darstellung indessen eine große Trauerweide vor dem Haus und ein Ahornbaum vor dem Wintergarten. Die Trauerweide ist in so charakteristischer Weise gezeichnet, dass man sie gleich als solche identifiziert. Unter den Materialien des Mies van der Rohe-Archives befindet sich ein Auszug aus dem Katasterplan. Er zeigt die Gesamtliegenschaft, somit auch das heute durch Teilung des Grundstücks nicht mehr zusammengehörige Wegenetz. Die Pläne aus Mies’ Büro befassen sich nur etwa mit dem oberen Viertel des Gartens ; bestehende Bauten und die formale Gartenanlage auf der Nordseite des Elternhaus werden nicht berücksichtigt. Zwar wird das Haus Tugendhat an das bestehende Wegsystem angeschlossen wie an lebensspendende Schläuche, der landschaftliche Garten steht aber offensichtlich nicht weiter in Bearbeitung. Ein einziger Plan der 1981 verstorbenen Brünner Landschaftsarchitektin Grete Roder-Müller ist im Archiv des Museum of Modern Art erhalten geblieben. Auch bei diesem Bauwerk kooperiert Mies also mit einer Landschaftsarchitektin auf die ihm eigene Weise – nun aber in einer wirklichen Zusammenarbeit. Wieder scheint er die Expertise der Schwesterdisziplin ernst zu nehmen, die Grundidee zur Gartenanlage aber selbst und vorgängig zu entwickeln, gemeinsam mit dem Entwurf des Hauses. Die Nutzung des Villengartens liegt in seinem Fokus, einige erhaltene

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Skizzen aus seiner Hand kümmern sich sogar um den gärtnerischen Nahbereich des Hauses. Diese Haltung ist bereits bekannt. Wie Premysl Krejcirík und Kamila Krejciríková in ihrem Artikel über den Garten des Hauses Tugendhat nahelegen, war der Kontakt zwischen Roder-Müller und Mies über Artur und Moritz Eisler hergestellt worden, deren Baufirma man für das Haus engagiert hat. Ihr Bruder wiederum, Architekt Otto Eisler, arbeitete mit der Gartenarchitektin zusammen. Die deutschstämmige Roder-Müller war in den Jahren 1920 bis 1921 an der Lehranstalt in Berlin-Dahlem, danach, bis 1927, im Botanischen Garten in München beschäftigt. Wie Foerster in Deutschland, zählte sie zu den führenden Verfechterinnen mehrjähriger Staudenpflanzungen in der damaligen Tschechoslowakei. Da von diesem Projekt keine Pflanzpläne, nur eine mit ihrem Namen versehene Darstellung des Gartens im Maßstab 1: 500 erhalten geblieben ist, bleibt die Zusammenarbeit zwischen Landschaftsarchitektin und Architekten weitgehend im Dunklen. Geht man davon aus, die gartenseitige Perspektive aus dem Berliner Architekturbüro und ein Plan der Umgebung des Hauses im Maßstab 1: 100 sind dem Engagement Roder-Müllers vorausgegangen,627 führt sie vor allem mehrere Reihen Trockenmauern zwischen der Rasenfläche und dem geschotterten Vorplatz auf Höhe des Austritts der großen Freitreppe ein, wo Mies nur ein simples Staudenbeet vorgesehen hat und kümmert sich sozusagen um die Details – wie etwa Neupflanzungen. Beim Vergleich ihres Plans mit einem Lageplan aus Mies’ Büro ist auf jenem der Gartenarchitektin nicht nur die alte Gartenhütte verschwunden, sondern die Wegführung des landschaftlichen Bestandsgartens leicht verändert, die Trauerweide von neuen, geschwungenen Wegen umgeben, das Haus gartenseitig durch seitliche Pfade erschlossen – für den Spaziergänger würde es sich eindrucksvoller darstellen als von der Straße aus, denn erst im Garten tritt es als imposanter Körper auf. Ein Weg zweigt zum locker befestigten Platz unter der Trauerweide ab, der durch seine Anbindung über eine kleine Gartentreppe und die große Freitreppe als Zentrum des Gartens gelten kann. Mies’ eigene Intention scheint umgesetzt : Auch seine Perspektiven messen der Trauerweide diese Rolle zu, die Fritz Tugendhat fotografisch belegt. Durch die verblüffende Janusköpfigkeit des Hauses – das straßenseitig wie das Nebenge-

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bäude einer konventionellen Villa gewirkt haben muss, gartenseitig aber in seiner Dreigeschoßigkeit die Topografie betont – ist die gestalterische Idee einer Gartenlichtung zum eingangs beschriebenen Spiel mit dem fernen Bild eines Berges hinzu getreten. Das Haus bindet sich an einen mächtigen Baum ; seine heiter-gelockerte Stimmung ist durch den vegetabilen Schleier gesichert, der es von der Straße abschirmt und auf eine Lichtung setzt. Mies hätte die alte Wegführung im Park wohl weitgehend belassen. Mag sein, er fühlt sich auch nicht kompetent, das Haus an ein Wegsystem anzuschließen, dessen Raffinement ihm ja in der Lenné-Meyerschen Schule in Potsdam begegnet ist – wie auch seiner Gartenarchitektin. In ihrem Gartenplan finden sich zudem farbige Beschriftungen für wenige, aber gezielte gärtnerische Eingriffe : « Terrassen und Trockenmauern » steht an der Stelle des bereits beschriebenen, südostseitigen Bereichs unter dem Wohnraum ; mit « C » bezeichnet sie die dortigen Staudenpflanzungen direkt vor dem Austritt der breiten Freitreppe, die auf einen geschotterten Vorplatz mündet ; als « D » wird das nördlich gelegene, größere und frei schwingende Staudenbeet bezeichnet – auf Höhe der Trauerweide treffen diese Bereiche zusammen und betonen einmal mehr diese Nahtstelle ; mit « A » wird das sogar von Mies skizzierte Geviert eines Platanenhains mit 16 eng gesetzten Bäumen betitelt, der an der Nordwestseite – zwischen dem nahen Nachbarhaus und dem Küchentrakt – angelegt werden sollte. Mies’ Vorschlag für eine Pergola an dieser Stelle und ein kleines Wasserbecken sind bei Roder-Müller nicht mehr vorgesehen. Der Buchstabe « B » steht für das Garagendach, das offenbar ebenfalls begrünt werden sollte. Eine erklärende Legende ist auf dem Plan nicht zu finden. Unterschiede zwischen dieser gärtnerischen Feinplanung und den Ideen des Architekten rücken angesichts der von Mies offenbar an seine Kollegin weitergegebenen Grundidee allerdings in den Hintergrund. Die detaillierte Ausformulierung der Bepflanzung der Beete, die Wahl der Blumen, Stauden und Sträucher spielt in Mies’ Skizzen keine Rolle. An diesem Punkt eröffnet sich ein gestalterischer Freiraum für Roder-Müller. Der Architekt geht auch diesmal von einer räumlichen Typologie aus, die das gewünschte Zusammenspiel von Haus und Umraum ins Werk

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setzt, jene Staffelung aus Haus, Garten, Landschaft, die in verschiedenen Projekten und Variationen bereits aufgetreten ist. Mies beschäftigt sich beim Haus Tugendhat wieder mit Gestaltungsvorschlägen für geometrisch gegliederte, hausnahe Gartenräume. Seine Grundintention und sein räumliches Verständnis bestätigen sich in den erhaltenen Skizzen, die zu den wenigen ihrer Art in seinem zeichnerischen Korpus zählen. Für die Terrasse und den Garten fühlt er sich – wenn schon nicht für die Bepflanzung – en détail zuständig, wie bereits um die Mitte der 1920er-Jahre etwa bei den Häusern in Krefeld oder auch beim Haus Wolf in Guben. An einem steilen Hang gelegen, heute bis auf Rudimente zerstört, wird dort die markante Topografie Teil der Hauskomposition, das Mauerund Bodenmaterial Ziegel zur nüchternen Vereinheitlichung der Terrassenräume mit dem Haus herangezogen. Eine perspektivische Skizze für den erwähnten Hain im nordöstlichen Nahbereich des Hauses Tugendhat sieht einer Darstellung des Wolf’schen Senkgartens täuschend ähnlich. Auf Fotografien scheint das dortige, quadratische Beet tatsächlich nur mit einer einzigen, streng geometrisch angeordneten Pflanzensorte bestückt. Vergleicht man es mit dem prüde wirkenden Garten des zehn Jahre älteren Hauses Werner, rückt es noch weiter in die Nähe der ‹ fünf Projekte ›. An seiner Loggia und an den Balkonen wird ersichtlich, wie die Deckenplatte des Landhauses aus Backstein ausgesehen haben könnte – wo also das reduzierte Vokabular von Mies’ Projekten der 1930er-Jahre ihren gebauten Ursprung hat. In Brünn schwingt sich hinter Mies’ Zeichnung eines hausnahen Beetes der hohe Baumgürtel empor. Er wird als gegeben angenommen, wie die Topografie und der Fernblick. Ein überliefertes Gespräch mit der Landschaftsarchitektin aus dem April 1969 legt nahe, dass sie Mies’ Intentionen gut kannte und stützte, dass man sich darüber ausgetauscht hat.628 Der « Platz unter der Trauerweide », wie der Ort im Gartenplan Roder-Müllers heißt, bestätigt sich in ihrer Erzählung als Zentrum des Gartens. Mies scheint sogar den Grundriss des Wohngescho ßes an der Trauerweide auszurichten : Der Makassar-Wandschirm umfängt mit seinem Halbrund nicht nur den auf diese Weise um eine ‹ Schale › erweiterten Esstisch, sondern scheint direkt auf ihren Stamm zu reagieren. Die

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dahinter verlaufende Trennwand zwischen Küche, Dienstbotenkomplex und dem Wohnbereich der Familie Tugendhat teilt das Haus annähernd in zwei etwa gleich große Hälften ; dort befindet sich auch der Austritt der gewendelten Treppe, über die man den Wohnsaal betritt. In der Tiefe des Raumes gelegen, wird er von einer hinterleuchteten Glaswand aufgewertet. Nur auf den ersten Blick abseits gelegen, durch einen Vorhang vom Wohnbereich separierbar, rückt der Tisch ins Zentrum des Hauses : Er ist fest im Boden verankert, wie sein Gegenüber, die Trauerweide, die im Erdboden wurzelt.629 Andernorts hat der Ahornbaum die Dimensionierung des Hauses und die Ausrichtung am Grundstück beeinflusst, ist es doch an der südöstlichen Hausseite bis auf wenige Zentimeter an ihn herangerückt, sodass im Nordwesten – zum nachbarlichen Grundstück – gerade genug Platz bleibt, um den Garten direkt von der Straße zu erschließen und Nebenräume und Dienstbotenwohnung zu belichten. Die charaktervolle Trauerweide aber fällt im Oktober 1980 einem Sturm zum Opfer, der sie entkront. Eine ähnliche dialogische Wirkung kommt im Innenraum der Onyxwand zu, die die Breitseite des Wohnraums vor dem Wintergarten annähernd in der Mitte teilt und entlang des verchromten Stützenpaars verläuft. Mit ihr ist ‹ Natur › direkt im Wohnraum präsent, hier sind die morphologischen Kräfte der Steinwerdung zu kristallinem Ausdruck verfestigt. Grete Tugendhat berichtet in ihren Erinnerungen, einem aus dem Jänner 1969 im Mährischen Museum in Brünn überlieferten Gespräch : « Als Sohn eines Steinmetzen war Mies von Kindheit an vertraut mit schönem Stein und liebte ihn besonders. Es ließ nachher im Atlasgebirge lange nach einem besonders schönen Onyxblock für die Onyxwand suchen und überwachte selbst genau das Zersägen und Aneinanderfügen der Platten, damit die Zeichnung des Steines richtig herauskomme. Als sich allerdings nachher zeigte, dass der Stein durchscheinend war und gewisse Stellen der Zeichnung auf der Rückseite rot leuchteten, wenn die untergehende Sonne auf die Vorderseite scheine, war das auch für ihn eine freudige Überraschung. »630 Es erstaunt also nicht, dass der Architekt im Stein vielleicht die Idee der ‹ Struktur › schlechthin erkannt haben mag : Das Organische dieses an sich toten Materials wäre ein Symbol seiner ‹ Konstruktionsform ›.

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Mit dem durch seine Aderung ‹ sprechenden › Stein wurde er nicht nur im Familienbetrieb vertraut, sondern auch im Aachener Dom. Die Pfeiler des Oktogons der ehemaligen Pfalzkapelle Karls des Großen wurde mit großen Tafeln ‹ beschlagen ›. Noch in der späten Erinnerung des Architekten aus dem Jahr 1968, dem Jahr vor seinem Tod, ist diese Erfahrung als Moment ersten Gewahrwerdens architektonischer Wirkungen präsent :631 « Welches natürliche Gefühl spricht aus ihm? [ …] Wo finden wir einen solchen Reichtum in der Struktur? Wo finden wir mehr gesunde Kraft und natürliche Schönheit als hier? »632 Stein, der erst entdeckt und aus der Natur gesägt werden müsste, um danach neu gefügt und im architektonischen Raum platziert zu werden, wo er sein Innenleben präsentiert und zur überraschenden Erfahrung wird. Grete Tugendhats Erinnerung betont zudem Mies’ Freude über diesen vorzüglichen Bauplatz mit Aussicht, die Begeisterung des Ehepaars über die Anmutung des Hauses Wolf in Guben, das er ihnen bei einer ersten Unterredung in seinem Büro Am Karlsbad im September 1928 vorführt. Auch das Haus Tugendhat hätte ein Backsteinbau werden sollen. Die Wichtigkeit der ästhetischen Qualitäten des Baumaterials innerhalb einer strengen Struktur ist gerade durch die Abkehr von diesem Vorhaben belegt, da es « in Brno keine schönen Klinker gab und auch keine Maurer, die sie tadellos hätten setzen können. »633 Ein Besucher des Hauses übersieht den hinteren Bereich des Wohnraums mit Schreibtisch und Klavier nach Austritt aus besagtem Treppenhaus sofort ; dort schließt eine vorerst uneinsichtige Bibliotheksnische an. Abends dient der Platz vor der warmen Onyx-Scheibe als Rückzugsort, der intensive Bezug zum Außenraum wird durch den Wintergarten mit einer von Pflanzen belebten Tiefenschicht gefiltert.634 Durch Spiegelungen und Reflexionen kunstvoll einem Gemälde, einer Wandmalerei ähnlich, verwächst hier Imaginäres mit Realem, Außenwelt mit Innenwelt. Hier entfaltet sich seine Bildwirkung durch den Eindruck der gedeihenden Pflanzen. Die Weise ihrer Wahrnehmung ändert sich durch den gebrochenen Lichteinfall im räumlichen Filter des Glashauses, das sich durch Blüten färbt und belebt. Eine Fotografien Fritz Tugendhats deuten an, dass die Hausbewohner diese Wirkungen auf ähnlich starke Weise empfunden haben. Auch Barry Bergdoll misst dem Wintergarten

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für die Stimmung große Bedeutung bei : « Der ganze Raum wirkt wie ein Kaleidoskop wechselnder Spiegelungen und Lichteffekte. »635 Das Naturgeschehen im Haus, der Eindruck, den ihre Dynamik und wandelnden Gestalten auf den Bewohner macht, wird verstärkt : Als wäre die Natur in verschiedenen ihrer ‹ Lebens-Stufen › in diesem Haus versammelt, spricht Kenneth Frampton bei der Onyxwand wiederum von ihrer Versteinerung zu Stein.636 Das Glashaus fungiert – so besehen – als Mittler zwischen dem Kristallinen der Onyxwand und dem Organischen der dort umsorgten Pflanzen, das Glas – eine amorphe Flüssigkeit – als Zwischenglied und Brennspiegel. Da die Pflanzen dort in Töpfen wachsen, stellten sie ein pars pro toto der freien Natur dar. Eine Geschichte verschiedenartiger Naturnähe wird hier räumlich erzählt, eine Raumfolge, der großen Dreiteilung der Landschaft nicht unähnlich, liegt hinter dem Gewächshaus doch der Garten. Die Glasfront des Wohngeschoßes würde sich allerdings zur Abendstunde nochmals wandeln – ein dünner, beigefarbener Rohseide-Vorhang vorgezogen, die Spiegelung des Innenraums in der dunklen Nacht verhindert und für ein intimeres ‹ Stück › gesorgt. Neben der Wichtigkeit der ausgewachsenen Trauerweide im Außenraum, der ‹ Achse › des Hauses, spricht Roder-Müller in ihren Erinnerungen dezidiert von der Idee einer « betonten Leere »637, nach der man im Garten gestrebt habe. Das räumliche Schema, Mies’ prägnante und wiederholt angewandte Raumstaffelung, liegt nun offen vor Augen : Eine große Rasenfläche sollte im Mittelgrund, hinter geometrischen Beeten liegen. Sie würde an die landschaftliche Organisation des parkähnlichen Areals anschließen. Mies scheint auch dort Maßnahmen vorgesehen und dessen Verdichtung angestrebt zu haben – auf den Wegen hätte man dann in der Tiefe des Gartens verschwinden können, die vielfältigen Aussichten vom Haus wären um Durch- und Einblicke in die Ferne und in den Garten selbst erweitert, seine Intimität durch Strauchgruppen und zusätzlich gepflanzte Bäume an den Grundstücksgrenzen und entlang der Wege verstärkt. Und so verstärkt Müller-Rodes Gartenplan dort, wo sie die Wege und die Grundstücksgrenze mit gewellten Linien – daher mit neuen Pflanzungen – umfängt, Freiflächen, die Mies’ Intention einer betonten Leere Ausdruck verleihen. Immer wieder würden sich auch von

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dort – der Lichtung – Fernbezüge zum Gegenpol Spielberg darstellen. Die Rolle der Familie für die industrielle Entwicklung Mährens und das Geschehen der Stadt bliebe präsent ; die visuelle Verbindung zum Spielberg bindet das Wohnen an die größere Geschichte des Landes. Über den Garten korrespondiert das Haus schließlich auch mit seinem Gegenpol an der Parkstraße, der elterlichen Villa am Fußpunkt des Hanges. Von der Schwarzfeldgasse aber wendet sich das Haus nicht einfach nur ab. Man müsste hinuntersteigen statt hinauf in die Belle Etage. Doch dieses Hinabsteigen-Müssen in die eigentlichen Wohnräume, die unerwartete Öffnung des Hauses zum Garten, das sich von der Öffentlichkeit dabei nicht abwendet, wohl aber dem profanen Anschluss an das Straßennetz den Rücken kehrt, ist ein bewusster Schritt zur Korrespondenz des Wohnens mit ‹ Natur › und ‹ Geschichte ›, zur Kontemplation ihrer Zusammenhänge. Die prägnante Grundidee der Lichtung ist etabliert. Sie liegt im ‹ Mittelgrund ›, von dem aus man in die ‹ Ferne › schaut.638 Im neuen Haus « Kann man im Hause Tugendhat wohnen? », so lautet jene entscheidende Frage, die Justus Bier in einem Folgebeitrag der Form stellt. Sie erst löste die bekannte Debatte um dieses Haus aus, nicht das Zwiegespräch Riezlers mit Ginsburger. Bier, Mies wertschätzend, hält an den Qualitäten des kurz zuvor errichteten Barcelona-Pavillons fest, um von dort aus nach Brünn zu blicken. Er wurde ohne anderen Zweck, als der Repräsentation eines Landes temporär zu dienen, errichtet ; er käme ohne « großartige Pathetik »639 aus. Auch bei einem modernen Wohnhaus, das mit ähnlichen gestalterischen Mitteln entworfen worden sei, wäre jegliches Pathos fehl am Platze. Den « musikalischen Raumorganismus », den Riezler im Haus Tugendhat entdeckt haben will, den neuartigen, großzügigen, durch Vorhänge, Nischen, wertvolle Materialien und besondere Farbgebung modulierten Wohnraum befragt Bier schlichtweg auf seine Praktikabilität – ohne gesellschaftspolitischen Unterton. Was ihm jedoch wie ein « Paradewohnen », als Neuinterpretation der historischen Repräsentationskultur erscheint, fasst Riezler geradezu als die Aufgabe der Zeit auf : das Funktionale

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hinter das Geistige zurückzustellen. Es sind die Bauherren, die Antwort geben auf diesen Streit der Fachwelt. Er wird aus der Praxis des Wohnens beantwortet und bekommt umso mehr Gewicht. Auch der impliziten Kritik, dass hier ein Architekt nur eine Art Modellhaus entwickelt und seinen idiosynkratischen Wünschen Ausdruck verliehen habe, widersprechen die beiden vehement. So meint Grete Tugendhat, dass sie in diesem Haus mit « weitem Horizont [ …] die Räume nie als pathetisch empfunden »640 habe, « wohl aber als streng und groß – jedoch in einem Sinn, der nicht erdrückt, sondern befreit. » Sie bestätigt die – bereits mehrfach diskutierte – seltsame Offenheit, die Mies seinen Räumen verschafft : « So wichtig auch die Verbundenheit von Drinnen und Draußen ist, so ist der Raum doch ganz geschlossen und ruht in sich –, die Glaswand wirkt in diesem Sinn vollkommen als Begrenzung. » Ihr Mann wiederum, in einem eigenen Brief an die Redaktion der Form, bestätigt den ästhetischen Gehalt dieses Wohnens nicht nur als Fotograf, wenn er seine Stellungnahme mit folgenden Worten beschließt : « Und wenn ich die Blätter und Blüten betrachte, die wie Solitäre von gemäßen Hintergründen sich leuchtend abheben, wenn ich diese Räume und alles, was darin ist, auf mich als Ganzes einwirken lasse, dann empfinde ich deutlich : Das ist Schönheit – das ist Wahrheit. Wahrheit – man kann verschiedene Anschauungen haben, aber jeder, der diese Räume sieht, wird früher oder später zu der Erkenntnis kommen, dass hier wahre Kunst ist. »641 Noch Daniela Hammer-Tugendhat, die in diesem Haus ihre Kindheit verbracht hat, beschreibt diese neue Wohnvorstellung anhand der von Riezler skizzierten Entwicklung – von der Behaglichkeit des englischen Hauses zu einem geistigen Bedürfnis in der modernen Großstadt –642 und ordnet das Haus Tugendhat somit in die Genealogie des Landhauses ein. Walter Riezler bezog sich am Schluss seiner Rezension noch auf den Artikel Kult und Form Paul Tillichs, der in einer früheren Ausgabe der Zeitschrift erschienen ist. Durch Hinweis auf dessen Überlegungen suchte er seiner Vorstellung ‹ geistigen Wohnens › weiteren Rückhalt zu verleihen.643 Zur Eröffnung einer Ausstellung in Berlin am 10. November 1930 hielt der 1965 in Chicago verstorbene, protestantische Theologe und

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Religionsphilosoph einen Vortrag – er liegt seinem Artikel zugrunde. Am Ursprung des religiösen Kults sieht Tillich eine Ergriffenheit am Werk, die eben nicht vom Alltäglichen und dessen Gestaltung abgesondert werden dürfe : « Wenn Feiertag, dann nicht als Tag neben und über den anderen, sondern als Tag, in dem die anderen Tage zu sich selbst, zu ihrer eigenen Tiefe, zu ihrem eigenen Sinn kommen. »644 Über die Bedeutung der Formen dieses Alltags heißt es : « Wenn kultische Gestaltung, so muss sie repräsentative Gestaltung dessen sein, was im Alltag geschieht, aus der sinngebenden Tiefe des Alltags heraus. Darum ist jede Kultform abzulehnen, die neben unserem Alltag, unserer Arbeit, unserer Ruhe, unserem Wohnen und unserem Wandern, unserer Wirtschaft und unserer Politik, unserem Erkennen und unserem Schauen steht. [ …] Sie darf nur ein Pathos haben, das Pathos der Profanität .» Die Forderung nach der Gegenwärtigkeit, nach Wirklichkeit des Geistigen im Alltag, findet sich bei Riezler und auch bei Mies selbst wieder. Tillich meint : « Die Mächtigkeit der Dinge ist ihre Sachlichkeit .»645 Das erinnert an Muthesius’ Forderung, die er aus der Sachlichkeit des englischen Landhauses gewinnen wollte, aus der Purifizierung der Form, die er im neueren Kunstgewerbe ausgemacht hat. Sie wäre einmal in der ‹ rhythmischen ›, ländlichen Kultur aufgehoben gewesen, in der die Gegenstände des Alltags noch in unmittelbarer Verbindung zum Gebrauch standen, zur Versorgung, zu lebenserhaltenden Tätigkeiten. Wenn der ‹ kritische › Theologe Tillich die Erneuerung der Liturgie aus dem Zeitgefühl und aus den Formen der Zeit anstrebt, stellt er die Beziehung des Wohnens zur Konzentration und Tiefgründigkeit des religiösen Gedankens her. Dies aber galt bereits für die Rittersche Landschaftstheorie, in der die Kontemplation aus dem ‹ Bezirk › des Religiösen herausgelöst und mit einem neuen Sinn für das Konkrete und Bedeutsame der Natur verbunden ist. Womöglich hat sich in die ästhetische Naturerscheinung etwas vom Wunsch nach Unmittelbarkeit gerettet? Die in der Landschaft elementar erscheinende Natur hätte mit einer Art ‹ Verdeutlichung › zu tun. Auch die einfachen Grundformen gestalteter Gegenstände, die Tillich in seinem Beitrag kommentiert, wirken nicht abstrakt – so ‹ reduziert › sie sein mögen. ‹ Abgezogen › ist von ihnen lediglich jede Form der Stilisierung, die die Massenfabrikation maschinell zu erzeugen und

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schnell den Wünschen, nicht den Bedürfnissen der Menschen anzupassen weiß, wie Lewis Mumford 1930 unter dem vielsagenden Titel ‹ Modern › als Handelsware aus New York berichtet.646 Im puren Gegenstand – der nicht als Produkt der Maschine, aber auch nicht als Kunsthandwerk verehrt würde, findet diese Kritik ihren positiven Gegenpol. Walter Riezler, der die ‹ lebendige Konkretheit › des Wohnens im Brünner Landhaus bis zu Paul Tillichs Steigerung des Profanen ins Sakrale durch Ergriffenheit verfolgt, zeigt in seiner Zeitschrift unter dem Titel Einheit der Welt Fotografien von Albert Renger-Patzsch, die auch Schwarz verwendet, um seine Gedanken zu illustrieren. Es sind Gegenüberstellungen von ‹ Maschine › und ‹ Naturform ›, ‹ Berechnung › und ‹ Wachstum › ; « dabei bleibt immer noch der Gegensatz bestehen, dass im Falle der Natur das frei sich selbst überlassene Spiel der Kräfte und die Zufälligkeiten der äußeren Einflüsse, von Sonne, Wind und Wetter, und von der Umgebung zu einer unendlichen Vielfältigkeit von Formen und Licht führt .»647 Das Kunstwerk könne zwar nicht wachsen wie die lebendige Natur, sei aber für den « schauenden Menschen » da – um auf die Schönheit des Wachsenden zu zeigen. Nicht durch Nachbildung der Natur erfülle es sich, sondern in der Präzision der « technischen Form ». Das Lebendige würde sichtbar, meint Riezler, im freien Spiel zwischen Natur, Konstruktionsform und landschaftlichem Eindruck im Mies’schen Wohnraum : im « Raum des menschlichen Geistes »648. Grete Tugendhat schließlich hat erklärt, eben nicht im Bierschen Festpavillon zu wohnen, denn « gerade dies ist der Sinn der Mies’schen Arbeit, gegenüber der Notdurft den primär geistigen Sinn des Lebens jedes einzelnen von uns wieder in sein Recht einzusetzen. »649 Mit Tillichs ‹ profaner Sakralität › – oder, besser : ‹ sakraler Profanität ›? – ist man vielleicht der Bedeutung des Geistigen für das moderne Wohnen näher gekommen : Einer, durch die sorgsame Gegenwart der Dinge, durch ein Aufmerken im Alltag, zum Ritus gewordenen Praxis. Mies’ Brünner Bauherrin erinnert sich an ein frühes Zusammentreffen mit ihrem Architekten. Nach mehr als 30 Jahren ist sie noch derart davon bewegt, als dieser damals mit der Kraft eines Credos dem jungen Ehepaar verkündet hat, « man könne die idealen Maße eines Raumes nie berechnen, man müsse einen Raum fühlen, wenn man in ihm stehe

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« Einheit der Welt », Walter Riezler in der Form, 1927

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und sich in ihm bewege. »650 ‹ Ergriffensein ›, das stand für Tillich am Beginn der religiösen Erfahrung, das verknüpften Riezler und das Ehepaar Tugendhat gleichermaßen mit der geistigen Strenge, mit der offenen Behütetheit dieses Hauses. Die ‹ unzensurierten › Fotografien aus dem Archiv Fritz Tugendhats verleihen ihren Aussagen visuelle Evidenz : Dass nämlich das Wohnen in heiterer ‹ Spannung › zur Natur lebendig würde, sich konkretisierte.

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Lebendige Konkretheit

Die entzweite Welt

Schon im Disput um das Haus Tugendhat wurde auf ein technisch hochgerüstetes Bauwerk hingewiesen : Auch aufgrund seiner Heizungsund Lüftungsanlage, seiner Beschattungseinrichtung, den Motoren zur Absenkung der beiden Glastafeln etc. handelt es sich um ein außergewöhnliches Wohnhaus. Ein guter Teil des Sockelgeschoßes setzt sich aus Räumen zusammen, die noch heute zum Erstaunen der Besucher führen – in etwa so, wie der Vergleich erster Computer mit heutigen, ob der raumgreifenden Größe ihrer Vorgänger. Die Rede ist vom Raumsystem unter dem eigentlichen Wohnhaus, Räumen zur Beheizung, Reinigung und Kühlung der Luft, zur Unterbringung von Motoren, Boilern der Brünner Firma Strebel, Brennkesseln, Wärmetauschern, Filteranlagen etc. Sie bedingen ein Labyrinth, durch das man spazieren kann – meist ohne sich zu bücken. Durch Seilzüge und antik anmutende Hebel der Steuereinheit, mit der sich die Luftmischung der Innenräume regulieren lässt, vermeint man sich in eine andere Zeit versetzt. Aufgrund ihrer Mächtigkeit, öligen Abstraktheit und Größe muten diese Einrichtungen wie die Verkörperung des technischen Geistes der 1920er-Jahre an.651 Doch greift Mies auch auf einfachere Mittel zurück, wie sie seit jeher in Häusern existierten : Ein Tank aus Stahlblech sammelt im hinteren Kellerabteil das Regenwasser wie eine altertümliche Zisterne – zum Gießen der Pflanzen und zum Waschen der Wäsche. Erstmals setzt Mies raumhohe Senkgläser ein. Der motorbetriebene Seilzug zur vertikalen Bewegung der monumentalen Glastafeln nimmt im Sockelgeschoß einen eigenen, schmalen Schacht in Anspruch ; die Schwere der Gegengewichte versinnbildlicht das zur Apparatur gewordene Spiel von Tragen und Lasten, ohne die Eleganz, Frische und Freiheit, mit der darüber das plötzlich ‹ gelüftete › Wohngeschoß auftritt. Die gläsernen Wände verschwinden auf für Laien unerklärliche Weise im Boden. Direkt hinaustreten ins Freie kann man im Wohnraum aber nicht. Dazu müsste man sich erst auf die Terrasse begeben, den Gang wenden, erneut kehren, die Freitreppe hinabsteigen, um auf gewachsenem Grund

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anzugelangen. Auf Wunsch der Bauherren bringt Mies ein schütteres Geländer an ; man fürchtet, die Kleinkinder könnten abstürzen. Es ist die damals fortschrittlichste Technologie, die dieses pavillonartige Gefühl im Wohnraum erst ermöglicht. Eine Technik, die nur in ihrer Wirkung in Erscheinung tritt, deren Logik verborgen bleibt. Erstmals soll hier eine mechanische Lüftung in einem europäischen Wohnhaus angewandt worden sein, erstmals eine Eisen-Skelettkonstruktion – beim Wohnblock in Stuttgart hat Mies diese Bauweise bereits erprobt. Der Architekt versteckt auch die rohen Stützen hinter einer Ummantelung aus glänzendem Chromblech. So verbirgt sich die Aufgabe des Tragens und wird doch thematisiert – durch Verkleidung und durch Spiegelung werden sie zu einem ‹ Negativabdruck › der getragenen Last, wenn der von ihnen ‹ eröffnete › Raum im Spiegelbild wiederkehrt. Sie werden zur abstrakten, kannelierten Säulen ohne Basis und Kapitell, die den Schritt von der Symbolform zur Wirkungsform, die Einschreibung von Bedeutung in das Tragwerk prägnant verdeutlichen. Kenneth Frampton spricht vom « Gefühl des relativ körperlosen Tragens »652. Beim Hauseingang und auf der dem Essbereich angeschlossenen Loggia wird der Chrommantel patiniert, sodass das Messingblech Bronze ähnelt.653 Blickt man an einem hellen Nachmittag vom Garten aus auf die Stützenreihe hinter der großen Glasfront des Wohngeschoßes, scheint sie im Inneren zu strahlen, während die beiden äußeren Stützen schwerer wirken und ihre Aufgabe nur erdulden. Sie thematisieren die Schwere durch das Spiel mit dem Tageslicht – bei gleicher Form und gleichem Material, nur durch Abänderung der Oberflächenbearbeitung, auf ganz andere Weise. Meist aber verschwindet das Tragwerk einfach hinter Putz. Die gläserne Raumkapsel des Wohngeschoßes ist auch ein ‹ Geschenk der Technik ›, wie Le Corbusier meinte – sieht man vom Raffinement ab, mit dem Mies sein ‹ Vokabular › hier versinnlicht, in Stein, Holz und Stoff konkretisiert. Bei der projektierten Erweiterung des Hauses Henke in Essen aus dem Jahr 1930 legt ein Gebäudeschnitt im Maßstab 1: 10 die massive Maschinerie offen, durch die auch dort eine verglaste Wand zur Gänze im Boden verschwinden würde. Die mit dem Lineal akribisch gezeichnete Perspektive – einem technischen Plan gleichkommend – gibt den abstrakten Ausdruck des einseitig vollends geöffneten Raumes preis.

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Zubau Haus Henke, Essen 1930 (Bleistift auf Transparentpapier, 43 × 52 cm)

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Hier fehlt das ausgesuchte Material der Brünner Innenräume, hier fehlen Möbel, Pflanzen, Bewohner – der Fernblick. Die scharf gezeichneten Raumkanten, der rigide Plattenbelag des Bodens, die technische Anstrengung der neun Meter langen, kahlen Scheibe – es wird deutlich, wie wohl in keiner anderen Zeichnung aus Mies’ Büro, dass diese Architektur unvollständig bliebe ohne ihren Gegenpol. Und so ist es nicht verwunderlich, dass dieser Zubau den tiefer liegenden Garten Ernst Henkes erschlossen hätte, wenn er in den heute noch verfügbaren Plänen auch nicht gezeigt wird. Es erscheint dem Betrachter, als fehle ganz offensichtlich das Wesentliche : Diese Architektur macht so keinen Sinn. Daniela Hammer-Tugendhat hat in einem Gespräch erwähnt, ihre Mutter wäre mit dem technikkritischen Denken Martin Heideggers in Berührung gekommen – etwa um jene Zeit, da Fritz Neumeyer die entscheidende Wegmarke in Mies’ Schaffen gesetzt hat : um das Jahr 1926. Ein Jahr später erscheint Heideggers frühes Hauptwerk Sein und Zeit. Barry Bergdoll ergänzt diese Zusammenhänge durch weitere biografische Daten : « Grete Tugendhat hatte vier Jahre in Berlin verbracht, wo sie zum Kreis des Kunsthistorikers Eduard Fuchs gehörte, der das im Jahr 1911 von Mies in nüchternem Klassizismus errichtete Haus Perls gekauft und 1928 bei Mies einen Anbau in Auftrag gegeben hatte. »654 Es ist von nicht geringer Faszination, dass in diesem Sommer erste Überlegungen für eines der einflussreichsten Häuser der Klassischen Moderne angestrengt wurden, im Spannungsfeld von Mies’ traditionellem Frühwerk, seinen Avantgardeentwürfen, die er den präsumptiven Bauleuten zeigen wird, in der Berliner Atmosphäre eines Kunstsammlers, inmitten jener Villengegend, die auf Mies’ Hausgedanken – und die Reformierung der Gartenkunst – entscheidenden Einfluss genommen hat. Grete Tugendhat wird – im Sinne Heideggers – bei einem Kunstwerk vom « ins Werk gefügten Scheinen »655 des Schönen sprechen. Die konkrete und lebendige Wirklichkeit zur Anschauung zu bringen, das käme einem architektonischen Werk zu – in für Mies durch die Schriften von Scheler und Schwarz ebenso aufgeladenen wie in Romano Guardinis Denken präsenten Begriffen. Ab Mitte der 1920er-Jahre bietet sich ihm mit dem theoretischen Konzept der Gegensatzlehre durch Vermittlung Landsbergs und Guardinis die Möglichkeit zur geistigen Absicherung der

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‹ Wohnen im Haus Tugendhat › um 1930 (Fotografie: Atelier Desandalo)

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technischen Konstruktion :656 « Guardini brachte das Gegensatzdenken in ein System, das Mies deshalb ohne Zögern hinnehmen konnte, weil es die widersprüchlichen Positionen, die er selbst bezogen hatte, als Teil des Ganzen bestätigte und dadurch legitimierte »657, attestiert Neumeyer. Der entscheidende Begriff in Guardinis Buch Der Gegensatz lautet : ‹ LebendigeKonkretheit ›. Mies wird in seinem Text Über die Form in der Architektur die aus seiner Lektüre gewonnenen Ideen auf seine eigene Vorstellung des Neuen Bauens anwenden : « Wir werten nicht das Resultat, sondern den Ansatz des Gestaltungsprozesses. Gerade dieser zeigt, ob vom Leben her die Form gefunden wurde oder um ihrer selbst willen. »658 Das erwähnte Diktum ‹ Nur Lebensintensität hat Formintensität › stammt aus diesem kurzen Manifest. Es wird in der Werkbund-Zeitschrift Die Form veröffentlicht und ist in Form eines Briefes direkt an dessen Herausgeber, Walter Riezler, gerichtet. Es belegt, wie sehr Mies bereit ist, Thesen aus fremden Disziplinen auf die virulenten Fragen der eigenen Profession zu beziehen. Das ‹ Leben › wird dabei, wie Neumeyer herausgestellt hat, zum Korrektiv des Denkens und somit auch der technischen Rationalität.659 Dabei identifiziert dieser die Gegensatzlehre jedoch ganz direkt, als ein Art Entwurfskonzept, mit den als gegensätzlich konzipierten Motiven des Barcelona-Pavillons : den Sockel als Ausdruck der im Typus gegenwärtigen Geschichte gegenüber der Dynamik von frei stehenden Wandscheiben ; den schweren Onyx und Vert antique gegenüber der gläsernen Raumhülle ; den (unregelmäßigen) Raster der Travertinplatten gegenüber den aus Norm-Stahlprofilen geschweißten Stützen mit dem Querschnitt eines griechischen Kreuzes, umhüllt von Chromblech. Neumeyer deutet die Architektur durch ihre scheinbaren kompositorischen Widersprüchen als Verwirklichung der Gegensatzlehre. Die ‹ Lebensintensität › der Großstadt, die auch Guardini zufolge nach Ganzheit strebe, beruhe auf dem Aushalten der Gegensätze zwischen ‹ Intuition › und ‹ Ratio › – einem Begriffspaar, das die Entzweiung von ästhetischer Erfahrung und technischer Rationalität in der Moderne wiederholt. Er hebt den Primat des Lebens hervor, das die hierbei zum Ausdruck kommende Polarität überspannen soll : « Die ganz oder auch nur maximal reine formale Erkenntnishaltung kann das Lebendig-Konkrete

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nicht erfassen. Sie ist auf das Formal-Allgemeine gerichtet ; das Konkrete aber ist individuell gebundene Allgemeinheit, gefüllte Formalität. So greift jene Erkenntnishaltung das Konkrete nicht oder doch erst, nachdem sie es begrifflich zerstört hat. »660 Seine Biografin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz macht diesen Kerngedanken Guardinis besser verständlich : « Die Forderung wäre, ein ‹ lebendiges Dasein › zu lernen, in dem die bloße Form des wissenschaftlichen und die ebenso einseitige bloße Fülle des intuitiven Erkennens in ursprüngliche Konkretion zusammentreffen oder nach der methodischen Trennung der aufs höchste gespannten Gegensätze sich wieder zusammenschließen. Dieses überrationale und überintuitive Denken nennt Guardini Anschauung. Es gelingt wiederum augenblickshaft in einem Gleichgewicht der Erkenntniskräfte. »661 Die von Mies gefundene Formulierung einer ‹ organischen Ordnung ›, die er zwischen der ‹ mechanistischen › und ‹ idealistischen › angesiedelt hatte, klingt darin an. Mit dieser Übersetzungsleistung aus der Philosophie ins theoretische Rüstzeug eines Architekten wird das Bauen als geistiger Auftrag befestigt. Wie sich zeigt, ist die Tätigkeit eines übergeordneten Lebens, einer ‹ Lebendigen-Konkretheit › durchaus mit der Vernunft im Kantischen Sinn zu vergleichen. « Vernunft »662, so hält Mies an anderer Stelle fest, sei « der oberste Grundsatz allen menschlichen Handelns. » Im Vorwort zum Buch seines Weggefährten Ludwig Hilberseimer, The New City, bezieht er sich mit diesen Worten explizit auf die Ordnung der urbanen Gemeinschaft. Eine Stadt habe dem Leben zu dienen, meint er, den verschiedenen darin möglichen Lebensweisen, und sie wäre – wie er selbst anhand der Konzeption des IIT-Campus mit seinen landschaftlichen Außenräumen vorführt – ein Widerspiel geometrisch-klarer Formen mit den Formen der Natur. Geht es Guardini um eine übergeordnete, aus der Spannung der Gegensätze gewonnenen Zugangsweise zur Wirklichkeit, so konzentriert sich der Begründer der Gegensatzlehre, Nikolaus von Kues, bei der Erklärung seiner Theorie des ‹ Zusammenfalls der Gegensätze › auf eine gänzlich neue Erkenntnisweise. Der Verstand stellt auch bei ihm lediglich die Werkzeuge zur Verfügung, um die Gegensätzlichkeit der Dinge zu entdecken und ihre höhere Einheit einsehbar zu machen :

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« Der Verstand muss den Widerspruch immer vermeiden, sonst redet er Unsinn. Aber die Vernunft denkt zusammen, was der Verstand trennen muss. »663 Er habe ein Augenleiden, schreibt Abt Bernhard von Waging nach einem Jahr des Drängens im Jahr 1455 an seinen gelehrten Freund Cusanus, Fürstbischof von Brixen. Dieser sitzt, gezwungen durch die politischen Umstände, in den Dolomiten auf Burg Buchenstein fest. Sein Antwortschreiben bedauert entschuldigend die Verzögerung jener lange angekündigten Schrift, die dieses kurieren sollte. Das Werk mit der ‹ Sehkraft › einer Brille sollte den Mönchen vom Tegernsee deutlicher machen, was sie zu verstehen wünschen, was er ihnen längst versprochen hatte : den Schlüssel zur Gegensatzlehre : De Beryllo.664 Tatsächlich ist der Beryll ein Stein, der zur Herstellung von Brillengläsern in Verwendung war – der Name für die kleine Schrift ist kein Zufall, die Unschärfe der Sicht, die Unklarheit der Gedanken soll sie in didaktischer, leicht leserlicher Form aufheben. Doch die coincidentia oppositorum kann sich nur in Rätselbildern auflösen. So kann es freilich nicht wirklich um ein technisches Hilfsinstrument gehen, sondern den Hinweis auf jene Aufgabe, die eine der Verstandestätigkeit übergeordnete Vernunft für den neuzeitlichen Menschen – ob Mönch oder nicht – einnehmen müsste. Nun gelte nicht mehr der Grundsatz der aristotelischen Logik, dass nämlich ‹ A › nicht zugleich ‹ Nicht-A › sein könne. Die Vernunft, meint Nikolaus Krebs, der als Niklas Kryffts 1401 an der mittleren Mosel geborene Kaufmannssohn, rangiere höher als der Verstand. Damit präferiert er nicht nur den christlichen Glauben, den er als späterer Kardinal und Freund Eneo Silvio Piccolominis amtlich vertritt, sondern eine neue Erkenntnisweise : Auch durch sie sollten Intuition und Sinnlichkeit zusammengeführt werden. 1488, nach dreißig Jahren des Wartens, geht das Werk in Druck. Doch die Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Yale University enthält ein Dokument mit der Datierung : « Finis 1459. octava Januarii Deo laus ».665 Die Mönche dürften ihre Schrift lange vor dem allgemeinen Lese-Publikum erhalten haben. Ihr Drängen hat sich gelohnt. Die Lehre der Koinzidenz dient den Gläubigen als Gotteserkenntnis, verspricht sie doch, Gott auch in der Schöpfung zu finden und nicht

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alleine im Glauben : Die unmögliche ‹ Einheit der Gegensätze ›, die nur andeutbare Einheit, die Cusanus mit Figuren der Geometrie darlegt, aus denen die Vernunft erst weiteres schließen müsse, verweist bereits auf eine mundane, in dieser Welt erlebbare, wenngleich nicht verstehbare Ordnung – eine Ordnung, die sich später eben ästhetisch einstellen wird. Ruth und Dieter Groh haben in ihren erhellenden Aufsätzen darauf hingewiesen, was noch das Naturbild des 18. Jahrhunderts der Physikotheologie schuldet, wie sehr Gott noch in der Aufklärung gegenwärtig war. Kant beschäftigt sich in «Paragraph 85» der Kritik der Urteilskraft mit den Wundern der Schöpfung. Und wenn er dort schon kein probates Mittel erkennen kann, um auf Gott zu schließen, so bekennt Kant, beeindruckt vom Organischen, « doch in der Scheidung und neuen Zusammensetzung dieses rohen Stoffs eine solche Originalität [ …] anzutreffen, dass alle Kunst davon unendlich weit entfernt bleibt »666 – und spricht vom Naturzweck. Die vom Verstande der Natur unterlegte Kausalität genügt Kant dort nicht mehr, wo die lebendige Natur « von sich selbst Ursache und Wirkung ist ». Man verstehe sie zwar weiterhin « ohne Widersprüche », doch rational verstanden werden kann das Wunder eines Baumes nicht mehr, den Kant hier zum Gegenstand seiner Betrachtung macht. Auch im 15. Jahrhundert ging es nicht wirklich um die trüben Augen der Mönche, sondern um die Neugier an der ‹ Schau › des Unmöglichen, ausgelöst von den konkreten Wundern der dinglichen Welt. Schon bei Cusanus ist es die sinnlich lockende Natur, hinter der eine nie vollends sich entbergende Einheit liegen soll. Über den angeleiteten Zusammenklang von Verstand und Sinnlichkeit, die coincidentia oppositorum, würden wir indes ahnend sehen lernen. Cusanus begibt sich auf die Suche nach einem ‹ Grund › jenseits des Wissbaren, jenseits des Machbaren in einer langsam sich auflösenden theosophischen Weltordnung. Der metaphorischen Hilfsvorstellung einer Brille korrespondieren jene Darstellungen, die er schon in seinem bekanntesten Werk, De docta ignoranita, angewendet hat. Zwischen der Vielheit und Gegensätzlichkeit der Dinge der Welt müsse man quasi hindurchschauen, um eine tiefer liegende Vernünftigkeit, Ordnung des Lebens zu erfahren.667 Zieht man den scholastisch-christlichen Hintergrund ab, von dem er selbst sich erhebt und in die Neuzeit blickt, so

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findet man hier vielleicht einen ersten Schritt zur Feier des Konkreten – in einer philosophischen Tradition, auf die Mies sich indirekt beruft. Die faszinierende Natur spielt erneut ihre Rolle, denn « in noch deutlicherer Weise offenbart sie sich im Pflanzenleben selbst »668, meint Cusanus. Die Welt in ihrer Vielfalt als Ausdruck der Einheit der göttlichen Vernunft spricht ihre Bewohner direkt an, fordert sie zum eigenen Erleben auf : « Wenn du nämlich so die Erörterung fortsetzt durch Tastsinn, Geschmacks-, Geruchs-, Gesichts- und Gehörsinn und aufmerksam bedenkst, welche Erkenntniskraft jeder Sinn hat, wirst du alle Objekte in der sinnfälligen Welt finden, dass sie auf den Dienst der Erkenntniskraft hingeordnet sind. »669 Es durchherrscht die Welt des Lebendigen, Gewachsenen eine vorgängige Ordnung, dies aber erfordert die Benützung des Berylls, der sich nun nicht als durchsichtiger, glänzender Stein, sondern als Gleichnis darstellt.670 Der Kontemplation kommt eine entscheidende Rolle zu. Der Begriff leitet sich von der lateinischen contemplatio ab und wurde bereits im Spätmittelalter – in erweiterter Verwendung im 18. Jahrhundert – ins Deutsche übernommen, um die kontemplative Haltung gegenüber der Natur, einem Kunstwerk – eine Lebensweise zu beschreiben. Nicht nur ist der Zusammenhang dieser drei Bereiche – Natur, Kunst, Ethik – in diesem Kontext interessant. In der Definition der bedeutungsvoll aufgeladenen ‹ Anschauung › – oder eben ‹ Kontemplation › – als Versunkenheit und Beschaulichkeit scheinen Verinnerlichung und äußerliche Anregung miteinander zur ästhetischen Erfahrung vereint. In der Kontemplation ist ein in der Ferne Liegendes auf die Gegenwart des Beschauers bezogen. Immer wieder, schon bei Cicero, der das lateinische Wort für diesen Vorgang gefunden hat, den wiederum Francesco Petrarca übersetzt,671 geht es um die Verbindung des Menschen mit einem größeren Ganzen durch eine visuell-geistige Distanzüberbrückung.672 Das lateinische Wort contemplatio nun entspricht auch dem griechischen Begriff theoría, die Joachim Ritter von der religiös-geistigen Schau eines ungegenständlichen Objekts auf die moderne Landschaftserfahrung angewandt hat. Nicht zuletzt hat er über die Docta Ignorantia des Kirchengelehrten im Jahr 1925 promoviert.

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Das Spannungsfeld des unmittelbar, konkret Vorhandenen und des in der ‹ Schau › Erkennbaren liegt der Koinzidenz des Cusanus zugrunde. Sie wäre nicht begrifflich, nicht klassifizierend, übersteige daher die ratio ; sie wäre auch nicht rein sinnlich, beruht aber doch auf dem, was durch die Sinnenwelt gegeben ist. Er nennt den intellectus als das entscheidende Vermögen von visionärer Kraft, das die Enge des Verstandes zu überschreiten vermag.673 Entscheidend ist das bewegte Erleben, die auf Sympathie ausgerichtete Begegnung mit der Welt, sodass von einem kontemplativen Intellekt gesprochen werden kann.674 Kurt Flasch, Philosoph und Biograf des Gelehrten, meint : « Nicht nur die gesamte Tradition tritt in ein neues Licht ; wir blicken anders. »675 Avant la lettre wird also womöglich bereits die ‹ ästhetische Einheit › geprobt, für die erst in der Erkenntnistheorie des 18. Jahrhunderts ein systemtheoretischer Platz reserviert ist. In jenem ‹ Zusammenfall der Gegensätze ›, den man bei Kant im Wirken der Urteilskraft, im « freien Spiel der Vorstellungskräfte »676 in ähnlicher Weise finden mag, von dem Guardini 1925 in seiner Gegensatzlehre als « Gleichgewicht der Erkenntniskräfte » gesprochen hat und diesen Gedanken so an Mies vermittelt.677 In Guardinis Begriff ‹ Anschauung ›, dem darin ausgezeichneten Augenblickshaften der ausgehaltenen Gegensätze, die quer durch das moderne Leben verliefen, sich im Gegenspiel von Sinnlichkeit und Verstand im Lebendig-Konkreten aufheben sollten, schien die ästhetische Erfahrung mit anderen Worten wiederholt. Petrarcas Landschaft Die Erfahrung der Vielheit der Dinge als Einheit der Landschaft geht auf ein Ereignis zurück, das noch vor Cusanus’ Schriften liegt, weit vor der Etablierung der Raumkategorien Taegios und Bonfadios. Es handelt sich um Francesco Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux, den auch von Joachim Ritter zum Urerlebnis stilisierten Moment moderner Landschaftserfahrung. Von Petrarca sind Darstellungen überliefert, die ihn in der Enge seines studiolo zeigen, eingezwängt zwischen schweren, hölzernen Möbeln, dem Schreibtisch, der Sitzbank, Büchern in tiefen Regalen. Solche Por-

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träts wecken den Anschein mönchischen Rückzugs, hat er doch um 1328 die niederen Weihen erhalten und eine Schrift über die klösterliche Einsamkeit, De otio religioso, verfasst. Sie zeigen einen nachdenklichen und selbstbewussten Menschen an der Schwelle zur Neuzeit, einen Schreibenden und Lesenden, einen hommes des lettres. Petrarca gilt als der erste Humanist. Ist er heute aufgrund seiner Lyrik, etwa seines Canzoniere, in Erinnerung geblieben, war er ein literarisch hochgebildeter Denker, der die studia humanitatis betrieb, der sich der Antike zuwandte, um als Beobachter seiner Zeit die Lehren der mittelalterlichen Scholastik kritisch zu hinterfragen.678 Paul Oskar Kristeller hat für den « ersten Philosophen der italienischen Renaissance »679 festgehalten, er wäre « zugleich mittelalterlich und modern und blickte, wie er selbst einmal sagte, vorwärts und rückwärts zur selben Zeit, als stünde er auf der Grenze zwischen zwei Ländern. » Petrarcas Schriften zeugten von einem « Hang zu Einsamkeit und Melancholie »680, der auch den modernen Intellektuellen kennzeichne : « Er schreibt über die verschiedensten Dinge und Ideen, im Grunde aber immer über sich selbst, darüber, was er gelesen und empfunden hat. »681 Auf dem Land, ausgestattet mit dem kritischen Bewusstsein des frühen Städters, kommentiert er den Lauf eines zum Geschäft gewordenen städtischen Alltags, der sich bis tief hinein in die Nacht, den Morgen erstreckt, für unruhigen Schlaf sorgt.682 Ein Intellektueller im modernen Sinn, das ist Petrarca auch deshalb, weil ihn seine Zurückgezogenheit an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit, zwischen Stadt und Land, mit einem neuen Gefühl ausstattet : Er gilt heute als der Erste, der landschaftlich wahrgenommen habe. Er lebt eben nicht nur für sich, fokussiert allein auf die Aneignung antiker Gelehrsamkeit – jene Briefe Ciceros etwa, die er in Verona aus der Vergessenheit holt und ihn zu einer eigenen Briefsammlung anregen.683 Er ist kein bäuerlicher, kein ‹ ländlicher › Mensch. Die Gedanken des 1341 auf dem Kapitol zum poeta laureatus gekrönten, ehrgeizigen Dichters sind an einen fernen Ort geheftet, transzendieren den einengenden Raum der Schreibkammer. Das erwähnte Bildnis aus Padua zeigt ihn mit erstarrtem Blick, vor ihm ein aufgeschlagenes Buch, aus dem er aufschaut. Ein geöffnetes Fenster zu seiner Linken gibt den großartigen

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Prospekt auf einen steilen Berg im Bildhintergrund frei, vor dem sich einige Häuser lagern.684 In seiner Biografie weisen die äußeren Lebensumstände auf einen neuen Zug in der menschlichen Persönlichkeit hin, der paradigmatisch wird für den neuen Menschen : Dieser ist hin- und hergerissen, auf der Suche nach einer nicht mehr selbstverständlich gegebenen Ordnung.685 Petrarca selbst sieht sich in der Tradition das Odysseus, des fernlustigen Entdeckers.686 Dieser Urtypus des modernen Menschen brach in Dantes Divina Commedia aus der mythologischen Handlung aus, um bis ans Ende der Welt, hinter die Säulen des Herakles zu gelangen – geleitet von seiner weltlichen Abenteuerlust und Neugier, als die curiositas zwar keine Todsünde, aber doch eine Charaktereigenschaft war, die jene begünstige. Sein Freiheitsstreben muss Dante und Petrarca gleichermaßen fasziniert haben : « Bedenkt doch euren Ursprung, denkt, ihr seid / Nicht wie das Vieh! Und nie dürft ihr erkalten / Bei dem Erwerb von Kenntnis, Tüchtigkeit! »687 So spornt Odysseus seine Gefährten auf dem Weg in die verbotene nuova terra an, war bei Dante aber bereits in der Hölle angekommen. Petrarcas Rückzug aufs Land nimmt die Rolle eines immer wieder nur kurzen, eskapistischen Moments in einem Wanderleben ein. Sicher liegt in dieser eigentlichen Heimatlosigkeit und Loslösung von der Enge eines Ortes, der existenziellen Abhängigkeit von Grund und Boden, eine Wurzel der neuen Landschaftserfahrung, für die er als erster Gewährsmann gilt. So wie die Bilder in der frühneuzeitlichen Malerei erstmals Tiefe gewinnen, erstrecken sich Petrarcas Leben und Blick von der Stadt aufs Land und vom Land auf die Stadt bald vor der Weite eines unendlich gewordenen Raums. Er liest und schreibt mit dem Selbstbewusstsein desjenigen, der gern auf Reisen geht und sogar auf Berge steigt, einzig um die « Lust seiner Augen », « cupiditas videndi »688, zu befriedigen. Anders als die Referenzperson seines Briefes, der Macedonierkönig Philipp, der aus strategischen Gründen den Berg Hämos in Thessalien bestiegen hat – er wollte zwei Meere zugleich sehen –, anders als die ihm auf seinem Weg gipfelwärts kopfschüttelnd begegnenden Hirten – sie sehen keinen Sinn darin, höher hinaufzusteigen –, steigt Petrarca mit seinem Bruder am 26. April 1336 bis auf die Spitze des provenzalischen Mont

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Ventoux.689 Wir wissen von diesem Ereignis, denn er berichtet darüber durch besagten Brief an den Augustinerpater und Theologieprofessor Francesco Dionigi von Borgo san Sepolcro. Die Besteigung des moderaten Gipfels gilt vor allem in der deutschen Theoriegeschichte als Ursprung der modernen Landschaftserfahrung. Jacob Burckhardt erklärt in der erwähnten Kulturgeschichte der Renaissance : « Vollständig und mit größter Entschiedenheit bezeugt dann Petrarca [ …] die Bedeutung der Landschaft für die erregbare Seele », er wiederholte nicht nur die Antike, er erfasse das Land nicht nur rational, sondern « der Anblick der Natur traf ihn unmittelbar »690. Alexander von Humboldt verweist erstmals in seinem ab 1845 erscheinenden Kosmos auf dessen Bedeutung.691 In der Diskussion bis heute unterschiedlich bewertet bleibt, ob er tatsächlich den Schritt in Richtung eines modernen Naturverständnisses gewagt habe. Über Umwege am Gipfel angekommen, schlägt er nämlich – wie zufällig – eine berühmte Stelle in Augustinus’ Confessiones auf. Dieses kleine, « faustfüllende Bändchen allerwinzigsten Formats »692 hat er einst von seinem väterlichen Freund in Paris geschenkt bekommen. Augustinus bekennt darin, was Petrarca seinem Bruder am Gipfel nach genossener Fernsicht vorliest und folglich zur Umkehr anleitet : « Und es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren fluten des Meeres und die weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne, und haben nicht acht ihrer selbst. »693 Er beendet seine Lesung abrupt, steigt vom Berg hinab, in Selbstvorwürfe verwickelt. Diese Stelle wird ihm zur Mahnung, nicht an der Größe des Irdischen haften zu bleiben und darüber die göttliche Seele, sein Inneres zu vergessen, denn « neben ihrer Größe ist nichts groß ». Der körperlichen Anstrengungen des Aufstiegs – « unter der schweren Last der Glieder ausgeführt »694 – folgte nach kurzer Rast eine nur kurze Betrachtung der Ferne : « Zuerst stand ich, durch einen ungewohnten Hauch der Luft und durch einen ganz freien Rundblick bewegt, einem Betäubten gleich. »695 Die, bei der kunstvoll verfertigten literarischen Gestalt des Briefes sicherlich nicht zufällige, Parallele zwischen der Betäubtheit beim Blick in die Landschaft und dem Blick ins Buch – « Ich war wie betäubt »696 – eröffnet

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erst die volle Bergerfahrung. Ihre Bedeutung geht – in Analogie zur formalen Struktur dieses zentralen Briefes aus den Epistulae Familiares – nicht in purer Sinneslust auf.697 Karlheinz Stierle hat festgehalten, dass diese weltzugewandte Erfahrung von Natur in der scholastischen Philosophie wurzle : der Erfahrung der Konkretheit der Dinge. Der englische Franziskanermönch und in Oxford ausgebildete Philosoph Wilhelm von Ockham war bis zu seiner Flucht in den Jahren 1324 bis 1328 in Avignon als Untersuchungshäftling gefangen. Der junge Petrarca könnte mit ihm und seiner Position in Berührung gekommen sein. Im mittelalterlichen Universalienstreit stellen für den Nominalisten Ockham Begriffe nur noch Konzepte des menschlichen Geistes dar und habe kein ideelles Pendant mehr : « Man muss also ohne Einschränkung zugestehen, dass kein Universale eine Substanz ist, wie man es auch betrachten mag. Jedes Universale ist eine Intention der Seele, welche gemäß einer wahrscheinlichen Meinung sich vom Erkenntnisakt nicht unterscheidet. »698 Von diesem – heute selbstverständlich erscheinenden – Gedanken geht eine neue Ontologie aus, die den alten ‹ Ordo-Gedanken › durch die Auszeichnung der Faktizität der Einzeldinge ins Wanken bringt. Der Schritt zum Menschen als Individuum und zum Interesse an der Vielheit einer kontingenten Welt ist von hier aus nicht mehr groß. Der Erkenntnisakt wird nun dem Einzelnen zugemutet, er wird zum « natürlichen Zeichen des Menschen ; natürlich in der Weise wie das Stöhnen Zeichen der Krankheit, der Trauer oder des Schmerzes ist. »699 Der Rundblick vom Mont Ventoux in der ersten Hälfte des Trecento wäre demnach ein literarisch gewordener Fall eines neuen Sich-in-Beziehung-Setzens zur Welt ; das Land erscheint als Landschaft, wo sich die Vielheit der Dinge in der Einheit des Blickens zeigt. In der Entdeckung der Vielheit entdeckt Stierle gerade den « epochemachenden geistigen Habitus »700 Petrarcas. Die Welt in ihrer unerschöpflichen, überraschenden, auf keine Formel zu bringenden Vielheit mit eigenen Augen zu sehen ist für Petrarca neben dem Lesen der tiefste Genuss. Unablässig insistiert er auf dem videre, dem Sehen mit eigenen Augen, das Augustinus als voluptas oculorum, bloße Weltverfallenheit, verurteilt hatte. »701 Petrarca findet Befriedigung seiner Neugier am Vielen, die bekanntlich dort am

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besten befriedigt wird, wo sich vieles zeigt.702 Die vom Berg erlebte ‹ Horizontalität › der Welt ist verbunden mit der ausgezeichneten Position des individuellen Betrachters in der Höhe : vor ihm das neugierig erschlossene Land. In dieser Bergbesteigung, die in einer langen christlichen Tradition steht, bleiben religiöse und profane Motive nichtsdestotrotz miteinander verknüpft.703 Dem Sehen unterliegt eine mehrfache Symbolik vertikaler und horizontaler, realer wie spiritueller ‹ Sichten › : ins eigene Innere, in die ferne Welt. Selbstverständlich ist dieses eine, hier ausgezeichnete menschliche Sinnesorgan nur Stellvertreter für die Involviertheit der ganzen aufblühenden Sinnlichkeit des neuzeitlichen Menschen, Ausdruck und Symbol einer Freude an der vielfältigen Präsenz der Dinge, einer Welt, die zugleich rätselhaft und auf neue Weise unsicher geworden ist, weil ihr metaphysischer Grund sich zu verdunkeln begann.704 Stierle hält für den neuen Raum dieses Epochenwechsels fest, dass er in dem Maße ästhetisch werde, in dem er als physischer Ort zu interessieren beginne : « Der Theologisierung des Raumes im mittelalterlich-christlichen Entwurf einer aus der Erde hervorgehenden Welt antwortet die Ästhetisierung des Raumes auf ganz und gar unerwartete Weise, wie die cupiditas videndi einer neuen, unvorgreiflichen Leistung des Auges innewird, die gleichsam eine neue Metaphysik der Präsenz erschließt, in der Auge und Bewusstsein sich wechselseitig zu immer intensiverer Intensität steigern. »705 Im Widerstreit zwischen dem eigenen Gewissen – das sich in Petrarca durch Augustinus’ Hinweis auf seine göttliche Seele meldet – und der reinen Sinneslust vollzieht sich nun das Neuartige dieses Berg-Ereignisses. Es besteht in der Einbindung der Welt als sinnliche Erscheinung in die Selbstwahrnehmung und Selbstversicherung des Menschen. So summiert Petrarca bereits in den ersten Zeilen seines Briefes dessen eigentlichen Gehalt und drückt post festum keine Reue aus, wenn er ihn mit den Worten eröffnet : « Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht unverdientermaßen Ventosus, den Windigen nennt, hab ich am heutigen Tage bestiegen. Dabei trieb mich einzig die Begierde, die ungewöhnliche Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein kennenzulernen. »706

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Wollte man das Mont-Ventoux-Erlebnis als literarische Stilisierung auffassen, da es als historisches Ereignis angezweifelt wird,707 und zugleich auch als Grundstein einer modernen Philosophie der Landschaft, so ist umso bedeutender, dass sich die tatsächliche Kausalität der Ereignisse auch umkehren könnte, wie die Eröffnung seines Briefes bereits andeutet : Augustinus’ Confessiones waren Petrarcas ständiger Begleiter. Es könnte sein, er hat mit diesem Brief Antwort gegeben auf die Selbstzweifel am ‹ Entdecker ›, dessen Leben längst von der Lust an der konkreten Dingwelt bewegt war, der dabei aber partiell noch in der religiösen Welt des Mittelalters verhaftet blieb, der sich ‹ schuldig › fühlte, weil er, der Welt verfallen, seine ausschließliche Jenseitsgerichtetheit aufgab, nicht ‹ acht hatte seiner selbst ›. Doch hält ihn sein Charakter nicht bei der reinen Sinneslust : In typischer Unentschiedenheit zwischen Sinnenlust und Innenschau – beim Aufstieg zum Bergesgipfel noch getrieben von der Fernlust, beim Abstieg vollends in Selbstzweifel gehüllt, in sich selbst gekehrt – 708 verkehrt sich das religiöse Motiv in eine ästhetische Reflexionshandlung, die die Erkenntniskräfte auf neue Weise miteinander verknüpft. Der Gipfel wäre dann nicht nur ein räumlicher Wendepunkt, sondern verknüpfte das Außen, die Ferne, mit dem Innen, der unendlichen Seele als Echoraum moderner Individualität. Der Akzent im Brief läge letztlich nicht in der Bekehrung zur Seele als Raum der Innerlichkeit, auf die ja in der Person des Augustinus und dessen eigener Bekehrung durch die Lektüre der Apostelbriefe deutlich hingewiesen wird mit einer kunstvollen Wendung vom Sehen zum Hören des Gotteswortes.709 Es ginge vielmehr um den Zusammenhang von Innen und Außen, der eine Verbindung zwischen Geistigkeit und Weltlichkeit stiftet.710 Wertet man diesen Brief und das Erlebnis, das er festhält, nicht als eindimensionale Bekehrung Petrarcas zu Gott nach einem persönlichen Sündenfall, sondern als Erwachen eines modernen Individuums, dann findet Augustinus’ Sündeneingeständnis vor Gott ein Komplement in Petrarcas Wendung vom Raum zur Zeit. In eigentümlicher Verwandlung kehrt das christliche Erkenntnismotiv Gottes als Bewusstsein des eigenen Selbst wieder, das über die Kindheit bei Carpentras reflektiert.

