Das Rheinland auf dem Weg nach Preußen 1815–1822 [1 ed.] 9783412509965, 9783412509125


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Das Rheinland auf dem Weg nach Preußen 1815–1822 [1 ed.]
 9783412509965, 9783412509125

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DAS RHEINLAND AUF DEM WEG NACH PREUSSEN 1815–1822

THOMAS BECKER, DOMINIK GEPPERT, HELMUT RÖNZ (HG.)

STADT UND GESELLSCHAFT Studien zur Rheinischen Landesgeschichte Herausgegeben vom LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte Band 6

Das Rheinland auf dem Weg nach Preußen 1815–1822 herausgegeben von Thomas Becker, Dominik Geppert, Helmut Rönz

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gedruckt mit Unterstützung des Landschaftsverbands Rheinland.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln  Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Ankunft Friedrich Wilhelms III. auf dem Dampfer „De Rijn“ in Köln am 14.9.1825 (AKG) Herausgeber: Thomas Becker, Dominik Geppert, Helmut Rönz Redaktion: Wolfgang Rosen, Keywan Klaus Münster, Andrea Rönz, Marvin Dettenbach, René Schulz Bildredaktion: Yorick Fastenrath Register: Yorick Fastenrath, Joséphine Bütefür, Niclas Deutsch Korrektorat: Rainer Landvogt, Hanau Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-50996-5

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  7 Zur Einführung: Das Rheinland auf dem Weg nach Preußen 1815–1822 . . . . . . . . 9 Helmut Rönz

Der Wiener Kongress 1815 und die europäische Staatenwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  23 Dominik Geppert Monarchie und Alltag. Die Stadt Wien und der Wiener Kongress . . . . . . . . . . . . . . 39 Thomas Just Le vrai boulevard de l’Allemagne? Der Übergang der linksrheinischen Gebiete an Preußen und Bayern im Kontext des Wiener Kongresses (1814–1816) . . . . . . . . 51 Stephan Laux Der Rhein fließt in meinen Adern. Metternich, das Rheinland und der Wiener Kongress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Wolfram Siemann

Staat, Kommunen und Akteure … beynahe gänzliche Vernachlässigung der Einländer? Kommunale und staatliche Verwaltung im Übergang vom Empire français zum Königreich Preußen . . . . . . . 119 Martin Schlemmer Bürokratische Herrschaft im ländlichen Raum. Ein französisch-preußisches Projekt des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Walter Rummel Johann August Sack (1764–1831). Oberpräsident an Rhein und Oder – eine preußische Beamtenkarriere in Zeiten des Umbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Margret Wensky

6

Inhalt

Die rheinische Hochschule Indianer, Prinzen, Corpsstudenten. Die Universität Bonn und die Hohenzollern 197 Thomas Becker Bonns „entzückte Musensöhne“: „Tumultuanten“, „Demagogen“ oder „ganz normale“ Unruhestifter? Studentenkulturelle Befunde im Spiegel preußischer Zentralakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Jürgen Kloosterhuis Entwicklungen zur Landwirtschaftlichen Hochschule Bonn-Poppelsdorf im agrarstrukturellen Wandel der preußischen Rheinprovinz . . . . . . . . . . . . . . . . . .  243 Erich Weiß

Wirtschaft und Finanzen im Wandel Schmuggel am Rhein während der Napoleonischen Kriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  281 Margrit Schulte Beerbühl Das Rheinland als institutionelles Laboratorium. Französische, rheinische und preußische Einflüsse auf die Kreditwirtschaft während der „Sattelzeit“ . . . . . . . . . . 305 Boris Gehlen

Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  335 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  337 Personen- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  339 Yorick Fastenrath, Joséphine Bütefür, Niclas Deutsch

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser! Das „Epochenjahr 1815“ markierte nicht nur für das internationale Staatensystem eine Zäsur. Die auf dem Wiener Kongress getroffenen Entscheidungen dürfen in vielerlei Hinsicht als revolutionär gelten. Sie ordneten Europa neu und schufen ein modernes Verständnis diplomatischer Friedenssicherung. Zugleich besiegelten sie die Verbindung vermeintlicher Gegensätze. Nach langen Verhandlungen beschloss der Kongress den Übergang der bislang unter französischer Herrschaft stehenden „Rheinlande“ an Preußen. Der einstige Kriegsgegner Frankreichs, das Königreich Preußen, trat 1815 einen von Skepsis begleiteten Weg gen Westen an. Kaum eine Aussage verkörperte die derweil am Rhein aufblühenden Vorurteile besser als der vielzitierte Ausruf des Kölner Bankiers Abraham Schaaffhausen, da heirate man „ävver en en ärm Famillich!“ Schon Reinhold Koser beschrieb das Verhältnis von preußischem Staat und regionaler Peripherie als „Vernunftehe“, zu der sich jedoch – rascher, als es Schaaffhausens Evergreen vermuten lässt! – aus dem Alltag erwachsene Nähe gesellte. Nicht alleine von Treitschkes „Krummstablanden“ war die Rede, durchaus auch von wechselseitigen Bereicherungen, schließlich habe man trotz Spannungen voneinander „reichen Segen gehabt, materiell wie auf idealem Gebiete“ (Koser). Und schließlich betrifft die von Thierry Lentz so monumental skizzierte Neugründung Europas auch unser heutiges Verständnis des Raumes „Rheinland“. Erst 1822 sollte der Bewusstseinsraum zwischen Saar und Niederrhein in Form der preußischen Rheinprovinz eine historisch-politische Gestalt annehmen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes versuchen die damit verbundenen Veränderungen in einem breiten und vergleichenden Panorama einzufangen. Gleichzeitig gehen sie den Entwicklungen in den Bereichen von Verwaltung, Wirtschaft, Bildung und Kultur nach. „Eine Forschung ohne Dankesschulden ist suspekt“ – diesem weisen Ausspruch Umberto Ecos folgend, bedanken wir uns bei allen Beteiligten, die zum Gelingen beigetragen haben. Ein erstes Dankeswort gilt den Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes. Das Zustandekommen verdanken wir aber auch vielen wichtigen Gesprächspartnern und Impulsgebern, dem Verein für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande sowie dem Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte der Universität Bonn. Bei der Redaktion des Bandes bewährten sich Wolfgang Rosen, Keywan Klaus Münster, Andrea Rönz. Die Bildredaktion lag in den Händen von

8

Vorwort

Yorick Fastenrath. Für das abrundende Personen- und Ortsregister zeichnen Joséphine Bütefür und Niklas Deutsch verantwortlich. Mit dem Böhlau Verlag, herausgehoben erwähnt sei Kirsti Doepner, hatten wir bei der Drucklegung erneut einen ebenso tatkräftigen wie geduldigen Partner. Herzlichen Dank! Bonn im November 2018, Thomas Becker, Dominik Geppert, Helmut Rönz

Zur Einführung

Das Rheinland auf dem Weg nach Preußen 1815–1822 Helmut Rönz

„Danke Berlin“ – so stand es auf allen Museumskatalogen, Buchdeckeln und Postern des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Landschaftsschutz, die sich mit dem Jahr 1815 und dem Übergang des werdenden Rheinlandes an Preußen beschäftigten. Es liegen Welten zwischen dem „Danke Berlin“ aus dem Jahr 2015 und jenem Ausspruch Edith Ennens (1907–1999), der immer gerne zitiert wird, wenn es um die schwierige Beziehung von Preußen und Rheinland geht: „Mit dem Jahr 1945 wurde das Rheinland vom preußischen Joch befreit.“1 So urteilte die große Stadthistorikerin mit rheinisch-saarländischen Wurzeln im Kreise ihrer Schüler. Diese freilich polemische Aussage scheint bei vielen „Rheinländern“ bis heute zumindest emotional zum Kulturgut zu gehören. Doch war es gerade die preußische Zeit, in der zum ersten und bisher einzigen Mal die territoriale Form jenes Raumes Gestalt annahm, der heute mit dem Begriff des Rheinlandes assoziiert wird. Dabei ist mit dem Jahr 1815, dem Wiener Kongress, mehr aber noch mit 1822, dem Gründungsjahr der preußischen Rheinprovinzen, ein Rheinland entstanden, das nicht nur durch kulturelle, konfessionelle, soziale und demografische Unterschiede gekennzeichnet war, sondern das auch staatliche und traditionale Gegensätze vereinigte. Dieser Übergang ist Inhalt des vorliegenden Bandes. Erstmals – und bisher auch zum einzigen Mal – existierte mit der Rheinprovinz eine Gebietskörperschaft, eine staatliche Verwaltungseinheit, die den rheinischen Namen in sich trug und raumbildend wirkte. Dieses preußische Rheinland umfasste im Norden die heutigen Regierungsbezirke Düsseldorf und Köln, im Süden die ehemaligen Regierungsbezirke Koblenz und Trier sowie das Saarland mit Ausnahme des Saarpfalzkreises, der bis 1945 noch zu Bayern gehörte. Die Rheinlandgenese wurde zuvor schon von anderen Rahmenbedingungen und Ereignissen befördert. So hatte der rheinische Raum, zumindest der linksrheinische, eine eigene französische Rechtstradition über das Jahr 1815 hinaus, bekannt als Rheinisches Recht beziehungsweise Rheinisches ­Institut. 1 So beispielsweise Andreas Fasel in der Welt, 18.1.2015, abrufbar unter: https://www.welt.de/print/wams/ nrw/article136486108/Und-ueberall-Bismarck.html (abgerufen am 10.12.2018); vgl. weiterführend: Rönz, Helmut, Zwischen staatsbürgerlichem Selbstbewusstsein und kulturellem Provinzialismus – Staat und Städte an Rhein, Mosel und Ruhr vom späten 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, in: Ditt, Karl/Tenfelde, Klaus (Hgg.), Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen. Koexistenz und Konkurrenz des Raumbewusstseins im 19. und 20. Jahrhundert (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 57), Paderborn u. a. 2008, S. 55–84, hier S. 55.

10

Helmut Rönz Elten

Territorien im Rheinland 1789 Fbt. Münster

pe Lip

Hzgt. Kleve

Vest Recklinghausen Hzgt. Geldern (pr.)

Dortmund

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Aachen

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Köln

Fbt. Lüttich

Isenburg Blankenheim Arenberg Malmedy Koblenz StavelotVirneburg Prüm Nied. Gft. sel Katzenelnbogen Gerolstein Mo Kft. Mainz Ft. PfalzMainz Simmern

Kft. Trier

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Frankfurt

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Speyer

© LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, Bonn 2010

Kgr. Preußen Kft. Köln Kft. Pfalz-Bayern Kft. Trier Kft. Mainz Hzgt. Pfalz-Zweibrücken Haus Habsburg-Österreich Mgft. Baden Lgft. Hessen Fürstentümer Nassau H. Gft. Lgft. Mgft.

Herrschaft Grafschaft Landgrafschaft Markgrafschaft

Ft. Hzgt. Fbt. Kft.

Kleine weltliche Herrschaftsgebiete Kleine geistliche Herrschaftsgebiete Kondominien Strittige Gebiete Rep. Ver. Niederlande Könichreich Frankreich Reichsstadt Grenze der Rheinprovinz 1871

Fürstentum Herzogtum Fürstbistum Kurfürstentum

Abb. 1  Territorien im Rheinland 1789.

40 km

Zur Einführung

11

Dass schließlich das Rheinland mit der Region an Rhein, Mosel und Ruhr, Sauer, Sieg und Saar verbunden wird, beruht auf der prägenden Kraft der Rheinprovinz, auch wenn so mancher Tourist etwa die Loreley oder das Niederwalddenkmal – allesamt nassauische Sehenswürdigkeiten – gerne in das „romantische“ Rheinland transferiert. In der Rheinprovinz, in ihren Gemeinden, Städten und Kreisen bildeten sich nicht nur ein gemeinsames Raumbewusstsein, sondern auch spezifische politische, administrative und kulturelle Strukturen mit Langzeitwirkung.2 Inwiefern passt Edith Ennens Ausspruch also? Was wäre Koblenz ohne das Deutsche Eck3, die Gebäude des Oberpräsidiums oder ohne die unzähligen kleinen und großen Denkmäler. Was wäre Köln ohne seine Reiter an der Hohenzollernbrücke?4 Oder gar ohne die Brücke? Ohne seine Domtürme? All diese Bestandteile sind Teil einer Sicht auf die Stadt, eines Panoramas, das sicherlich seinesgleichen sucht. Sogar in Saarbrücken wird nahe dem Landtag der preußischen Königin Luise gedacht. Die Beziehung ist „kompliziert“, wie ein Ausstellungsband des Kölnischen Stadtmuseums einmal titelte.5 Diese schwierige Beziehung begann sogleich und sehr früh. Dabei waren die Preußen nicht neu am Rhein – eher im Gegenteil. Bevor Preußen zu Brandenburg kam, war ein großer Teil des Niederrheins bereits brandenburgisch. Trotzdem waren die Jahre zwischen 1815 und 1822 Epochenjahre, nicht nur für das internationale Staatensystem, sondern auch für die Beziehung von Preußen und den Menschen am Rhein – ja, für den preußischen Staat selbst. Nicht umsonst warnte der (mehr in Koblenz und am Rhein denn in Preußen verehrte) Dichter Max von Schenkendorf (1783–1817) vor gegenseitigem Unverständnis. Er legte den Preußen nahe, Beamte zu schicken, die verständig für das weitgehend katholische Volk am Rhein waren. Denn dort hielt man inzwischen die liberale Gesetzgebung Napoleon Bonapartes (1769–1821) hoch, den Katholizismus und Bräuche wie den Karneval. Hinzu kamen Vorurteile gegen die ländlich geprägten Preußen, gerade in industrialisierten Zentren wie Eupen, Aachen und Köln. Als der bedeutende Kölner Bankier Abraham Schaaffhausen (1756–1824) erfuhr, dass in Zukunft Preußen seine Heimat verwalten sollten, soll er aus2 Vgl. hierzu: Rönz, Selbstbewusstsein. 3 Zur Geschichte des Kaiserdenkmals und des Deutschen Ecks in Koblenz vgl. Koelges, Michael, Heroisches Kaiserdenkmal oder „Faustschlag aus Stein“? Das Deutsche Eck in Koblenz, in: Portal Rheinische Geschichte, http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/heroisches-kaiserdenkmal-oder-%22faustschlag-aus-stein%22-das-deutsche-eck-in-koblenz/DE-2086/ lido/57d129cb4966f6.01154517 (abgerufen am 10.12.2018). 4 Zu Köln zwischen Frankreich und Preußen vgl. Herres, Jürgen, Köln in preußischer Zeit. 1815–1871 (Geschichte der Stadt Köln, Bd. 9), Köln 2012. Schon älter, aber nach wie vor aktuell: Ayçoberry, Pierre, Köln zwischen Napoleon und Bismarck. Das Wachstum einer rheinischen Stadt (Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur, Bd. 20), Köln 1996. 5 Lewejohann, Stefan/Pries, Sascha (Hgg.), Achtung Preußen! Beziehungsstatus: kompliziert. Köln 1815– 2015. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung des Kölnischen Stadtmuseums vom 29. Mai 2015 bis 25. Oktober 2015, Mainz 2015.

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Helmut Rönz Die drei rheinischen Departements um 1803

Kleve

Kranenburg

Kalkar

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Hzgt. Kleve

Goch

Département de Rhin et Moselle

Xanten

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Département Sarre Geldern

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AACHEN

Departementhauptort

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Arrondissementhauptort

Xanten

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Kantonhauptort

Krefeld

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Arrondissementgrenze

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Viersen

Kantonsgrenze

Neuss Odenkirchen

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Dormagen

Erkelenz Heinsberg Linnich Geilenkirchen

40 km

Bergheim

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Grenze der Republik Frankreich (ab 18.5.1804 Kaiserreich)

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Dép. de la

Brühl

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Kleve

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Bonn

Froitzheim Zülpich

Rheinbach

Kft. Erzstift Köln

Monschau Remagen

Gemünd

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Neuwied Malmedy

Reifferscheid Blankenheim Adenau

Dép. de l’Ourthe Schönberg

Mayen

Andernach Rübenach

Gerolstein

Ulmen

Daun

Lahn

KOBLENZ

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Virneburg

Lissendorf

Prüm

Ft. Nassau-Weilburg

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Münstermaifeld Kaisersesch Cochem

Manderscheid Lutzerath

Ft. Nassau-Usingen

Kft. Hessen-Kassel

Boppard Treis St.Goar Kastellaun

Kyllburg

Wittlich

Bitburg

Dép. des Forêts

Bacharach

Zell Trarbach

Simmern Kirchberg

Bernkastel Schweich Pfalzel

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Büdlich

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Birkenfeld

Saarburg

Lgscht. HessenDarmstadt

Sobernheim

Meisenheim Grumbach

Baumholder Wadern

Kusel

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Dép. de la Moselle

Mainz

Stromberg Kreuznach

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Ottweiler

Dép. du Mont - Tonnerre

Waldmohr

Saarbrücken Blieskastel

Kft. Baden

St.Arnual

© LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, Bonn

Abb. 2  Die drei rheinischen Departements um 1803.

Dép. du Bas-Rhin

Zur Einführung

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gerufen haben: „Jesses Maria, do hierode mer ävver en en ärm Famillich!“ („Ohje, da heiraten wir aber in eine arme Familie!“).6 Heinrich von Treitschke (1834–1896), der borussische Historiograf, konstatierte umgekehrt: „Trotz seiner diplomatischen Niederlagen war der preußische Staat jetzt enger als jemals mit dem Leben der gesamten Nation verbunden. Er beherrschte nur noch etwa zwei Millionen Slawen; er sah, mit Ausnahme der Bayern und der Schwaben, bereits alle deutschen Stämme in seinen Grenzen vertreten und ward auch von den Gegensätzen des religiösen Lebens der Nation stärker als sonst berührt, da nunmehr zwei Fünftel seiner Bevölkerung der katholischen Kirche angehörten; er empfing endlich in den großen Kommunen der Ostseegestade und des Rheinlandes ein neues Kulturelement, das ihn den deutschen Nachbarlanden näherbrachte und gewaltig anwachsend nach und nach auf den gesamten Charakter des Staatslebens umbildend einwirken sollte.“7 In der Umgangssprache nennt man die von Treitschke beschriebene Sicht schlichtweg „Fremdeln“, und sowohl Schenkendorf als auch Treitschke verdeutlichen, dass etwas Neues auf Preußen und die Menschen am Rhein zukam. Beide Seiten wurden einer Veränderung unterworfen – ob sie nun wollten oder nicht. Das empfanden bereits 1815 sowohl viele Preußen als auch die einfachen Rheinländer ähnlich. Dies berichten zahlreiche Quellen – durchaus auch mit Empathie für das Fremde. Angeführt sei das Tagebuch eines schlesischen Landwehroffiziers, der mit seinem Armeekorps zu spät in Waterloo ankam, somit also den Sieg gegen Napoleon verpasst hatte, und nunmehr durch die neuen preußischen Länder am Rhein zog: In Boppart Quartier beim Fleischer, der uns so viel Fleisch zu essen gab. Im Übrigen war das Quartier gut, denn der Mann hatte guten Willen. Die Burschen [er meint die preußischen Kameraden] hingegen klagen sehr, und in der Tat haben sich die hiesigen Bewohner als neue Preußische Untertanen gegen sie sehr schlecht gezeigt. Es ist wirklich ein Unglück für diese Leute, daß wenn sie gleich besser sind wie die Franzosen, dennoch dasjenige was man den plier nennt von den Franzosen so sehr angenommen haben. Der gemeine Mann erkennt in diesem plier den Franzosen und kann ihn um deswillens nicht lieb haben, und erkennt in ihm nichts als einen deutschen Franzosen. Das Gute, was diese Leute trotz des französischen plier wohl haben mögen, liegt dem gemeinen Mann zu tief, und so geschieht nichts als Unheil. Wir lernen uns als neue Landsleute hassen, statt daß wir uns mit Liebe begegnen sollten, als Kinder eines Staates. Wenn aber der Staat nur zusammenraffen [?] will und er die Gesinnung, wenn sie ihm nicht zusagt, mit Gewalt zu unterdrücken sucht, so ist das wohl eine unmittelbare Folge.8 6 Aus: Brophy, James M., 1815 bis 1848 – Vom Wiener Kongress zur Revolution, in: Portal Rheinische Geschichte, http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Epochen/1815-bis-1848---vomwiener-kongress-zur-revolution-/DE-2086/lido/57ab241e7d1687.63686537 (abgerufen am 01.01.2019). 7 Treitschke, Heinrich von, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Zweiter Band, Leipzig 1882, S. 181; digital abrufbar unter: http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/treitschke_geschichte02_1882 (abgerufen am 10.12.2018). 8 Unediertes Tagebuch des späteren Rittergutsbesitzers und Groß Strehlitzer Landrats Ernst Bürde (1794– 1869), Privatbesitz.