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Augustinus eröffnet das zehnte Buch der Confessiones mit der Anrufung eines dialogischen Erkenntnisprozesses : « Erkennen will ich dich, der du mich erkennst, erkennen will ich dich, so wie ich erkannt bin. »711 Petrarca hingegen resümiert am Ende seines Briefs über sein bisheriges, unstetes Leben. Der erhöhte Ort, näher bei Gott, stellt sich dabei als ambivalent heraus, weil er zugleich hin- und wegführt von den realen Dingen, weil er zum Ort der Verschränkung zweier Blickachsen, ins Innere und in die Ferne, wird.712 Das ‹ Sehen › bleibt am Ende entscheidend – nicht das Hören auf das Gotteswort, das Petrarca nachliest, um die Bedeutung der literarisch inszenierten Situation zu steigern.713 Schließlich war auch Augustinus an der Vielheit erschaudert – an der Vielheit seiner Erinnerungen : « Groß ist die Kraft des Gedächtnisses, irgendwie, mein Gott, erregt sie Schauder, diese tiefe und unendliche Vielfalt! [ …] Was bin ich für ein Wesen? Ein unterschiedsreiches und vielgestaltiges Leben : gänzlich unermesslich! Sieh, ich laufe frei umher in den zahllosen Feldern, Grotten und Höhlen meines Gedächtnisses. »714 In Augustinus’ Confessiones wird das Gedächtnis zum imaginären Ort, an dem man sich zu verlieren droht. Petrarcas Brief hingegen gibt einen Rechenschaftsbericht seiner Zuneigung zur verführerischen Vielfalt der Welt – am Gipfel angekommen, dem Höhepunkt der ‹ Augenlust › und zugleich vertieft in die Schau der eigenen Innerlichkeit, die Leben und Taten reflektiert.715 So wird der Brief zum Zeugnis eines frühneuzeitlichen Individuums angesichts einer neuen Beziehung zur Natur, der es sich zuwendet, von der es sich abwendet – aus eigenem Entscheid. Das Wechselspiel aus Sinnlichkeit und Geistigkeit präformiert strukturell die ästhetische Erfahrung. Das Hin und Her zwischen Mittelalter und Neuzeit, für das Petrarca als Denker steht, korrespondiert am Mont Ventoux mit jenem Hin und Her, das zum Charakteristikum der reflexiven ästhetischen Erfahrung werden wird. Die Landschaft aber ist der Ort einer übergeordneten Einheit, die diese verschiedenen Modi der Weltzuwendung erst erfahrbar macht – in Distanz und Nähe zu den Dingen gleichermaßen.716 Der Essayist Joseph Hanimann fasst diesen Prozess des « Landschaftlichwerdens der Natur » in bündige Worte : « Fast scheint es so, als hätte die wissenschaftlich analytische Auf-Distanz-Setzung der Natur durch

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eine zweite, kontemplative Distanzierung kompensiert werden sollen. »717 Die gemeinsame Grundlage dieser doppelten Distanzierung aber ist ein Interesse am Konkreten, das in die Nähe des Wohnenden tritt. Das Segelboot Den Begriff ‹ Schau › verwendet Romano Guardini im Hinblick auf die am eigenen Körper konkret erfahrene organische Ordnung, die jener der Maschine entgegengesetzt sei. Sogleich treten weitere Gegensätze hervor, die er am eigenen Leib erfährt, wie Petrarca hunderte Jahre zuvor : « Die Einheit des Lebendigen enthält wohl auch diese maschinelle Ordnung ; sie erschöpft sich aber nicht darin. Sie ist nicht bloß aus Teilen zusammengefügt, sondern besitzt dazu noch Tiefenwirkung, und zwar zeigt die flüchtigste Beobachtung, wie er das lebendige Ganze von außen nach innen hereinnimmt : es nährt sich mit Stoffen und Kräften ; und sich von innen nach außen aufbaut : es wächst. »718 In seinem Buch Das Ende der Neuzeit aus dem Jahr 1950 spricht Guardini von der neuzeitlichen Natur als dem « unmittelbar Gegebenen »719, als « Gesamtheit der Dinge » und drückt dadurch einen Wertbegriff aus : « nämlich die für alles Erkennen und Schaffen verbindliche Norm des Richtigen, Gesunden und Vollkommenen, eben ‹ das Natürliche › ». « Bevor der Mensch etwas mit ihr tut », heißt es gleich darauf in einer entscheidenden Differenzierung. Die Zuwendung zu ihrer Konkretheit wäre nicht einfach nur eine Vorliebe für das Einfache, zivilisatorisch oder eben technisch Unverstellte. Bei Guardini wird daraus eine Handlungsaufforderung : Aus der Konkretheit der Welt entspringt nicht nur die Sehnsucht des modernen Subjekts, sich mit der  Natur  in ein richtiges Verhältnis zu setzen, sondern auch eine Antwort. Guardini nimmt in seinem Buch Der Gegensatz seinen Ausgang nicht allein beim Leib des Menschen, sondern bei seiner leib-seelischen Einheit, an der er erkennt : « Wir sind es ; und wir können gar nicht anders, alles Einzelne, was wir sind, was an uns und durch uns geschieht, auf diese Einheit zu beziehen : als Baustück, das sie aufrichtet, oder als Wirkung, die von ihr ausgeht. »720 In der Realität der modernen Welt fällt sie auseinander : « Bei der Maschine finde ich dies Verhältnis nicht. Da liegen

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alle Teile bloß neben- oder hinter- oder übereinander. Die Einheit des Lebendigen enthält wohl auch diese Ordnung ; sie erschöpft sich aber nicht darin »721, meint Guardini, und weiters : « Ich erfahre mich als Konkretes », « es ist lebendig », dieses Ich, in dem die « Akte » beginnen. Die beiden Pole, die in der landschaftlichen Ordnung verbunden werden könnten, lauten nun ganz deutlich : das Mechanische und das Lebendige. Den Zusammenhang findet Guardini in der menschlichen Selbsterfahrung. Als wollte er die Entwicklung der modernen Ausdifferenzierung rückgängig machen, spricht er von einem Versuch zu Unmittelbarkeit, einer Verbundenheit mit den Gegenständen der Welt, einem « Berühren, Tasten, Fassen »722, aus dem ein « Schauen » erwüchse. So ähnlich hieß es schon im Beryll. Der Theologe Guardini spricht von einem « Gefühl », davon, dass darin eine Erkenntnisquelle zu finden sei, die über den verdinglichenden Rationalismus zu stellen wäre und die Vernunft wieder zur Einheit führen könne, die im Mittelalter noch geherrscht hätte.723 So ähnlich hat sich bereits Mies geäußert. Nicht im Rückgang in eine ‹ Lebenswelt › sah Mies den Ausweg, sondern im Bau einer neuen Ordnung : Er setzt sich mit seinen Wohnhäusern in die Tradition jener Sonderbauten, jener Landhäuser und Villen, die vom Handlungsdruck und den Bedingungen der Großstadt nicht unmittelbar betroffen, ebenso aber aus dem agrarischen Nutzungsdruck der historischen Kulturlandschaft entlassen waren. Mies hat die Aufgabe der Formgabe dabei nicht mehr als Stil-Gabe begriffen, wohl aber die Bedeutungsgabe mit jenen architektonischen Mitteln verbunden, die aus ‹ Erfahrungsreichtum › zu ‹ Formintensität › führen würden. Dieser Aufgabe stellt er sich ganz konkret, sie bleibt nicht bloß Theorie. Das Leben als Ausgangspunkt des Bauens, so allgemein wie selbstverständlich diese Forderung klingt, hieße Widersprüche auszuhalten. In seiner Antwort auf eine Umfrage des Duisburger General Anzeigers von 1930 schreibt Mies : « Ja, letzten Endes ist eben auch die Schönheit an Wirklichkeiten gebunden, sie schwebt ja nicht in der Luft, sondern hängt an den Dingen und ist mit der Gestaltung der Dinge der Wirklichkeit unlösbar verknüpft. So wird eine neue Schönheit auch nur von den Schaffenden zu erreichen sein, die wirklichkeitsoffen sind. »724 In dieser Stellungnahme erwähnt er auch Augustinus’ Sprichwort von

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der « Schönheit als Glanz des Wahren » : der Schönheit des ‹ Nicht-Abzumessenden ›. Guardinis Gegensatzlehre dreht sich nicht direkt um die Landschaft als ausgezeichnete Erfahrung der ‹ Einheit der Gegensätze ›. Dafür hat er sein – auf Mies vielleicht einflussreichstes – Werk, die Briefe vom Comer See, reserviert. Aus ihnen notiert Mies sich endlich : « Es gibt eine ganz unberührte Natur, und die Sehnsucht danach ist selbst ein Kulturergebnis. Wirklich anzugehen beginnt die Natur uns erst, wenn sie anfängt, durchwohnt zu werden, wenn in ihr Kultur beginnt. »725 Neun Briefe schreibt Guardini vom Comer See. Der Addagletscher hat diesem die Form eines auf den Kopf gestellten ‹ Y › gegeben. Hier, umgeben von hohen Alpenpässen, gedeihen in mediterranem Klima subtropische Pflanzen : Palmen, Zitrusfrüchte, Oliven. Die Römer haben hier bereits gesiedelt und das Gewässer Larius Lacus genannt ; aus dieser Gegend stammen die Villendialoge des 16. Jahrhunderts. Guardinis Briefe erschienen von Pfingsten des Jahres 1923 bis zum Herbst 1925 in den Schildgenossen. Angeregt von einer tatsächlichen Reise an die norditalienischen Seen, in denen ihm eine Kulturlandschaft in Transformation erscheint, denkt er über den technischen Fortschritt nach : Autos und Fabriken begannen dieses seit Jahrhunderten « durchwohnte Land »726 zu zerstören – eine Natur, « vom Menschen her durchformt ». « Aufgefangen alles, umfangen von den wohlgebauten Massen der Berge. » So ist sein erster Brief ganz von der Traurigkeit eines Verlusts gekennzeichnet und doch : « Ich kann nicht ausdrücken, wie menschlich diese Natur ist, und wie man darin die Möglichkeit fühlt, Mensch zu sein in einem ganz klaren und doch unausschöpfbar tiefen Sinn. »727 Guardinis Italienreise ist keine von Naivität begleitete Flucht aus der Großstadt. Mit der Feststellung des Vergangenheitscharakters dieser agrarischen Kulturlandschaft gehen neu-alte Erkenntnisse einher, zugleich ihre Würdigung als Modell für die Zukunft. Denn die von Guardini vorgefundene, schwindende « Naturkultur » erscheint ihm ja urban, verfeinert – und darum nicht fremd, sondern anknüpfungswürdig und als Kehrseite der in seiner Gegenwart herrschenden Zerstörung. Nicht die unberührte Natur liegt ihm in ihren Rudimenten vor Augen, evoziert er

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vor den Augen seiner Leser. Es ist erneut die Kulturlandschaft, die der Mensch wieder erarbeiten müsse, denn « wirklich anzugehen beginnt die Natur uns erst, wenn sie anfängt, durchwohnt zu werden. »728 Hier, mit diesem Werk, in dieser Textstelle, findet Mies’ Auffassung Ausdruck und Rückhalt. Diese Stelle ist es, an der er aufgemerkt hat, die er sich notiert. Für Guardini wie für Mies wird die Natur erst ‹ wohnend › zur Landschaft und somit bedeutsam. In einer kleinen Geschichte verschiedener historischer Stadien durch den Menschen kultivierter Natur entwickelt Guardini die bereits bekannte Erzählung der Emanzipation von Natur durch Kultur zur Natur als Landschaft. Im kultivierten Landschaftsraum wäre Natur geborgen, zugleich durch ihre unterschiedlichen Kultivierungsgrade in synchroner Form präsent, zeigte ihre Eigenart und Selbsttätigkeit : als Ort des Aufenthalts und als Ort der ‹ Fremde › in einem. Aus der Wertschätzung eines ‹ Gegenraums › der Moderne kann erst das Gefühl für ihren Verlust erwachsen. Und so blickt Guardini eben nicht zurück, wie man anfangs beim Lesen der Briefe noch meint. Er fragt sich und seine Leser : « Wie steht nun diese Menschenwelt zur Naturwelt? Sie entfernt sich notwendig von ihr. Sie hebt die natürlichen Dinge und Beziehungen in eine andere Sphäre, die des Gedachten, Gewollten, Gesetzten, Geschaffenen, immer irgendwie Naturfernen ; die Sphäre des Kulturellen. » Der Mensch lebe nicht mehr in der « Ordnung der Tiere », sondern seine Natur sei immer « geistdurchwirkt ». An Geistdurchwirktheit aber mangle es auch dort, wo eine schiere Zugriffshaltung Natur zur Ressource und zum Substrat technischer Machtdemonstrationen degradierte. Die « vordringliche Wirklichkeit » der Natur, heißt es, müsse durch den Geist « genommen » sein – verschärft könnte man sagen : durch Werkzeuge, die dem Menschen das Überleben sichern und zugleich den ästhetischen Genuss ermöglichen. Auch das Haus, das Landhaus kann dazu zählen. Von den Worten seines geistigen Mentors über die an die Moderne verlorene Seenlandschaft notiert sich Mies : « Im singenden Linienzug der Landschaft eine Fabrik, / die alles zerreißt. / Maßstab und Rhythmus. »729 Eine Architektur als ‹ räumlich gefasster Zeitwille › müsste in die Bresche zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart springen, in der letztlich auch die moderne Landschaftsbedürftigkeit gedeiht.730

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Wie Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz festhält, handle es sich bei Guardinis Gegensatzlehre um eine Methode, die diesen sein Leben lang beschäftigt : von einer frühen Schrift mit Gedanken aus der Studentenzeit 1914, zur Publikation Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten, bis hin zu Plänen zu einer Neuauflage ein Jahr vor seinem Tod im Jahr 1967.731 Sie könne als Struktur seines Denkens aufgefasst werden,732 als dialogisches Denken der Lebendigkeit.733 Darin heißt es : « Die Entstehung des Begriffs fällt mit der Grundlegung der neuzeitlichen Wissenschaft zusammen. Aus ihr geht die Technik hervor, der Inbegriff jener Verfahrensweise, durch welche der Mensch fähig wird, seine Zwecke nach Belieben zu setzten. » Begriffe seien wiederum nur Werkzeuge des rationalen Verstehens, die dem Menschen auf ihre Weise helfen, die Vielheit der Welt zu ordnen  – « dazu tritt er aus dem unmittelbaren Gegenüber zwischen ihm und dem Ding, aus dem unmittelbaren Greifen und Ergriffenwerden heraus »734. Guardini versteht das « Werkzeug » Begriff als « Stellvertretung », als etwas, das zwischen den Menschen und seine Ergriffenheit von der Welt tritt, dennoch notwendige wäre, wo die Natur-Wirklichkeit in eine Kulturwirklichkeit überführt werden solle. Er anerkennt demnach, dass das zeitgenössische Naturverhältnis des Menschen « kühler und fremder »735 geworden sei. Die Beherrschbarkeit, die den technischen Zugriff mit dem Rationalisierungsvorgang der neuzeitlichen Wissenschaft verknüpft, die er mit vielen anderen Denkern als Abstraktionsprozess darstellt, erbringe indes « das Opfer an lebendiger Wirklichkeit »736. Die Polarität verläuft durch zwei Weisen des Wirklichkeitsbezugs : den lebendig-landschaftlichen und den abstrahierendtechnischen. Sie verliefe zwischen « Geist » und « Begriff ». Im dritten Brief seiner ‹ Landschaftstheorie › hegte Guardini noch einseitige Sympathien,737 die Verwandlung agrarischer Landschaft um Como durch die Industrialisierung wird noch mit einem gänzlich negativen Verständnis der Maschine belegt, denn diese seien nur « Begriffe aus Stahl » : « Und was für das Erkennen der Dinge der Begriff – Be-Griff! –, ist für das praktische Tun der Mechanismus, der Apparat, die Maschine. »738 Das Segelboot, das er als Teil der Landschaft betrachtet, ist vom Motorboot, der Maschine, verdrängt. Was entstehe, wäre keine lebendige, sondern eine abstrakte Ordnung. Guardini demonstriert ihr Gegenteil

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durch Beispiele der Architektur, wenn ihm die Straßen von Padua « lebendig gebaut »739 erscheinen, wo sie auf die Gemeinschaft bezogen blieben, weil diese sich in der Form der Arkadenhäuser wiederfinde, in deren Säulengängen die Bewohner sich treffen. Dieser Erfahrung opponiere das moderne Haus geradezu, « aus Beton gestampft, unorganisch, schematisch, abstrakt, und, bei aller Zweckmäßigkeit, barbarisch ». Mies’ Verständnis von Architektur und Landschaft entwickelt sich entlang der Lektüre der Guardinischen Briefe, verbleibt nicht beim ‹ pragmatischen › Verständnis früherer Äußerungen, findet bei seinem Mentor einen Haltepunkt, wo die Gegensätze (wieder) als Einheit auftreten : « Kultur, Geisteswerk. / Kann nur geschaffen werden / durch Überwindung, in / Überwindung der Natur. / Aber doch in Naturnähe, in Einklang mit / ihr. »740 Allerdings müssen Mies’ Gedanken zum Bauen immer auch im konkreten Werkzusammenhang betrachtet werden.741 Dabei gilt für ihn der Grundsatz, « to do something in order to be able to think »742 – Gedanken würden manifest im Bauwerk, im Tun. So erscheinen seine kleinen Text-Manifeste nicht ohne Grund wie Fragmente, als gelegentliche Unterfütterung des eigentlich praktischen Baugedankens – erzwungen von einem Architekten, dem man die Erneuerung der Baukunst zutraut. Mies äußert sich aus gegebenem Anlassfall ganz direkt über die Kulturlandschaft. Der Text erscheint im Jahr 1932 im Organ des HaFraBa – eines 1926 gegründeten Vereins, der die erste Autostraße von Hamburg nach Basel in Deutschland vorbereiten sollte – unter dem schlichten Titel Die Autobahn. Für diesen Musterfall eines technischen Eingriffes in ehedem agrarisch geformte Kulturlandschaften stellt Mies zunächst die Frage, ob er überhaupt ein « künstlerisches Problem »743 darstelle, angesichts seines wirtschaftlich-technischen Charakters. Dies bejaht er sogleich, denn man greife « aktiv in die Gestalt der Landschaft ein » : Auch bei technisch-infrastrukturalen Anlagen müssen man auf die Gestalt der Landschaft durch Gestaltung reagieren. Wiederum ginge es um das übergeordnete Ziel, der Störung und Zerstörung entgegenzuwirken. Doch auch mittels Randbepflanzungen, daher durch Verstecken der Autobahn, wäre das nicht zu verhindern, meint Mies – wozu er hingegen rät : « mit ihrer Benutzung die Landschaft neu zu erschließen ». Der Wert der Landschaft liege in ihrem « Charakter », ihrer

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« Eigenart » – Begriffe, die die konservative Heimatschutzbewegung ebenfalls verwendet. Diese Eigenschaften aber müssen erlebt werden. Was bleibt, sind die Gegensätze von Landschaft und Technik, die erlebte Steigerung und die Neuerschließung der Landschaft durch Straßen. Auch die Autobahn würde zum Instrument ihrer Wertschätzung und Erfahrung, jeder Eingriff in die umliegende Landschaft müsse jedoch minimal bleiben, das ‹ Prinzip Gestaltung › wäre auf den weitreichenden Erhalt vorgefundener Strukturen verpflichtet. Mies wendet sich etwa vehement gegen Reklametafeln, die die Pflege von Landschafts- und Ortsbildern durch ihr « ungezogenes Sich-Breitmachen » störten. Auch das erinnert an jenes Nicht-Stören-Wollen, das das landschaftliche Wohnen kennzeichnet : die Zurücknahme. Kein praktischer Leitfaden zum Bau von Autobahnen, klärt Guardini in seinen Briefen doch das Verhältnis von Technik und Natur in der Landschaft, für das Mies das Wort ‹ Respekt › verwendet. Für Guardini fällt die Verhinderung des Untergangs der humanistischen Kultur Europas in seinen nachdenklichen Spaziergängen am Comer See mit dem Sichtbarwerden einer glücklich gebändigten Natur-Kraft zusammen. Die entscheidende Frage lautete noch immer : « Wie die Lebendigkeit und Abstraktion verbinden? »744 Die Landschaft hat ihm gezeigt, was auf dem Spiel stünde, wenn die Maschine rücksichtslos in sie vordringt, die Welt erfahrungsärmer würde. Zugleich ist in der naturräumlichen Konstellation – der einigermaßen abgeschotteten und vergangenheitstrunkenen Ordnung der oberitalienischen Seen und Berge – etwas offen geblieben, das sein Denken anregt. Auch er will dem Chaos der Zeit etwas entgegensetzen aus der empfundenen Ordnung der Landschaft. Im achten Brief vollzieht Guardini daher die Wende von Trauer, Empörung, Verlust zur Anerkenntnis der Gegenwart in einer These, die alles « Bisherige einbegreift »745, wie er meint. Die Idee dazu vermittelt sich ihm während eines Spaziergangs zur Villa Sebelloni : « Was ist doch das tiefste Wesen dieser – und der ganz alten Kultur? Mir schien, es sei dies : Dass sie vom lebendigen Menschen her geschaffen ist, und aus einem letzten Zusammenhang mit der Natur heraus. » Die erfahrene Lebendigkeit wird zur Erfahrung eines lebendigen Menschen in der Landschaft, ihr Zusammenhang wird zum Gradmaß des Tuns : « Wohl braucht der Mensch

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Werkzeuge, Hilfsmittel, in großer Zahl und feinster Zurichtung. Doch sie bleiben stets Unterstützung ; sie weiten nur den Wirk- und Aufnahmekreis der natürlichen menschlichen Organe aus ; helfen ihnen, ferner und genauer zu sehen, zu hören, zu wirken, zu fassen und zu herrschen. »746 Diese organische Kultur erkennt die notwendige Grenze, die sie dem ‹ Mechanischen › setzt ; eine Grenze, die in gewisser Form immer schon existiert hat und sich für Guardini wieder in den Werken der Architektur darstellt. Räume, die der Gegenwart angehören und doch historisch sind. Er nennt die Thermen Caracallas in Rom oder den Petersdom :747 Im architektonischen Raum, den Gewölben der römischen Thermen, der mächtigen Kuppel Michelangelos, stelle sich die erfahrene Lebendigkeit eines « organischen Maßes »748 ein. Es sind – wie für Mies – die großen Spannweiten, die großen Räume, die diese lebendige ‹ Struktur › der Technik verkörpern. Das Hervorbringen einer Grenze wird in ihnen zur Aufgabe der Kultur, zum Balanceakt, das Technische muss in den Dienst genommen, der höhere Zusammenhang von Mensch und Natur ins Werk gesetzt werden. Die Werkzeuge des Menschen, die in der Landschaft zu Zerstörung führen, wo sie sich herrisch, gar zerstörerisch behaupten, verliehen ihm Freiheit, wo sie dazu verhelfen, sich anders gegenüber der Natur zu verhalten. Entscheidend wäre, dass in dieser Form der Wirklichkeitserfahrung dem Gegenstand seines Interesses ein Eigenrecht eingeräumt würde : Ein ‹ Für-sich-Sein ›. Rüdiger Bubner sieht in dieser theoretischen Konstellation einen « Leitfaden »749 zur Entwicklung der idealistischen Philosophie schlechthin. Mit anderen Worten, ist das Spielerische, die Freiheit, die sich in der ästhetischen Erfahrung von Natur als Landschaft spiegelt, der Nicht-Vernutzung der Natur geschuldet. Was Guardini als eine Art des Natürlich-Bleibens von Natur in der Kultur auffasst, wird hier zum Moment der Nichtverfügbarkeit in der ästhetischen Erfahrung, zum Vorrecht des Objekts.750 Bubner wendet diesen, in der Philosophie zunächst für die Naturerfahrung entwickelten, Moment auf die Kunst an und spricht so auch den Erfahrungsgehalt der Landschaft : « Die Erfahrung erfährt einen Sinn und entbehrt zugleich jeder Möglichkeit, des Sinnes jenseits der Erfahrung an ihm selbst habhaft zu werden. Die Möglichkeit eines Zugriffs auf die Totalität, der selbst total und endgültig

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wäre, bleibt verwehrt. Diese Spannung auszuhalten, macht eigentlich erst die ästhetische Erfahrung in ihrer Ganzheit aus. »751 Das wäre eine andere Beschreibung jener ästhetischen Grenze, die Mies’ Bauten verräumlichen – der Gegensatzlehre. Es käme also darauf an, Grenzen zu akzeptieren – und für Mies, im Jahr 1928, nach Lektüre Guardinis, dass die moderne Wissenschaft, die Technik « dem Leben diene »752. Guardini erläutert in der Folge seiner Briefe, wie das gelingende Verhältnis von Natur und Kultur sich ereignen könne : « Nimm ein Segelboot! »753, fordert er seine Leser zu einem Gedankenexperiment auf. Es liegt ihm auf dem Comer See konkret vor Augen. Was er beschreibt, ist ein durch die Technik des Segelns ausgedrücktes Gleichnis. Der Wind, die Naturkraft, treibt das hölzerne Boot durch die geblähte Leinwand seiner Segel an. In den Worten Guardinis : « Aber die Massen von Holz und Leinwand und Windeskraft so vollkommen durchformt, dass sie leicht geworden sind. Wenn solch ein Boot vor dem Winde seine Bahnen zog, hat mir das Herz gelacht, wie einem wohl geschieht, wenn etwas durch vollendete Form von innen her leicht und hell geworden ist. »754 Die Gestalt des technischen Objekts, in ein spezifisches Kräfteverhältnis zur Natur gesetzt, macht den Wind ‹ sichtbar › : als Anrührung des Innersten im Betrachter, durch dessen freudige Anteilnahme am Geschehen : durch ‹ Anschauung ›. Man würde durch die Darstellung seiner ‹ Natur-Kultur › angeleitet, ähnlich zu gestalten, das wäre das Prinzip der Mies’schen ‹ Struktur ›. Mies ist von diesen Gedanken beeindruckt, widmet ein Gutteil der Exzerpte seines Notizheftes diesem Buch und bemerkt, seine Leseerfahrung paraphrasierend : « Der Kampf gegen das Neue / braucht nicht unbedingt / ein Hängen am Alten zu sein, / und wir glauben gern, dass / es in seinem tiefsten Grund / ein Kampf gegen die Ratio / ist. / Man will Überrationales / retten. »755 Er antwortet durch seine Bauwerke ; Guardinis Antwort erreicht ihn aus dessen persönlicher Betroffenheit, aus der lebendig-konkreten Beziehung zu einem Ort – in diesem Sinne ist das Segelboot landschaftlich wie das Landhaus. Sie wäre unmittelbar verbunden mit dem Durchwohnen, der in ‹ lebendiger Konkretheit › empfundenen, ‹ organischen Ordnung ›. Eine solche moderne Kultur aber fände ihr kritisches Maß im Menschen selbst.756

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Häuser, Seen, keine Berge Wie sehr es Mies um mehr als moderne Häuser geht, wie sehr die durch Riezler und seine Bauherren beim Haus Tugendhat beispielhaft zum Ausdruck kommende Frage eines wirklichen ‹ neuen Wohnens › ihn beschäftigt, zeigt die Korrespondenz zum Entwurf für das Haus Gericke. Zurück am Wannsee, mit seiner Teilnahme am Wettbewerb für das Haus des Direktors der Deutschen Akademie in Rom, Herbert Gericke, im Jahr 1932, entwickelt er ein ähnlich komplexes Wohnhaus wie für die Tugendhats zwei Jahre zuvor. Es schiebt sich unter und zwischen den alten Baumbestand am Ufer des Gewässers, die verglaste Wohnzelle tritt in Reinform auf : als dreiseitig umgrüntes ‹ Wohnzimmer ›, als in die Landschaft gestellter Raum. Die beiden Häuser greifen auf ein ähnliches Repertoire zurück, und doch wären sie so verschieden in ihrem Auftreten gewesen, bestimmt von der bestmöglichen Verzahnung mit der ‹ gefundenen › Landschaft. Für den vom Architekten Werner March koordinierten Ideenwettbewerb, zu dem Mies am 8. Juni 1932 mit drei weiteren Architekten eingeladen wird, wäre er allein schon durch die landschaftliche Situation am Grundstück prädestiniert gewesen. Es liegt an der Großen Seestraße, « in hervorragender Lage [ …], stuft sich in drei Terrassen nach dem Wannsee »757, das vorhergehende, abgerissene Bauwerk sei von « wertvollem dichtem altem Baumbestand begleitet ». Es geht darum, ein Haus « in den einfachen Formen der Zeit und in glücklicher Verbindung mit Landschaft und Garten » zu gestalten. Dass Mies noch am selben Tag, als er dieses Programm liest, seine Teilnahme zusagt, mag mit der dünnen Auftragslage zu tun haben, doch sollte hier auch erneut ein Landhaus entstehen in einer Gegend, die er nur zu gut kannte und auf seine persönliche wie berufliche Entwicklung Einfluss genommen hatte. Tatsächlich bedeutete ein solches Villengrundstück mit Seelage, auf dem das alte Bauwerk geschleift wurde, der Garten aber intakt blieb, ideale Bedingungen für seinen ‹ landschaftlichen › Zugang. Eine Familie mit zwei bis drei Kindern und vier Dienstboten hätte das Haus Gericke beherbergt. Bestandsmauern des Vorgängerbaus an der Großen Seestraße terrassieren das Gelände und verzahnen den

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Baukörper mit der Topografie. Claire Zimmermann spricht von einer « zentrifugalen »758 Anordnung und spielt auf das Landhaus aus Backstein an. Es wäre direkt mit dem Haus Tugendhat zu vergleichen – nicht nur durch das mit blickdichtem Glas ausgestattete, halbrunde Treppenhaus, die Anordnung kleinerer Rückzugsräume im Obergeschoß – hier für die Dienstboten. Dies belegt, wie unterschiedlich die äußere Anmutung eines Hauses sein kann, folgt dieses in seiner Konzeption den naturräumlichen Gegebenheiten bei gleichbleibenden architektonischen Mitteln. In Brünn waren es die Topografie und die Anlage des Gartens, der Genuss der Aussichtslage durch vielfältige Beziehungen aus dem Haus, der eine derartige ‹ Zentrifugalität › der in die Landschaft ausgreifenden Räume verhindert hat, wie sie am Wannsee zum Ausdruck kommt. Nach nur dreiwöchiger Ausarbeitungsfrist ist das Planmaterial im Maßstab 1: 100 anonym abzugeben. Es sollte dem Auftraggeber zur Orientierung bei der endgültigen Wahl des Architekten dienen. Mies gibt in den Erläuterungen seines Projekts an, « den Ort bei gutem und schlechtem Wetter und zu den verschiedensten Tageszeiten »759 besucht zu haben. Er beginnt seine Entwurfserläuterung mit der natürlichen Stimmung und stellt den großen Hauptwohnraum ins Zentrum : Über ein Treppenhaus, das eben an jenes des Hauses Tugendhat erinnert, gelangt man von der Eingangsebene ins ebenerdige Wohngeschoß, in dem das Haus mit drei ‹ Fingern › in die Landschaft ausgreift und sich an die Stützwand des Vorgängerbaus lehnt. Ein großer Wohnraum ist der verglasten Zelle vorgeschaltet. Sie misst sieben auf elf Meter und ragt, mit flachem Dach auf schlanken Stützen ruhend, unter den alten Baumbestand. Wie im Drehbuch eines Filmes geben drei als Schaubilder gedachte, penible Handskizzen über diesen Wohnraum detaillierte Auskunft : durch einen « Blick vom Wohngarten ins Haus », « Blick aus dem Schlafzimmer », und « Blick vom Essplatz zum Wohnraum und Wohngarten » : Mies als Regisseur. Letztere zeigt, wie sehr er die Staffelung des Landschaftsraums in die räumliche Komposition des Wohnens einzubeziehen sucht. Beidseitig von Wandscheiben geschützt, mit einem wärmenden Kamin versehen, definiert er einen introvertierten Ort, den Mies zusätzlich mit schweren Polstermöbeln besetzt. Durch die Kontinuität der auf diesem Blatt weiß verbleibenden Boden- und Deckenplatten streckt sich dieser Raum von

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der Wohnzelle in die ausgesetzte gläserne Raumeinheit, an deren entfernten Schmalseite Mies den Übergang zum dichten Hain auch diesmal durch einen Wintergaren moderiert. An dieser Stelle wird das Gebäudevolumen bis auf wenige Zentimeter an den Altbaumbestand herangerückt, was den Eindruck erweckt, die Bäume wären mit dem Haus gewachsen. Tatsächlich aber überspannen ihre Kronen die niedere Glaszelle. Beim Blick vom Ohrenstuhl am Kaminplatz zeigte sich eine von Bäumen umstandene Lichtung – den Bereich unter den bereits hochgewachsenen Ästen schraffiert Mies dunkel. Als « Wohngarten » wird jener baumumstandene, von Wohn- und Schlafräumen umgebene Hof bezeichnet, in den die Glaszelle ausgreift, der durch diese Verklammerung wie ein Teil des Hauses wirkt – der ‹ Mittelgrund ›. Dort sind nur wenige Steinplatten verlegt, dort befindet sich eine Statue, eventuell eine Sitzmöglichkeit im Freien, die Decke öffnet sich zum Himmel, sie endet nicht eigentlich, sie geht in ihn über. Der einschraffierten Figur haftet etwas Nachdenkliches an : Nicht nur der Ort am Kamin wirkt still und verschließt sich, auch der zugehörige Außenraum erscheint kontemplativ. Diese Situation ändert sich vollkommen, wenn Mies in einer weiteren Skizze den Ausblick entlang der Längsseite der Glaszelle zeigt : Plötzlich öffnet sich das Haus zum See. Die Konturlinie der Fernlandschaft ist diesmal differenziert, offensichtlich darum bemüht, den realen Ort zeichnerisch zu erfassen. An diesem konkreten Bauplatz und durch die klar geäußerten Wünsche des Auftraggebers hinsichtlich der landschaftlichen Einbettung formuliert Mies zeichnerisch, was er sonst zurückhaltender darstellt : die Eigenart des Ortes und zugleich die ‹ Idee der Landschaft ›. Für Dynamik und die belebte Stimmung im Bild sorgt ein Segelboot, das gute Fahrt macht. Die Überprüfung der landschaftlichen Situation für das ‹ Raumbuch › eines Hauses belegt nicht nur ihre Wichtigkeit im Prozess des Entwurfs, sondern die Zusammenhänge von Wohnraum und Natureindruck, anhand derer Mies sein Projekt entwickelt. Die beim Haus Tugendhat dargestellten Prinzipien ‹ Lichtung › und ‹ Fernsicht › bleiben für das Haus Gericke bestimmend,760 die bekannte Raumstaffelung ist präsent. Mies gibt in seinen Erläuterungen an, dass er von den Vorgaben des Ideenwettbewerbs gerade dort abweiche, wo es ihm darum geht, einen ‹ stillen »761

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Haus Gericke, « Blick aus dem Schlafzimmer », 1932 (Bleistift auf Zeichenkarton, 49 × 64 cm)

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Gartenteil zu schaffen. Er fühlt sich darüber hinaus zu einer genauen Begründung seiner Schritte gezwungen, wenn « der Hauptwohnraum etwas in den steil abfallenden Gartenhang einschneidet und […] dieser Wohnteil nicht genau in der früheren Achsmitte liegt, sondern weiter nach Südosten vorgeschoben ist, weil von hier aus der Blick sowohl auf den unteren Garten als auch über den See hin nach Meinung des Verfassers weitaus interessanter ist ». Der Architekt – und mit ihm das Haus – sucht nach den landschaftlichen Besonderheiten, ohne sich vom vorgefassten Blick beeindrucken zu lassen. Die Landschaft wird von ihm selbst genau erfahren, protokolliert – wie beim Besuch des Bauplatzes Tugendhat. Das Haus vollzieht die Erfahrung des Architekten nach, birgt sie folglich im Raum des Wohnens. Die Sicherheit, mit der Mies den Entwurf vorlegt, rührt nicht nur von der Anwendung eines bereits entwickelten architektonischen Vokabulars, das nur variiert zu werden braucht. Sie liegt auch in der Schulung beim Umgang mit der Inszenierung der Landschaft begründet, die dem Gestalter eine ‹ Vorgabe › ist. Und so heißt es an einer Stelle des ‹ Entwurfsberichts ›, noch bevor Mies das Raumprogramm darstellt : « Sowohl die Baumgruppen im unteren Garten als auch die Überschneidungen der linken Uferseite des Wannsees geben hierfür den Ausschlag. » Sie geben den Ausschlag für die zentrale Entwurfsentscheidung, die Positionierung des Wohnraums zwischen Bäumen und – hier ganz explizit – ausgerichtet auf die Ferne der gegenüberliegenden Seeseite, die für Mies von besonderem Reiz gewesen sein muss, überlagern und überschneiden sich die linken Uferseiten an dieser Stelle doch genau so, wie er es immer wieder zeichnerisch erkundet hat. Natürlich ist auch von der guten Besonnung die Rede, auch der Wohngarten wird erwähnt – als Puffer zur Straße. Worum es aber eigentlich ginge : « Den schönsten Blick auf den Wannsee .»762 Die Entwürfe für das Haus Hubbe aus der Mitte der 1930er-Jahre belegen die landschaftliche Ausrichtung von Mies’ Haus-Vokabular und führen dort zu einem erneut modifizierten Ausdruck. Auch in diesen Raumskizzen treten die Details hinter die Raumwirkung zurück. Das Glas vollzieht die bekannte Aufgabe von Trennung und Verbindung, seine Rahmung ist als dünne Linie quasi inexistent ; es bleibt dennoch immer deutlich, wo sie als Grenze vom Innenraum, zum Hof, zum

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überdachten Außenbereich und zur Landschaft verläuft. Es scheint, die Wohnräume sind auf bestimmte Weise am landschaftlichen Horizont ausgerichtet, fluchten die Perspektiven doch im Landschaftsraum, orientiert sich die Höhe der Wandscheiben an ihm. Die Linien der Mies’schen Zeichnung, ondulierend in der Ferne, scharf und gerade bei der Architektur, verstärken das Spannungsverhältnis. Mies schreibt in seinem Text Was wäre Beton, was Stahl ohne Spiegelglas? aus dem Jahr 1933 : « Hier, in einem Bezirk größerer Freiheit, ohne Bindung enger Zwecke, lässt sich erst der baukünstlerische Wert dieser technischen Mittel voll erweisen. »763 Die technische Entwicklung, so Mies, durchaus im Sinne der frühen Schriften, vollziehe sich in ihrem eigenen Recht, volle Entfaltung erlange sie aber erst in den Wohnhäusern, beim Wohnen, dem sie dient. Auch in der Flusslandschaft der Elbinsel bei Magdeburg tritt ein Boot mit geblähten Segeln in Erscheinung, dahinter die Uferbepflanzung. Der Eindruck von Freiheit im Spiel der Kräfte des Windes, das sich vor dem Haus Hubbe entfaltet hätte, steht mit Mies’ Text für den Prospekt des Vereins Deutscher Spiegelglas-Fabriken im Zusammenhang : « Es sind wirkliche Bauelemente, aus denen sich eine neue, reichere Baukunst entwickeln lässt. Sie lassen uns ein Maß an Freiheit in der räumlichen Gestaltung, auf das wir nicht mehr verzichten wollen. Jetzt erst können wir den Raum gliedern, ihn öffnen und in die Landschaft binden ; damit entfaltet sich das Raumbedürfnis heutiger Menschen. Die Einfachheit der Konstruktion, die Klarheit der tektonischen Mittel und die Reinheit des Materials werden die Träger einer neuen Schönheit. » Doch wäre das in Mies’ Skizzen wiederkehrende Segelboot kein romantischer Rückgriff auf eine vergangene Technik der Fortbewegung. Es stellt vielmehr das Sichtbarwerden eines Prinzip dar : Es vollzieht die Wandlung des Technischen durch die Naturkraft – vice versa der Naturkraft durch eine ‹ anschaulich › gewordene Technik. Zur Erklärung seines Entwurfs für das Haus Hubbe in Magdeburg veröffentlicht Mies im Jahr 1935 in den Schildgenossen eine pointierte und einmalige Baubeschreibung. Erneut handelt es sich um einen Bauplatz an einem Fluss, diesmal auf der Ostseite der flachen Elbinsel, den die Bauherrin Margarete Hubbe geerbt hat und keineswegs als ideales

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Haus Hubbe, linker Hof und Segelboot, 1935 (Bleistift auf Zeichenkarton, 49 × 67 cm)

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Rechter Hof, erneut mit Segelboot (Bleistift auf Zeichenkarton, 48 × 67 cm)

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Grundstück ansieht.764 Mies selbst klingt da euphemistischer, schließlich weiß er es durch Architektur ins rechte Licht zu rücken : Die wesentlichen Ingredienzien der Anlage, die sich sonst nur in Plänen und Zeichnungen finden, werden vom Architekten in Worte gefasst : alte, schöne Bäume und der weite Blick über den Fluss – überhaupt taucht das Wort « schön »765 in seiner nur wenige Zeilen zählenden Erläuterung vier Mal auf. Der « reizlose » Blick nach Süden und der « schöne » Blick nach Osten werden in Betracht gezogen ; auch die « Sonnenlage » muss austariert werden, was ein Gartenhof leistet, der zugleich die mangelnde Aussicht nach Süden löst. Mies drückt die zu erreichende Stimmung aus, die auf den Gartenhof und die Landschaft bezogen ist : « Damit folgte ich nicht nur der örtlichen Situation, sondern erreichte auch einen schönen Wechsel stiller Abgeschlossenheit und offener Weite. » Diese Staffelung des Blicks, der im Hof ‹ gehalten › wird, über den Garten zur Elbe hin aber frei in die Ferne wandert, entspricht dem Wohnbedürfnis der Bauherrin, die gerne allein lebt, aber als gesellig und gastfreundlich beschrieben wird. Das Haus muss demnach in ein schwieriges Grundstück eingepasst werden – Mies stellt verschiedene Möglichkeiten seiner Erschließung und der Beziehung zu den Nachbarn an, die er für die Bewohnerin weitgehend ausblendet, hätte diese erst die Wohnräume betreten. ‹ Dienende › Räume – Schlafräume, Badezimmer, Ankleideraum – sind wieder zur Straße hin, als Rückgrat ans Haus angelagert. Wird die Landschaft für den Charakter des Wohnens an der Flussseite entscheidend, ist der pragmatisch geordnete, kompakte Teil des Hauses dazu da, um dies zu ermöglichen : Der Wohntrakt mit großem Esstisch, getrennt durch eine Kaminwand vom großzügigen Wohnzimmer mit Klavier und Kaminplatz, stellt sich als zentrale, gläserne ‹ Kanzel › dar, die – von umgreifenden Mauerarmen gefasst – in einem Zwischenraum ruht ; links und rechts von Höfen begleitet, geöffnet nach vorne zur Flusslandschaft. Auch hierfür fertigt Mies Perspektiven an – mit Blick auf das Wesentliche des großen Wohnraums vor einem ‹ landschaftlichen Hintergrund ›. Die minimal ausgestatteten Räume scheinen weniger der Zeichentechnik als dem tatsächlichen Gestaltungswillen des Architekten geschuldet. Ihre Einrichtung fällt beinahe mit dem Erlebnis der ‹ Natur › zusammen, das sie wecken. Sogar an der ununterbrochenen, hellen Fläche der Decke

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fände die Landschaft ihre Fortsetzung im einem munteren Farb- und Formenspiel, das den Raum belebte. Durch die in den Zeichnungen auftauchenden Skulpturen – eine war auch in der Villa Tugendhat mit Wilhelm Lehmbrucks weiblichem Torso zugegen – verdeutlicht Mies Raumtiefen und Raumbezüge zwischen Wohnraum, Hof und Landschaft, führt die Proportionen seiner Komposition anschaulich vor Augen. Da es sich immer um figürliche Kunstwerke handelt, wird der Raum dramatisiert, ein ‹ stilles › Geschehen verdeutlicht. Die Vermutung liegt nahe, Mies will durch die Präsenz bestimmter Posen die Wahrnehmung der späteren Bewohner lenken, dem Raum einen ganz bestimmten Ausdruck und Charakter verleihen – nicht selten in Form eines kontemplativen Ruhens der liegenden oder rastenden Skulpturen. Seine gewiss idealisierenden Zeichnungen nehmen den realen Raum vorweg, bedenkt man die räumliche Kraft des Atriums im BarcelonaPavillon, die der räumlichen Interaktion mit George Kolbes Bronzestatue Der Morgen viel verdankt : Ein grüner Hof, auf drei Seiten von Serpentinit umschlossen, darüber die Baumspitzen, ‹ bewohnt › von der überlebensgroßen, nackten Figur, die ihre Hände – zum antiken Gebet – nach oben streckt ; unten liegt das mit dunklem Glas ausgekleidete Wasserbecken, Versinnbildlichung eines besonderen Geschehens, Symbol des Fernsten überhaupt : des Himmels, der in den Dialog mit dem von ihm vergossenen, nun streng gefassten Wasser tritt, sich so zweifach zeigt : konkret stofflich und imaginär, im eigenen Spiegelbild. Der abgegrenzte Hof aber wird auf diese Weise zum belebten Ort. Auf einer höheren Bedeutungsebene errichtet Mies eine imaginäre, ‹ vertikale › Verbindung : Er ist kein abgeschlossener Raum mehr. Die Dialektik dieses Geschehens wird noch deutlicher, wenn die Seklusion im Patio zur kontemplativen Stimmung anregt – während der Weltausstellung, zumal an einem eigentlichen Durchgangsort, wäre diese kostbar und schwierig zu erreichen. Rückzug und Besinnung öffnen den Hof auf ganz andere Weise, die vermittelnde Gestik der menschlichen und doch übermenschlichen Figur stimmt den Besucher darauf ein. Letztlich zieht die sie umgebende Mauer die Linie eines künstlichen Horizonts, der die dahinter verborgene Stadt in den Mittelgrund zwischen Ferne und Nähe rückt – indem sie hinter der Mauer verschwindet und doch da ist. Der

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Barcelona-Pavillon belegt, dass ein Hofraum keineswegs Rückzug und Einschluss bedeuten muss, sondern für Mies ein spezifisches Instrument landschaftlicher Erfahrung darstellt. Am Elbufer wird durch den geöffneten Hof oder die umklammerte ‹ Wohnkapsel › – mit welchem Bild man die dort vollzogene, wohnende Zuwendung zur Landschaft auch beschreiben mag – der Bauplatz in seinen Schwächen ‹ ausgeglichen ›. Darüber hinaus gilt es, den Außenraumbezug auf die Bedürfnisse der Bewohnerin abzustimmen : « Hierauf ist auch die innere Ordnung des Hauses abgestimmt. Auch hier die notwendige Abgeschlossenheit bei aller Freiheit der offenen Raumform », schreibt er in seinem knappen Bericht aus dem Jahr 1935. Höfe böten die Möglichkeit, ein Haus derart in den Bauplatz einzupassen, dass er landschaftlich in Erscheinung tritt. Wo dies nicht möglich ist, im Falle des Hauses Hubbe gegen Süden, aber auch straßenseitig, wo die Bauherrin die Abtrennung von Parzellen vor hat, verschließt es sich mit einer simplen Lochfassade. Hält man sich die vielen Grundrissskizzen vor Augen, mit denen Mies sein Ziel bestmöglich zu erreichen sucht – Offenheit zur Natur und Abgrenzung zum Stadtraum. Es fällt schwer, von einem zusammenhängenden Hauskörper zu sprechen : Eher handelt es sich um Gruppen von Raumvolumen, hie und da von Mauerscheiben umgeben, Zwischenzonen, weder Innen noch Außen, umklammert von winkeligen Mauerstücken. Die Mauer, ob umschließend oder als linearer Mauerzug, demonstriert die elementare Tätigkeit des Bauens, zugleich rahmt und verknüpft sie Haus und Umgebung. Der Hofraum tritt wie ein landschaftliches Konzentrat auf, beinahe in der Konzentration eines japanischen Gartens : Rankgewächse erscheinen dort und da an seinen Wänden – beim Barcelona-Pavillon werden sie in versteckte, an der Mauerkrone befestigte Töpfe gepflanzt ; beim Haus Tugendhat umgrünen sie heute wieder den Haussockel. Das Haus als Selbstbehauptung rückt in den Hintergrund. Das übergeordnete Gestaltungsprinzip einer künftigen organischen Ordnung wäre die Versöhnung von abstraktem Raum und pittoresker Landschaft, wie Robert Levit feststellt, und dennoch von einer « tension »766 spricht : Der Hausraum würde zum Gefäß der umgebenden Landschaft, durch sie bereichert. Dabei erscheint dem kritischen Urbanisten Levit die Gegensätzlichkeit des

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Hauses und seiner landschaftlichen Umgebung als Widerspruch, auf den es gerade ankäme. Ungeachtet dessen beschreibt er diesen landschaftlichen Wohnraum vortrefflich : « Light plays across the surfaces of materials that, though the products of industrial fabrication, offer a sensuous presence analogous to that of the organic and mineral world outside. »767 Beim Entwurf für den Krefelder Golfclub hat Mies der Wettbewerbseingabe einen eigenhändigen, kleinen Bericht beigelegt, der der Landschaft und den Ausblicken eine entscheidende Rolle zubilligt. Fünf Jahre vor dem Haus Hubbe sieht dieser eine « sich in die Landschaft einschmiegende, flache Anlage »768 vor, die, auf einem Kegel gelegen, weite Ausblicke eröffnet hätte. Auch hier dienen vor Wind und Regen schützende Wände zur Moderierung der Baukörper, Terrassen und Aussichten ; statt eines Wohnraums würde ein Gesellschaftsraum verglast, um « volle Aussicht und vollen Sonneneinfall » zu gewähren. Als der Architekt Alexander Schwarz im Jahr 2013 Gelegenheit bekommt, die temporäre Rekonstruktion des nie errichteten Golfplatzes zu besuchen, beeindruckt ihn das Elementar-Modellhafte einer baulichen Interpretation, die nicht jedes Detail im Maßstab 1: 1 rekonstruiert, sondern programmatisch Räume und Stimmungen wiedergibt – ähnlich einer Skizze aus Mies’ Hand. Gerade die Leichtigkeit der Bauweise, das Hingestellte, nicht Verankerte, die Zweckfreiheit helfe dabei, das Bauwerk mit dem Ort besser zu verknüpfen, sorge für Stimmigkeit. Mit dem Golfplatz ist das einzige jener Projekte kurzzeitig besuchbar, das die beschriebenen Elemente des Mies’schen Baugedankens als Pavillon durchexerziert, sieht man von den Sondersituationen in Barcelona 1929 und auf der Berliner Bauausstellung 1931 ab. Schwarz bestärkt die hier anhand von Planmaterial angestellten Vermutungen : « Ich fand es interessant, dass es sich um eine unspektakuläre, normale, deutsche, agrarisch geprägte Landschaft handelt, die dann plötzlich sehr spektakulär wird durch das Ausschneiden oder Verstärken von Horizont. Der gewellte Horizont gegen die perfekte Horizontale. [ …] Man empfindet dort Wahrheit, was man nicht erwartet hat. Es ist eine empfundene Wahrheit, die ja eine ästhetische Erfahrung ist. »769 Durch das Bauwerk wird eine Landschaft verwandelt.770

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« Wirkende Form anstatt wirkungsvolle Form »771, notiert Mies sich aus den Briefen. Im Bezug auf den Menschen und das Haus in der Landschaft scheint er aus der Betrachtung der Kulturlandschaft Guardinis seine organische Ordnung abzuleiten, ‹ wo die Form in die Erscheinung tritt ›. Mies spricht vom ‹ Wachstum der Form ›, das erst an ‹ letzter Stufe der Gestaltung in Erscheinung › trete – von Bedeutung und Sinn gekennzeichnet wäre. Guardini, der im neunten Brief eine positive, neue Baukunst im Entstehen sieht, war offen für jenen Schritt, den Mies’ ‹ organische Ordnung › vollzieht : die Anerkenntnis des Neuen durch Veranschaulichung. Gewandelt hat sich für Guardini dennoch, dass Bauten der Gegenwart eher « Geräte » seien denn « Monumente »772. « Sinn der Baukunst ist Dauer », notiert Mies, « Ordnung ist Sinngebung ». Eine Ordnung, die ohne die bändigende wie gebändigte Technik nicht auskommt, aber nach neuem Ausdruck strebt. Die Geschichte der technischen Möglichkeiten war für Mies nie eine Verfallsgeschichte, sie müsste zur Reduktion der Möglichkeiten durch Kenntnis des Möglichen führen. Guardini meint daher : « Bauen ist vielleicht gebunden an eine einfache Tat. An einen einfachen Werkvorgang und an eine klare bauliche Struktur. Wir glauben sogar, dass es so ist. Und finden diesen Glauben dargelegt in vielen alten und wenigen heutigen Bauten. » Diese Sicherheit des Tuns müsse in der Architektur der Gegenwart wiedergewonnen werden, und um dieses Ziel zu erreichen, wären eben geistige Ziele vonnöten : « Die Wohnung ist ein Gebrauchs- / gegenstand. Darf man fragen, / für was? Darf man / fragen, worauf er bezogen / ist? Offenbar nur auf / körperliches Dasein. / Also dass alles glatt / gehe. Und doch hat auch der Mensch seelische / Bedürfnisse, die damit / nie befriedigt werden / können, dass er nicht / in seinen Mauern / hängenbleibt. »773 Dass es Mies tatsächlich um die geistige Herausforderung des Wohnens ginge, verdeutlicht mitunter sein Bedauern, das er Herbert Gericke schriftlich entgegenbringt : Als Direktor der Deutschen Akademie in Rom fühlt er sich offenbar zur Hinzuziehung eines ‹ modernen › Architekten bei der Planung seines Hauses verpflichtet.774 Dass keine der eingelangten Studien zur Ausführung kommt, Mies’ explizites Angebot zur Weiterbearbeitung des eingereichten Projekts auf Ablehnung stößt, führt zu einem enttäuschten Schreiben des Architekten. Am 3. November 1932, im

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« Innenansicht des Barcelona-Pavillons ohne Möbel » (Buntstift und Bleistift, 99 × 130 cm)

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Herbst nach dem negativen Ausgang des Wettbewerbs, endet sein kurzer Brief mit folgenden Worten, die auch die Konsequenz andeuten, mit der er seine eigene Arbeit als überpersönlichen Auftrag ansieht : « Ich will Ihnen nicht verhehlen, dass wir enttäuscht darüber sind, dass Sie diese Frage so ganz als Privatmann geregelt haben. Von wem sollen wir eine Bereitschaft zu kulturellem Dienst erwarten, wenn nicht von den Persönlichkeiten, die dem Kulturleben der Nation beruflich verbunden sind. »775 Gericke allerdings sucht für seine Ziele unverhohlen nach « sekundären Persönlichkeiten », bevorzugt den Weg des geringeren Widerstandes und wählt einen ausführenden Architekten, bei dem die Einhaltung des finanziellen Rahmens « am schnürchen geht ». Er wolle schließlich mit dem Architekten keinen « geistigen boxkampf ausfechten ». Eine Einstellung, die heute nicht gänzlich unbekannt ist.

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Landschaftliches Wohnen

Umblicke

« Die Augen werden offen »776, verspricht Romano Guardini denjenigen, die seine Lehre befolgen. Mies’ Architektur wiederum – summiert Fritz Neumeyer die Worte der zeitgenössischen Kritik – böte durch ihre « ‹ offene Raumgestaltung ›, die jenen ‹ behütenden ›, nicht den ‹ beschützenden › Raum realisierte, der das Leben vital sicherte, aber den Raum für die Entfaltung des Geistes ließ, eine dem Leben des Menschen im 20. Jahrhundert angemessene, gleichermaßen widerspruchsvolle wie geordnete Wirklichkeit von Freiheit und Geborgenheit, Weite und Begrenztheit. »777 Kurzum : ‹ Behüten ›, so lautet die Maxime für den großen, durch Glasmembrane gefassten Raum hinter einer ‹ ästhetischen Grenze ›, den Mies wie ein universelles Prinzip aus dem zentralen Wohn-Kern seiner Häuser schält. In einem Begleittext für einen Museums-Entwurf aus dem Jahr 1943 wird die konstitutive Rolle von Landschaft und Kunst für die Möglichkeit des guten Aufenthalts in einem solchen Raum deutlich. Weil er nicht mehr von Schwere umfangen ist, das ‹ Beschützen › – die elementare Aufgabe der Baukunst – in eine neue Bedeutungsform überführt wurde, stellte es eine Herausforderung dar, ihn zu bewohnen. Schon durch seine frühen Auftraggeber im großbürgerlichen Kreis war Mies mit dem räumlichen Zusammenhang von Kunst und Wohnen konfrontiert. Beim Entwurf der Villa Kröller-Müller, eines Hauses für den Maler Emil Nolde, dem Anbau der bereits erwähnten Gemäldegalerie an das Haus Perls oder aber mit jenen Skulpturen auf kleinen Wandkonsolen, die sich in den Alltag der Krefelder Häuser einmischen, hat er Kunstwerke als wirksamen Bestandteil des Wohnraums etabliert und ihre Positionierung im Raum bedacht. Diese, manchmal getrennt, im Idealfall mit dem Wohnraum in eins gesetzten Orte der Kunst begleiten die Entwicklung von Mies’ ‹ neuem Landhaus › als Einraum : als Pavillon. Der wohnende Aufenthalt wäre auf eine weitere Weise mit der ästhetischen Erfahrung verknüpft, neben der ästhetischen Präsentation von Natur als Landschaft im Raum der Architektur – nämlich durch die Gegenwart von Kunstwerken. Erst bei jenem Pavillon, der diese Entwicklung zu einem Höhepunkt und zugleich an einen Endpunkt führt, dem Haus Farnsworth,

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verschwindet das Kunstwerk wieder. Wo die Natur in solcher Weise und Intensität auftritt, ist die Verdeutlichung der intensiven Dingbeziehung, die Konkretion eines geistigen Moments, den ein Kunstwerk ermöglichen kann, wohl nicht mehr notwendig. So offenbart sich neuerlich nur die entscheidende Aufgabe des Landschaftlichen in Mies’ Räumen : Nicht unbedingt gilt dabei der Vorrang des Naturschönen vor dem Kunstschönen – für Mies aber ereignet sich die Wandlung zum Besonderen bereits am Werk der Architektur, unterstützt von Werken der Kunst, umspült von Eindrücken der Natur, das Haus gesetzt auf eine Lichtung : Diese Veranschaulichung ‹ lebendiger Konkretheit › und somit der eigenen, fragilen Präsenz des Bewohners an einem konkreten Ort, muss wie eine Paradoxie erscheinen in einer Zeit voll Bewegung und Instabilität und bleibt doch ohne falsche romantische Untertöne. In den 1940er-Jahren, als die Zeitschrift Architectural Forum besagten Entwurf eines fiktiven ‹ Museums für eine kleine Stadt  › in Auftrag gibt, bettet Mies seinen Entwurf in eine für ihn typische Landschaft ein. Auf einer scheinbar raschen Bleistiftskizze setzt sie sich aus zwei kulissenhaft zueinander verschobenen, zu den Blatträndern hin ansteigenden Hügeln zusammen ; ein dominanter Baum im Mittelgrund, im Bildvordergrund eine große Plattform. Die Museumsarchitektur selbst beschreibt Mies mit den auf ein bekanntes Minimum reduzierten Mitteln : Dachplatte, Wandscheibe, Stütze. Das horizontale Blicken und Ausblicken, das auf diese Weise befördert würde, fände Verankerung in den ansteigenden Hängen der naturräumlichen Umgebung. Skulpturen im Raum oder Umraum des Museums deuten durch ihre Posen jene empfindsame Ruhe an, mit der man sich in ihm aufhalten sollte. Die umgebenden Berge sind zugleich das entscheidende Motiv, um räumliche Freiheit zu stilisieren und einen Ort zu schaffen, der behütet und doch von Weite charakterisiert ist, spiegelt sich doch das Erhabene der Berge im Bauwerk wider :778 Es ist die Landschaft, die mit den Kunstwerken wie auch den offen-durchlaufenden Hallen, mit der weit gespannten Dachplatte und Plattform in den Dialog tritt, einen ansteigenden Gegenpol zur architektonischen ‹ Ebene › formiert.

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Mies macht zeichnerisch deutlich, dass der Skulpturengarten eine vermittelnde Aufgabe zu leisten hätte, um die Schranke zwischen Kunstwerk und Lebensumwelt aufzuheben. Umgekehrt ließe sich sagen, dass Mensch und Natur durch die Präsenz der Kunst in ein anderes Verhältnis zueinander treten : Das Kunstwerk, wie das Werk der Baukunst, stellt sich Mies als « Verdichtung der Wirklichkeit »779 dar. Für den späteren Museumsentwurf Georg Schäfers in Schweinfurt aus den 1960er-Jahren erläutert Mies folglich : « Der Bau im Ganzen so wie die einzelnen Räume sollen immer in Verbindung zur realen Umwelt stehen, sollen dieser gegenüber geöffnet und verbunden sein. Die Verbindung von Kunst und Wirklichkeit wird unumstößlich anerkannt. » Die vermittelnde Rolle der Konstruktion zwischen Raum, Landschaft und Bewohner soll nochmals in Erinnerung gerufen werden – unter Einbezug der Kunst. Die Mies’schen Museumsbauten gingen schließlich nicht nur auf den Einraum des Wohnens, sondern augenfälliger auf die ‹ Industrieform › und den sakralen Raum zurück. Das Pathos der monumentalen Form hat Mies von Peter Behrens gelernt, die erhabene Gestimmtheit des Raums von Rudolf Schwarz. Auch für Mies bedeutet der Kirchenbau eine elementare Herausforderung an die architektonische Raumbildung. Im Vorwort zur Übersetzung von Schwarz’ Bau der Kirche, die 1958 in Chicago – daher 20 Jahre nach ihrer Erstpublikation – als The Church Incarnate erscheint, hält er fest : « Ich habe es immer wieder gelesen und weiß um seine klärende Kraft. Ich glaube, es sollte nicht nur von dem am Kirchenbau Interessierten gelesen werden, sondern von jedem, dem die Architektur ein echtes Anliegen bedeutet. »780 Es ist der große, vom Tragwerk bestimmte, durch dessen ‹ Struktur › befreite Raum, dem er schon als Kind im Aachener Dom begegnet war, der ihm zum Inbegriff von Architektur wird und dem er im Werk seiner beiden Mentoren wiederbegegnet. Im Kirchenbau fand die Halle ihre bedeutsame Anwendung, lange bevor die großen Bauten der Industrie und des Gewerbes als Forderungen des säkularisierten Jahrhunderts nach neuem Ausdruck verlangten. Als Mies am Campus seiner zweiten Hochschule, dem Illinois Institute of Technology, eine Kapelle zu planen hat, probt er konsequenterweise jene räumliche Lösung, die den Wohnraum und den Ausstellungsraum in

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seinem Werk längst zu bestimmen begonnen hat, eine « intensive rather than an extensive form »781, wie er sich 1953 auf Englisch darüber äußert. Respekt und Würde, wie bei einer gotischen Kirche, doch in den Mitteln der Gegenwart artikuliert, so lauten die Attribute dieser Bauaufgabe. Erneut wiederholt er sein Geschichtsverständnis, das sich als eigentliche Entwurfsaufgabe entpuppt : « Architecture should be concerned with the epoch, not the day. The chapel will not grow old [ …] it is of nobel character, constructed of good materials, and has beautiful proportions [ …] it is done as things should be done today, taking advantage of our technological means. The men who did the gothic churches achieved the best they could do with their means. » Die Sicherheit, die diese Worte begleitet, entspringt nicht nur der Klarheit seiner Gedanken, die für die Lehre an der Architekturabteilung einer Hochschule unabdingbar wäre, sondern auch der eigenen, langsam zu Bestimmtheit herangewachsenen Haltung. « They will understand it », meint Mies und weiß, dass seine Studenten und Mitarbeiter in diesem Raum die Prinzipien seiner Lehre verwirklicht finden würden. « In its simplicity it is not primitive, but noble, and in its smallness it is great – in fact monumental. » Einfachheit und Banalität lauten hier die Gegensätze, austariert auf einem schmalen Grat in einem Bauwerk, das aufgrund seiner relativen Größe am Campus übersehen zu werden droht. Im Gegensatz zu den Eisenkonstruktionen der umgebenden Bauten, die mit Klinkersteinen nur ausgefacht werden wie die Industriebauten seiner Heimat, handelt es sich bei seiner einzigen realisierten Kirche aus Kostengründen um eine massive Backsteinkonstruktion auf rechteckigem Grundriss, ausgeführt nach den Regeln des Goldenen Schnitts.782 Sowohl im Osten wie auch im Westen ist die Schmalseite des Baukörpers zu etwa drei Fünftel ihrer Breite durch von Stahlrahmen gehaltene Glastafeln geöffnet. Man tritt durch eine mittig gesetzte, transparente Doppelflügeltür in den Kirchenraum ein. Wie bei einem optischen Instrument umklammern also zwei zu einem ‹ U › gekrümmte Wandscheiben diesen Raum, werden von den beiden Fensterseiten ‹ zusammengehalten ›. Frei eingestellt in dieses derart geöffnete und doch geschlossene Geviert befindet sich eine Wand aus Betonsteinen, davor steht der Altar als massiver Travertinblock auf einer erhöhten Plattform. Vor einem

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Seidenvorhang hängt ein Kreuz, die nüchterne Betonsteinmauer verbirgt sich dahinter. Diese Wand, die dem Besucher als hinterer Raumabschluss erscheinen muss, entspricht der Breite des dahinter positionierten, zweiten, transluzenten Glas-Stahl-Elements. Sie steht dem Durchblicken durch diesen simplen Raum, seiner Durchlässigkeit im Weg. Die erzielte Wirkung ist entscheidend für das Raumerlebnis. Der Altar wird so von hinten mit Tageslicht umspült, das von beiden Seite, aus dem unsichtbaren Zwischenraum zwischen eingestellter Wand und tatsächlicher Außenwand, in den Andachtsraum dringt. Rudolf Schwarz meint über seine St. Fronleichnams-Kirche, über dieses Prinzip, das in einer der ersten, mit ausgefachtem Eisenbeton erbauten Kirchen in Deutschland zum Einsatz kam – einer Konstruktionsweise, die in Chicago ursprünglich auch vorgesehen ist : « Das Licht fällt von hoch oben durch eine Kette von quadratischen Fenstern, steigt am Altar herab und erlischt dann. Die Altarwand ist fensterlos. »783 Der in seinem Äußeren profan anmutende Chicagoer Bau bekommt im Inneren ebenfalls eine klare Ausrichtung – durch Lenkung des natürlichen Lichts. Das hier nicht von oben, sondern aus dem Verborgenen eingeleitete Licht wird zum Bedeutungsmoment. Zugleich stellt sich das beleuchtete Bauwerk nachts wie eine Schatulle dar, in der ein Kreuz verwahrt wird. Der Innenraum umfängt das Symbol, behütet es und hält das Numinose durch dieses sonst karge, auf die Beherbergung eines Kreuzes reduzierte Gotteshaus am Campus präsent. Durch das ‹ Prinzip Verhängen ›, das Mies aus der Zusammenarbeit mit Lilly Reich kannte und immer wieder Anwendung findet – etwa beim Café Samt und Seide in Berlin oder eben auch beim Haus Lemke und beim Haus Tugendhat –, entfaltet der sakrale Reichtum seine volle Wirkung : Verhängen und Verbergen, das Hineinschauen aufs Kreuz beim täglichen Vorübergehen ; ist man erst eingetreten, das selektive Ausschließen des profanen Draußen – das ist das Thema auch dieser Kirche. Mit dem Kunstgriff des hellgrauen, raumhohen Textils und dem von hinten erleuchten Raum verlagert sich die Aufmerksamkeit hinter das Kreuz – verbleibt nicht einfach bei der liturgischen Handlung oder dem christlichen Symbol. Der Ort der Liturgie wird zu einer Bühne, deren Vorhang sich nie lüftet. Das Gebaute ist Hinweis, der Raum ein Ereignis.

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Das Kreuz hängt auf der Vor-Bühne des Bedeutungsgeschehens, wird zum Stellvertreter für etwas, das sich nicht materialisiert, nicht eingetreten ist, geschehen könnte. Dieser Sinngehalt der räumlichen Stimmung würde zurückwirken auf die liturgische Handlung und bliebe in der Erwartungshaltung der Hoffenden zugegen. Anstelle eines Bildes ist in der Kapelle das Kreuz zur Verdeutlichung eines räumlich artikulierten Geschehens getreten, das durch das gerichtete Einfließen des Lichtes verstärkt wird und berührt – ergriffen macht. Im Jahr 1929, auf der Weltausstellung in Barcelona, hatte Mies nicht nur den berühmten Pavillon errichtet, sondern einen zweiten, heute endgültig zerstörten Raum für die deutsche Elektrizitätsindustrie. Es ist der vielleicht reduzierteste Mies’sche Zentralraum :784 ein Quadrat im Grundriss, 20 mal 20 Meter, mit abgehängter Decke, die im Gegensatz zur chapel die Spannrichtung der Träger kaschiert. Bereits bei diesem Bauwerk liegt das Tragwerk außen – die Raumbildung erfolgt auch hier durch Ziegelwände ; außenliegende Stahlträger verdeutlichen das Prinzip der Trennung von Raumabschluss und Tragwerk. In Barcelona treten sie erstmals an einem von Mies entwickelten Gebäude in Erscheinung, gürten den Baukörper zusammen, schnallen ihn an den Boden –785 noch ohne jene Eleganz, mit der sie an den Fassaden in Chicago, New York oder Montreal auftreten und zum Inbegriff einer Mies’schen ‹ Struktur › werden. Bereits damals indes rückt der Ausdruckswert des Tragwerks in den Vordergrund, während den Wänden andere Aufgaben zukommen. Über dem liegenden Rechteck der Öffnung zum Innenraum des Pavillons steht geschrieben : « PABELLON DEL SUMINOSTRO DE ELECTRICIDAD EN ALEMANIA ». Man tritt in einen abgeschlossenen Raum voll « Wunder » moderner Technologie, denn die Wände sind allseits mit Fototapeten verhängt. Im vollflächigen Bild an den Innenseiten der Außenwände verdeutlicht sich der ‹ Inhalt › des Gebäudes. Dies dürfte Mies mithin angeregt haben, die Auflösung der Wand in ganz anderer Weise weiterzudenken. Die Einkünfte aus der Patentierung seiner Möbel haben Mies in den 1930er-Jahre nicht unwesentlich finanziell unterstützt.786 Am Tag von Hitlers Einmarsch in Österreich, dem 12. März 1938, meldet er gemeinsam mit Walter Peterhans sein viertes Patent an. Diesmal geht es um keinen

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Stuhl, sondern ein Verfahren zum Bedrucken von Tapetenbahnen. Wie der Begleittext zu den technischen Zeichnungen darstellt, sollte es die realistische Übertragung fotografischer Vorlagen durch übliche Druckverfahren auf Tapeten und Plakate erlauben.787 Ein Thema, das die beiden noch nach Mies’ Emigration und zur Zeit seiner Lehrtätigkeit am IIT beschäftigen wird, melden sie doch ein neues Patent in Amerika an, das 1942 auch genehmigt wird. Weder der technische Mechanismus noch die ähnlichen, damals bereits in Frankreich und Amerika angemeldeten Verfahren sind hier von Interesse. Dietrich Neumann hat dargestellt, wie sich die Idee für die Tapeten aus dem Gespräch zwischen Lilly Reich und Mies beim Spaziergang im Berliner Tiergarten entwickelt haben soll, wo beide eine mit Laub bedeckte Wasserfläche beobachtet hätten.788 Überzeugt wird der Patentanwalt Godfried Bueren schließlich von der Patenwürdigkeit der Erfindung dadurch, dass es « hierdurch vor allem möglich, auf die Wand Landschaftsbilder zu bringen, die die durchgehenden Wandflächen optisch aufheben und auf der Wandfläche perspektivisch wirkende Bilder anzubringen, die eine bisher unbekannte Tiefenwirkung herbeiführen. Es ist in dieser Weise möglich, kleineren Räumen den Anschein eines größeren Raumes zu erteilen und umgekehrt. Es ist ferner beispielsweise möglich, ein dunkles Zimmer, das beispielsweise nach dem Norden liegt, durch entsprechende Bildwahl so auszugestalten, dass das Zimmer einen freudigen, sonnigen Eindruck erhält. In einem warmen Zimmer könnte beispielsweise durch Eislandschaften zeigende Tapeten eine kühlere Vorstellung erreicht werden. »789 In diesem Brief an Mies van der Rohe vom Oktober 1939 mag durchaus die Vorstellungskraft des Patentanwalts durchgegangen sein, der noch Überzeugungsarbeit beim Amt leisten muss. Er belegt indes, wie sehr es Mies um die Stimmung des Raumes ginge, die er in diesem Fall durch Bildeindrücke der Natur erreichen will. In Fortsetzung seiner händischen Raumskizzen, in Bezug zur Visualisierung gewünschter Raumstimmungen durch großformatige Collagen, mit denen Mies eine repräsentativere Darstellungsform des Zusammenklangs von Konstruktion, Raum und Landschaft gefunden hat, geben die kuriosen Tapeten weiteren Aufschluss über die Rolle, die er der Tiefenwirkung des Ausblicks für die Qualität des Innenraums beimisst : Zu

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allen vier Raumseiten des Pavillons sollten Blicke in eine imaginäre Landschaft der Technik möglich sein – wie aus einer gläsernen ‹ Zelle ›. Neumann verweist für den übergeordneten Einfluss dieser fotomechanischen Erfindung, die ab den 1920er-Jahren in der Luft lag, auf die Rolle der Wand in Mies’ Werk : « Wenn man die fotografischen Elemente der Collagen nun wörtlich nimmt, so hätte in der Tat ein illusionistisches Fotofresko oder eine Großreproduktion eines Kunstwerks die tragende Materialität einer Wand verschleiert und neue räumliche Beziehungen etabliert. »790 Das ‹ Vorbild › wirklicher Landschaften könnte auch dort in Szene gesetzt werden, wo diese nicht wirklich existieren – durch fotografisch festgehaltene und reproduzierte Räume, wie die Anwendung und Rezeptionsgeschichte der Foto-Murals in den USA der späten 1930er-Jahre belegen.791 Entscheidend aber ist : Immer wieder in der langen Architekturgeschichte hat das Wandbild die Möglichkeit geboten, nicht nur den Naturbezug herzustellen, wo dies faktisch nicht möglich wäre, sondern auf diese Weise auch ein Ideal zum Ausdruck zu bringen. So entsprangen die Malereien in den Pavillons des Rokoko dem Wunsch nach einer phantastischen, paradiesartigen Natur, wie sie im Garten nicht oder nicht zu jeder Jahreszeit präsent wäre.792 Lange zuvor, im römischen Haus der Livia, wurde der scheinbare Aufenthalt im Freien von einem Obsthain umgrenzt, bevölkert von lebensecht gemalten Vögeln – man vermeint sich inmitten einer geräuschvollen Gartenlichtung und weilt doch im geschützten, kühlen Innenraum unter der Erde. Wo möglich, wird Mies diesen ‹ Schein der Natur › durch die Natur selbst ersetzen. ‹ Landschafts-Tapeten › kommen bei ihm nie zum Einsatz, wiewohl in seinen Collagen Kunstwerke zu Wänden stilisiert und manchmal zu diesem Zwecke sogar aufgebläht werden. Die großen Glastafeln, die bei seinen amerikanischen Wohnhäusern gemauerte Wände ersetzen, stehen dennoch zu solch ideellen Blick-Öffnungen in direkter Beziehung. Man muss die Außenräume um Mies’ Häuser und Hochhäuser eben auch als imaginäre Räume deuten : Illusion und Wirklichkeit umgreifend. Das Landhaus steht erst in Amerika endgültig auf der Lichtung, ist zum idealen, allseits offenen Pavillon geworden ; zugleich sind jene

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technischen Möglichkeiten und Materialien der Zeit auf das Wohnhaus angewandt, wie Mies es als Aufgabe der Epoche angesehen hat. Gelichtete Offenheit In einem Radiointerview, aus Anlass seines Aufenthalts in Berlin, äußert sich Mies : « klar, klarer und klarer »793, « little by little » entfalteten sich seine Gedanken durch seine Bauten. Am Gelände neben dem Landwehrkanal, dem so genannten Kulturforum, neben der St.-MatthäusKirche des Schinkelschülers Friedrich August Stüler und Hans Scharouns Berliner Philharmonie, wird der Höhepunkt dieses Prozesses nachvollziehbar. Der Hauptraum der Neuen Nationalgalerie, der Höhepunkt auch von Mies’ großen Raumwerken für die Kunst, ist ein allseits nach außen geöffneter und doch behüteter Raum – Mies’ letzter errichteter Zentralraum ist auch ein großer Pavillon inmitten einer Lichtung. Nicht die historische Stadt ist sein Thema, sondern die Etablierung eines fortentwickelten Baugedankens in prototypischer Form, wie die in Berlin verwahrten städtebaulichen Pläne des Projekts zeigen. In ihnen tritt die Stadt als eine von Baumgruppen durchlichtete Siedlung auf. Man tritt in einen Großraum, durch acht aus den Ecken gerückte, im Außenraum vor den Glaswänden stehende Säulen gestiftet. Sie tragen das monumentale Stahldach von 65 auf 65 Metern. Wie bei Schinkels Altem Museum, in das man ursprünglich über einen Zentralraum geführt und eingestimmt wird auf den Besuch, ist man hier gleich nach Eintritt von einem erhabenen Raum umfangen. Wie im rund 200 Jahre älteren Neuen Museum dient der monumentale Raum der Sammlung, steht aber bei Mies in direktem Bezug zum größeren Stadtraum. Nicht eine Kuppel und ihre Höhenentwicklung, sondern die horizontale Offenheit der Halle überrascht den Besucher : die quadratische Granitfläche, der Sockel von über 100 Meter Seitenlänge, setzt sie hinter den Glasmembranen fort ; wie ein temenos begrenzt er den Innenraum ein zweites Mal, das acht Meter auskragende Dach mildert den Übergang. Man blickt zurück in die Stadt und sieht, an einem freundlichen Tag, eine baumumstandene Helle.794 Die kontemplative Wandlung des Besuchers ist das Ziel dieses Raumes : eine geistige Distanzierung von der Großstadt.

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Eine seiner Foto-Collagen für die Neue Nationalgalerie, mit denen Mies und seine Mitarbeiter die Raumwirkung der Projekte erproben und das Zusammenspiel von Innenraum und Außenraum prüfen, zeigt das zum Skulpturengarten geöffnete, tiefer liegende Ausstellungsgeschoß. Es verschwindet im alltäglichen ‹ Rauschen › der Stadt hinter dem steinernen Sockel. Hinter der Mauer des Patios erscheint überraschenderweise ein Wald. Mies’ kontinuierliche Arbeit an Leitdetails wie Leitgedanken wird deutlich. Als befände sich das Museum tatsächlich nicht inmitten Berlins, sondern in der Natur, wird der von der großen Halle gewonnene Eindruck, dass man sich auf einer Lichtung in der Stadt befinde, zur Idee der Waldlichtung verstärkt. Der Patio-Garten selbst ist ein bereits bekanntes Spiel geometrischer Beete, die ihre Form aus den Ausnehmungen in der Pflasterung gewinnen – Gleditschien, beschnittene Hecken, Wilder Wein wachsen hier im mit Platten aus Striegauer Granit nobilitierten, von Skulpturen bestandenen Hof. Diese vermitteln wieder zum Umraum, wie es Mies beim ‹ Museum für eine kleine Stadt  › beschrieb. Vom Ausstellungsraum aber, durch die Verglasung hindurch, gleitet der Blick in diesen Hof, wird dort von einer Mauer gebremst, auf die Bäume hinter dem künstlichen Horizont gelenkt, die dort mächtig emporwachsen. Der Lageplan verzeichnet einen Saum zu pflanzender Bäume. Beim Vorgängerprojekt für das Verwaltungsgebäude von Bacardi aus dem Jahr 1957 montieren Mies’ Mitarbeiter in die mehr als einen Meter lange Collage die Schwarz-Weiß-Fotografie einer diesigen Landschaft.795 Ihr Mittelgrund wird von einem sanft bebauten Hügelzug bestimmt, auf der Plattform vor dem Gebäude definieren einige seitlich wachsende Bäume den landschaftlichen Vordergrund und rahmen den Ausblick. Der gleichmäßig verhangene Himmel und der Linienzug der Fernlandschaft erinnern an Mies’ Handzeichnungen, die Methode der Visualisierung an sein Nachdenken über Idealräume zwischen Realität und ihrer Transformation – als hätte er stets eine solch konkrete und dennoch imaginäre Landschaft beim Entwerfen vor Augen, ein allgemeines Ideal. Auf der bereits erwähnten Collage für das Schweinfurter Projekt des Museums für Georg Schäfer aus den frühen 1960er-Jahren erscheint in einer ähnliche Ansicht, wie in einem Testlauf für Berlin, im weniger eleganten, sich offensichtlich noch entwickelnden ‹ konstruktiven Rahmen ›

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Patio der Neuen Nationalgalerie, Berlin 1965 (Collage auf Zeichenkarton, 75 × 101 cm)

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ein Seestück mit tiefem Horizont. Wird es in Berlin später eine Lichtung sein, ist es hier der Ausblick in eine weite Landschaft, den der Hallenbau rahmt. Die für die Sammlung eigentlich wenig repräsentative, fotografische Reproduktion eines Gemäldes Mark Rothkos aus dem Jahr 1952 ist in den ‹ Innenraum › der Collage gesetzt und auf die Typologie der Landschaft abgestimmt.796 Die Korrespondenz zwischen Kunst- und Landschaftserfahrung ist durch die Übereinstimmung der Horizontale des Gemäldes mit dem ‹ wirklichen › Horizont der Landschaftsfotografie hergestellt, die Beziehung von Innen- und Außenraum, Architektur und Natur für den Betrachter bekräftigt. Rothko selbst veranlasst, dass seine großformatigen Bilder tief gehängt werden – so, wie er sie auch malt. Er wünscht in Ausstellungen, dass man sie zunächst aus der Nähe, dann aus der Ferne betrachtet. Er wollte, dass sie – rahmenlos gehängt – Teil des Raumes würden. Durch ihre an den Alten Meistern geschulte Technik und leuchtende Farbigkeit bricht etwas ein in den Raum des Betrachters, das nicht anders als in dieser Erfahrung erkannt werden könnte. Reproduktionen von Rothkos Gemälden, die aus einer kontinuierlichen Entwicklung und Auseinandersetzung mit der Kunst der Renaissance und Rembrandts Farbigkeit zu einem abstrakten Ausdruck der Zeit gefunden haben, bleiben daher kraftlos und stumm. Das Erlebnis der puren, aus der inneren Tiefe der Farbe heraus leuchtenden Flächen, die sich aus dünnen Malschichten zusammensetzen, bedürfte der Konkretheit ihrer Stofflichkeit. Rothko ist es nicht um die Abstraktion an sich, um die Komposition von Flächen zu tun, sie waren nur das Mittel seiner Kunst, der es um das emphatische Erleben ging e: « Ich bin nur daran interessiert, grundlegende menschliche Gefühle auszudrücken – Tragödien, Ekstase, Untergang usw. »797 Das räumliche Erlebnis der Nationalgalerie scheint diese Idealisierung zu wiederholen, die Metapher der Lichtung erhält hier, an der ehemals dicht bebauten, im Zweiten Weltkrieg zerstörten, Gegend besondere Aufladung. Über zwei doppelläufige Treppen gelangt man aus der Helle der Halle in die dunkleren, im Sockel geborgenen Ausstellungsräume. Man spürt allerdings die natürliche Lichtquelle des nahen Patiogartens – sie scheint sich grünlich mit dem Kunstlicht zu mischen und wird stär-

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Museum Georg Schäfer, Schweinfurt 1963 (Collage auf Zeichenkarton, 76 × 101 cm)

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ker, je näher man auf ihn zuschreitet.798 Mies lässt erneut nur den indirekten ‹ Blick › nach draußen zu : durch Stimmung und Lenkung des Lichts zwischen den weißen Ausstellungswänden, die mächtige Betonpfeiler ummanteln. Das Bauwerk mit seinen unterschiedlichen Bezügen zum Außenraum, von Offenheit zu Geschlossenheit, zum geschlossenen Garten vor Bäumen, die Stimmung eines baumumstandenen Ortes, wirkt wie ein Gleichnis, bei dem man vom Hellen ins Dunkle und nach der verdeutlichenden Erfahrung des Gartens wieder zurück in die Stadt gelangt – ein Läuterungsprozess, der erneut Kunst und Natur als Kunst mit dem Alltag verbindet.799 Wie ein Zelt wird dieser Festpavillon errichtet, mit derselben konstruktiven Logik und scheinbaren Einfachheit der Elemente – Mies, von einem Hüftleiden geplagt, lässt sich die Gleichenfeier nicht entgehen, sein eigenes Berliner Büro, das er 1937 mit seiner Heimat verließ, das nicht von Bomben, sondern den Plänen Albert Speers zerstört wurde, in unmittelbarer Nähe. Kräne hieven den Rost auf die acht im Querschnitt kreuzförmigen Säulen, die sich nach oben hin verjüngen und am Verbindungspunkt zur Dachplatte auf ein Kugelgelenk reduzieren. Es sind tatsächlich wieder Säulen, die den Akt architektonischer Raumgabe in ihrem Spiel mit der Schwerkraft verdeutlichen.800 Die Konstruktion des Stahltragwerks der Nationalgalerie ist auf Wirkung berechnet, die Differenz von architektonischem Ausdruck und Statik auf eine positive, ästhetische Inkongruenz gebracht : Was der Ingenieur anders gelöst hätte, dient dem architektonischen Ausdruck von Schwere.801 Architektonischen Raum zu schaffen, wird hier auf den symbolischen Akt zurückgeführt, den Mies durch acht Säulen ausdrückt, die sich der Schwerkraft entgegenstemmen. Sie stehen meist im Zentrum der Debatte über die Tektonik der Nationalgalerie. Das Lasten des stählernen Trägerrosts und somit die Statik des Bauwerks wird umso eindrücklicher durch seine dunklen, beinahe zwei Meter hohen, raumhaltigen ‹ Kammern ›. Der Bauingenieur Stefan Polónyi mokiert sich über die Schwierigkeit des Schweißvorgangs, bei dem keine Spannungen im Material auftreten sollten. Ein Rost über einem quadratischen Grundriss, der – ihm zufolge – erstmals von Frank Lloyd Wright bei der Unitarian Church in Oak Park verwendet wurde, eigne sich nicht zur Fertigung auf der Baustelle.

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Und doch mussten für das Dach der Nationalgalerie fünfzehn Kilometer Schweißnähte über Kopf vor Ort bewältigt werden.802 Auch vor der Praxis macht die Idee der ‹ Struktur › nicht halt. Die so eingefangene Dunkelheit ist durch das lichte, umgreifende Glasband vom Boden geschieden.803 Nicht nur im Gesamteindruck tritt das Gebäude als Tempel auf, auch in den wahrnehmungsästhetischen Vorkehrungen knüpft es an die Antike an, wie Carsten Krohn festhält : « Da eine sehr lange, horizontale Linie den optischen Effekt eines leichten Durchhängens bewirkt, wurde die Dachplatte um zehn Zentimeter in der Mitte und fünf Zentimeter an den Enden erhöht. Eine derartige minimale Wölbung findet sich bereits bei den antiken Tempeln. Um den Eindruck einer geraden Linie zu erzeugen, beträgt beim Parthenon die Kurvatur des Stylobats elf Zentimeter auf knapp 70 Meter. Bei der Nationalgalerie sind es zehn Zentimeter bei etwa 65 Metern. »804 Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Mies’ zweite Reise nach Europa auch Griechenland gilt, wo er 1959 auf die Akropolis stieg, Delphi und Epidauros nicht missen wollte.805 Das Schauspiel, als sich ein monumentaler Stahlrost zu ‹ Struktur ›, zum leichten Dach wandelt, hat Mies erlebt. Das Zusammenspiel von Kunst und Landschaft bleibt ihm verwehrt. Die Wirkung der durch die Nationalgalerie geschaffenen Stadt-Lichtung hat er jedoch im Vorfeld an einem Modell ausprobiert. Mies ist sich bewusst, dass die Ausstellungsbedingungen in der Halle eine Herausforderung darstellen : « It is difficult to do an exhibition here. No question. But a great possibility for new ways to do it. »806 Da keine unmittelbare Nutzung räumlich erzwungen wird, der schiere Eindruck von Größe, Offenheit und räumlicher Freiheit sich einstellt, erhält der Hauptraum etwas Festliches, ein Gefühl des Sonntäglichen. Selbstverständlich erlaubt der monumentale Maßstab des Hallenraumes, der bis auf zwei Versorgungskerne freigespielt und für Wechselausstellung vorgesehen ist, keine intimen Ausstellungen, will man ihn nicht portionieren und damit den Eindruck der räumlichen Kontinuität stören. Um die Großzügigkeit des Raumes zu erhalten, schlägt Mies für die Mondrian-Retrospektive, mit der die Neue Nationalgalerie im September 1968 eröffnet werden soll, von der Decke abgehängte, wandgroße Tafeln vor. Auf ihnen sollten die Kunstwerke montiert werden. Zwar erweist sich

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dieses System als relativ unpraktisch, man greift aber auch künftig im Ausstellungsbetrieb immer wieder darauf zurück. Doch das ist auch der ‹ Sinn › dieses Raums. Die Ausstellungspraxis belegt Mies’ Intention einer spezifischen Modulation des Innenraums : Es ginge nicht um die Konzentration auf das eine, jeweils vor Augen liegende Kunstwerk, um den Betrachter ‹ bei sich ›, alleine mit seinen konkreten Gefühlen. Er wäre immer zugleich in einem großen Raum aufgehoben, in dem er sich befindet, in den er aber auch wieder physisch zurücktritt, wenn er zum nächsten Kunstwerk schreitet – sich aus der kontemplativen Betrachtung löst und in die Weite blickt. Er selbst wäre ästhetisch gestimmt, sein Blick würde vom Erhabenen der Kunst zum erhabenen Raum gleiten.807 Kunstwerk – Konstruktion – Landschaft, dieses Verhältnis im Raum der Baukunst vermittelt, so lautet das Beziehungsgefüge, das Mies ins Werk setzt. Es ist kein Zufall, dass der große Raum, den er eben « schon immer gemocht habe »808, eine Erfahrung ermöglichen sollte, die auf das Erhabene zurückgeht. Es ginge also auch in der Neuen Nationalgalerie um das, was Detlef Mertins « new ways of living »809 nennt. In die Natur gehalten Was gibt es denn noch zu sagen, nach der intensiven Verbindung von Gedanke und Form, von Haus und Natur in Mies’ organischer Ordnung, in Guardinis Seenlandschaft, in den Landhaus-Projekten der 1930er-Jahre? Hätte sich Mies nicht gezwungen gesehen, nach anfänglichen Versuchen, das Bauhaus und seine eigene architektonische Tätigkeit in Deutschland über das Jahr 1933 hinaus fortzusetzen, in die USA zu emigrieren, der Gedanke des ‹ Pavillons auf der Lichtung › hätte womöglich nie zu so klarer Ausprägung gefunden wie beim Haus Farnsworth, einem Haus mit geringen Anforderungen an Programm und Komfort. Das Haus Resor ist sein Vorgänger. Es ist Mies’ erstes amerikanisches Landhaus und – obgleich es wieder nicht gebaut wird – wohl auch jenes, das am radikalsten Mies’ Naturbezug im Zusammenhang mit Kunstwerken offenlegt. Als am 15. September 1968 die Neue Nationalgalerie eröffnet wird, ist Mies bereits 82 Jahre alt. 31 Jahre zuvor hat er seine Emigration in die USA mit dem Entwurf des

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Hauses für die Familie Resor vorbereitet : Kommt er für die Nationalgalerie als Bürger Amerikas nach Deutschland zurück, handelt es sich um jenes Haus, dessen Entwurfsprozess ihn auf dem Weg seiner Emigration lange Zeit begleitet. In dessen zentralem Raum ist das Wohnen auf beinahe nichts reduziert : Kunst und Natur – alle dienenden Räume auch hier zur Seite geschoben. Auf Vermittlung des Direktors des Museums of Modern Art in New York, Alfred Barr Jr., wird Mies im Sommer 1937 die Planung eines Sommerhauses in Wyoming übertragen.810 Am Snake River sollte er die bereits vom Architekten Marc Peter begonnene Arbeit zu seiner eigenen machen. Passend zum Namen des Seitenarms – Mill Creek – wäre das Haus direkt über den Fluss gesetzt ; obgleich mit Holz verkleidet und teils in Stein gefügt, wäre das eigentliche Tragwerk wie beim Haus Tugendhat als Eisenskelett ausgeführt worden. Mies, der im August zur Besichtigung des Ortes über New York anreist, liegt offenbar viel an dem Entwurf, denn trotz eines Telegramms, das ihn auf der Rückreise nach Europa erreicht und die Fortsetzung des Projekts von Seiten des Bauherrn anzweifelt, wird er noch bis in die 1940er-Jahre daran arbeiten. So liegen heute mehrere Varianten des großen Wohnraums vor : Immer geht es Mies um ein Wohnen, das sich in Tätigkeiten wie Lesen, Ruhen, Essen, Schreiben gliedert, jedoch konzentriert bleibt in einem großen Raum. Seine Reise in den westlichen amerikanischen Bundesstaat, wo die Ebenen der Great Plains zu den Rocky Mountains ansteigen und der zu den bevölkerungsärmsten des Landes zählt, macht ihn mit der Weite und Größe einer Landschaft bekannt, wie er ihr in Europa nicht begegnet ist. In der Folge wird er Frank Lloyd Wright treffen, ihn in seinen PrairieHäusern aufsuchen. Er wird mit einer vielseitigen, aber immer großräumigen amerikanischen ‹ Wildnis › bekannt, in ihr eingeschlossen die Vorstellung erhabener Natur. Das Ferienhaus der Resors, das davon zehrt, wäre ein Haus einer Brücke gleich geworden, den Fluss überspannend und zu beiden Seiten, über die volle Breite des zentralen Wohntrakts, verglast. Gerade diesen beiden Langfenstern widmet er mehrere seiner perspektivischen Studien : Welches Verhältnis sollte ihr rahmendes Format bekommen? Sollten sie zu beiden Seiten ein Parapet erhalten, der Raum den Eindruck eines Bootes erwecken? Sollte er doch nur eine kleinere

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Öffnung aus der hölzernen Wand schneiden und die Landschaft auf diese Weise als Bild an der Wand präsentieren? Oder aber sollten beide Seiten mit raumhohen Glasflächen versehen werden? Ein keineswegs selbstverständlicher Entscheid. Allererst gelte es die Raumwirkung zu überprüfen. Mies entscheidet sich für letztere Variante und wendet sein architektonisches Vokabular auch in Amerika konsequent an, stellt er doch schlanke Stützen vor transparente ‹ Membranen ›. Diese tragen die Last des Daches wie schon ihre europäischen Vorgänger ; anders als die späteren der Nationalgalerie entfalten sie ihre Wirkung wieder durch Verschlankung, Spiegelung – ein Beinahe-Nichts –, setzen sich im darunter liegenden Geschoß aber in den bereits vorhandenen Beton-Scheiben fort, während ein steinerner Kamin das Haus am Boden verankert. Der landschaftlich imprägnierte Raum, der sich beidseitig zur Ferne öffnet, wird noch auf andere, ebenfalls konstruktive Weise gerahmt. Wodurch sich dieses Haus wohl ins Gedächtnis nachfolgender Architektengenerationen eingeschrieben hat wie die ‹ fünf Projekte › der frühen 1920er-Jahre, sind jene Collagen, die aus diesem zentralen Raum hinausblicken. Nachdem Mies zur beschriebenen offenen Lösung für die Längsseiten des Wohnraumes gefunden hat, visualisiert er sie für seine Bauherren. Hier, an ausgezeichneter Stelle, versammelt er das Wohnen an zwei unterschiedlichen Ausblickslagen – durch Leseplätze an einem großen steinernen Kamin in der Mitte des Raums, an einem großen Essplatz, an einem abgeschiedenen Schreibtisch, immer in und doch über der Natur, in unwirklicher Nähe an einem extremen Ort, würde hier gewohnt : Boden- und Deckenplatte spannen den Rahmen auf wie ein Visier. Das Wohnen hier erfordert augenscheinlich eine handfeste Distanzierung von der nicht ungefährlichen Natur. Da das Gebäude nicht errichtet wird, sind seine Fundamente vom überströmenden Fluss gefährdet und werden im Lauf der Zeit durch die Kräfte der Natur zerstört. Die nie eingezogenen Bewohner hingegen wären in visueller Unmittelbarkeit der umgebenden Landschaft ausgesetzt gewesen, die sich vom tätigen Naturbezug der benachbarten Farmer und ihren traditionellen Häusern und Nebengebäuden diametral unterscheidet. Genau das ist das Thema von Mies’ Collagen für dieses Haus.

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Die Brückenkonstruktion des Hauses sieht eine auskragende Bodenplatte vor. Durch Zurücksetzen der Verglasung entsteht ein kleiner Vorsprung. Das wäre ganz praktisch, konnte man doch nicht nur auf eine schmale Loggia treten, um sich im Freien über dem Flusslauf aufzuhalten, sondern auch vor die Scheiben, um sie gegebenenfalls zu reinigen. Doch auch die erwähnten Collagen – wohl nicht bloß als Schaubilder für seine Klienten gedacht, sondern auch zur Überprüfung der Raumwirkung – zeigen diesen Vorsprung : zwei Varianten, zwei Weisen des Sehens. Mies nutzt die Schaubilder sowie das Haus selbst ganz eindrücklich als Sicht-Instrumente. Durch unterschiedlich stark vorkragende Platten könnte der Bildraum am Papier und im Wohnraum nämlich verändert werden. Freilich nicht in dem Maße, wie eine ins Zeichenblatt eingefügte, fotografische Aufnahme die erhabenen Berge ‹ freistellt ›, die Farmhäuser in der Nähe aber ganz ausblendet. Mies’ Intention wird anhand dieser Studien deutlich : Die Form des Bauwerks erklärte sich nicht aus der Konstruktion und den praktischen Bedürfnissen, sondern folgte der Justierung des Blicks – wie auf dem Zeichenpapier. Im Wesentlichen ist das Haus Resor ein zwischen zwei Aussichten geschobener Wohnraum. Das Thema ist reichlich bekannt. Hier aber wird der Mittelgrund zugunsten der Ferne ausgeblendet. Genau besehen wird er zu einer Plattform, wie später beim Haus Farnsworth. Mies setzt in die beiden Blick-Collagen jenen Fernblick, den er in Neubabelsberg schuldig geblieben ist : Richtung Norden eröffnet er sich auf das erhabene Panorama der Grand Tetons. Der nach den charakteristischen, über 4.000 Meter hohen Bergen benannte Nationalpark wurde 1929 gegründet. Ihnen gegenüber hat der Innenraum auf Mies’ Zeichenblatt sich in eine weiße Kammer aufgelöst. Nur durch die beiden Stützenpaare materialisiert er sich und erhält perspektivische Tiefe, bleibt indes ganz auf die imposanten Bergspitzen geheftet. Von diesem Panorama schneidet Mies mit seinem ‹ optischen Instrument › die am Flusslauf liegenden Bauten ab, richtet den Ausblick in zwei unterschiedlichen Perspektiven zurecht, optimiert ihn nach dem Ideal eines landschaftlichen Wohnraums. Die Collage mit der Fotografie der realen Landschaft soll offensichtlich einen dennoch wirklichen Eindruck dessen wiedergeben,

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Haus Resor, Blick nach Norden, 1938 (Collage auf Zeichenkarton, 50 × 76 cm)

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Blick nach Norden : ‹ cut › (Collage auf Zeichenkarton 76 × 101 cm)

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was die Bewohner des Hauses in der vermeintlichen Einschicht genossen hätten. So jedenfalls sollten sie, so wollte Mies diese Landschaft sehen. Wie beim Landhaus aus Backstein definieren die architektonischen Elemente einen Blickraum, diesmal nicht durch ausgreifende Mauerzüge, sondern eben durch Boden- und Deckenplatte. Während die Rahmung des Blicks jenen Vorgang wiederholt, bei der Natur zur Landschaft wird, steigert sich diese Geste gegenüber dem Nationalpark der Grand Tetons, in dem ja die Natur in ihrer Eigenart vor menschlichen Eingriffen bewahrt werden sollte, vom Siedlungs- und Nutzungsdruck entlastet. Die erhabene Natur zählt in Amerika zur nationalen Identität – ihr korrespondiert das Technisch-Erhabene, durch das der Kontinent vor nicht allzu langer Zeit erobert wurde.811 Mies’ Bauwerk scheint dies auf friedliche Weise zu wiederholen, wie es auch die Genealogie des ‹ ästhetischen Blickens › wiederholt : Die Bildverschiebung, das Ausblenden der Farmhäuser, die bis auf die Dächer aus dem Panorama verschwinden, berührt jene maßstabslose Größe, von der Simmel in der Firn-Natur der Gletscher sprach. Sie handelt vom Erhabenen schlechthin und war doch auch gegenwärtig in der eigentümlichen ‹ Fremdheit ›, die der Rahmen des Hauses Tugendhat, des Hauses Lemke oder auch die Serliana im Haus Riehl dem aufmerksam Schauenden entgegensetzte. Der Blick vom Haus Resor gen Südosten fällt – wie durch ein Fernrohr – auf eine felsige Fläche mit zwei Reitern. Paul Klees Gemälde Bunte Mahlzeit, das sich damals im Besitz der Familie befand, davor ein als Möbel in die Collage gesetztes Stück Holz, wirken so abstrakt wie der gewählte Ausschnitt der Natur. Narrativ sucht Mies nach Verstärkung des Bild-Eindrucks, wenn zwei Reiter in wilder Natur sich bewegen – ein dritter verbirgt sich hinter dem Gemälde, in diesem Schaustück zu den Dimensionen von 75 auf 100 Zentimeter angewachsen. Beim gewählten, in die Zeichnung eingefügten Schwarz-Weiß-Foto handelt es sich um den Filmstill eines Westerns. Das Sujet opponiert der bäuerlichen Siedlung im Mittelgrund des anderen Panoramas und wiederholt die Eroberung der Natur durch Verdeutlichung des geschichtlichen Entwicklungsprozesses menschlicher Naturverhältnisse : vom ‹ Western › zum Bauern. Wolf Tegethoff spricht auch hier von einem Bildraum, zu dem die Landschaft in dieser Konstellation erst würde, weil sie sich wie auf einer

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Bühne präsentierte. Er argumentiert mit dem Neukantianer Nikolai Hartmann und wiederholt, was die Landschaftstheorie der Moderne generell festgestellt hat, dass die Landschaft in Korrespondenz zur Herausgehobenheit eines Betrachters aus der Natur sich erst konstituiere : « Die bewusste Umwandlung der Landschaft zum Bild aber ist unabdingbare Voraussetzung für die immer weiter vorangetriebene Öffnung des Baukörpers. Denn nur so kann der Raum seine Identität und Eigenständigkeit bewahren, Geborgenheit und Schutz und dennoch ein Gefühl von Freiheit vermitteln »812, wiederholt er diesen zentralen Gedanken für das Mies’sche Landhaus. Nicht nur aus dem hektischen Stadtgefüge, sondern auch aus der Agrarlandschaft und freilich auch aus den Kräften der Natur ist man herausgehoben. Es scheint nun, in Mies’ amerikanischen Wohnbauten ist die Bewirtschaftung der Landschaft, aber auch der gärtnerische Zugang zur Natur ganz der ästhetischen Kontemplation gewichen. Umso mehr müsste es sich um eine belebte Natur handeln, um eine spezifische Präsentation des Draußen : das Rauschen des Flusses, die jahreszeitliche Verschiebung zwischen Hochgebirge und Flusslandschaft etc. bleiben präsent. Allein, für den Wohnenden stellt sie sich als entkoppelt dar von den realen, oft unwirtlichen Kräften, die in ihr wirksam sind. Sie verwandeln sich zum Schaustück für alle Sinne, den Betrachter emotional einbindend. Die 1953 erschienene Ästhetik Nikolai Hartmanns erlaubt nochmals die theoretische Verknüpfung des Dynamisch-Organischen mit der BildLandschaft. Beide beruhten auf einer Distanzierungsleistung des Subjekts :813 « Jetzt ist der Schauende herausgehoben, ist gegenüber. Vielmehr hat er die Landschaft sich gegenüber. Er selbst ist eigentlich erst jetzt schauender Betrachter geworden und damit ästhetisch Genießender »814, beschreibt Hartmann den entscheidenden Vorgang einer wechselseitigen Distanzierung. Er spricht von einem « Erscheinungsverhältnis », das der Lebendigen-Konkretheit Guardinis gleicht, der ja von der ‹ Anschauung › als zentraler Einheit von Verstand und Sinnlichkeit gesprochen hat. In einer Landschaft nun sei « alles aufeinander eingespielt ; es besteht nur zusammen, was zusammen bestehen kann, und es kann offenbar nicht alles Beliebige zusammen bestehen »815, schreibt wiederum Hartmann. Zum Erfahrungsgehalt eines solch lebendigen Bildraums werden Licht,

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Bläue, Ferne, Jahreszeit, Tageszeit etc.816 Das ‹ Für-sich-Sein › der selbsttägigen Naturerscheinung trifft in Hartmanns Charakterisierung auf ein « Für-Uns-Sein »817. Die Natur wird im landschaftlichen Bild-Raum lebendig und zum Ur-Eindruck konkreter, sinnlicher Präsenz. Ästhetisch stellt sich die uns erfüllende und dennoch fremde Ordnung der Natur entgegen, « ein unbeirrbares Gefühl für die völlige Andersheit der Natur .»818 Die trügerische Einheit des Landschaftsraums zeigt sich demnach erneut als Gegenüber, an dem wir nur in Maßen teilhaben dürfen – für uns, doch ohne uns. In dem Maße, in dem er sich unserer Erfahrung öffnet, zeigt sich sein Inhalt als uns Verschlossenes. Diese Art der Teilhabe erreicht viel mehr als die ‹ Vereinnahmung › durch den Begriff, weil die Freiheit erhabener Natur in ästhetischer Widerspiegelung unsere eigene verdeutlicht. Gerade daraus erfährt die landschaftlich erfahrene Natur ihre Bedeutung : aus Unverfügbarkeit. Hartmann selbst spricht von der radikalen Stille, Indifferenz und Gleichgültigkeit als geistigem Gehalt dieser Naturerfahrung, die aber doch « für uns ist »819. Auch Adorno hat die diesem Naturbezug eingeschriebene Dialektik untersucht : Herrschaft und Freiheit sind darin aneinander vermittelt. Die Idee einer positiven Herrschaft der Ideen ist nicht zuletzt im Gefühl der unendlichen Größe und unendlichen Kraft der erhabenen Natur geborgen und erstmals umfassend durch Kant beschrieben worden. In Adornos Ästhetischer Theorie heißt es : « Indem jedoch Erhabenes angesichts der Natur soll gefühlt werden können, wird der subjektiven Konstitutionstheorie gemäß Natur ihrerseits erhaben, Selbstbestimmung angesichts ihrer Erhabenheit antizipiert etwas von der Versöhnung mit ihr. »820 Diese Art der Versöhnung vollzieht sich als Abkehr des Menschen von der technischen Herrschaft über die äußere Natur und über sich selbst – ohne die Technik gänzlich hinter sich zu lassen. Sie fragt nach der ästhetisch gewonnenen, neuen Haltung gegenüber der Natur und fordert eine kritische Haltung der Technik gegenüber. Den Gegensatz realer Kräfte und geistiger Ideen überwindet sie dort, wo eine reale, gestaltete Ordnung in die Welt gesetzt ist. Sicherlich hat Mies nicht an einen Terminus wie jenen der ‹ ästhetischen Reflexivität › gedacht, als er das Landhaus am Snake River entwarf.

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Wie er indes in einem Gespräch bemerkt, ginge es wirklicher Architektur um Proportionen ; Proportionen, die nichts kosten : « Meistens sind es Proportionen zwischen den Dingen ; es sind nicht einmal die Dinge selbst. Es macht natürlich dem Architekten sehr viel Arbeit, die Zwischenräume durchzubilden. Das Künstlerische ist fast immer nur eine Frage der Proportion. »821 Noch im Jahr 1966, als diese Bemerkung für einen Fernsehfilm des Bayerischen Rundfunks aufgezeichnet wird, ist er davon überzeugt, dass es um die Ordnung zwischen den Dingen gehen müsste – den Zwischenraum der Dinge, den architektonischen Raum, der sie zum Leben erweckt. Auf der Lichtung Der Kulturgeograf Leo Marx hat in seinem Buch The Machine in the Garden – einem Grundlagenwerk der American Studies aus dem Jahr 1964 – die spezifisch nordamerikanische Naturvorstellung mit der Idee des ständigen Neuanfangs in scheinbar unverbrauchter, ewiger Natur verbunden.822 Die Identität des ‹ Frontiers › habe sich so aus der Geschichte der Eroberung des Kontinents ins gegenwärtige Naturbild gerettet, durchziehe untergründig das Naturbewusstsein seines Landes. Diese Fortsetzung und Neubewertung der europäischen Idee des Pastoralen deutet er folglich als Gegenreaktion auf Ausbeutung und Eroberung, angetrieben vom Mythos des Fortschritts.823 Marx prägt den Begriff des « Neopastoralen »824, eines « remedy for the sensory and other deprivations and constraints of life in the industrial city. » So aber gibt er den ‹ kristallinen › Landhäusern Mies van der Rohes nicht nur einen kulturgeschichtlichen Rahmen, sondern thematisiert neben dem Zusammenleben des modernen Menschen mit der Natur auch jenes unter Menschen. Marx’ Argumentation nimmt teil an der soziologisch, psychologisch und gesellschaftspolitisch untermauerten Bedeutung, die man der Landschaftserfahrung schon um 1900 beimaß. Das ‹ Aushalten-Müssen von Widersprüchen › zeigt sich noch immer und kulturübergreifend als Aufgabe des modernen Menschen schlechthin. Doch im amerikanischen Raum, an dem Mies seit 1937 durch seine Projekte teilhat, wäre eine Form der organischen Ordnung bereits eine

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Generation vor Mies ein zentrales Thema gewesen : « For Mumford, as for Sullivan and Wright, organic form is an antitechnocratic principle of order, a principle that can and should guide the architect in subordinating the new architectural components (steel, glass, elevator, and so on) to the most inclusive sense of the building’s or city’s function. The principle thus would require the harmonious accomodation of each building to the site, each site to the city, each city to the region. »825 Dass sich Mies’ Konzept jedoch nicht mit einer ‹ organischen Architektur › deckt, ist bereits deutlich geworden. Das bestätigt auch Kenneth Frampton, der Überblick über die Entwicklung der modernen Landschaftsarchitektur zu gewinnen sucht und auf einem Symposium des New Yorker Museum of Modern Art im Jahr 1988 seine Überlegungen vorgestellt hat. Er ordnet Mies einer « Prussian culture of romantic classicism »826 zu, einer Architektur, die sich gegen « the vastness of space and time »827 stelle. In Amerika, wo weite Landstriche noch zu finden wären, bleibt die Aufgabe des neuen Landhauses dieselbe. Wo Mies nicht mehr geschickt den Landschaftsraum europäischer Flüsse und Seen inszenieren muss, geht es weiterhin um eine ganz spezifische Beziehung, den Überlegungen Framptons zufolge allerdings weniger darum, die Landschaft zu « kultivieren »828 als ein Bauwerk darin zu « wiegen », in einer « dialectical fusion », wie er in seinem Essay In search of the Modern Landscape meint. Adornos Beschreibung der amerikanischen Landschaft fügt sich in dieses Bild : Beidem, seiner Kulturkritik wie auch seiner Ästhetischen Theorie, liegen amerikanische Erfahrungen zugrunde. Während seiner Analyse der Kulturindustrie in den 1940er-Jahren hat er in der Neuen Welt auch auf die Landschaft geschaut, er, der sich später als « Bergmensch »829 bezeichnen wird und sich ein Leben zwischen Wien und Südtirol vorstellen kann. Über die amerikanische Landschaft vermerkt er in einer längeren Passage aus dem dritten Teil der Minima Moralia, die just in jenen Jahren verfasst werden, als Edith Farnsworth und Mies das Grundstück am Fox River immer wieder in Augenschein nehmen : « Der Mangel der amerikanischen Landschaft ist nicht sowohl, wie die romantische Illusion es möchte, die Absenz historischer Erinnerungen, als dass in ihr die Hand keine Spur hinterlassen hat. Das bezieht sich nicht bloß auf das

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Fehlen von Äckern, die ungeordnet und oft buschwerkhaft niedrigen Wälder, sondern vor allem auf die Straßen. Diese sind allemal unvermittelt in die Landschaft gesprengt, und je glatter und breiter sie gelungen sind, umso beziehungsloser und gewalttätiger steht ihre schimmernde Bahn gegen die allzu wild verwachsene Umgebung. Sie tragen keinen Ausdruck. Da sie keine Geh- und Räderspuren kennen, keine weichen Fußwege an ihrem Rande entlang als Übergang zur Vegetation, keine Seitenpfade ins Tal hinunter, so entraten sie des Milden, Sänftigenden, Uneckigen von Dingen, an denen Hände oder deren unmittelbare Werkzeuge das ihre getan haben. Es ist, als wäre niemand der Landschaft übers Haar gefahren. Sie ist ungetröstet und trostlos. Dem entspricht die Weise ihrer Wahrnehmung. Denn was das eilende Auge bloß im Auto gesehen hat, kann es nicht behalten, und es versinkt so spurlos, wie ihm selber die Spuren abgehen. »830 Adornos Exil liegt im Westen der USA. Sein Urteil ist apodiktisch wie hellsichtig. Ihm liegt nicht nur die Erfahrung der europäischen Kulturlandschaft zugrunde, er liefert ein kleines Manifest darüber, wie schnell Technik in Herrschaft umschlägt, wenn sie nicht von sorgender und pflegender Hand geläutert würde. Und so wäre diese Erkundung Adornos nicht als Absage an die herbe Größe der amerikanischen Landschaft anzusehen, an ihre nur scheinbare Unverbrauchtheit, an die auch das Haus Resor und später das Haus Farnsworth sich binden. Nur wenige Absätze unter der zitierten Stelle vermerkt Adorno über ihre eigentliche Qualität, die sich am Snake und Fox River so mustergültig zeigt : « Schönheit der amerikanischen Landschaft : dass noch dem kleinsten ihrer Segmente, als Ausdruck, die unermessliche Größe des ganzen Landes einbeschrieben ist. »831 In diesem Spannungsfeld stehen Mies’ amerikanische Häuser. Die amerikanische Literatur ist vom Topos der in die Natur eindringenden Maschine tief geprägt. In Marx’ ‹ Neopastorale › sind die daraus folgenden Widersprüche auf einen Ton geschrumpft : das Pfeifen der Lokomotive. Es dringt an alle Orte vor, so sehr sie sich abwenden wollen von der modernen Zivilisation und ihrer technischen Erschließung.832 Die Lokomotive gilt in Amerika als Symbol des technischen Fortschritts par excellence, mit ihr jene fortschreitende Mobilität, die mit

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der Massengesellschaft einhergeht. Letztlich ermöglicht sie ein ‹ urbanes › Wohnen noch an den der Großstadt entferntesten Orten – etwa am Snake River – ; an Orten, die sie jedoch zugleich zu zerstörten droht. Ein Dilemma, das bis heute anhält wie die Sehnsucht des Großstädters nach ‹ Natur ›, wenn auch nur zeitweilig genossen. Transzendentalismus Henry David Thoreaus berühmte Hütte bei Concord steht wie ein Urtypus auf dem ‹ Mittelgrunde ›, den Marx beschrieben und für den amerikanischen Landschaftsraum hervorgehoben hat.833 An den Geleisen am Walden Pond, zwischen Erfüllung und Verlust, zwischen Kontemplation und Tat, zupackender Selbstversorgung und Distanzierung von der Zivilisation, kurzum : im fiktiven ‹ Mittelgrund › zwischen Stadt und Natur, in Marx’ ruburbia liegt das erste moderne amerikanische Haus. In Henry David Thoreaus Essay Walking, der im Bostoner Atlantic Monthly 1862 erscheint, heißt es in eleganter Übersetzung : « Das Städtchen ist der Ort, dem die Straßen zustreben, es ist eine Art Erweiterung der Landstraße, wie ein See die Erweiterung eines Flusses ist. »834 Diese Textpassage ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert : Erstens wird die Stadt von der Straße aus gedacht, als deren Erweiterung, zweitens die Stadt als See, wie eine Naturgegebenheit behandelt.835 Beim Spaziergang aber, so meinte bereits Schiller, verhielt schon der moderne europäische Mensch sich landschaftlich gegenüber Natur : er genießt ästhetisch. Die Bedingungen hierfür werden von Thoreau nur nochmals formuliert. Dass die Landschaft nicht vollständig ‹ zahm › werden dürfe, lautet auch hierfür die Grundvoraussetzung – sie müsse ihr Eigenrecht bewahren.836 « Ich möchte einen extremen Standpunkt einnehmen, und zwar mit Entschiedenheit, denn Verfechter der Zivilisation gibt es bereits genug »837, bekräftigt er. Denn, um mit einem weiteren Vertreter des Kreises von Concord zu ergänzen, Ralph Waldo Emerson, die Natur hätte viel zu sagen, sie « tritt niemals unbedeutend in Erscheinung »838. Dabei aber trägt sie stets die « Farben des Geistes ».839 Bedeuten kann sie nur etwas für ihren Betrachter. Auch Emersons Enthusiasmus ist überschießend und geht so weit, hinter die Trennung von Mensch und Natur

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zurücktreten zu wollen, wenn er in seinem berühmten Buch Nature 1836 meint : « Ich werde zu einem durchsichtigen Augapfel ; ich bin nichts ; ich sehe alles », die Felder, die Wälder, sie « neigen sich mir zu, und ich neige mich ihnen zu. »840 Es war Thoreau, der seine zum Nationalmythos gewordene Hütte am Walden Pond aufschlug und die Einsamkeit suchte ohne die Last des Kantischen Theoriewerks. Aber dessen Gedanken sind nicht fern. Und auch die Frage des schieren Überlebens hat ihn bei allem gelebten Transzendentalismus nicht verlassen, die Ökonomie, wie zahlreiche pragmatische Tabellen seines Buches Walden ; or, Life in the Woods von 1854 belegen. Schließlich folgt er nur dem Aufruf seines Freundes und Lehrers Emerson, der jenseits metaphysischer Einheitsphantasien das bekannte Diktum geprägt hat : ‹ We are encamped in nature, not domesticated ›. Diesen Zustand gilt es dort ästhetisch zu akzeptieren, wo wir heute wohnen. Nichts anderes hat Edith Farnsworth vor, rund 100 Jahre nach ihm : Ein Haus in der Natur errichten. Es sind also weniger Wildnis und Prärie, mit der Mies bei seiner ersten und entscheidenden Reise in die USA 1937 konfrontiert wird, als jenes, durch den amerikanischen Transzendentalismus aus dem deutschen Idealismus übernommene Verhältnis zur Natur, das in Nordamerika in dem Maße allgemein geworden ist, in dem es sich in Literatur, Malerei etc., kurzum : im nationalen Selbstverständnis, festgesetzt hat. Insofern diese Natur importiert wurde, ist Mies nicht in der Fremde gelandet – kann er mit seinen Landhäusern fortsetzen, wo er in Deutschland gezwungen war, seine Arbeit zu beenden. Der Bauplatz am Fox River ist beides : ein physischer und ein imaginärer Ort. Der ‹ Mittelgrund › des Hauses Farnsworth, wo man einst auf einem Bauernhof und in einigen Mühlen tätig war, stellt ideell eine Lichtung dar, die eine Wildnis als ihren natürlichen Umraum suggeriert. Als seine Besitzerin alles unternimmt, um die Neuerrichtung einer nahen Brücke über den Fox River – daher einer breiten Straße am Rande ihres Grundstücks – zu verhindern, lässt sie archäologische Grabungen vornehmen. Prähistorische, 2.000 Jahr alte Artefakte werden zu Tage gefördert.841 Es wäre eben kein Ort ohne Vorgeschichte. Aber er sollte als ein solcher erscheinen. Der amerikanische Mittelgrund, der beim Haus Resor auf

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einen Vorsprung der Bodenplatte geschrumpft ist, wird hier zu einem ambivalenten Ort, an dem sich Mittelgrund und Ferne zusammenziehen. Das wäre nur auf einer Lichtung möglich, ihr Saum die erste Tat der Besiedelung, die das ‹ Gegenüber › als organisch sich wandelnde Grenzziehung präsent hält. Wenn man so will, nimmt der Pavillon auf der Lichtung daher nicht nur an der Entwicklungsgeschichte der Mies’schen Landhäuser teil, vollendet sie, sondern fügt sich auch in die Geschichte des amerikanischen Raums ein. Mies muss die ‹ Verpflanzung › seiner Häuser und Raumtypologie aus Sicht der hierfür höchst sensitiven Gartenkunst auch deshalb nicht weiter ‹ problematisieren ›, weil sich ihnen eingeschriebene, landschaftliche Gestaltungsweise als Teil einer gemeinsamen Ideengeschichte erweist. Sie ist eben nicht nur in Thoreaus Transzendentalismus präsent, sondern auch in der Geschichte der Gartenkunst Nordamerikas, in die sich Mies durch die Zusammenarbeit mit einem Landschaftsarchitekten einzubinden weiß. Hier, in diesem neuen Habitat, erhält die Kooperation zwischen den Disziplinen Architektur und Landschaftsarchitektur eine weitere Facette. Kulturelle Floskeln, Annehmlichkeiten und Formeln gesellschaftlichen Wohnens fallen auch vom Haus Farnsworth weitgehend ab. Möglich ist dies durch die schwierige, doch exzeptionelle Beziehung zwischen Auftraggeberin und Architekten. Mies hat die einmalige Gelegenheit – ähnlich wie später beim öffentlichen Bauwerk der Nationalgalerie –, jene Ideen ins Werk zu setzen, die so oft im Projektstatus stecken geblieben sind. Es ist daher auffällig, dass der Plat of Survey des Hauses – neben der Überblicksdarstellung des Grundstücks – zwei bauliche Entscheide herausstreicht. Zum einen handelt es sich um das technische Detail eines voluminösen Versorgungsrohres, zum anderen um die genaue Situierung des Hauses auf dem Grundstück am Fox River, 60 Meilen südwestlich von Chicago, nahe der Stadt Plano. Ohne dieses ominöse, schwarz gestrichene Rohr, der – neben den Stützen – einzigen Verbindung von Grund und Haus, das unter der Plattform des ansonsten weißen Hauses im Verborgenen liegt, wäre es nicht dauerhaft bewohnbar. Den Blicken entzogen, versorgt es die Bewohnerin mit Wasser und Strom, leitet Abwässer fort, ist der funktionale