14

Helmut Rönz

Die Aussage des Grenadiers bietet großes inhaltliches Potenzial und wirft weitere Fragen auf. Es würde sich lohnen, die einzelnen Satzstücke genauer zu analysieren; seine Sicht auf den Staat etwa. Weiterhin eröffnet sich die Frage, wo er mit den neuen Landsleuten aufeinandertraf und wie sich die dortigen religiösen, gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse darstellten – wie also 20 Jahre französische Herrschaft am Rhein gewirkt hatten. Bemerkenswert ist die Sicht auf die unsicheren Kantonisten am Rhein, deren Zuverlässigkeit durch die lange französische Zeit eingeschränkt scheint. Vor allem lässt sich ein wahrlich schlechter Start in die gemeinsame Beziehung, voller gegenseitiger Vorurteile und Unverständnis, konstatieren. Aber es war ein Start mit weitreichenden Folgen und mit Entwicklungen, die lange bis in das 20. Jahrhundert und die Gegenwart wirkten und wirken. Preußen und das Rheinland gingen einen langen Weg zueinander, einen schwierigen Weg. Insofern ist der Titel des vorliegenden Bandes durchaus doppeldeutig zu lesen: Das Rheinland auf dem Weg nach Preußen – aber auch Preußens Weg in das Rheinland und mit dem Rheinland. Befinden und Befindlichkeiten haben oft einen rationalen Kern. Diesem wollen die hier versammelten Autorinnen und Autoren nachgehen. Den ersten Aufschlag macht ein Blick auf den Wiener Kongress, jenes Zentrum, von dem die „Neugründung Europas“ ausging.9 Betrachtet werden das internationale Staatensystem und die Wirkung der Wiener Entscheidungen auf den weiteren diplomatiegeschichtlichen Verlauf des Jahrhunderts. Dominik Geppert widmet sich der Rezeptionsgeschichte und der neuen, positiveren Sicht der Diplomatigeschichte auf den Kongress. Für Wolf D. Gruner etwa war er „sehr viel besser, effektiver, interessanter und zukunftsträchtiger als sein Ruf “, gar ein zentraler „Beitrag für den Weg Europas von einer Konflikt- zu einer Friedensgesellschaft“.10 Thierry Lentz entwirft ebenfalls ein positives Bild des Kongresses, wenn er betont, „Wien“ habe dem europäischen Kontinent „ein ganzes Jahrhundert ohne großen Krieg“ beschert. Auch der Ort des Geschehens wird in den Blick genommen. Der König von Württemberg frißt für alle, der König von Bayern säuft für alle und der Zar von Rußland liebt für alle! 11 Ein geflügeltes Wort, das wohl jeder kennt – wenn auch nur aus dem UFA-Film von Erik Charell (1894–1974) aus dem Jahr 1931 mit Lillian Harvey (1906–1968) und Willy Fritsch (1901–1973). Thomas Just führt in das Wien des Jahres 1815 ein; in das Spannungsfeld zwischen dem fernen Glanz der Feste am Hofe und dem täglichen Überlebenskampf auf den Straßen einer Stadt, die unter vielen Jahren Krieg gelitten hatte. Stephan Laux schlägt anschließend eine diplomatiegeschichtliche Brücke zum Rheinland, wenn er fragt, wie der Westen an Preußen kam. Dabei geht er jedoch nicht der vielbehandelten und doch stets virulenten Frage nach, wie das Rheinland denn   9 So Lentz, Thierry, 1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas, München 2014. 10 Gruner, Wolf D., Der Wiener Kongress 1814/15 (Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 19252), Stuttgart 2014, S. 11. 11 Zit. n. Friedell, Egon, Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der Europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, Neuauflage, München 2007, S. 957.

Zur Einführung

15

Linksrheinische Departements im Rheinland 1813

Dep. Lippe Kleve

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Departementhauptort Arrondissementhauptort

Dep. Rhein Essen

Grenze des Kaiserreichs Frankreich

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Arrondissementgrenze

Dep. Niedermaas

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Provinzgrenze 1871

Düsseldorf

40 km

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Ghzgt. Frankfurt

Saarbrücken

© LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, Bonn 2010

Abb. 3  Linksrheinische Departements im Rheinland 1813.

Speyer

16

Helmut Rönz

nun zum „Rheinland“ wurde. Vielmehr beleuchtet er die Umstände, unter denen sich die politische Übertragung des Rheinlandes in den preußischen Staat vollzog. Der Beitrag setzt sich mit den Voraussetzungen, dem Verlauf und den Konsequenzen der Verhandlungen in Wien auseinander und legt dabei ein besonderes Augenmerk auf die Voreinstellungen der beteiligten Diplomaten und die Diskussionskultur auf dem Kongress. Mit dem entscheidenden Akteur in Wien beziehungsweise mit seinen „rheinischen Wurzeln“ setzt sich Wolfram Siemann auseinander. In seinem Beitrag beleuchtet er nicht nur den familiären Hintergrund des in Koblenz geborenen Clemens Lothar Wenzel von Metternich (1773–1859), sondern auch im Rheinland gemachte Revolutionserfahrungen und sein diplomatisches Wirken.12 Nachdem die preußischen Truppen in der Neujahrsnacht 1813 bei Kaub den Rhein überschritten hatten, wurden die französischen Verwaltungsstrukturen, zumindest was das Personal betraf, schnell überwunden. Denn die Beamten flohen, ohne Widerstand zu leisten, mit den auf dem Rückzug befindlichen Truppen des Kaisers in das französische Kernland. Die hinterlassenen Strukturen wurden allerdings von den Besatzungstruppen zunächst mangels Alternativen übernommen. Es entstand eine provisorische Verwaltung, die den seit 1800 erfolgten Aufbau der französischen Administration unangetastet ließ. Mit dem Übergang der Länder am Rhein startete Preußen sukkzessive den Versuch, Verwaltung und kommunalen Aufbau seiner Neuerwerbungen an Altpreußen anzupassen – und hier lag viel Konfliktpotenzial. Mit Patent vom 5. April 1815 nahm König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) Besitz von seinen westlichen Provinzen. Seit Frankreichs Abzug vom Rhein waren inzwischen zwei Jahre vergangen. In den Jahren des Übergangs waren noch die alten französischen Institute in Kraft. Sie verdeutlichten den Bürgern, da sie doch ohne die despotischen Züge der ‚welschen Herrschaft‘ und die exorbitanten Steuerforderungen des Kriegsherrn aus Paris lebten, was sie daran hatten. Allerdings standen die Steuerforderungen der kriegsführenden Preußen jenen der Franzosen zunächst in nichts nach. Nach Karl-Georg Faber (1925–1982) nahmen die rheinischen Institute die Funktion einer „Ersatzverfassung“13 ein und waren somit an die Stelle der von Krone und Bürokratie geforderten Konstitution getreten. Die Verfasstheit der Kommunalordnung wurde in der Folge zum zentralen Streitpunkt im preußischen Ost-West-Dualismus des Vormärz.14 In einem zweiten Teil setzt sich der Band mit dem klassischen Thema bei der Betrachtung rheinisch-preußischer Befindlichkeiten auseinander – dem Verhältnis von 12 Vgl. die monumentale Biografie: Siemann, Wolfram, Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München 2016. 13 Faber, Karl-Georg, Die rheinischen Institutionen, in: Hambacher Gespräche 1962, Stuttgart 1964, S. 20–40. 14 Vgl. hierzu die Beiträge in: Wensky, Margret (Hg.), Preußen und die rheinischen Städte, Köln/Bonn 1994. Vgl. auch: Rönz, Helmut, Die Höheren Kommunalverbände in Nordrhein-Westfalen, in: Becker, Christoph/Fassl, Peter (Hgg.), Die Höheren Kommunalverbände in Deutschland – Modell der Zukunft (Augsburger Schiften zur Rechtsgeschichte, Bd. 25), Berlin/Münster 2017, S. 21–38.

Zur Einführung

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Provinzen im Rheinland nach 1815 Kleve Wesel (Ver.)

Provinzen 1818 Jülich-Kleve-Berg Großherzogtum Niederrhein

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Sitze der Provinzialregierungen Essen

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Niederlande

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Rheinprovinz 1871 Provinzgrenze Regierungsbezirksgrenze

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Sitz der Bezirksregierung zugleich Sitz des Oberpräsidiums

Düsseldorf

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40 km

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Düren Kgr. Eupen Belgien Montjoie (1830/39)

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Oberamt Meisenheim 1866 Königreich

Saarbrücken

© LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, Bonn 2010

Abb. 4  Provinzen im Rheinland nach 1815.

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Mainz

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Wittlich Großherzogtum L u xe m b u r g

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Bayern Ghzgt. Baden

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Helmut Rönz

Staat, Verwaltung und Kommune. Martin Schlemmer zeichnet den bereits angedeuteten Übergang und die Konflikte um Kommune und Staat nach. Dabei stellt er auch die Frage, inwiefern ein mehr oder weniger vollständiger Austausch des Verwaltungspersonals stattfand oder ob auch Fälle personeller Kontinuität auszumachen sind.15 Walter Rummel fragt nach der preußischen Herrschaft im ländlichen Raum – eine konfliktreiche Geschichte. Seine Forschungen sind Ergebnis einer breiten Untersuchung zum Verhältnis von Verwaltung und ländlicher Bevölkerung im Übergang vom Alten Reich zur Staatlichkeit des 19. Jahrhunderts. Margret Wensky nutzt einen biografischen Ansatz. Sie untersucht den preußischen Spitzenbeamten Johann August Sack (1764–1831), der als Oberpräsident sowohl am Rhein als auch ostelbisch an der Oder diente. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der rheinischen Hochschule: der 1818 gegründeten Universität Bonn. Thomas Becker widmet sich den Gründungsjahren der Universität. Dabei beleuchtet er die Entwicklung von einem dezidiert frostigen Verhältnis der Monarchen zur Universität bis zu deren Wandlung zur sogenannten „Prinzenuniversität“. Die damit schon angesprochene Rolle der Studentenverbindungen, für deren katholische Form Christopher Dowe in einem anderen Kontext den Begriff der „Doppelten Elite“ geprägt hat,16 führt Jürgen Kloosterhuis weiter aus. Den Umgang mit den Studenten, vor allem die sogenannte „Demagogenverfolgung“, thematisiert er unter Heranziehung der in diesem Zusammenhang nur stiefmütterlich beachteten Überlieferung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz. Spätestens zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Bonn zu einem Zentrum agrarwissenschaftlicher Forschung und Lehre. Erich Weiß widmet sich der 1847 eröffneten Königlich Höheren Landwirtschaftlichen Lehranstalt zu Poppelsdorf, ihrer Vorgeschichte sowie der weiteren Entwicklungsgeschichte. Diese ordnet er in den agrarstrukturellen und agrarrechtlichen Wandel der preußischen Rheinprovinz ein. Damit beleuchtet er zugleich die komplexe Interaktion von Landwirtschaft, Akademie, Universität und Staat.17

15 Damit wird bewusst ein von Graumann, Sabine, Französische Verwaltung am Niederrhein. Das Roer­ departement 1798–1814 (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, Bd. 27), Essen 1990, eröffneter Rahmen geschlossen. Auch wird gefragt, ob sich die Ergebnisse von Schindlmayr, Norbert, Zur preußischen Personalpolitik in der Rheinprovinz. Eine Untersuchung über die Anstellung der höheren Regierungsbeamten und der Landräte in den Regierungsbezirken Koblenz und Trier zwischen 1815 und 1848, Köln 1969, auf die ganze Rheinprovinz übertragen lassen. 16 Dowe, Christopher, Doppelte Eliten. Die Mitglieder der katholischen Studentenkorporationen im Deutschen Kaiserreich, in: Denzel, Markus A./Asche, Matthias/Stickler, Matthias (Hgg.), Religiöse und konfessionelle Minderheiten als wirtschaftliche und geistige Eliten (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, Bd. 28), St. Katharinen 2009, S. 261–282. 17 Dominik Geppert, Thomas Becker und Erich Weiß sind auch Autoren der vierbändigen Geschichte der Universität Bonn, die derzeit den Forschungsstand repräsentiert: Geppert, Dominik/Becker, Thomas/ Rosin, Philip (Hgg.), Geschichte der Universität Bonn, 4 Bände, Göttingen 2018.

Zur Einführung

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Abschließend widmen sich zwei Beiträge der wirtschaftlichen Entwicklung vor und nach 1815. Ausgehend von Gustav Schmollers (1838–1917) Bemerkung, die Geschichte des Handels im 18. Jahrhundert sei letztlich eine Geschichte des Schmuggels, beschreibt Margrit Schulte Beerbühl den heimlichen Handel im Rheinland nach der Besetzung der linksrheinischen Gebiete 1794. Ein gänzlich neuartiger Beitrag, der einer problematischen Quellenlage zu trotzen hatte, vermieden es die Akteure doch naturgemäß, aktenkundig zu werden. Boris Gehlen lenkt den Blick abschließend auf die Kreditwirtschaft und die sich wandelnden preußischen, französischen – ja, manches Mal auch „rheinischen“ – Einflüsse. Zum Ausgangspunkt nimmt er Richard Tillys These, die preußische Politik nach 1815 habe für die Wirtschaftsentwicklung und die Finanzmärkte vornehmlich hemmend gewirkt. Gehlen legt das landesgeschichtliche Maßband an und zeigt: Wie in zahlreichen anderen Fällen greift es zu kurz, die im Rheinland kulminierenden französischen Rechtstraditionen, rheinischen Marktpraktiken und preußischen Finanz- und Wirtschaftsstrategien lediglich als duellierendes Gegeneinander darzustellen.

Der Wiener Kongress

1815 und die europäische Staatenwelt Dominik Geppert

Die Neuordnung der europäischen Staatenwelt auf dem Wiener Kongress vom Herbst 1814 bis zum Frühsommer 1815 hatte lange Zeit eine schlechte Presse. Sie galt, wenn nicht als Restauration der Zustände des Ancien Régime, so doch als Festschreibung einer reaktionären Ordnung, die ganz bewusst den fortschrittlichen Tendenzen von Liberalismus, Nationsbildung und Demokratie entgegenstand beziehungsweise geradezu mit dem Ziel errichtet wurde, diese Kräfte einzudämmen.1 Im Zentrum des Interesses stand die territoriale Neugestaltung des Kontinents, insbesondere die Umgestaltung des 1806 untergegangenen Alten Reichs zum Deutschen Bund und die sogenannte polnisch-sächsische Frage, die Anfang 1815 sogar so etwas wie die Gefahr eines neuen Krieges mit sich brachte. Schon kritische Zeitgenossen nahmen die oft willkürlich anmutenden Grenzverschiebungen und Gebietszuteilungen, die in Wien ausgehandelt wurden, als unwürdiges Geschacher um Land und Leute wahr, wie es etwa in einer Karikatur mit dem ironischen Untertitel „La Balance Politique“ kritisiert wurde, die im Mai 1815 in Paris publiziert worden war. Ein zweiter beliebter Vorwurf knüpfte an das berühmte Bonmot des österreichischen Feldmarschalls Karl Joseph Fürst von Ligne (1735–1814) an, der schon im Herbst 1814 kurz nach Beginn der Zusammenkunft bemerkt hatte: „Der Kongress geht nicht voran, er tanzt.“ (Le Congrès ne marche pas, il danse).2 Das bezog sich auf die Fülle von Festen 1 Siehe etwa für die ältere Forschung das Standardwerk von Griewank, Karl, Der Wiener Kongreß und die Neuordnung Europas 1814/15, Leipzig 1942; für die DDR-Forschung siehe Obermann, Karl, Deutschland von 1815 bis 1849 (Lehrbuch der deutschen Geschichte 6), 3., überarb. Aufl., Berlin [Ost] 1967; Zak, L.-A., Die Großmächte und die deutschen Staaten am Ende der napoleonischen Kriege, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 19 (1971), S. 1536–1547. Streisand, Joachim, Deutschland von 1789 bis 1815 (Lehrbuch der deutschen Geschichte 5), 2., durchges. Aufl., Berlin [Ost] 1961, Zit. S. 239: „Es ist charakteristisch für die Verhandlungen des Wiener Kongresses, dass sie Verständigung zwischen den herrschenden Klassen auf Kosten der Völker zustande kam.“ Der liberale Jurist Johann Caspar Bluntschli hatte schon im 19. Jahrhundert das von den Großmächten proklamierte Interventionsrecht kritisiert und damit – wenn auch häufig indirekt – die Ergebnisse des Wiener Kongresses; siehe Bluntschli, Johann Caspar, Das moderne Völkerrecht der civilisierten Staaten als Rechtsbuch dargestellt, Nördlingen 1868. 2 Zit. n. Lentz, Thierry, 1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas, München 2014, S. 147. Dieses vielzitierte Bonmot des Fürsten de Ligne wurde von den meisten Memoirenschreibern und Historikern übernommen. Nach Jacob Grimm soll de Ligne gesagt haben: „Le congrès danse beaucoup, mais il ne marche pas“, in: Brief von Jacob an Wilhelm Grimm vom 23.11.1814, in: Grimm, Hermann/ Hinrichs, Gustav (Hgg.), Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm aus der Jugendzeit, Weimar

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Abb. 5  „La Balance Politique“, kolorierter Kupferstich, Paris, 1815.

und Lustbarkeiten, die in Wien angeboten und wahrgenommen wurden.3 Es bezog sich aber auch auf den schleppenden Beginn der Verhandlungen. Eine Vielzahl von Themen stand auf der Agenda und der Natur diplomatischer Verhandlungen entsprechend wurde dabei gerne das eine mit dem anderen verbunden – mit dem Ergebnis, dass anscheinend keines so richtig vom Fleck kam. Auch dieser vermeintliche Missstand ist bereits von zeitgenössischen Karikaturisten mit spitzer Feder aufgespießt worden.4 Dieser lange Zeit vorherrschende negative Eindruck hat sich in den letzten Jahren weitestgehend verflüchtigt, und die zahlreichen neuen Studien, die aus Anlass des 200. Jahrestages erschienen sind, schreiben den Trend fort. Der Rostocker Historiker Wolf D. Gruner hat in seiner 2014 erschienenen Überblicksdarstellung betont, der Wiener Kongress sei „sehr viel besser, effektiver, interessanter und zukunftsträchtiger als sein 1881, S. 368. Die Geheimpolizei auf dem Wiener Kongress berichtet über die Verbitterung des russischen Zaren über den Ausspruch: „Höchstderselbe soll zumal Erbitterung geäußert haben darüber, daß der Fürst von Ligne, mit Beziehung auf ihn, gespottet und gesagt habe: ‚Le congrès danse, mais ne marche pas.‘“, Rapport vom 27.11.1814, in: Fournier, August, Die Geheimpolizei auf dem Wiener Kongreß. Eine Auswahl aus ihren Papieren, Wien/Leipzig 1913, S. 272–273, Zit. S. 273. 3 Vgl. den Beitrag von Thomas Just in diesem Band. 4 Ein Digitalisat der kolorierten Radierung, Original im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, ist abrufbar unter: http://www.europeana.eu/portal/record/08547/sgml_eu_php_obj_gm000119.html (abgerufen am: 7.12.2018).

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Abb. 6  „Le Congrès“, kolorierte Radierung, Paris, Musée Carnavalet, 1815.

Ruf “. Er interpretiert ihn als zentralen „Beitrag für den Weg Europas von einer Konflikt- zu einer Friedensgesellschaft“.5 Der lothringische Historiker Thierry Lentz entwirft in seiner Studie über den Wiener Kongress, die 2014 auch auf Deutsch erschienen ist, ebenfalls ein positives Bild des Kongresses. Er betont, „Wien“ habe dem europäischen Kontinent „ein ganzes Jahrhundert ohne großen Krieg“ beschert, was bis dahin – und bis heute – beispiellos sei.6 In diesem Beitrag werden notwendigerweise skizzen- und überblickshaft vier Teilaspekte der Wiener Verhandlungen vorgestellt, bei denen sich die Sicht der neueren Forschung besonders deutlich von den älteren Betrachtungsweisen unterscheidet, um auf diese Weise herauszuarbeiten, wie sich unser Bild vom Wiener Kongress und der aus ihm hervorgegangenen Wiener Ordnung in den vergangenen Jahren gewandelt hat. Hierzu werden zunächst die Methoden und Medien der Verhandlungen vorgestellt. Danach geht es um den damaligen Charakter des internationalen Systems sowie die Rolle und Bedeutung von Nationen, ehe abschließend das Aufkommen wirtschaftspolitischer Fragen thematisiert wird. 5 Gruner, Wolf D., Der Wiener Kongress 1814/15 (Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 19252), Stuttgart 2014, S. 11. 6 Lentz, 1815, S. 8–9.