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Lebensstrang des Hauses. Um solch primäre Angelegenheiten muss man sich zuallererst kümmern, will man ein Haus auch ‹ abseits der Zivilisation › errichten, das wohnlich wäre. Selbst wenn es wie eine Urhütte auftritt, wie ein Laugierscher Skelettbau aus Stahl, wie ein exaktes Resultat der Semperschen Formel, bei dem die Feuerstelle den Innenraum dominiert, die textile Membran zum dünnen Glas geworden ist, die Erdaufwallung zur aufgeständerten Ebene, das Dach zur Attika – alles in allem tatsächlich ein Symbol : ein radikal modernes Haus mit Geschichte. Seine Auftraggeberin, Edith Brooks Farnsworth, 1903 in Chicago geboren, italophil, distinguierte Nieren-Fachärztin, Forscherin, Übersetzerin und Musikerin, hat in den 1970er-Jahren eine Gedächtnisnotiz über ihre erste Begegnung mit Mies verfasst. Man trifft – nicht zufällig – in der Wohnung einer Chicagoer Freundin aufeinander. Dort soll unmittelbar die Idee für das Ferienhaus gefasst worden sein. Unter diesen Erinnerungen befindet sich Mies’ – angeblich – erste Bemerkung über den Bauplatz, den beide an einem kalten Abend mit Farnsworths Chevrolet erreichen : « It is beautiful! »842, soll er spontan ausgerufen haben. Aus diesem Ausflug werden regelmäßige, gemeinsame Sonntagstouren zu allen Jahreszeiten. Auch diesmal wolle Mies die Landschaft, in der er baut, in all ihren Schattierungen erleben. Heute befindet sich auf der gegenüberliegenden Uferseite des Farnsworth Hauses der River Spring State Park. Es ist idyllisch. Als Farnsworth das Anwesen vom Herausgeber der Chicago Tribune, Robert R. Mc Cormick, im Jahr 1945 ersteht, befindet sich dort ein Bauernhaus mit Nebengebäuden. Eine historische Karte aus dem Jahr 1870 zeigt eine Brücke, etwas weiter südwestlich von der späteren Position des Hauses ; mehrere Mühlen lagen zwischen locker stilisierten Wäldchen, die Gegend selbst ist immer wieder von großen Flächen Farmland durchsetzt. Eine Straße führt von der Planstadt Plano zum südlicher gelegenen Millcreek und kreuzt dort das Fließgewässer. Diese Straße begrenzt das Grundstück gegen Norden, bevor sie sich mit einer Linkskurve zum Fox River wendet. Unabhängig von jenem Gerichtsprozess, der im Kendall County auch nach außen hin das Ende der Beziehung zwischen Farnsworth und Mies bedeuten sollte,843 den in der Presse lancierten Aussagen über die Unbewohnbarkeit des Hauses, verbringt die Bauherrin dort

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20 Jahre. Selbst nachdem sie es im Jahr 1968 an den englischen Immobilienmanager Peter Palumbo verkauft, wird sie es noch einige Jahre bewohnen, bevor sie – wohl mit dem beträchtlichen Erlös – ein Anwesen in der Nähe von Florenz ersteht. Es ist die Verlegung der Fox River Bridge, für die sie zwei Acres ihres Grundes – trotz vielfältiger Versuche dies abzuwehren – abtreten muss, die sie dazu bewogen haben mag. Hier, in der Idylle, würde man nicht nur den Autolärm hören, sondern im Winter auch sehen. Das Versprechen des Hauses ist gestört, das ‹ Pfeifen › zu laut geworden. Mies’ Lageplan zeigt zudem die Positionierung dieses Landhauses entlang des Fox Rivers, im schütteren Wald mit einigen Büschen, exakt zwischen die Bäume eingepasst. Ein mächtiger Ahornbaum besetzt den Platz vor dem Haus. Dieses ufernahe Überschwemmungsgebiet ist der Grund für ein Haus auf Stelzen. Gefahr und Genuss, Naturschauspiel und Naturkraft liegen so nahe beisammen wie selten in der Architekturgeschichte der Moderne – das gilt allerdings zuvor schon für das Haus Resor. Indes, Mies entscheidet sich bewusst für diesen Ort auf einem weitläufigen Bauplatz, der die Errichtung des Hauses auch an weniger ausgesetzter Stelle erlaubt hätte. Eine alternative, höher gelegene war im Gespräch, doch erklärt der Architekt : « We discussed the advantages and disadvantages of both places and I proposed to Dr. Farnsworth to build close to the river where there were beautiful old trees. »844 Die planliche Darstellung deckt sich also mit Mies’ ausdrücklichem Wunsch, das Haus unter und zwischen alten Bäumen zu errichten. Wie bei seinen europäischen Bauten wird ‹ schön › als entscheidender Begriff und einsilbige Begründung für die Wahl des exakten Standortes genannt. Einen Garten im herkömmlichen Sinn könnte man hier nicht anlegen. Mies’ Interesse an der gärtnerischen Gestaltung des Hausumfeldes war immer schon dem landschaftlichen nachgereiht, in diesem Überschwemmungsgebiet wäre sie sinnlos. Die Verschränkung mit dem Umraum regelt er durch eine Architektur, die sich durch das Zwischenglied weiterer Plattformen abstuft – eine Architektur als Garten sozusagen, der die Bestrebungen der Gartenreform aus Mies’ Anfängen auf die Spitze treibt. Die Erfahrung der landschaftlichen Natur wäre hier nicht mehr abhängig von Kaschierungen der Grundstücksgrenzen, von neu zu pflanzenden

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Gewächsen etc. Und auch die Lichtung, auf der das Haus eigentlich liegt, ist keine scharfe Raumfigur : Mies und Edith Farnsworth kümmern sich nicht dezidiert um die gärtnerische Modulierung des Waldsaums, um die programmatische Bereinigung der Wiese von Büschen. Die Bäume stehen locker da auf den Lageplänen, treten aus Wäldchen hervor, die so stilisiert erscheinen wie die  Landschaftslinie  der Mies’schen Handzeichnungen. Eine Lichtung ist es nichtsdestotrotz, Garant jener naturräumlichen Stimmung, die zum Erwerb des Grundstücks allererst geführt hat. Mies zu Edith Farnsworth : « I think I would build in glass because all the views are so beautiful that it is hard to decide which view should be preferred. »845 Die allseitige gläserne Öffnung des Wohnraums als Ersatz herkömmlicher Wände böte die richtige architektonische Entsprechung dieses Erlebnisses : Die Glaszelle korrespondiert mit der landschaftlichen Typologie. Wie schon beim stillen Hof des Hauses Gericke würde ein lockerer Baumgürtel das Haus wie ein grüner Mantel umgeben, spendete Schatten, gäbe Blicke frei unter und zwischen den Ästen, vor allem zum Fluss, in dem die Zeit wie in einer Sanduhr fließt. Das Haus bleibt auch an diesem Ort ein Fremdkörper. Die notwendige Gegensätzlichkeit als Bedingung der erfahrenen Einheit von Architektur und Natur haben Franz Schulze und Edward Windhorst griffig formuliert und indirekt die Gegensatzlehre als geistige Grundlage auch dieses Hauses benannt : « Nature may change, but the frame is frozen in geometric perfection. In none of Mies’s buildings did he come closer to the dematerialization of architecture leading to the expression of a fixed and supersensible order. »846 Den alten, mächtigen Bäumen und dem immer wieder rasenden Fluss stellt Mies ein verfeinertes Stahlskelett entgegen, in dem man wohnen kann. Seine Integrität behauptet der architektonische Raum durch elementare Mittel, die der Bewohner immer wieder, allein schon beim Betreten des Hauses, nachvollzieht : Eine vierstufige Treppe, eine erste, niedere Plattform, eine weitere Treppe, wieder ohne Handlauf, eine Veranda auf der oberen Plattform – die sukzessiv erlebte Loslösung des Bewohners vom gelegentlich sogar gefährlichen Grund. Man tritt nicht gleich ein ins Haus, sondern schreitet – wie so oft bei Mies – nach oben, erreicht dann erst das schützende Dach, von dort erst gelangt man in einen verglasten Pavillon von etwa 140 Quadratmetern Fläche. Zuvor,

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auf der letzten Ebene angelangt, müsste man sich aber um 90 Grad nach rechts drehen : Man kommt von der Seite, dann, vor dem Eintreten, schaut man durch den ganzen Innenraum wieder nach draußen. Die wiederkehrenden Überschwemmungen des Grundstücks stellten eine Not dar, die zur Tugend würde angesichts der erhabenen Wildheit und Unbeherrschbarkeit der Natur, die man vom Haus aus sicher zu erleben meint. Hier ist man tatsächlich an einem Ort gelandet, der immer wieder der Natur gehört. Der Architekt glaubt, ausreichende konstruktive Maßnahmen getroffen zu haben. Ein Überflutungsplan steht Mies damals nicht zur Verfügung. Er muss sich bei der lokalen Bevölkerung erkundigen und nach Erfahrungswerten suchen. Bei seinen Recherchen muss ihm klar geworden sein, dass es an dieser Stelle jährlich mehrmals zu einem nicht unerheblichen Anstieg des Wasserspiegels kommen könnte. Man reagiert durch Positionierung der Wohnplattform etwa 70 Zentimeter über dem möglichen Höchstwasserstand.847 Doch bereits in den 1950er-Jahren beginnen die Hochwässer anzuwachsen. Bei einer verheerenden Flut im Jahr 1996 schwillt der Fluss erstmals so hoch, dass der Innenraum des Hauses rund eineinhalb Meter unter Wasser steht. Schon im dritten Jahr nach dessen Bezug verursacht ein überdurchschnittliches Hochwasser erhebliche Schäden an der Einrichtung. Wäre die gestiegene Kraft der Natur auf menschliche Eingriffe, etwa in den Grundwasserhaushalt oder den Flussverlauf, zurückzuführen? Die Rückführung in seinen Urzustand, die Adaptierung des Kamins, eine gründliche Restaurierung nach den Überschwemmungen und auch die Installation einer Klimaanlage wird unter Mies’ Neffen Dirk Lohan Anfang der 1970er-Jahre vorgenommen. Erst im Zuge dieser Arbeiten, veranlasst durch den Zweitbesitzer, Lord Polumbo, wird der Außenraum landschaftlich gestaltet.848 Hat bereits Edith Farnsworth das Grundstück östlich des Hauses von um 55 Acres erweitert, sollen nun auch die Zufahrt zum Haus und der Autoabstellplatz neu geregelt werden ; das Auto, zuvor weiter nördlich in einem Nebengebäude geparkt, verschwindet aus der Sichtweite des Bewohners. Das hat wohl auch Mies so intendiert, wäre von Edith Farnsworth nicht praktischerweise eine Garage neben der River Road errichtet worden. Offenbar war die natürlich belassene Grasfläche des Überschwemmungsgebiets eine Brutstätte für Moskitos,

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was sie schnell zur Installation von screens auf der Veranda veranlasst hat. Auch diese verschwinden wieder. Der Landschaftsarchitekt Lanning Roper, stilistisch dem Englischen Landschaftsgarten verpflichtet, greift nur minimal in die fragile Balance von Haus und Natur ein. Der Eindruck des Natürlichen sollte gestalterisch in eine Art ‹ verträglicher Wildnis › erhalten bleiben – und so auch Platz für die Skulpturensammlung Palumbos auf der Wiese geschaffen werden. Ähnlich ist Mies selbst vorgegangen, wenn er mit Landschaftsarchitekten zusammenarbeitet – in Europa allerdings in alten Parks und Gärten. Roper hat im Uferwald den Eindruck einer Lichtung bekräftigt, um zugleich auf den nun regelmäßig gemähten Rasen hunderte gelbe und weiße Narzissen zu pflanzen. Auf einer historischen Fotografie pflückt schon Edith Farnsworth solche Blumen. Nach Verlegung des Fox River Drives unmittelbar an die nördliche Grundstücksgrenze bleibt durch den dichteren Baumbestand die Intimität des Ortes zwar optisch weitgehend erhalten, der Verkehr allerdings dringt akustisch bis zum Haus vor ; der ‹ Schutzmantel › der Gewächse kann die Idee der Lichtung nicht mehr aufrecht erhalten. Einen Abglanz der friedlichen Stimmung dieses scheinbar vergessenen Uferstreifens erhält dennoch, wer das Haus heute besichtigt und vom Besucherzentrum – das noch weiter östlich liegt als der neue Parkplatz Palumbos – über einen schmalen Waldpfad zum Haus gelangt. Außer Sichtweite, rund 200 Meter nach Osten, hat Roper die neue Zufahrt gelegt und diesen pittoresken Zugang vorbereitet : Man nähert sich dem Bauwerk wie ehedem sein neuer Besitzer. Dieser beschreibt den Aufenthalt im Haus als Aufenthalt in der Natur ; es ist der stattliche Zucker-Ahornbaum, der seine plastische landschaftliche Erzählung angeregt hat : « Die Rhythmen, die durch die Gegenüberstellung der natürlichen Elemente und des von Menschenhand geschaffenen Objekts entstehen, sind auf den ersten Blick zu erkennen [ …] und zu spüren, wenn die Blätter des Baumes gegen die Glasscheiben der Südfront streifen. [ …] Die Wechsel der Jahreszeiten oder eine Veränderung in der Landschaft erzeugen im Hausinneren einen spürbaren Stimmungswechsel. Während eines Sturms [ …] der den Nachthimmel erleuchtet und die Pfosten des Hauses erbeben lässt, kann man mitten im Gewitter sitzen und dennoch trocken bleiben. »849

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Caldwell Alfred Caldwell, 17 Jahre jünger als Mies, arbeitet bis 1931 als Landschaftsarchitekt für Jens Jensen, dessen Schüler und Freund er wird. Der 1860 in Dänemark geborene, in Kopenhagen ausgebildete Jensen wiederum war 1884 nach Chicago gekommen. Zuvor hatte er ausführlich die Gärten um Berlin studiert und eine Abneigung gegen den formalen Gartenstil entwickelt. Als leitender Mitarbeiter des West Park Districts gelangt er mit dem Werk Frederic Law Olmsteds in Kontakt und wird im Jahr 1905 zum General Superintendent des Chicagoer Parksystems ernannt ; in seinem eigenen Büro arbeitet er mit Louis Sullivan oder auch Frank Lloyd Wright zusammen. Caldwell wird Mies’ Partner bei der Gestaltung der landschaftlichen Außenräume seiner amerikanischen Bauwerke. Eine weitere Verbindung nach Europa : Frederik Law Olmsteds Übersetzung der Englischen Landschaftsgestaltung in ein spezifisch amerikanisches Idiom geschieht in enger Auseinandersetzung mit den Anforderungen der modernen Massengesellschaft durch die Gestaltung grüner Stadtzentren, Parkways, Bürgerparks etc. Die ‹ mimetische Verstärkung › naturräumlicher Eigenarten und Besonderheiten liegt im Fokus, das Erhabene verschwimmt im ‹ Mittelgrund › der ‹ Neopastorale ›. Es scheint, als sei der weitläufige Spaziergang in der Landschaft Teil einer Gestaltungsweise geworden, die das naturästhetische Erleben nachvollziehen will : als Form der Erinnerung. Der Eintritt in die größere Natur wird in der Schule Olmsteds durch jene landschaftsarchitektonischen Eingriffe unter den künstlichen Bedingungen von Parks und Gärten für den Besucher von neuem nachvollzogen – mit einfachen Mitteln, die das Erlebte gestalterisch präsent halten wie den Mythos der amerikanischen Wildnis. Es sind so eindrückliche, sinnliche Momente wie das gedämpfte Licht eines Waldwegs, der sich plötzlich zu einer Lichtung öffnet, das Plätschern eines Baches, begleitet von der ihm eigenen Luftfeuchte, die zum Erlebnis-Repertoire des Landschaftsarchitekten werden. Olmsteds eigenes ‹ Gedächtnis ›, durch Reisen aber auch die schiere Anzahl seiner eigenen Werke angereichert, liegt gesichert im umfangreichen fotografischen Archiv seines Brookliner Büros, dazu bereit,

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geglückte landschaftliche Situationen auf neue Aufgaben zu übertragen oder die natürliche Veränderung eines Parks dokumentarisch zu begleiten, daraus Lehren zu ziehen.850 Eine solche archetypische Momente hervorrufende Gartenkunst schließt den Menschen naturgemäß nicht aus und hängt mit seinem unmittelbaren Erleben zusammen : Die Dialektik dieses Prozesses, der eine amerikanische Landschaft sogar dort erschafft, wo zuvor städtische ‹ Leere › herrschte, ist Teil der Erfolgsgeschichte des Central Parks, der unter der Maxime steht : « To completely shut out the city from our landscapes ; to stroll for an hour, seeing, hearing, and feeling nothing of the bustle and jar of the city put far away from them. »851 Olmsteds landschaftliches Vokabular wird im Central Park zu vorbildlichen gestalterischen Motiven geschärft wie in einem Mustergarten Nordamerikas. Als das Prairie Movement mit seinen Protagonisten Jens Jensen und Ossian Cole Simonds in Wilhelm Millers Text The Prairie Spirit in Landscape Gardening im Jahr 1915 das erste Mal in einem Fachartikel beschrieben wird, war der Anfang zu einem modernen, amerikanischen ‹ Stils › gesetzt. Neben dem Erhalt und der Instandsetzung der Eigenart eines Ortes, seiner landschaftlichen Szenerie, gilt die « repetition of the horizontal line » als wesentliches Gestaltungsmerkmal.852 Durch geschickte Platzierung von offenen Flächen wird der Eindruck großer Ausdehnung und Weite hervorgerufen. Die Ferne kehrt wieder – auf der Lichtung. Neben einer langen Achse, die Jensen seinen bewusst wie Weideflächen erscheinenden Wiesen einschreibt, hat er eine illusionistische Gartenkunst entwickelt, die sein Biograf Robert E.  Grese andeutet : « The axes of many of Jensen’s open spaces were often slightly bent so that the end of the space disappeared just around the bend ; thus, the space assumed an almost infinite quality. Likewise, the borders of these spaces were frequently made up of a series of irregular coves and promontories of shrub and tree masses that provide a sense of mystery, an illusion that there was space hidden behind the massed plantings. »853 Die Lichtung hat für Jensen aber nicht nur sinnlich-gestalterische Bedeutung als Ort besonderer Pflanzen, als helle, warme Kontrastfläche zum feuchten, dunklen Wald. Sie ist ein Ort der Freude und Zusammenkunft von Menschen, der Feier und der mystischen Selbsterfahrung, tief

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durchtränkt von der Idee, dass der moderne Mensch zu einer neuen Naturbeziehung finden müsse, um in der modernen Zivilisation bestehen zu können : Sie hat symbolischen Wert.854 Auf einer solchen clearing errichtet er 1908 auch sein eigenes Sommerhaus. Nicht nur das Gespräch über die Stadt der Gegenwart, sondern auch über die Rolle der Landschaft als ihren Gegenort hat Mies, Caldwell und Hilberseimer in ihrer gemeinsamen Lehre und Arbeit beschäftigt.855 « Nature is Style »856, so charakterisiert Caldwell seine eigene Haltung in den Worten seines Lehrers Jensen. Er kann als Erbe der durch Jensen an ihn weitergegebenen, durch dessen europäische Wurzeln angereicherten Tradition Olmsteds im amerikanischen Nordosten angesehen werden. Caldwell war nach einem Zwischenspiel in Iowa ab 1936 drei Jahre im Chicagoer Park District tätig, bevor Mies ihn für sein Team am Illinois Institute of Technology gewinnen wird.857 Der Kontakt soll im Jahr 1938 durch einen Besuch mit seinen IIT-Kollegen Ludwig Hilberseimer und Walter Peterhans im Lily Pond des Chicagoer Lincoln Parks zustande gekommen sein. Die Vorliebe für Pflanzen der Prärie, das Arrangement rauer Felsen hat Caldwell von Jensen übernommen und weiter verfeinert ; die beinahe Wrightsche Architektur des Schatten spendenden Unterstands ist beeinflusst von seinen Besuchen in Taliesin.858 Durch seine vielfältigen Interessen und seine herausragende Begabung als Zeichner, der jegliche Fragestellungen auf dem Papier klar und doch poetisch dargestellt haben soll, wird Caldwell im Jahr 1945, nach einem Anruf von Mies, als Professor für architektonische Konstruktion in den ersten Semestern berufen.859 Durch sein Charisma und sein Engagement avanciert er, neben Mies und Hilberseimer, zur einflussreichsten Persönlichkeit an der Schule : « He covered the structure, function, and design and material of buildings from wood to steel to concrete. »860 Er war Tragwerksplaner und Landschaftsarchitekt in Personalunion.861 Caldwell muss auf Mies’ Bitten auch in dessen Büro einspringen. « So I came up to his office », beschreibt er seine Rolle beim Wohnhaus für Edith Farnsworth, « and worked five weeks, but I could accomplish very little because Mies didn’t give it any time at all, he had so much pressure of work. »862 Aufgrund von Unklarheiten über das tatsächlich zur Verfügung stehende Budget bleiben die Arbeiten bis zum Jahr 1949 liegen. Ab

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Mai des Jahres ist Myron Goldsmith als Projektarchitekt und Tragwerksplaner bis zur Fertigstellung im März 1951 intensiv damit beschäftigt, ein handwerklich erdachtes und ausgeführtes Haus mit industriellen Materialien herzustellen, das bald als einer der feinsten Stahlbauten seiner Zeit gilt.863 Für die Mies-Ausstellung am Museum of Modern Art im Sommer 1947 wurden allerdings schon ein Modell gebaut und auch Pläne des Hauses verfasst. Das zeigt den Stellenwert, den es in Mies’ eigenen Augen in seinem Œuvre einnimmt : In einer Werkschau mit so gewichtigen Bauten wie etwa dem Haus Tugendhat ist das nicht realisierte Projekt von unsicherem Status offenbar ein ebenbürtiges Glied in der Kette – ein letzter Schritte in einer langen Entwicklung. Eine weitere Eigentümlichkeit und Kontinuität seiner Landhäuser : Ebenso wie für Edith Farnsworth, war es gewissermaßen ein Haus für Mies. Er hat seine Kosten als Architekt nie regulär in Rechnung gestellt und meinte womöglich, dort selbst des Öfteren seine Wochenenden zu verbringen.864 Mies’ Chicagoer Büro in der East Ohio Street zählt im Jahr 1959, nach Beendigung seiner Tätigkeit als Leiter der Architekturfakultät des IIT, dutzende Mitarbeiter. Neben Fachkonsulenten zu Fragen des Tragwerks oder der Beleuchtung zieht er den Landschaftsarchitekten Alfred Caldwell immer wieder hinzu. Er wird zu Mies’ professionellem Partner, der auch diesbezüglich seine europäischen Gepflogenheiten fortsetzt, wenn auch diesmal durch den bewussten Entscheid, einen Landschaftsarchitekten an seiner Seite zu wünschen.865 Nach der besagten Personale am Museum of Modern Art sind Mies’ Vertrauenspersonen im Büro mit anderen Aufträgen beschäftigt, der Plan zur Realisierung des Hauses Farnsworth aber wird endgültig gefasst. Philip Johnsons Glass-House, das dem Projekt in Plano vieles verdankt und in der Zwischenzeit errichtet wurde, dürfte zum Entschluss der Bauherrin nicht unwesentlich beigetragen haben. Die landschaftsarchitektonische Gestaltung des Außenraums dürfte lange Zeit kein Thema gewesen sein, denn erst im April 1951 wird Caldwell von Farnsworth zu einem Treffen gebeten, bei dem es genau darum gehen sollte : « You know I could never ever come to take any other kind of a house again by another architect. I just love this so much, that you could see out of the walls, see the landscaping, it is so beautiful in the

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mornings, so beautiful at night. »866 Sie spricht allerdings die dem Haus vorgängige räumliche Konstellation an : Wiese, Waldsaum, Wasserlauf. Zu einer darüber hinaus gehenden Gestaltung durch Caldwell kommt es nicht. Die typischen Formationen von Bäumen, die das Haus umgeben, tauchen auch auf den Plänen von Mies’ urbanistischen Großprojekten auf : Eine Idee hat sich gefestigt und wird in der Plansprache, den Grundrissen und städtebaulichen Darstellungen vermittelt, so abstrakt sie erscheinen mögen, so gleichgültig gegenüber dem Vegetabilen. Richard Ingersoll weist auf dieses lapidare raumtypologische Landschaftsverständnis hin und weist Mies’ Interesse an Pflanzen zugleich geringe Bedeutung zu : « He designed his projects with generic vegetation, trees that he did not know the names of but that Caldwell and others would make sure were appropriate, perhaps in the way that he meant there were ‹ good roses and good vegetabels ›. Like so much of his universe, the landscape remained an ideal. His view to the lake and his preconceptions of American mountains and prairies conditioned Mies’s pursuit of an ideal openness, where trees grew casually without interrupting the sweeping conception of the land. »867 Anders gesagt : der Raumeindruck sich zu Lichtungen formierender Bäume bleibt über den Pavillon am Fox River hinaus entscheidend : Alles bleibt, wie es sich langsam entwickelt hat. Bei Caldwell, der sich freilich auch auf Pflanzen versteht, weiß Mies seine Architektur in einem vertrauten, landschaftlichen Repertoire aufgehoben. Für den amerikanischen Landschaftsarchitekten jedoch wäre aus dieser Typologie auch eine Kulturlandschaft zu entfalten gewesen, die – in Nachfolge Frank Lloyd Wrights – eine agrarische Bewirtschaftung und nutzende Pflege nicht außer Acht ließe. Aber das war nicht Mies’ Projekt. So lautet Caldwells eigene Beschreibung seiner eindrucksvollen Zeichnung The City in the Landscape von 1942, abgedruckt in Ludwig Hilberseimers Buch The New City :868 « Dieser Plan für die Zukunftsstadt Chicago wurde gezeichnet, um zu veranschaulichen, was lebendige Landschaft für einen bestimmten Ort bedeutet. [ …] Die geplante Stadt schafft keinen Bruch in der Landschaft. Sie ist von Landschaft durchdrungen, und der landschaftliche Teil ist produktiv, er schließt Bauernhöfe und die umliegenden Wälder ein. Auch die Parks stellen produktive Flächen dar und

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umfassen neben allen möglichen Erholungsanlagen auch Gemüsegärten und kleine Landwirtschaftsbetriebe. Das Leben wird dadurch einfacher, sicherer und befriedigender. »869 Während die ins Weite schweifende perspektivische Darstellung eine bis ins Unendliche, bis zum hohen Horizont auslaufende organische Struktur darstellt, bestünde ihre kleinste Einheit aus einer Kleinfarm auf einer Lichtung mit zweieinhalb Acres.870 Schweben Es bleibt ein ungewöhnlicher Bau. Noch heute mag man davor zurückschrecken, es ein ‹ Haus › zu nennen, wirft man erst die oberflächliche Gewohnheit ab, die den Blick auf ein Bauwerk trübt, das einen ähnlich kanonischen Status in der Architekturgeschichte einnimmt wie das Landhaus aus Backstein oder das Haus Tugendhat. Indes, es ist auch kein einfaches Wochenendhaus. Und verstehen kann man es wohl nicht ohne die existenzielle, ästhetische Erfahrung der Natur, die es ermöglicht. Ihre Rolle steht nicht unbedingt im Gegensatz zu den Vorwürfen, die Edith Farnsworths nach dem Zerwürfnis mit Mies äußern wird : « In Wahrheit fühle ich mich in diesen vier Glaswänden wie ein Tier, das ständig umherlauert. »871 Das Wohnen dort war eine Herausforderung. Nicht unähnlich einem Pfahlbau ist das Haus Farnsworth in die Erde gesteckt. Der 1,6 Meter über Grund schwebende, verglaste Innenraum wird längsseits von jeweils vier Stützen gehalten. Es besteht im Wesentlichen aus zwei Ebenen : Boden- und Deckenplatte. Da diese über die äußeren Stützenpaare hinausragen, die Gebäudeecken demnach freigespielt sind und nur scharfkantige Rechteckprofile die raumhohen Glastafeln zusammenhalten,872 erscheint es logisch, den verglasten Innenraum ins Joch der Veranda hineinragen zu lassen – die Symmetrie der ‹ Funktionszelle › im Innenraum wiederholt diese feinen Abstimmungen. So aber entsteht der Eindruck, der Außenraum und der verglaste Innenraum sollten gar nicht auf diese Weise voneinander geschieden werden, die eigentliche Architektur bestünde nicht in einem gläsernen Prisma, sondern einer tektonischen Struktur. Von der porch, aber auch von jedem anderen Punkt des Grundstücks erscheint das Haus visuell durchlässig wie das herbstliche Astwerk, das es umgibt. Das Glas erfüllt keinen

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anderen Zweck, als den Bewohner in der Natur und doch fern von ihr zu halten, sodass er sich dort dauerhaft aufhalten könnte. Und natürlich ist es ein Haus für eine Person, wie Mies nicht vergisst zu betonen :873 ein Haus, ein Raum, ein Mensch – und die ‹ Natur ›. Bei aller Reduktion auf wenige, schon in den Skizzen der Häuser aus den 1930er-Jahren auftauchende, Elemente ist doch für gewissen Komfort gesorgt. Mit hellen, rohseidenen Vorhängen würde man sich nachts umschließen können, verlaufen sie doch rundum, vor der Verglasung. Unter dem römische Travertinfußboden, der sich kontinuierlich im Außenraum fortsetzt, ist eine Fußbodenheizung angebracht ; die Querlüftung erfolgt über fünf versteckte Ventilatoren und zwei auf der Schmalseite angebrachte Kippfenster. Kamin, Boiler, aber auch Dachentwässerung und die technischen Leitungen verschwinden im ‹ Kern › aus Primavera-Holz. An ihm tüftelt Mies am längsten, variiert den Entwurf – er sollte den Eindruck eines Einraumhauses874 nicht zu stark stören und auftreten wie ein Möbel, das den Bezug zum Außenraum moderiert. Am Ende findet er zu einer Lösung durch zwei eingeschriebene, symmetrisch angeordnete Sanitärräume, in die man durch Schranktüren gelangt ;875 an der flussabgewandten Längsseite lagert sich eine Küchenzeile an und bestätigt die klare Präferenz der räumlichen Orientierung zum Fluss – im Dialog mit dem Ahornbaum, dessen erste Astansätze auf der Höhe des Kranzgesimses liegen. Doch selbst der Baumschatten kann die sommerliche Überhitzung im Wohnraum nicht verhindern, an den Einfachverglasungen kondensiert im Winter die feuchte Luft. Das Leben bleibt der Natur gewissermaßen auch physisch ausgesetzt. Hält man sich das Eisenskelett der Villa Tugendhat vor Augen, das den Hang zwischen Parkstraße und Schwarzfeldgasse nur punktuell berührt, ist man an Ähnlichkeiten im Konstruktionssystem erinnert. In Brünn war – nach dem Barcelona-Pavillon, dem Haus auf der Berliner Bauausstellung und den zahlreichen unausgeführten Entwürfen – ein Höhepunkt der zur ästhetischen Wirkung gebrachten Kreuzstütze erreicht. So trat der Skelettbau dort im Wohnraum auf – die Wirkungsform entstand aus dem Minimum der ‹ Leistungsform ›, aus vernieteten Winkeleisen. Darüber aber wurde durch ein Bajonettsystem eine schraubenlose Hülle aus spiegelndem Chromblech gezogen. Mit dem

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Haus Farnsworth auf der Lichtung am Fox River, Plano 1951

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Glaspavillon bei Plano schält Mies den einen Wohnraum aus dem Komplex der Nebenräume heraus und verbirgt das nackte Tragwerk weiterhin, indem er es auf besondere Weise zeigt : Tatsächlich ist diese Raumkapsel aufgehängt, ruht inmitten der acht außenliegenden Stützen. ‹ W 8 × 48 › lautet die technische Bezeichnung der amerikanischen Breitflanschträger, die als stabförmiges, vorgefertigtes Serienprodukt hauptsächlich im Industrie- und Gewerbebau sowie im Maschinen- und Anlagenbau eingesetzt werden. Ihr ‹ h ›-förmiger Querschnitt ist annähernd quadratisch, misst rund 21 auf 20 Zentimeter. Die Flächen der Flansche verlaufen exakt parallel zueinander : eine präzise Form, wendet man sie präzise an. Mies verwandelt sie vom rohen Bauzeug zu Strukturelementen seines Bauwerks und führt ihren Ausdruckswert handwerklich herbei. Alle Verbindungen werden zunächst geschraubt, dann geschweißt, geschliffen und sandgestrahlt, dann weiß gestrichen. Die Stützen, die recht eigentlich Säulen sind, enden sichtlich unter dem Kranzgesims des Hauses – dem Stahlrahmen, an dem sie außen angeschweißt sind. Man sieht nicht, wie es hält, aber man fühlt, dass es hält : im Inneren. Tragwerk und Naturerscheinung werden auch hier in ein gemeinsames, baukünstlerisches Spiel verwickelt. Der eigene Körper vollzieht dies nach. Den großzügigen, variablen Grundriss und die klare Konstruktion nennt Mies als Bedingungen eines strukturellen Bauens, die Struktur als « Rückgrat des Ganzen »876, wie er sich in seinem Gespräch mit dem norwegischen Architekten und Theoretiker Christian Norberg-Schulz in den späten 1950er-Jahren ausdrückt. Das Interesse des Architekten am großen Hallenbau stellt sich als Wunsch nach Fortsetzung einer auch bei Guardini in den Blick genommenen Aufgabe dar, dem großen Sakralraum der Gotik. Im Haus Farnsworth wird er redimensioniert zum Lebensraum für einen einzelnen Menschen. Der Einraum ist der Topos des Architekten – auf diese Weise Raum aus dem großen Raum abzuscheiden, diesen bewohnbar zu machen und dennoch in eine neue Einheit mit dem Umraum zu setzen. Dieses letzte Landhaus, dem Mies sich im vollen Umfang widmet, scheint ein Kristallisationspunkt seiner Landhaustypologie und doch weiterhin mit den großen Hallenbauten verwandt : mit Mies’ Chicagoer Convention Hall etwa, der Crown Hall des Illinois Institute of Technology oder der Neuen Nationalgalerie.

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Wie Guardini, wenn er die Geschichte der europäischen Kulturlandschaft in seinen Briefen erzählt, bemüht sich auch Caldwell um eine historische Erzählung eines mit Bedeutung beladenen, konstruktiven Denkens, das von der Maxentiusbasilika bis zur gotischen Kathedrale reicht. Er versucht auf diese Weise, Mies’ Errungenschaften zu beschreiben, ihn in eine lange Entwicklung einzuschreiben und spricht von einer neuen Phase, die an die Entwicklung des Kreuzrippengewölbes im 12. Jahrhundert anschließe, einer « liberation of space from the archaic mass »877, einer Freiheit der Konstruktionsform, die « aerial, atmospheric » wirke. Wenn die gotische Raumentwicklung sich allerdings nach oben, in die Höhe vollzog, so scheint Mies die Entwicklung in die horizontale Weite zu vollziehen : « The very word infinity is a revelation of the meaning of Mies’s sense of architectural space »878, meint Caldwell. In dem Maße, in dem der große Raum nicht nur die eigene Vorliebe des Architekten ist, sondern Ausdruck der Freiheit des Wohnens durch die Mittel seiner Zeit, wäre die Lichtung die ‹ natürliche › Fortsetzung des Innenraums. Damit ist die Entwicklung des Mies’schen Landhauses bis zu seinem Endpunkt vollzogen, durch die Neugewichtung seines Vokabulars, das sich in Europa noch aus Wand und Stütze konstituierte, aus Punkt und Linie im Grundriss darstellte. In Amerika und dann auch bei der Neuen Nationalgalerie sind es die Plattform und die Deckenscheibe, die in die Weite leiten. Weiterhin bliebe es allerdings der Stütze, der Säule vorbehalten, das Symbol des Tragens zu sein. An dieser Stelle kehrt die ‹ Lehre › Schinkels wieder. Dieser hatte ja in seinem nie verfassten Lehrbuch die Baukunst auf drei Grundlagen gestützt : Formen der Konstruktion, Formen der Geschichte und solche nach dem Vorbild der Natur. Die Willkür historischer Formen, wenn sie keine Bedeutung mehr trügen, war bereits ihm aufgefallen, und so sprach er gerade dort von « Stillosigkeit »879, wo die Moderne später ihre Kritik an der ‹ Stilarchitektur › adressieren wird. Auch darin war Schinkel hellsichtig, dass nämlich bei Wegfall der historischen Form eine aus Funktion und Gebrauch abgeleitete Architektur abstrakt und bedeutungslos werden müsste : « rationell », « trocken », « starr » nennt er sie, wenn das Poetische fehle – die Anschaulichkeit. Für Mies beginnt Architektur dort, wo auch die Ausbildung zum Architekten ansetzen sollte :

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Schinkel, « Über architektonische Charaktere », um 1820

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beim schlichten Bauen, dem sorgfältigen Zusammenfügen zweier Ziegel. Poesie und Kunst entstehe nach Schinkel wiederum, wo durch Einwirken der Geschichte und der Natur « das Werk zur Kunst »880 erhoben würde. Diese Aufgabe wäre keine einfache Rechnung : Schinkels ‹ Charakterlehre ›, die er zeichnerisch aus der Wirkung des Tragens und Lastens auf den einfühlenden Betrachter an verschiedenen konstruktiven Systemen entwickelt, leitet ihn schlussendlich zu einer stabförmigen, schlanken Form. Diese sei schön durch ihre Ruhe und die an ihr ausgedrückte Freiheit, das Verhältnis der Elemente zueinander.881 Wie beim Haus Farnsworth. « We were very delighted to find a definition of truth by St. Thomas Aquinas : Adaequatio rei et intellectus, or as a modern philosopher expresses it in the language of today : ‹ Truth is the significance of fact › »882, erklärt Mies und verwendet zwei für ihn wesentliche Zitate, um über die Bedeutung von Wahrheit und Wirklichkeit für sein Werk zu sprechen. Die von ihm angestellte Übersetzung deckt sich indes nicht mit der Aussage des scholastischen Denkers.883 Umso mehr Gewicht bekommt die Konkretheit, die – Mies’ Deutung zufolge – mit Ideen oder eben dem Intellekt in Verbindung stünde. Freilich drückt sich hier auch aus, was Mies an anderer Stellen immer wieder betont : dass sich aus dem Tun, aus dem Werk her erst eine Idee offenbare. Der Architekt Richard Padovan erschließt sich aus Mies’ Worten (neben einer antiplatonischen Haltung) dessen Konzept der ‹ Struktur › als Gegensatzlehre : « Aquinas defined truth as correspondence between different things, or between thing and intellect and not as an identity. The steel facings of Mies’s columns correspond to the steel within, in the same way as the abstract concept of the thing understood by the intellect corresponds, but is not identical, to the material individuality of the thing itself. »884 Die Wandlung der technischen Konstruktion zur ‹ Struktur ›, die das Skelett des Hauses Farnsworth insgesamt durchmacht, stünde selbst im Zeichen der Hinwendung zum Konkreten.885 Padovan bezeichnet Mies’ Häuser daher als machines à méditer. Die Rolle einer solchen Architektur ist die des Entbergens. Wie das Tragwerk zu Struktur, so wandle sich dabei Natur zu Landschaft : « Thanks to their intelligibility, man made things can act as necessary intermediaries between us and the natural world, bringing to it an added radiance, such as a Greek temple brings to

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the landscape in which it is set. It is as though nature demanded the clear sharp facets of our rational creations for its own completion. »886 Es ist die lebendige Natur, die nach einem Bauwerk zu verlangen scheint, um in ihrer landschaftlichen Schönheit sichtbar zu werden und ein Bauwerk, das sich auf diese Weise entfaltet. « Das Ergebnis dieses Erkenntnisakts ist konkret, Begriff und Intuition überwölbend », hatte Guardini gemeint.887 Organische Ordnung « I think the house is perfectly constructed, it is perfectly executed. It would be a lot of trouble to find a similar house or house similar to such a careful workmanship, and I think it is excellent design, too. »888 Nichts anderes äußert Mies im Gerichtsverfahren, zum Erstaunen des Fragestellers, der wissen will, was an diesem Haus « good » sei – aber alles andere, darf man annehmen, wäre für ihn nicht leicht in Worte zu fassen gewesen. Die Realisierung dieses Haus-Ideals, eines Hauses für eine Person, für die er meint, den großen Einheitsraum nicht nur als Einraumhaus, sondern als Bau in Einheit mit der Natur errichtet zu haben, verbindet Mies und Farnsworth. Wie bei den Tugendhats ist er auf eine Person mit ähnlicher geistiger Haltung getroffen. Dies gilt auch dann noch, wenn das Haus auf dem Wasser zu schwimmen scheint, auf den reißenden Fluten des Fox River, eine Insel, nur mit dem Boot erreichbar – durch wenige Zentimeter der Natur entrissen, erhaben. Es ist schwierig und bleibt immer wieder auf neue Anläufe angewiesen, den geistigen Impetus hinter Mies’ Bauten zu klären – darüber wollte er nie sprechen : « Schließlich, warum sollte ich meine Ideen mit irgend jemand anderem diskutieren? Über die wichtigsten Dinge kann sowieso nicht diskutiert werden. [ …] Das würde ich niemals tun. »889 Man ist angewiesen auf das Werk selbst, auf das auch Mies verweist, wenn man seine Ideen verstehen will. Und auf die Rahmenbedingungen, unter denen es sich entfaltet. Edith Farnsworth erinnert sich, wie stark Mies den ‹ Wohnbau › als geistige Auseinandersetzung aufgefasst hat : « There was a certain metaphysical vein which enhanced the standard topic of Mies himself [ …] I read Guardini, as he urged, and tried to lend myself to the concept

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of liturgy as an element in the hierarchy of values, or a mystic dimension of religion, or a sitting-up exercise in the hygiene of the soul – as almost anything which might enrich my own awareness. »890 ‹ Profane Sakralität › – ob das eine Beschreibung des Wohnens im modernen Landhaus wäre, die Mies sich vorstellen könnte? Ob er je in Chicago auf Paul Tillich getroffen ist?891 Edith Farnsworth erwähnt jedenfalls ein Gespräch über Erwin Schrödingers Buch What ist Life. Im Jahr 1944 erstmals auf Englisch erschienen, leiht sie es ihm. Bekanntlich prägt dieser den Begriff der ‹ negativen Entropie ›, den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik verfeinernd – dass nämlich die Entropie des Universums zunehme, bis es schließlich erkalte. Das Leben agiere demgegenüber aufbauend, « neg-entropisch ».892 Mies allerdings reagiert unzufrieden auf die nüchterne Naturbetrachtung des Physikers und Nobelpreisträgers, die Meta-Perspektive übersehend, aus der das Leben – selbst aus Sicht des Naturwissenschafters – einen besondereren Platz zugewiesen bekommt. « Don’t you approve of the Schrödinger book », habe Edith ihn gefragt. Mies : « It is unspiritual. What about man and his hopes for immortality? Does Schrödinger think that I can sit staring at the snowflakes on the window or the salt crystals on the dinner table to be satisfied? »893 Es ist beeindruckend, wie sehr er an die Erfahrung konkreten Erscheinungen die Erfahrung letzter Fragen bindet. Aus der Erschütterung durch die Kraft der Maschine, die Guardini in den ersten seiner Briefe artikuliert, ist der Versuch des Anknüpfens an die Tradition der Landhauskultur und die durch sie vermittelte Erfahrungsweise geworden. Ein landschaftlicher Wohnraum würde die Kontemplation anregen : die räumliche Ferne, die Vorgängigkeit des Gewächses, das Licht über den Tag, über das Jahr, über die Lebensalter, die unaufhaltbare Dynamik der Natur – das sind einige der Elemente dieses Raums, der ‹ für sich › und ‹ für den Wohnenden › gleichermaßen ist. In dieser Natur erfährt der moderne Mensch eine Bildung, die ihm Kultur nur vermitteln, nicht aber stiften kann. Eine neue, organische Ordnung wäre mit einem Werk erreicht, das sich dem Konkreten durch das Urphänomen der Architektur, den Raum, widmet. Eine Architektur, die das Fremde in ihre Ordnung aufnimmt, bereitet eine offene Grenze zwischen Innen und Außen und trägt die Ent-

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zweiung des modernen Bewusstseins in sich aus : Natur würde in ihr zu ästhetischer Erfahrung, abstrakte Form durch diese zu Ausdrucksform – in einem Spiel wechselseitiger ‹ Veranschaulichung › im Raum. Die architektonische Entdeckung des Erhabenen hatte Boullée in seiner Baukunst des Lichts und der Schatten für sich in Anspruch genommen. Daraus aber folgerte er, « dass die Erscheinung des Lebendigen ganz unbestritten eine der schönsten Gaben der Natur ist »894 – als Naturschauspiel auf der Bühne der Architektur. Die Natur als Landschaft, durchwohnt und doch präsent in erhabener ‹ Unabhängigkeit ›, führt dem Bewohner des Hauses Farnsworth die Einheit der Gegensätze konkret vor Augen, der Wohnraum von ‹ profaner Sakralität › erfüllt. Für das Spiel aus Bleibendem und Vergehendem als das eigentliche Bedeutungsvolle der Architektur, die mit der Natur in ein freies Spiel tritt, wo sie sich in ästhetische Balance setzt, Dauerhaftigkeit als ihr Wesentliches ausdrücke, hat Aldo Rossi im Vorwort zur Übersetzung von Boullées Essai berührende wie metaphorische Worte gefunden : « Ist das Licht, das Schatten wirft, nicht auch jenes, das die Dinge aufbraucht und uns so ein authentischeres Bild dessen zu geben, was die Künstler uns schenken? Dafür, mehr noch als für die Tatsache, dass es sich bei der Architektur um eine persönliche wie kollektive Aufgabe handelt, kann sie als die bedeutendste Kunst und Wissenschaft gelten – denn ihr Kreislauf ist natürlich wie der des Menschen. Und doch ist sie das, was von ihm bleibt. »895 Wesentlich an der diesen Gedanken inhärenten Gegensatzlehre ist der Gegensatz, und wesentlich ist seine Auflösung, die nicht wirklich vollzogen werden kann – das hat die Lehre des Cusanus gezeigt. Für die coincidentia oppositorum müsste man sich ins Innere des Hauses Farnsworth begeben, dann erlebt man das Unmögliche : Der Wohnraum schwebt. Unmittelbar und räumlich drückt sich die Idee dieses Hauses vor dem Hintergrund der Natur aus, in der es sich ohne Bruch fortzusetzen scheint. Man lebt auf einer Ebene mit einer möglichen Natur ; die physische Natur liegt tiefer. Und so wird erst im Innenraum verständlich, welchen räumlichen Eindruck diese Haus erreichen will, der eigentlich ein geistiger ist. Die poetische Mimesis an der Natur, am Tragen der Bäume, wird anschaulich erlebbar. Diese Stützen stehen zwischen Außenraum und Innenraum – nicht das profane Glas, sondern das Tragwerk deutet

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auf die geistige Möglichkeit, hier zu wohnen. Die « höhere Einheit »896 von Natur und Mensch durch ein Haus kann nur wohnend erlebt werden : « Wenn Sie die Natur durch die Glaswände des Farnsworth-Hauses sehen, bekommt sie eine tiefere Bedeutung, als wenn Sie außen stehen. Es wird so mehr von der Natur ausgesprochen – sie wird Teil eines größeren Ganzen », sagt Mies. Hier, von periodischen Überschwemmungen bedroht, im Sommer von Moskitos und Hitze, sollte das gläserne Haus jene prekäre Differenz zur rohen Natur aufrecht erhalten, durch deren geistige Überwindung sie erst als Einheit erscheint, der Respekt gebühre. Es ist nicht der Respekt gegenüber einer blinden Kraft, sondern gegenüber der Erfahrung eines Unterschieds : Einmal eingedrungen in die Uferlandschaft, das Haus errichtet, käme es auf die Kontemplation dessen, was ‹ da › ist. Wurde jene ‹ organische › Ordnung einmal errichtet, in der die Natur selbst in freier Entfaltung zu wohnen scheint, darf der Bewohner sich mit ihr in Einheit gesetzt fühlen. Und doch setzt sich der gewachsene Grund, die Wiesenfläche, nur scheinbar im Inneren fort. Daran gemahnt der Abstand, den das Bauwerk zum Boden hält. Dieser Spalt ist zum Symbol für einen Naturbezug geworden, der den Zusammenhang zur historischen und kulturellen Dimension der Kulturlandschaft als Sediment von Arbeit verloren hat – in dem die ästhetische Erfahrung folgenlos bliebe, unterdrückt von einer ganz anderen Praxis der Vernutzung. Eine Baukunst aber, die ganz im Zweckhaften fußt, kann aus sich heraus nicht in die « Sphäre des Geistigen »897 reichen, wie Mies zu seinem Chicagoer Auftakt im Jahr 1938 es formuliert. Sie bedarf des Anderen, das sie nicht ist.898 Am Fox River wird das Leben in diesem ausgesetzten Wohnen, das Mies im Sinn gehabt haben muss, zum Entwurf und zur Aufgabe.899 Das neue Haus, die neue Stadt Einige Jahre nach Fertigstellung des Hauses Farnsworth wird Mies nicht ohne Gram wiederholen : « Das Farnsworth-Haus ist, glaube ich, niemals wirklich verstanden worden. Ich selbst war in diesem Haus vom Morgen bis zum Abend. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, wie farbenprächtig die Natur sein kann. Man muss im Innenraum mit Bedacht

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neutrale Töne verwenden, weil man draußen alle Farben hat. Diese Farben verändern sich fortwährend ganz und gar, und ich möchte sagen, dass das einfach herrlich ist. Auch in unseren Glashochhäusern kann man von den Wohnungen aus beobachten, wie sich der Himmel und auch die Stadt selbst alle Stunden verändern. Ich glaube, das ist wirklich neu in unserem Konzept vom Wohnbau. »900 Mies’ wunderbar zarte und frühe Studie des Hauses Farnsworth kann als Versuch verstanden werden, den Eindruck des bleichen Bauwerks unter herbstlich gefärbten, hohen Baumkronen einzufangen. Plötzlich erscheint es mit Farbe imprägniert. Das Sujet dieses Aquarells ist ein selbstbewusstes Haus, das seinen Gegensatz zur ‹ bunten › Natur nicht verhehlt, durch die Nobilität der verfeinerten Konstruktion und die – bei allem ‹ Luxus › – spartanische Idee, sich der Natur auszusetzen und so seine Zeit abseits der Großstadt zu verbringen, um von dort zurückzukehren. Der Eindruck, den das Haus in der jahreszeitlichen Natur machen würde, wäre es errichtet, liegt Mies demnach von Anfang an vor Augen – fünf Jahre vor Fertigstellung einer scheinbar so einfachen Konstruktion. Der Zauber des Bauwerks bestünde im Beinahe-Verschwinden in der Landschaft, die an allen Stellen durch es hindurch scheint. Beinahe, denn würde es verschwinden wollen, der Gegensatz wäre auf falsche Weise aufgelöst, sagt Mies nun selbst in einer Aussage, die ein zweites Mal erwähnt werden soll : « Ich trachte meine Bauten zu neutralen Rahmen zu machen, in denen Menschen und Kunstwerke ihr eigenes Leben führen können. Um das zu tun, ist eine respektvolle Haltung den Dingen gegenüber notwendig. Auch die Natur sollte ihr eigenes Leben leben. Wir sollten uns hüten, sie mit der Farbigkeit unserer Häuser und Inneneinrichtungen zu stören. Doch wir sollten uns bemühen, Natur, Häuser und Menschen zu einer höheren Einheit zusammenzubringen. »901 Doch muss es nicht immer die ‹ kultivierte Wildnis › sein – selbst ein begrifflicher Zusammenfall von Gegensätzen –, die solche Erfahrungen erlaubt. Und es muss auch nicht die ‹ Neue Stadt › seines Kollegen Hilberseimer sein. Ohne dies je explizit zu erwähnen, scheint Mies verstanden zu haben, dass dieses Haus eine Ausnahme bliebe. Und doch wäre es auch ein städtisches Modell, das nachhallt in Alfred Caldwells Zeichnungen von Farmhäusern inmitten hunderter Lichtungen. Jeder dieser

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bewohnten Lichtungen läge die Idee zugrunde, sich mit dem Haus eine Stätte wie in einer archaischen Urtat zu verschaffen, die gedeihen sollte über dem strengen Raster Jeffersons, den Caldwell seinen Zeichnungen unterlegt, der die amerikanische Landschaft ‹ erobert › hat, den seine Darstellungen nun organisch überformen. Die große Stadt unter dem weiten Himmel der Lake Shore Drive Apartment Buildings am Lake Michigan – auch sie kann zur Erfahrung von landschaftlicher Ferne und Distanz verhelfen. Stellt das Wochenendhaus abseits der Großstadt eine Inkunabel der modernen Naturbeziehung eines einzelnen Menschen dar, in epigrammatischer Klarheit und Einfachheit, ist es für viele nichts als ein Eskapismus : die Erprobung eines Typus’, auf den kein weiterer folgt. Es wäre dagegen nicht falsch, zu meinen, Mies habe damit auch ein urbanes Modell des modernen Naturbezugs zu entwickeln begonnen – mit dem exklusiven Wohnen auf der Lichtung von Plano und den Wohnmöglichkeiten der amerikanischen Großstadt im Hochhaus mit Aussicht, die er immer wieder in seinen Collagen als wesentlich demonstriert : die Ferne vor Augen. So erstaunt es nicht, dass Robert Hall Mc  Cormick – an der Projektentwicklung der Lake Shore Drive Apartments 860–880 beteiligt – sich im Jahr 1951 in Elmhurst, nahe Chicago, eine Etage des Hochhauses als sein eigenes Wohnhaus realisieren wird.902 Ein parkartiger Garten Caldwells hat auch dieses Wochenendhaus umgeben.903 Freilich hat es bereits am ursprünglichen Standort der Feinheit des Farnsworth Hauses entbehrt, die Idee, dass beide Wohnformen näher beieinander lägen, als es der typologische Unterschied auf den ersten Blick nahe legte, bestätigt sich jedoch.904 Edith Farnsworth erinnert sich auch an ein Gespräch über das Baumaterial und die Konstruktionsweise ihres Hauses : « So I think we should build the house in steel and glass ; in the way we’ll let the outside in. If we were building in the city or in the suburbs, on the other hand, I would make it opaque from outside and bring in the light through a gardencourtyard in the middle »905, meint Mies. Das Hofhaus wäre also auch in Amerika noch eine Option, in Detroit wird es Mitte der 1950er-Jahre sogar verwirklicht. Der veränderte Ausdruck, den dieses städtebauliche Projekt durch die angewachsene Bepflanzung unter mehreren Schichten

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Grün nach Jahren des Wachsens erhält, gleicht dem Unterschied zwischen dem Plan des Hauses Henke und dem Raumeindruck in Brünn. Zwar überzeugt die Anordnung Miesscher Reihenhäuser neben den Punkthochhäusern von Lafayette Park in Detroit, zwischen denen Caldwell eine städtische Lichtung gestaltet, doch drückt sich die Qualität der Mies’schen Architektur, die man in der Nachkriegsmoderne wie durch eine Blaupause kopiert, gerade in ihren konstruktiven Feinheiten aus. Diese gehen leicht verloren – meist werden sie wohl nicht einmal bemerkt. Das Haus Farnsworth, das Mies genau an diesen Platz setzt, erhält seine Bedeutung durch seine besonderen Stützen, die ein ‹ Schweben › ermöglichen : Sie sind die Reaktion auf die Natur des Ortes. Wenn sie beim Caine-Haus von 1950 fehlen, dann demonstriert Mies hier zwar, dass der gläserne Pavillon auch für mehrere Personen, für eine Familie tragfähig wäre – er verliert jedoch mit der Machbarkeit jene veranschaulichende Bedeutung, die den Mies’schen Landhaus-Modellen von Anfang an eingeschrieben ist. Einzig das ‹Fifty by Fifty Feet House › von 1952 kann als nächste Schritt in Richtung jener absoluten Klarheit gelten, die allerdings Mies’ Hallenbauten in dieser Zeit fortsetzen. Gebaut wird es neuerlich nicht. Es mag also stimmen, dass sich Mies’ Baukunst nicht für die ‹ Masse › eignet, selbst dort, wo er Hochhäuser baut, deren Ausdrucksqualität schwindet, wo sie zu Massenware werden. So ähnlich argumentiert auch Alan Colquhoun, stellt aber weniger diese Architektur in Frage als ihre Rezeption : « Mies’s carefully worked out idealist philosophy and his disdain for the trivia of everyday life in favour of a purified expression of Zeitgeist coincided exactly with the worldly demands of corporate discipline – a discipline that was accepted by SOM uncritically and on its own terms. It was precisely this corporate discipline that was attacked by writers like David Riesman (The Lonely Crowd, 1950) and William H. Whyte (The Organisation Man, 1956), who saw the corporation as a dehumanized collective producing a new type of ‹ other-directed › character, nervously conforming to the opinion of (corporate) peers. These criticisms were markedly different from those of late-nineteenth-century German sociologists like Georg Simmel. Whereas for Simmel individualism (the blasé type) was a defensive mechanism developed to deal with

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Alfred Caldwell, « 32 Kleinfarmen »

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the loss of community in an economy based on money, for Riesman and Whyte individualism was a primary American virtue, threatened by corporate conformism. »906 Idealismus und Alltäglichkeit dürfen einander nicht ausschließen. Davon spricht die ‹ Idee der Landschaft ›. Dass Mies freilich den Alltag verachte, dagegen spricht die gesamte ‹ Kultur › seiner Landhäuser. Insofern vollziehen sie genau diese Aufgabe, dem Individuum einen Raum zu geben. Massentauglich wäre dieser wohl nicht, auch wenn er – paradoxerweise – der allgemeinen Ideengeschichte der Landschaft zu konkretem Ausdruck verhilft : Er wäre eher vorbildlich. Vielleicht hat die Möglichkeit des ‹ geistigen Wohnens › in Mies’ Häusern, die man in ihrer späteren Rezeption lange Zeit übersah oder eben als idealistische Illusion abtat, mit dem Wagnis zu tun, das diesem Wohnen eingeschlossen bleibt : der Wohnende müsste den ‹ Zumutungen › einer ‹ ästhetischen Existenz › gerecht werden ; jeder für sich, immer aufs Neue – das Zurückgeworfensein aufs eigene Erleben. Die Frage bleibt unbeantwortet, in welcher Zeit wir heute wohnen, in der die (scheinbaren) Umbrüche unseres Naturverständnisses im Stakkato von Moden verkündet werden. Es bleibt zu vermuten, diese verhalten sich äußerlich gegenüber tiefer liegenden, geistigen Bedürfnissen : Das Sehnen der Menschen bleibt unbestechlich. Finis Theodor W. Adorno, der am 6. August 1969 – elf Tage vor Mies – nach einer Auffahrt zum Matterhorn, in Visp, im Schweizer Kanton Wallis, an Herzversagen stirbt, äußert sich in seinen Minima Moralia ganz im Sinne des Architekten, mit dem er nie persönlich zusammengetroffen sein dürfte : « In nuce. – Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen. »907 Aber wäre das nicht eine Umkehrung des architektonischen Auftrags, den Mies formuliert hat? Nein. Eine ‹ organische Ordnung ›, sie bedeutete ebenfalls den Vorrang des Unbeherrschten, des Wachsenden, vermittelt allerdings an die Form des Wohnens. In Adornos Konstellationen der Minima Moralia heißt es an bekannter Stelle : « Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen. »908 Sur l’eau :

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Landschaftliches Wohnen

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die Landschaft erfahrend am eigenen Körper, tiefer Fernraum des Meeresgrundes und weiter Himmel darüber – wäre das eine Lösung? Adorno, dessen Philosophie von der Kritik am veranstalteten Denken, an der instrumentalisierenden Vernunft, an der reduktionistischen Kraft des Begriffs durchzogen ist wie wohl keine zweite, hat in der Figur des Odysseus ebenfalls den modernen Menschen identifiziert.909 Nun reist er nicht mehr halsbrecherisch über die Grenzen der bekannten Welt hinaus – wie noch Petrarca. In der wohl bekanntesten Stelle aus der von ihm und Max Horkheimer im amerikanischen Exil verfassten Dialektik der Aufklärung knechtet er seine lustvolle Sinnlichkeit durch die List des eigenen Verstandes : Angebunden an den Mast seines Schiffes, nähert er sich den Sirenen, deren lockenden Gesang er nun zwar hören, dem er sich aber nicht hingeben kann, dessen Versprechen nach Aufhebung der Schranken des Ichs er gewissermaßen betrügt. Aber wären das nicht beides totalitäre Optionen : Schiffbruch erleiden oder die Affirmation einer entseelten Mythologie? Wenn Mies die Probleme seiner Zeit im Rahmen der Stuttgarter Ausstellung von 1927 erstmals als « geistige »910 kennzeichnet und vom « Kampf um neue Lebensformen » spricht, so darf nicht vergessen werden, dass es schon damals die Lebensintensität ist, die für ihn zu neuen ‹ Formen › führen sollte. Erfüllte sich diese in der Konkretheit eines anschauenden Wohnens, die Nähe und Distanz zu den Dingen auslotend? Bei Adorno heißt es : « Glück wäre über der Praxis. »911 Das erfordert eine « Apologie der Distanz »912, in der erst die Dinge konkret und lebendig würden, eine rare « Fähigkeit des Abstandnehmens und Zuschauens ». Martin Seel optiert daher für eine paradoxe, zuschauende Praxis und löst so den für Mies’ Landhäuser entscheidenden Anspruch einer ins Werk gesetzten Kontemplation theoretisch ein. In einer Reihe von Aufsätzen hat Seel Adornos Denken insgesamt als Philosophie der Kontemplation bezeichnet : « Dieses Nicht-sich-selberSetzen scheint mir eigentlich das Zentrale, was heute überhaupt von dem einzelnen Menschen zu verlangen ist »913, zitiert er eine Passage aus dessen Vorlesung über Probleme der Moralphilosophie. Dass dies nun in der stillen Beziehung eines aufmerksamen Menschen zur Welt – kontemplativ – passieren solle, gelingt nur, wo eine transversale Vernunft am

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Werk wäre. Sie umschlösse praktische, theoretische und ethische Anteile innerhalb der ästhetischen Erfahrung. War das aber nicht schon die Kernthese ästhetischer Freiheit – einer Freiheit als Zusammenspiel der verschiedenen ‹ Instanzen › der Vernunft, die sich in der schönen, geordneten Natur und der von Ideen durchdrungenen, erhabenen Natur im reflektierenden Erleben darstellte? Wäre die Zuwendung zu den Dingen in kontemplativer Anschauung nicht eine Zuwendung zu den Möglichkeiten des Menschseins überhaupt und somit zu seinem eigenen Glück am erlebten Anderen? Für Seel stellt diese ‹ ein Verhalten › zu einem Gegenüber dar, in dem beide Seiten sich frei zueinander verhalten können. »914 Er folgert : « ‹ Kontemplation › ist Adornos Name für eine Praxis, in der man sich aufeinander einlassen und doch einander sein lassen kann. In solchen zweckfreien Beziehungen zu anderem und anderen sieht Adorno den ‹ Erfahrungskern ›, der seine Kritik am Zustand moderner Gesellschaften motiviert und trägt. Sie gilt Möglichkeiten, deren Entfaltung durch die Einrichtung der menschlichen Welt systematisch verschenkt werden. » Adorno erzählt noch postum, in der Ästhetischen Theorie, einen Soldatenwitz aus Wilhelminischer Zeit, um einen theoretischen Leitgedanken in einer scheinbar beiläufigen Geschichte zu veranschaulichen. Aus dem Mund eines Offiziersburschen gelangt sie an die Leser : Aufgeregt, zurück aus dem Berliner Zoologischen Garten, fasziniert von dessen exotischen Gestalten, erstattet der Bursche seinem Leutnant Bericht : « Herr Leutnant, solche Tiere gibt es nicht! »915 Adorno : « In jedem genuinen Kunstwerk erscheint etwas, was es nicht gibt. » Naturerfahrung und Kunstwerk sind vereint in der Verweigerung des Urteils angesichts des Besonderen, dem wir in ihnen begegnen dürfen. Dem einfachen Soldaten genügt das Erstaunen am fremden Tier, um diese elementare Erfahrung zu machen : « Im Aufgang eines Nichtseienden, als ob es wäre, hat die Frage nach der Wahrheit der Kunst ihren Anstoß. » Es ginge um die « unstillbare Sehnsucht angesichts des Schönen », für das wir keine Namen haben. Und dieses wäre gegenwärtig, läge offen für jene, die Schauen und ‹ Sehen ›. Um diese Erfahrung in den Alltag der Moderne zu integrieren, müsste man vielleicht das Wohnen im ‹ neuen Haus › von der Landschaft her denken : im Landhaus. Für den Architekten und seine Disziplin, die Grenz-

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wärterin ist zwischen dem ‹ Gemachten › und dem ‹ Gewordenen ›, hält der Schüler Adorno aber bereits in seinem Abituriums-Aufsatz, Die Natur, eine Quelle der Erhebung, Belehrung und Erholung, zu Ostern des Jahres 1921, einen Gedanken fest, den nichts Kommendes überholen wird : « Nur durch die Gestaltung der Welt wird das Ich Persönlichkeit. » Diese Behauptung ergänzt das zuvor genannte Verdikt gegen die ‹ Praxis › und führt das Denken neuerlich ins Dialektische, damit es ‹ zu Sinnen kommt › : Vor der Naturerscheinung, in eine Landschaft gehalten, die man durchwohnt, erhielte man vielleicht Anleitung zur Auflösung der Gegensätze des Lebens. Im augenblicklichen Erleben.

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Anhang

Anmerkungen  343 Abbildungsnachweis  399 Auswahlbibliografie  401 Register  405 Impressum  408

Anmerkungen

(1949–1952) sind wenige Pläne für eine New Episcopal Church in der South Michigan Avenue aus dem Jahr 1961 im Mies van der Motto: William Carlos Williams: « To Mark Rohe-Archive des MoMA erhalten. Anthony in Heaven » (Anfang), zitiert nach : 8 Er setzt den Mädchennamen der MutThe Collected Poems of William Carlos ter hinter den väterlichen Familiennamen. Williams, Volume I, 1909–1939, S. 124f. – Hrsg. Ebd., S. 54f. von Walton Litz und Christopher Mac Gowan. 9 Jakob Wassermann : Faber oder Die verlorenen Jahre, Zürich 2016, S. 326f. Landhaus und Großstadt 10 So wird das Mies am 20. November 1938 sagen. Mies spricht in Chicago vor künf1 Geert Mak : Wie Gott verschwand tigen Studenten und Kollegen bei der offiaus Jorwerd. Der Untergang des Dorfes in ziellen Antrittsrede als Direktor des Armour Europa, München 2014. Eine GesellschaftsInstitute of Technology, dem späteren I IT . analyse des angebrochenen 21. Jahrhunderts Mies van der Rohe: «Antrittsrede», zitiert liefert Juli Zeh mit ihrem Roman Unterleuten nach: Fritz Neumeyer : Das kunstlose Wort, (München 2017) – zugleich wird das Land Berlin 1986, S. 381. zum Kaleidoskop von Hoffnungen und hand11 Bruno Paul : « Passagierdampfer und festen Bedürfnissen. ihre Einrichtungen », in : Der Verkehr. Jahr2 « That’s where things are happening. » buch des Deutschen Werkbundes, Jena 1914, (Übersetzung AK ) Franz Schulze, Edward S. 55–58, S. 57f.  Windhorst : Mies van der Rohe. A Critical 12 Thomas Steigenberger : « Mies van der Biography (1985), Chicago-London 2012, S. 3. Rohe. Ein Schüler Bruno Pauls? », in : Johan3 Vgl. Sigrid Hofer : Reformarchitektur nes Cramer, Dorothée Sack (Hrsg.) : Mies van 1900–1918. Deutsche Baukünstler auf der der Rohe. Frühe Bauten. Probleme der ErSuche nach dem nationalen Stil, Stuttgarthaltung, Probleme der Bewertung, Petersberg London 2005, S. 137. 2004, S. 151–162. 4 Schulze 2012, S. 340. 13 Alois Riehl habilitiert sich 1870 an 5 Ebd., S. 11. der Universität Graz und wird dort mit einer 6 « Metaphysical at its core, symbolic in Professur betraut, bevor er im Jahr 1905 its purpose, this architecture pointed beyond Nachfolger Wilhelm Diltheys auf dem Lehrthe visible, physical world to an incorporeal stuhl für Philosophie in Berlin wird, wo er realm. » (Übersetzung AK ) Fritz Neumeyer : u. a. die Dissertation Oswald Spenglers « Space of Reflection : Block versus Pavilion », betreut. in : Franz Schulze : Mies Van Der Rohe : 14 In einer Film-Dokumentation Georgia Critical Essays, Cambridge/MA 1991, S. 148– van der Rohes erinnert er sich an einen Text, 170, S. 149. Das biografische Fundament von der sich mit Laplaces Theorie auseinanderNeumeyers Deutung stellt sich in Mies’ katho- setzt ; im Film heißt es auch : « That’s when lischer Erziehung und der mittelalterlichen I started paying attention to spiritual things, Architektur dar, von der Mies in Aachen umphilosophy, and culture ». Seine intellektugeben war. Die grundlegende Annahme, dass elle Formung hat möglicherweise schon mit der Welt eine tiefere Bedeutung eingeschrieder Lektüre von Maximilan Hardens Zeitben wäre, hängt darüber hinaus mit einer schrift Die Zukunft begonnen, auf die er im Denktradition zusammen, der Mies seine leAachener Architekturbüro Albert Schneiders benslange Lektüre widmet. gestoßen sein soll. Vgl. Schulze 2012, S. 13. 7 Neben der am Campus des I IT in 15 Neumeyer 1991, S. 150f. Chicago errichteten Robert F. Carr Memo16 Ihre Entstehung wäre daher wohl mit rial Chapel of St. Savior am Campus des I IT dem Jahr 1908 zu datieren und nicht, wie die

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Forschung bislang vermutet hat, um 1906/07. « M öglicherweise hat Mies die Arbeit bei Bruno Paul nur vorgegeben, um sein einjähriges Studium an einer Kunstgewerbeschule zu verschleiern. Der dem Begriff ‹ Kunstgewerbe › spätestens seit den zwanziger Jahren anhaftende Beigeschmack passte vermutlich nicht mehr zum Selbstverständnis des Architekten », vermutet Thomas Steigenberger. Vgl. Cramer 2004, S. 157. 17 Anton Jaumann : « Vom künstlerischen Nachwuchs », in : Innendekoration, Juli/1910, S. 265–273, S. 265f. 18 So trifft er dort auf seine Frau Ada Bruhn (Adele Auguste, 1885–1951), eine Fabrikantentochter und Tänzerin, die er im April 1913 heiratet. Aus der Ehe gehen drei Töchter hervor. 19 Neumeyer 1991, S. 148–170. 20 Carsten Krohn hat während seiner fotografischen Bauaufnahmen vor wenigen Jahren herausgefunden, dass die Spannweiten der Decke im zentralen Raum durch versteckte Eisenträger realisiert werden : « Versteckte Stützen und ein versteckter Unterzug aus Doppel-T-Trägern fangen die querliegende Giebelwand des Dachgeschoßes ab. » Carsten Krohn : Mies van der Rohe. Das gebaute Werk, Basel 2014, S. 18. 21 Christian Cay Laurenz Hirschfeld : Theorie der Gartenkunst (1779), Berlin 1990, S. 147. 22 Vgl. Johannes Langner : « Ledoux und die FabriqueS. Voraussetzungen der Revolutionsarchitektur im Landschaftsgarten », in : Zeitschrift für Kunstgeschichte 26/1963, S. 1–37. 23 Johann Heinrich Gustav Meyer : Lehrbuch der schönen Gartenkunst. Mit besonderer Rücksicht auf die praktische Ausführung von Gärten und Parkanlagen (1859), Wiesbaden 2010, S. 55. In the disposition of the whole, as 24 «  evident in the site plan, two spatial realms confront each other. One calls to mind the world of man and his faculties – rationality and the capacity for abstract thought expressed through geometry – while the other

evokes the world of nature already in place, whose richness of organic forms follows other, less clear-cut laws. » (Übersetzung AK ) Neumeyer 1991, S. 154. 25 Ludwig Mies van der Rohe : « Zum Projekt einer Klubhaus-Anlage für den Krefelder Golf-Klub e. V. in Krefeld » (1930), in : Wolf Tegethoff : Mies van der Rohe. Die Villen und Landhausprojekte, Bonn 1981, S. 107. 26 Alois Riehl : Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart (1902), LeipzigBerlin 1913, S. 3. 27 Ebd., S. 168. 28 Ludwig Mies van der Rohe : « Wir stehen in der Wende der Zeit. Baukunst als Ausdruck geistiger Entscheidungen », zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 367. – Erstmals veröffentlicht in : Innendekoration, 39/1928, Heft 6, S. 262. 29 Ludwig Mies van der Rohe : « Notizheft » (1929–1928), in : Neumeyer 1986, S. 355. 30 Vgl. Barry Bergdoll : « Das Wesen des Raums bei Mies van der Rohe », in : Terence Riley, Barry Bergdoll (Hrsg.) : Mies in Berlin, München-London-New York 2001, S. 66–105, S. 70. 31 Mebes, Regierungsbaumeister und ab 1911 in Bürogemeinschaft mit seinem Schwager Paul Emmerich vor allem im Siedlungsbau tätig, wurde 1872 als Sohn eines Magdeburger Tischlers geboren. Seine langjährige Tätigkeit als Chefarchitekt des Berliner-Beamten-Wohnbauvereins verhalf ihm zu reichlicher Erfahrung und Einblick in die Bauprobleme seiner Zeit. 32 Leonardo Benevolo : Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1964, S. 7. 33 Vgl. Annemarie Jaeggi : « Traditionell und modern zugleich. Das Werk des Berliner Architekten Paul Mebes (1872–1938) als Fallbeispiel für eine ‹ andere Moderne › », in : Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 26. Bd., 1999, S. 227–241, S. 228. 34 Das Beispiel liefert er selbst durch einen für diese Gesinnung typischen, mehrgeschoßigen Wohnbau am Fritschweg in Berlin-Steglitz.

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marie Jaeggi festhält, reagierte Mebes auf die 35 Paul Mebes : Um 1800, Bd. 1, München gesellschaftliche und politische Neuaus1908, S. 9. richtung nach dem Ersten Weltkrieg durch 36 Ebd., S. 9f. bautechnische Neuerungen und Verwendung 37 Schon fünfzig Jahre zuvor hat neuer Materialien. Dem Handwerklichen Friedrich Engels plastisch über die Lage der blieb er in einzelnen Details beim Einfamiarbeitenden Klasse in Manchester berichtet lienhaus dennoch verpflichtet. Er ist – gerade und eine der ersten stadtsoziologischen aufgrund dieser Hinwendung zur Sprache Studien über die realen Lebensverhältnisse der ‹ Zweiten Sachlichkeit › – eine biografisch geschrieben. Die bürgerliche Schicht lebe « in einer freien, gesunden Landluft, in präch- interessante Parallelerscheinung neben den prägenden Lehrerfiguren, Behrens und Paul. tigen, bequemen Wohnungen, an denen Bauen als Aufgabe, Dauerhaftes zu errichten halbstündlich oder viertelstündlich die nach und als Frage der zeitgemäßen Konstrukder Stadt fahrenden Omnibusse vorbeikomtion, das in seinem Wesen ungelöste, aber in men. Und das schönste bei der Sache ist, seiner elementaren Rolle erkannte Ornament, dass diese reichen Geldaristokraten mitten durch die sämtlichen Arbeiterviertel auf dem das sind Themen, die auch Mies begleiten werden. nächsten Wege nach ihren Geschäftslokalen 39 Mebes 1908, S. 10f. in der Mitte der Stadt kommen können, ohne 40 Ebd., S. 12. auch nur zu merken, dass sie in die Nähe 41 Heinrich Tessenow : « Das Ornament des schmutzigsten Elends geraten, das rechts und das Ornamentale », in : Innendekoration, und links zu finden ist. » Friedrich Engels, « Die Lage der arbeitenden Klasse in England » 40/1929, S. 32. 42 Vgl. Jaspar Cepl : « Richard Lucae and (1845), in : M EW , Bd. 2 ,Berlin 1990, S. 225–506, the Aesthetics of Space in the Age of Iron », in : S. 279f. Paul Dobraszczyk, Peter Sealy (Hrsg.) : Func38 Auch Paul Mebes wandelt seine Fortion and Fantasy. Iron Architecture in the mensprache nach dem Krieg – obschon er weiterhin eine Identifikationsfigur der ‹ Mitte ›, Long Nineteenth Century, New York-London 2016, S. 91–109. zwischen den Lagern der Traditionalisten 43 In diesem Sinn betont Sigrid Hofer und Modernisten, bleibt. (Vgl. Jaeggi 1999, die kritische Kontinuität jener ReformbeS. 227ff.) In der Weimarer Republik orienstrebungen, die bis ins 19. Jahrhundert zutiert er sich an der Abstraktion des Neuen Bauens. So etwa bei der Friedrich-Ebert-Sied- rückreichten, nicht erst um 1900, nicht erst danach angesetzt hätten. Man habe damals lung in Berlin-Wedding, die von 1928 bis in der « Verarbeitung der Tradition » die einzi1931 errichtet wurde. Durch Kooperation mit ge Möglichkeit gesehen, um voranzukominnovationsfreudigen Baufirmen entsteht men, da man jenen « Entwicklungen, wie sie der erste Berliner Zeilenbau aus einem Industrialisierung und Technisierung hervöllig präfabrizierten Bausystem, das auch vorgerufen hatten, mit Skepsis » begegnete. an anderen Orten zum Einsatz kommen (Hofer 2005, S. 18.) Hofer erklärt, was für die konnte. Das Handwerk tritt nun gegenüber Kunstwissenschaft gegeben, in der Architekder Maschine zurück, seine Ästhetik hat sich turgeschichtsschreibung aber weniger selbstgewandelt – « praktisch, gesund und sauber » verständlich sei : « Fragen etwa zum Nachmüsse sie sein, so Mebes. (Paul Mebes, « Die feuer- und rauchlose Siedlung in Berlin-Steg- leben der Antike und anderer Stile oder nach länderübergreifenden Stileinflüssen gehören litz », in : Monatshefte für Baukunst und zum Grundrepertoire kunstwissenschaftStädtebau 16, 9/1932, S. 115–117, S. 115.) 1925 ist licher Forschung. Die Suche nach Vorläufern er in Walter Gropius’ Band Internationale und Vorlagen, nach Zitaten oder Zitat-VariaArchitektur, dem ersten der Bauhaus-Bücher, tionen wie nach formalen und inhaltlichen mit einem Fabriksbau vertreten. Wie Anne-

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Anspielungen bilden die Voraussetzung, um kreative Potenziale eines Entwurfs zu diskutieren. In Begriffen wie Renovatio, Restauration, Renaissance oder Klassizismus hat sich die positive Bewertung solchen Agierens niedergeschlagen. In der Beurteilung der Kunst des Historismus und der Jahre um 1900 wurden derartige Verfahren jedoch suspekt. » Das Ungenügen über das Auseinandertreten von Repräsentationsform und maschineller Produktion, die Unbehaustheit der urbanen Masse charakterisiere eine Zeit, « die durch nichts so sehr gekennzeichnet war wie durch den Wunsch nach Veränderung » – und dabei doch von Reform und nicht von Revolution spricht. (Ebd., S. 15.) Der Rückblick zeigt : Bereits die Bauten des Wilhelminismus waren von hoher innenräumlicher Qualität gekennzeichnet – wie Julius Posener vielfach festgehalten hat. Die Planung der Münchner Maximilian-Straße etwa belegt, dass bereits im Jahr 1855 der Wille zu einer aus der Konstruktion entwickelten Fassadengestalt vorhanden ist – angeleitet allerdings von der Obrigkeit. Ein Artikel der Zeitschrift für Bauwesen beklagt zunächst in bekannter Weise, dass zeitgenössische architektonische Werke « zu bloßen Formen-Kombinationen herabgesunken » wären. Stattdessen gelte es eine Entwurfshaltung zu fördern, die das Klima, das vorhandene Baumaterial und die jeweilige technische Entwicklung, schließlich auch die geschichtliche Überlieferung berücksichtige. Die Forderung nach geistiger Untermauerung des Bauens wird gerade im 19. Jahrhundert, inmitten des Stilpluralismus laut : Nur so ließe sich die überlieferte Form begreifen, bliebe sie dem Entwerfer nicht äußerlich und eröffnete sich die Möglichkeit ihrer neuerlichen Aneignung. « Wir müssen den Geist, der die Form geschaffen, erfassen, ihn erkennen lernen, und in dieser Erkenntnis selbst entwickeln », schreibt Rudolph Gottgetreu in seinem Artikel über die Fassaden für die neue Maximilians-Straße in München. (Zeitschrift für Bauwesen, S. 353.) Die Gliederung der Fassaden der Maximilian-Straße weist in die Zukunft, der « Standpunkt der

jeweiligen Technik » hat Einfluss auf die « Bildung der Bauform » genommen, da bei der « Konstruktion der Außenwände ein zwar nicht neues, aber nicht häufig zur Anwendung gebrachtes System verfolgt, wonach durch Verstärkungs-Pfeiler die vertikale Teilung der Fassade konstruktiv bedingt ist. Diese Konstruktionsweise erspart, bei gleicher Standfestigkeit der bisher angewendeten, nicht unbedeutendes Material ; es treten die Mauermassen organisch gegliedert auf und geben Anlass zur Durchbildung einer Bauart, die prinzipiell in jeder Weise den Anforderungen unserer Zeit entsprechen möchte ». (Ebd., S. 355.) Ein Problembewusstsein und Verständnis von Konstruktion und technischer Neuerung. 44 Richard Lucae : « Über die Macht des Raumes in der Baukunst », in : Zeitschrift für Bauwesen, 1869, S. 294–306. – Zitiert nach : http ://www.cloud-cuckoo.net/openarchive/ Autoren/Lucae/Lucae1869.htm. 45 Theodor W. Adorno : « Funktionalismus heute » (1977), in : ders. : Kulturkritik und Gesellschaft I, Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, Frankfurt/Main 2003, S. 375–395, S. 375. – Im Folgenden wird die Fassung von 1965 zitiert. 46 Ebd., S. 384. 47 Ebd., S. 394. 48 Ebd., S. 395. 49 Ebd., S. 377. 50 Ebd., S. 376. 51 Ebd., S. 382. 52 Ebd., S. 381. 53 Ebd., S. 387. 54 Richard Lucae : « Über die ästhetische Ausbildung der Eisen-Constructionen » ; zitiert nach : Cepl 2016, S. 106. 55 Adorno 2003, S. 388. 56 Friedrich Nietzsche : « Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben », in : ders. : Werke in drei Bänden, München 1954, Bd. 1, S. 209–287. Im Schlussabsatz heißt es : « Dies ist ein Gleichnis für jeden einzelnen von uns : er muss das Chaos in sich organisieren, dadurch, dass er sich auf seine echten Bedürfnisse zurückbesinnt. Seine Ehrlichkeit,

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sein tüchtiger und wahrhaftiger Charakter muss sich irgendwann einmal dagegen sträuben, dass immer nur nachgesprochen, nachgelernt, nachgeahmt werde ; er beginnt dann zu begreifen, dass Kultur noch etwas andres sein kann als Dekoration des Lebens, das heißt im Grunde doch immer nur Verstellung und Verhüllung ; denn aller Schmuck versteckt das Geschmückte. So entschleiert sich ihm der griechische Begriff der Kultur – im Gegensatze zu dem romanischen – der Begriff der Kultur als einer neuen und verbesserten Physis, ohne Innen und Außen, ohne Verstellung und Konvention, der Kultur als einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen. So lernt er aus seiner eignen Erfahrung, dass es die höhere Kraft der sittlichen Natur war, durch die den Griechen der Sieg über alle anderen Kulturen gelungen ist, und dass jede Vermehrung der Wahrhaftigkeit auch eine vorbereitende Förderung der wahren Bildung sein muss : mag diese Wahrhaftigkeit auch gelegentlich der gerade in Achtung stehenden Gebildetheit ernstlich schaden, mag sie selbst einer ganzen dekorativen Kultur zum Falle verhelfen können. » 57 Karl Scheffler : Die Architektur der Großstadt, Berlin 1913, S. 3. 58 Ebd., S. 8. 59 Ebd., S. 4f. 60 Ebd., S. 53ff. 61 Ebd., S. 6f. 62 Ebd., S. 59f. 63 Ebd., S. 18ff. 64 Ebd., S. 63. 65 Mackay Hugh Baillie Scott : Häuser und Gärten, Berlin 1912, S. 1. 66 Ebd., S. 8. 67 Ebd., S. 11. 68 Ludwig Mies van der Rohe im Dokumentarfilm « Mies van der Rohe » seiner Tochter Georgia aus dem Jahr 1979. 69 Schulze 2012, S. 23. 70 In der DDR wird das Haus für die Babelsberger Filmhochschule genutzt, kommt 1997 auf den Immobilienmarkt, wird von Franz und Margit Kleber erstanden und im

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Jahr 1999 bezogen. (Vgl. Susanne Rost : « Was aus den Häusern wurde, die der berühmte Architekt Mies van der Rohe in Brandenburg baute. Mies drauf – ein bisschen », in : Berliner Zeitung, 5. Jänner 2002.) Im Jahr 2001 wurde es durch den Architekten Heiko Folkerts restauriert und von Jörg Limberg denkmalpflegerisch begleitet. Die später eingeführte Verglasung der Loggia wurde nicht entfernt. (Vgl. Cramer, 2004, S. 27–55.) 71 Der einzige augenfällige Schmuck befindet sich über der Eingangstür : Ein Bild zeigt den stolzen, in dunklen Anzug und weißes Hemd gekleideten Architekten im Jahr 1912 unter dem klassizistischen Kranz mit Zöpfen aus weiß lackiertem Holz. 72 Den üblichen « Dualismus » aus Küchengarten und Lustgarten empfindet Baillie Scott als veraltet und mokiert sich ganz ausführlich über die Trennung des Nützlichen vom Schönen. (Baillie Scott 1912, S. 43f.) Darin besteht die « Anfangslüge » der Gesellschaft, erklärt er : « Hätten Rosenblätter, wie Kohlblätter, einen kulinarischen Wert, würde sehr wahrscheinlich die Rose ihrer Herrscherwürde, als Königin der Blumen, entkleidet werden! Im Küchengarten finden wir eine Menge Pflanzen, die ihrer Kaste, ihrer Standesehre beraubt wurden, lediglich deshalb, weil sie es wagten, nützlich zu sein! [ …] Das grau-grüne Laub und die großen distelartigen Köpfe der Artischocke, der mimische Urwald des Spargelkrautbeetes, und der wunderliche altmodische Blütenstand der Zwiebelgewächse haben jeder ihre eigenartige Schönheit ». Die ganze Natur ist schön durch ihre Lebendigkeit, scheint auch er zu betonen zu wollen. 73 Gegenüber der ideologisch geführten Debatte zwischen den Anhängern des landschaftlichen Gartenstils und des Architekturgartens zeigt er sich ganz undogmatisch und diskutiert beide Gestaltungsweisen anhand der Gegebenheiten des Grundstücks und der notwendigen Pflege. Ebd., S. 44f. 74 Julius Posener : « Hermann Muthesius » (1931), in : ders. : Aufsätze und Vorträge 1931–1980, Braunschweig 1981, S. 24–34, S. 24.

75 Vgl. Julius Posener : Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur, München 1979. 76 Bereits der französische Klassizist Jean-Nicolas-Louis Durand hatte in seinen Vorlesungen Gebäude aus der scheinbar logischen, im Grundriss abgebildeten Raumkonfiguration entwickelt und daraus ein typologisches Programm erstellt: « Demnach hat sich ein Architekt einzig nur mit der Anordnung zu beschäftigen, und dies betrifft selbst den Anhänger architektonischer Verzierung ». (Jean-Nichols-Louis Durand : « Précis des lecons d’archietuctre données à l’Êcole Polytechnique » (1802–1805), zitiert nach : Fritz Neumeyer : Quellentexte zur Architekturtheorie. Bauen beim Wort genommen, München 2002, S. 198–211, S. 208.) Vgl. zu Muthesius: « Wenn man diese Bewunderung für das 18. Jahrhundert und die immer wieder ausgesprochene Bewunderung für Schinkel berücksichtigt, dann ist man nicht überrascht festzustellen, dass für Muthesius Form so etwas wie die aus der neoklassischen Formgebung herausdestillierte geometrische Essenz bedeutete. » (Reyner Banham : Die Revolution der Architektur. Theorie und Gestaltung im Ersten Maschinenzeitalter, Braunschweig 1990, S. 54.) 77 Benevolo 1964, S. 8. 78 Herman Muthesius und Henry van de Velde : « Werkbund-Thesen und Gegenthesen » (1914), Zitiert nach : Ulrich Conrads : Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Basel 1981, S. 25–27, S. 25f. 79 « Neues kann sich in der Architektur nicht aus neuen Formen, sondern nur aus neuen inneren Triebkräften ergeben. [ …] In dem Kampfe gegen den unwesentlichen Aufputz und gegen die überflüssige Phrase wird sich dann auch die Architektur den inneren Gestaltungszielen unserer Zeit inniger anschließen. Man kann diese Ziele vielleicht nicht treffender bezeichnen, als mit den Worten, die Hamlets Mutter an den phrasenzirkelnden Polonius richtetet, jenen Worten, die das ganze Programm einer modernen tektonischen Kunst mit unübertrefflicher

Knappheit in sich fassen : More matter, with less art, mehr Inhalt mit weniger Kunst. » Herman Muthesius : « Die moderne Architektur », in : Kunstgewerbe und Architektur, Jena 1907, S. 37–39. 80 Posener 1981, S. 25. 81 Hermann Muthesius : Die WerkbundArbeit der Zukunft und Aussprache darüber, Jena 1914, S. 43. 82 Hermann Muthesius : Das englische Haus . Entwicklung, Bedingungen, Anlage, Aufbau, Einrichtung und Innenraum, Berlin 1904–1905, Bd. 2, S. 237. 83 In der zweiten Auflage seines Buches Landhaus und Garten findet das nunmehr fertiggestellte Haus Riehl auch einen Platz. 84 In einer längeren Passage seines Aufsatzes über die von Muthesius getragene Landhausbewegung erläutert Posener seine Kernüberlegungen zum Zusammenhang von Leben und Form, Alltäglichkeit und Konkretheit der Dinge : « War in den Schriften der führenden Baukünstler, etwa in Ver Sacrum, vornehmlich von den ideellen Funktionen der Baukunst (als einer bildenden Kunst) die Rede, so sprach Muthesius, der Architekt der Landhausbewegung, von durchaus irdischen und behaglichen Dingen : Von der Beziehung des Hauses zum Garten, von dessen Räumen, von der Lage der einzelnen Zimmer im Hausplan, von den Funktionen jeder einzelnen der Raumgruppen : Essraum – Küche –Wirtschaftsflüge, Schlafraum – Ankleidezimmer – Bad, Kinderschlafraum – Turnboden – Spielraum – Bad – Garten der Kinder usw., kurz, aller der lebendigen Gruppen, die zusammen das höchst vielfältige Ganze eines großen bürgerlichen Wohnhauses unserer Zeit ausmachen. Es ist vom Komfort die Rede, und in einem Buch steht der Satz, der den größten Widerspruch gegen die idealistische Seite der Bewegung darstellt : ‹ Das Badezimmer ist der modernste (und mithin schönste) Raum des Hauses. › Und der Autor schwärmt von blanken Nickelhähnen, Glasstangen für Handtücher, dichten glatten Fliesen und Wänden, nicht aber, wie wir es heute täten, wegen des Materialreizes dieser Dinge, nicht überhaupt

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in irgendeinem rein optischen (der bildenden Kunst gehörigen) Sinne, sondern mit der Freude Homers an einem vollkommenen Raum oder Gegenstand, der einer bestimmten Schicht von Menschen dient und von ihrem Leben und ihrer Art nicht zu trennen ist. » Posener 1981, S. 25. 85 Hermann Muthesius : « Die Bedeutung des Kunstgewerbes. Eröffnungsrede zu den Vorlesungen über modernes Kunstgewerbe an der Handelshochschule in Berlin », in : Dekorative Kunst, 10/1907, S. 177–192, S.179. 86 Ebd., S. 180. 87 Hermann Muthesius : « Wo stehen wir? » (1911), zitiert nach : Julius Posener : Anfänge des Funktionalismus in Deutschland. Von Arts and Crafts zum Deutschen Werkbund, Frankfurt/Main-Berlin 1964, S. 187–191, S. 190. 88 Ebd., S. 187. 89 Muthesius 1903, S. 151. 90 Conrads 1981, S. 24. 91 Hermann Muthesius : « Die Werkbundarbeit der Zukunft » (Rede, Köln 1914), zitiert nach : Posener 1964, S. 199–204, S. 200. 92 Hermann Muthesius : « Stilarchitektur und Baukunst » (1903), zitiert nach : Posener 1964, S. 150–175, S. 155. 93 Ludwig Mies van der Rohe : « Über die Form in der Architektur », zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 318 – Erstmals veröffentlicht in : Die Form 2/1927, S. 59. 94 Den Zusammenhang von Garten und Landschaft hat Posener früh erkannt und den zugrunde liegenden Haustypus durch seine Hauptmerkmale beschrieben : « Im Gegensatz zur Villa liegen im Landhaus die Wohnräume zu ebener Erde, man geht also aus ihnen direkt in den Garten hinaus. Dadurch wird das Haus niedriger, es wirkt gelagert, es liegt im Garten, nicht über dem Garten ; und der Garten erhält dadurch eine enge Beziehung zu den Räumen. Damit hängt es zusammen, dass er selbst räumlich aufgefasst wird : als unmittelbare Fortsetzung der Räume des Hauses ; wobei es nicht selten geschieht, dass bestimmte Teile des Gartens bestimmten Räumen oder Raumgruppen zugeordnet wer-

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den [ …]. Landschaftlich darf in einem großen Garten der Teil sein, der nicht unmittelbar am Hause liegt. Dieser Teil des Gartens wird dann nicht verändert, er bleibt Wald oder Wiese. » Posener 1979, S. 160. 95 Hermann Muthesius : Wie baue ich mein Haus?, München 1917, S. 82. 96 Vgl. Die Gartenkunst, 7/1905, S. 1–10 oder Arminius (Adelheit von Dohna-Poninska) : Die Großstädte in ihrer Wohnungsnoth und die Grundlagen einer durchgreifenden Abhilfe, Berlin 1874. 97 Auszug aus den Wettbewerbsvorgaben, abgedruckt in : Die Gartenkunst, 9/1907, S. 232. 98 Der Rückgriff auf historische Stilelemente der Gartenkunst wird nicht mehr allein an die Motive des späthistoristischen Stils gebunden, sondern nutzt Elemente der historischen Gartenkunst in Abstimmung mit der Aufgabe und Situation. (Vgl. Günter Mader : Gartenkunst des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1999, S. 193ff.) Der Gewinner, Friedrich Bauer, hat schon bei einem der ersten Wettbewerbe für ein Wiesenareal am Nordrand Dresdens, in dem sich der reformerische Geist abzeichnete, mitgewirkt und lobende Erwähnung gefunden. Johannes Schwarzkopf charakterisiert seinen Entwurf für einen Garten am Ufer eines Elbarms und korrigiert auch hier die verbreitete Einschätzung in Hinsicht auf den Umgang mit landschaftlichen Motiven : « Die großzügige Anlage des Wasserbeckens zeigt deutliche Jugendstileinflüsse, lässt sich aber auch als Transformation barocker oder klassizistischer Vorbilder interpretieren. Gleichzeitig bereiteten sich in dieser monumentalen Geste die axialen Rauminszenierungen vor, die für die Volksparks der beiden folgenden Jahrzehnte typisch werden sollten. Das Besondere an Bauers Entwurf ist aber nicht nur diese reformtypische Wiederentdeckung formal-architektonischen Gartenrepertoires. Vielmehr zeigt die schlichte, von leicht geschwungenen Wegen eingefasste ‹ Waldwiese ›, dass die Gartenreform nicht etwa mit einer völligen Ablehnung des Landschaftlichen gleichzusetzen ist, sondern seinerzeit

auch dieses Ideal eine Reform erfuhr. Eine Neuinterpretation und Transformation des freien Gestaltens ». (Johannes Schwarzkopf : « Auf der Höhe der Zeit. Der Wettbewerb – Seismograph für neue Gestaltungstendenzen », in : Stadt und Grün, 7/2006, S. 16–23, S. 17.) 99 Der Einsatz von Stauden war durch eine von Muthesius vermittelte Reise nach England beeinflusst, wo Behrens von William Robinson angeregt worden und auf Gertrude Jekyll getroffen war. 100 Peter Behrens : « Der moderne Garten », in : Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, 10. Juni 1911, Abendausgabe, S. 1–2. 101 Hermann Muthesius : Das englische Haus : Entwicklung, Bedingungen, Anlage, Aufbau, Einrichtung und Innenraum, Berlin 1904–1905, Bd. 1, S. 210. 102 Ebd., S. 218. 103 Ebd., S. 214. 104 Ebd., S. 213. 105 Ebd., S. 214. 106 Ebd., S. 81f. 107 Auf diese Weise spricht er das erste Mal vage vom ‹ Naturgefühl › des Menschen, das in Bezug zur gegenwärtigen Lebensweise stehen müsse – wie die Baukunst – und folglich ebenso wenig den französischen Gartenstil wiederbeleben dürfe – mitsamt dessen gärtnerischen Machtsymbolen, mächtigen Alleen, breiten Promenaden, verschnörkelten Parterrebeeten. Er spricht despektierlich von « Schlängelwegen, Szenerien, die eine Meilenlandschaft im Vorstadtgärtchen heucheln, Betonfelsen, Grotten, eincementierten Pfützen und allerhand so genannten Naturmotiven [ …] der Vorliebe des großen Publikums für glasierte Gnomen und tönerne Hirsche, Rehe und Hasen ». (Ebd., S. 218.) Wortwörtlich übernimmt Muthesius Reginald Blomfields Kritik am Landschaftsgarten und William Robinsons wild garden aus dessen 1892 erschienenem Buch The Formal Garden in England. 108 Muthesius 1904–1905, Bd. 2, S. 84. 109 Ebd., S. 96.

110 Ebd., S. 84. 111 Ebd. Auch Uwe Schneider gelangt in seiner einschlägigen Studie zu einer Neubewertung der wilden Natur : « Tatsächlich handelt es sich um ein bewusst gehandhabtes Gestaltungsmotiv, das eine spezifische Lösung aus der Ablehnung der ‹ landschaftlichen › Gestaltung darstellt. » (Uwe Schneider : Hermann Muthesius und die Reformdiskussion in der Gartenarchitektur des frühen 20. Jahrhunderts, Worms 2000, S. 100.) 112 Im landschaftlichen Raum des Landhauses wäre alles geordnet, wenn man darin wohnend aufgehoben lebte – wie in der alten englischen Kulturlandschaft mit ihren geometrischen cottage gardens. Zum Abschluss seiner Trilogie über das englische Haus schreibt Muthesius daher : « Ein gutes Stück Bauerntum haftet noch an jedem Engländer, obgleich gerade in England der Bauer als Stand fast von der Bildfläche verschwunden ist. Aber der natürliche, ungekünstelte Sinn, die wohlbesessene Dosis von gesundem Menschenverstand, der Hang an der Heimat mit ihren Äckern und Feldern, die Vorliebe für frische Luft und freie Natur, die wir beim Engländer bemerken, sie alle deuten darauf hin, dass hier ein Stück des bestens Wesens des Landbewohners erhalten geblieben ist. In keinem Lande der Welt hat sich der Sinn für das Natürliche und Ländliche in ähnlich starkem Maße bis auf die Gegenwart fortgepflanzt als in dem Lande des größten traditionellen Reichtums. » Zitiert nach : Piergiacomo Bucciarelli : Die Berliner Villen von Hermann Muthesius, Berlin 2013, S. 54. – FN 20. 113 Muthesius 1904–1905, Bd. 2, S. 96. 114 Ebd. Der Tanz ist für ihn das Symbol der rhythmischen Kultur : « Das Drama, das sich aus dem Tanz der Urvölker entwickelt, ist von strenger Architektonik beherrscht. » Im Tanz wäre Lebendigkeit an die Formalisierung der Schrittfolge vermittelt. Wer ihn beherrschen will, muss das Erlernte wieder vergessen ; es müsste aufgehen in dann natürlich erscheinenden Bewegungen.

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115 Friedrich Ostendorf, ein weiterer publizierender ‹ Hausarchitekt › der Zeit und Antipode von Muthesius, zeigt in seinem 1914 erschienenen Buch – mit dem wenig überraschenden Titel Haus und Garten – dieselbe zeittypische Abneigung gegen spätlandschaftliche Tendenzen in der Gartenkunst. Seine Argumentation hält sich an die Entwicklung des Gartens in Deutschland und betont dessen Räumlichkeit : Der Garten, per definitionem gekennzeichnet durch seine Abgrenzung von der Umgebung, wäre im Mittelalter noch kein räumliches Gebilde gewesen, argumentiert er und behauptet, man hätte ihn damals nur im Grundriss gezeichnet. Ostendorf spricht vom Garten als « ummauertem Teppich » im engen mittelalterlichen Stadtgefüge. (Friedrich Ostendorf : Haus und Garten, Berlin 1914, S. 441.) Die architektonische Aufgabe, Gartenräume zu schaffen, käme erst Ende des 16. Jahrhunderts von Italien nach Deutschland. Als ersten Garten in diesem räumlichen Sinn nennt er Joseph Furttenbachs Ulmer Hausgarten, den dieser in der Architetctura privata 1641 publiziert hat. Nun erst gewinne er seine dritte, räumliche Dimension. Doch anders als beim Vorbild, dem Villengarten Italiens, hieße es für den deutschen Stadtgarten der Renaissance : « Den Gegensatz zwischen dem künstlichen Garten und der unberührten Natur, den famosen Kontrast zwischen dem stilisierten Vordergrund und der ungebundenen Welt draußen jenseits der Mauer, der in den italienischen Villen so etwas Außerordentliches ist, wird man hier in der Stadt nicht suchen wollen. » (Ebd., S. 442.) Erneut ist eine Kategorisierung zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit innerhalb der Natur getroffen, Nahraum und Fernraum werden auf den Wohnraum in der Stadt bezogen und ein im Mittelalter noch nicht entwickeltes Bedürfnis benannt. Dieses Prinzip räumlicher Differenzierung erreiche erstaunlicherweise schon im französischen Garten Le Nôtres einen gestalterischen Höhepunkt, wenn die inszenierte landschaftliche Ferne durch Kontrast zur geometrischen Gartenanlage

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in ihrer Anmutung gesteigert werde. Man kann den Französischen Garten nicht nur als irdische Widerspiegelung des Göttlichen im Gartenplan des Herrschers lesen, sondern auch als Vermittler zur Wildnis jenseits des Gartens und im Garten, wo sie als Teil der menschlichen Lüste inszeniert wird. Ostendorf verunglimpft den Barockgarten nicht als Symbol absoluter Herrschaft, seine Bosquets und gepflegten Wäldchen dienen seinem Argument, rahmen den Blick in die Ferne : « I m Schatten des Waldes genießt man hier, auf steinernen Bänken sitzend, über die Balustrade hinwegschauend, einen Ausblick auf das Land, der eben wegen des Kontrastes zwischen dem von Menschenhand geformten und daher regelmäßig gestalteten Garten und der unberührten Natur draußen so besonders reizvoll ist. » (Ebd., S. 459.) Das wird freilich erst möglich durch die Distanzierungsleistung der Gartenmauer und die Präsenz jener eigentlichen Kulturlandschaft, die er als Natur schlechthin darstellt. Auch sie wäre nicht mehr unter die unmittelbare Zugänglichkeit und Verfügbarkeit der Hausbewohner gestellt ; ein Verlust der unmittelbaren « bäuerlichen Bindung ». Der Städter blickt nun sehnsuchtsvoll auf eine Natur-Landschaft, die nur deshalb besonders und zum Inbegriff von Natur werden konnte, weil sie visuell, eben aus der Distanz erlebt, vom eigentlich formenden Prinzip ihrer agrarischen Nutzung entkoppelt auftritt. Sie erscheint geworden, obwohl sie als Kulturlandschaft bearbeitet wird, um Form zu erhalten wie ehedem das ländliche Haus in ihr. Der ästhetisierende Fernblick kommt dabei einem realen Sich-Entfernen aus dieser Landschaft gleich. Der moderne Landschaftsbegriff spiegelt sich wider : Der Begriff Kontemplation – theoria – wird dabei noch entscheidend, weil er Erfahrung und Tat miteinander verknüpft. 116 Vgl. für eine knappe Darstellung der biografischen Hintergründe : Felix Grützner : « Walter Baron von Engelhardt. Kultur und Natur in der Gartenkunst », in : Stadt + Grün, 7/1998, S. 476–484 ; ausführlicher : ders. : Gartenkunst zwischen Tradition und Fortschritt.

einer polaren, diesmal raumpsychologisch Walter Baron von Engelhardt (1864–1940), fundierten, Erfahrungsweise getragen. (Vgl. Bonn 1998. – Dissertation, Rheinische FriedGabriele Reiterer : AugenSinn. Zu Raum und rich-Wilhelms-Universität Bonn 1997. Wahrnehmung in Camillo Sittes Städtebau, 117 Als deutschstämmiger Wissenschafter Salzburg-München 2003.) Dieses Prinzip der der Disziplin Biologie an der Kaiserlichen Polarität von Natur und Kultur gelte auch Akademie der Wissenschaften in St. Petersfür den Blumenschmuck im Inneren eines burg unter Zar Alexander I I I . aussichtslos, repräsentativen Bauwerks. Sitte bezieht sich wird er von seinem älteren Architektendabei auf Lichtwarks Schrift Blumenkultus Bruder Rudolf gestalterisch angefacht. In der 1897 : « Alles das wirkt nicht nur gesundPreußischen Gärtnerlehranstalt im Potsdamheitlich bessernd ein, sondern muss ganz Wildpark wird er zunächst ganz in der Lenbesonders vom künstlerischen Standpunkt néschen Tradition erzogen und ergänzt seine aus hochgehalten werden. Nimmt man einen Ausbildung um einen gärtnerisch-praktiEmpfangssaal, einem Treppenhause seinen schen Teil. Zurück in seiner Heimat, gründet Blumenschmuck, so nimmt man auch der er eine Baumschule und tritt bis zum Jahr 1905 durch Gestaltung Dutzender großzügiger Architektur, der Wandmalerei, selbst den Teppichen und Möbeln einen guten Teil ihrer Landschaftsparks im Umfeld seines weiten Wirkung ; der Gesamteffekt wird trocken, Bekanntenkreises hervor. Die Russische einförmig, weil die wohltuende Wirkung des Revolution führt ihn und seine Familie nach Gegensatzes von strenger Kunstform zur Verlust der baltischen Güter in die Großstadt freien Naturform verlorengegangen ist. » (Sitte am Rhein, nach Düsseldorf. Im Jahr 1906 1909, S. 188.) Sitte folgt dem formalen Ratwird er dort zum langjährigen Gartenbaudischlag der alten europäischen Stadt, wie sie rektor ernannt. In Zusammenarbeit mit Wilmustergültig in der italienische Renaissance helm Kreis’ Architekturklasse in Düsseldorf vorgefunden werden konnte, und nähert sich bietet Engelhardt ein gartenkünstlerisches der Gestaltwirkung städtischen Grüns durch Aufbaustudium für Gärtner an, verbindet so Analyse der Stellung eines Baumes auf einem neuerlich Theorie und Praxis, Wissenschaft Platz, rät dazu, diesen an der Seite des Bauund Gartenbau. Zu den Absolventen zählt körpers, nicht im Zentrum zu platzieren. Geu. a. der Schweizer Gartenarchitekt Mertens. bäude und Baum gingen so eine Einheit aus 118 Walter von Engelhardt : « Die SonderKulturform und Naturform ein, zumal sie gärten des Prof. P. Schultze-Naumburg und gestalterisch wie Brunnen oder Monumente des Prof. P. Behrens », in : Die Gartenkunst, behandelt werden. Die Polarität eines in 11/1907, S. 224. der Öffentlichkeit wirksamen « dekorativen 119 Walter Freiherr von Engelhardt : KulGrüns », verbunden mit der funktionalen Wirtur und Natur in der Gartenkunst, Stuttgart kung des « sanitären Grüns », dessen Aufgabe 1910, S. 5. Sitte in den Innenhöfen der Häuserblocks 120 Auch in der « Ergänzung » des Städtebeschreibt, bekräftigt die allgemeine Auffasbaus nach seinen künstlerischen Grundsätzen sung seines polaren Naturverständnisses : spricht Camillo Sitte von dieser Zweiteilung « Nach dem bisher Erörterten ist es klar, dass der Natur : Er fächert die landschaftlichen alles Grüne in der Großstadt in zwei streng Elemente der Stadt in ein « Sanitäres Grün » zu sondernde Gruppen zerfällt, mit gänzlich und ein « Dekoratives Grün » auf ; Sittes verschiedener Wirksamkeit und somit auch « Großstadtgrün » erscheint ab der zweiten Auflage seines Buches als dessen Anhang und gänzlich verschiedenen Verwendungsformen, nämlich : in das sozusagen ‹ Sanitäre Grün › umfasst 24 Seiten. (Camillo Sitte : Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, und in das ‹ Dekorative Grün › ». (Ebd., S. 208.) Einmal blickt Sitte auf den Baum als KunstBraunschweig 1909, S. 189.) Das darin ausform der Natur, dann als Sauerstofflieferant gedrückte Naturverständnis ist explizit von

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im Hinterhof. Sitte folgt im Kern jedoch nicht unbedingt naturwissenschaftlich gesicherten Argumenten, wenn er den Kohlenstoff- und Sauerstoffanteil in Wäldern und Städten vergleicht, dann bleibt selbst das sanitäre Argument verhaftet in der psychologischen Wirkung des Grüns : Die von ihm herangezogenen Studien weisen den Wald diesbezüglich nicht als gesünder aus als die Stadt. (Ebd., S. 190ff.) Die Wirkung von Pflanzen in der Stadt sei die eines « Sympathiemittels », die die Sehnsucht des « Großstadtmelancholikers » nach der « freien Natur » beflügle. Eine Argumentation, die sich bei Georg Simmel in ähnliche Weise wiederfinden wird. (Ebd., S. 193.) 121 Shaftesbury und Addisons Artikel im Tatler, Spectator und Guardian, die Nikolaus Pevsner in seinem Artikel zitiert, verhelfen dem Architekturhistoriker zu einer Erklärung für die Komplementarität von neopalladianischer Villa und wilder Natur im Landschaftsgarten, der an die Polarität des Landhauses erinnert – an Engelhardt, Muthesius und auch Neumeyers Befund über das Haus Riehl, bei dem « Abstraktion und Rationalität » dem « Reichtum organischer Formen » gegenüberstünden. Pevsner meint, beide Gestaltungsweisen stellten sich als formal verschiedener Ausdruck einer übergreifenden Ordnung dar : das klassizistische Haus « was the visible symbol of man’s achievements in ordering his works according to the same eternal laws of harmony, order and proportion as Nature does in her works. » Nikolaus Pevsner : « The Genesis of The Picturesque », in : The Architectural Review, 11/1944, S. 139–146, S. 141. 122 « ‹ Fear not, my Friend ›, reply’d he. ‹ For know that every particular Nature certainly and constantly produces what is good to itself ; unless something foreign disturbs or hinders it, either by over-powering and corrupting it within, or by Violence from without. Thus Nature in the Patient struggles to the last, and strives to throw off the Distemper. Is there any thing foreign, which shou’d at anytime do violence upon, or force

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it out of its natural way? If not, then all it produces is to its own advantage and good ; the Good of All in general : And what is for the good of all in general, is Just and Good. › ‹ Tis so, › said I, ‹ I confess. › » Anthony Ashley Cooper Earl of Shaftesbury : Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, Volume I I . Im Jahr 1712 meldet Shaftesbury sich im Spectator mit dem bis heute rezipierten Aufsatz Über die Freuden der Einbildungskraft zu Wort. Darin beschwört er die Bedeutung und Wirkung der natürlich wachsenden Pflanze und bezieht seine Ablehnung der formalen Regelhaftigkeit auf den Begriff imagination. Die Betonung des erlebenden Subjekts ist nicht nur durch liberal-politische Bestrebungen der Zeit begründet, die dem Individuum (und der wachsenden Pflanze) größeren Wert beimessen, sondern beeinflusst von der Philosophie John Lockes, der 1690 mit seinem Essay Concerning Human Understanding die menschliche Seele als Wachstafel beschrieben hat, in die sich simple ideas einschrieben – der Primat der Sinne ist erkenntnistheoretisch postuliert. Die Fortsetzung und Steigerung dieser Denktradition bis zur Infragestellung jeglicher gesicherter Erkenntnis erfolgt in einer Passage aus David Humes An Enquiry Concerning Human Understanding von 1748 : « Das Gegenteil jeder Tatsache ist immer möglich [ …]. Dass die Sonne morgen nicht aufgehen wird, ist ein nicht minder einsichtiger Satz und enthält keinen größeren Widerspruch als die Behauptung, dass sie aufgehen wird. » David Hume : Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Stuttgart 1982, S. 201f. 123 Vgl. Götz Pochat : Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie, Köln 1986, S. 368. 124 Vgl. Immanuel Kant : Kritik der Urteilskraft (1790), Frankfurt/Main 1974, S. 117ff., §§ 3–5. 125 Ebd., S. 195. 126 Ebd., S. 193. 127 Ebd., S. 202. 128 Ebd., S. 132. 129 Ebd., S. 234. 130 Ebd., S. 294ff., § 59.

131 Kant drückt dies etwas kompliziert aus : « Das Bewusstsein der bloß formalen Zweckmäßigkeit im Spiele der Erkenntniskräfte des Subjekts, bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, ist die Lust selbst, weil es ein Bestimmungsgrund der Tätigkeit des Subjekts in Ansehung der Belebung der Erkenntniskräfte desselben, also eine innere Kausalität (welche zweckmäßig ist) in Ansehung der Erkenntnis überhaupt, aber ohne auf eine bestimmte Erkenntnis eingeschränkt zu sein, mithin eine bloße Form der subjektiven Zweckmäßigkeit einer Vorstellung in einem Urteil enthält. » Ebd., S. 137f. 132 Dieser hat Schiller während schwerer Krankheit mit einer jährlichen Pension unterstützt. Friedrich Schiller : Über die Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1793), Stuttgart 2004, S. 62f. 133 « Der Gegenstand des sinnlichen Triebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben in weitester Bedeutung ; ein Begriff, der alles materiale Sein und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher Bedeutung ; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich fasst. Der Gegenstand des Spieltriebes, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebende Gestalt heißen können ; ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient. » Ebd., S. 58. 134 Ebd., S. 59. 135 Vgl. ebd., S. 60. – FN zu Burke, der die Freiheit zu « bloßem Leben » mache. 136 Die praktische Relevanz seiner Gedanken betont Schiller zu Beginn dieses Briefs, wenn er den Gegenstand des Spieltriebs als « lebendige Gestalt » (ebd., S. 58.) anspricht. Diese Figur wird als ‹ lebendige Konkretheit › durch Guardini an Mies vermittelt.

137 Ebd., S. 105. 138 Schiller kennzeichnet den modernen Menschen dabei symbolisch weder als Höhlenbewohner – « Troglodyten » – noch als Nomaden. Mit gehörigem, zeittypischem Pathos, aber auch in weiser Voraussicht erkennt er : Beides wird ihn bestimmen, den wohnenden Menschen, der Drang nach Draußen und die Notwendigkeit zum Schutz, denn « da allein, wo er in eigener Hütte still mit sich selbst, und sobald er heraustritt, mit dem ganzen Geschlechte spricht, wird sich ihre liebliche Knospe entfalten. » 139 Adrian Von Buttlar : Der Landschaftsgarten, München 1980, S. 130. 140 Ein Denkmal für die ‹ Pflegerin des Tals › im Tal von Seifersdorf drückt das auf Achtung und Sorgsamkeit beruhende, romantische Naturverhältnis besonders deutlich aus. Carl von Brühl ließ es für seine Mutter errichten und das in einem Tal der Röder gelegene Schloss von Karl Friedrich Schinkel in den 1820er-Jahren im neugotischen Stil umbauen. Ebd., S. 133. 141 Im Zuge der Aufwertung der Gartenkunst in der bürgerlichen Gesellschaft und der Wertschätzung von Ziergehölzen taucht im Jahr 1794 auch das erste Mal der Begriff ‹ Kunstgärtner › auf. Der Definition eines Wörterbuchs der Zeit zufolge ein Gärtner, « welcher bei Ausübung seiner Kunst vornehmlich auf das Vergnügen der Menschen sehet ». Selbstverständnis und Aufgabenfeld des Landschaftsarchitekten entwickelten sich langsam vom Typus des (untertänigen) Herrschaftsgärtners über die von Gartenunternehmern im 19. Jahrhundert noch in Personalunion erbrachten Leistungen Pflanzenzucht (Gärtnerei, Baumschule), Ausführung (Gartenbau) bis zur – dem heutigen Landschaftsarchitekten zukommenden – Rolle als Gartengestalter. Die 1823 gegründete Gärtner-Lehranstalt Potsdam schloss man bereits mit dem Titel ‹ Gartenkünstler › ab. In der Schweiz vollzog sich der letzte Schritt dieser über Jahrhunderte verlaufenden Entwicklung verspätet – vor allem durch die Arbeit Gustav Ammanns um 1930.

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Vgl. Claudia Moll : An den Wurzeln der Profession. Die Zürcher Kunst- und Handelsgärtnerei Theodor Froebel (1810–1893) und Otto Froebel (1844–1906), S. 3-6. – Dissertation, ETH Zürich 2015. 142 Friedrich Schiller : « Über den Gartenkalender auf das Jahr 1795 », in : ders. : Theoretische Schriften, Frankfurt/Main 2008, S. 1007–1015, S. 1014. Schiller äußert sich – im Gegensatz zum erwähnten Garten bei Dresden – positiv über widersprüchliche Inszenierungen und allerlei historisierende Theatralik im Garten, wo diese von einer Idee getragen wären. Ebd., S. 1012. 143 Vgl. Schiller 2004, S. 7. 144 Vgl. Schiller 2008, S. 1537. 145 Ebd., S. 1007f. 146 Ebd., S. 1009. 147 Ebd., S. 1010. 148 Vgl. Schiller 2004, S. 11. 149 « Was wird von Dichtern höher gepriesen, als der bezaubernd schöne Schlag der Nachtigall, in einsamen Gebüschen, an einem stillen Sommerabende, bei dem sanften Lichte des Mondes? Indessen hat man Beispiel, das, wo kein solcher Sänger angetroffen wird, irgend ein lustiger Wirt seine zum Genuss der Landluft bei ihm eingekehrten Gäste dadurch zu ihrer größten Zufriedenheit hintergangen hatte, dass er einen mutwilligen Burschen, welcher diesen Schlag (mit Schilf oder Rohr im Munde) ganz der Natur ähnlich nachzumachen wusste, in einem Busche verbarg. Sobald man aber inne wird, dass es Betrug sei, so wird niemand es lange aushalten, diesem vorher für so reizend gehaltenen Gesange zuzuhören ». Kant 1974, S. 236. 150 Hirschfeld 1990, S. 103. 151 Ebd., S. 125f. 152 Schiller 2008, S. 1011. 153 John Dixon Hunt : Greater Perfections. The Practice of Garden Theory, Pennsylvania 2000, S. 32–75, S. 33f. In seinem Buch führt Hunt zur Frühphase dieses Prozesses zurück, der von der Öffnung formaler Gartenräume zur Entwicklung des englischen Landschaftsgartens in die Wertschätzung der ganzen Kul-

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turlandschaft mündet, in der man der Natur ästhetisch begegnen wird. 154 John Dixon Hunt vermutet, beide Autoren beziehen sich mit diesem Neologismus auf den von Cicero in seiner De natura deorum geprägten Begriff alteram naturam – eine vom Menschen genutzte Natur, innerhalb der größeren, geschöpften Natur. (Ebd., S. 33.) Hunt entdeckt in der terza natura ein strukturelles Leitprinzip der Gartenkunst, doch in der Gartenliteratur selbst mache sich das Interesse für die ‹ Ferne › erst im Lauf des 18. Jahrhunderts bemerkbar, und er verweist auf die Entwicklung der visuellen Tiefenachse auf einem Stich des Landguts Eaton Hall, das sich – um 1728 – noch in streng formaler Manier darstellt und dennoch auf einen entfernten Berg ausrichtet. (Ebd., S. 36.) Ein Beleg für die reziproke Entwicklung räumlicher und ästhetischer Kategorien, denn was als ästhetische Erfahrung theoretisch beschrieben wird, müsste auch tatsächlich erfahren werden ; was wir erfahren, hinge von den ‹ geistigen Mitteln › ab, mit denen wir uns in Beziehung zur Natur setzen. So war das bekannte Claude-Glas ein beliebtes Requisit damaliger Bildungsbürger – ein konvexer, bräunlich eingefärbter Taschenspiegel. Um sich auf Reisen eines solchen Instruments zu bedienen, musste man sich von der realen Landschaft abwenden. Als Spiegelbild erschien sie derart verfremdet, dass der Mittelgrund pittoresk gesteigert, der Vordergrund verkleinert würde, der Hintergrund dramatisch verschwimmt. Schließlich war das gebildete Auge an die kanonischen Gemälde Claude Lorrains, ihr geheimnisvoll-mildes Südlicht gewöhnt. Die Medialisierung der Landschaft entspräche dem idealen Erlebnisgehalt, der sich in die ästhetisch gesteigerte Ansicht der Natur mischt. Die Kluft zwischen primärem Sinneseindruck und ästhetischem Empfinden eröffnet die Frage nach Realität und Imagination, nach der Bedeutung des Erlebten. Um 1790 begann man so genannte picturesque tours durch die britischen Inseln zu unternehmen, da die Grand Tour infolge von Kriegen am Kontinent erschwert oder zu ge-

fährlich geworden war. Mit dem Claude-Glas war ein Vermittlungsinstrument in Verwendung, das die reale Landschaft verfremdete und sie ihrer ideellen Bestimmung, nämlich Ausdruck eines bestimmten Naturempfindens zu sein, anglich. Diese Bilder bauten zudem durch zueinander verschobene Bildebenen eine spannungsvolle Beziehung von Nähe und Ferne auf – steigerten die Tiefe des Raums. Wurde Landschaftssuchern so über reale Unwägbarkeiten einer Gegend hinweggeholfen – wie durch die Hand des Gärtners im Park – weist dieses Instrument auf einen Lernprozess gegenüber der ganzen freien Natur als landschaftlicher Erfahrung hin, bezeugt diese Topologie des Raums zudem auch abseits eines Hauses. 155 Ein frühes Gedicht zur beginnenden Neubewertung der Alpen-Erfahrung ist Albrecht von Hallers Die Alpen von 1729. Die Idee einer unberührten Natur werde wiederum erst geweckt, wo Menschen sesshaft werden, Orte in der Natur fest besetzen und sich aneignen – wo Wälder zu Wiesen werden und durch die menschliche Nutzung unterworfen. Vgl. Max Oelschlaeger : The Idea of Wilderness. From Prehistory to the Age of Ecology, New Haven-London 1991, S. 11, S. 24. 156 Der Ursprung dieses Erlebnisses liegt nicht auf dem Land, sondern in der blühenden italienischen Stadt. Von ihr geht jene zweifache Neubesiedelung des Landes als Landschaft aus, wie sie im wandgreifenden Panorama des Buon Governo Ambrogio Lorenzettis aus der Zeit um 1340 beispielhaft überliefert ist. Der Bildraum ist annähernd paritätisch in Stadt und Land aufgeteilt. Nicht nur versorgt das Land nun durch Äcker, Weingärten, die dargestellten Jagdgesellschaften die Stadt mit Nahrung, diese hat das Land zuvor befriedet – das Territorium unter Kontrolle gebracht, das zunehmend dem freudigen Aufenthalt dient : « Ohne Angst mag jeder frei reisen » (« Senza paura ogn’uom franco dammini »), heißt es daher im Schriftband der Allegorie der securitas, die über den von Zinnen gesäumten Stadttoren schwebt.

Die Einheit von Stadt und Land gedeiht, wo die soziokulturellen Grundlagen geschaffen sind. Siena war im 14. Jahrhundert eine im Vergleich zu Venedig, Mailand oder Florenz kleine Stadt mit rund 30.000 Einwohnern. Dennoch hat Lorenzetti wie kein anderer den Stolz der podestà und den Zusammenhang von Stadt und Land überliefert. In den stilisierten Bergen im Hintergrund des Freskos, auf Höhe der Schornsteine, Dächer und sichernden Stadtmauern, erscheinen Landgüter mit Pergolen. Die Landschaft ist auf die Stadt ausdifferenzierter Gewerke eines prosperierenden Handels und die Sicherheit der guten Regierung angewiesen – einen Ort frühneuzeitlicher Rationalität, in der sich Frühformen der modernen Wissenschaft entwickeln. Vgl. Randolph Starn : Ambrogio Lorenzetti. The Palazzo Pubblico, Siena, New York 1994. 157 Jacob Burckhardt : Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch (1869), Stuttgart 1988, S. 213. 158 Platon : Phaidros, 230 b-d. 159 Burckhardt 1988, S. 214. 160 Ebd., S. 210. 161 Ebd., S. 213. Hartmut und Gernot Böhme fassen die Vorbedingung der modernen Naturbeziehung, die in der Renaissance Gegenstand von Briefwechseln ist, in ihrem Buch Das Andere der Vernunft prägnant zusammen und betonen ebenfalls die « exzentrische », kontemplative Stellung des Erlebnisses : « Diese Trennung, die Auflösung des unmittelbaren Zusammenhangs mit der Natur macht die Herrschaft über die Natur möglich und ist zugleich der Ursprung ihrer empfindsamen Entdeckung. Die Natur ist das Fremde, das Andere der Vernunft. » (Hartmut und Gernot Böhme : Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/ Main 1985, S. 32.) Ihrer verschärften wie kritischen Analyse zufolge, die auf diese Entwicklungen in ihrem Buch Das Andere der Vernunft aus der Gegenwart zurückblicken, habe die Landschaftserfahrung auch mit der kapitalistischen Gesellschaft und

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ihrer instrumentellen Vernunft zu tun : Spätfolgen eines wissenschaftlich-technischen Naturzugriffs. Durch die Rationalisierung der menschlichen Naturbeziehung ist man erst aus der unmittelbaren Abhängigkeit von einer existentiell bedrohlichen Natur entlassen, man hat sie technisch zu kontrollieren begonnen. Das Ästhetische werde in diesem Prozess zum Ausgleichsmoment der dabei erlittenen Verlusterfahrung. Der Ausdifferenzierung des modernen Landschaftsraumes korrespondiert demnach ein ausdifferenzierter Zugang zur Natur, ihrer ästhetischen Erfahrung korrespondiert eine existenzsichernde Kontrolle, die allerdings auch eine unangenehme Eigendynamik annehme : « Von der Antike bis zur Neuzeit wird die Natur als Organismus verstanden, sie war deshalb im Prinzip nichts anderes als der Mensch. Das heißt, sie war vertraut, aber auch beängstigend nahe. Man lebte in ihr und mit ihr ; man konnte sie verstehen als etwas, das im Prinzip nicht anders war als man selbst ; sie war der große Kosmos zu dem kleinen Kosmos, der der Mensch selbst war. » (Ebd., S. 34.) Vgl. zu den philosophischen Hintergründen der Entwicklung des modernen Naturbilds : Ruth und Dieter Groh : Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur, Frankfurt/Main 1991. 162 Ebd., S. 35. 163 Peter Bieri : Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, Frankfurt / Main 2015, S. 20. 164 Heinrich Drerup : « Bildraum und Realraum in der römischen Architektur », in : Mitteilung des Deutschen Archäologischen Instituts, Römische Abteilung, Bd. 66, Heidelberg 1959, S. 147–174. 165 Ebd., S. 148. 166 Drerup 1959, S. 149. 167 Vitruv : Zehn Bücher über Architektur, Baden-Baden 1987, S. 323–326. 168 Es gibt weitere bauliche Ähnlichkeiten : Die spiegelsymmetrisch gegliederte Mysterienvilla liegt erhöht auf einer Plattform, der basis villae, deren Unterbau von einem ‹ Kryptoportikus › abgeschlossen wird.