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I. Die Methoden und Medien der Verhandlungen In den älteren Studien zum Wiener Kongress erscheinen dessen Verhandlungen in etwa so, wie sie auf dem berühmten Kupferstich von Jean Godefroy (1771–1839) nach den in Wien verfertigten Porträts des Pariser Hofkünstlers Jean Baptiste Isabey (1767–1855) dargestellt werden: als Beratungen im kleinen Kreis ordensgeschmückter Staatsleute, die im Auftrag ihrer Monarchen nach den „Methoden der rationalen Kabinettspolitik des 18. Jahrhunderts“7 agierten, sei es im Vierer-Komitee der Hauptsiegermächte England, Russland, Österreich und Preußen, sei es in dem um Frankreich ergänzten Fünfer-Komitee oder in dem von Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754–838) präferierten Achter-Komitee, zu dem zusätzlich noch die Vertreter Spaniens, Portugals und Schwedens geladen wurden, wie es auf Godefroys Stich festgehalten ist. Dieses Bild ist in den neueren Studien zwar nicht grundsätzlich verändert, aber doch teilweise korrigiert und vor allem ergänzt worden. Es wird jetzt stärker darauf abgehoben, dass der Wiener Kongress kein Friedenskongress war wie derjenige, der zwischen 1645 und 1648 in Münster und Osnabrück oder 1712/13 in Utrecht tagte. Der Krieg gegen Frankreich war schließlich bereits mit dem Ersten Pariser Frieden vom Mai 1814 beendet worden. Somit kam man in Wien nicht zum Friedensschluss zusammen, sondern zur weiteren langfristigen Sicherung des Friedens8 – und vor allem zur Feier des Friedens. Der Wiener Kongress war nicht nur und anfangs nicht einmal in erster Linie als diplomatisches Ereignis gedacht, sondern zunächst und vor allem einmal als möglichst pompöse Siegesfeier. Dabei wollte der österreichische Kaiser Franz I. (1768–1835) nicht hinter den Festivitäten zurückstehen, die der britische Prinzregent im Sommer 1814 in London abgehalten hatte. Insofern geht der Vorwurf des Fürsten von Ligne, der Kongress vermische oder verwechsele Arbeit und Vergnügen, am Kern der Veranstaltung vorbei – oder jedenfalls an einer wesentlichen ursprünglichen Absicht der Veranstalter: Es ging in erster Linie ums Tanzen und erst in zweiter Linie ums Arbeiten. Anders gewendet: Pomp und Politik hingen auch in Wien sehr viel enger miteinander zusammen als lange Zeit angenommen.9 Als man sich ans Arbeiten machte, stellte sich heraus, dass die Anwesenheit wichtiger Monarchen – wie Russlands Zar Alexander (1777–1825) oder Preußens König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) – den Gang der Verhandlungen gegenüber früheren Friedenskongressen beschleunigte. Man sparte sich Zeitverlust durch umständliche Korrespondenz zwischen den diplomatischen Vertretern am Verhandlungsort und den diversen 7 Weis, Eberhard, Der Durchbruch des Bürgertums. 1776–1847 (Propyläen-Geschichte Europas, Bd. 4), Berlin 1978, S. 346. 8 Ernst Rudolf Huber hat in diesem Sinne von einem „europäischen Friedensvollzugskongreß“ gesprochen; Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 1: Reform und Restauration. 1789– 1830, Stuttgart/Berlin/Köln 1990, S. 543 f. 9 Vick, Brian E., The Congress of Vienna. Power and Politics after Napoleon, Cambridge, Mass. 2014, S. 11–12.

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Abb. 7  „Der Wiener Kongress: Gruppenbildnis der bevollmächtigten Diplomaten“, Kupferstich von Jean Godefroy nach Jean Baptiste Isabey, 1819.

fürstlichen Residenzen. Die Souveräne waren allein durch die geografische Nähe intensiver in die Verhandlungen einbezogen. Zugleich hatten sich die Fürsten der herrschenden Dynastien während der gemeinsamen Feldzüge gegen Napoleon Bonaparte (1769–1821) in den Jahren zuvor bereits mit der Praxis häufigerer und länger dauernder Monarchenbegegnungen vertraut machen können. Dabei waren weniger komplizierte und von aufwendigem Ritual entlastete Formen des Umgangs etabliert worden, die eine Vertrauensgrundlage und ansatzweise auch so etwas wie monarchische Solidarität schufen.10 In Wien ergänzte man diese Entschlackung des höfischen Zeremoniells durch eine Reform des diplomatischen Protokolls. Die Festlegung diplomatischer Rangstufen zielte darauf, Streitpunkte um Prestige und protokollarische Vorrechte auszuräumen, die seit Jahrhunderten immer wieder für Konflikte zwischen den verschiedenen Abgesandten gesorgt hatten.11 Die Arbeit der Wiener Rangkommission war erfolgreich. „Wohl auf 10 Paulmann, Johannes, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn u. a. 2000, S. 111–115. 11 Duchhardt, Heinz, Der Wiener Kongress und seine „diplomatische Revolution“. Ein kulturgeschichtlicher Streifzug, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 65, H. 22–24 (2015), S. 27–32.

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keinem Congreß der drei letzten Jahrhunderte“, urteilte der Publizist Ludwig Klüber 1816, „empfieng die Göttin des Ceremoniels und der Etiquette so wenige Huldigungen, als auf dem wiener.“12 Zugleich hat die jüngere Forschung auch mit Blick auf den Wiener Kongress die Blickverengung auf die führenden Staatsleute und Monarchen überwunden. Sie weicht die Begrenzungen zwischen einer Geschichte der internationalen Beziehungen und der Geschichte der politischen Kultur auf. Eine Scharnierfunktion nimmt dabei das ein, was der amerikanische Historiker Brian Vick „Einflusspolitik“ („influence politics“) genannt hat: die Versuche der Lenkung oder Beeinflussung einer breiteren Öffentlichkeit in Salons, Zeitungen, Zeitschriften oder Flugschriften. Das bedeutet nicht, dass eine wie auch immer geartete „öffentliche Meinung“ Clemens Wenzel von Metternich (1773–1859), Robert Stewart, Viscount Castlereagh (1769–1822) oder Karl August von Hardenberg (1750–1822) dazu veranlassen konnte, drastische Kurskorrekturen vorzunehmen. Die öffentlichen Diskussionen in der Presse oder der Salonkultur trugen aber dazu bei, die Wahrnehmungsrahmen und Interpretationsmuster zu schaffen, innerhalb derer auch die diplomatische Elite dachte und handelte.13

II. Der Charakter des internationalen Systems Was die Geisteshaltung anbetrifft, mit der die Wiener Verhandlungen geführt wurden, so hat die Forschung traditionell auf die realpolitischen Maximen des Gleichgewichtsdenkens, des Gewinnstrebens und der Interessendurchsetzung der Akteure verwiesen. Diese hätten ohne Rücksicht auf überkommene Loyalitäten der Bevölkerung althergebrachte Grenzverläufe verändert und Territorien neu zugeschnitten. Die Appelle an das Prinzip der dynastischen Legitimität, der monarchischen Solidarität und des europäischen Äquilibriums erscheinen, so betrachtet, nur als Verschleierung der wahren Absichten, die wenig mit den rhetorischen Verbrämungen zu tun hatten. Die „hochtönenden Redensarten“ von der „Neugestaltung des politischen Systems“ und von „dauerhaftem, auf eine gerechte Verteilung der Kräfte begründeten Frieden“, notierte beispielsweise schon der sogenannte Sekretär des Kongresses, Friedrich von Gentz (1764–1832), seien lediglich Fassade gewesen, „um die Völker zu beruhigen und dieser feierlichen Versammlung ein würdevolles und großartiges Ansehen zu verleihen, der wahre Zweck des Kongresses bestand jedoch in der Verteilung der dem Besiegten abgenommenen Beute unter die Sieger“.14 12 Klüber, Johann Ludwig, Uebersicht der diplomatischen Verhandlungen des wiener Congresses überhaupt, und insbesondere über wichtige Angelegenheiten des teutschen Bundes, Band 1, Frankfurt am Main 1816, S. 163. 13 Vick, Congress, S. 328–329. 14 Friedrich von Gentz in einer vertraulichen Denkschrift, zit. bei Stern, Alfred, Geschichte Europas seit den Verträgen von 1815 bis zum Frankfurter Frieden von 1871, Band 1, Berlin 1894, S. 30; ähnlich auch

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Demgegenüber hat der amerikanische Historiker Paul W. Schroeder in seiner einflussreichen Studie über die „Transformation der europäischen Politik 1763–1848“ ein anderes Bild des Wiener Kongresses und der dort geschaffenen Staatenordnung entworfen: Kooperation und Kommunikation, nicht Konfrontation, gebändigte Hegemonie statt instabilen Gleichgewichts kennzeichneten für ihn die Staatenwelt in den Jahrzehnten nach Wien. Die bellizistische Grundtendenz des 18. Jahrhunderts und die Gewaltexzesse der napoleonischen Kriege dienten laut Schroeder den europäischen Eliten als Lehre, in Wien und um Wien herum die Normen zwischenstaatlichen Verhaltens zu revolutionieren und mit dem Europäischen Konzert einen institutionalisierten Rahmen für die geregelte Austragung von Konflikten zu schaffen.15 Entscheidend waren für Schroeder sechs Punkte: erstens die Herausbildung bestimmter allgemein anerkannter Regeln der Kooperation und Kommunikation; zweitens die unangreifbare, hegemoniale Stellung der Flügelmächte Russland und England; drittens die herausgehobene Position der Pentarchiemächte, zu denen neben Russland und England auch Frankreich, Österreich und Preußen zählten; viertens die Garantie der Rechte und des Status auch der kleineren europäischen Staaten; fünftens die erfolgreiche Abschirmung Europas von außereuropäischen Konflikten durch die maritime Vorherrschaft Großbritanniens; und schließlich sechstens die Etablierung einer Reihe von kleineren und mittleren Staaten als Pufferzonen und Vermittlungsinstanzen zwischen den Großmächten (etwa die Vereinigten Niederlande, die nicht nur französische Expansionsbestrebungen nach Norden begrenzen, sondern auch als Brücke zwischen den deutschen Staaten und Großbritannien dienen sollten – strukturell ähnlich: die Schweiz zwischen Frankreich und Österreich oder das Osmanische Reich zwischen Russland und den britischen Interessen im östlichen Mittelmeer und dem vorderen Orient). Auf diese Weise, so Schroeders Fazit, habe ein auf stete Konkurrenz und Konfrontation ausgerichteter Kampf ums Gleichgewicht einem System des politischen Äquilibriums Platz gemacht, das auf einer wohlwollenden geteilten Hegemonie und der rechtlich untermauerten gegenseitigen Anerkennung bestimmter Ansprüche beruhte.16 Schroeders Interpretation ist nicht unwidersprochen geblieben. Wolf D. Gruner hat mit Blick auf die Konstruktion und die Aufgaben des Deutschen Bundes Schroeders Vorstellung einer kooperativen Hegemonie Russlands und Englands widersprochen und stattdessen die größte Leistung der Wiener Ordnung darin gesehen, dass sie ein mechanistisches durch ein flexibleres, multipolares Gleichgewichtssystem ersetzt habe. Darin Gentz an Joseph Anton von Pilat vom 7.10.1815: „Wir haben also lieber von 12 Uhr bis jetzt Conferenz gehalten, und die Frage verhandelt, wie die Beute die wir Frankreich abjagen, verteilt werden soll“, http:// gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/4959.html?l=de (abgerufen am 8.12.2018). 15 Schroeder, Paul W., The Transformation of European Politics 1763–1848 (Oxford History of Modern Europe), Oxford 1994, bes. S. 517–582. 16 Ebd., S. 580.

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spielten Österreich und Preußen als gemeinsame Vormächte des Deutschen Bundes eine durchaus wichtige und eigenständige Rolle.17 Der britische Historiker Alan Sked hat bestritten, dass die Flügelmächte der Wiener Ordnung tatsächlich so unverrückbar fest im Sattel saßen, wie Schroeder meint. Vielmehr seien die Weltmächte Russland und England in Europa keineswegs unverletzlich gewesen. Sie hätten sich dort im Gegenteil sehr verletzlich gefühlt. Außerdem bestreitet Sked, dass die von Schroeder identifizierten Bindeglieder zwischen den Großmächten tatsächlich befriedend und stabilisierend wirkten. Von ihnen sei, ganz im Gegenteil, eine mehr oder weniger latente Kriegsgefahr ausgegangen: etwa von Belgien in den 1830er und frühen 1840er Jahren, von der Schweiz im Jahr 1847 und vom Nahen Osten zwischen 1830 und 1841.18 Blickt man auf die jüngste Forschung, so drängt sich – trotz dieser Gegenargumente – der Eindruck auf, dass sich Schroeders Deutung einer grundlegenden Transformation des Staatensystems im Gefolge des Wiener Kongresses weitgehend durchgesetzt hat. Neorealistische Interpretationen befinden sich auf dem Rückzug. Die von Schroeder formulierte Lesart, die bei institutionellen Arrangements, kulturellen Normen, Regeln und Verfahrensweisen ansetzt, behauptet das Feld. Allenfalls Korrekturen im Detail werden vorgebracht. Der Genfer Historiker Matthias Schulz sieht in dem von Schroeder ausgemachten politischen Äquilibrium keine Ersetzung, sondern lediglich eine Ergänzung des überkommenen Mächtegleichgewichts. Aber auch er teilt Schroeders These von der Transformation des politischen Denkens als Grundlage der neuen Staatenordnung.19 Sven Externbrink stimmt mit Schroeder darin überein, die Regelungen des Wiener Kongresses als Lehre aus den Lebenserfahrungen der dort versammelten Staatsleute zu interpretieren. Allerdings hebt er nicht nur auf die negativen Erfahrungen der instabilen und selbstzerstörerischen Kabinettspolitik des 18. Jahrhunderts und der napoleonischen Kriege ab. Er streicht vielmehr auch den langen Frieden heraus, in den zumindest die in West-, Mittel- und Südeuropa sozialisierten Angehörigen der „Generation Metternich“ zwischen dem Pariser Frieden (beziehungsweise dem Frieden von Hubertusburg) 1763 und dem Beginn der Revolutionskriege 1792 hineinwuchsen: Die Älteren von ihnen – wie Karl August von Hardenberg (1750–1822), Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754–1838), Karl Freiherr vom Stein (1757–1831) oder auch Friedrich von Gentz (1764–1832) – standen bei Ausbruch der Französischen Revolution bereits am Anfang einer Karriere am Hofe, in der Politik oder der Verwaltung. Die Jüngeren – etwa Wilhelm von Humboldt (1767–1835) oder Metternich selbst – erlebten den Beginn der

17 Gruner, Wolf D., Was There a Reformed Balance of Power System or Cooperative Great Power Hegemony?, in: The American Historical Review 97 (1992), S. 725–732. 18 Sked, Alan, Metternich and Austria. An Evaluation, Houndmills/New York 2008, S. 60. 19 Schulz, Matthias, Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat, 1815–1860 (Studien zur internationalen Geschichte, Bd. 21), München 2009.

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neuen Ära während ihrer Studienzeit in Göttingen beziehungsweise Straßburg.20 Wichtig ist für Externbrinks Argument, dass die Protagonisten des Wiener Kongresses nicht nur, vielleicht nicht einmal vorrangig, Kinder der Revolutionszeit waren, sondern auch Geschöpfe des absolutistischen Zeitalters und der ausgehenden Frühen Neuzeit – und dass daher in der Wiener Ordnung „vielleicht doch noch mehr ‚Ancien Régime‘ [steckt,] als man gemeinhin annimmt“.21

III. Die Rolle und die Bedeutung der Nationen Die Verwischung der scharfen Grenze zwischen vorrevolutionärer und nachrevolutionärer Zeit findet man auch bei der Frage nach der Rolle und der Bedeutung der Nationen und des Nationalismus auf dem Wiener Kongress und in der Wiener Friedensordnung. Traditionell sind die Monarchen und Staatsleute auf dem Wiener Kongress von späteren Historikern dafür kritisiert worden, die durch Revolution und Befreiungskriege erwachten nationalen Aspirationen ihrer Völker missachtet und daraus erwachsene nationale Ansprüche oder gar Selbstbestimmungsrechte niedergehalten zu haben.22 Für diese Sichtweise hatte bereits zeitgenössisch Friedrich von Gentz die Stichworte geliefert. Wenn die Diktatur der großen Regierungen über die kleinen zum Gesetz erhoben worden sei, schrieb er, „so war noch weniger auf eine Achtung der Nationali20 Externbrink, Sven, Kulturtransfer, Internationale Beziehungen und die „Generation Metternich“ zwischen Französischer Revolution, Restauration und Revolution von 1848, in: Pyta, Wolfram (Hg.), Das europäische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolitik vom Wiener Kongreß 1815 bis zum Krimkrieg 1853, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 59–78. 21 Ebd., S. 68. 22 Treitschke beurteilt die Ergebnisse des Kongresses unter nationalen Gesichtspunkten negativ und äußerte über die Schlussakte: „So entstand die Bundesacte, die unwürdigste Verfassung, welche je einem großen Kulturvolke von eingeborenen Herrschern auferlegt ward, ein Werk, in mancher Hinsicht noch kläglicher als das Gebäude des alten Reichs in den Jahrhunderten des Niedergangs. […] Die Nation nahm das traurige Werk mit unheimlicher Kälte auf.“, Treitschke, Heinrich von, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Teil 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden, Leipzig 1918 (Erstausgabe 1879), Zit. S. 710 f. Carl von Rotteck schreibt: „und nie demüthigender, weil nie unumwundener und feyerlicher ausgesprochen als auf dem Wiener Congreß, wurden die Völker, als dem Sachenrecht anheimgefallen, behandelt“; „Endlich aber waren unter den gefaßten Beschlüssen viele direkt widerstreitend den lebhaft gefühlten Bedürfnissen und sonnenklaren Rechtsansprüchen der Völker, viele von ganz offenbarer Gemeinschädlichkeit oder Gefahr.“, in: Rotteck, Carl von, Allgemeine Geschichte. Vom Anfang der historischen Kenntniß bis auf unsere Zeiten für denkende Geschichtsfreunde, Band 9, Freiburg 1826, Zit. S. 842 und 844. Arndt, Ernst Moritz, Geist der Zeit, vierter Teil, Berlin 1818. Stern, Geschichte. Griewank, Kongreß, S. 107: „Nicht die Freiheit und die Lebensbedürfnisse der Völker, sondern staatliche Restauration und Gleichgewicht waren die Parolen der Stunde mit dem Ziel eines festen Systems von monarchischen, inneren Umbruchstendenzen enthobenen Staaten unter Vorrang der der Größeren. Die in der klassischen Diplomatie des 18. Jahrhunderts ausgebildeten Regeln und Grundsätze triumphierten noch einmal über alle Ansätze revolutionärer Neugestaltung aus den inneren Kräften der Völker“.