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169 Harald Mielsch : Die römische Villa. Architektur und Lebensform, München 1987, S. 39f. 170 Drerup 1959, S. 150f. 171 Ebd., S. 150f. « Iustisne de causis iam tibi videor incolere, inhabitare, diligere secessum? quem tu nimis urbanus es nisis concupiscis » (« Glaubst Du nun, dass ich aus guten Gründen diese Einsamkeit pflege, bewohne und liebe? Du müsstest schon ein fanatischer Städter sein, wenn Du keine Sehnsucht danach hast. »), beendet Plinius der Jüngere seinen Brief an Freund Gallus. (Plinius : Sämtliche Briefe, Stuttgart 1998, S. 139.) Hier, an berühmter literarischer Stelle, ist ein Empfinden für die Freuden des Landlebens wie auch der visuelle Fernbezug der Wohnräume zur landschaftlichen Umgebung etabliert, wenn es an anderer Stelle heißt : « Lectum et duas cattedras capit ; a pedibus mare, a tergo villae, a capite silvae : tot facies locorum totidem fenestris et distinguit et miscet. » Die Meereslandschaft seiner tria maria ist durch drei Fenster inszeniert, die Anzahl der Fenster bestimmt den Blick aus Plinius’ Lieblingsort, dem Gartenkabinett. Plinius’ Schilderung seines Gartenkabintetts verdeutlicht diesen Zusammenhang, wenn er das Panorama in drei Bildräume teilt : « lectum et duas cattedras capit ; a pedibus mare, a tergo villae, a capite silvae : tot facies locorum totidem fenestris et distinguit et miscet. » (« Es kann ein Bett und zwei Sessel aufnehmen ; zu Füßen hat man das Meer, im Rücken Landhäuser, vor sich Wälder : So viele Landschaftsansichten trennt und vereinigt es durch ebenso viele Fenster. » (Ebd., S. 136.) Und doch : « Der Raum der heutigen Seheinstellung, die Ausweitung des eigenen Umraums in das Offene, Unbegrenzte hinein [ …] war der Antike unzugänglich ». Was « die Villa schließlich als unerledigtes Problem an die weitere Geschichte übergab », schließt Drerup, bestätigt, dass dieses Formproblem erst im 16. Jahrhundert zu eine Lösung findet. Heinrich Drerup : « Die römische Villa » , in : Marburger Winckelmann-Programm 1959, S. 1–24, S. 19.

172 Mielsch 1987, S. 137. 173 Es gibt auch Ähnlichkeiten auf der gesellschaftlichen Ebene : Die Befreiung von den Amtspflichten in der Villa lässt den Archäologen Mielsch von einer baulich manifest gewordenen « Lebensform » sprechen – einer Lebensform, die im letzten vorkaiserlichen Jahrhundert Ciceros der wohlhabenden Bevölkerung vorbehalten war. (Ebd., S. 37.) Ihr Landsitz hatte sich seit dem zweiten Jahrhundert vor Christi vom Wirtschaftsgut zur handlungsentlasteten Wohnweise auf dem Land gewandelt, als die Aufgabe der agrarischen Versorgung primärer Bedürfnisse geregelt war : « Offensichtlich hat sie mit der Liebe der Bauern zum Acker, mit der bäuerlichen Herkunft des Römers direkt nicht zu tun. Im Gegenteil, es ist der vornehmlich im 2. Jahrhundert erfolgte Zusammenbruch des römischen Bauernstaates, nämlich die Verdrängung des Kleinbauerntums durch den in der Stadt lebenden, über Scharen zum Teil gefesselter Sklaven gebietenden Großgrundbesitzer, es ist also gerade eine fühlbare Entfremdung vom Acker, welche die Voraussetzung für die Entstehung der Villa schuf. » (Drerup 1959, S. 8.) Im antiken Rom gehörten villa urbana und villa rustica (der Wirtschaftshof) ursprünglich zusammen, wenn auch die Begrifflichkeit bereits darauf verweist, dass der luxuriöse Aufenthalt auf dem Land nicht mehr unbedingt an den Gutshof gebunden sein musste. Nach dieser Trennung von Genuss und Arbeit, die den modernen Landschaftsbegriff bestimmen wird, korrespondieren die Hausformen des Landes und der Stadt zwar typologisch miteinander, ähnlich wie die Begriffe otium und negotium bezeichnen sie aber eine anderer Form des wohnenden Aufenthalts. Zur Entwicklung des Begriffspaars vgl. James S. Ackerman : The Villa. Form and Ideology of Country Houses, New Jersey 1990, S. 35–42. 174 « Le piante poi sono con meraviglioso ordine poste, e di quelle, che sono tanto lodevoli, che l’aer nostro patiscono quivi n’è grandissima copia ; qui vi sono senza fine gl’ingeniosi innesti, che con si gran meravi-

glia al mondo mostrano, quanto sia l’industria d’un accorto giardiniero, che incorporando l’arte con la natura fà, che d’amendue ne riesce una terza natura, la qual causa, che i frutti sieno quivi piu saporiti, che altrove. » Bartolomeo Taegio : La Villa (1559), Philadelphia 2011, S. 160. 175 (Übersetzung AK ) « Nella villa si gode ancora del vedere le selvaggie piante dalla natura prodotte ne gli alti monti, le quali svogliono cose recar piu degne e memorabili, che non fanno le coltivate viti de giardini. » Ebd., S. 214ff. 176 Übersetzung AK . 177 Zitiert nach : Susanne Stacher : Sublime Visionen. Architektur in den Alpen, Basel 2018, S. 26. 178 Der Landschaftstheoretiker und Biologe Ludwig Trepl wird diese Idee der modernen Landschaft viel später zusammenfassen : Wenn in ihr die Natur als dasjenige erscheint, das « von selbst » das ist. Ludwig Trepl : Die Idee der Landschaft. Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zu Ökologiebewegung, Bielefeld 2012, S. 16f. 179 Schiller 2002, S. 27f. 180 Vgl. Norbert Elias : Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 2 : Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt/Main 1997. 181 Schiller 2002, S. 33. 182 Ebd., S. 34. 183 Weiters liegt eine Diplomarbeit vor : Ruth Cavalcanti-Braun : Mies van der Rohe als Gartenarchitekt. Über die Beziehungen des Außenraums zur Architektur. – Diplomarbeit, Technische Universität Berlin 2006. 184 Christiane Kruse : Garten, Natur und Landschaftsprospekt. Zur ästhetischen Inszenierung des Außenraums in den Landhausanlagen Mies van der Rohes, 2 Bde., S. 100. – Dissertation, Berlin 1994. Sie geht allerdings davon aus, dass ein ungebrochenes ästhetisches Empfinden für die Landschaft bereits seit der Antike besteht, das überdies nicht weiter erörtert wird. Ebd., S. 91.

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185 Kruse fasst ihre Ergebnisse protokollarisch in einem sehr hilfreichen Katalog der Gärten zusammen, S. 167-195. 186 Anfang der 1920er-Jahre wurde zudem Planmaterial absichtlich vernichtet. Ebd., S. 5. 187 Ebd., S. 58–78. 188 « Die zeitgenössischen Fotos dieses Gartenbereichs zeigen hingegen zwei Rasenfelder, die durch verschiedenfarbige Chrysanthemen gerahmt sind. Vor der Bibliothek ist zusätzlich ein Beet aus Blütenstauden zu erkennen. Weitere Hochstauden und Büsche kaschieren die Stützmauer. Lediglich der zum Hauseingang führende Weg ist durch Rosenreihen gerahmt. » Ebd., S. 22. 189 Karl Foerster : Winterharte Blütenstauden und Sträucher der Neuzeit, Leipzig 1911. 190 Bei der Villa Urbig, in den Jahren 1915 bis 1917, unweit des Hauses Riehl errichtet, wird Mies’ dortige Bauherrin erneut auf dessen Expertise sowie jene des Potsdamer Gartendirektors Georg Potente zurückgreifen. Die Pläne der benachbarten Häuser Perls und Werner in Berlin-Zehlendorf unterzeichnet der assoziierte Architekt Ferries Goebbel, da Mies bei diesen ersten beiden realisierten Bauten in der Nachfolge des Hauses Riehl rechtlich noch nicht als selbständiger Architekt auftreten darf. 191 Sowie der wissenschaftliche Name « Gleditsia », der auf einen Berliner Gärtner und Direktor des Botanischen Gartens, Johann Gottlieb Gleditsch, aus dem 18. Jahrhundert zurückgeht. 192 Kruses Aussage, dass die amerikanischen Häuser Resor und Farnsworth ohne gärtnerische Gestaltung auskämen, kann nur dann gelten, wenn man im konventionellen Sinn von einem Garten spricht. (Kruse 1994, S. 6.) Gegenüber der räumlichen Kontinuität innerhalb der Landschaft hebt Kruse zudem die frontalperspektivische Bildlichkeit aus der Halle hervor und betont, « dass kunstvoll arrangierte, bildhafte Blickwirkungen ein im Landhaus Riehl erstmalig verwendetes Stilelement bilden, das für alle weiteren Landhausanlagen Mies van der Rohes charakteristisch wurde. » (Ebd., S. 25.)

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193 Manfredo Tafuri, Francesco Dal Co : Gegenwart, München 1991, S. 101. 194 Ludwig Mies van der Rohe : « Vortrag » (1926), zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 311–316, S. 311. – Unveröffentlichtes Manuskript. 195 Die Linie der Erneuerung verlief nach Vorgabe einiger Historiographen von den ersten Versuchen, der Industrialisierung und Massengesellschaft bereits im 19. Jahrhundert gerecht zu werden, direkt zum Bauhaus. (Vgl. Nikolaus Pevsner : Pioneers of Modern Design. From William Morris to Walter Gropius, New York 1949.) Mies selbst wird wenig tun, um seine frühen Projekte ins Licht der Öffentlichkeit zu stellen : Seine Erste Monografie – aus der Hand Philip Johnson – verwendet auf die Jahre 1886 bis 1919 gerade einmal zwölf Seiten. (Philip C. Johnson : Mies van der Rohe, Boston-New York 1947, S. 9–20.) So wurden noch vor wenigen Jahren Häuser entdeckt, die aus Ludwig Mies’ Frühzeit stammen. Nimmt man seine eigenständige architektonische Entwicklung ernst und setzt ihren Beginn früh an – wogegen nichts spricht –, dann war es weniger « Schizophrenie », die Beatriz Colomina ihm und anderen Vertretern der Moderne attestiert, denn das Ausloten eines gangbaren Weges. (Beatriz Colomina : Manifesto Architecture. The Ghost of Mies, Berlin 2014, S. 18.) Dass er – sozusagen in Parallelaktion – nun aber Avantgardist und Klassizist in einem gewesen sein soll, passt nicht nur nicht ins Schema des verfestigten Moderne-Paradigmas, sondern zieht die Trennlinie zwischen Alt und Neu – notwendigerweise – aus der Gegenwart. Nicht um historische oder avantgardistische Formen per se wird es Mies aber gehen. Interessanter als Colominas psychologischer Befund ist daher die Feststellung, er habe erst mit dem Wohnbau der Weißenhofsiedlung im Sinne der Klassischen Moderne gebaut, davor habe eine unüberbrückbare Kluft zwischen der realen Bautätigkeit – bis zum Haus Mosler in Potsdam aus dem Jahr 1924 nach klassizistischem Vorbild – und dem gefeierten Architekten der ‹ fünf Projekte › geherrscht. Aber hat Mies überhaupt in solchen

Kategorien gedacht? An Angeboten für moderne Häuser dürfte es nicht gemangelt haben : Bei der Anfrage Walter Dexels oder Charles und Marie-Laure de Noailles in Hyère (Ebd., S. 18f.), wo unter der Ägide Robert Mallet-Stevens’ ein bauliches Manifest der Avantgarde (mit Gabriel Guévrékians berühmtem kubistischem Garten der Sinne) entstehen wird, zögert Mies, bis andere zum Zug kamen. Es stimmt indes auch nicht, wie Colomina mutmaßt, dass die Bereitschaft von Mies fehlt, modern zu bauen – sollte dies denn ein explizites wie klares Ziel gewesen sein. Wie Dietrich Neumann vor rund zehn Jahren aufgrund eines Briefwechsels aus dem Mies van der Rohe-Archives am New Yorker Museum of Modern Art entdeckt hat, war Mies dem Wunsch eines Freundes nachgekommen und hat bereits im Jahr 1923 Pläne für solch ein kubisches Haus geliefert – bemerkenswerterweise erneut für eine Klientin, die Britin Ada Ryder. (Dietrich Neumann : « Das Haus Ryder in Wiesbaden und die Zusammenarbeit zwischen Ludwig Mies van der Rohe und Gerhard Severain », in : architectura, 36/2006, S. 199–222. – Erstpublikation : 1923.) Das unweit des Kurparks in der Wiesbadener Villengegend errichtete kleine Wohnhaus wertet Neumann als « first, and somewhat timid, attempt to be a modern architect. » (Dietrich Neumann : « The Case of the Missing Mies » in : Brown Alumni Magazine, Juli/August 2006. – Onlineausgabe.) Die Straße, an der es noch heute – seit den 1980er-Jahren mit Walmdach versehen – steht, trägt den Namen Schöne Aussicht. 196 « Die Dialektik zwischen Zweck und Form wurde am deutlichsten von Häring dargestellt, der sie in den Begriff der Leistungsform verdichtete. Form wird dabei zu einer Funktion der Funktion, und unser ästhetisches Vermögen ist nichts anderes als die unterbewusste Bestätigung der Tatsache, dass das Ding, das wir vor uns sehen, seinem Zweck sichtbar angemessen ist. Dies ist die Theorie des eigentlichen Funktionalismus. » Posener 1986, S. 76.

197 Ludwig Mies van der Rohe : « Vortrag » (1924), zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 308f., S. 308. 198 Georg Simmel : « Die Großstädte und das Geistesleben » (1903), in : ders. : Soziologische Ästhetik, Bodenheim 1998, S. 119–133, S. 119. – Hrsg. von Klaus Lichtblau. 199 Ebd., S. 119. 200 Ebd., S. 123ff. 201 Ebd., S. 124. 202 Ebd., S. 7. 203 Georg Simmel : Philosophie der Landschaft (1913), Stühlingen 2014, S. 11. 204 Vgl. ebd., S. 7ff. 205 Ebd., S. 14. 206 Ebd., S. 16. 207 Der Künstler wäre, wenn auch an sich mit dem gleichen Vermögen ausgestattet wie jeder moderne Mensch, vor allem dadurch ausgezeichnet, dass er diesen Akt der Landschaftserfahrung aus seiner ephemeren Form in ein schöpferisches Verhältnis überführt, an dessen Ende eben ein Kunstwerk steht : « Der Künstler ist nur derjenige, der diesen formenden Akt des Anschauens und Fühlens mit solcher Reinheit und Kraft vollzieht, dass er den gegebenen Naturstoff völlig in sich einsaugt und diesen wie von sich aus neu schafft ». (Ebd., S. 24.) Hierin liegt mitunter begründet, dass die im Landschaftsgemälde wiedergegebene Einheit nicht nur als Vorbild für die landschaftliche Gestaltung gelten kann, sondern den allgemeinen Naturbezug des modernen Individuums spiegelt. Dass also auch die Kulturlandschaft und die Gartenlandschaft nicht nur durch das Vorbild der Kunst (Malerei), sondern diese drei Bereiche durch die ästhetische Erfahrung miteinander verbunden sind. 208 Ebd., S. 23. 209 Vgl. ebd. 210 Ebd., S. 8. 211 Der Essay Der Bilderrahmen erscheint im November 1902 als Teil von Simmels ‹ soziologischen Ästhetik ›, die Klaus Lichtblau durch eine chronologische Zusammenstellung entscheidender Aufsätze in einem Sam-

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dem Landschaftsgarten und der in Dänemelband rekonstruiert hat. Darin zeigt sich mark stark rezipierten Theorie Hirschfelds seine denkerische Entwicklung – weg von verpflichtete Gemälde sind aus Schablonen der Wertschätzung eines künstlerischen Naturalismus, vom Interesse an der Ästhetik der zusammengesetzt. Werner Busch gelangt zur Alltagswelt, einem ‹ ästhetischen PantheisFeststellung : « Caspar David Friedrich baut mus › hin zu einem ‹ästhetischen Individuaseine Bilder. » (Werner Busch : « Friedrichs lismus  ›: Die Gegensatzpaare lauten SozialisBildverständnis », in : Caspar David Friedrich. mus versus Individualismus ; Kunstgewerbe Die Erfindung der Romantik, München 2006, versus Kunstwerk. S. 32–47, S. 32. – Hrsg. von Hubertus Gassner.) 212 Georg Simmel : « Der Bilderrahmen. Die zuvor erlebten Natureindrücke montiert Ein ästhetischer Versuch » (1902), in : ders. der Maler im Atelier zu Gemälden. Der ver 1998, S. 111–117, S. 111. einzelte Mensch – und der Betrachter – findet 213 Ebd., S. 117. sich real wie imaginär vor weiten Horizonten 214 Ebd., S. 111f., S. 116f. wieder. Ein erhabenes Spektakel, das ihn 215 Ebd., S. 112. zurückwirft auf die Kraft der ästhetischen 216 Ebd., S. 116. Reflexion. 217 Ebd. S. 28. 230 Ulrich Eisel : « Lebenslust im Widerspruch », in : Erwin Frohmann, Albert 218 Vgl. ebd., S. 30f. Kirchengast (Hrsg.) : Landschaft und Lebens219 Ebd., S. 30. 220 Ebd., S. 34. sinn, Salzburg-Wien 2016, S. 46–60. 221 Ebd., S. 29. 231 Axel Honneth : Verdinglichung, Frank222 Georg Simmel : « Alpenreisen » (1895), furt/Main 2005, S. 39. in : ders.  1998, S. 36–42, S. 36. Das neue Haus 223 Ebd., S. 39. 224 Ebd., S. 41. 232 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs, 225 Ebd., S. 40. als er für beinahe ein Jahrzehnt in den USA 226 Cornelia Klinger : Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen lebt, widmet ihm das Museum of Modern Gegenwelten, München 1995, S. 165. Art in New York unter Phillip Johnson eine 227 Martin Seel : Eine Ästhetik der Natur, Personale. In der begleitenden Monografie Frankfurt / Main 1996, S. 225. meint der frühe Bewunderer über die Schaf228 Ebd., S. 223. fensjahre 1919 bis 1925 : « In the first few years 229 Martin Seel : « Landscapes of Nature after the war, Mies van der Rohe published and Art », in : Christophe Girot, Anette Freytag, a series of projects so remarkable and so difAlbert Kirchengast, Dunja Richter : Topoferent from one another that it seems as if he logy. Topical Thoughts on the Contemporary were trying to invent a new kind of architec Landscape, Berlin 2013, S. 227–249, S. 246. Der ture. » Johnson 1947, S. 21. zum Ausdruck kommenden Handlungs-Frei233 Moisés Puente : Conversations with Mies van der Rohe, New York 2008, S. 44. heit gegenüber der Natur unterliegt auch die 234 « In this peculiar year – 1926 / – Entwicklung der Landschaftsmalerei: Ein Korrespondenzphänomen des ‹ ÄsthetischSchwarz – / – Max Scheler – / – Whitehead – » Werdens › der Natur, als Bildgattung eine Ludwig Mies van der Rohe, Notizen für eine Spätform der Malkunst. (Matthias Eberle : Dankesrede zur Verleihung der Goldmedaille Individuum und Landschaft. Zur Entstehung des Royal Institute of British Architects, Mai und Entwicklung der Landschaftsmalerei, 1959 in London, in : Neumeyer 1986, S. 395f. 235 Jean-Louis Cohens kompakte BeGiessen 1979, S. 28.) Caspar David Friedrichs Rückenfiguren liefern das immer wieder anschreibung nennt die wenigen architektogeführte – romantische – Beispiel : Friedrichs, nischen Mittel, aus denen es sich formal

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zusammensetzt : « Das eingesetzte Vokabular ist elementar, es umfasst Backsteinmauern in zwei verschiedenen Höhen, zwei Blöcke mit den Kaminen, leicht überstehende Flachdächer und senkrechte Glasflächen. Die Wände sind freistehende Mauerzüge, die sich nicht überschneiden, sondern an ihren Enden aufeinandertreffen. » Jean-Louis Cohen : Ludwig Mies van der Rohe, Basel 2011, S. 38f. 236 Hans Soeder : « Architektur auf der Großen Berliner Kunstausstellung 1924 », in : Der Neubau, Heft 13, Juli 1924, S. 153–158. 237 Ebd., S. 156. 238 Hans Soeder : Urformen abendländischer Baukunst, Köln 1964, S. 13. 239 Tegethoff 1981, S. 37–51. 240 Ebd., S. 34f. 241 In seinem Buch zitiert Blaser den Architekten neben seiner neuen Darstellung des Landhauses aus Backstein wie folgt : « It was not until 40 years later that Mies and I together did a dimensioned drawing on this draft with the brick courses as ‹ development ›. On this subject Mies said : ‹ We did not produce designs. We thought over what could be done, and we then tried to develop it, and then we accepted it. We always develop from critical points of view › ». Werner Blaser, Mies van der Rohe – less is more, Zürich-New York 1986, S. 132. 242 Vgl. Tegethoff 1981, S. 41 ; weiters die Darstellung des Grundrisses in : Paul Westheim : « Die tote Kunst der Gegenwart », in : Das Kunstblatt 4/1925, S. 106–114. 243 Ludwig Mies van der Rohe : « Vortrag » (1926), zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 309. 244 Puente 2008, S. 33. 245 Briefwechsel vom Frühjahr 1923, zitiert nach : Tegethoff 1981, S. 43. – FN 20. 246 Sie stellen für Tegethoff eine einfache Gartenmauer dar, deren « Aufgabe nach dient sie vorrangig der Begrenzung des Gartens, den sie gegen Einsicht schützt. » Ebd., S. 35. 247 Ebd., S. 38. 248 Ulrich Müller : Raum, Bewegung und Zeit im Werk von Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, Berlin 2004, S. 27. 249 Ebd., S. 156.

250 Vgl. ebd., S. 70. 251 De Stijl : Manifest I (1918), zitiert nach : Conrads 1981, S. 36–37, S.  37. Mies hätte wohl auch Sigfried Giedions « Methodengleiche » widersprochen (Sigfried Giedion : Raum, Zeit, Architektur : Die Entstehung einer neuen Tradition, Basel-Berlin-Boston 1941, S. 40ff.). Anhand des Vergleichs der durchlässigen Ecken des Werkstattflügels beim von Walter Gropius im 1926 errichteten Dessauer Bauhaus-Gebäude mit Picassos Gemälde L’ Arlésienne von 1911/12, dessen kubistischer Ausdruck mehrere Ansichten zugleich zeigt, meint er : « Die Glaswände flossen ineinander, gerade an dem Punkt, wo das menschliche Auge gewöhnt war, einen sichernden Pfeiler vorzufinden. » (Ebd., S. 311.) Und doch empfindet auch der Sekretär des CIAM seine Zeit als Chaos, spricht vom « gespaltenen Wesen » (Ebd., S. 315.) des modernen Menschen, von einem « Schisma » : Denken und Fühlen seien in der Moderne auseinander gefallen. Seiner « Überblendung » der Gegensätze – wie durch Giedions « Methodengleiche » an Kunst, Baukunst und Physik dargestellt – wäre Mies nicht gefolgt. Wohl aber gilt dessen Feststellung, dass Mies die Tradition der Chicagoer Schule der 1880er-Jahre fortsetzen wird, « dass die Notwendigkeit neue Konstruktionsmethoden als Ausdrucksträger zu benützen, der Schlüssel zu dieser Zeit ist. » (Ebd., S. 46.) Auch insofern deckt sich Giedions Geschichtsverständnis mit demjenigen von Mies, dass beide aus der Zeit heraus den Anspruch erheben, ihre übergeordneten Leitlinien zu verstehen. Beide denken Architektur in ihrer historische « Kontinuität », wenden sich gegen die « Kopie » historischer Stilformen. Für Mies mag weiters stimmen, wenn Giedion ihm bescheinigt, dass er die architektonischen Elemente der 1920er-Jahre stets weiter verfeinert – ob die Stahl-GlasArchitektur seiner Hochhausentwürfe oder die Anordnung eines Grundrisses : jedoch nicht zur immer weiteren « Purifizierung », sondern zu deren Ausdruckssteigerung. 252 Puente 2008, S. 43.

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der räumliche Bezug zwischen den beiden 253 Vgl. Reclams Kammermusikführer, Sphären. » Wolf Tegethoff : « Zur Entwicklung Stuttgart 1997, S. 1028, S. 1035. der Raumauffassung im Werk Mies van der 254 Müller plädiert gegen ein voreiliges Rohes », in : Daidalos, 13/1984, S. 114–123, Moderne-Verständnis, das auf InterpretaS. 118, S. 122. tionskulturen aus zweiter Reihe zu beru262 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 309. hen scheint, wenn er meint, dass man ihren 263 Julius Posener : « Form und BedeuRaumgedanken « nicht nur deskriptiv zu tung in der Architektur » (1986), in : ders. : erfassen » versuchen müsse, sondern « ihre Was Architektur sein kann. Neuere Aufsätze, Bedeutungsdimension » (Müller 2004, S. 94.) Basel-Berlin-Boston 1995, S. 23–40, S. 30. Über das bis heute gängige Bild der Klassi264 Ebd. Verständlich wird dies, wenn schen Moderne urteilt er : « Mit steigender man die Stimmen von Betroffenen hört, Frequenz trat die Forschung nach begrifzumal in den Worten eines hervorragenden flicher Präzision zunehmend in den HinterZeitzeugen. Walter Benjamins Aufsatz Ergrund, denn bald schon konnte man sich fahrung und Armut vermag die Situation auf eine Deutungslinie berufen, die keiner drastisch darzustellen : « Nein, soviel ist klar : weiteren Erklärung zu bedürfen schien. » die Erfahrung ist im Kurse gefallen und das (Ebd., S. 93.) in einer Generation, die 1914–1918 eine der 255 Ebd., S. 55. ungeheuersten Erfahrungen der Weltge256 Johnson 1947, S. 30. schichte gemacht hat. Vielleicht ist das nicht 257 Vgl. zu Wrights Beschreibung des so merkwürdig, wie das scheint. Konnte Begriffs Raumtiefe : Frank Lloyd Wright : Ein man damals nicht die Feststellung machen : Testament. Zur neuen Architektur, München die Leute kamen verstummt aus dem Felde? 1966, S. 164f. Nicht reicher, ärmer an mitteilbarer Er258 Hagen Bächler, Herbert Letsch fahrung. » (Walter Benjamin : « Erfahrung und (Hrsg.) : De Stijl. Schriften und Manifeste, Armut », in : ders. : Gesammelte Schriften I I /1, Leipzig-Weimar 1984, Vorwort, S. 45. – FN 59. Frankfurt/Main 1991, S. 213–219, S. 214. – ErstTheo van Doesburg äußert sich darüber im publikation : 1933.) Eine « neue Armseligkeit » «14. Punkt» als ‹ Prinzip Anti-Frontal › : « Im Gegensatz zur Frontalität, die durch statische sei unter die Menschen gekommen mit der Entfaltung der Technik, « in einer Landschaft, Lebensauffassung betont ist, entfaltet die neue Architektur einen plastischen Reichtum in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftvon vielseitiger raumzeitlicher Wirkung. » feld zerstörender Ströme und Explosionen, (Ebd., S. 189–201, S. 192.) der winzige gebrechliche Menschenkörper. » 259 László Moholy-Nagy : Von Material zu Diese neue Armut des rätsellosen Glases, der Architektur, München 1929, S. 196. 260 Ebd., S. 95f. Mies’ erste Frau, Ada Brun, spurenlosen Wohnungen, Einrichtungen, Möbel ist für Benjamin ambivalent, hielte sie war Tänzerin. doch auch das Versprechen eines Neubeginns 261 Und weiter : « Wo der Blick durch die bereit, auf eine Zeit, die das Schreckliche der Öffnung ins Freie drängt [ …], scheint der vergangenen Kultur vergangener Generatiodistanzierende Effekt durch die parallel ausnen abgelegt hätte. Poseners spätere Polemik gerichteten, klammerartig einspringenden gegen die Architekten der Moderne, denen er Mauerzungen verstärkt und die Landschaft vorwirft, keine Häuser und Wohnungen im in seltsame Ferne gerückt. [ …] Die Distanz alten Sinn mehr zu entwerfen, ist bereits eine von Innen und Außen, von Betrachter und Reaktion auf die eingelöste Chance, einer Landschaft ist dabei keineswegs aufgehoben, Zeit, die die geistige Kontinuität zu einer sondern zu äußerster Subtilität gesteigert. In humaneren Vergangenheit herausfordert : der frontalen Konfrontation verbindet allein « Man kann es noch hersagen : ‹ Garderobe – noch der visuelle Aspekt. Dagegen fehlt

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Zitiert nach : Bruno Reichlin : « Corseaux : My Diele – Salon – Herrenzimmer – Esszimmer – Anrichte – Küche › ; oben die SchlafFather Lived One Year in This House. The zimmer der Eltern, Kinder, Gäste, vielleicht Scenery Fascinated Him », in : Jean-Louis ein Zimmer für das ‹ Kinderfräulein ›, unter Cohen : An Atlas of Modern Landscapes, dem Dach und im Sous-sol Mädchenzimmer, London 2013, S. 64–71, S. 64. Waschküche, Vorratskeller, Heizkeller, Dach279 Durch die schmale, sich in die Länge boden. » (Posener 1995, S. 30.) entwickelnde Organisation des Grundrisses 265 Ebd., S. 35. begleitet die Felsfront der Alpen den Wohn266 Ludwig Mies van der Rohe : « Die neue raum und wird zum ‹ EinrichtungsgegenZeit », zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 372. – stand ›. Das Langfenster fängt das Format Erstmals publiziert in : Die Form 5/1930, Heft der Landschaft ein, macht sie zum Teil des Hauses.  15, S. 406. 280 Le Corbusier 2001, S. 124. 267 Ludwig Mies van der Rohe : « Programm zur Berliner Bauausstellung », zitiert 281 Ebd., S. 132. nach : Neumeyer 1986, S. 374. – Erstmals 282 Ebd., S. 133. publiziert in : Die Form 6/1931, Heft 7, S. 241. 283 Le Corbusier 1979, S. 16. 268 Wilhelm Lotz : « Die Halle I I auf der 284 Ebd., S. 21. Bauausstellung », in : Die Form, Heft 7/1931, 285 Ebd., S. 168. S. 241–249, S. 247f. 286 Richard Ingersoll : « Mies van der 269 Tegethoff 1981, S. 42. Rohe and the Conservation of the American 270 Lotz 1931, S. 249. Landscape », in : Christophe Girot, Albert Kirchengast (Hrsg.) : Mies als Gärtner, Zürich 271 Colin Rowe : « Neoklassizismus und moderne Architektur I I », in : ders. : Die Mathe- 2011, S. 11-22, S. 11. matik der idealen Villa und andere Essays, 287 « Mies van der Rohe : Ich mache niemals ein Bild », in : Bauwelt 32/1962, S. 884–885, Basel-Berlin-Boston 1998, S. 137–154, S. 138. S. 884. – Gespräch mit Graeme Shankland 272 Ebd., S. 122. 273 Le Corbusier, Pierre Jeanneret : von der BBC anlässlich der Verleihung der « Fünf Punkte zu einer neuen Architektur », in : Goldmedaille des Royal Institute of British Bau und Wohnung, Stuttgart 1927, S. 27–28, Architects im Mai 1959. S. 28. – Hrsg. vom Deutschen Werkbund. 288 Werner flach : « Die Fundamente der 274 Le Corbusier 1927, S. 28. Landschaftsvorstellung », in : Manfred Smuda : Landschaft, Frankfurt/Main 1986, S. 11–28, 275 Mies erinnerte sich, dass er eines Abends im Jahr 1928, bei der Arbeit am Barce- S. 12. lona-Pavillon, für sich die freistehende Wand 289 Ebd., S. 18. Landschaft wird auch in dieser ideengeschichtlichen Linie zum als neues architektonisches Prinzip entdeckt Symbol des Intelligiblen, Geistigen : « Die hatte. Six Students Talk with Mies, North Einbildung (Einbildungskraft) macht es Carolina State College, Frühling 1952. möglich, dass etwas, das selbst nicht sinn276 Le Corbusier : « Der Plan des modernen Hauses », in : ders. : Feststellungen zu lich ist, nämlich genau dieser ZusammenArchitektur und Städtebau (1929), Baselhang von Mensch als beurteilendem Subjekt Boston-Berlin und Gütersloh 2001, S. 119–133, und umgebender Natur als dem, woran der S. 122. Mensch sich vergnügt, was er mit Vergnügen 277 Ebd., S. 124. aufnimmt (und nicht als Gegenstand der 278 « In winter this site is extremely digniErfahrung bestimmt und auch nicht seinen fied, vast, vaster than in summer and it has Handlungszwecken gemäß zu manipulieren an impressive polar softness. One no longer sucht), sinnlich fassbar wird, sinnlich fassbar sees the mountains in the background and zu machen ist. Es wird fassbar, ist fassbar zu the lake seems like a sea. » (Übersetzung AK .) machen dadurch, dass es in ein Bild gebracht

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unabdingbar, um « betroffen » zu sein, meint wird. Das fragliche Bild ist die Landschaftsvorstellung. » Die Abstraktheit dieser Fester. (Ebd., S. 119.) Was den Betrachter anrege, schildert er wie folgt : « Das Plus, zu dem stellung korrespondiert mit Mies’ Entwurf. Newmans Bild wie ein Fragment zu einer Im Hinblick auf den für die Bewohner hinter eine Grenze gerückten, zum Bild gewordenen Totalität sich verhält, ist ohne jede natürliche oder wie immer vorgegebene gegenständHaus-Gegenraum beschreibt der Kunsthisliche, zum Beispiel landschaftliche, Entspretoriker Max Imdahl eine parallele Entwickchung. Das bildübergreifende Plus hat selbst lung in der modernen Kunst. Er verfolgt die kein Aussehen, als ein grundsätzlich UnsichtAusdrucksmöglichkeiten eines Landschaftsbares und grundsätzliche Unfassbares wird gemäldes bis hin zu einer reinen geometes dennoch erfahrbar. » (Ebd., S. 121.) Das an rischen Konfiguration des amerikanischen sich vollkommene geometrische Objekt werColor field Painting. Imdahl zieht in seinem de durch den Strich aus der geometrischen Aufsatz Bild – Totalität und Fragment den Balance gebracht, zum Fragment, erhalte ein Vergleich zwischen Claude Lorrains LandPlus, das darüber hinausweist. Um Imdahls schaft mit Mühle von 1648 und, als Gegenpräzise Abhandlung nochmals für jenen stück, Barnett Newmans Jericho von 1968/69. (Max Imdahl : « Bild – Totalität und FragLandschaftsgedanken zu mobilisieren, den ment », in : Fragment und Totalität, Frankfurt/ auch Flach beschreibt, mit dem Bild Jericho, Main 1984, S. 111–123. – Hrsg. von Lucien das symbolisch auch auf die Sprengung der Dällenbach, L. Hart Nibbrig.) Bei Lorrain Mauern einer gleichnamigen biblischen Stadt handelt es sich um jenen barocken Maler, durch den Schall der Trompeten bezogen der die klassische Landschaft des 18. Jahrwerden kann. Imdahl macht deutlich, dass die Totalitätserfahrung der Landschaft « im hunderts, die gewissermaßen für die Gegend eigentlichen Sinne metaphysisch » sei. Sie um Potsdam Pate steht, wesentlich prägt. sei nur « jenseits aller Anschauung und AnSein Bild, ein kodifziertes Landschaftsideal schaubarkeit » gegenwärtig. Damit ist auch wiederholend, stelle nicht nur selbst noch der Gehalt der naturästhetischen Erfahrung eine Bild-Totalität dar. Es symbolisiere eine des Erhabenen, etwa in der Fernbeziehung Ganzheit, die jenseits des Gemäldes liege. In Haus-Landschaft, erfasst. (Ebd., S. 122f.) « Die einer bedeutungsvermittelnden Doppelfunktion verweise es auf jenes geistige Bild, daher bildübergreifende Seinsheit wird als prinzipiell unfassliche erschließbar – allerdings das Verständnis einer Gegend als landschaftliche Einheit, mit dem man als Betrachter be- wird die Unfasslichkeit dieser Seinsheit insofern fasslich, als fasslich wird, dass sie im reits ausgestattet wäre und an das Gemälde herantrete : der Vorgang des Bildverstehens Medium geometrischer Ordnung nicht fasssei rekursiv. Newmans Kompostion hinlich werden kann. » (Ebd., S. 122.) Die Aufgabe gegen besteht aus einem gleichschenkeligen der Landschaft hängt unmittelbar mit einem Dreieck und deutet allein durch sein Format Mehr zusammen, das die geometrische Form – mit anderen Worten : das Haus selbst – nicht einen Bruch mit den herkömmlichen Bilderfüllt. Es kann sich nur darauf beziehen. konventionen an. Imdahl deutet es nun als Aktualisierung Lorrains : Durch ein schwar290 Albrecht Koschorke : Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreizes Dreieck, dessen Seitenkante beinahe drei Meter misst, geht ein senkrechter roter Strich. tung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt/Main 1990, S. 50. Dieser aber ist merklich verrückt, sodass er 291 Ebd., S. 73. weder die Basis des Dreiecks mittig schneidet, 292 Gerd Blum : « Einleitung. Bauten als noch durch den Schnittpunkt der Schenkel Bildgeneratoren », in : ders. : Fenestra Prospecverläuft. Auch für dieses Bild sei die untiva. Architektonisch inszenierte Ausblicke, mittelbare Erfahrung des Beschauers, also auch die physische Wirkung der Komposition Berlin-Boston 2015, S. 1–29, S. 19.

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293 Vgl. Eberle 1979, Kapitel IV , « Zur Entstehung des modernen Individuums, des Subjekts der ästhetischen Landschaftsschau ». 294 Tegethoff 1981, S. 118. 295 Joachim Ritter promoviert im Jahr 1925 bei Ernst Cassirer in Hamburg mit der Arbeit Docta Ignorantia. Die Theorie des Nichtwissens bei Nicolaus Cusanus. In diesem Denker identifiziert er eine Persönlichkeit zwischen Mittelalter und Neuzeit, wie er sie beinahe 40 Jahre später in Francesco Petrarca für den Umbruch zum modernen Landschaftsverständnis wiederfinden wird. Noch aber beschäftigen ihn weniger ideengeschichtliche Entwicklungen als die geistige Entwicklung eines Theologen, der – wie Petrarca – dem einzelnen Menschen höchste Wertschätzung zuspricht und dem neuzeitlichen Individuum den Weg bahnt. Mark Schwedas erste umfassende Untersuchung zu Ritters Werk aus dem Jahr 2013 erfasst die Grunddisposition Ritterschen Denkens, die er nach dem Krieg als Münsteraner Ordinarius vor allem in Aufsätzen zu Hegel und Aristoteles ausbauen wird, pointiert zusammen : « Im Horizont der dabei entwickelten spekulativen Konzeption einer fortschreitenden historischen Entfaltung des gesamten menschlichen Wirklichkeitsverständnisses stellte es keinen Widerspruch mehr dar, dass der Geist geschichtlich ist und Geschichte hat und seine Erkenntnisse zugleich doch einen über alle subjektiven Lebensäußerungen hinausweisende sachbezogene Geltung beanspruchen kann. » Ritters Bewertung von Cusanus’ Denken erfährt eine neue Ausrichtung. Die Verbundenheit von dessen Werk mit seiner Entstehungszeit tritt nun in den Vordergrund ; zudem wendet er sich gegen eine ‹ Zweiweltenlehre › und kennzeichnet so seinen eigenen Standpunkt : Weder der neuzeitlichen Rationalität – mit der er Cusanus noch in der Dissertation im Zeichen der Hinwendung ins aufblühende, humanistische Italien identifizierte –, noch die Vernunft, weder Wissenschaft noch Metaphysik dürfen als Welterschließungsmethode absolut gesetzt werden. Durch Cusanus markiert für Ritter

offenbar eine geistige Position als Vermittler zwischen dem alten und dem neuen Denken, das in dessen Leitbegriff, der coincidentia oppositorum, zugleich zu einer Einheit findet. Schweda, der an anderer Stelle von Ritters « hermeneutischer Ontologie » spricht, meint im Weiteren : « Grundlegend ist dabei die Idee einer fortschreitenden Entfaltung und Ausdifferenzierung des lebensweltlich erschlossenen Seins in komplementären Sphären. » Ritter fasst seine eigene, erkenntnistheoretische Position im programmatischen Aufsatz Über die Geschichtlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis im Jahr 1938 zusammen, wenn er dort « Wissenschaften als geschichtliche Erscheinungen » betrachtet : « Es gibt eine antike und eine moderne Mathematik, eine Geschichtslehre der Aufklärung und des 20. Jahrhunderts, es gibt eine mittelalterliche und eine romantische Staatslehre, aber dergleichen historische Kennzeichnung meint nicht das äußere zeitliche Dasein, sie betrifft das Wesen, den Aufbau der Mathematik oder Geschichtslehre oder Staatslehre selbst » : Dem Wissen bleibt die Zeit, in der es auftritt nicht äußerlich – diese verändere es seinem Wesen nach. So wird er später für die Erfahrung von Natur in der Moderne argumentieren, für die Rolle der Landschaft im Prozess der Modernisierung. (Vgl. Mark Schweda : Entzweiung und Kompensation. Joachim Ritters philosophische Theorie der modernen Welt, Freiburg-München 2013, S. 42ff.) 296 Joachim Ritter : « Hegel und die Französische Revolution », in : ders. : Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt/Main 2003, S. 183–255, S. 189. – Erstpublikation : 1956. Mit den Erkenntnissen dieses Aufsatzes Hegel und die Französische Revolution verändert Ritter die kritische Interpretation Hegels, wie sie durch Rudolf Hayms Vorlesungen über Hegel und seine Zeit 1857 begründet worden war. Ritter identifiziert Hegel nun als Parteigänger der Revolution, dessen Sympathien weder durch den Terror der realen Geschehnisse, noch ihre mangelnde realpolitische Tragfähigkeit je grundsätzlich gebrochen werden. Vom En-

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thusiasmus der jugendlichen Tübinger Zeit (1788–1793), der Freundschaft mit Hölderlin und Schelling, bis hin zur Berliner Rechtsphilosophie (1821) umkränze der Gedanke einer in dieser Geschichte, in den Pariser Ereignissen zu sich kommenden Vernunft sein Denken. So zeigt sich zugleich, wie in Hegel der Gewährsmann für seine eigene philosophische Entwicklung gefunden ist, denn Hegel « setzt die traditionelle metaphysische Theorie unmittelbar und als diese mit der Erkenntnis der Zeit und der Gegenwart gleich. » Für ihn gelange in diesem geschichtlichen Ereignis bewusstseinsgeschichtlich ein welthistorisches zu seiner Verwirklichung, denn nun muss « jede gegenwärtige und künftige Rechts- und Staatsordnung von dem universalen Freiheitsprinzip der Revolution ausgehen und es voraussetzen. » (Ebd., S. 201.) Seine Schlüsse fasst Joachim Ritter in seinem Aufsatz Landschaft zusammen, der als Vortrag schon im Jahr 1961 entstanden ist, aber erst zwei Jahre später veröffentlicht wird – fünf Jahre nach Ritters Erläuterungen zu Hegel und nach seinen ersten Vorlesungen über Ästhetik vom Wintersemester 1947 und 1948 an der Universität Münster. Christoph Menke hat die darin zutage geförderte Figur des modernen Subjekts zusammengefasst : « Nach Ritters Deutung zeigt sich an der Ästhetik, dass der aufklärerische Prozess der Subjektivierung einer tiefgreifenden Entzweiung unterliegt : zwischen dem sachlich-rationalen Subjekt der gesellschaftlichen Institutionen und dem persönlich-empfindenden Subjekt des ästhetischen Selbst- und Weltbezugs. » (Christophe Menke : Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt/Main 2008, S. 44.) Aus dieser Perspektive auf die Ritterschen Philosophie sollte daher nicht vorschnell vom Ende der ästhetischen Kategorie Landschaft gesprochen werden, wie Rainer Piepmeier dies in seinem gleichlautenden Abriss aus dem Jahr 1980 etwa noch tut. Indem er die unterliegende Entwicklungsdynamik von Ritters Ausführungen zur Landschaft außer Acht lässt, kann er im Hinblick auf dessen Position zum Schluss

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kommen, dass sie mit dem Ende der scharfen Trennung von Stadt und Land ihren Gehalt verloren habe. Pointiert formuliert : « Das Moment des Hinausgehens hat die Möglichkeit seiner Realisation verloren. » (Rainer Piepmeier : « Das Ende der ästhetischen Kategorie ‹ Landschaft › », in : Westfälische Forschungen, 30, Köln-Wien 1980, S. 8–46, S. 34.) Piepmeiers Bezug auf eine statische – vergangene – Gefildenatur, in die man hinausgehe, um Landschaft zu erleben, geht indes an Ritters Kernargument vorbei. Sein offenkundiges Missverständnis scheint hier umso virulenter, als die Kritik, unter die das Ästhetische in der Landschaftsarchitektur seit langem geraten ist, gerne an der Form und nicht an der Bedeutung des Ästhetischen festgemacht wird, ihre Bedeutung also mitsamt der historischen Kulturlandschaft für obsolet erklärt wird. Zur kritischen Auseinandersetzung in Martin Seels Ästhetik der Natur (S. 220–225), der die geäußerten strukturellen Probleme entkräftet, aber einen entscheidenden Einwand erwägt : « Der eigentliche Skandal dieser Ästhetik ist ihr großzügiges Desinteresse für die phänomenale Besonderheit ihres Gegenstands. » (Martin Seel : Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt/Main 1996, S. 228.) 297 « Dies durch die Revolution gestellte und zugleich nicht gelöste Problem ist die politische Verwirklichung der Freiheit. » (Ritter 2003, S. 196.) Mit einer Stelle aus Aristoteles’ Metaphysik hält Ritter fest : « Frei ist der Mensch, der um seiner selbst willen, nicht um eines anderen will ist. » (Ebd., S. 198 ; vgl. Aristoteles : Metaphysik, I. 2, 982 b, S. 25f.) Mit Hegel ergänzt Ritter wiederum : « Freiheit ist für Hegel philosophisch der Stand des Menschen, in dem er sein Menschsein verwirklichen und so er selbst sein und ein menschliches Leben führen kann. » (Ritter 2003, S. 197.) 298 Ebd., S. 211. 299 Ebd., S. 214f. 300 Vgl. Joachim Ritter : « Entzweiung », in : ders. : Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel : (Hrsg.) : Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel 1971–2007, S. 566–571.

301 « Schon mit der Einsicht in diese dialektische Einheit von Subjektivität und Objektivität hatte Hegel eine Position gewonnen, die es ihm möglich machte, die Entzweiung und Diskontinuität positiv als Form der geschichtlichen Kontinuität und Einheit zu begreifen. » (Ritter 2003, S. 225.) Auflösung erfährt die These weder in Versöhnung – wie Hegels Dreischritt von These, Antithese zur Synthese nahe legen würde –, noch in der Kompensation, mit der man Ritter meist in Verbindung bringt. Trete die Entzweiung an die Stelle der Versöhnung, ergäbe sich eine kulturpessimistisch-fatalistische Perspektive, wie sie aus Ritters Texten gerade nicht herauszuhören ist. Stellt man dagegen die Kompensation ans Ende seiner Überlegungen, so läuft man Gefahr, sich der Habermasschen Kritik und einem Neokonservativismus-Vorwurf auszusetzen, die an der Ritter-Schule haften geblieben ist : dass sie also die herrschenden Bedingungen einfach sistiere. Odo Marquards Kompensationsthese baut selbst auf einem neuen Geschichtsmodell auf, das in der Moderne als prozessualer Fortschritt gedacht wird. Vor allem in Reaktion auf Ritters Vortrag Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft (1961) entwickelt er die Idee, « Modernisierungen verlaufen ganz allgemein so, dass sie zugleich Defizite und Kompensationen erzeugen. » Zu ihnen gehört auch die Natur. (Odo Marquard : « Kompensation. Überlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozesse », in : ders .: Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen, Paderborn-MünchenWien-Zürich 1989, S. 64–81, S. 80.) Marquard, der die Kompensationsthese am griffigsten vertreten hat, formuliert sie schließlich im Nachwort zu den gesammelten Schriften seines Lehrers mit dem Begriff der ‹ positivierten Entzweiung › neu, sieht in Ritter den « Nichtidentitätsphilosophen », der nicht restaurativ, sondern realistisch agiere und meint : « Die moderne – bürgerliche – Welt ist weder Paradies noch Inferno, sondern geschichtliche Wirklichkeit. » (Odo Marquard : « Positive Entzweiung », in : Ritter 2003, S. 442–456, S. 450.)

302 Einer emanzipatorischen Interpretation, die das Subjekt ins Zentrum von Ritters Philosophieren stellt, folgt auch Schweda, der die zuvor genannten Positionen gegeneinander abwägt und sich in der Folge auf Ritters Aussage nach seinem Hegel-Vortrag im Jahr 1956 an der Rheinisch-Westfälischen Akademie bezieht. Schweda 2013, S. 188ff. 303 Zitiert nach : ebd., S. 194. Und doch darf dabei nicht vergessen werden – getreu der Figur der Entzweiung –, dass sie ja zugleich das Resultat jenes ausdifferenzierten Prozesses ist, in dem sie tätig wird, oder, wie Ritter es fasst : « Nicht die Subjektivität mit ihrer innerlichen Bewahrung allein rettet die Kontinuität der Weltgeschichte und ihres Geistes, sondern die Entzweiungsform der Gesellschaft selbst, indem sie in ihrer Beschränkung auf die Bedürfnisnatur und auf die ihr zugehörige objektive dingliche Realität der Subjektivität das Recht ihrer Besonderheit und ihrer Freiheit und so die Möglichkeit der Bewahrung offenhält. » Ebd., S. 230. 304 Hans Blumenberg : Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/Main 1966, S. 211. 305 Ritter 2003, S. 411ff. 306 Die Unmöglichkeit der Fortsetzung dieses kosmischen Naturverhältnisses in der Moderne hängt damit zusammen, dass dieses Sinnliche vormals den Geist zur Schau des Ganzen geweckt hat : Welt und Kosmos waren in einer spürbaren Ordnung miteinander verbunden. Anders gesagt, hat das sinnlich Gegebene gar keinen Sinn gemacht ohne diesen Zusammenhang. « Der Himmel über dem Haus und die Erde, die es trägt, werden bereits in den Begriffen gewusst und ausgesagt, in welchen die Theorie das Ganze begreift. Sie schließt so alles Sinnfällige und auch das Schöne in der Gewalt, die ergreift, in sich ein. » (Ebd., S. 418.) Die Nähe der theoretischen Schau zur ästhetischen Erfahrung belegt wiederum die Differenz zur reinen Sinnlichkeit, die nur auf sinnlichen Eindrücken gründet. 307 Ebd., S. 420. An der Entzweiung « zeigt sich, dass die gleiche Gesellschaft und Zivi-

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lisation, die dem Menschen in der Verdinglichung der Natur die Freiheit bringt, zugleich den Geist dazu antreibt, Organe auszubilden, die den Reichtum des Menschseins lebendig gegenwärtig halten, dem die Gesellschaft ohne sie weder Wirklichkeit noch Ausdruck zu geben mag. » Ebd., S. 433f. 308 « Das hat für die Freiheit des einzelnen entscheidend positive Bedeutung ; sie setzt, damit sie sein kann, die Befreiung des Menschen aus der Übermacht der Natur voraus ; diese ist die Bedingung dafür, dass der Mensch – ihrer Gewalt nicht mehr ausgeliefert – sich als freies ‹ Subjekt › zur Natur als zu seinem ‹ Objekt › verhalten kann. » Joachim Ritter : « Subjektivität und industrielle Gesellschaft. Zu Hegels Theorie der Subjektivität » (1961), in : ders. 2003, S 357–376, S. 369. 309 Ritter 2003, S. 225. 310 Jörg Zimmermann : « Zur Geschichte des ästhetischen Naturbegriffs », in : ders. (Hrsg.) : Das Naturbild des Menschen, München 1982, S. 118–154, S. 130. 311 Ebd., S. 132. Was das Movens der naturwissenschaftlichen Tätigkeit betrifft, dafür hat erneut Blumenberg die richtigen Worte : « Der moderne Theoretiker aber kommt weniger einer fremden Findigkeit auf die Sprünge, als dass er die eigene erprobt ; er ist an der Struktur des Vorgefundenen letztlich uninteressiert, wenn es ihr nur gelingt, eine gleichwertige Konstruktion, die sich als solche durch ihren Effekt auszuweisen hat, an die Stelle des Gegebenen zu setzen. » (Blumenberg 1966, S. 207.) Ernst Cassirer ortet diese Umwandlung als Resultat einer langsamen Entwicklung, die bereits in der Renaissance beginne : « Und so pflegt man denn auch von hier, von Descartes’ Prinzip des cogito an, den Anfang der modernen Philosophie zu datieren. [ …] Aber der Wert und die Bedeutung dieser Revolution wird nicht geschmälert, wenn man das Werden und das steigende Anwachsen der intellektuellen und der allgemein-geistigen Kräfte verfolgt, aus denen sie zuletzt hervorgeht. » (Ernst Cassirer : Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg 2007, S. 130. – Erstmals erschienen: 1932.)

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312 Ritter 2003, S. 416f. – FN 29. 313 Joachim Ritter : Vorlesungen zur Philosophischen Ästhetik (1947/48), Göttingen 2010, S. 33. – Hrsg. von Ulrich von Bülow und Mark Schweda. 314 Sie stand unter dem Motto « Technik im Dienste des Menschen. Fortschritt der Menschheit durch Fortschritt der Technik ». 315 Ritter 2003, S. 342. 316 Joachim Ritter : « Die große Stadt » (1960), in : ders. 2003, S. 341–354, S. 344. 317 Ebd., S. 342f. 318 Vgl. ebd., S. 345. 319 Ebd., S. 350. Für Ritter entwickelte sich also im 18. Jahrhundert jenes Individuum, das sich « erkennend wie handelnd zu dem Gegebenen in seinem ganzen Umfang als ‹ Objekt › verhält, es zum Gegenstand des Erkennens macht oder es praktisch aneignet und verändert. » (Ritter 2003, S. 357). « Subjektivität hat es übernommen, religiös das Wissen um Gott, ästhetisch das Schöne, als Moralität das Sittliche zu bewahren und gegenwärtig zu halten, das auf dem Boden der Gesellschaft in der Versachlichung der Welt zu einem bloß Subjektiven wird. Das ist ihre Größe und ihr weltgeschichtliches Amt. » (Ebd., S. 375.) 320 « Zur Blindheit des Fortschritts für die geschichtliche Herkunft tritt die Blindheit der rettenden Subjektivität für die Zivilisation und ihre Humanität. Was sie rettet, wird an illusionäre Orte : Gebirge, Wald, Erde, unter dem Pflug, in ferner Natur geborgen. In dem Illusionären und Fiktiven der Bergung wird die Beziehungslosigkeit der Rettenden selbst zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit des Menschen sichtbar. » Ritter 2003, S. 353. 321 Ritter 2010, S. 33f. 322 Ritter 2003, S. 431, S. 433. 323 Ebd., S. 434. 324 Ebd., S. 34. 325 Ebd., S. 419f. 326 Ebd., S. 438. 327 Ebd., S. 438f. Mit Berufung auf Henry Homes’ Elements of Criticism wird der Landschaftsgarten für Ritter zur Darstellung

« of what really exists in nature ». (Ebd., S. 439.) Er zitiert zudem Homes’ bekanntes Diktum : « Nature itself ornamented » und meint : « Das Neue und qualitativ Andere des Landschaftsgartens aber in der Einheit der ästhetischen Vermittlung der Natur liegt darin, dass mit ihm die Natur durch den verändernden und gestaltenden Eingriff des Menschen zur Landschaft geformt und so dazu gebracht wird, selbst ihre ästhetische Präsentation zu vermitteln. » (Ebd., S. 440.) 328 Ebd., S. 441. 329 Ritter 2010, S. 32. 330 Vgl. Eckart Förster : Kant’s Final Synthesis. An Essay on the Opus Postumum, Cambridge/MA -London 2000. 331 Ritter 2003, S. 441. 332 Im Jahr 1793, ein Jahr nach deren Gründung, vermacht er es der französischen Republik; erst 1953, mehr als 150 Jahre später, wird es auch veröffentlicht. Vgl. Georg Germann : Einführung in die Geschichte der Architektur, Darmstadt 1987, S. 226ff. 333 Étienne-Louis Boullée : Architektur. Abhandlung über die Kunst, Zürich-München 1987, S. 45. – Hrsg. von Beat Wyss. 334 Ebd., S. 153. 335 Ebd., S. 32. – « Vorwort ». 336 Harald Szeemann (Hrsg.) : Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopie sei 1800, Aarau 1983, S. 122. 337 Grundlegend für die in dieser Arbeit geäußerten Gedanken : Alberto Pérez-Gómez : Architecture and the Crisis of Modern Science, Cambridge/MA -London 1983 sowie ders. : Built upon Love. Architectural Longing after Ethics and Aesthetics, Cambridge/MA -London 2006. 338 Wobei es ihm eben nicht vorrangig um einen neuen « Stoff » als Grundlage für eine neue Art des Wissens gehe – die Natur als Objekt des naturwissenschaftlichen Erkenntnisdranges. « Ihre entscheidende Leistung liegt vielmehr an einer anderen Stelle : Sie besteht nicht sowohl in dem neuen gegenständlichen Gehalt, der durch sie dem menschlichen Geiste vermittelt und zugänglich gemacht worden ist, als vielmehr in der

neuen Funktion, die sie ihm zugewiesen hat. Die Naturerkenntnis führt nicht schlechthin in die Welt der Gegenstände hinaus ; sondern sie wird für den Geist zum Medium, innerhalb dessen er seine eigene Selbsterkenntnis vollzieht. » Cassirer 2007, S. 37. 339 Ebd., S. 37f. 340 Ebd., S. 40. 341 Ebd., S. 38. 342 Boullée 1987, S. 151. 343 Dorothea Lehner : Architektur und Natur. Zur Problematik des Imitatio-NaturaeIdeals in der französischen Architekturtheorie des 18. Jahrhunderts, München 1987, S. 64. 344 Vgl. Edmund Burke : Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen (1757), Hamburg 1989, S. 72. 345 Kant spricht allerdings von einer « bloß empirischen Exposition des Erhabenen », die eher in eine empirische Anthropologie gehöre, denn zu einer « transzendentalen Erörterung des Vermögens ». Immanuel Kant : Kritik der Urteilskraft (1790), Frankfurt/ Main 1974, S. 204. Aus Burkes bekannten Worten hingegen klingt kein geringer Spott, wenn er die Jahrhunderte alte symbolische Übereinkunft kritisiert : « Und sicherlich könnte es für einen Architekten keine tollere Narrheit geben, als sein Gebilde nach der menschlichen Gestalt zu formen, denn nichts kann sich weniger gleichen oder ähneln, als ein Mensch und ein Haus oder Tempel. » Zitiert nach : Rudolf Wittkower, Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus (1949), München 1990, S. 122. 346 Burke 1989, S. 119. 347 Unvorstellbar, dass, was wie der trockene Disput Gelehrter klingt, nämlich die Debatte um Proportionsverhältnisse und mathematische Harmonien, einmal tatsächlich erfahren worden sein soll. Dass nämlich der Mensch, wie Rudolf Wittkower es formuliert, « unter einer Renaissance-Kuppel ein leises Echo der unserem Ohr nicht wahrnehmbaren Musik der Sphären zu hören » vermeint haben wollte. (Wittkower  1990, S. 114) Mit Claude Perrault ist das Verblassen des Vor-

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bilds von Vitruvs De Architectura Libri Decem und Jahrhunderten seiner Interpretation als epochaler Einschnitt in der Architekturgeschichte zu verzeichnen und somit auch die « Auflösung des Imitatio-Naturae-Ideals ». Seine Ordonnance des cinq espèces de colonnes selon la méthode des anciens von 1683 betont die Relativität ästhetischer Urteile in den Diskurs und stuft die Säulenordnungen zur Übereinkunft aus Gewöhnung herab. Neue Versuche der Objektivierung der architektonischen Form waren die logische Folge. Mit der beauté positive setzt Perrault der arbiträren Schönheit eine objektive entgegen : « Auf überzeugenden Gründen beruhende Schönheiten nenne ich solche, durch die die Werke jedermann gefallen müssen, weil es einfach ist, ihren Verdienst und Wert zu erkennen. Von dieser Art sind wertvolles Material, Größe und Pracht eines Bauwerks, Genauigkeit und Sauberkeit der Ausführung so wie die Symmetrie, die im Französischen die Art Proportion bezeichnet, die eine offenbare und merkliche Schönheit hervorbringt. » (Zitiert nach : Neumeyer 2002, S. 141f.) Er kann als Gründungsvater einer positivistischen Architekturlehre gelten, die ihren einstigen, aus dem Zusammenhang mit der Natur als Kosmos gewonnenen Bedeutungsgehalt auf messbare, herstellbare, materialistische Beine stellt. (Vgl. Jörn Köppler : Sinn und Krise moderner Architektur. Zeitgenössisches Bauen zwischen Schönheitserfahrung und Rationalitätsglauben, Bielefeld 2010, S. 137ff.) Auch Boullée scheint von diesem Diskurs – mit seinen einfachen Baukörpern, die dem Menschen durch Ähnlichkeit zu ihm selbst gefallen – beeinflusst : « Ich füge hinzu, dass wir als ‹ schön › die unserem Organismus ähnlichsten Gegenstände bezeichnen und dass wir die ablehnen, die diese Ähnlichkeit nicht besitzen und die deshalb unserem Wesen nicht entsprechen. » (Boullée 1987, S. 55.) Doch der Prozess der Befreiung der Form aus der Vorgabe der Alten hat zur Folge, dass ein bislang nach transzendenten Gesetzen operierendes Fach « Gegenstand naturwissenschaftlichen und ästhetischen Interes-

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ses » wird. Andererseits aber werden dem Baukörper Stimmungen auferlegt. Erst so erhielte er Charakter. Momente wie Trauer, Freude, eben auch Erhabenheit und Schönheit der Natur entziehen sich nun aber der Quantifizierbarkeit. Ihre Qualität ist geistiger Natur. Objektivierbar durch die neuen Naturwissenschaften sind sie nicht. In diesem Sinn muss also vom Ende der alten Mimesis-Tradition des Vitruvianismus gesprochen werden : In Erscheinung tritt die Natur nun am Bauwerk selbst, nicht mehr in der Form einer konstitutiven Regelästhetik. 348 Die Befähigung hierfür liegt im Wahrnehmungsvermögen des modernen Menschen begründet, dieses aber bildet sich mit den Instrumenten der Naturbetrachtung heraus, zu denen die Architektur zählt sowie – am anderen Ende der ausdifferenzierten Naturerfahrung der Moderne – das Fernrohr oder Mikroskop. Jörn Köppler spricht in seiner Darstellung einer « g eistig-ästhetischen Moderne » vom « klassischen Poesiegedanken », den Boullée in seine Baugebilde übersetzt : « Boullée versucht die ästhetischen Sinnmomente des Erhabenen und der Schönheit der Natur in Bildern des Sommers, des Herbstes etc. in das architektonische Werk zu verlängern, wodurch in dieses Werk deren Bedeutung selbst eingehen soll und dauerhaft würde, was sich nur als flüchtige Erscheinung vorher in der Natur selbst zeigte. » Köppler 2010, S. 69. 349 « Aufgabe des Dichters : « Aus dem Gesagten ergibt sich auch, dass es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. » Aristoteles : Poetik, Stuttgart 1994 S. 9. 350 Boullée 1987, S. 65. 351 Lehner 1987, S. 82. 352 Boullée 1987, S. 154. « Wenn sich die Menschen ihre Meinung nach dem Studium der Natur bilden würden, wären sie weniger für Irrtümer aller Art anfällig. Jeder von uns definiert das Schöne auf seine Art, und jeder

glaubt recht zu haben ; aber richtige Beurteilungen sind das Ergebnis von Untersuchungen ; wäre es deshalb nicht angebracht, zuerst durch ein Studium der Natur und die daraus erwachsenden Beweise sein Urteil abzusichern, bevor man es ausspricht? » Lehner erkennt in dieser Theorie die Vorbildwirkung einer natura altera am Werk, denn sonst wäre der Künstler zu « Regellosigkeit und Willkür » verurteilt, womit dieselbe Willkür herrschte, mit der man die Proportionen der Säulenordnung festgelegt hat, an die man nicht mehr glaube. 353 Kant 1974, S. 210ff., §§ 32–34 und S. 224ff., § 40. Zur historischen Entwicklung des Geschmacksurteils : Annemarie GethmannSiefert : Einführung in die Ästhetik, München 1995, S. 31ff. 354 Boullée 1987, S. 79f. 355 Ebd., S. 153. Veröffentlicht wurde der Essay allerdings erst im Jahr 1953. 356 Kant 1974, S. 190. 357 Anders als Boullée, scheint sein Zeitgenosse Claude-Nicolas Ledoux eine Grenze zu überschreiten : Hier wird die Natur zur ‹ Gespielin › des Architekten, wenn es beim Haus der Strombehörde im Jahr 1804 durch einen Zylinder quillt, durch Architektur gebändigt und vom Direktor kontrolliert. Diese Art sprechende Architektur demonstriert Wasser als Wasserkraft, wie sie auch von einer modernen Turbine erzeugt werden könnte. Sie lässt sich bis in die Gegenwart extrapolieren. Im Jahr 1955 charakterisiert Martin Heidegger sein Zeitalter als Atomzeitalter, fürchtet dabei weniger die Atomkraft selbst, von der er damals noch meinte, sie wäre in beherrschbare Bahnen zu lenken, als den Angriff auf das Leben durch das « rechnende Denken » der technischen Naturwissenschaft : « Die Natur wird zu einer einzigen riesenhaften Tankstelle. » Martin Heidegger : Gelassenheit (1955), Stuttgart 2004, S. 18. 358 Die Einfühlungstheorie hatte die Konstruktionsform mit dem leiblichen Erleben des Menschen verbunden. Vgl. Heinrich Wölfflin : Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur (1886), Berlin 1999 ; weiters :

Hans Kollhoff (Hrsg.) : Über Tektonik in der Baukunst, Braunschweig-Wiesbaden 1993. 359 Julius Posener : « Konstruktion und Baukörper in Schinkels Architektur », in : ders. : Vorlesungen zur Geschichte der Neuen Architektur V, ARCH+, 69/79 1983, S. 41–48, S. 47. 360 Zitiert nach : Goerd Peschken (Hrsg.) : Karl Friedrich Schinkel. Das Architektonische Lehrbuch, München 1979, S. 115. 361 Ebd., S. 69f. 362 Ebd., S. 59. 363 Ebd., S. 114. 364 Posener 1983, S. 45. 365 Paul Westheim, « Mies van der Rohe, Entwicklung eines Architekten », Das Kunstblatt, Februar 1927, S. 55–62, S. 55. 366 Ebd., S. 56. 367 Ebd., S. 57. 368 Auch Mies war mit einem Freund, Josepf Popp, unterwegs. Er war es, der Mies mit Sofie Riehl im Büro von Bruno Paul bekannt gemacht, den Auftrag für das Haus vermittelt hatte, den er selbst offenbar nicht annahm. Wesentliche Reiseziele auf ihrer Route – gesponsert von den Riehls –, die Mies später erwähnen wird : München, Bozen, Vicenza, Florenz. Vgl. Schulze, 2012, S. 17f., 20f. 369 Vgl. Cohen 2011, S. 17ff. 370 Ebd., S. 16. 371 Vgl. die parallelen Werkanalysen Mies/Schinkel in Cavalcanti Braun 2006 und Max Stemshorn : Schinkel und Mies. Das Vorbild Schinkels im Werk Mies van der Rohes, Tübingen 2002. 372 Gottfried Riemann (Hrsg.) : Karl Friedrich Schinkel. Reisen nach Italien. Erste Reise 1803–1805, Berlin-Weimar 1994, S. 274. 373 Vgl. zur Biografie Heinz Ohff : Karl Friedrich Schinkel : oder Die Schönheit in Preußen, München 2007. 374 Petra Lohmann : Architektur als Symbol des Lebens. Zur Wirkung der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes auf die Architekturtheorie Karl Friedrich Schinkels von 1803 bis 1815, Berlin-München 2010, S. 13. 375 Ebd., S. 59.

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376 Fokke Christian Peters diskutiert eine breitere gedankliche Entwicklung Schinkels, die sich bis heute nicht endgültig festmachen ließe, was sich am Vorschlagscharakter der Werkphasen und der post festum erstellten Gliederung eines so bezeichneten Architektonischen Lehrbuchs durch Goerd Peschken bestätigt. 377 Riemann 1994, S. 144. 378 Ebd., S. 168. 379 Ebd. Schon zuvor wird die Besteigung des Ätna als proto-landschaftliches Erlebnis beschrieben. Im Februar des Jahres 1496 erscheint das erste Werk des 26-jährigen, späteren Kardinals und Humanisten, Pietro Bembo De Aetna im Offizin Aldus Manutius’. Die für dieses opusculum vom Mitarbeiter Francesco Griffo da Bologna geschnittene Schrift wird eine der berühmtesten und folgenreichsten für die moderne Typografie werden. Bembo, auf dem Weg nach Messina, um die griechische Sprache zu studieren, besteigt den Ätna drei Jahre vor Drucklegung und verschafft uns eine der frühesten Naturbeschreibungen, die sowohl die aufmerksame Wahrnehmung für einen prototypischen Ort der Mythologie überliefert, als auch stimmungsvolle Eindrücke. (Pietro Bembo. Der Ätna, Würzburg 2015, S. 63–68. – Hrsg. von Gerd von der Gönna.) Der Zeitgenosse Schinkels und große preußische Universalgelehrte Alexander von Humboldt, meinte in seinem Kosmos, man finde darin « das erste Beispiel reizender Naturbeschreibung ». (Alexander von Humboldt : Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Frankfurt/Main 2004, S. 214. – Ursprünglich als Bd. 2 im Jahr 1847 erschienen.) Fesselte den jungen Bembo und seinen Freund und Reisebegleiter Angelo Gabriele beim « Schauspiel » am Gipfel auch ein « großes Vergnügen », so fasziniert noch heute die genaue Beschreibung der Erlebnisse von Flora und Fauna inmitten eines Treibens antiker Göttergestalten, die dort noch überall zu hausen scheinen, wo Schinkel aus der Dunkelheit der Nacht nur noch vage erinnert wird an diese antike Götterwelt.

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380 Bergdoll spricht von der « separation of the individual from the realm of nature and history » in diesem Moment und findet dieses Naturverhältnis ikonologisch bestätigt : « Most striking in his reaction is the way it contradicts our expectations, namely that a traveler should not feel small and unimportant before an over-whelming vista. » Barry Bergdoll : Karl Friedrich Schinkel. An Architecture for Prussia, New York 1994, S. 22. 381 Riemann 1994, S. 168. 382 Zitiert nach : Peschken 1979, S. 114. Vgl. zur Rolle der künstlerischen Imaginationskraft : Kurt W. Forster : Schinkel. A Meander through his Life and Work, Basel 2018. 383 Peters 2001, S. 166ff. 384 Zitiert nach : Erik Forssman : Karl Friedrich Schinkel. Bauwerke und Baugedanken, München-Zürich 1981, S. 62. 385 Zitiert nach : Peschken 1979, S. 35. 386 Kant 1974, S. 296. 387 Zitiert nach : Peschken 1979, S. 150. 388 Vgl. zur Verbindung mit Wilhelm von Humboldts Sprachtheorie : Bergdoll 1994, S. 47, S. 68. 389 Zitiert nach : Peschken 1979, S. 150. 390 Ebd., S. 33. 391 Lohmann 2010, S. 72. 392 Zitiert nach : Peschken 1979, S. 37. 393 Ebd., S. 19. 394 Boullée 1987, S. 132ff. 395 Zitiert nach : Peschken 1979, S. 35. 396 Ebd., S. 118. 397 Vgl. Forssman 1981, Kapitel VI , « Höhere Baukunst ». 398 Zitiert nach : Peschken 1979, S. 118. 399 Das Ideal der Schillerschen Idylle wäre verwirklicht, die jener mit der Aufhebung der Gegensätze von Pflicht und Neigung identifiziert : « Ihr Charakter besteht also darin, dass aller Gegensatz der Wirklichkeit mit dem Ideale [ …] vollkommen aufgehoben sei. [ …] Ruhe wäre also der herrschende Eindruck dieser Dichtungsart, aber Ruhe der Vollendung, nicht der Trägheit ; eine Ruhe, die aus dem Gleichgewicht, nicht aus dem Stillstand der Kräfte, die aus der Fülle, nicht aus der Leerheit fließt. » Schiller 2002, S. 74.

400 Zitiert nach : Peschken 1979, S. 50. 401 Jacob und Wilhelm Grimm : Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854–1961. – Online-Version, 05. 04. 2017. 402 Christian Norberg-Schulz : « Ein Gespräch mit Mies van der Rohe », zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 404–406, S. 405. – Erstmals veröffentlicht in : Baukunst und Werkform, 11/1958, Heft 6, S. 615–618. Raum der Konstruktion 403 Ludwig Mies van der Rohe : « Baukunst und Zeitwille! », zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 303–306, S. 305. – Erstmals erschienen in : Der Querschnitt, 4/1924, Heft 1, S. 31–32. 404 Ludwig Mies van der Rohe im Gespräch mit dem Bayerischer Rundfunk, in : Der Architekt, 1966, S. 324. 405 Vgl. Neumeyer 1986, S. 256f. 406 Ludwig Mies van der Rohe : « Bürohaus », zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 299. – Erstmals erschienen in G, Juli 1923, S. 3. 407 Ludwig Mies van der Rohe : « Bauen », zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 300. – Erstmals erschienen in G, September 1923, S. 1. 408 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 304. 409 « Es hat seine Logik, dass Mies an den großen Wohnbauprojekten der Berliner Architekten, Ernst May in Frankfurt, Otto Haesler in Celle oder Wilhelm Riphahn in Köln, die nach 1925 den Wohnbedürfnissen der Massen nachzukommen suchten, kaum beteiligt war, abgesehen von einem Wohnblock in der Afrikanischen Straße in Berlin und der Hauszeile, die auf dem Stuttgarter Weißenhof das Villenensembles als optischer Abschluss bekrönt. » Wolfgang Pehnt : « Der absolute Architekt. Bemerkungen zu Mies van der Rohe », in : ders. : Die Architektur des Expressionismus, Stuttgart 1973, S. 84–91, S. 87. 410 So äußerte sich Karl Liebknecht über Mies zum Kunstsammler Hugo Perls : « Ihr Architekt scheint ein sehr fähiger Mann. Wenn erst die Unabhängigen Sozialisten an der Regierung sind, können wir ihn gut beschäftigen. » Zitiert nach : Wita Noack :

Konzentrat der Moderne. Das Landhaus Lemke von Ludwig Mies van der Rohe, MünchenBerlin 2008, S. 45. 411 « Solange wir im wesentlichen dieselben Materialien verwenden, wird sich der Charakter des Bauens nicht ändern » – so äußert sich Mies ebenfalls 1924 in seinem Text Industrielles Bauen und scheint dem Durchspielen der Möglichkeiten Stahl, Glas, Beton, Ziegel in seinen « fünf Projekten » zu widersprechen, denn diese folgen der konstruktiven Logik ihrer Materialien und wollen sie nicht überwinden. Ludwig Mies van der Rohe : « Industrielles Bauen », zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 306f., S. 307. – Erstmals erschienen in G, Juni 1924, S. 8–13. 412 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 374. 413 Ludwig Mies van der Rohe : « Gelöste Bauaufgaben. Eine Forderung an unser Bauwesen », zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 301–303, S. 302. – Erstmals erschienen in : Bauwelt, 14/1923, S. 719. 414 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 311. 415 Ebd., S. 312. 416 Mies wendet sich weniger gegen die Baukunst der Vergangenheit als ihre falsche Interpretation und die daraus fehlgeleiteten Bestrebungen für die Gegenwart : « Erstaunen muss uns aber der gänzliche Mangel an historischem Sinn, der mit dieser Liebe für historische Dinge verbunden ist. Man verkennt die wirklichen Zusammenhänge der Dinge, sowohl in Bezug auf das Neue als auch in Bezug auf das Alte. Alles, was bisher wurde, war eng verbunden mit dem Leben, aus dem es hervorwuchs, und ein Wandel der Dinge setzt immer einen Wandel des Lebens voraus. » Ebd., S. 311. 417 Zitiert nach : Peschken 1979, S. 28f. In seiner zu Lebzeiten unveröffentlichten Polemik gegen seinen Lehrer Hirt und dessen 1809 erschienenes Hauptwerk Die Baukunst nach den Grundsätzen der Alten meint er, sein eigenes Geschichtsverständnis andeutend : «  Es scheint überhaupt, dass Hr. Hirt, nur auf die Technik in der Baukunst Rücksicht genommen hat und dass der Ausdruck von Ideen (das einzige, wodurch auch die

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Baukunst zur höheren Kunst wird) in dieser Kunst gar nicht von ihm beachtet worden ist. [ …] Will er alle Fortschritte, der Wissenschaft deren sich die neuer Zeit so sehr von der Alten zu rühmen hat ohne Einfluss auf die Technik der Baukunst lassen. » Ebd., S. 29. 418 Ebd., S. 314. 419 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 304. 420 Ebd., S. 300. 421 Ebd., S. 314. 422 Vgl. Neumeyer 1986, S. 306. 423 Ludwig Mies van der Rohe : « Vorwort », zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 319 –  Vorwort  von : Bau und Wohnung, 1927. 424 Ludwig Mies van der Rohe : « Vorwort », zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 319 –  Vorwort  zum amtlichen Katalog der Ausstellung, 1927. 425 Ludwig Mies van der Rohe : « Über die Form in der Architektur », zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 318. – Erstmals veröffentlicht in : Die Form 2/1927, S. 59. 426 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 323. 427 Ludwig Mies van der Rohe : « Die Voraussetzungen baukünstlerischen Schaffens » (1928), zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 362–366, S. 365. – Vortrag. 428 Ebd., S. 366. 429 Vgl. die « Editorische Vorbemerkung » Fritz Neumeyers, in : Neumeyer 1986, S. 328f. 430 Vgl. ebd., S. 416. 431 Leopold Ziegler : Zwischen Mensch und Wirtschaft, Darmstadt 1927, S. 52f. 432 Ebd., S. 45. 433 Ebd., S. 49. 434 Ebd., S. 50. 435 Ludwig Mies van der Rohe : « Notizheft » (um 1928), Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 330–359, S. 357. 436 Ziegler 1927, S. 52. 437 Ebd., S. 345ff. 438 Ebd., S. 356. 439 Ebd., S. 357. 440 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 363. 441 Ziegler 1927, S. 370. 442 Ebd., S. 372. 443 Friedrich Dessauer : Philosophie der Technik. Das Problem der Realisierung, Bonn 1927, S. 132.

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444 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S., 356. 445 Ebd., S. 352 ; Dessauer, 1927, S. 78. 446 Ebd., S. 114. 447 Paul Ludwig Landsberg : Die Welt des Mittelalters und wir. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über den Sinn eines Zeitalters, Bonn 1922, S. 9. 448 Ebd., S. 7f., S. 105. 449 Ebd., S. 114. 450 Ebd., S. 116. 451 Dessauer 1927, S. 86. 452 Ebd., S. 40. 453 Vgl. Wolfgang Pehnt, Hilde Strohl : Rudolf Schwarz 1897–1961. Bewohnte Bilder. Architekt einer anderen Moderne, Ostfildern 2000, S. 191ff. Der Krieg hat Schwarz’ Denken verwandelt, seine Position innerhalb – oder gegenüber – der modernen Architektur geschärft ; er berichtet Mies, den er stets auf seiner Seite meint : « Es ist so furchtbar viel Gewachsenes roh zerstört worden, dass einem jede Erinnerung an das Gewachsene kostbar geworden ist. » Zitiert nach : ebd., S. 192. – FN 771. 454 Ebd., S. 194. 455 Zitiert nach : ebd., S. 195. – FN 776. 456 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 365. 457 Ebd., S. 362. 458 Rudolf Schwarz : « Vom Sterben der Anmut » (1927/28), in : ders. : Wegweisung der Technik und andere Schriften zum Neuen Bauen 1926–1961, Braunschweig-Wiesbaden 1979, S. 46–68, S. 54. 459 Ebd., S. 47. 460 Ebd., S. 47f. 461 Ebd., S. 54. 462 Ebd., S. 50. 463 Thomas Hasler : Architektur als Ausdruck. Rudolf Schwarz, Zürich 2000, S. 85. 464 Schwarz 1979, S. 50. 465 Ebd., S. 64. 466 Ebd., S. 65. 467 Ebd., S. 66. 468 Ebd., S. 67. 469 Ebd., S. 67f. 470 Hasler 2000, S. 93. 471 Ebd., S. 96. 472 Ebd., S. 202.

473 Landsberg 1922, S. 51. 474 Ebd., S. 57ff. 475 Ebd., S. 67. 476 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 381. 477 Ebd., S. 381. 478 Ludwig Mies van der Rohe : « Rudolf Schwarz » (1963), in : Neumeyer 1986, S. 398. 479 Dessauer 1927, S. 190. 480 Ebd., S. 191. 481 Vgl. Neumeyer 1986, S. 298. 482 Mies van der Rohe : « Technik und Architektur » (1950), zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 387f. 483 Neumeyer 1986, S. 147. 484 Das betont auch Massimo Cacciari : « Mies stößt das Prinzip der Transparenz vollkommen um : das Licht zeigt nicht, was innen ist, sondern bietet dem Blick das Umfeld. » Massimo Cacciari : « Mies’ Classics », in : Res 16. Journal for Anthropology, Cambridge/MA 1988, S. 13–14, zitiert nach : Kenneth Frampton : Grundlagen der Architektur. Studien zur Kultur des Tektonischen, München-Stuttgart 1993, S. 175f. 485 Vgl. Neumeyer 1986, S. 152. – FN 14. 486 Ebd., S. 153. 487 Ulrich Conrads, Magdalena Droste, Winfried Nerdinger, Hilde Strohl (Hrsg.) : Die Bauhaus-Debatte 1953. Dokumente einer verdrängten Kontroverse, Braunschweig 1994, S. 39. 488 Ebd., S. 118. 489 Ebd., S. 169. 490 Ebd., S. 188ff. 491 Bauwelt 1962, S. 884f. 492 Puente 2008, S. 32f. 493 Bauwelt 1962, S. 884f. 494 Mit der Bauakademie, aber auch mit dem zurückhaltenden Berliner Mietshaus für Tobias Christoph Feilner aus den Jahren 1828/29 hat dieser zudem einen « dauerhaften » und « wohlfeilen » Terrakotta-Bau von Charakter errichtet, dessen Erscheinung bis heute  zeitlos  wirkt. Karl Friedrich Schinkel : Sammlung architektonischer Entwürfe. Eine Auswahl von 40 Bildtafeln und erläuternden Texten aus der Ausgabe Potsdam 1841–43, Berlin 1980, Tafel 113/114.

495 Vgl. Cohen 2011, S. 22. 496 Zitiert nach Neumeyer 2002, S. 335. 497 Ebd., S. 338. 498 Ebd., S. 340. 499 Ebd., S. 341. 500 Ebd., S. 346. 501 Zitiert nach: Neumeyer 2002, S. 350. 502 Ebd., S. 352. 503 Ebd., S. 357. 504 Vgl. ebd., S. 358f. 505 Vgl. Tilmann Buddensieg : « Ein Tempel für Maschinen. Die AEG -Turbinenhalle von Peter Behrens », in : Kunst und Technik, 2/2002, S. 2–25. Im Gespräch mit der New York Harald Tribune, am 28. Juni 1959, fällt allerdings der Hinweis, das berühmte ‹ Less is more › stamme aus Robert Brownings Gedicht Andrea del Sarto (1855) : « Well, less is more, Lucrezia : I am judged ». Vgl. Pier Vittorio Aureli : Less is Enough : On Architecture and Ascetism, Moskau 2014. – FN 1. 506 Cohen 2011, S. 17. 507 Bauwelt 1962, S. 884f. 508 Benevolo 1964, S. 11. 509 Interessant ist der schon bei Schwarz bemühte Vergleich mit den Pyramiden, bei dem Gropius allerdings nicht halt macht : « Im Vergleich mit den übrigen Ländern Europas scheint Deutschland auf dem Gebiete des künstlerischen Fabrikbaus einen Vorsprung gewonnen zu haben. Aber im Mutterlande der Industrie, in Amerika, sind industrielle Großbauten entstanden, deren ungekannte Majestät auch unsere besten deutschen Bauten dieser Gattung überragen. Die Getreidesilos von Kanada und Südamerika, die Kohlensilos der großen Eisenbahnlinien und die modernsten Werkhallen der nordamerikanischen Industrietrusts halten in ihrer monumentalen Gewalt des Eindrucks fast einen Vergleich mit den Bauten des alten Ägyptens aus. Sie tragen ein architektonisches Gesicht von solcher Bestimmtheit, dass dem Beschauer mit bezeugender Wucht der Sinn des Gehäuses eindeutig begreiflich wird. » Walter Gropius : « Die Entwicklung moderner Industriebaukunst », in : Die Kunst in Industrie und Handel, Jena 1913, S. 17–22, S. 22.

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510 Ebd., S. 17. 511 Ebd., S. 18f. 512 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 336. 513 Ebd., S. 388. 514 Henry-Russell Hitchcock : Architecture : Nineteenth and Twentieth Centuries, New Haven-London, 1977, S. 459. 515 Standford Anderson : Peter Behrens and a New Architecture for the Twentieth Century, Cambridge/MA 2002, S. 144. 516 Buddensieg 2002, S. 23. 517 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 318. 518 Anderson 2002, S. 138. 519 Bauwelt 1962, S. 885. 520 Ebd., S. 884f. 521 Auch der Platz vor dem New Yorker Seagram Building an der Fifth Avenue erhält Bedeutung durch Mies’ Hinwegsetzung über die Logik des grid – der so allerdings gerade gestärkt wird. 522 Leon Battista Alberti : Zehn Bücher über die Baukunst, Darmstadt 1991, S. 293. – Übersetzt von Max Theuer 1912. 523 Ebd., S. 492. 524 Ebd., S. 292. 525 Alexander Tzonis, Liane Lefaivre : Classical Architecture. The Poetics of Order, Cambridge/MA 1986, S. 278. 526 Ebd., S. 278. 527 Ebd., S. 276. 528 Georg und Dorothea Franck : Architektonische Qualität, München 2008, S. 54. 529 Zitiert nach Neumeyer 1986, S. 318. 530 « Die Idee des Verdienens musste / zur Isolierung führen. / Die Idee des Dienstes führt / zur Gemeinschaft. » (Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 356.) Jörg Gleiter spricht beim wohl bekanntesten Beispiel aus Mies’ Formen-Repertoire, den Doppel-T-Profilen, vom « Erscheinen des Ornaments in der Konstruktion ». (Jörg H. Gleiter : Rückkehr des Verdrängten. Zur kritischen Theorie des Ornaments in der architektonischen Moderne, Weimar 2002, S. 214.) 531 Ebd., S. 226. 532 Sprach Adorno im Kontext von Loos und seiner Kritik an einem falsch verstandenen Funktionalismus vom Raumgefühl, er-

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gänzt er dies in der Ästhetischen Theorie um die Bedeutung des Ausdrucks von Kunstwerken : « Ästhetischer Ausdruck ist Vergegenständlichung des Ungegenständlichen, und zwar derart, dass es durch seine Vergegenständlichung zum zweiten Ungegenständlichen wird, zu dem, was aus dem Artefakt spricht, nicht als Imitation des Subjekts. [ …] Ausdrucksvoll ist Kunst, wo aus ihr, subjektiv vermittelt, ein Objektives spricht : Trauer, Energie, Sehnsucht. » Theodor W. Adorno : Ästhetische Theorie, Frankfurt/Main 1970, S. 170. – Hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. 533 Boullée 1979, S. 66–70, S. 67. 534 K. Michael Hays : « Die Erscheinung der Abstraktion », in : ARCH+ , Oktober 1968, S. 28–31, S. 28. 535 Robin Evans : « Mies van der Rohe’s Paradoxical Symmetries », in : ders. : Translations from Drawings to Buildings and Other Essays, Cambridge/MA -London 1997, S. 233276, S. 241. 536 Ebd., S. 246. Beim Promontory Apartment, 1949, das aus Gründen der Stahlkosten in Stahlbeton errichtet werden musste, ‹ springen › die Stützen zurück wie gotische Strebepfeiler : Sie verjüngen sich. 537 Neumeyer 1986, S. 298. 538 Zitiert nach : Peschken 1979, S. 32. 539 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 305. 540 Schwarz 1979, S. 66. 541 Ebd., S. 67. 542 Ebd., S. 18. 543 Ebd., S. 16. 544 Ebd., S. 17. 545 Ebd., S. 18. Die Landschaft im Garten 546 Vgl. Schulze 2012, S. 148. 547 « As Gropius remembered, his reaction to Meyer’s materialistic worldview – that ‹ all life is a striving after oxygen plus carbon plus sugar plus starch plus protein › – was direct : « Try stirring all that together : it stinks! » Ebd., S. 149.

548 Mies van der Rohe : « Leitgedanken zur Erziehung in der Baukunst », zitiert nach : Werner Blaser : Basel-Boston-Berlin 1997, S. 73–75, S. 73. 549 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 380. 550 Peter Hahn (Hrsg.) : bauhaus berlin, Berlin 1985, S. 17. 551 Hans-Joachim Dahms : « Mies van der Rohe und die Philosophie um 1930 », ARCH+ 161/2002, S. 52–57, S. 55 ; weiters : ders. : « Neue Sachlichkeit in der Architektur und Philosophie der zwanziger Jahre », in : ARCH+ 156/2001, S. 82–87. Vgl. zu weiteren Einflüssen : Neumeyer 1986, S. 130–146. 552 Helmuth Plessner : Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), Frankfurt/Main 1980, S. 91. – Gesammelte Schriften I I I . Anthropologie der Sinne. 553 Ebd., S. 94. 554 Vgl. Tegethoff 1981, S. 124–126. 555 Mies hatte vom Bürgermeister sein Gehalt bis März 1933 zugesichert bekommen und brachte aus seinem Privatvermögen 27.000 Reichsmark für die Miete des neuen Gebäudes auf. 556 Das nicht gebaute Haus Dexel, ein Projekt für Jena aus dem Jahr 1925, zeigt, dass Mies der Winkellösung schon früh Beachtung schenkt. Dort kommuniziert der große Wohnraum noch mit der Nische einer diagonal gegenüber liegenden Terrasse, während das dahinter liegende Atelier sich zur anderen Hausseite hin öffnet. Die wenigen Kohleskizzen am CCA in Montreal belegen die direkte Weiterentwicklung der 1920er-Entwürfe bis hin zu realen Bauprojekten – vor allem in der Gruppierung der Baukörper erinnert es an das Landhaus in Beton. Wie schon beim Maler Walter Dexel, den Mies durch seine Beteiligung an der Architekturausstellung im Jenaer Kunstverein kennenlernt, sind es Künstlerkreise, die ihm zu Aufträgen verhelfen. 557 Das Projekt firmiert unter dem Titel Studien für Häuser in den Bergen, um 1934. In der Retrospektive des New Yorker Museum of Modern Art im Jahr 1947 räumt ihm Mies

einen prominenten Platz ein. Auf Philip Johnson und Charles Eames machen hingegen eine Tusche-Zeichnung und eine Schnittskizze kleineren Formats, die im selben Konvolut verwahrt werden, größeren Eindruck. Vgl. Riley/Bergdoll 2001, S. 280. 558 Noack 2008, S. 161. 559 Die Aufrissskizze mit dem erwähnten gerahmten Blick zeigt die Elemente Stütze, Scheibe, raumhohe Glasscheibe und Dachplatte – wie beim Barcelona-Pavillon. 560 Heribert Sutter : « Haus Lemke, Berlin-Hohenschönhausen. Baugeschichte, Voruntersuchung und Instandsetzungskonzept », in : Cramer 2004, S. 115–128, S. 117. 561 Jörn Köppler : « Natur und Poetik in Mies van der Rohes Berliner Werken », in : Girot, Kirchengast 2011, S. 23–39. 562 Fuchs hatte Mies zwei Jahre zuvor mit der Errichtung des Denkmals für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht beauftragt. 563 Zitiert nach Girot, Kirchengast 2011, S. 32. 564 Im Oktober dieses Jahres wird es von der Roten Armee in Besitz genommen, danach – in der DDR – dient es der Staatssicherheit als Wäschedepot, Küche etc. Seit dem Jahr 1977 steht das Haus unter Denkmalschutz, seit 1990 ist es in kommunaler Trägerschaft des heutigen Bezirkes Berlin-Lichtenberg und als Museum geöffnet. 565 Es handelt sich also nicht um Stahlrohrmöbel, wie der Katalog der Firma Thonet insinuiert, für den das Haus 1933 als Fotomodell diente. Die Möbel des Nachlasses so wie eine kleine Kunst- und Uhrensammlung sind erhalten. Erstere befinden sich im Kunstgewerbemuseum Berlin. 566 Krohn 2014, S. 96. 567 Neumeyer 1986, S. 281. 568 Für Hintergründe vgl. Noack 2008, S. 38ff. – Zum Gartenplan : S. 183ff ; weiters : Kruse 1994, S. 82, S. 87ff. Von 2000 bis 2002 wurde der Garten nach dem Plan aus dem Büro Foerster rekonstruiert – ohne Untersuchung des Bestandes. Die bis dato erhaltenen Reste der Anlage gingen dabei verloren. 569 Ebd., S. 182.

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589 Die Philosophin Cornelia Klinger hat 570 Vgl. ebd., S. 182ff. die implizit angesprochenen Gruppen von 571 Ebd., S. 187f. Wita Noack meint weiters : « Der Gartenplan ist nur als eine Wertsphären vor dem Hintergrund der Sozialvorläufige Planungsstufe anzusehen, die von philosophie und Ästhetik durchforstet. Innerhalb der Modelle der « Ausdifferenzierung », Herta Hammerbacher nach der Arbeitswei« Kompensation » und « Korrespondenz », se des Büros in der Gestaltungsphase des Gartens weiterentwickelt wurde. Ebenso sind die sie entwickelt und kritisiert, wird die ästhetisch erlebte Gegenweltlichkeit selbst zu in ihm die eventuell von Mies oder vom Bauherrn gemachten Vorschläge nicht enthalten. » einem Wert. (Klinger 1995, S. 10.) Das Wohnen Ebd., S. 88 ; vgl. auch Bergdoll 2001, S. 103. indes, das Haus, sollte den Zusammenhang 572 Jeong-Hi Go : Herta Hammerbacher stiften in einer Welt, deren konfligierende (1900–1985). Virtuosin der neuen LandschaftAnsprüche Marshall Berman mustergültig lichkeit. Der Garten als Paradigma, S. 68. – gekennzeichnet hat : « To be modern is to find Dissertation, Berlin 2006. ourselves in an environment that promises 573 Zwischen Hammerbachers und Mies’ us adventure, power, joy, growth, transforAuffassung bestehen weitere Unterschiede : mation of ourselves and the world – and So wünscht sie, dass die Lage am Bauplatz at the same time, that threatens to destroy vom Landschaftsarchitekten festgelegt everything we have, everything we know, werden soll, der Garten sich zum begrünten everything we are. » (Marshall Berman : All That Is Solid Melts Into Air : The Experience Straßenzug öffnet – und schließlich stellt das of Modernity, New York 1982, S. 15.) Bauerngehöft ein direktes Vorbild für sie dar. Ebd., S. 85ff. Vgl. auch Kruse 1994, S. 85, S. 87ff. 590 Seel 1996, S. 223. 574 Go 2006, S. 89ff. 591 Ebd., S. 189. 575 Mader 1999, S. 102. 592 Ebd., S. 295. Klinger schließt aus ande576 « An dem nicht aufeinander abgestimren Zusammenhängen, was daraus folgen könnte : « Folglich stellen sich die Fragen mten Entwurfsprozess und an der Uneinnach Einheit, Ganzheit und Sinn nicht mehr heitlichkeit von Haus- und Gartenplan – die traditionell als Frage nach etwas, was aus zwei verschiedenen Welten zu stammen Mensch und Gesellschaft (vor)gegeben ist scheinen – lässt sich ablesen, wie weit Mies’ und was es zu entdecken und zu erkennen und Foersters Gartengestaltungen sich in 15 Jahren auseinander entwickelt haben. » gilt, sondern als etwas, das durch die GesellBergdoll 2001, S. 103. schaft bestimmt und geschaffen werden kann, aber eben auch geschaffen werden muss. » 577 Go 2006, S. 99. Klinger 1995, S. 59. 578 Ebd., Kapitel 2. 579 Vgl. ebd., S. 59. 593 Seel 1996, S. 212f. 580 Ebd., S. 58 ; vgl. auch : Herta Hammer594 Ebd., S. 222. – FN 31. bacher : « Die Hausgärten » (Einführung), in : 595 Der Zusammenhang von Raum und Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin Erfahrung birgt immer wieder die Mög(Hrsg.) : Berlin und seine Bauten, Teil 4, Bd. C, lichkeit, Praxis und Theorie aneinander zu vermitteln : Auch Seel spricht von den Berlin 1972, S. 293–302. unterschiedlichen Graden, in der Natur vom 581 Ebd., S. 295. 582 Ebd., S. 66f. Menschen beeinflusst ist – oder eben nicht. 583 Vgl. Corbusier 2001, S. 133. Er definiert, « dass umfassende Naturschön584 Ebd., S. 130. heit nur dort möglich ist, wo Natur ein vom 585 Ebd., S. 132f. Menschen wenn nicht ungestalteter, so doch unveranstalteter Lebenszusammenhang ist. » 586 Noack 2008., S. 167. Ebd., S. 216. 587 Ritter 2003, S. 358. 588 Ebd., S. 407. 596 Ebd., S. 332.

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597 Vgl. Almuth Spelberg : Gartendenkmalpflegerische Bearbeitung der Gärten Haus Lange/Haus Esters, Krefeld 1992, S. 17f. 598 Aufgrund erhaltener Rechnungen geht sie davon aus, er wurde von der Gartenbaufirma Franz Bosseljoon angelegt, die ihn noch in der Nachkriegszeit pflegen wird. Ebd., S. 20. 599 Ursprünglich war der Garten des westlich gelegenen Hauses Lange breiter. Beide Gärten aber folgen demselben Grundmuster einer auf die Hausbreite in die volle Grundstückstiefe ausgestreckten, zentralen, von Bäumen umstandenen Wiesenfläche. Zweifellos hätte das Heranrücken an die Wilhelmshofallee diese Wirkung verstärkt : Die Bebauungsrichtlinien lassen dies nicht zu. Vom 10 Meter breiteren Langeschen Garten scheidet Mies daher eine – heute nicht mehr dazugehörige – Raumschicht ab und gestaltet sie als eigenen, durch dichte Vegetation verborgenen Gartenbereich entlang der heutigen, westlichen Grundstücksgrenze. Hinter der räumlichen Einschnürung durch die beiden Kastanien und vortretenden Baumgruppen entwickelt er eine weitere Achse im rechten Winkel auf die Hauptachse. Dies hat seine Grundintention nicht gestört und doch den zusätzlichen Gartenraum vom hinteren Teil der Wiese aus in den Blick eines Gartenspaziergängers gerückt. Beim Garten Esters steht im östlichen Gartenbereich das bereits vorhandene Sommerhaus. 600 Ebd., S. 21. 601 Sind vom Garten Lange auch keine Pläne überliefert, ist die räumliche Disposition des Gartens doch identisch und nur die Terrassengestaltung komplexer. 602 Ebd., S. 56. 603 Meyer 2010, S. 100. 604 Kruse 1994, S. 69. 605 Hunt 2000, S. 51. Die wichtigsten Mittel hierfür in Krefeld sind – nochmals – die Einführung einer trennenden Topografie (Plattform, Terrasse, Sockel) als architektonischer Vorbereich im Freien ; die Verstärkung des Altbaumbestands im Sinne eines landschaftlichen Parks dient zur Rahmung der Ferne und

zur Artikulation einer Wiesenfläche : Dem Aufenthalt in Hausnähe korrespondiert ein landschaftlicher Hintergrund. 606 Kent Kleinman, Leslie Van Duzer : Mies van der Rohe. The Krefeld Villas, New York 2005, S. 108f. 607 Tegethoff 1981, S. 63. 608 Kleinman 2005, S. 110. 609 Ebd., S. 112. 610 Walter Riezler : « Das Haus Tugendhat in Brünn », in : Die Form, 9/1931, S. 321–332, S. 327. 611 Bergdoll spricht auch vom « schattenlosen Licht » im Stiegenhaus, das er erstmals auf der Bauausstellung erreicht habe. Bergdoll 2001, S. 94f. 612 Museum der Stadt Brünn : Tugendhat. Ludwig Mies van der Rohes Realisation in Brünn, Brünn 2011, S. 5. 613 Es liegen heute jene Darstellungen und Konstruktionspläne vor, die immerhin die Restaurierung des Hauses erleichterten, in die frühen entwerferischen Überlegungen des Architekten indes wenig Einblick zulassen. Vgl. Tegethoff 1981, S. 90. 614 Grete Tugendhat : « Zum Bau des Hauses Tugendhat », in : Daniela HammerTugendhat, Wolf Tegethoff : Ludwig Mies van der Rohe. Das Haus Tugendhat, Wien-New York 1998, S. 4–9. – Vortrag vom 17. Jänner 1969, Mährisches Museum Brünn ; Erstabdruck : Bauwelt 36/1969. 615 Ebd., S. 100. 616 Riezler 1931, passim. 617 « Die Bewohner des Hauses Tugendhat äußern sich », in : Die Form, 11/1931, S. 437–439, S. 438. 618 Riezler 1931, S. 324. 619 « Zweckhaftigkeit und geistige Haltung. Eine Diskussion zwischen Roger Ginsburger und Walter Riezler », in : Die Form, 11/1931, S. 431–437, S. 437. 620 Le Corbusier : « Wo beginnt Architektur? », in : Die Form, 7/1929, S. 180f., S. 181. 621 Riezler 1931, S. 326. 622 Ebd., S. 332. 623 Ebd., S. 328. 624 Ginsburger/Riezler, S. 434.

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625 « Vor allem aber hatten wir aus der Art, Dort findet sich auch das Arbeitsverhältnis in folgendem Wortlaut wieder : « Sie projektierte wie er über sein Bauen sprach, das Gefühl, den Garten unter seiner Leitung. » Ebd., S. 191. einem wirklichen Künstler gegenüberzuste638 Im Zuge der Gesamtsanierung 2010 hen. » Tugendhat 1931, S. 5. 626 Premysl Krejcirík, Kamila Krejciríková : bis 2012 wurde auch der Garten im ursprünglichen Sinn restauriert. « The Garden. The Buildings Natural Setting », 639 Justus Bier : « Kann man im Haus in : Iveta Cerná, Dagmar Cernoušková Tugendhat wohnen? », in : Die Form 10/1931, (Hrsg.) : Mies in Brno. The Tugendhat House, S. 392–394, S. 393. – Abgedruckt in der « RundBrünn 2013, S. 100–117, S. 106. – Baumbestand. schau » der Ausgabe. 627 In Roder-Müllers Plan ist das Garten640 Grete Tugendhat 1931, S. 437. häuschen, das in Mies’ Plänen noch ins 641 Ebd. Grete Tugendhat äußert sich Wegenetz eingebunden wurde, nicht mehr 1934 über die Zusammenarbeit zwischen vorhanden. Architekt und Bauherr. Vgl. Grete Tugendhat : 628 Ebd., S. 107. 629 Es ist bezeichnend, dass die kostbaren « Architekt und Bauherr », in : HammerTugendhat 1998, S. 38f. Paneele dieser Ess-Nische zur Vertäfelung 642 Ebd., S. 29. des Gestapo-Hauptquartiers dienten, von wo 643 Vgl. Gerhard Schreiber, Heiko Schulz : aus sie später wieder an ihren angestammten Kritische Theologie. Paul Tillich in Frankfurt Ort zurückgekehrt sind : Am 4. Oktober 1939 (1929–1933), Berlin 2015, S. 344–348. Es war wird das Haus von der Gestapo beschlagTillich, der im Jahr 1931 Adornos Habilitation nahmt, die Holzwand bald abgetragen ; die Mitglieder der Familie Tugendhat treten 1938 – ermöglichte und eine Professur für Philosophie und Soziologie an der Universität Franknur zehn Jahre nach Baubeginn – nacheinander ihre Flucht an und werden nie wieder furt während der Etablierung des Instituts für Sozialforschung bekleidete. hier wohnen. 644 Paul Tillich : « Kult und Form, Die 630 Hammer-Tugendhat 1998, S. 5. Form, 23–24/1930, S. 578–583, S. 580f. 631 Schulze 2012, S. 3f. 645 Ebd., S. 582. 632 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 380. 646 Vgl. Lewis Mumford : « ‹ Modern › als 633 Hammer-Tugendhat 1998, S. 6. Handelsware », in : Die Form, 5/1930, S. 222f. 634 Es bleibt Spekulation, ob die Idee 647 Walter Riezler : « Einheit der Welt. Ein einer organischen Ordnung mit Mies’ VorGespräch », in : Die Form, 8/1927, S. 236–248, liebe für Naturbaustoffe und diese mit der S. 246. Idee der Struktur verbunden werden kann : 648 Ebd., S. 247. Sie wiesen eine innere Struktur auf, die der 649 Grete Tugendhat 1931, S. 436. Mensch nur freilegen, nicht aber herstellen 650 Hammer-Tugendhat 1998, S. 5. könnte. Erst aber durch sein ‹ Offenlegen › wird diese Ordnung sichtbar. Lebendige Konkretheit 635 Bergdoll 2001, S. 95. 636 Vgl. Kenneth Frampton : « In Search 651 Es soll eine kurze Beschreibung der of the Modern Landscape« , in : Stuart Wrede, technischen Anlage wiedergegeben werden, William Howard Adams (Hrsg.) : Denatured Visions. Landscape and Culture in the Twenti- um die einfache Komplexität einer frühen Klimaanlage nachvollziehbar zu machen. Der eth Century, New York 1981, S. 42–61, S. 45, Text stammt aus einem Katalog des Museums, S. 46. zu dem das Haus heute geworden ist : « Links, 637 Aufzeichnung eines Gesprächs im Argegenüber dem Eingang zum Erdgeschoß boretum der Hochschule für Landwirtschaft des Hauses, befindet sich die Klimaanlage. Brünn vom 1. April 1969, abgedruckt in deutSie ist in vier kleine Kammern aufgeteilt. scher Übersetzung in Kruse 1994, S. 191–193.

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Die klimatisierte Luft wird zum Hauptwohnbereich geführt. [In den privaten Räumen des Eingangsgeschoßes wurden Röhrenheizkörper installiert.] In der ersten Kammer wird die Luft durch Besprühung von salzhaltigen Steinen, die am Boden der Kammer liegen, mit Wasser aus Sprühdosen gekühlt und befeuchtet. Mit Hilfe einer einfachen und zugleich effizienten mechanischen Steuereinheit (einem System beweglicher Klappen) kann man nicht nur die von Außen eingesaugte Luft mit befeuchteter und erwärmter Luft mischen, sondern kann auch die Menge, die Qualität und die Umlaufgeschwindigkeit der Luft beeinflussen. Aus der Mischkammer wird Luft zum Ölfilter gesaugt. Als Medium zur Filterung der Verunreinigungen der Luft nutzt man Zedernöl. Der Filter ist mit einem Uhrwerk ausgestattet und rotiert nach festen Intervallen. Vom Ölfilter führte die Luft durch eine Filterpatrone aus Holzspänen. Dieser Schritt der Luftbearbeitung hatte das Ziel, eventuelle Ölreste aus der Luft abzuscheiden. Die so vorbereitete Luft wird nach Bedarf durch zwei Wärmetauscher erwärmt und dann mit einem Ventilator in die Leitung gedrückt. » Museum der Stadt Brünn 2011, S. 44. 652 Frampton 1993, S. 194. 653 Krohn 2014, S. 83. 654 Bergdoll 2001, S. 93. 655 Hammer-Tugendhat 1998, S. 31f. 656 Zur Begegnung der beiden vgl. Neumeyer 1986, S. 248. 657 Ebd., S. 250. 658 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 318. 659 Vgl. ebd., S. 250ff. ; Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz : Romano Guardini. Konturen des Lebens und Spuren des Denkens, Ostfildern 2010, S. 183. 660 Romano Guardini : Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des LebendigKonkreten, Darmstadt 1985, S. 273. 661 Gerl-Falkovitz 2010, S. 184. 662 Ludwig Mies van der Rohe : « Vorwort » (1944), zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 387. 663 Kurt Flasch : Nikolaus von Kues in seiner Zeit. Ein Essay, Stuttgart 2012, S. 89.

664 Vgl. in diesem Zusammenhang die Rolle der Vernunft in Aurelius Augustinus’ Schrift Die Ordnung  – vor allem das « vierte Gespräch» . Aurelius Augustinus : Die Ordnung, Paderborn 1947, S. 54–86. 665 Vgl. Nicolai de Cusa : De beryllo. Über den Beryll, Hamburg 1987, S. VI I–XI I I . 666 Ebd., S. 318. 667 Nicolai de Cusa : De docta ignorantia. Die belehrte Unwissenheit, Buch 1, Hamburg 1994, S. 83f. 668 Cusa 1987, S. 87. 669 Ebd., S. 85. 670 Zu Beginn, im achten Kapitel des beryllo, wird nach einigen Präliminarien deutlicher, was für den unkundigen und vielfach ungläubigen heutigen Leser wie eine kryptische Formel klingen muss, die es jedoch bereits den bayrischen Mönchen nicht einfach gemacht haben dürfte : « Betrachte ein Rätselbild dieser unserer Kunst und nimm einen Halm zur Hand und knicke ihn in der Mitte, und der Halm sei a b und die Mitte c. Ich sage, dass der Ursprung der Fläche und des Flächenwinkels die Linie ist. Der Halm soll also eine Linie darstellen und über dem Punkt c geknickt werden, c b sei beweglich und soll gegen c a hin bewegt werden. In dieser Bewegung verursacht c b mit c a alle gestaltbaren Winkel. Niemals aber wird irgendeiner so spitz sein, dass er nicht noch spitzer sein könnte, solange bis c b mit c a vereinigt wird, und keiner wird so stumpf sein, dass er nicht noch stumpfer sein könnte, solange bis c b mit c a eine ununterbrochene Linie sein wird. Wenn du also durch den Beryll den zugleich größten und kleinsten gestaltbaren Winkel siehst, wird der Blick nicht in irgendeinem Winkel begrenzt werden, sondern in der einfachen Linie, die Ursprung der Winkel ist. Sie ist Ursprung der Flächenwinkel, unteilbar für jede Weise der Teilung, durch die die Winkel teilbar sind. Wie du also siehst, so sollst du durch den Spiegel im Rätselbild den eingeschränkten ersten Ursprung sehen. » Ebd., S. 11. 671 Cicero : De natura deorum, Stuttgart 1995, 2, 37.

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672 ‹ Contemplari › bedeutete ursprünglich das Beobachten des Vogelflugs zur Weissagung durch die Auguren. Eine interessante Koinzidenz : Mit dem Substantiv templum war im römischen Auguralwesen sowohl ein bestimmter Himmelsausschnitt wie auch das Gebäude des Aufenthalts während der Beobachtung des Vogelflugs bezeichnet. Der geweihte Bezirk steht mit der Schau und dem ihr zugrunde liegenden Naturvorgang bedeutungsvoll in Verbindung, von diesem besonderen Ort leitet sich das Wort Tempel her. 673 Im Beryll heißt es wörtlich : « Iuxta intellectualem visionem, quae excedit rationis vigorem, concludere. » Cusa 1987, S. 2. 674 Zu den philosophischen Feinheiten und der stärkeren Hinwendung zur Sinnenwelt innerhalb der Entfaltung der Gegensatzlehre : Kurt Flasch : Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung, Frankfurt/Main 2008, S. 153–164. 675 Flasch 2008, S. 163. 676 Kant 1974, S. 132. 677 Kants Terminus bezieht sich auf die Grundlage ästhetischer Erfahrung : Ein Vermögen, das – wie es umständlich heißt – « durch Verstand und Sinne in Verbindung zu urteilen bestimmt ist ». Ebd., S. 134. 678 « Der positive Wert, den Petrarca der mittelalterlichen Wissenschaft entgegensetzte, war weder ein neues Wissenschaftsverständnis noch einfach religiöser Glaube, sondern das Studium der klassischen Antike, eine Aufgabe, der er sich seit seiner frühen Jugend mit großem Enthusiasmus gewidmet hatte. Petrarca war sein ganzes Leben lang ein unersättlicher und aufmerksamer Leser der antiken lateinischen Autoren. » Paul Oskar Kristeller : « Petrarca », in : ders. : Acht Philosophen der italienischen Renaissance (1986), Weinheim 1986, S. 1–15, S. 6. 679 Ebd., S. 11. 680 Ebd., S. 12. 681 Ebd., S. 11. 682 Auch mit seinem zeitweiligen Rückzug aus der Welt in seine Klause nordöstlich von Avignon folgt Petrarca antiken Vorbil-

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dern. Den literarischen Topos des stadtflüchtigen Städters, der die Zurückgebliebenen als seine Leser adressiert, hat bereits Horaz bedient. (Horaz : Epistulae, Sämtliche Werke, Bd. 3, München 1964, S. 165, Ep. I 10.) Und so empört er sich in der Vita solitaria wie einst der antike Schriftsteller in einem Brief an den Städter Fuscus über die geschäftstüchtigen, innerlich unruhigen Mitbürger, deren zweifelhafte Charaktere er vom Land aus klarer zu zeichnen meint. Schon für die Antike ist das Land ein Gegenpol zur Stadt, die folgende Klage könnte aus der Gegenwart stammen : « Der vielbeschäftigte, unglückliche Stadtbewohner steht mitten in der Nacht auf, von seinen Sorgen oder den Stimmen der Klienten aus dem Schlaf gerissen ; oft auch aus Angst vor dem kommenden Tag, oft von nächtlichen Gesichtern aufgeschreckt. Bald zwingt er seinen Leib auf einen unbequemen Stuhl und seinen Geist zu Betrügereien : Damit ist er ganz beschäftigt, entweder rechnet er Warenpreise aus, oder er überlegt, wie er seinen Geschäftspartner oder sein Mündel hereinlegen, wie er durch Schmeicheleien die mit Keuschheit gewappnete Ehefrau des Nachbarn erobern, wie er durch Worte einem ungerechtfertigten Streit den Schein von Recht verleihen, wie er den Staat oder einen Privatmann schädigen kann. » Francesco Petrarca : Das einsame Leben, Stuttgart 2004, S. 62. 683 Vgl. zu den allgemeinen biografischen Angaben das « Vorwort » von Franz Josef Wetz, in : ebd., S. 7–50, S. 26. 684 Schon die Eltern des in 1304 in Arezzo bei Florenz Geborenen müssen als Papsttreue mit dem achtjährigen Knaben aus ihrer Heimatstadt fliehen und lassen sich in Avignon nieder – so wie die sieben Päpste der Jahre 1309 bis 1377. In Montpellier wird der Zwölfjährige das Studium der Rechtswissenschaften aufnehmen, es mit Unterbrechungen in Bologna fortsetzen, um es nach dem Tod des Vaters endgültig abzubrechen und nach Avignon zurückzukehren. Nahe Fontaine de Vaucluse verweilt er ab 1337 sechs Jahre, dann, ab 1346, wieder für ein Jahr, für

zwei weitere ab 1351. Dazwischen hält er sich etwa in den Städten Verona, Parma, Treviso, Ferrara, Capri, Mantua, Mailand, Venedig, Padua und Pavia auf, findet in letzteren neue Wohnsitze, muss aber vor der Pest fliehen. 1374 stirbt er schließlich in Arquà bei Padua. Petrarca wird sein Landhaus in der Provence immer wieder und schließlich endgültig zurücklassen : Er führt ein rastloses Leben. 685 Vgl. Mircea Eliade : Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 1957, S. 13f. 686 « Die Irrfahrten des Odysseus vergleiche nur mit den meinigen : Wahrhaft, wenn die Berühmtheit des Namens und der Taten gleich wäre, so wäre jener nicht länger noch weiter umhergeirrt. » So Petrarca im ersten Brief seiner Familiares; zitiert nach : Karlheinz Stierle : Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, München-Wien 2003, S. 325. 687 Dante : Die Göttliche Komödie, Hölle, XXVI . Gesang, Mannheim 2012, S. 118. 688 Francesco Petrarca : Die Besteigung des Mont Ventoux, Frankfurt/Main-Leipzig 1996, S. 11. 689 Zur umfangreichen, auch internationalen Rezeption des Briefes vgl. Stierle 2003, S. 868. – FN 56. 690 Burckhardt 1998, S. 321. 691 « Mit Verwunderung vermisse ich dagegen allen Ausdruck von Naturgefühl in den Briefen des Petrarca [ …]. Er lebte in den klassischen Erinnerungen an Cicero und die römischen Dichter oder in den begeisternden Anregungen seiner asketischen Schwermut, als in der ihn umgebenen Natur. [ …] Nur die Beschreibung eines großen Sturmes, den Petrarca in Neapel 1343 beobachtete [ …] ist überaus malerisch. » Humboldt 2004, S. 214. 692 Petrarca 1996, S. 27. 693 Ebd., S. 30. 694 Ebd., S. 20. 695 Ebd., S. 22. 696 Ebd., S. 30. 697 «Wenn [ …] die Welt als Landschaft in Petrarcas vielgestaltigem Werk allgegenwärtig ist, so gibt es bei Petrarca doch kein

anderes literarisches Zeugnis, das in solcher Verdichtung und Komplexität, aber zugleich in so intensiv durchgehaltener Spannung der Reflexion den Akt der Weltentdeckung in grundsätzliche Bedeutsamkeit hebt. » Stierle 2003, S. 318. 698 Wilhelm von Ockham : Summa Logicae, in : ders. : Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, Stuttgart 1996, S. 71. 699 Ebd., S. 71ff. 700 Stierle 2003, S. 156. 701 Ebd., S. 165. 702 Ebd., S. 308f. 703 « Doch setzt diese Wahrnehmung des vereinzelten Blicks jene radikale Vereinzelung in der Sorge um sich selbst voraus, die allererst durch die christliche Religion in die Welt gekommen ist. » Ebd., S. 296f. 704 Vgl. Paolo Rossi : Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa, München 1997, S. 19. 705 Stierle 2003, S. 331. 706 Petrarca 1996, S. 11. 707 Vgl. Giuseppe Billanovich : « Petrarca und der Ventoux », in : August Buck (Hrsg.) : Petrarca, Darmstadt 1976, S. 444–463. In akribischer Rekonstruktion stellt Billanovich fest, der Brief, den er als « vollkommensten » der Familiares bezeichnet, müsse von einem Fünfzigjährigen verfasst worden sein. Die « religiöse Rhetorik » und Datierung aber ist eng verbunden mit dessen Allegorisierung als Bekehrungserlebnis, wie es Augustinus in seinem 33. Lebensjahr hatte. Vgl. Aurelius Augustinus : Bekenntnisse, Buch VIII, Stuttgart 2003. 708 Diese Allegorisierung des Ereignisses regt Petrarca selbst an, der sich ob der Mühen des Aufstiegs mit Ovid Mut macht, um den Gipfel zu erreichen, ihn mit den Bewegungen der Seele analogisiert : Weltliche und geistige Erkenntnis sind in dieser Stelle klar aneinander gebunden. Vgl. Petrarca 1996, S. 18f. 709 Ebd., S. 30. 710 Nur der jüngere Bruder Gherardo – der sich Jahre später in die Kartause von Montrieux als Mönch zurückzieht – steht mit

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geöffnetem Munde und offenen Ohren da, während Petrarca liest und seinen Blick auf die Worte des mahnenden Augustinus haftet – er weiterhin sieht. Die Privilegierung des Sehsinns im 18. Jahrhundert hat mit seiner Aufwertung zu tun, die George Berkeley – sozusagen ein Zwischenglied zwischen der empirischen Erkenntnistheorie Lockes und dem Skeptizismus Humes – im Einklang mit der Aufwertung des geistigen Gehalts des Gesehenen unternimmt. Im Jahr 1709 betont er mit seiner New Theory of Vision den Sehsinn etwa gegenüber dem Tastsinn, indem er Sehen als komplexen Wahrnehmungsvorgang begreift – das Auges ist ja bekanntermaßen Teil des Gehirns – und den Topos des Fensters zur Seele erneuert. Das Sehen verbinde das Gesehene mit Vorstellungen und Anregungen, die im Menschen liegen. Auch dieses Sehvermögen geht auf die Renaissance zurück. Für Leonardo da Vinci, der sich diesem Thema künstlerisch wie medizinisch zuwendet, ist das Sehen, wie sein Biograf Martin Kemp festhält, mit « Etwas-betrachten » und « Etwas-verstehen », daher der doppelten Bedeutung des italienischen Wortes verbunden : vedere, das bedeutet auch « gewahr werden », einer Sache « begegnen » : « Das Auge, das als das Fenster der Seele bezeichnet wird, ist das primäre Instrument [ …] des Gehirns die unendlichen Werke der Natur am vollständigsten und prächtigsten zu betrachten », heißt es bei Leonardo – das Auge ist eben kein fotografischer Apparat. (Martin Kemp : Leonardo, München 2005, S. 67f.) Martin Kemp beschreibt die Leonardos Traktat ebenfalls implizite Verknüpfung von Verstand und Phantasie : « Die Methode, rationale Verfahren mit der phantasievollen Entwicklung einer neuen Szene zu verbinden, stellte eine innige Einheit zwischen ‹ invenzione › und ‹ scienza › her. » (Ebd., S. 69.) Der moderne ästhetische Blick aus dem Fenster in die Landschaft steht in dieser Traditionslinie. 711 Augustinus 2003, S. 251. 712 Vgl. Petrarca 1996, S. 26f. und S. 34f. 713 Kristeller bedient sich für die Vorreiterrolle Petrarcas ebenfalls der Metapher

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des Blickens und meint, er « hat nicht nur spätere Entwicklungen der Renaissance vorweggenommen, weil er außergewöhnlich begabt und weitblickend war, er hatte auch einen aktiven Anteil an ihrer Entstehung dank der gewaltigen Anerkennung, die er bei Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolgern genoss. Wie die meisten philosophischen (und politischen) Propheten war er einer von denen, die die Zukunft voraussahen, weil sie halfen, sie in die Wege zu leiten. » Kristeller 1986, S. 15. 714 Augustinus 2003, S. 270. 715 Vgl. Stierle : « Das heißt nicht, das Drinnen könnte das Draußen ersetzen. Im Gegenteil, es bedarf der sinnlichen Anschauung und Erfahrung, um den dunklen Abgrund des Innenraums in die Vorstellbarkeit heben zu können und um seine Leere mit der unermesslichen Zahl der Bilder zu füllen. » Stierle 2003, S. 338f. 716 Und so vergleicht der Wissenschaftshistoriker Lynn Thorndike die Neuartigkeit des ästhetischen Naturgefühls bei Petrarca mit der Erfahrung des Pariser Gelehrten Jean Buridan, der denselben Berg schon einige Jahre zuvor, zwischen 1316 und 1334, bestiegen haben soll ; allerdings um meterologische Betrachtungen anzustellen – und dies ist entscheidend. Der wissenschaftliche Erkenntnis zutage fördernde Blick des Meteorologen ist entschieden nicht der reflexive Blick von Petrarcas ‹ Augenlust ›. Auch Kristeller kommt darauf zu sprechen und führt das entscheidende Argument an : « Originalität besteht nicht allein in dem, was einer tut, sondern auch in der Art, wie er es tut, und in dem, was er sich dabei denkt. Buridan und Petrarca bestiegen denselben Berg, aber in verschiedener Geisteshaltung. Buridan wollte meteorologische Beobachtungen anstellen, und somit kann man in ihm einen Vorläufer moderner wissenschaftlicher Forscher sehen. Petrarca andererseits ging nur, um den weiten Ausblick zu sehen und zu genießen. » Kristeller 1986, S. 11f. 717 Joseph Hanimann : Vom Schweren, München-Wien 1999, S. 45.

718 Romano Guardini : Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des LebendigKonkreten (1955), Darmstadt 1985, S. 16. 719 Romano Guardini : Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung, Main und Paderborn 1995, S. 36. 720 Guardini 1985, S. 15. 721 Ebd., S. 16. 722 Ebd., S. 19. 723 Ebd., S. 21ff. 724 Ludwig Mies van der Rohe : « Schön und praktisch bauen? Schluss mit der kalten Zweckmäßigkeit », zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 370. – Erstmals veröffentlicht in : Duisburger General Anzeiger, 49. Jg., Jänner 1930, S. 2. 725 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 341. 726 « Was Kultur ihrem feinsten Sinne nach heißt, trat mir entgegen, voll Wohllaut. Die Linien der Dächer fügten sich in vielfacher Führung zu klarer Einheit ; ihr Zug lief durch das ganze Städtchen, wie es auf einem Berge saß, oder durch die Schwingungen eines Tales hingelagert war, mannigfach gegliedert, und gipfelte schließlich im starken Höhenton des Glockenturms. » Romano Guardini : Briefe vom Comer See, Mainz 1927, S. 11f. 727 Ebd., S. 13. 728 Ebd., S. 16. 729 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 340. 730 Schiller in seinen Briefen : « Dort in den fröhlichen Verhältnissen, und in der gesegneten Zone, wo nur die Tätigkeit zum Genusse und nur der Genuss zur Tätigkeit führt, wo aus dem Leben selbst die heilige Ordnung quillt, und aus dem Gesetz der Ordnung sich nur Leben entwickelt, – wo die Einbildungskraft der Wirklichkeit ewig entflieht, und dennoch von der Einfalt der Natur nie verirret – hier allein werden sich Sinne und Geist, empfangende und bildende Kraft in dem glücklichen Gleichmaß entwickeln, welches die Seele der Schönheit, und die Bedingung der Menschheit ist. » Schiller 2004, S. 107. 731 Gerl-Falkovitz 2010, S. 176. 732 Ebd., S. 175. 733 Guardini 1995, S. 41.