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täten durch die Herrschenden zu rechnen gewesen. Die deutsche sah sich durch die Bundesakte in ihren Erwartungen bitter getäuscht. Die italienische wurde nur als ein geographischer Begriff betrachtet und von fremden Ordnern ihrer Geschicke nicht einmal einer staatenbündischen Zusammenfassung für würdig gehalten. Die Polen durch ein lockendes Traumbild geblendet, erlebten statt ihrer Verbindung eine vierte Teilung. Belgier und Holländer, seit unvergeßlichen Kämpfen um die höchsten Güter von einander getrennt, in Sprache, Religion, Recht, Sitte verschieden, sollten gezwungen werden zu einer staatlichen Gemeinschaft zu verschmelzen.“23 Demgegenüber haben die jüngere Nationalismusforschung und neuere Studien zu den Befreiungskriegen herausgearbeitet, dass nationales Gedankengut ansatzweise durchaus schon im 18. Jahrhundert vorhanden gewesen ist, zugleich aber im frühen 19. Jahrhundert viel weniger weit verbreitet und entwickelt war als lange angenommen. Die Geburt etwa der deutschen Nation aus Revolution und Freiheitskrieg wird deswegen mittlerweile als spätere Konstruktion und rückschauende Projektion angesehen.24 Für den Wiener Kongress bedeutete dies zum einen, dass man es den dort agierenden Diplomaten nachsehen muss, wenn sie eine geistige Strömung vernachlässigten, die tatsächlich vielleicht weniger wahrnehmbar war als bisher oft vermutet. Zum anderen aber lohnt es sich zu fragen, wie die älteren schon aus dem 18. Jahrhundert bekannten Formen des Nationalismus ihren Niederschlag in den Diskussionen der Staatsleute und in den Schriften und Salongesprächen einer weiteren Öffentlichkeit in Wien gefunden haben. Man sollte also nicht nach Vorläufern eines modernen Nationalstaats suchen, wie man ihn sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vorstellte, sondern eher nach Versatzstücken eines älteren Nationalismus, in dem Platz war für überlappende regionale Zugehörigkeitsgefühle, dynastische Loyalitäten oder auch supranationale Teilidentitäten.25 Oliver Zimmer und Stuart Woolf haben diese Zusammenhänge für die Schweiz und Italien genauer erforscht.26 Auch für das Habsburgerreich liegen entsprechende Untersuchungen vor.27

23 Stern, Geschichte, S. 36 f. 24 Hobsbawm, E. J., Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality, 2nd edition, Cambridge u. a. 1992; Hagemann, Karen, „Mannlicher Muth und Teutsche Ehre“. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn u. a. 2002; Planert, Ute, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden: Alltag – Wahrnehmung – Deutung 1792– 1841, Paderborn u. a. 2007. 25 Vick, Congress, S. 266–267. 26 Zimmer, Oliver, Nation, Nationalism and Power in Switzerland, c. 1760–1900, in: Scales, Len/Zimmer, Oliver (Hgg.), Power and the Nation in European History, Cambridge u. a. 2005, S. 333–353; Woolf, Stuart, Nation, Nations and Power in Italy, c. 1700–1915, in: ebd., S. 295–314. 27 Judson, Pieter M./Rozenblit, Marsha L. (Hgg.), Constructing Nationalities in East Central Europe (Austrian and Habsburg Studies, Bd. 6), New York/Oxford 2005; Moritsch, Andreas (Hg.), Der Austroslavismus. Ein verfrühtes Konzept zur politischen Neugestaltung Mitteleuropas (Schriftenreihe des Internationalen Zentrums für Europäische Nationalismus- und Minderheitenforschung, Bd. 1), Wien/Köln/ Weimar 1995.

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Gerade in den deutschen Ländern war die nationale Identität im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert gekennzeichnet durch ausgeprägte föderalistische Tendenzen und eine Mischung aus Liebe zur engeren regionalen Heimat, Untertanentreue gegenüber dem jeweiligen Landesherrn sowie einer Anhänglichkeit an das Reich, die nach 1815 tendenziell auch auf den Deutschen Bund übertragen werden konnte. Daneben gab es Nationsbildungstendenzen und -bestrebungen auf der Ebene der Einzelstaaten, die zwar in einer gewissen Spannung zu einem gesamtdeutschen Nationsverständnis standen, mit ihm aber nicht unbedingt kollidieren mussten.28 So betrachtet, war die föderale Lösung der deutschen Frage in Form des Deutschen Bundes nicht notwendigerweise ein Gegenentwurf zu einer nationalen Lösung, sondern geradezu Ausdruck einer bestimmten Form des nationalen Gedankens.29 Jedenfalls gab es durchaus Ansätze, auch die österreichisch-preußische Doppelherrschaft im Deutschen Bund lyrisch zu einer Form nationaler Einigkeit zu überhöhen: Fleuch, Zwietracht, fleuch von unseren Gauen, weiche Du Ungeheuer mit dem Schlangenhaar! Es horste auf derselben Rieseneiche Der Doppel-Adler und der Schwarze Aar Es sey fortan im ganzen teutschen Reiche Ein Wort, ein Sinn, beschirmt von jenem Paar. Und wo der teutschen Sprache Laute tönen, Erblühe nur ein Reich des Kräft’gen und des Schönen.30

Ein scharfer Kritiker der Ergebnisse des Wiener Kongresses wie Ernst Moritz Arndt (1769–1860) bezweifelte zwar, dass ein loser Bund tatsächlich Kaiser und Reich werde ersetzen können. Doch auch er meinte, der „erhabenen Wiener Versammlung“ danken zu müssen, „daß sie uns wenigstens das gegeben hat […] [und] daß in der deutschen Bundesversammlung in Frankfurt wenigstens die Idee einer deutschen Gemeinschaft lebendig gehalten wird“.31

28 Applegate, Celia, A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley 1990; Umbach, Maiken, Federalism and Enlightenment in Germany, 1740–1806, London/Rio Grande, Ohio 2000; Green, Abigail, Fatherlands. State-Building and Nationhood in Nineteenth Century Germany (New Studies in European History), Cambridge 2001; Langewiesche, Dieter/Schmidt, Georg (Hgg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000. 29 So schon Bentfeldt, Ludwig, Der Deutsche Bund als nationales Band. 1815–1866, Göttingen/Zürich 1985. 30 Aus dem Gedicht „Jetzt oder nie!“ von F v. S…r, in: Rheinischer Merkur 130, 9.10.1814; engl. Übersetzung bei Vick, Congress, S. 270. 31 Arndt, Geist, S. 42 und 61.

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IV. Das Aufkommen wirtschaftspolitischer Themen Während man es bei den Untersuchungen zum Charakter des Staatensystems und zur Bedeutung des nationalen Prinzips auf dem Wiener Kongress mit revisionistischen Antworten auf alte Fragen zu tun hat, verhält es sich bei der ökonomischen Dimension des Kongresses anders. Wirtschaftsfragen haben in der Historiografie zur Neuordnung von 1815 traditionell eine nachrangige Rolle gespielt.32 Zu dürftig war die Bilanz der Verhandlungen in dieser Hinsicht, zu schwach erkennbar der gestalterische Ehrgeiz der Protagonisten in dieser Beziehung. Wo Handel und Verkehr in der Wiener Kongressakte tatsächlich halbwegs prominent angesprochen wurden, ging es entweder um ökonomische Seitenaspekte der großen politischen Streitfragen Polen und Sachsen (in den Artikeln 8, 14 und 20) oder um diplomatische Nebenkriegsschauplätze (etwa in Artikel 30 um den Fluss und die Hafenstadt Emden). Jedenfalls handelte es sich um die Regelung von Spezialfällen, nicht um die Aufstellung allgemeingültiger wirtschafts- und handelspolitischer Prinzipien. Dort, wo sich die Wiener Kongressakte grundlegenden Fragen widmete, etwa bei den Regelungen zur freien Flussschifffahrt oder in der „Declaration der Mächte über die Abschaffung des Negerhandels“, wurden diese ganz am Ende der insgesamt 121 Artikel umfassenden Schlussakte versteckt: in den Artikeln 108 bis 117 beziehungsweise im Anhang 15 zu Artikel 118. Dennoch haben gerade diese Bestimmungen in letzter Zeit verstärkt das Interesse der Forschung geweckt. Andreas Fahrmeir beispielsweise hat hinter den verstreuten Einzelbestimmungen zur Ems, zu Polen und zu Sachsen das leitende Prinzip einer „Vernetzung durch Handel“ ausgemacht (nicht zu verwechseln mit dem Freihandel, der weithin als britisches Sonderinteresse galt). Das Ziel bestand offenkundig darin, die negativen Konsequenzen der in Wien vereinbarten neuen Grenzen für Handel und Verkehr in historisch gewachsenen Wirtschaftsräumen zu minimieren und allgemein die Berechenbarkeit der neuen Ordnung – auch auf wirtschafts- und finanzpolitischem Gebiet – zu erhöhen.33 Die Bestimmungen zur Flussschifffahrt – insbesondere die Schaffung einer „Zentralkommission für die Rheinschifffahrt“ mit Sitz in Mainz – wurden als eine frühe supranationale Antwort auf die zunehmende Internationalisierung von Handel und Verkehr gedeutet, die mit der Schaffung einer international besetzten Expertenkommission als neuartigem Akteur auf der internationalen Bühne zudem einer Institutionalisierung

32 Das gilt bis in die neuesten Überblicksdarstellungen hinein: Zamoyski, Adam, 1815 – Napoleons Sturz und der Wiener Kongress, München 2014; Lentz, 1815. 33 Fahrmeir, Andreas, Frieden durch Handel? Der Wiener Kongress und die Wirtschaftspolitik, in: Stauber, Reinhard/Kerschbaumer, Florian/Koschier, Marion (Hgg.), Mächtepolitik und Friedenssicherung. Zur politischen Kultur Europas im Zeichen des Wiener Kongresses, Berlin 2014, S. 123–133, Zit. S. 128.

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der internationalen Politik Vorschub leistete, wie sie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts voll zum Durchbruch gekommen ist.34 Besonders große Aufmerksamkeit hat in jüngster Zeit die Ankündigung des Wiener Kongresses erfahren, den Sklavenhandel international zu ächten. Diese Deklaration war vor allem auf Betreiben der Briten in die Kongressakte aufgenommen worden. Die Initiative hatte durchaus eine wirtschaftspolitische Bedeutung, weil das Unterhaus den Sklavenhandel im Jahr 1807 in Großbritannien gesetzlich verboten hatte. Dadurch hatten Staaten wie Frankreich, Portugal und Spanien, die weiterhin vom lukrativen Handel mit afrikanischen Sklaven profitierten, einen Wettbewerbsvorteil, den es aus britischer Sicht möglichst rasch zu beenden galt.35 Es wäre jedoch falsch, das britische Engagement in dieser Sache allein auf ökonomische Interessen zu verengen. Vielmehr wurde die Abschaffung des Sklavenhandels von einer starken Bewegung in der britischen Öffentlichkeit unterstützt und vorangetrieben, für die humanitäre und nicht wirtschaftliche Gesichtspunkte maßgebend waren.36 Zugleich hat Jürgen Osterhammel auf die ideologische Bedeutung des Abolitionismus sozusagen als britische Antwort auf die weltanschauliche Herausforderung durch die Französische Revolution hingewiesen.37 Die Deklaration von Wien blieb – wegen des hinhaltenden Widerstandes vor allem von Portugal und Spanien – kurzfristig folgenlos; langfristig kann sie jedoch als einer der „Ursprünge der humanitären Intervention“ mit enormen Auswirkungen für unsere Gegenwart angesehen werden.38

V. Das Nachleben des Kongresses – Eine rezeptionsgeschichtliche Schlussbetrachtung Fragt man abschließend, wie sich die hier vorgestellten neueren Forschungen in die 200-jährige Rezeptionsgeschichte des Wiener Kongresses einfügen, so stellt man fest: Die Auseinandersetzung mit dem Epochenjahr 1815 geschieht womöglich mehr noch als die Beschäftigung mit anderen Ereignissen und Zeiten aus dem Blickwinkel von Problemen und Phänomenen der eigenen Gegenwart des jeweiligen Betrachters. Das galt 34 Thiemeyer, Guido/Tölle, Isabel, Supranationalität im 19. Jahrhundert? Die Beispiele der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt und des Octroivertrages 1804–1851, in: Journal of European Integration History 17 (2011), S. 177–196. 35 So etwa Duchhardt, Heinz, Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15 (Beck’sche Reihe 2778), München 2013, S. 94–96. 36 Drescher, Seymour, Abolition. A History of Slavery and Antislavery, Cambridge, Mass. u. a. 2009. 37 Osterhammel, Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), München 2009, S. 1193–1196. 38 Klose, Fabian, „To maintain the law of nature and of nations“. Der Wiener Kongress und die Ursprünge der humanitären Intervention, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), S. 217–237; ähnlich auch schon Bass, Gary J., Freedom’s Battle. The Origins of Humanitarian Intervention, New York 2008.

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schon für den Liberalismus des Vormärz, der kritisierte, in Wien sei eine Gelegenheit zum Fortschritt moderner Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit verpasst worden. Kleindeutsch-borussische Nationalliberale der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beurteilten den Wiener Kongress hingegen in erster Linie als Hindernis auf dem Weg zu einem deutschen Nationalstaat unter preußischer Führung, während französische Historiker vor allem die Knebelung Frankreichs beklagten. In günstigerem Licht erschien der Wiener Kongress aus deutscher Sicht erst wieder nach dem Ersten Weltkrieg, als man die Mäßigung der Alliierten gegenüber dem besiegten Frankreich 1815 mit der vermeintlich allzu harschen Haltung der Siegermächte in den Pariser Vorortverträgen von 1919, speziell gegenüber Deutschland, kontrastierte. Als nach 1945 die Staatenbeziehungen in der Bipolarität des Kalten Krieges festgefroren waren, verschob sich das historiografische Interesse bezeichnenderweise allmählich weg von diplomatiegeschichtlichen stärker hin zu sozial- und kulturhistorischen Fragestellungen.39 So erklärte der österreichische Historiker Fritz Fellner in seinem Habilitationsvortrag 1960, „in der sozialen Umwandlung“ liege „das eigentliche Pro­ blem des Jahres 1815 und der folgenden Restaurationszeit“ – nicht ohne darauf hinzuweisen, man sei nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges „durch eine ähnliche Periode restaurativen Denkens nach einer ähnlichen revolutionär-machtpolitischen Katastrophe hindurchgegangen“ wie nach 1815.40 Blickt man nun auf die skizzierten jüngsten Entwicklungen in der Forschung, so fällt zunächst einmal ein wiedererwachtes Interesse am internationalen Staatensystem und seinen Eigengesetzlichkeiten auf – und nicht zufällig erschien Paul W. Schroeders große Studie, die den Beginn dieses neuen Interesses markiert, wenige Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges.41 Allerdings bedeutet das neu erwachte Interesse an internationaler Politik keine schlichte Rückkehr zu den Themen und Methoden der klassischen Diplomatiegeschichte. Institutionalistische und konstruktivistische Ansätze waren und sind auf dem Vormarsch. Man interessiert sich nicht mehr nur für die enge Welt der hohen Diplomatie, sondern bezieht Gesellschaft und Medien stärker in die Untersuchung mit ein. Der Zusammenhang zwischen der „Neugründung Europas“ (Thierry Lentz) und den Entwicklungen in Übersee wird heute schärfer gesehen als früher. Die globalen Bedingungsfaktoren europäischer Großmachtpolitik rücken stärker in den Blick.42 Zugleich sucht die Forschung heute wie zu früheren Zeiten nach den historischen Wurzeln aktueller Phänomene und Tendenzen: sei es die wirtschaftliche Verflechtung durch 39 Kissinger, Henry A., A World Restored. Metternich, Castlereagh and the Problems of Peace 1812–22, London 1957. 40 Fellner, Fritz, Europa nach dem Wiener Kongress: Die geistige und politische Situation des Jahres 1815 (1960), abgedruckt in: Stauber/Kerschbaumer/Koschier, Mächtepolitik, S. 7–20, Zitate S. 9 und 14. 41 Schroeder, Transformation. 42 Das ist eine Pointe bei Schroeder, Paul W., The Transformation of European Politics: Some Reflections, in: Pyta, Mächtekonzert, S. 25–40.

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Handel und Verkehr43, sei es der humanitäre Interventionismus in der Sklavenfrage44, seien es internationale Institutionen wie die Rheinschifffahrtskommission, die als Vorläuferin der Supranationalität europäischer Integrationsprozesse gedeutet wird.45 Vor allem aber fallen die nationalgeschichtlichen Blickverengungen früherer Zeiten mehr und mehr weg, nicht zuletzt, weil die Wandlungsfähigkeit, historische Bedingtheit und politische Sprengkraft des Nationalstaatsprinzips deutlicher gesehen werden. Nicht zufällig porträtiert Wolfram Siemann in seiner großen Metternich-Biografie den österreichischen Staatsmann mit viel Sympathie als „Postmoderne[n] aus der Vormoderne“, der nach den Verheerungen der napoleonischen Ära so viel wie möglich vom Alten Reich bewahren wollte, weil es „eine supranationale Ordnung in einer rechtlich abgesicherten Balance zu halten“ vermocht hatte. Der Wiener Kongress war dieser Lesart zufolge ein Erfolg, weil er „nach dem Umsturz aller Werte und Grenzen, der sich im Verlauf einer ganzen Generation ereignet hat“, wieder Stabilität, Berechenbarkeit und Rechtssicherheit ermöglichte.46 Die Ableitung eines historischen Erkenntnisinteresses aus den Problemlagen der Gegenwart ist keineswegs illegitim, sondern im Gegenteil Grundvoraussetzung historischen Forschens. Sie erinnert uns aber daran, dass auch die neuere Forschung zur Staatenwelt des Wiener Kongresses, wie jede Geschichtsschreibung, Kind ihrer Zeit ist. Der Wiener Kongress ist und bleibt das, was die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman einmal mit Blick auf das 14. Jahrhundert gesagt hat: ein „ferner Spiegel“, in dem wir neben der Vergangenheit immer auch unsere eigene Gegenwart reflektieren.47

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Fahrmeir, Frieden. Klose, Law. Thiemeyer/Tölle, Supranationalität. Siemann, Wolfram, Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München 2016, S. 864–875, Zitate S. 864, 872 und 873. 47 Tuchman, Barbara W., Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert, Düsseldorf 1980.

Monarchie und Alltag

Die Stadt Wien und der Wiener Kongress Thomas Just

I. Zur Bevölkerungsentwicklung Wiens um 1800 Wien als Residenzstadt der Habsburgermonarchie war zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine boomende, rasch wachsende Stadt. Ein Blick auf die Entwicklung der Wiener Bevölkerung in der Zeit zwischen 1790 und 1820/601 zeigt, dass die Bevölkerungszahl teilweise konstant nach oben verlief, allerdings immer wieder unterbrochen durch Auf- und Abschwünge. Die wichtigsten Konstanten waren eine sehr hohe Kinder- und Säuglingssterblichkeit und der hohe Anteil an Zuwanderung. Starken Änderungen unterlagen die Bilanzen der Geburten und Todesfälle und die Raumverteilung innerhalb der Stadt, wo die Bevölkerung weg von der Inneren Stadt, dem heutigen 1. Bezirk, hinaus in die Vorstädte zog. Die frühe Phase der Industrialisierung in Wien, beginnend etwa mit dem Jahr 1780 und endend etwa um 1820, ermöglichte vielen Menschen aus der Unterschicht die Gründung eines eigenen Haushaltes.2 Zwischen 1780 und 1839 gelang es der Wiener Unterschicht, langfristige Realeinkommenssteigerungen zu realisieren. So stieg etwa der Lohn eines Wiener Taglöhners in Brotäquivalenten von 4,1 Kilogramm pro Tag in den 1790er Jahren auf 5,6 Kilogramm in den 1820er Jahren. Allerdings stieg gleichzeitig die durchschnittliche Arbeitszeit pro Woche von rund 70 auf 82,5 Stunden. Die Einkommenssteigerung wurde also durch eine Erhöhung der Arbeitsleistung erkauft.3 Ein wahrer Heirats- und Geburtenboom herrschte, allerdings blieb die Sterblichkeitsrate lange extrem hoch. Der Anteil der unter 10-Jährigen an den jährlichen Sterbefällen betrug beispielsweise 50–55 Prozent. Die Sterberate in Wien war zu dieser Zeit 1 Buchmann, Bertrand Michael/Buchmann, Dagmar, Die Epoche vom Ende des 18. Jahrhunderts bis um 1860, in: Csendes, Peter/Opll, Ferdinand (Hgg.), Wien. Geschichte einer Stadt. Band 3: Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar 2006, S. 15–174. Grundlegend für die demografische Entwicklung Wiens ist Weigl, Andreas, Demographischer Wandel und Modernisierung in Wien (Historischer Atlas von Wien, Kommentare 1), Wien 2000. 2 Buchmann/Buchmann, Epoche, S. 15. 3 Weigl, Andreas, Eine Transition vor der Transition? Überlebensverhältnisse in Wien zwischen napoleonischer Epoche und dem Ausbruch der ersten Choleraepidemie 1831/32, in: Pro Civitate Austria NF 20 (2015), S. 79–93, hier 91, und Sandgruber, Roman, Geld und Geldwert. Vom Wiener Pfennig zum Euro, in: Vom Pfennig zum Euro. Geld aus Wien (281. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien), Wien 2002, S. 62–79.

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ungewöhnlich hoch. Nach Weigl „bewegte sich die Zahl der Sterbefälle auf 1000 Einwohner zwischen 60 und 80 und damit auf einem selbst nach damaligen Begriffen sehr hohen Niveau“4. Diese Zahl lag deutlich über jener von Städten wie Berlin, Hamburg und Bremen, die eine Sterberate zwischen 30 und 40 aufwiesen.5 Am schlimmsten war diese Situation bei den unehelich geborenen Kindern, die in das Wiener Findelhaus gebracht wurden.6 In den Jahren vor 1820 überstieg die Mortalität sogar die Fertilität; dass es dennoch zu einem leichten Bevölkerungswachstum kam, war der Zuwanderung zu verdanken. Das Schicksal der Kinder im Findelhaus beschäftigte auch die Zeitgenossen, ein Bericht des Wiener Arztes und Findelkindaufsehers Mükisch besagte, dass beispielsweise eine Frau „in einem Jahr zum 13. Male einen lebenden Findling gegen einen unter ihren Händen gestorbenen erhielt“7. Rund um das Findelhaus existierte ein korruptes Netz von Kostfrauen, Zubringerinnen und Zwischenhändlern. Für die private Unterbringung notwendige Zeugnisse und Bewilligungen wurden regelrecht gehandelt. Das Findelhaus importierte die Sterblichkeit geradezu, es erwies sich als „wahre Mördergrube für die Neugeborenen und durch die Verbreitung des Kindbettfiebers auch als lebensgefährlicher Aufenthaltsort für die werdenden Mütter“8. Aus den aktuellen Forschungen zur Wiener Bevölkerungsentwicklung ab 1800 geht ganz klar hervor, dass die Auswirkungen der napoleonischen Kriege die Sterbegefahr für die Wiener Bevölkerung deutlich erhöhten. In den Jahren 1806, 1809/10, 1813 und 1814 kam es zu Flecktyphusepidemien, die mit Beginn der Friedenszeit im Jahr 1815 dann schlagartig endeten. Die ersten eineinhalb Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts brachten also mehrmals schwere Pocken- und Flecktyphusepidemien in die Stadt, die in den Statistiken der Jahre bis 1830 nicht mehr auftraten.9 Dass die hohe Anzahl der Typhuserkrankungen in Wien neben den Auswirkungen der jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzung mit Frankreich auch und vor allem mit der hohen Wohndichte und der mangelnden Hygiene in Zusammenhang stand, blieb auch den Wiener Ärzten nicht verborgen. Nikolaus Theodor Mühlbach fasste dies 1815 ebenso präzise wie elegant zusammen, als

4 Weigl, Transition, S. 81, und ders., Die Wiener Bevölkerung in den letzten Jahrhunderten, in: Statistische Mitteilungen der Stadt Wien NF 2 (2000), Heft 4, S. 6–34. 5 Weigl, Transition, S. 81. 6 Pawlowsky, Verena, Mutter ledig – Vater Staat. Das Gebär- und Findelhaus in Wien 1784–1910, Innsbruck u. a. 2000; Mesner, Maria/Pawlowsky, Verena, Kinder kriegen. Generativität als historisches Thema, in: Gehmacher, Johanna/Mesner, Maria (Hgg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen/Perspektiven (Querschnitte, Bd. 14), Innsbruck u. a. 2003, S. 221–236. 7 Leidinger, Hannes, Trügerischer Glanz: Der Wiener Kongress. Eine andere Geschichte, Innsbruck/Wien 2015, S. 112. 8 Weigl, Transition, S. 81 f. 9 Ebd., S. 85.

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Abb. 8  Das niederösterreichische Findelhaus in der Alserstraße 8 in Wien, Aquarell auf Zeichenpapier von Carl Pippich (1862–1932), 46 × 58 cm, ca. 1880–1890.

er formulierte: indem bey dem gemeinen Volk von Wien, die so liebenswürdige und heilsame Eigenschafft der Reinlichkeit, keineswegs die größte Tugend ausmacht 10. Die Bevölkerungszahl Wiens in seinen heutigen Grenzen betrug im Jahr 1800 etwa 280.000 bis 300.000 Menschen, wobei der Großteil in den Vorstädten lebte. Damit war Wien zum damaligen Zeitpunkt die drittgrößte Stadt Europas. Mit dem Ende der Napoleonischen Kriege setzte in Wien, analog zu anderen europäischen Großstädten, ein markanter Rückgang der Sterblichkeit ein, der alle Altersgruppen umfasste.11

10 Zit. n. Weigl, Transition, S. 88, das Original bei Mühlbach, Nikolaus Thoedor, Wien von seiner übelsten Seite aus betrachtet. Oder: Welche sind die den Bewohnern Wiens für Gesundheit und Leben vorzüglich gefährlichen, aus den Ortsverhältnissen entspringenden Einflüße; und wie kann denselben vorgebeugt werden? Ein Beytrag zur ärztlichen Erhaltungs- und Sicherheitspflege dieser Hauptstadt. Vielen zur Warnung, andern zur prüfenden Würdigung, Wien 1815, S. 67. 11 Weigl, Transition, S. 93.

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II. Wien und der Krieg Die Stadt Wien hatte unter den Napoleonischen Kriegen schwer zu leiden. Sie wurde zweimal von französischen Truppen besetzt, wobei besonders die Besetzung des Jahres 1809 starke Spuren im Stadtbild hinterließ. Nach der Niederlage der kaiserlichen Truppen im April 1809 bei Regensburg zogen sich die österreichischen Truppen nördlich von Wien zusammen, um auf den Feind zu warten. Die Truppen Napoleon Bonapartes (1769–1821) begannen am 11. Mai mit der Beschießung der Innenstadt und griffen gleichzeitig von der Praterinsel aus an. Am Morgen danach waren 88 Häuser der Innenstadt schwer beschädigt und 31 Häuser zerstört, der Wiener Bürgermeister überbrachte Napoleon, der in Schönbrunn Residenz genommen hatte, die Schlüssel der Stadt. Die österreichischen Truppen konnten sich rechtzeitig über die Donau absetzen. Am 21. und 22. Mai siegten die Österreicher in der Schlacht bei Aspern, versäumten es aber, den flüchtenden Franzosen entscheidend nachzusetzen.12 So konnte Napoleon seine Truppen wieder sammeln und am 5. und 6. Juni siegten die Franzosen in der Schlacht bei Deutsch-Wagram.13 Österreich hatte den Krieg gegen Frankreich verloren und musste im Frieden von Schönbrunn gewaltige Gebietsverluste hinnehmen. Für die Stadt Wien bedeutete die französische Besatzung eine Leidenszeit. 40.000 Soldaten und 12.000 Pferde waren von der Stadt zu versorgen und die Besatzungskosten zu bezahlen. Die französischen Truppen verließen Wien am 20. Oktober 1809. Bei ihrem Abzug sprengten die Franzosen Teile der alten Befestigung Wiens. Insgesamt beliefen sich die Schäden der Besatzung auf 138 Millionen Gulden. Der verlorene Krieg und der Verfall der Währung trieben den Staat schließlich 1811 in den Bankrott. Die Preise für Wohnraum und Lebensmittel stiegen enorm an. Bürgermeister in dieser Zeit war Stephan von Wohlleben (1751–1823), ein Beamter, der 1771 in das städtische Unterkammeramt eingetreten war, als fleißig galt und 1804 zum Bürgermeister ernannt wurde. Er sollte dieses Amt bis 1823 innehaben und hatte während seiner Amtszeit zumeist mit der drückenden Finanznot zu kämpfen. Sein Ansehen in der Stadt war gering, er hatte wenig Rückhalt in der Wiener Bevölkerung. Das Beispiel des Bürgermeisters Wohlleben zeigt nur zu gut den Niedergang der städtischen Freiheit Wiens, der 1526 durch die ferdinandeische Stadtordnung begonnen hatte.14 Unter Maria Theresia (1717–1780) kam es zu immer stärkeren Eingriffen der Zentralverwaltung in die 12 Rauchensteiner, Manfried, Die Schlacht von Aspern am 21. und 22. Mai 1809 (Militärhistorische Schriftenreihe, H. 11), 2. Aufl., Wien 1978. 13 Rauchensteiner, Manfried, Die Schlacht bei Deutsch Wagram am 5. und 6. Juli 1809 (Militärhistorische Schriftenreihe, H. 36), 4. Aufl., Wien 1997. 14 Text der Stadtordnung bei Csendes, Peter (Hg.), Die Rechtsquellen der Stadt Wien (Fontes rerum Austriacarum, Abt. 3, Fontes iuris, Bd. 9), Wien/Köln/Graz 1986, Nr. 76, S. 267–309, und inhaltliche Auseinandersetzung bei Stürzlinger, Martin, Die Entstehung der Wiener Stadtordnung, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 54 (1998), S. 215 ff.

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Abb. 9  Plan der durch die Franzosen gesprengten Festungswerke der Stadt Wien, 1809.

städtische Verwaltung. Der Bürgermeister war völlig von dieser abhängig, es gab allerdings auch wenig bis gar keine Proteste gegen diese Abhängigkeit. Organisatorisch unterstand die Stadt Wien der niederösterreichischen Regierung. Heute ist Wien Stadt und Bundesland gleichzeitig, die Trennung von Niederösterreich erfolgte erst im Jahr 1920.15 Die Wirkungsmacht der Stadt war durch den absolutistischen Staat stark eingeschränkt, 1808 verlor beispielsweise der äußere Rat das Wahlrecht für die Magistratsräte und Vizebürgermeister. Er hatte fortan nur noch eine repräsentative Rolle. Die Vizebürgermeister sowie die Räte des Zivil- und Kriminalsenats wurden von der Regierung und vom Appellationsgericht bestellt. Gleichzeitig wurde die Stadt immer mehr mit finanziellen Ausgaben belastet, 1817 musste sie, aufgrund der angespannten finanziellen Lage des Staates, die von Jahr zu Jahr steigenden Ausgaben für die Armenpflege und das Polizeiwesen übernehmen, 1819 unterwarf Kaiser Franz I. (1768–1835) die Finanzgebarung der Stadt einer ständigen Regierungskontrolle. Jede noch so geringe 15 Das sogenannte Trennungsgesetz wurde von den beiden Bundesländern Wien und Niederösterreich gleichlautend am 29.12.1921 erlassen und trat am 1.1.1922 in Kraft. Die beiden Länder waren allerdings bereits am 10.11.1920 durch ein Bundesverfassungsgesetz geschaffen worden. Vgl. dazu Posch, Wilfried/ Welan, Manfried, Niederösterreich und Wien, in: Wagner, Manfred (Hg.), Niederösterreich. Eine Kulturgeschichte von 1861 bis heute. Band 1: Menschen und Gegenden, Wien/Köln/Weimar 2004, S. 193–210.

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Abb. 10  Einzug von Kaiser Franz I. (1768–1835) in Wien nach dem Pariser Frieden am 16. Juni 1814, ­Gemälde von Johann Peter Krafft (1780–1856), Öl auf Leinwand, 38,5 x 65 cm, vor 1828.

Ausgabe musste von der niederösterreichischen Regierung genehmigt werden. All dies zeigt, dass die Stadt Wien in ihrer Gestaltungsmöglichkeit stark eingeschränkt und eine krisengeplagte Kommune war.

III. Der Kongress und das städtische Leben Bereits im Jänner 1814 begannen in Wien die Vorbereitungen für einen Friedenskongress. Am 18. Jänner 1814 plädierte Obersthofmeister Ferdinand von Trauttmansdorff (1749– 1827) dafür, Wohnraum in der Stadt anzumieten, da, wie er richtig vermutete, die Mietpreise bald explodieren würden. Gleichzeitig entwarf Trauttmansdorff einen Plan, der Platz in der Hofburg schaffen sollte, um die zu erwartenden hohen Gäste standesgemäß unterzubringen. Die neu angemieteten Wohnungen in der Stadt mussten teils neu ausgestattet und renoviert werden. Um eine Vorstellung vom benötigten Raumbedarf zu haben, sei an dieser Stelle erwähnt, dass alleine der doch eher unbedeutende König Friedrich I. von Württemberg (1754–1816) mit einem Gefolge von 80 Personen nach Wien gereist war, die alle untergebracht werden wollten. Die Kosten für den Kongress waren dauerndes Gesprächsthema der Wiener Bevölkerung. In einem in der Kabinettskanzlei des Kaisers überlieferten anonymen Bericht eines Informanten, der angab, dass es sich über Wahrnehmungen aus höheren Zirkeln handelte, wurde kritisiert, dass am Kongress die Deputierten unentgeltlichen Aufenthalt geniessen, die vielen Hoffeste, die für die frem-

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Abb. 11  „Redoute paré während des Wiener Kongresses“, Darstellung der am 9. Oktober 1814 veranstalteten Redoute paré mit Einblick in die als Ballsaal adaptierte Winterreitschule in der Wiener Hofburg, Aquarell über Federzeichnung von Johann Nepomuk Hoechle (1790–1835), 1814.

den Souveräne gegeben werden und durch die französischen Tänzer und Tänzerinnen werfe der Staat sein Geld weg, welches er nicht wegzuwerfen hat. Zu den Tänzerinnen weiß der Informant auch zu berichten: Die Tänzerinnen aus Paris haben auf mehrere Herren des hohen Adels durch ihre körperlichen Reize einen sehr tiefen Eindruck gemacht. Graf Palffy hat ihnen sogar eine Wohnung prächtig nach der aktuellen Mode einrichten lassen. Dieses Benehmen sorge für Gerede in der Stadt. Die Tänzerinnen seien aber sehr sitthaft, und man zweifele, dass diese adeligen Herren nach Wunsch von ihnen begünstigt werden. Schon im August 1814 wurde dem Kaiser berichtet, dass die Holzpreise stark im Steigen begriffen seien und auch die Rindfleischpreise spürbar in die Höhe gingen. Dies verursachte bereits schlechte Stimmung in der Stadt.16 Insgesamt gab der Wiener Hof für den Kongress an die 8,6 Millionen Gulden aus, wobei 5,4 Millionen davon für die Hoffeste, Redouten, die großen Tafeln, die Verpflegung der auswärtigen Monarchen und deren Gefolge sowie für die vier Hofstäbe (Obersthof16 ÖStA, HHStA Kabinettskanzlei GZ 1802/1814. Zu den Kosten des Kongresses vgl. Rauscher, Peter, Staatsbankrott und Machtpolitik. Die österreichischen Finanzen und die Kosten des Wiener Kongresses, in: Just, Thomas/Maderthaner, Wolfgang/Maimann, Helene (Hgg.), Der Wiener Kongress. Die Erfindung Europas, Wien 2014, S. 254–267.

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meisteramt, Oberstmarschallamt, Oberstkämmereramt und Oberstjägermeisteramt) ausgegeben wurden. Dazu kamen die Mieten für die Unterbringung der Gäste, die Mieten für die ausquartierten Mitglieder des Hofstaates, die ja nicht mehr in der Hofburg wohnen konnten, Kosten für die Theater, Umbaumaßnahmen, Ankauf neuer Kutschen, neue Uniformen, neues Porzellan, Wein etc. etc. Im Vergleich lagen die Kosten für den Kongress über den Jahresausgaben der Wiener Hofhaltung, sodass im Jahr 1814/15 die Ausgaben für die Hofhaltung sich verdoppelten. Im Gesamtbudget des Staates machten die Ausgaben für den Kongress knapp unter 10 Prozent aus. An der Oberfläche tanzte der Kongress, der nicht weiterkam, um hier den Fürsten Karl Joseph von Ligne (1735–1814) zu zitieren. Ein Fest jagte das andere. Wenzel von Metternich (1773–1859), der den Lebensstil der in Wien versammelten adeligen Welt kannte, organisierte gezielt das Vergnügungskarussell. Sein Kaiser, Franz I., grantelte und sprach davon, sich pensionieren lassen zu wollen.17 Hofbälle, Redouten, Theater und Oper, zahlreiche Bälle in den Palais des Adels boten Platz für Unterhaltungen, doch hinter dieser Fassade der Hochkultur bot Wien ein breites Angebot an Etablissements, die ungezwungenere Unterhaltung offerierten. Der offizielle, vom Obersthofmeisteramt vorgeschlagene „Reiseführer“ sah allerdings keinerlei solche Etablissements vor, sondern schlug beispielsweise in der inneren Stadt die Universität und ihre Bibliothek, das Jesuitenkonvikt, die Orientalische Akademie, die Realakademie, das Münzhaus, das Rathaus, das Polizeihaus und die beiden Zeughäuser als lohnenswerte Ziele für Besichtigungen vor. In der Leopoldstadt empfahl man das Zuchthaus und das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder.18 Eines der Zentren der wirklichen Vergnügungen stellte hingegen der Wiener Prater dar, der zur Zeit des Kongresses einer der Brennpunkte des öffentlichen Lebens in der Stadt war: „Schaue hinüber nach dem Wurstelprater, höre seinen wilden Jubel, sein tolles Lärmen, sein Hurrah und Holla, seine Trommeln und Trompeten. Und nun bedenke, dass heute Tausende lebensfrohe Wiener in den Gebirgen herumsteigen, Tausende in den Kaffee- und Weinhäusern sitzen, Tausende auf der Bastei und in den Glacis promenieren, Tausende in den Lustgärten der Vorstädte ihr Pfeifchen schmauchen und plaudern, und viele Tausende im Lerchenfelde jubilieren.“19 Das Neulerchenfeld galt „als des Heiligen Römischen Reiches größtes Wirtshaus“20 und bot Raum für Vergnügungen aller Art. Wien war ein Zentrum der Vergnügungen, gleichzeitig war die Stadt auch ein Zentrum protoindustrieller Produktion. Die Transformation 17 Rumpler, Helmut, 1804–1914. Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie (Österreichische Geschichte 6), Wien 1997, S. 140. 18 ÖStA, HHStA OMeA 459/1814. 19 Glaßbrenner, Adolf, Bilder und Träume aus Wien. Band 1, Wien 1836, S. 86; Maderthaner, Wolfgang/ Musner, Lutz, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt am Main/New York 1999, S. 119. 20 Ziak, Karl, Des Heiligen Römischen Reiches größtes Wirtshaus. Der Wiener Vorort Neulerchenfeld, Wien/München 1979.

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Abb. 12  „Das Militärfest am 18. Oktober 1814“, Aquarell von Johann Nepomuk Hoechle (1790–1835), 52 × 94 cm, undatiert.

der industriell-gewerblichen Arbeitswelt wird die Lebenszusammenhänge der sozialen Unterschichten entscheidend verändern. Die Stadt war ein Zentrum der Manufakturproduktion und der Produktion in frühen Fabriken. Hauptindustriezweig war die Seidenproduktion, in der knapp ein Fünftel aller Beschäftigten der Stadt arbeitete. Die Zahl der Seidenfabrikanten wurde mit 600 angegeben. Diese sollen bis zu 8000 Arbeiter, 6000 Gesellen und 900 Lehrlinge beschäftigt haben. Durch die ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zieht sich eine Reihe des Aufbegehrens dieser Schichten in Wien. In den Vorstädten kam es, wie eine kaiserliche Kommission 1802 feststellte, zu einer bemerkenswerten „Pöbelvermehrung“.21 Diese Vorstädte waren dicht bevölkert, oft lebten 20, 30 Menschen auf engstem Wohnraum zusammen. Die Stadt war ein brodelnder Kochtopf, der bei jeder Gelegenheit explodieren konnte. Besonders markant gestaltete sich so eine Explosion beim sogenannten Bäckersturm im Jahr 1805. Auf der Wieden, einer Vorstadt von Wien, wurde am 7. Juli 1805 der Laden eines Bäckers geplündert, dem man überhöhte Preise vorwarf. Rasch sammelte sich eine Gruppe von mehreren Tausend Personen. Am nächsten Tag griffen die Unruhen auf weitere Teile der Stadt über. Man klagte, dass die Obrigkeit versage und ihrer Pflicht nicht nachkomme. Doch die Reaktion erfolgte, mehrere Tausend Soldaten wurden aufgeboten, um die Unruhen niederzuschlagen. Zehn Tote und 200 Verletzte waren das Ergebnis des Militäreinsatzes. Zahlreiche Personen wurden verhaftet, ein allerhöchstes Schreiben des Kaisers Franz vom 9. Juli 1805 forderte und versprach Aufklärung, warum es denn 21 Leidinger, Glanz, S. 115.