734 Guardini 1927, S. 27. 735 Ebd., S. 18. 736 Ebd., S. 26. 737 Ebd., S. 26ff. 738 Ebd., S. 30. Im vierten Brief bezieht er diese Entwicklung auf das Gegensatzpaar bewusst/unbewusst, um die Notwendigkeit des Unbewussten für die Rationalität darzulegen ; damit aber ist bereits der Zusammenfall der Gegensätze im modernen Bewusstsein gegeben : « Das Leben braucht den Schutz der Unbewusstheit. » (Ebd., S. 39.) Er findet hierfür ein schönes Symbol aus der Pflanzenwelt : « Die Pflanze kann nur wachsen, wo ihre Wurzeln im Dunkeln sitzen. Nur aus dem Dunklen heraus kann sie ins Helle wachsen. » (Ebd., S. 40.) 739 Ebd., S. 31. 740 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 342. 741 Vgl. Schulze 2012, S. 313. 742 Werner Blaser, Mies van der Rohe, Furniture and Interiors, Stuttgart 1980, S. 10. 743 Ludwig Mies van der Rohe : « Autobahnen als baukünstlerisches Problem », zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 377. – Erstmals veröffentlicht in : Die Autobahn, 5/1932. 744 « Kann Leben lebendig bleiben in diesem System? » Guardini 1927, S. 59. 745 Ebd., S. 75. 746 Ebd., S. 76. 747 Ebd., S. 77. 748 Vgl. ebd., S. 77ff. 749 Rüdiger Bubner : Ästhetischer Erfahrung, Frankfurt/Main 1989, S. 53. 750 « Genau betrachtet hatte Kant Anschauung nur negativ fassen können als Angewiesenheit der Erkenntnis auf unverfügbares Material, das gegeben sein muss, bevor der Begriff sein Werk tut. Die sinnliche Anschauung ist also diejenige Seite der Erkenntnis, die der Nicht-Identität von Subjekt und Objekt Rechnung trägt. Ihr entspricht die Annahme eines Dinges an sich als eines Grenzbegriffes, den wir setzten, um ihn nicht zu überschreiten. Das erkenntnistragende Eigenrecht des Objekts kann dem Erkenntnisanspruch des Subjekts nur so geltend gemacht werden, dass das Subjekt sich selber

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einschränkt. Anschauung wird dann zur Formel der Selbstbeschränkung des Subjekts. » Ebd., S. 54. 751 Ebd., S. 62. 752 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 363. 753 Guardini 1927, S. 17. 754 Ebd., S. 17f. « Spürst Du, welch wundervolle Kulturtatsache darin liegt, wenn der Mensch mit gebogenem und gefugtem Holz und gespannter Leinwand Herr wird über Wasser und Wind? Bis ins Geblüt hinein habe ich die Schöpfung gefühlt ; das Ur-Werk des Menschenschaffens. Ganz gesättigt von Geist, diese vollkommen durchbildete Bewegung, in welcher der Mensch die Naturgewalt bewältigt! Gewiss, er hat sie bereits mit seiner Entfernung bezahlt. » 755 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 330. 756 Guardini bringt hierzu ein konkretes Beispiel, die Villa Pliniana – wohl nicht nur, um in seinen Gedanken anschaulicher zu werden, sondern das Maß als erlebtes Maß darzustellen. Vgl. ebd., S. 78. 757 Abgedruckt in : Tegethoff 1981, S. 115. 758 Zitiert nach : Riley 2001, S. 268. 759 Zitiert nach : Tegethoff 1981, S. 115f. 760 Die Wichtigkeit der ästhetischen Erfahrung, in der diese räumliche Beziehungen erst wirksam würde, betont Wolf Tegethoff : « Zwischen Subjekt (Betrachter) und Objekt (Natur) schiebt sich ein architektonischer Rahmen, tritt hier der Architekt in seiner Funktion als gestaltender Künstler. » Tegethoff 1981, S. 117. 761 Ebd., S. 115f. 762 Ebd., S. 116. 763 Ludwig Mies van der Rohe : « Was wäre Beton, was Stahl ohne Spiegelglas », zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 378. – Erstmals veröffentlicht im Prospekt des Vereins Deutscher Spiegelglas-Fabriken 1933. 764 Vgl. Riley 2001, S. 288. 765 Ludwig Mies van der Rohe : « Haus H. Magdeburg », in : Neumeyer 1986, S. 378. – Erstmals veröffentlicht in : Die Schildgenossen, 6/1935. 766 « Architecture ist not reabsorbed by nature ; it does not camouflage itself as

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nature nor imitate its processes. Its spaces are simply identical with those of natural landscape. The materialization of modern industry, and modern social organization – in this case of the home – is as natural as the landscape of which it is part. » Robert Levit : « Afterword : The Persistence of the Picturesque », in : Charles Waldheim : Hilberseimer – Mies van der Rohe. Lafayette Park Detroit, München-Berlin-London-New York 2004, S. 135–141, S. 136f. 767 Ebd., S. 139. 768 Mies charakterisiert den Bauplatz als « breit gelagerten, kahlen Kegel, der die Landschaft weithin beherrscht und von dem von Süden über Westen nach Norden der Blick über eine weite offene Landschaft schweift. » Tegethoff 1981, S. 107. 769 « Es geht um den Ort », Christiane Lange im Gespräch mit Alexander Schwarz, Berlin, 12. Mai 2014, abgedruckt in : Christiane Lange, Robbrecht en Daem architecten (Hrsg.) : Mies 1 :  1. Ludwig Mies van der Rohe. Das Golfclub Projekt, Köln 2014, S. 193–201, S. 195. 770 Die siebenminütige Video-Installation Nothing to retain von Julia Weissenberg aus dem Jahr 2014 hält diese Erfahrung künstlerisch lebendig und vermittelt, unterstützt durch Klang, diese beinahe geisterhafte Verwandlung. 771 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 340349. 772 Ludwig Mies van der Rohe : « Vermischtes – Notizen und Vorträge », zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 390–392, S. 392. 773 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 334. 774 Herbert Gericke entscheidet sich dafür, mit einem Architekten zu arbeiten, der sich bereits im Vorfeld des Wettbewerbs um den Auftrag bemüht hat, und zieht von ihm selbst erstellte Pläne hinzu. 775 Zitiert nach : Tegethoff 1981, S. 119.

Landschaftliches Wohnen

794 Mies’ Entwurf hat einen Vorläufer im 1956 in Auftrag gegebenen Hauptquartier von 776 Guardini 1985, S. 205. Bacardi in Santiago de Cuba (später in Mexico 777 Vgl. Neumeyer 1986, S. 253. City errichtet). Das dortige Klima hätte ein 778 Ludwig Mies van der Rohe : « Museum solches Vordach bedingt. für eine kleine Stadt », in : Neumeyer 1986, 795 Dirk Lohan, befragt zu den Collagen : S. 385f., S. 385. – Erstmals veröffentlicht in : « Er hat das Format der Collagen entwickelt. Architectural Forum, 78/1943, Nr. 5, S. 85f. Die frühen Collagen hat er selbst proportio779 Zitiert nach : Krohn 2014, S. 209. niert und die geschnittenen Papiere platziert, 780 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 394. später haben das die Mitarbeiter gemacht 781 Ludwig Mies van der Rohe : « A Chapel. und er hat kommentiert. Am I IT ließ er Illinois Institut of Technology » (1953), zitiert die Studierenden entsprechend ausbilden : nach : Neumeyer 1986, S. 392. Walter Peterhans, der vom Bauhaus kam und 782 Krohn 2014, S. 124. mit Mies und Ludwig Hilberseimer gearbeitet 783 Rudolf Schwarz : Kirchenbau. Welt vor hatte, unterrichtete das ‹ Visual Training ›, wo der Schwelle. Heidelberg 1960, S. 16f. Ästhetik, Proportion und Farbverbindungen 784 Abgesehen von der 2013 bis 2014 von besprochen wurden. Mies benutzte zwei Bruno Fioretti Marquez restaurierten TrinkMethoden, um seine Arbeiten den Bauherhalle in Dessau von 1932. ren oder der Öffentlichkeit zu präsentieren : 785 Krohn 2014, S. 81. das Modell oder mit Collagen entwickelte 786 Dietrich Neumann : «  … Eislandschaf3D-Perspektiven. Ein wichtiges Element der ten zeigende Tapeten … Mies van der Rohes Collagen ist das Einbinden von Kunstwerken Patente zur Wandgestaltung und Druckseiner Zeit, Skulpturen oder Bilder, die er technik von 1937–1950 », in : Helmut Reuter, drehte oder vergrößerte und als ganze Wände Birgit Schulte : Mies und das Neue Wohnen, in seine Collagen einsetzte. » Interview mit Ostfildern 2008, S. 264–279, S. 265. Dirk Lohan über seinen Großvater, BauNetz787 Ebd., S. 266. Dietrich Neumann verNewsletter, 23. 02. 2017. mutet, dass Walter Peterhans – von Hannes 796 Phillip Johnson lud Rothko 1958 Meyer dazu eingeladen, die fotografische ein, eine Serie großformatiger Gemälde für Werkstatt am Bauhaus aufzubauen, dann das Four Seasons im Seagram-Gebäude zu Lehrer in Berlin und Autor fotografischer gestalten. Rothko war entsetzt über den luRatgeber – das technische Wissen beisteuerte. xuriösen Charakter des Restaurants, gab den 788 Vgl. ebd., S. 269ff. Honorarvorschuss zurück und behielt die, 789 Ebd., S. 270. im Zeitraum von zwei Jahren, entstandenen 790 Ebd., S. 274. Gemälde. Die Seagram Murals sind heute in 791 Vgl. ebd., S. 272f. der Tate Modern, im Kawamura Memorial 792 Der Gartenpavillon des BenediktiMuseum of Art und in der National Gallery nerstifts Melk von Franz Munggenast, um of Art in Washington D.  C . ausgestellt. 1747/48 für die Patres erbaut, stellt einen 797 Mark Rothko, zitiert im Begleitheft solchen Ort dar, an dem die Fantasienatur zur Ausstellung Mark Rothko im Kunsthistoder Wandmalereien Johann Wenzel Bergls rischen Museum Wien, 12. März bis 30. Juni nicht nur als Ausflug in die exotische Flora 2019, Bild 27. und Fauna ferner Länder, sondern als früh798 Alexander Schwarz bei einer gezeitiger wie freudvoller ‹ Ausbruch › aus dem meinsamen Begehung der von Chipperfield Klosterleben gedeutet werden könnte. Architects restaurierten Nationalgalerie am 793 Ludwig Mies van der Rohe : Radio14. 2. 2017. interview, Deutschlandfunk 1959. 799 In diesem Sinn bestätigt sich, was auch Fritz Neumeyer bemerkt hat : « Abge-

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schieden vom lärmenden Treiben der Stadt, ihm jedoch durch visuellen Kontakt noch verbunden, begegnet hier der auf sich selbst bezogene Mensch seiner zweiten Natur, der Kultur. » Neumeyer 1986, S. 294. 800 Architektur als erhabenes Erlebnis : Es war wohl eine eindrucksvolle Veranstaltung für den Architekten, der eine lange gehegte Idee Wirklichkeit werden sah. Dietrich Neumann beschreibt den Anlass eindrücklich : « Mies sah zu, als am 5. April 1967 ab acht Uhr morgens das Dach langsam von hydraulischen Pressen auf 8, 40 Meter angehoben wurde. Der Vorgang dauerte zehn Stunden. Der Bauleiter, sein Enkel Dirk Lohan, berichtete, dass der Architekt an seinen Krücken langsam, aber zielstrebig unter das 1.200 Tonnen schwere Stahldach humpelte, sobald genug Platz war. Er war voller Vertrauen auf die Berechnungen der Ingenieure. Schwerfällig drehte er eine Runde und sah sich um – begeistert, dass sein Idealbau an genau dieser Stelle Realität wurde. ‹ Ich hatte fast schon vergessen, wie wunderbar es ist, Architekt zu sein ›, sagte er. » Dietrich Neumann : « 1.200 Tonnen Leichtigkeit », in : Der Tagesspiegel, 2. 11. 2013. 801 Zitiert nach : Krohn 2014, S. 212. « In order to support the big roof slab, only four pillars had been put in the middle point of the sides of the roof, so the overhanging corners tended to suffer severe deformation. I proposed they put at least two pillars on each side, that is, to support the roof on a total of eight pillars, and that is how it was done. » Juan Maria Songel : A Conversation with Frei Otto, New York 2010, S. 28. 802 Vgl. Stefan Polónyi : « Planen mit Mies van der Rohe – heute », in : ders. : Mit zaghafter Konsequenz. Aufsätze und Vorträge zum Tragwerkentwurf 1961–1987, Braunschweig 1987, S. 93–104. 803 Auskunft Alexander Schwarz vom 12. 2. 2017. 804 Krohn 2014, S. 211. 805 Der sinnliche Nachvollzug der zur Säule bezwungenen Naturkraft, die auf diese Weise eine Vergeistigung erfährt, wäre schon

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ein Anliegen der Griechen gewesen, meint der mit Schinkel bekannte Carl Bötticher in seiner 1852 in Potsdam erschienen Tektonik der Hellenen. Eine Erstausgabe dieses Buches behielt Mies noch in seinem Chicagoer Apartment bei sich. Die Werkform des griechischen Tempels, seine Statik, zeichne sich dadurch aus, dass sie wie die « mechanischen Gliedersysteme » einer Maschine abgestimmt sei, heißt es darin. (Karl Boetticher : Die Tektonik der Hellenen, Potsdam 1852, S. 21. – Erster Band.) Dadurch wäre sie dem organischen Wuchs einer Pflanze entgegengesetzt, denn diese nutze vorhandene, zuvor formlose Stoffe. (Vgl. Ebd., S. 19.) So erlaubt Böttichers Differenzierung von Gewächs und Maschine die Bestimmung eines Werks im Schwarzschen – und Mies’schen – Sinn : Erst durch die Baukunst werden die losen Stoffe zu einem bedeutungsvollen Ganzen geordnet. (Vgl. Ebd., S. 20.) Nun aber sind jene zwei antagonistischen Prinzipien im tektonischen Gebilde vereint, die Bötticher als « Kunstform » und « Kernform » bezeichnet : « Jedes Bauglied bloß in der Werkform beschlossen gedacht [ …], erfüllte seine statische und raumbildende Leistung vollkommen und ohne Weiteres : allein irgend welches äußerliche Merkzeichen das beide Eigenschaften, nach allen ihren Beziehungen, dem Anblicke sogleich erkennbar und verständlich machte, war an ihm noch nicht vorhanden. » (Ebd., S. 24.) Und so wurde, um « alle diese Verhältnisse bildlich zu offenbaren [ …], von den Hellenen eben die Kunstform erfunden : sie tritt als sichtbarer Ausdruck derselben zur Werkform hinzu und vollendet letztere zugleich als Kunstwerk. » (Ebd., S. 25.) Bei Bötticher fällt es dem Ornament zu, das rein mechanische Geschehen der Tektonik zu illustrieren, dem Betrachter deutlich zu machen. So erst wird die Ingenieurleistung zu Architektur. Damit sich daraus ein harmonisches Bauglied fügen könnte, müssten letztere auf die « Urform » zurückgreifen, die sich als Idee des Bauwerks, als statische Gebilde darstelle. Die Analogie zur organisch-gewachsenen Form wird erneut aufgegriffen, denn nun « tritt

hier an Stelle jener Urform des Keimes ein intellektuelles Urbild, welches von der Idee aus dem tektonischen Begriffe erst gefunden und nach ihm gestaltet ist. » (Ebd., S. 19.) 806 Zitiert nach : Detlef Mertins : « Mies’s Event Space », in : ders. : Modernity Unbound, London 2011, S. 147–158, S. 148. 807 Detlef Mertins stellt fest : « The N NG is, in fact, a resolutely fixed and unchanging frame that is charged with symbolic, even metaphysical, implications, like the dome of a cathedral. And like a cathedral, the purpose of its analogy to the heavens is to take us outside ourselves, beyond the human – to contemplate and experience alterity without appropriating it. » Mertins 2011, S. 157. 808 Deutschlandfunk 1959. 809 Mertins 2011, S. 148. 810 Tegethoff 1981, S. 127ff. und Riley 2001, S. 304f. 811 Vgl. David E. Nye : American Technological Sublime, Cambridge/MA 1994. 812 Tegethoff 1981, S. 129. 813 Vgl. Nicolai Hartmann : Ästhetik, Berlin 1953, S. 142–163. 814 Ebd., S. 148. 815 Ebd., S. 148f. 816 Ebd., S. 150. 817 Ebd., S. 158. 818 Ebd., S. 160. 819 Ebd., S. 157. Zur Gegensatzlehre meint Hartman : « Eben weil sie verschwiegen sind und in sich verschlossen, aber nicht etwa aktiv sich verschleißend, haben sie uns so viel zu sagen [ …]. Das ist nur scheinbar paradox. Das Gesetz darin ist, dass eben dort, wo das Seiende in sich alles Sinnes bar ist, die Sinnverleihung durch das Gegenglied geschieht, durch das dritte Glied des Erscheinungsverhältnisses, das geistig anschauende, hinnehmende und im Genießen wertende Subjekt. » Ebd., S. 158. 820 Adorno 1970, S. 293. 821 Ludwig Mies van der Rohe im Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk, in : Der Architekt, 1966, S. 324f.

822 Leo Marx : The Machine in The Garden. Technology and the Pastoral Ideal in America (1964), London-Oxford-New York 1970. 823 « In their effort to rescue American space from the harsher, more brutally utilitarian consequences of scientific and technological progress, a minority of disaffected or critical Americans endorsed the pastoral ideals of a middle landscape. Although this conception of space never replaced the dominant utilitarian conception, it was to provide a rationale for some of the most constructive thinking about and practise of architecture and landscape architecture. » Ebd., S. 71. 824 Ebd., S. 72. 825 Ebd., S. 73. 826 Frampton 1981, S. 45. 827 Ebd., S. 44. Der Landschaftshistoriker Marc Treib betont in seinem Buch Landscapes of Modern Architecture die in Amerika sich offen darstellende, unauflösliche Andersheit der Natur, die sich als solche auch in Mies van der Rohes Bauwerken darstelle : « Site and climate were material constraints. Relating or Integration these physical properties with higher aspirations such as beauty and spirtuality shaped the architect’s mature thinking. In certain ways, Mies van der Rohe did achieve that elusive integration – through opposition rather than blending, dissonance rather than harmony. Yet nature remained the other .» Marc Treib : Landscapes of Modern Architecture : Wright, Mies, Neutra, Aalto, Barragan, New Haven 2017, S. 101. 828 Ebd., S. 43. 829 Lorenz Jäger : Adorno. Eine politische Biografie, München 2005, S. 298. 830 Theodor W. Adorno : Minima Moralia, Frankfurt/Main 2003, S. 53f. – Gesammelte Schriften Bd. 4. 831 Ebd., S. 54. 832 Marx 1970, S. 72. 833 Die Thoreausche Idee der Urhütte am Walden Pond, ihre Nachwirkungen bis hinein in die Protestbewegungen des 20. Jahrhunderts, die wiederum mit der Lebensreform um die Jahrhundertwende ihre

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trage ›. Die Stadt wird zur Verfestigung des Gemeinsamkeiten haben mag, hängt mit der Gehens : dorthin oder von dort her wird etFrage der Verdinglichung und mit Adornos was getragen. Die amerikanische Kultur mit in Amerika erstmals getroffenen Analysen ihrem ‹ Hang nach Westen › war eben nicht mittelbar zusammen. Diese ist – in anderer so sesshaft wie die europäische, möchte Begrifflichkeit – auch Thema in Thoreaus man folgern. Hier herrscht das Gehen als Denken, noch bevor sie für Adorno aktuell wird. Schon im ‹ Economy ›-Kapitel von Waleigentliche Grundhaltung vor, mit ihm der den entwirft er ein Panorama gesellschaftAufenthalt im Freien als Grundsituation des licher Entfremdungsmechanismen : «Kaum amerikanischen Bürgers.  einer der Hausbesitzer in Concord ist schul836 Zu den Ähnlichkeiten in der Kritik des denfrei ; die angeblich unabhängigen Farmer rein verstandestätigen Menschen zwischen verbringen den größten Teil ihres Lebens Guardini und Emerson vgl. dessen Kapitel damit, für die Banken zu arbeiten ; sie sind Ausblicke, in : Ralph Waldo Emerson : Natur den Schwankungen eines unberechenbaren (1863), Zürich 1988, S. 84–97. Marktes ausgeliefert, und die Anlage ihrer 837 Ebd., S. 5. 838 Emerson 1988, S. 14. Häuser folgt dem Diktat von Markt und Mode. [ …]. Der ursprüngliche Zweck des Hauses – 839 Ebd., S. 18. dem Menschen Schutz vor den Elementen 840 Ebd., S. 17. 841 Schulze 2012, S. 269. zu bieten – ist unter dem gesellschaftlichen 842 Abgedruckt in : Schulze 2012, S. 248. Druck fast völlig verschüttet und aus dem Blick geraten », fasst der Anglist Dieter Schulz 843 Vgl. Schulze, S. 261–269. jene Ausgangsbedingungen zusammen, auf 844 Zitiert nach : ebd., S. 251. die hin Thoreau eine Hütte zimmert. (Dieter 845 Ebd., S. 250. Schulz : Amerikanischer Transzendentalis846 Ebd., S. 261. mus. Ralph Waldo Emerson, Henry David 847 Maritz Vandenberg : Farnsworth Thoreau, Margaret Fuller, Darmstadt 1997, House. Ludwig Mies van der Rohe. ArchitecS. 23.) Diese heute nicht ganz unbekannte ture in Detail, London 2010, S. 26. Krise des Systems ist nicht nur auf ökonomi848 Palumbo ist Eigentümer des Hauses scher Basis mit dem Hausbau verbunden, das bis zum Jahr 2003 ; danach wird es versteigert. Heute wird es vom National Trust for Wohnen müsste vor allem auf vielfache WeiHistoric Preservation betreut. Zur Bewerse – und somit auch auf geistiger – Antwort tung der Restaurierung siehe das National geben, eine Alternative aufzeigen. Es bleibt – Register of Historic Places, Registration Form in diesem Kontext – nicht ohne Pointe, dass 10-900, OM B No. 1024-0018, vom 27. September auf Mies’ Beziehung zu Edith Farnsworth 2004. Am 17. Februar 2006 wird das Haus zur steigende Errichtungskosten den endgültig National Historic Landmark ernannt : « Since zerstörerischen Effekt haben. 834 Henry David Thoreau : Vom Spazieren. its completion in 1951, the Farnsworth house Ein Essay (1862), Zürich 2004, S. 21. Rebelhas been meticulously maintained and lisch heißt es zugleich : « Die heutigen zivirestored. The most important restoration took lisatorischen Fortschritte, wie das Errichten place in 1972, when the owner Peter Palumbo von Häusern, das Roden von Wäldern und hired the firm of Mies van der Rohe’s granddas Fällen aller großen Bäume, entstellen die son, Dirk Lohan, to restore the house to its Landschaft bloß und machen sie zahmer original 1951 appearance. The restoration inund billiger. » Ebd., S. 18. volved removing the screens, which Edith 835 In einem kleinen etymologischen ExFarnsworth had ordered to be placed around kurs, der auf diese Stelle folgt, führt Thoreau the west porch shortly after moving in. The das Wort ‹ village › auf das lateinische ‹ villa › restoration also involved replacing the roof, zurück, weiters auf ‹ veho › – also das ‹ ich which had deteriorated considerably, and

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upgrading the climate control systems. The only visible change made to the house itself was the addition of a single hearthstone to the fireplace in order to make it more functional. Palumbo also installed appropriate furniture, such as Mies-designed Tugendhat chairs to enhance the architectural character of the house. A second restoration took place in 1996, after a devastating flood damaged the interior. Although the house was built to resist floods in 1951, building in the surrounding area has caused higher flood levels in recent decades. After the 1996 flood, the interior woodwork was restored. The landscape architect, Lanning Roper, was also hired at that time to redesign the area immediately around the house in an English landscape tradition, shortening the grass and greatly extending the lawn to the north. Palumbo has written eloquently about the importance of the landscape in relation to the house. Preserving the stillness and pastoral qualities of the site has, and will continue to be, essential to preserving the architectural integrity of the Farnsworth House. Also located on the property are a garage, boathouse and pool. The garage was constructed in the late 1950s and is considered a non-contributing building. As Mies van der Rohe did not make any provisions for automobile use in his original plan, Edith Farnsworth had this conventional, 2-car garage built at the north end of the site, well hidden from the house. The boathouse and pool were constructed for the use of Peter Palumbo after 1972 and are considered non-contributing structures. These structures also remain well hidden from the main house. » Ebd., S. 6. 849 Peter Palumbo : « Farnsworth-Impressionen », in : Werner Blaser : Farnsworth House. Wochenendhaus, Basel 1999, S. 14. 850 Im Jahr 1979 wurde die Frederick Law Olmstead National Historic Site ins Leben gerufen. In Olmsteds ehemaligem Anwesen und Büro in Boston/Brookline befindet sich heute eine Forschungsstätte und – neben verschiedenen Archivmaterialien – eine schon zu seinen Lebzeiten als Entwurfsmittel

verwendete, streng geordnete Sammlung von Fotografien. 851 Zitiert nach : Robert E. Grese : Jens Jensen. Maker of Natural Parks and Gardens, Baltimore-London 1992, S. 17. 852 Ebd., S. 45. 853 Ebd., S. 160 ; zu Jensens design style vgl. «Kapitel 4», S. 151–186. 854 Ebd., S. 136. Die erste Tat – noch vor dem Hausbau – wäre die Schaffung jener Fläche, auf der es errichtet werden soll und für die (oftmals) erst der Wald weichen müsste. Dieser wächst aber ständig nach, die Sukzession der Gewächse muss zurückgedrängt werden. Ihr Saum stellt somit eine kulturelle Leistung dar und symbolisiert die Grenze zwischen Kultur und Natur. Zugleich hält die Pflege der Grenze die Disziplinen Architektur und Gartenkunst dauerhaft miteinander verklammert. 855 Abseits von Chicago, in Boston, formierte sich eine andere Riege bald führender amerikanischer Landschaftsarchitekten. Sie sollten das formale Vokabular ihrer Profession modernisieren – und damit individualisieren, vom ‹ Typologischen › der landschaftlichen Prairie-Schule entfernen. Auch sie haben Olmsteds Œuvre im Rücken, dessen Erbe sein Sohn um 1900 in eine eigene Schule überführt. Mit Garrett Eckbo, James Rose und Dan Kiley sind an der Harvard Graduate School of Design – ab 1937 von Walter Gropius geleitet – bis auf den in Kalifornien tätigen Thomas Church, die amerikanischen Protagonisten dieses Fachs aus dem 20. Jahrhundert vertreten. Eckbo berichtet über diese Zeit : « When I arrived at Harvard in 1936 as a green Californian from the frontier, I encountered a school in which the landscape faculty felt that since trees were not made in factories, it was not necessary for the profession to concern itself with new ideas in architecture of the arts. The old tried-and-true formal/informal system had worked since the 18th century and would continue to be comfortable and reliable. » Zitiert nach : Frampton 1981, S. 53. 856 Ebd., S. 56.

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worden sein dürfte. Ohne die nüchterne 857 Caldwell hatte sein Studium der Architektur  seiner frühen Stadtvision gänzLandschaftsarchitektur an der University of Illinois nicht beendet ; bevor er ins Kollegium lich hinter sich zu lassen, stützt er sich auf eintreten konnte (Lehrbereich Konstruktion!), gesellschaftspolitische und soziologische Argumente – sowie auf die Darstellung der inskribierte er daher als Student am I IT . Landschaft. « Showing how the pattern of 1959 beendete er seine Lehre am I IT nach Friktionen mit der Verwaltung, lehrte 1965 am buildings and streets can be broken by trees Virginia Polytechnic Institute und von 1966 bis and merged into the landscape resulting in natural concealement », lautet die Bildunter1973 an der University of Southern California schrift zu Caldwells meisterhafter Illustration – (Philosophie, Literatur, Geschichte!). Er verdie dichten Wohneinheiten und schnurgerastarb im Jahr 1998. den Straßenzüge verschwinden unter dem 858 Schulze 2012, S. 215 und Denis Geäst der Bäume, die streng geometrische Domer : Alfred Caldwell. The Life and Work Formation der Bauten korrespondiert mit of a Prairie School Landscape Architect, der ondulierenden Gestalt einer großen, Baltimore-London 1997, S. 29f. Mies war übergeordneten Lichtung, während jedem beeindruckt und trat in ein Gespräch mit einzelnen Haus – im Grundriss eines ‹ L › – dem glücklicherweise gerade dort tätigen eigener Freiraum zwischen dem üppigen Caldwell. Die Begegnung war folgenreich, Bewuchs eingeräumt wird. Das infrastruktuder charismatische und vielfach Begabte sollte nicht nur ein Kollege werden, den Mies rale Skelett, konstituiert aus zweimal neuen Sackstraßen mit Wendehammern, daran als « irreplaceable » bezeichnete, sondern angelagert Wohnhäuser, auf Wunsch in verden er immer wieder, aufgrund der hohen schiedenen Texturen geschichtet und durch Anforderungen an seine Studenten, die eine breitere Erschließungsstraße an das Konflikte mit seinen Kollegen provozierten, Hauptverkehrsnetz angeschlossen, über diese davon abhielt, zurückzutreten. (Ebd., S. 47.) Aus Protest gegenüber Skidmore, Owings and an weitere solcher selbstähnlicher Strukturen, ist auf Effizienz hin berechnet und liegt Merrill (SOM ), die Mies’ Fortsetzung der 20 doch pittoresk in mächtigen Waldstücken. Jahre währenden Arbeiten am I IT -Campus Die Industrie ist außerhalb, am großen Highverhinderen, legt Caldwell im Jänner 1960 way positioniert ; am Hals einer jeder solchen seine Professur nieder. 1981 wird er ans I IT Einheit liegt die Gewerbezone, Kultur- und zurückkehren und dort 15 Jahre als Ludwig Bildungseinrichtungen befinden sich auf Mies van der Rohe Professor of Architecture den weitläufigen Wiesenflächen zwischen unterrichten. den Units. Mies schreibt ein knappes Vor859 Caldwells feinnervige Zeichnunwort für dieses Buch : « ‹ Reason ist the first gen begleiten die publikatorische Tätigkeit Ludwig Hilberseimers, dessen städtebauliche principle of all human work. › Consciously or unconsciously L . Hilberseimer follows this Konzepte er durch dutzende Perspektiven principle and makes it the basis of his work illustriert und für die fachfremde Leserin the complicated field of city planing. He schaft erschließt. Für das 1944 in Chicago examines the city with unwavering objectivierschienene Buch The New City – Principles ty, investigates each part of it and determines of Planning liefert er kunstvolle Zeichnunfor each part its rightful place in the whole. gen aus der Vogelperspektive. Sie sollen die Thus he brings all the elements of the city ‹ Settlement Unit › veranschaulichen, jene into clear, logical order. » Im Programm, das Form der De-Urbanisierung und Aufwertung er in seinem Text City Architecture – The regionaler Versorgungseinheiten, bei deren Trend Toward Openness um 1960 formuKonzeption Hilberseimer von der amerikaliert, stellt Hilberseimer seine ‹ Neue Stadt › nischen Weite und der Wright’schen Vision in die Nachfolge von Ebenezer Howards der Einheit von Technik und Natur inspiriert

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Garden City oder Le Corbusiers Ville Vert, deren Hintergründe er wiederum mit einer historischen Rückschau bis ins antike Priene zurückverfolgen möchte. Er fasse allerdings die einmal vertikale, dann horizontale Ausdehnung des Stadtgefüges der beiden angesprochenen Vorgängervisionen in seiner eigenen zusammen : Verschiedene Gebäudetypologien ermöglichten eine ‹ openness ›, die vielschichtige Beziehungen zu Wald und Lichtung einräumen, Naturräumen, die den Gegenpol der ‹ Settlement Unit › bilden und denen somit eine beachtliche Rolle zukommt : « While the rooms of the houses had a view over their gardens, the rooms of the apartment buildings have a view over these gardens, over the park which surrounds the community and beyond it, over the landscape with its fields, meadows, and forests, its lakes, rivers and mountains. » Dieser Vorstellung der Stadt der Zukunft kommt Lafayette Park in Detroit nahe, bei dem Ende der 1950er-Jahre die fachliche Expertise der Kollegen Mies, Hilberseimer und Caldwell zusammenfließt : im Zentrum eine große Wiesenfläche, jedes der Reihenhäuser unter Baumkronen geborgen. Wie eine textliche Illustration dieses gemeinsamen Projekts, heißt es an einer Stelle in Hilberseimers Buch  The New City: « Higher buildings within the ‹ garden › parks, contrasting with the low one-family houses, may be used to create a feeling of spaciousness and openness. The narrow confined street and city area can give way to an entirely open and free city area. Just as the house fuses with the landscape, the room with the garden, the interior with the exterior, so also the city itself can merge with the landscape and the landscape can come within the city. » Ob sich so aber Mies’ ‹ organische Ordnung › erfüllte? Vergleicht man dies etwa mit den europäischen ‹ Seenlandschaften ›, fehlt der wesentliche Aspekt des Zufälligen und Gewachsenen – des Poetischen innerhalb der städtischen Struktur. Auch Caldwells Zeichnungen können den in ihrer strengen Anordnung enthaltenen, technischen Ordnungswunsch letztlich nicht kaschieren.

860 Domer 1997, S. 39. 861 Alfred Caldwells eigene theoretischen Überlegungen legen nahe, dass er Schönheit in der Architektur und Natur nicht nur als essentiell für den Gestalter, sondern sie den Bereichen Konstruktion und Landschaftsarchitektur gleichermaßen zugrunde legt. Thoreau ist in seinem Text durchaus präsent, aber auch D’Arcy Thompson. Vgl. Alfred Caldwell : « Architecture : Vision of Structure » (1977/78), in : Werner Blaser : Architektur und Natur. Das Werk von Alfred Caldwell, Basel-Stuttgart-Boston 1984, S. 146–148. 862 Ebd., S. 276. 863 Schulze 2012, S. 251f. 864 Ausgeklammert bleiben hier weitgehend die städtebaulichen Projekte, die Kooperation zwischen Ludwig Hilberseimer und Mies, die Wandlung dessen städtebaulichen Konzepts nach seiner Emigration durch Inklusion der Landschaft in die Stadt und die Idee einer ‹Stadt der Lichtungen›, als die auch Berlin auf Mies’ Lageplan für die Neue Nationalgalerie erscheint. Vgl. Richard Pommer, David Spaeth, Kevin Harrington : In the Shadow of Mies. Ludwig Hilberseimer. Architect, Educator, and Urban Planner, Chicago-New York 1988 und Charles Waldheim : Hilberseimer/Mies van der Rohe. Lafayette Park Detroit, München-Berlin-LondonNew York 2004. 865 Im Fall des Hauses Farnsworth wurde er indes nicht als Landschaftsarchitekt tätig. Im November 1951 erinnert er sich im Zusammenhang mit dem Gerichtsprozess zwischen Architekt und Bauherrin, wie er – aufgrund seiner Arbeit am I IT Campus – in Mies’ Büro erstmals auf Edith Farnsworth traf. « Deposition on the Farnsworth House », abgedruckt in : Domer 1997, S. 272–279. 866 Ebd., S. 279. 867 Zitiert nach: Girot, Kirchengast 2011, S. 22. 868 Domer 1997, S. 31f. Hilberseimer war es auch, der ihm dazu rät, sie beim Wettbewerb des Herald American einzureichen, der Vorschläge zur Verbesserung Chicagos sammelt.

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869 Abgedruckt in : Blaser 1984, S. 48. 870 Dass Caldwell, trotz des Fokus seiner Lehre und der Wertschätzung durch Mies seinem eigenen, an Wright geschulten ‹ Stil › verpflichtet blieb, zeigt sein eigenes Haus, das 1948 in Bristol, Wisconsin errichtet wurde. Diese moderne Farm nimmt dennoch die Sprache moderner Architektur an, ihr Grundriss erinnert entfernt an Mies’ Landhaus aus Backstein. 871 Edith Farnsworth : « Artifact » (1960), abgedruckt in : Jacques Herzog : Trügerische Transparenz. Beobachtung und Reflexionen, angeregt von einem Besuch des Farnsworth House, New York 2016, S. 56. 872 Vgl. Krohn 2014, S. 142f. 873 Bauwelt 1962, S. 884f. 874 Wolf Tegethoff hat festgestellt, dass Mies erst beim Haus auf der Berliner Bauausstellung 1931 die Schlafräume, beim Haus Farnsworth erstmals auch die Küche in den ‹ offenen Grundriss › einbezieht. Es kann ergänzt werden, dass 1927, beim Glasraum der Stuttgarter Werkbundausstellung, das Erste Mal die neuen Mittel des kontemplativen Raums nachvollziehbar werden – Glas/Spiegelung, Skulptur (Lehmbruck), Reduktion/ klare flächen, Höfe ; die Natur ist gegenwärtig in Form von Topfpflanzen, was ihr durch Spiegelungen und die Lichtstimmung jedoch eine eigenartig intensive Präsenz verleiht. Vgl. Tegethoff 1981, S. 68. 875 Die beiden Räume sind jeweils von der Schmalseite des nicht raumhohen Einbaus durch ‹ Schranktüren › betretbar. Eingangsseitig, im Westen, handelt es sich um ein Bad mit Wanne, das andere ist mit einer Wannendusche ausgestattet, beide haben eine Toilette. Ein Kleiderschrank, der die Sicht über die Länge des Bauwerks blockiert, auf dem die Bauherrin aber bestanden hatte, wird nach seiner Zerstörung durch ein Hochwasser nicht mehr errichtet. Auf der flussabgewandten Seiten befindet sich eine Küchenzeile. 876 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 404.

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877 Alfred Caldwell : « On the Meaning of Mies » (1986), abgedruckt in : Domer 1997, S. 234–241, S. 236. 878 Ebd., S. 237. 879 Zitiert nach : Peschken 1979, S. 149f. 880 Ebd., S. 149f. 881 Ebd., S. 144. – « fig. h ». 882 Zitiert nach : Richard Padovan : « Machines à Méditer », in : Kevin P. Harrington : Mies van der Rohe : Architect as Educator, Chicago 1986, S. 17–26, S. 17. – Er bezieht sich auf Thomas von Aquins Quaestiones disputatae de veritate. 883 Franz Schulze : Mies van der Rohe. A Critical Biography, Chicago-London 1985, S. 173. – Erste Ausgabe. 884 Padovan 1965, S. 24. 885 Vgl. Wolfgang Röd : Der Weg der Philosophie, München 2000, S. 347. – Erster Band : Altertum, Mittelalter, Renaissance. 886 Padovan 1965, S. 19. 887 Guardini 1995, S. 39. 888 Schulze 2012, S. 257f. 889 Bauwelt 1962, S. 884f. 890 Schulze 2012, S. 250. 891 Wenn David Leatherbarrow den a-temporalen und in sich abgeschlossenen Charakter der modernen technischen Konstruktionsform kritisch prüft, dann spricht er von einem « t acit horizon » , von einer möglichen « naturalization », die sie dort erfährt, wo sie sich in die Lebenspraxis des Menschen integriert – oder die Bühne hierfür schafft. Dass dies sich gerade im Verhältnis zur Topografie und zur Zeit ereignen könnte, verwundert hier, im Kontext des ‹ Landschaftlichen ›, nicht. In den Schlussbemerkungen seines Buchs Common Ground weist der amerikanische Architekturtheoretiker auf ein besonderes Wohnen hin : « A gift of one’s world ». Leatherbarrow stellt es sich in der Korrespondenz von Ding und Leben angesichts der Herausforderung der Technik dar, die dort am stärksten sei, wo sie auf die Offenheit des Lebendigen trifft : « The dask of design, in recognition of the a-territorial, atemporal, and obtrusively independent character of the technical objects and

systems with which contemporary practice must work, involves trying to restore the remoteness of nearby things, as well as their codetermination within a horizon. » Die Stille und Antwortlosigkeit technischer Objekte, zu denen eine Architekt gehört, die sich vor der Herausforderungen der modernen Welt nicht verschließt, an der auch die scheinbar abstrakten, auf primäre Formen reduzierten Gegenstände des Wohnens teilhaben (Mies selbst hat einige beigesteuert), setzen die Korrespondenz des Lebendigen voraus, den Zusammenklang der ästhetischen Erfahrung. Der Ausschluss der Zeit und der Veränderung aus dem Technischen – und auch Digitalen – wäre dann nicht nur inhuman und der endgültige Verlust des je eigenen Orts, an dem man lebt, er schlösse eine Seite unserer eigenen Vernunft und damit auch der Grundlage, auf der sich das Technische erst entwickeln konnte, nicht aus. Vgl. David Leatherbarrow : Uncommon Ground. Architecture, Technology, and Topography, Cambridge/MA 2000, S. 269–284. – « Conclusion ». 892 Erwin Schrödinger : definiert die negative Entropie eines Organismus auch als Ordnungsmaß. Erwin Schrödinger : Was ist Leben?, München 1987, S. 129. 893 Schulze 2012, S. 250. 894 Boullée 1987, S. 154. 895 « Perhaps, is not the light that creates shadows the same light that consumes matters, giving us a more authentic image of that which artists themselves want to give us? For this, more than because it is personal an collective at once, architecture is the most important of the arts and sciences, for its cycle ist natural, like the cycle of man, but it is what remains of man. » (Übersetzung AK ) Aldo Rossi : « Introduction », in : Helen Rosenau : Boullée and Visionary Architectures, including Boullée’s ‹ Architecture, Essay on Art ›, London-New York 1976, S. 20. 896 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 405. 897 Ebd., S. 380. 898 Welche Schlüsselrolle die Gegensatzlehre und das ästhetische Erleben für das ( Miss-)Verständnis dieses Naturverhältnisses

einnehmen, zeigen bis heute anhaltende Missverständnisse  – hier etwa des Architekten Jacques Herzog anlässlich eines Vortrags in der Crown Hall im Herbst 2014 : « Mies’ Verständnis von und Interesse an Natur ist dekorativ. Ihn interessiert Natur als dekoratives, optisches und plastisches Gegenüber zu seiner Architektur. Die Architektur passt sich der Natur nicht an, und die Natur bleibt, was sie war. Sie ist nicht transformiert und nutzbar gemacht wie bei einem Bauerngarten, sie ist auch nicht eingesetzt, um die Architektur und damit den Menschen zu unterstützen ». Und so hält bis heute der Vorwurf an – trotz der Aussagen der Familie Tugendhat und trotz der 20 Jahre, die Edith Farnsworth im Haus verbracht hat : « Mies sah das vielleicht nicht so. Er handelte aber so. Er schaute auf seine Skizzen, seine Pläne, seine Modelle, aber er sah nur, was er sehen wollte, was er schon wusste, was er bestätigen oder allenfalls mit noch akribischen Detailstudien verfeinern wollte. Es ging ihm nicht um eine tiefere Einsicht – zumindest nicht ins Innenleben der Menschen, die seine Architektur beleben müssen. » (Herzog 2016, S. 55ff.) Der Verdacht liegt nahe, angesichts der wiederholten, pauschalen Verdächtigung, man könne in Mies’ Häusern nicht wohnen , es geht weniger um Mies und seine Architektur, als um die durchaus metaphysische, zumindest ethische Dimension der ‹ höheren Ordnung › einer Moderne, von der man sich gerne distanziert – zugunsten der heute schier unbegrenzten Möglichkeiten architektonischer Selbstentfaltung. 899 In Caldwells Gedanken, die er mit Mies ausgetauscht haben dürfte und die Mies’ Landhaus mit den agrarischen Ideen Wrights verbinden würden, zeigt sich, welche Hoffnung auf das Wohnen in, mit und aus der Landschaft einer kleinen Farm gelegt wurde : « I believe that poverty can be transformed into what used to be called the good life. » (Frampton 1981, S. 58.) Die Idee vom guten Leben hallt also auch hundert Jahre nach Thoreau und mehr als tausend Jahre nach den Gesprächen Ciceros auf seinem

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Landgut in Tusculum nach : In Amerika sind Thomas Jefferson und George Washington Vertreter der ferme ornèe ; Andrew Jackson Downing vertritt die Idee der villa suburbana, und noch Frederick Law Olmsted ist vom Zusammenhang von Ethik und Ästhetik in der ruralen Landschaft überzeugt, die er als Grundlage seiner Parks heranzieht. 900 Bauwelt 1962, S. 884. 901 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 406. 902 Für das Haus des Bruders von Mies’ wichtigstem Auftraggeber, Herbert Greenwald, wurden tatsächlich überschüssige Elemente der Chicagoer Hochhäuser verwendet. (Vgl. Krohn 2014, S. 160.) Das Caine House in Winneteka kam nicht zur Realisierung. Gegenüber diesen längsrechteckigen Bauten, die nun in Serie produzierbar wären, entwickelt Mies seinen Pavillon zum Fifty by Fifty Feet House (1950/51) weiter. Es wird aus Mies’ privaten Wohnvorstellungen klar, dass er die Abtrennung zu kleinen Räume nicht schätzte – für eine Familie oder einen Bauherrn wäre eine solche Wohnhalle wahrscheinlich nur schwer realisierbar. 903 Im August 1994 wurde es transloziert und als Annex dem Elmhurst Art Museum angeschlossen. 904 « Es gibt nicht mehr viel, was ich noch bauen möchte. Vielleicht solch eine gewaltige Versammlungshalle, wie ich sie für Chicago entworfen habe, vielleicht auch ein Haus für mich selbst. Ich würde für mich ein einfaches, aber sehr großes Haus bauen, damit ich innen machen kann, was mir gefällt. Ich möchte nicht in einem Würfelhaus wohnen, mit vielen kleinen Zimmern. Da würde ich lieber auf einer Bank im Hyde Park leben. » Bauwelt 1962, S. 884. 905 Schulze 2012, S. 249. 906 Alan Colquhoun : Modern Architecture, New York 2002, S. 245f. 907 Adorno 2003, S. 253. 908 Ebd., S. 179. 909 Die Dialektik der Aufklärung Max Horkheimers und Theodor W. Adornos entsteht zur Zeit des Holocausts im kalifornischen Exil und erscheint im Jahr 1944. Vor

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dem Eindruck der amerikanischen Unterhaltungsindustrie, aber auch der als Versprechen erfahrenen kalifornischen Landschaft prägen sie den Begriff ‹ Kulturindustrie ›. Aus der Perspektive der Kritischen Theorie erscheint die Aufklärung als doppelte Kraft : Strukturen der Herrschaft verbinden sich mit dem Versprechen der Freiheit : die Fesseln, die uns von der Natur befreien, führen zugleich zur Unterwerfung der inneren Natur unter die Technik. Dem liegt das bürgerliche Subjekt zugrunde, das auch sie mit der mythischen figur des Odysseus identifizieren. « Technik ist das Wesen dieses Wissens » (Horkheimer, Adorno 1997, S. 10) : Es folgt daraus das zu klärende Verhältnis zwischen Mensch, Natur, Technik : « Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen. » (Ebd., S. 19. ; vgl. Jürgen Habermas : « Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung : Horkheimer und Adorno », in : ders. : Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/Main 1985, S. 130ff.) 910 Zitiert nach : Neumeyer 1986, S. 319. 911 Adorno 1970, S. 26. 912 Seel 2004, S. 18. 913 Zitiert nach : ebd., S. 30. 914 Ebd., S. 34. 915 Adorno 1970, S. 127f.

Abbildungsnachweis

Umschlag ‹Porch›, Mies van der Rohe, Haus Farnsworth, Plano/ I L 1950 /51. – Fotografie : Albert Kirchengast, 2011 Seite 21 Fotografie aus : Anton Jaumann : «Vom künstlerischen Nachwuchs», in : Innendekoration, 7 /1910, S. 265–273, S. 269 Seite 23 Ansichtskarte, Kunstverlag J. Goldiner (antiquarisch) Seiten 75, 79, 135, 169, 207, 215, 237, 239, 265, 268, 269, 275, 291, 298, 299, 321 The Museum of Modern Art New York, Mies van der Rohe Archives / © Bildrecht Wien, 2019 Seite 77 Seite aus : Wilhelm Lotz : «Die Halle I I auf der Bauausstellung», in : Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit, Heft 7 /1931, S. 241–249, S. 242

Seiten 188, 189 Originalabzug im Archiv des Kunstgewerbemuseums Berlin. – Fotografien: Paul Schulz (für Thonet) bzw. Max Krajewsky (um 1937) Seite 205 Fotografie aus : Almuth Spelberg: Gartendenkmalpflegerische Bearbeitung der Gärten Haus Esters /Lange, Krefeld 1992, S. 25 Seite 213 Seite aus: Walter Riezler: «Das Haus Tugendhat in Brünn», in: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit, 9 /1931, S. 321–332, S. 327 Seiten 217, 218, 219 Fotografien aus : Daniela Hammer-Tugendhat, Ivo Hammer, Wolf Tegethoff: Haus Tugendhat. Ludwig Mies van der Rohe, Basel 2014, S. 29, 43, 65 / © Fotografien: Fritz Tugendhat. Archiv Daniela Hammer-Tugendhat, Wien Seite 231 Seite aus : Walter Riezler : «Einheit der Welt. Ein Gespräch», in : Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit, 2 /1927, S. 236–248, S. 242. – Fotografien : Albert Renger-Patzsch

Seite 109 © Bibliothèque Nationale de France, Paris

Seite 289 Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin © bpk, Jörg P. Anders

Seiten 119, 126 © Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin

Seite 324 Seite aus : Goerd Peschken : Das Architektonische Lehrbuch, München-Berlin 2001, o. p.

Seite 134 © The Metropolitan Museum New York, Ford Motor Company Collection. – Fotografie : Albert Renger-Patzsch

Seite 333 Zeichnung aus : Werner Blaser : Architektur und Natur. Das Werk von Alfred Caldwell, Basel-Boston-Stuttgart, 1984, S. 65 / © The Art Institute of Chicago, Ryerson & Burnham Library Archives, Ludwig Hilberseimer Papers

Seite 171 Chicago History Museum, Hedrich-Blessing Collection / © Chicago Historical Society

399

Seite 335 © Library of Congress, Prints and Photographs Division, Carol M. Highsmith Archive

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404

Register

Dessauer, Friedrich  144 146ff. 161 180 Die Form (Zeitschrift)  137 141 209 240 297

Abstraktion  20 35 65 78 80f. 85 97f. 123 149f. 152 163 168 257 259 290 Adorno, Theodor W.  29ff. 31 38 137 302 304f. 334 336ff. Anschauung (Anschaulichkeit)  26 39 69 101 117 120 122 196 200 228 238 241 244f. 261 337 Architekturgarten  41 47 194 Ästhetische Erfahrung  46 61 66f. 94 97 108 216 245 252 261 274 319 329 Ästhetische Grenze  88 98 Augustinus, Aurelius  152 165 248ff. 255 Ausblick  18 20 22 58 60 91 138 184 187 203 264 273 280 285 288 290 296f.

Einheit  25 33 37 39f. 43f. 49f. 57 65f. 69 85 95 98 102ff. 112 117 121f. 163 178f. 197 199 214 230 241 243f. 245 249 252ff. 301f. 311 319 322 326 329f. Einraum  279 281 320 322 326 Engelhardt, Walter von  42 46f. 49 Entzweiung  40 100ff. 153 197 240 328 Epoche  16 18 76 127 140 142 163ff. 178 214 249f. 287 Ergriffensein (Ergriffenheit)  51 229 230 232 Erhaben  28 30 49 58 63 68 93 95 111 113 116 118 120f. 125 127f. 150 158 165 170 180f. 201 280f. 287 294f. 297 300 302 312 314 326 328 337 Evans, Robin 170

Baillie Scott, Mackay H.  33f. Barcelona-Pavillon  93 170 227 240 271f. 320 Bauausstellung (Berliner)  89 138f. 273 320  Bauhaus  93 155f. 160 177f. 180 294 Baum  32 40 52 59 62 93 96 148 151 153f. 158 161 170 181 184 186f. 192 194 203f. 209f. 212 220 222ff. 243 262ff. 266 271 280 287 292 310 313 320 330f. Behrens, Peter  25 42f. 46 81 115 123 149 158ff. 204 281 Bergdoll, Barry  24 195 209 225 238 Berlage, Hendrik Petrus  73 81 86 123 157f. 165 266 Bier, Justus  227 Bilderrahmen  45 56 66f. 81 88 98 111 130 137 146 183 187 201 211 276 282 288 290 295f. 300 303 322 326 330 336 Boullée, Étienne-Louis  106ff. 125 128 130 165 170 200 216 328 Briefe vom Comer See  255f. 327 Bühne  28 98 115f. 160 186 201 208 283f. 301 328

Farnsworth, Edith  17 130 304 307 311f. 317 319 327 331 Ferne  19 22 35 41 54f. 57ff. 74 82f. 89 102 113 116 121 127f. 144 181 187 198 200f. 221 226f. 244 246 248 250ff. 256f. 270 272 285 290 296f. 302 308 315 327 331 Fifty by Fifty Feet House  332 Foerster, Karl  61f. 192ff. 221 Fragmentierung  68 145 Frampton, Kenneth  226 236 304 Für-sich-Sein  66ff. 69 105 114 152 168 260 302 Gartenreform  46 48 58 310 Georg-Schäfer-Museum  281 288 Ginsburger, Roger  216 227 Glashochhaus  74 86 137 154 Griebnitzsee  19f. 41 63 81 Gropius, Walter  38 73 92 155f. 160ff. 177 Guardini, Romano  70 137 143f. 147f. 174 238 240f. 245 253ff. 274 279 294 301 322f. 326f. Hammerbacher, Herta  193ff. Hartmann, Nicolai 301f. Haus Esters, Lange  202ff. 206 209 Haus Farnsworth  279 294 297 305 308f. 322 325 332 Haus Gericke  184 262f. 266 274 276 311 Haus Hubbe  184 267 270 272f. Haus in den Bergen  180f. Haus Lemke  138 182f. 191ff. 194f. 201 203 206 208f. 283 300

Caldwell, Alfred  96 314 416ff. 323 331f. Chaos  15f. 70 142 259 336 Chapel (Kirche)  13 82 99 111 118 150 156 174 244 281ff. 287 Coincidentia oppositorum (Einheit der Gegensätze)  46 57 129f. 242f. 255 328 Collage  285f. 288 290 296f. 300f. 331

405

Haus Perls  115 183 238 279 Haus Resor  294f. 297 300 305 307 310 Haus Riehl  17ff. 20 22 24f. 31 34 41f. 44 55 57 60 ff. 75 81 89 115 162 181 192 204 300 Haus (Villa) Tugendhat  61 91 93 184 209 212 214 216 220 223 225 227f. 245 262f. 266 272f. 283 295 317 319 Haus Wolf  223 225 Hilberseimer, Ludwig  179 241 316 318 331 Hof (Patio)  83 91f. 127 179 181ff. 264f. 267 270ff. 284 288 290 300 307 311 332 Horizont, Horizontalität  88 92 97 105 116 118 120 129 133 148 159 183 190 228 250 267 272 274 280 287f. 290 293 315 319 323 Hunt, John Dixon  206

Lichtung (clearing)  41 81 129 181 194 203f. 222 227 264 266 280 286ff. 290 293f. 303 307f. 311 313ff. 316 323 331f. Lohmann, Petra 117 Lotz, Wilhelm 90ff. 214 Lucae, Richard 27ff. 38 159 Marx, Leo  303 305f. Maschine  13 30 94 139 159 161f. 168 173 214 229f. 236 253 257ff. 305 322 327 Mebes, Paul 24ff. Mittelgrund  54 61 116 204 209 226f. 264 272 280 288 297 300 306ff. 314 Muthesius, Hermann 35ff. 51 61 63 81 181 194 196 229

I IT (AIT )   92 167 177 191 241 285 316f. Intuition  48 179 240 242 326

Neue Nationalgalerie  62 167 173 287f. 290 292f. 308 323 Neumeyer, Fritz  14 20 137 143f. 155 238 240 279 Newton, Isaac 107f. 110 112f. 125 200 Nietzsche, Friedrich  19 31 102 Nikolassee  41 196 Noack, Wita  182 193 198 209

Jaumann, Anton  18 Jensen, Jens  314ff. Johnson, Philip C.  73 86 317 Kant, Immanuel  19 24 48f. 50 53 55 57 102 110 113 122 125 147 241 243 245 302 307 Konkretheit (Lebendige)  32 70 124 179 230 240f. 249 253 262 280 290 301 325 336 Kontemplation (Contemplatio)  20 48 51 64 102 117 179 181 198 200 208 227 229 244 301 306 327 329 337 Kolbe, Georg 271 Köppler, Jörn 183f. Krohn, Carsten  190 293 Kruse, Christiane 60f. 206 Kues, Nikolaus von (Nikolai de Cusa)  241ff. 328 Lake Shore Drive Apartments  170 172 331 Landhaus aus Backstein  74 82ff. 86 89 91f. 115 133 183 263 300 Landhaus in Eisenbeton  74 76 78 Landsberg, Paul Ludwig 146f. 152 238 Landschaftsgarten 19f. 42 45 48 104 196 313 Le Corbusier  29 92ff. 138 140 180 197 214 236 Lehmbruck, Wilhelm 271 Leitl, Alfons 256f. Lenné, Peter Joseph  19 42 47 115 222

Obersee 182f. 185 187 192 203 208 Offenheit  58 69 76 82 86 88 172 190 221 272 281 287 292f. Olmsted, Frederic Law  314 316 Onyx  172 224ff. 240 Ordnung (Organische) 15f. 19f. 22 24 38 48 54 70 95 97f. 100f. 108 110 114 122 142ff. 146f. 149 153 162 164ff. 177 214 241 243f. 247 253f. 256 258f. 262 272f. 294 302f. 326 328 336 Orianda (Schloss)  115 117 123 127 181 Ornament  14 26f. 30 37 89 122f. 151 163   Padovan, Richard 325 Paul, Bruno  16 18 25 42 Perspektive  24 76 78 80 82 86f. 95 97 99 116 121 142 170 206 220f. 236 267 271 297 327 Petrarca, Francesco 244ff. 250ff. 336 Pittoreske  80 96 183 212 273 313 Plessner, Helmuth 178f. Posener, Julius  35 37 89 113 Prima natura  54 58 201 Profane Sakralität (Sakrale Profanität)  230 327 Proportion  19 98 110 153 166 190 271 282 303

406

Raumstaffelung  195 205 226 266 Reich, Lilly  90f. 172 179f. 186 283 285 Renaissance  17 54f. 57 108 145 195 205 226 246 248 266 290 Riezler, Walter  84 209 212 214 216 226ff. 232 240 262 Ritter, Joachim  99ff. 108 194 196 199 209 244f. 300 Roder-Müller, Grete  220ff. 226 Rothko, Mark  290 Ruegenberg, Sergius  61 206 212

Symbol 14f. 30 45 50 54 62 67 76 84 98 108 112f. 120ff. 129 136 140 152 162f. 186 200 224 236 250 271 283 292 305 309 316 323 329 Taegio, Bartolomeo  54 245 Tegethoff, Wolf  76 78 82 88 91 98 179 208 300 Temenos  166 287 Theoria 99ff. 199 Tiefenraum  93 98 201 Tillich, Paul 228ff. 327 Tugendhat, Grete, Fritz  17 210ff. 221 224f. 228 230 232 238

Sachlichkeit  24 27 29 33 37 44 229 Schatten  53 106f. 121 151 155 159 161 170 172f. 174 203f. 228 311 316 320 Scheffler, Karl  31f. Schiller, Friedrich  50f. 57 59f. 104 306 Schinkel, Karl Friedrich  20 27 39 74 113ff. 140 152 157ff. 162 166 172f. 181 183 200 202 212 287 323 325 Schönheit  20 26 29 33 37 51ff. 55 57f. 68 96 100 102f. 112f. 118 120f. 122 124 128 133 152f. 161 165f. 173f. 182 184 191f. 196 148 201 224f. 228 230 238 254f. 266f. 270 280 305 310 325f. 328 336 338 Schulze, Franz  34 193 311 Schwarz, Rudolf  74 143 147f. 160f. 163 173f. 209 211 230 238 273 281 283 288 300 308 320 Seel, Martin  69 199f. 336f. Simmel, Georg  64ff. 103ff. 201 214 300 334 Sinnlichkeit  108 110 167 242f. 245 250 252 301 336 Skizze  34 42 61 82 95 97 121f. 124 136 180f. 202 204 209f. 221ff. 263f. 267 272f. 280 285 320 Skulptur  81 181 209 251 279ff. 288 313 Soeder, Hans 79f. 85  Spelberg, Almuth 202 Stierle, Karlheinz 249f. Stimmung  20 24f. 60 68 87 94 100 102f. 104 106 111f. 115ff. 120 123 125 130 137 151 153 158 165 172f. 185ff. 195f. 198 201 212 222 226 263f. 270f. 273 284f. 290 292 302 311 313 319 Struktur (Konstruktion)  136 163f. 167f. 172f. 181 184 224f. 255 260f. 281 284 293 319f. 322 325f. Stütze (Säule) 66f. 92f. 110 113f. 122f. 127ff. 141 151 159f. 163 165 167f. 170 173 183f. 211 224 236 240 247 258 263 287 292 296f. 308 319f. 322f. 329 332

407

Unendlichkeit  85 94 107f. 124f. 143 Vegetabil  222 318 Verdinglichung  32 64 103 Vernunft 49f. 94 99 101f. 104f. 110 127 153 164 241ff. 254 336f. Verstand (Ratio)  20 24 38f. 49 64 70 74 86 88 95 99 100f. 102 104 108 110 113 120f. 138f. 140f. 143 149 152 164 178 197 199 214 240ff. 245 249 254 257 261 301 325f. 336 Villa  40 54 56ff. 81 93 95 98 198 210f. 220 223 227 259 271 279 320 Wandscheibe  67 76 88 91ff. 240 264 267 288 282 Weißenhofsiedlung 139 Werkbund  16 29 35f. 38f. 47 89f. 137 140 178 240 Westheim, Paul  78 114 Wildnis  45 295 307 313f. 331 Wohnen  15 17 22 24 29 33 37f. 44 46 54 58 64 66f. 70 76 81ff. 89 91 93ff. 97f. 102ff. 129 140f. 149 183f. 186 191 193 198 200f. 208f. 214 216 227ff. 232 252 256 259 262 264 266 270 272 274 279f. 295f. 301 306ff. 310f. 319 323 327 329 331 334 336 338 Wright, Frank Lloyd  73 86 292 295 304 314 316 318 Ziegel (Backstein)  78 81 96 133 136 160 164 173 181 185 190f. 202f. 208 223 225 282 284 325 Ziegler, Leopold 144ff.

Impressum

Albert Kirchengast Kunsthistorisches Institut in Florenz, Max-Planck-Institut

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