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zu diesen Ausschreitungen gekommen war. Insgesamt kam es zu 400 Verurteilungen, ein Großteil der männlichen Bestraften wurde danach in den Militärdienst gepresst.22 Gleichzeitig wollte man diese Gelegenheit nutzen, um die Stadt zu säubern: Auch ist mein ausdrücklicher Wille, daß die gegenwärtige Gelegenheit benützt werde und Wien von allen verdächtigen, liederlichen, müßigen und gefährlichen Gesinde, so wie vorzüglich von Fremden, die daselbst nichts zu thun haben, vollkommen zu reinigen, damit dadurch die Ruhe zum besten meiner getreuen Unterthanen auf eine dauerhafte Art hergestellt werden. So formulierte es Franz I. in einem im Haus-, Hof- und Staatsarchiv überlieferten Akt.23 Die Lage allerdings beruhigte sich nicht mehr so richtig. 1807 kam es nach Gerüchten über Gemüsevernichtungen zu Zwecken der Preisspekulation zu Plünderungen. 1809 wurde im Zuge der französischen Besatzung ebenfalls geplündert, außerdem kam es zu Fällen von Waldfrevel. Im August 1814 berichtete ein dem Kaiser über die Kabinettskanzlei zugegangener Vortrag der Polizeihofstelle, dass die Wiener Bevölkerung über die hohen Holzpreise murrte. Die Teuerung wurde auf die Entwertung des Papiergeldes geschoben, allerdings sah man auch die Wiener Handelsleute daran beteiligt. Rindfleisch wurde beispielsweise um vier Kreuzer teurer, der Holzpreis war um das Siebenfache angestiegen, der Eisenpreis um das Vierfache.24 Auch in den Berichten der Polizeispitzel war die Teuerung ein Thema.25 Ein weiterer Vortrag der Kabinettskanzlei enthielt anonyme Meldungen, die offenbar aus Adelskreisen lanciert wurden. Denn hier wurde nicht über Holzpreise lamentiert, sondern die von Renten und Capitalien lebenden Kreise erwarten ein neues Finanzpatent. Militär- und Zivilbeamte erwarteten Teuerungszulagen. Nicht weiter verwunderlich war, dass dieser Informant den Umstand kritisierte, dass der hohe Adel nicht mehr in der Verwaltung tätig war. Bemerkenswert an diesem Vortrag ist noch der Umstand, dass der Präsident der Polizeihofstelle darauf vermerkte, dass es wichtiger sei, 22 Vgl. Maderthaner, Wolfgang, Drauß’d in die entern Gründ’. Wiener Vorstädte und Vororte. Die Habitués vom Galgen-Turf, in: Just/Maderthaner/Maimann, Kongress, S. 180–201. 23 Ebd., S. 200. Der Akt unter ÖStA/HHStA Kabinettskanzlei Protokolle und Indizes 177, Handbilletenprotokoll 612/1805. 24 ÖStA/HHStA Kabinettskanzlei 1802/1814. 25 Die Originalakten der Geheimpolizei Metternichs verbrannten zum großen Teil im Jahr 1927 beim Brand des Wiener Justizpalastes. Daher ist immer noch auf Fournier, August, Die Geheimpolizei auf dem Wiener Kongreß. Eine Auswahl aus ihren Papieren, Wien/Leipzig 1913, zurückzugreifen. Fournier zitiert hier auf Seite 11 in der Fußnote 1 einen Bericht vom 7.11.1814: Die Teuerung in Wien hatte bereits Anfang Juni 1814, insbesondere dadurch begonnen, daß die Fleischer ohne zureichenden Grund mit den Preisen aufschlugen. Graf Beroldingen, der württembergische Gesandte, schrieb am 18. Juni nach Hause, Kalbfleisch koste nunmehr 30 bis 33 Kreuzer Wiener Währung, eine Klafter gutes Holz 50 Gulden ohne Fuhrlohn, Hacken und Schneiden, eine kleine Wohnung in der (inneren) Stadt, bestehend aus Zimmer, Kammer und Küche im dritten oder vierten Stockwerk wenigstens 300 Gulden jährlich. Baron Müller (Schweiz) nennt in einem Bericht an den Landammann vom 8. Juni die Teuerung eine erkünstelte. Ein Beamter bei der Obersten Justizstelle, Forstner, bestätigt dies in einem Schreiben an seinen Bruder vom 3. Juni, worin er auf den „äußerst luxuriösen Lebenswandel der in Üppigkeit schwelgenden Gewerbsklasse der Fleischhauer“ verweist, die mutwillig die Preise erhöhten und die er als „Blutegel“ bezeichnet.

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dass die hohen Beamten intellektuell fähig seien.26 Zurück zur Stimmung in Wien, wobei natürlich auch das eben genannte Beispiel ein Stimmungsbild aus der Stadt wiedergibt, allerdings vom anderen Ende einer fiktiven sozialen Pyramide her gesehen. Während des Kongresses bestand in der Stadt keine unmittelbare Revolutionsgefahr. Das größte Problem für die Stadtbevölkerung waren die andauernden Preissteigerungen, die für Unmut sorgten. Finanziert wurde der Kongress vor allem durch eine 50-prozentige Erhöhung der Erwerbssteuer; man kann sich vorstellen, dass diese Maßnahme nicht besonders populär war.27 Die Geheimpolizei Metternichs notierte unter anderem die Meinung der Wiener Bevölkerung, der Kaiser Franz, so hieß es, wohne in einer Papiermühle, immer fein an der Notenpresse, um die Souveräne und Delegationen bei Laune zu halten.28 Generell war das größte Problem die weitreichende Verarmung der Bevölkerung. Die langen Jahre der Kriege hatten das Land ausgezehrt, dazu kam, dass die Wirtschaft durch die beginnende Industrialisierung am Beginn eines tiefgreifenden Transformationsprozesses stand. Hier boten die Ergebnisse des Kongresses den Wienerinnen und Wienern keine Antworten. Denn was wirklich überall spürbar war, war der drohende Bankrott des Staates und damit einhergehend eine weitreichende Verarmung. Dementsprechend gut in das trübe Stimmungsbild passt ein Vortrag über die Stimmung in der Stadt Wien vom 21. Oktober 1815, der in der Kabinettskanzlei des Kaisers Franz I. überliefert ist.29 Den Vortrag erstattete Baron Franz Hager von Allentsteig (1750–1816), seit 1813 Präsident der Obersten Polizei- und Zensurhofstelle. Er begann seinen Vortrag mit der Feststellung, dass die Stimmungslage in Wien sich stetig verschlechtere. Grund sei, dass sich der Preis der Kerzen aus Unschlitt innerhalb kürzester Zeit mehrmals verteuert habe und die Wohnungspreise weiterhin anstiegen. Dazu kamen noch Klagen über die überhöhten Brotpreise. Dies führte anscheinend sogar dazu, dass die Regierung mit eigenen Brotbackversuchen experimentierte, auch davon wurde dem Kaiser berichtet. Schlecht für die Stimmung war auch die Wiederausschreibung der Klassensteuer für 1816, gepaart mit den Vorwürfen, dass die Beamten parteiisch seien und in den Amtsstuben die Misswirtschaft herrsche. Zu allem Überfluss gingen Gerüchte um, dass Herzog Albrecht und eine namentlich nicht näher genannte Erzherzogin sich an Lebensmittelspekulationen beteiligten und bereicherten.30 Auch das Treiben des Räuberhauptmanns Johann Georg Grasel (1790–1818), der im Umfeld von Wien agierte, beunruhigte die Bevölkerung.31 26 ÖStA/HHStA Kabinettskanzlei 1800/1814. Zu den Beamten der Monarchie im Vormärz vgl. Heindl, Waltraud, Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich. Band 1: 1780–1848 (Studien zu Politik und Verwaltung, Bd. 36), 2., durchges. Aufl., Wien/Köln/Graz 2013. 27 Rauscher, Staatsbankrott, S. 257 f., Leidinger, Glanz, S. 118. 28 Leidinger, Glanz, S. 119. 29 ÖStA/HHStA Kabinettskanzlei 189/1815. 30 Dabei handelte es sich um Herzog Albert Kasimir von Sachsen-Teschen (1738–1822). 31 Zu Johann Georg Grasel (1790–1818), der bis heute in Ostösterreich populär ist, vgl. Bartsch, Robert/ Altmann, Ludwig (Hgg.), Johann Georg Grasel und seine Kameraden, Wien 1924; Hitz, Harald (Hg.), Johann Georg Grasel. Räuber ohne Grenzen (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes, Bd. 34),

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Das größte Problem stellte aber die Versorgung mit Unschlitt dar. Unschlitt ist tierischer Talg, aus dem unter anderem Kerzen produziert wurden. Diese waren für die Beleuchtung dringend notwendig, dementsprechend war Unschlitt ein wichtiger Rohstoff. Genau mit dem wurde aber in Wien spekuliert. Ganz konkret nannte der Bericht an den Kaiser die Namen zweier Seifensieder, Joseph Lang und Vinzenz Schröder, die den Unschlittmarkt in Wien dominierten. Beide kauften den gesamten Unschlitt in der Stadt auf, brachten ihn in die umgebenden Dörfer und Gemeinden, von wo sie ihn wiederum teurer als in Wien verkaufen konnten. In seinem Resümee bestätigte Baron Hager dieses Stimmungsbild der Wiener Bevölkerung. Als Reaktion auf den Vortrag ordnete Franz I. eine Preisbremse beim Unschlitt an; ob und wie er auf die anderen Probleme reagierte, ist aus dem Aktenvorgang nicht ersichtlich. Wien war für die Zeit des Wiener Kongresses die Hauptstadt Europas. Die Bevölkerung nahm das Ereignis anfangs teilweise mit großer Begeisterung auf, rasch aber machten sich die negativen Auswirkungen bemerkbar: steigende Wohnungs- und Lebensmittelpreise, Steuererhöhungen, überzogene Erwartungen an den Kongress, die nicht erfüllt werden konnten. Wien als Stadt, die ein rasantes Wachstum aufzuweisen hatte, fand keine Antworten auf die drängenden sozialen und wirtschaftlichen Fragen der Zeit: Wohnungsnot durch Zuzug, hohe Sterblichkeitsraten, beginnende Industrialisierung und hohe Inflation. All diese Fragen blieben auch in den nächsten Jahrzehnten ungelöst und trugen nicht unwesentlich zur Entstehung der Revolution von 1848 bei.32

Horn/Waidhofen an der Thaya 1992; Platzgummer, Winfried/Zolles, Christian (Hgg.), J. G. Grasel vor Gericht. Die Verhörsprotokolle des Wiener Kriminalgerichts und des Kriegsgerichtes in Wien (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes, Bd. 53), Horn/Waidhofen an der Thaya 2013; Pauser, Josef, Robert Bartsch und die Erforschung der Geschichte des „Räuberhauptmanns Grasel“, in: Das Waldviertel 64 (2015) S. 367–384. 32 Häusler, Wolfgang, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. Demokratie und soziale Frage in der Wiener Revolution von 1848, Wien/München 1979.

Le vrai boulevard de l’Allemagne?

Der Übergang der linksrheinischen Gebiete an Preußen und Bayern im Kontext des Wiener Kongresses (1814–1816) Stephan Laux

I. Einleitung Man möchte es für eine Selbstverständlichkeit halten, dass die 1815 staatsrechtlich besiegelte Landnahme Preußens in den Gebieten links des Rheins die Landesgeschichte in den vergangenen zwei Jahrhunderten so stark interessiert hätte, dass auch der politische Prozess, der dazu führte, in allen Einzelheiten ausgeleuchtet wäre. Das Gegenteil ist der Fall: Eine konzise Darstellung liegt bis heute nicht vor. Der einzige erwähnenswerte, da spezielle Forschungsbeitrag ist eine ungedruckt gebliebene Kölner Dissertation zum Thema von 1971.1 Auch die allgemeine Forschung hat bislang keine vertieften Betrachtungen zur Region im Kontext des Kongresses hervorgebracht.2 Für den ab 1816 bayerischen Gebietsteil links des Rheins, der im Folgenden allerdings nachrangig behandelt werden soll, ist ganz ähnlich eine nur eher kursorische Erforschung in der nachnapoleonischen Übergangsphase zu konstatieren.3 Dass der Herrschaftsantritt Preußens und Bayerns im Linksrheinischen der landesgeschichtlichen Forschung in der Tat viel stärker als Ursache für Nachfolgendes denn als Ergebnis seiner Voraussetzungen vor Augen stand, erklärt sich aus den historiografischen Grundlagen seit dem 19. Jahrhundert. Dabei ist zunächst in Rechnung zu stellen, dass die seit ungefähr den 1840er Jahren in der Landesgeschichte dominierende Heimatgeschichte das als unhistorisch empfundene 19. Jahrhundert zugunsten der Reminiszenz an die örtlichen und regionalen „Altertümer“ generell ausblendete. Erst im Kontext der Reichsgründung hielt dann in der Landesgeschichte eine in wechselnden Tönungen erscheinende affirmative, borussische Phase Einzug. Sie hatte ihre Hochzeit in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg und brachte nach dem Jubiläum von 1915 zahl1 Schlieper, Inge, Die Diskussion um die territoriale Neuordnung des Rheinlandes 1813–1815, Diss., Köln 1971. Der deutlich ältere Beitrag des preußischen Archivars Jean Lulvès, Englands Stellung zur Rheinlandfrage während des 19. Jahrhunderts seit dem Wiener Kongress, in: Archiv für Politik und Geschichte 10 (1928), S. 475–507 ist empirisch und analytisch ohne Wert. 2 Vgl. die Literaturangaben bei Stauber, Reinhard, Der Wiener Kongress (UTB 4095), Wien/Köln/Weimar 2014. 3 Im Einzelnen zu verweisen wäre hier auf Arbeiten insbesondere von Heiner Haan, Hans Fenske oder Günther Volz. Vgl. zuletzt mit näheren Literaturangaben Hartmann, Peter Claus, Bayern und Pfalz von 1816 bis 1945: Rheinkreis, Regierungsbezirk des Königreiches und ab 1918 des Freistaats Bayern, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 77 (2015), S. 455–473.

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reiche Veröffentlichungen insbesondere im Kontext der „Jahrtausendfeier“ im Rheinland 1929 hervor.4 Wie tief bis dahin die Politisierung der rheinischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert gewirkt hatte, muss Franz Petri (1903–1993) gewusst haben, der zum 150. Jahrestag des Wiener Kongresses 1965 die Ansicht vertrat, es stehe nun eine Neubewertung der preußischen Herrschaft am Rhein an. Geleistet wurde diese Neubewertung durch eine im Prinzip heute noch vorbildliche Rezeptions- und gewissermaßen Integrationsforschung. Für diese sei stellvertretend für manche andere KarlGeorg Faber (1925–1982) genannt, der als ein Pionier einer methodisch und analytisch reflektierten, dabei vorurteilsfreien Landesgeschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert gewürdigt zu werden verdient.5 Vor diesem grob umrissenen Hintergrund will dieser Beitrag dem Desiderat einer primär faktenorientierten Darstellung der Umstände des Übergangs der linksrheinischen Gebiete auf Preußen und Bayern auf dem Kongress an Preußen abhelfen. Dabei gilt es nicht in erster Linie, methodisch ambitionierte Wege einzuschlagen. Der heuristische Wert der hier im Vordergrund stehenden Politik- und Diplomatiegeschichte ist nicht gesondert zu thematisieren, aber doch im Hinblick auf die aktuell intensiv diskutierte „Kulturgeschichte des Politischen“ zu bejahen. Dies gilt umso mehr angesichts des sichtlich gewachsenen Interesses der Forschung an kommunikativen Prozessen der Konfliktlösung, die im Falle des Wiener Kongresses allerdings nur im Ansatz erhellt worden sind.6 Sowohl im Hinblick auf die wissenschaftliche wie auf die populäre Befassung mit dem angeblich oft tanzenden Kongress sticht dabei ins Auge, dass die „Salon Networks“ in Wien (Brian E. Vick) größere Aufmerksamkeit erzeugt haben als die eigentlichen diplomatischen Vorgänge.7

4 Vgl. Laux, Stephan, „Positivismus“ und „warme Bodenständigkeit“. Zum historiografischen Selbstverständnis der „Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein“ und ihrer Macher (1854/1855– 2003), in: Helbach, Ulrich (Hg.), Historischer Verein für den Niederrhein. Festschrift zum 150jährigen Bestehen (Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, Bd. 207), Pulheim 2004, S. 261–308. 5 Faber, Karl-Georg, Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution. Probleme der rheinischen Geschichte von 1814 bis 1848 im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik, Wiesbaden 1966; ders., Rheinlande und Rheinländer 1814–1848: Umrisse einer politischen Landschaft, in: Droege, Georg (Hg.), Landschaft und Geschichte. Festschrift für Franz Petri zu seinem 65. Geburtstag am 22. Februar 1968, Bonn 1970, S. 194–210. Die neuere Literatur erschloss zuletzt Georg Mölich, Als das Rheinland preußisch wurde … Aspekte einer Beziehungsgeschichte seit 1815, in: Rheinische Heimatpflege 52 (2015), S. 27–44, hier Anm. 2. 6 Hier sei nur verwiesen auf den Sammelband von Stollberg-Rilinger, Barbara (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 35), Berlin 2005. In Bezug auf den Wiener Kongress vgl. zuletzt Duchhardt, Heinz, Der Wiener Kongress und seine „diplomatische Revolution“. Ein kulturgeschichtlicher Streifzug, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 65, H. 22–24 (2015), S. 27–32. 7 Vgl. zuletzt Vick, Brian E., The Congress of Vienna. Power and Politics after Napoleon, Cambridge, Mass. 2014, Kap. 3.

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Es soll freilich nicht unausgesprochen bleiben, dass die pragmatischen Probleme, die das Desiderat zu einem solchen haben werden lassen, wenig verändert weiter bestehen: Ein Gutteil dessen, was über die diplomatischen Vorgänge aktenmäßig dokumentiert worden war, ist 1927 infolge des Brandes des Wiener Justizpalasts verloren gegangen.8 Daneben ist zu bedenken, dass die Verhandlungen auf dem Wiener Kongress aufgrund der Zensur per se der Öffentlichkeit entzogen waren. Die „new method of diplomacy“, die der prominente Kongresshistoriker und Castlereagh-Biograf Charles Kingsley Webster (1886– 1961) als solche erkannt und als „frank and formal, though confidential, discussion of the most delicate problems directly between the principal statesmen“ charakterisiert hatte9, war gewiss ein Durchbruch in der Geschichte der internationalen Friedenskongresse. Historikerinnen und Historikern bereitet dies aber schwere Probleme. Die Eigenart der Wiener Kongressdiplomatie birgt somit die Schwierigkeit, verbale Diskurssituationen zu rekonstruieren, statt nur additiv zu rekapitulieren. Letzteres aber wird durch die edierten Quellen befördert, da personenbezogene Editionen übergreifende beziehungsweise sachbezogene klar überwiegen, wobei durchweg das Problem der Ex-post-Berichterstattung in Rechnung zu stellen ist. Zunächst aber ist festzustellen, dass es eine adäquate Edition der Kongressberichte und -akten nicht gibt. Der Wiener Kongress befindet sich deshalb gegenüber den durch die „Acta Pacis Westphalicae“ herausragend dokumentieren Westfälischen Friedenskongressen unvergleichlich im Rückstand. Die Edition von Klaus Müller10 von 1986 ist eine verdienstvolle Zusammenstellung meist übersetzter Quellen nach thematischen Gesichtspunkten, die aber nicht den Zugriff auf die älteren Vorlagen erspart. Die beiden maßgeblichen Dokumentationen11 der Wiener Verhandlungen in der Verfasserschaft von Johann Klüber (1815–1835) und Leonard Chodźko alias „Angeberg“ (1863) sind inoffiziellen Charakters und als solche mit editorischen Problemen behaftet. Sie sind zu ergänzen durch die ebenfalls historischen Editionen der persönlichen Schriften der Wiener Gesandten Clemens Wenzel von Metternich (1773–1859), Viscount Castlereagh (1769–1822), Karl August von Hardenberg (1750–1822), Karl Freiherr vom Stein (1757–1831), Wilhelm von Humboldt (1767–1835), August Neidhardt von Gneisenau (1760–1831), Hans von Gagern (1766–1852) und anderer sowie durch die Polizeiberichte des Wiener Innenministeriums.12 Manches mehr böte sich, wenn man etwa   8 Vgl. u. a. Seidl, Jakob, Das Brandunglück im Staatsarchiv des Innern und der Justiz zu Wien, in: Archivalische Zeitschrift 37 (1928), S. 184–191.   9 Zit. Webster, Charles K., The Foreign Policy of Castlereagh 1815–1822. Britain and the European Alliance, 2 Bände, 1. Aufl., London 1925, hier Band 1, 2. Aufl., London 1963, S. 199. 10 Müller, Klaus (Hg.), Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses 1814/15 (Ausgewählte Quellen zur Geschichte der Neuzeit. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 23), Darmstadt 1986. 11 Vgl. den immer noch instruktiven Quellenbericht bei Mayr, Josef Karl, Aufbau und Arbeitsweise des Wiener Kongresses, in: Archivalische Zeitschrift 45 (1939), S. 64–127, hier S. 64–67. 12 U. a. die folgenden Akteneditionen wurden hier herangezogen: Vane, Charles William (Hg.), Correspondence, Despatches, and other papers of Viscount Castlereagh, Vol. 10–11, London 1953 (zit. „Castlereagh, Correspondence“). Klüber, Johann (Hg.), Acten des Wiener Congresses in den Jahren 1814 und 1815,

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noch stärker die Männer der zweiten und dritten Reihe, mithin auch die nicht in Wien selbst ansässigen Korrespondenten ins Auge fassen würde. Dies wird allerdings dadurch erschwert, dass es weder eine Zusammenstellung derartiger personenbezogener Quellen gibt noch dass jemals eine ins Detail gehende Prosopografie der Kongressdiplomaten erstellt worden wäre. Diesen Schwierigkeiten stehen indes auch beträchtliche Potenziale gegenüber. Nicht nur für das Rheinland ist nämlich festzustellen, dass die so zahlreich überkommenen Quellen bislang kaum einmal nach systematischen Belangen befragt worden sind. Insbesondere hinsichtlich der Implikationen regionaler Strukturbildung im weitesten Sinne ist der Wiener Kongress bislang völlig unterbelichtet geblieben. Im speziellen Interesse am linksrheinischen Raum soll diesem Zustand ungeachtet der geäußerten Vorbehalte im gegebenen Rahmen entgegengewirkt werden.

II. Die ‚rheinischen‘ Interessen der führenden Mächte 2.1 Großbritannien Fragt man nach den Interessen der auf dem Wiener Kongress vertretenen Staaten in Bezug auf das Rheinland13, so ist sinnvollerweise England beziehungsweise Großbritannien an die erste Stelle zu rücken, obwohl ausgerechnet England dort keine eigenen territoria-

9 Bände, Erlangen 1815–1835. Comte d’Angeberg [Leonard Jakob Borejko Chodźko], Le Congrès de Vienne et les traités des 1815. Précédé et suivi des actes diplomatiques qui s’y rattachent, 2 Bände, Paris 1863/1864. Weil, Maurice-Henri, Le dessous du Congrès de Vienne. D’après les documents originaux des Archives du Ministère Impérial et Royal de l’Intérieur à Vienne, 2 Bände, Paris 1917. Pertz, G[eorg] H[einrich], Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein, Band 4: 1814. 1815, Berlin 1851. Colenbrander, H[erman] T[heodoor] (Hg.), Ontstaan der Grondwet. Bronnenverzameling, Teil 2: 1815, ’s-Gravenhage 1909. Colenbrander, H[erman] T[heodoor] (Hg.), Gedenkstukken der algemene geschiedenis van Nederland van 1795 tot 1840, Teil 7, ’s-Gravenhage 1914. Fournier, August, Die Geheimpolizei auf dem Wiener Kongreß. Eine Auswahl aus ihren Papieren, Wien/Leipzig 1913. The Consolidated Treaty Series, Bände 62 (1812–1813), 63 (1813–1815) und 64 (1815), New York 1969 (zit. „CTS“). 13 Der folgende Überblick verzichtet auf die Darstellung der Position Russlands, die wohl im Prinzip mit der Preußens gleichzusetzen ist. Überdies lassen die verfügbaren Editionen zur Korrespondenz des russischen Gesandten Karl Robert Graf von Nesselrode-Ereshoven (1780–1862) keine Rückschlüsse auf eine Position des Zaren gegenüber dem Rheinland zu (hauptsächlich Privatkorrespondenz in: Lettres et papiers du chancelier comte de Nesselrode, 1760–1850: Extraits de ses archives. Publiés et annotés avec une introduction par le comte A. de Nesselrode, Tome 5: 1813–1818, Paris o. J. [1907]; [Lévy, Calmann] Correspondance diplomatique du comte Pozzo di Borgo, ambassadeur de Russie en France, et du comte de Nesselrode depuis la restauration des Bourbons jusqu’au Congrès d’Aix-la-Chapelle, 1814–1818, Band 1, Paris 1890).

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len Interessen hegte. Dies versetzte die britische Staatsführung und ihre Gesandtschaft in eine einzigartige und sehr vorteilhafte Position.14 Unter den vielfältigen Überlegungen über eine postrevolutionäre Ordnung Europas15, wie sie gerade auch in England kursierten, stammen die wohl bedeutendsten von William Pitt dem Jüngeren (1759–1806). Niedergeschrieben hatte er sie kurz vor seinem Tod am 23. Januar 1806. Pitt stand damals einmal mehr im Amt des Premierministers, das von seiner ersten Amtszeit 1783 bis zur Resignation des Duke of Wellington (1769–1852) 1832 mit nur einer Ausnahme in den Händen der Torys lag. In dieser Denkschrift16 verlieh Pitt der angeblich festen Überzeugung seines zu diesem Zeitpunkt noch handlungsfähigen Königs Georg  III. (1738–1820) Ausdruck, dass die Sicherung Nordwesteuropas in allererster Linie durch Preußen zu gewährleisten sei. Wenngleich ein Jahrzehnt zurückliegend, so sprechen die Entstehungsbedingungen des Pitt-Plans umso mehr für dessen Aktualität auf dem Wiener Kongress17: Großbritannien hatte sich nämlich unmittelbar einer französischen Invasion ausgesetzt gesehen, der Pitt durch eine neue Allianz entgegenzuwirken hoffte. Dieser gehörte Preußen aber bis zum Frieden von Pressburg nicht an. Der Plan Pitts, es müsse mit Blick auf Preußen künftig gelingen, rendering it a powerful and effectual Barrier for the defence not only of Holland but of the North of Germany against France, lief darauf hinaus, Preußen aus geostrategischen und nicht zuletzt auch finanziellen Motiven als kontinentale Schutzmacht aufzubauen und langfristig auf diese Funktion zu verpflichten.18 Die Funktion der Niederlande als Barriere gegenüber Frankreich war hiermit nicht zufällig ausgesprochen, sondern gründete in entsprechenden Vereinbarungen („Traktaten“), deren Entstehung aus der Perspektive der britischen Vertretung auf dem Wiener Kongress ziemlich genau ein Jahrhundert zurückreichte.19 Mit der Ausdehnung der Kontinentalsperre respektive der Annexion 14 Vgl. übergreifend Ilsemann, Alexandra von, Die Politik Frankreichs auf dem Wiener Kongreß. Talleyrands außenpolitische Strategien zwischen Erster und Zweiter Restauration (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte, Bd. 16), Hamburg 1996, S. 100–108. 15 Vgl. Gruner, Wolf D., Europa-Vorstellungen und Europa-Pläne im Umfeld des Wiener Kongresses und in der Epoche der europäischen Transformation (1750–1820), in: Duchhardt, Heinz (Hg.), Vision Europa: Deutsche und polnische Föderationspläne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 60), Mainz 2003, S. 1–35. 16 Druck u. a. bei Webster, Charles K. (Hg.), British Diplomacy 1813–15. Select documents dealing with the reconstruction of Europe, London 1921, S. 389–394. 17 Vgl. zuletzt Wentker, Hermann, Der „Pitt-Plan“ von 1805 in Krieg und Frieden. Zum Kontinuitätsproblem der britischen Europapolitik in der Ära der napoleonischen Kriege, in: Francia 29, H. 2 (2002), S. 129–145, hier S. 131–136. 18 Zu verweisen ist hier auf die leider ungedruckt gebliebene Arbeit von Wolf D. Gruner, Großbritannien, der Deutsche Bund und die Struktur des europäischen Friedens im frühen 19. Jahrhundert. Studien zu den britisch-deutschen Beziehungen in einer Periode des Umbruchs 1812–1820, 2 Bände, München 1979, hier insbes. Kap. 1–2. 19 Angesprochen sind damit die „Barrier Treaties“ von 1709 bis 1815, in denen der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen maßgeblich von Großbritannien und Österreich zur Abwehr französischer Angriffe Besatzungsrechte in den Spanischen bzw. in den Österreichischen Niederlanden zugestanden wurden. Vgl.

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sämtlicher küstennaher Gebiete bis zur Elbmündung 1810 konnte der Stellenwert dieses Kalküls nur anwachsen: Some of the suggestions may now be inapplicable, so Castlereagh gegenüber dem britischen Gesandten Cathcart in Sankt Petersburg am 8. März 1813, but it is so masterly an outline for the restoration of Europe, that I should be glad your lordship would reduce it into distinct propositions, and learn the bearings of his Imperial Majesty’s mind upon its contents.20 Dass sich allen anderweitigen Beteuerungen zum Trotz mit dem Sinnbild einer „Pax Britannica“21 partikulare Interessen bedienen ließen und dass sich der spätestens seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert als „Arbiter“ auftretenden Großmacht22 mindestens auch eine Statusaufwertung im Ranggefüge der europäischen Dynastien eröffnete, ist nicht von der Hand zu weisen. Und ganz ohne Zweifel war insbesondere Georg IV. (1762– 1830) von eigenen Interessen geleitet. Schließlich war Großbritannien auf die Wiedererlangung seiner unter Napoleon Bonaparte (1769–1821) verlorenen Kolonien erpicht und befand sich, was nicht zu vergessen ist, von 1812 bis 1814/15 in einem Krieg mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Das immer wieder hervorgekehrte Ideal eines Gleichgewichts in Europa könnte man insofern – wie besonders pointiert von Paul W. Schroeder23 vertreten – als Bemäntelung hegemonialer Interessen sehen. Doch waren Selbstschutz und Weltmachtanspruch im Selbstverständnis der führenden Persönlichkeiten Großbritanniens mit der Idee eines gesamteuropäischen Staatengleichgewichts verwachsen, dem die Eindämmung revolutionärer Umtriebe zugrunde lag. Die von Schroeder aufgeworfene Frage zielt ohnehin auf die Bewertung des Pitt-Plans, nicht auf seine normative Wirkung. Letztere steht hier im Vordergrund. Wie sehr nämlich für Castlereagh der Plan der mit preußischen Waffen verteidigten Niederlande mit Großbritannien als Rückhalt handlungsleitend war, ließe sich anhand vieler Aussagen leicht neuerdings mit dem Fokus auf der Gründung Luxemburgs auf dem Wiener Kongress Thewes, Guy, 1815 – Wie das Großherzogtum Luxemburg entstand, in: Fickers, Andreas/Franz, Norbert/Laux, Stephan (Hgg.), Répression, réforme et réorganisation à l’âge des révolutions: Les conséquences du Congrès de Vienne pour l’Europe occidentale/Repression, Reform und Neuordnung im Zeitalter der Revolutionen: Die Folgen des Wiener Kongresses für Westeuropa (Luxemburg-Studien/Études Luxembourgeoises, Bd. 15), Berlin u. a. 2019. 20 Castlereagh an den zweiten britischen Kongressbevollmächtigten, General William Schaw Cathcart, am 8.4.1813 (Druck bei Webster, Diplomacy, Nr. I, S. 1). 21 Nur perspektivisch verwiesen sei an dieser Stelle auf die Studie von Klaus Hildebrand, No Intervention. Die Pax Britannica und Preußen 1865/66–1869/79. Eine Untersuchung zur englischen Weltpolitik im 19. Jahrhundert, München 1997. 22 Vgl. Kampmann, Christoph, Arbiter und Friedensstiftung. Die Auseinandersetzung um den politischen Schiedsrichter im Europa der Frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte, N.F. 21), Paderborn u. a. 2001. 23 Vgl. Schroeder, Paul W., Did the Vienna Settlement Rest on a Balance of Power?, in: The American Historical Review 97 (1992), S. 683–706, der die Idee von der Balance der Mächte als einen propagandistischen „slogan“ Großbritanniens und Russlands verwirft. Vgl. dazu den Kommentar bei Wentker, PittPlan, S. 129–131.

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beweisen: Castlereagh hatte, so Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754–1838) im Oktober 1814, toujours ce projet fort au cœur, und zwar deshalb, weil er nach jahrelanger Kriegsführung Englands gegen Frankreich die Fähigkeit verloren habe, die in Frankreich vollzogenen Veränderungen zu erkennen.24 Das Beharren der englischen Führung auf der Verteidigungsfunktion durch Preußen basierte auf der Prämisse, dass sich Großbritannien nicht erneut zur Niederringung revolutionärer Tendenzen irgendwo in Europa, geschweige denn in beziehungsweise durch Frankreich, würde engagieren wollen. Castlereagh selbst vertrat diesen Standpunkt mit großer Überzeugung und ließ diesen 1822, also kurz vor seinem Tod und unter dem unmittelbaren Eindruck der spanischen Revolution, in ein „State Paper“ einfließen. Mit diesem erhob er das prioritäre Interesse Englands an der Stabilisierung der Verhältnisse in Deutschland mit dem Ziel der Abwendung der dreaded Moral Contagion (sprich: einer Revolution) zur Norm der britischen Außenpolitik, die weit in den Vormärz hineinwirkte.25 Die allen bestehenden Friktionen zum Trotz hohe Wertschätzung der europäischen Allianz Englands basierte freilich auf der sehr pragmatischen, immer wieder geäußerten Überzeugung, die provinces links des Rheins einschließlich des künftigen Königreichs der Niederlande seien gegenüber Frankreich zur Selbstverteidigung nicht in der Lage, weshalb diese Region unbedingt militärisch abgesichert werden müsse.26 Gewiss, so Castlereagh 1822, wäre Großbritannien im absoluten Notfall zur militärischen Intervention ebenso bereit wie befähigt – allerdings nicht upon abstract and speculative Principles of Precaution.27 Im Zustand relativer Ruhe bot sich für die prospektive Stabilitätspolitik Englands deshalb Preußen als die einzige realistische Option an.

24 So Talleyrand an König Ludwig XVIII. aus Wien, 31.10.1814 bzw. 24.11.1814 (Druck bei Broglie, Duc de, Mémoires du Prince de Talleyrand, Band II, Paris 1891, S. 409–418, Zit. S. 413 bzw. S. 483–492, hier S. 485). Vgl. weitere Belege bei Schlieper, Diskussion, S. 211, Anm. 497 zum Verlust der Instruktion und ebd., S. 14–18, 22, 157 u. a. mit Belegen für die Bedeutung des Plans von 1805. Vgl. auch Webster, Policy, Bd. 1, S. 53–62 („The Legacy of Pitt“). 25 Druck bei Temperley, Harold William Vazeille/Penson, Lillian M. (Hgg.), Foundations of British foreign Policy from Pitt (1792) to Salisbury (1902). Old and New Documents, London 1966, Nr. 6, S. 48–63. Vgl. zum Kontext Doering-Manteuffel, Anselm, Vom Wiener Kongreß zur Pariser Konferenz. England, die deutsche Frage und das Mächtesystem 1815–1856 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 28), Göttingen/Zürich 2001, hier S. 48–49, 62 f., Zit. S. 62, der das „State Paper“ als „Grunddokument für Englands pragmatische Interpretation der Großmächtebeziehungen im Rahmen des Vertragswerks von 1814/15“ bezeichnet. 26 Castlereagh an Wellington 1.10.1814 (Castlereagh, Correspondence 10, S. 142–145, hier S. 143). 27 Temperley/Penson, Foundations, Zit. S. 62–63.

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2.2 Preußen In Preußen aber war das Interesse am linksrheinischen Raum sichtlich gering. Gewiss war die preußische Politik grundsätzlich darauf ausgerichtet, den Besitzstand der Monarchie von 1805 zu restituieren.28 Bereits der durchaus kalkulierte Rückzug Preußens aus der ersten Koalition 1795 ist indes als Indiz dafür zu sehen, dass man Aufwand und Bedeutung der alten Besitzungen am Rhein schnell in einem Missverhältnis sah.29 Schon die Dimensionen der gewaltigen Gebietsverluste Preußens zwölf Jahre später im Verhältnis zu den überaus bescheidenden linksrheinischen Parzellen lassen es somit zweifelhaft erscheinen, dass der Blick nach dem Tod Pitts überhaupt auf das Rheinland gerichtet gewesen sein könnte. Diese Annahme bezieht ihre Plausibilität aus manchen der politischen Denkschriften jener Zeit, beispielsweise Wilhelm von Humboldts, des zweiten Bevollmächtigten Preußens auf dem Kongress an der Seite Hardenbergs. In einer Denkschrift Humboldts an Hardenberg vom Juni 1813 ist bezeichnenderweise nicht einmal von einer Zurückdrängung der Franzosen hinter den Rhein, geschweige von der Einnahme linksrheinischer Gebiete die Rede, sondern vielmehr von der Befestigung der Elbe.30 Das die preußischen Spitzenbeamten bewegende Thema war demnach allenfalls die Rückgabe der alten preussischen Provinzen zwischen der Elbe und Weser, wobei Humboldt selbst dies für höchst unwahrscheinlich hielt.31 Derlei Äußerungen sind zwar vor der Schlacht bei Leipzig 1813 anzusetzen. Doch auch in nachfolgender Zeit zeugen die maßgeblichen Stellungnahmen nicht vom innigen Wunsch nach Fortsetzung und Erweiterung historischer Territorialherrschaft. General Karl Friedrich von dem Knesebeck (1768–1848) etwa vertrat Anfang 1814 noch die Meinung, die Niederlande sollten künftig großzügig bemessen, der übrige linksrheinische Raum an verschiedene Mächte verteilt werden – um unmittelbar zu Beginn des Wiener Kongresses Stein die entgegengesetzte Empfehlung zu geben, die Unabhängigkeit der Bataver zu verwerfen und für ihre Beherrschung in deutscher Gesammtheit – sprich: unter preußischem Kuratel – einzutreten.32 28 Vgl. Weber, Heinrich, Grenzvermessung Deutschland–Luxemburg. Die Entstehung der Grenze in den Jahren 1815/16 sowie ihre Vermessung und Dokumentation in den Jahren 1980–1984, hg. vom Ministère des Finances, Luxembourg, und dem Ministerium des Innern und für Sport des Landes Rheinland-Pfalz, Koblenz/Luxemburg 1984, S. 6. 29 Vgl. Koltes, Manfred, Das Rheinland zwischen Frankreich und Preußen. Studien zu Kontinuität und Wandel am Beginn der preußischen Herrschaft (1814–1822) (Dissertationen zur neueren Geschichte, Bd. 22), Köln/Weimar/Wien 1992, S. 75 mit Anm. 184. 30 Denkschrift Humboldts vom 13.–18.6.1813 (Druck: Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften, Band XI, Nr. XX). 31 Vgl. den Brief Humboldts an Hardenberg aus Schloss Peilau (Niederschlesien) vom 9.7.1813 (Druck in: Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften, Band II, Nr. XXI, Zit. S. 69–70). 32 Vgl. zu Knesebecks Denkschrift vom 7.1.1814 Weber, Grenzvermessung, S. 6. Die zweite zitierte Stellungnahme Knesebecks vom 28.9.1814 bei Pertz, Stein, S. 640–654. Zuletzt hat Heinz Duchhardt auf die Bedeutung Knesebecks verwiesen: Vgl. Duchhardt, Heinz, „Maynz selbst so wie alle Vestungen am Rhei-

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Abb. 13  Das „Knesebeck-Schema“, Auszug aus dem Schreiben des Generals Karl Friedrich von dem ­Knesebeck (1768–1848) an Karl Freiherr vom Stein (1757–1831) vom 28. September 1814, aus: Pertz, Stein, S. 644.

Gewiss sind derlei Einflüsterungen der preußischen Generalität nicht mit offizieller Regierungsmeinung gleichzusetzen. Wie wenig planvoll aber auch in diesem Kreis die Überlegungen über regionale Neuverteilungen waren, demonstriert Hardenbergs im Vorfeld des Ersten Pariser Friedens entstandener Plan pour l’arrangement futur de l’Europe vom 29. April 1814.33 Hardenberg schätzte in den ehemaligen preußischen Besitzungen links des Rheins – das waren: linksrheinisches Kleve, Moers, „Oberquartier“ Obergeldern – 122.000 Menschen. Von diesen wolle Preußen mit Fug und Recht 100.000 zurückhaben. Holland könne dagegen mit verschiedenen Orten und Regionen dans les belles contrées le long de la Meuse im niederrheinischen Umkreis und einschließlich Aachens für den Verlust der hessischen Güter großzügig entschädigt werden. Dieser Plan kollidierte mit den Vorstellungen seines engen Mitarbeiters, des Staatsrats Johann August Sack (1764–1831), der als Verwalter des Generalgouvernements Niederrhein den Behalt desselben favorisierte, ne aber werden Bundes-Vestungen …“ Ein Memorandum Karl Friedrichs von dem Knesebeck aus der Frühphase des Wiener Kongresses, in: Edelmayer, Friedrich u. a. (Hgg.), Plus ultra. Die Welt der Neuzeit. Festschrift für Alfred Kohler zum 65. Geburtstag, Münster 2008, S. 663–674, hier S. 664. 33 Den Plan legte Hardenberg den Ministern der vier Hauptmächte vor. Hier von mir herangezogen in französischer Originalsprache bei Griewank, Karl, Preußische Neuordnungspläne für Mitteleuropa aus dem Jahre 1814, in: Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung 6 (1942), S. 342–360, hier S. 348–360. Deutsche Übersetzung bei Müller, Quellen, Nr. 1.

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Abb. 14  Vergrößerung der niederländischen Territorien nach Karl August von Hardenbergs (1750–1822) „Plan pour l’arrangement futur de l’Europe“ vom 29. April 1814, aus: Weber, Grenzvermessung, S. 7.

dagegen die südliche Niederlande Großbritannien als Kompensation für die Abtretung Hannovers an Preußen reserviert sehen wollte.34 Die beiden Pläne korrelierten insofern, als Preußen weitgehend auf seine alten, linksrheinischen Besitzungen beschränkt bleiben sollte. Der Hardenberg-Plan allerdings – und das war der springende Punkt – beanspruchte die exklusive Kontrolle Preußens über den Rhein von Wesel bis südlich 34 Sack an Gneisenau am 25.4.1814. Druck bei Steffens, Wilhelm (Hg.), Briefwechsel Sacks mit Stein und Gneisenau (1807/17). Anlässlich des 100. Todesjahres (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Bd. 5), Stettin 1931, Nr. 32.

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von Mainz (Guntersblum), wozu ein Streifen westlich des Flusses sowie ein Rayon zwischen Main und Rhein bei Rüsselsheim auszuweisen sei. Damit wären die Festungen, insbesondere das preußisch-österreichisch verwaltete Mainz, in preußische Hand gefallen. Diesen Zuschnitt erklärte Hardenberg für Preußen als nécessaire au maintien et de l’equilibre et de leur propre indépendance und schloss: Par les distributions susmentionnées les deux grandes Puissances de l’Allemagne seront portées sur le Rhin et la Hollande sera rendue bien forte, ce qui est essentiel pour la maintien de l’Indépendance. Chacun des Princes préponderants conserve non seulement ses possessions actuelles, mais gagnera même de grands avantages.35 Während der Hardenberg-Plan in seinen sonstigen Bestimmungen eine erhebliche territoriale Vergrößerung Preußens bedeutete, wäre genau dies im Rheinland nicht der Fall gewesen, mit Ausnahme nur der Kontrolle des Flusses und der Festung. Dabei mutet es geradezu kurios an, dass sich Hardenberg in seinem Plan mit dem Kernrheinland, also dem Nordrhein mit Ausnahme nur der niederrheinischen Gebiete, überhaupt nicht befasste: Aachen wird immerhin en passant genannt, Köln, Bonn und Koblenz aber bleiben außen vor. Der Anspruch auf Mainz und den Rhein brachte den preußischen Gesandten indes erheblichen Gegenwind von Seiten Österreichs und Bayerns ein, die es nicht hinnahmen, wenn Preußen neben anderen großen mitteleuropäischen Flüssen (Elbe, Oder und Weichsel) auch den Rhein und die dortigen Festungen, vor allem Mainz, kontrolliert hätte.36 Genau einen Monat später diskutierten die preußischen Gesandten in Paris daher die Bedingungen, unter denen man notgedrungen auf Mainz verzichten könne, mochte auch die wahre Haltbarkeit der linksrheinischen Besitzungen nur durch Mainz garantiert werden. Jedenfalls müsse Preußen für seinen Verzicht gütlich gestellt werden, und zwar mit Sachsen, dessen Regenten man aus Norddeutschland entfernen müsse, derweil die Niederlande südlich der Mosel bis zu einem anschließenden bayerischen Anteil zu ziehen sei. Preußen selbst sollte für seinen Verzicht auf Mainz durch einen Gebietskomplex in diagonaler Linie von Lüttich bis zum Rhein bei Bacharach entschädigt werden.37 Eine preußisch-französische Grenze hätte demnach weiterhin nicht bestanden. Trotz der klar durchscheinenden revanchistischen Motive gegenüber Frankreich und Sachsen und überdies auch Bayern bot dieser erneuerte Plan eine gewisse Grundlage für weitere Verhandlungen, zumal er auf die von Castlereagh ausdrücklich erwünschte 35 Zit. aus Hardenberg-Plan vom 29.4.1814 bei Griewank, Neuordnungspläne, nacheinander S. 353, 348, 359. 36 Retrospektiv dazu Castlereagh an Wellington 1.10.1814 (Castlereagh, Correspondence 10, S. 142–145). Dieser Brief ist ein außerordentlich aussagekräftiges Dokument in Bezug auf die europäische Dimension der linksrheinischen Gebietsentscheidungen. 37 Dieser Plan liegt m. W. nicht in schriftlicher Form vor, ist aber in einem von Hardenberg, Humboldt, Gneisenau, Knesebeck, Boyen und Hoffmann gezeichneten Gesprächsprotokoll vom 29.5.1814 exakt beschrieben (Druck der Berliner Archivquelle bei Pertz, G[eorg] H[einrich] [Hg.], Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau, Band 4: 1814. 1815, Berlin 1880, S. 694–697).

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Einbindung Bayerns in ein Verteidigungssystem gegen Frankreich hinauslief.38 Vor allem wegen des Beharrens auf Sachsen war eine bilaterale Lösung aber in den fortgesetzten Verhandlungen in Paris und nachfolgend in London nicht zu erlangen.39 Weniger Prestigegefühl als vielmehr Sicherheits-, in geringerem Maße auch ökonomische Erwägungen leiteten also das Verhalten der maßgeblichen preußischen Akteure in der Rheinlandfrage. Die preußische Haltung markierte Hardenberg in einer bemerkenswerten Note an Castlereagh am 28. September 1814, da der Kongress soeben inoffiziell begonnen hatte.40 Hardenberg akzeptierte demnach die Pufferfunktion der Niederlande gegenüber Frankreich, hielt das Land aber aufgrund seiner Ressourcen und der mentalen Beschaffenheit der Niederländer für unfähig zur Selbstverteidigung. Von wem hätten die Niederlande daher Hilfe zu erwarten? C’est de l’Allemagne et surtout de la Prusse. Eine starke Aussage, die zwar Preußen eine gesteigerte Verantwortung für die Niederlande zuerkannte. Das Gegenteil wäre angesichts der engen verwandtschaftlichen Beziehungen der Häuser Hohenzollern und Oranien kaum denkbar gewesen.41 An dieser Schutzfunktion wollte Hardenberg hingegen einen zu schaffenden „Deutschen Bund“ beteiligt sehen. Deswegen, so Hardenberg an Castlereagh am 28. September 1814, müsse Preußen die Festung Jülich erhalten, während die Festung Luxemburg an Bayern oder irgendwen gehen könne – Hauptsache nur, die Grenze der um „Belgien“ erweiterten Niederlande gegenüber Frankreich würde nicht noch länger als ohnehin schon vorgesehen.42 Was denkbare Gebietserwerbungen Preußens anbelangte, so zeigte sich Hardenberg mehr als desinteressiert: Wenn Preußen, so Hardenberg hier in deutscher Übersetzung, mit sträflichem Egoismus nur sein eigenes Interesse verfolgte, gäbe es

38 So Castlereagh an Wellington 1.10.1814 (Castlereagh, Correspondence 10, S. 142–145, hier S. 144). 39 Metternich vertrat den Kaiser in London anlässlich eines Besuchs der drei Mächte Russland, Preußen und Österreich beim Prinzregenten und späteren König Georg IV. in London. Die relativ lange Zeit vom 6. bis 22.6.1814 bot indes nur geringe Möglichkeiten zum diplomatischen Austausch. Weitere Vorverhandlungen fanden zwischen den Gesandten auf deren Rückreise von London nach Wien in Paris statt, insbesondere zwischen Castlereagh und Talleyrand. Vgl. Stauber, Kongress, S. 42–43; Ilsemann, Politik, S. 145, Anm. 2 und S. 148–149, Anm. 17–18. Dokumente bei Fournier, August, Londoner Präludien zum Wiener Kongreß. Geheime Berichte Metternichs an Kaiser Franz, in: Deutsche Revue 43, H. 1 (1918), S. 125–136 und Quellenstücke ebd., S. 205–216 u. H. 2, S. 24–33. 40 Druck der „Note“ vom 28.9.1814 in der französischen Originalfassung bei Colenbrander, Gedenkstukken, Nr. 153, S. 187–193; vgl. dazu Stauber, Kongress, S. 114 und Schlieper, Diskussion, S. 158–189. 41 König Wilhelm war ein Sohn von (Friederike Sophie) Wilhelmine von Preußen (1751–1820), die ihrerseits ein Enkelkind des „Soldatenkönigs“ Friedrich Wilhelm (1688–1740) war, allerdings nach dessen Tod zur Welt kam. Daneben war Wilhelm von Oranien seit 1791 mit (Friederike Luise) Wilhelmine von Preußen (1774–1837) verheiratet, einer Tochter König Friedrich Wilhelms II. von Preußen (1744–1797) aus dessen zweiter Ehe mit Friederike Luise von Hessen-Darmstadt (1751–1805). Zudem ist auf das Heiratsprojekt der britischen Prinzessin Charlotte Augusta (1796–1817) mit dem designierten König Wilhelm zu verweisen, das aber 1814 aufgrund der Eheverweigerung Charlottes scheiterte. 42 Colenbrander, Gedenkstukken, Nr. 153, S. 187–193; deutsche Übersetzung in Auszügen bei Müller, Quellen, Nr. 93.

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jegliche Besitzung auf dem linken Rheinufer auf und bestände auf einer für seine Kräfte geeigneteren Abrundung, auf der Wiedererlangung aller seiner ehemaligen Provinzen.43 Ganz anders aber im Falle Sachsens44, das dem preußischen König als vakante, gar liquidationsbedürftige Entschädigung galt, die seinem Land für erlittene Verluste und Demütigungen und erworbene Verdienste um die Befreiung Europas von Napoleon zustehe: Der Nachbar im Süden, König Friedrich August I. von Sachsen (1750–1827), hatte schließlich von 1806 bis 1813 und noch in Leipzig auf Seiten Napoleons gestanden, was ihm den Königstitel und 1807 ein neu geschaffenes „Herzogtum Warschau“ eingebracht hatte. Im Vertrag von Kalisch vom Februar 181345 waren Preußen und Russland jene Verbindung eingegangen, die sie, aus je eigenem territorialen Interesse, zu Bündnispartnern im Krieg und dann auch diplomatischen Partnern auf dem Wiener Kongress machte. Russland und Preußen teilten sich schließlich die Verwaltung des eroberten Sachsen und sahen in der Enteignung des sächsischen Königs nur noch den staatsrechtlichen Vollzug einer als legitim erachteten und faktisch bereits ohnehin vollzogenen Maßnahme. Preußischerseits wurde die Totalannexion Sachsens so hingestellt, als entscheide sie über die als solche zwar nicht offensiv eingeforderte, aber als verdient erachtete Anerkennung Preußens als europäische Großmacht. 2.3 Österreich Franz I. (1768–1835), Kaiser von Österreich, verfolgte in Person seines Hauptdelegierten Clemens Wenzel von Metternich auf dem Wiener Kongress keine Interessen am linksrheinischen Raum im engeren Sinne. Schon im Januar 1814 soll Metternich der englischen Staatsführung den Verzicht des Kaisers auf die habsburgischen Niederlande angezeigt haben46, also jenes Gebiet, das von habsburgischer Seite vor 1794 auf dem europäischen

43 Zit. Müller, Quellen, Nr. 93, hier S. 437. Im Original heißt es: La Prusse, si elle n’envisageait avec un égoisme reprehensible que son intérêt particulier, abandonnerait toute possession sur la rive gauche du Rhin, elle insisterait sur un arrondissement plus convenable de ses forces, sur le recouvrement de toutes ses anciennes provinces (Colenbrander, Gedenkstukken, S. 187–193, Zit. S. 191). 44 Vgl. etwa Humboldts Denkschrift vom 9.11.1814 (Druck: Humboldt, Gesammelte Schriften, Band XI, Nr. XXXIX). Die „Sachsenfrage“ auf dem Wiener Kongress ist in der Literatur bis in die Gegenwart immer wieder aufgeworfen worden. Hier sei nur verwiesen auf die neuere, 2015 noch ungedruckte Dissertationsschrift von Isabella Blank, Der bestrafte König? Die Sächsische Frage 1813–1815, Diss., Heidelberg 2013. Digitalisat: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/15630/ (abgerufen am 9.12.2018). 45 Druck: CTS 62, S. 137–145. 46 So informierte der englische Sondergesandte in Wien, Lord Aberdeen, vom militärischen Hauptquartier aus Castlereagh unmittelbar vor dessen Ankunft vor Ort am 17.1.1814, Metternich habe ihm gegenüber eine formal renunciation of the claim of Austria, and a desire on her part that these countries should contribute to strengthen Holland ausgesprochen (Druck bei Colenbrander, Gedenkstukken, Nr. 24, S. 29). Die Mission Castlereaghs in Basel nach Webster, Policy, Bd. 2, S. 198–203.

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Parkett mehrfach als Tauschobjekt feilgeboten worden war.47 Das säkularisierte Fürstbistum Lüttich war ohnehin vakant und bot sich als Grundausstattung für den neuen König neben einigen anderen kleineren Herrschaften an (Stablo, Malmedy, Falkenstein, Anteilen an Geldern und Limburg). Castlereagh begriff deshalb den gesamten Raum ab Mitte März 1814 als eine Verteilungsmasse.48 So wurden die niederländischen Besitzungen Habsburgs schon im Allianzvertrag der vier Mächte von Chaumont implizit für das Haus Oranien reserviert, im Ersten Pariser Frieden (Artikel VI) wenig später explizit und exklusive vergeben.49 Darüber hinaus galten auch die im engeren Sinne linksrheinischen Gebiete auf dem Kongress für Österreich-Habsburg als indubitablement disponibles.50 Gewiss hatte man daran bis 1794 den geringsten Anteil besessen, aber immerhin: Die Aufgabe des „Rheinlandes“, jenes vrai boulevard de l’Allemagne mit seinen einstmals reichstreuen geistlichen und kleineren weltlichen reichsunmittelbaren Gebieten, für die kein Geringerer als Metternich mit seiner eigenen Familiengeschichte stand, bedeutete schon vor Verhandlungsbeginn in Wien auch die endgültige Aufgabe der habsburgischen Reichstradition, auf deren Fortsetzung manche der Mediatisierten auf dem Kongress noch vergeblich gehofft hatten.51 Mit der Aufgabe der westlichen Besitzungen war also in der Tat eine Verlagerung der geostrategischen Interessensphäre Österreichs verbunden, die der Freiherr vom Stein im Februar 1815 als eine Preisgabe genuiner Interessen an Deutschland hinstellte.52 In den Verhandlungen des Wiener Kongresses bedachte Metternich die um den linksrheinischen Raum kreisenden Detailfragen deshalb aber nicht mit umso geringerem Interesse, allein schon deshalb, weil Österreich dringend auf einen Ausgleich mit Bayern im Streit um die 1805 abgetretenen Gebiete bedacht sein musste und daher einer Verteilungsmasse

47 Vgl. Khan, Daniel-Erasmus, Die deutschen Staatsgrenzen. Rechtshistorische Grundlagen und offene Rechtsfragen (Jus Publicum, Bd. 114), Tübingen 2004, hier S. 404. 48 Vgl. Wentker, Pitt-Plan, S. 138–139 mit Anm. 48 (Dokumentation). 49 Wörtlich wurde in Art. I der englisch-russischen Zusatzartikel zum Vertrag vom Chaumont vom 9. bzw. 1.3.1814 (Rückdatierung) la Hollande […] avec un accroissement de territoire et l’établissement d’une frontière convenable in Aussicht gestellt (CTS 63, S. 83–95, hier S. 95). Die geheimen Zusatzartikel des Friedensvertrags vom 30.5.1814 wiesen ihm in Art. III nunmehr rechtlich verbindlich ein souveränes Staatsgebiet entra la Mer, les Frontières de la Frances […] et la Meuse zu (CTS 63, S. 191–193, hier S. 192). 50 So Graf Münster in der dritten Sitzung der „Commission Statistique“ (s. u.) am 28.12.1814 (Klüber, Acten, Bd. 5, S. 30–33, hier S. 32). 51 So berichtete der Wiener Oberpolizeidirektor Siber an Hager, Wien 20.9.1814, über Gerüchte, Kaiser Franz werde sich möglicherweise eine Reichskrone antragen lassen (Druck bei Weil, Dessous, Bd. 1, Nr. 109, Zit. S. 94). 52 So Stein in seiner Denkschrift „Sur le rétablissement de la dignité Impériale en Allemagne“ vom 17.2.1815. Druck bei Treichel, Eckhardt (Bearb.), Die Entstehung des Deutschen Bundes 1813–1815 (Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes: Abteilung 1, Quellen zur Entstehung und Frühgeschichte des Deutschen Bundes 1813–1830), 2 Halbbände, München 2000, hier Band I/2, Nr. 186, S. 1126.

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bedurfte.53 Folgt man dem amerikanischen Metternich-Biografen Enno E. Kraehe (1921– 2008), so war das aus einer starken territorialen Position heraus agierende Bayern, nicht aber Preußen, „the key to Metternich’s German policy“.54 2.4 Frankreich Unter den Voraussetzungen des Ersten Pariser Friedens konnten der französische König und sein Hauptgesandter Talleyrand für Frankreich auf dem Kongress territoriale Erwerbungen schlechterdings nicht anstreben.55 Dass König Ludwig XVIII. (1755– 1824) aber sehr wohl territorialen Ordnungsvorstellungen nachhing, und seien diese in erster Linie sicherheitspolitischer Art gewesen, ist seiner Instruktion für Talleyrand leicht zu entnehmen. Sie unterstellte dem preußischen König ein ihn treibendes Interesse an „Belgien“ und dem gesamten linksrheinischen Raum und gab Talleyrand folglich auf, derartigen gegen Frankreich gerichteten Ansprüchen entgegenzutreten.56 Aus diesem Grund unterstütze Ludwig ausdrücklich den Plan, das Territorium von „Holland“ so weit wie möglich auch rechts der Maas vorzuschieben. Beide Mächte, Preußen und Frankreich – wiewohl antirevolutionären und restaurativen Zielen verpflichtet – erachteten also die Niederlande als „Bollwerk“ gegeneinander. Zweifellos erhoffte sich Talleyrand von einem großen niederländischen Königreich ein umso geringeres Gegengewicht von Seiten der vormaligen Gegnerstaaten. Damit war indes kein Anspruch auf den linksrheinischen Raum verbunden, wie zuweilen sehr leichtfertig in der Literatur angenommen wird. Talleyrand selbst wusste, dass ihm dieser Anspruch unterstellt wurde, wies ihn aber auf dem Kongress entschieden von sich. Allenfalls ließ er den Gedanken an ein französisches Rheinland als Puffer für den Fall gelten, dass die deutsche Nationalbewegung sich aggressiv gegen Frankreich wenden würde.57 53 Vgl. i. d. S. etwa Steins Kommentar zur anfänglichen Rücksichtnahme Österreichs gegenüber Bayern im Streit um Mainz vom 23.10.1814, Botzenhart, Manfred/Hubatsch, Walther (Hgg.), Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, Band 5: Der Wiener Kongress. Rücktritt ins Privatleben. Stein und die ständischen Bestrebungen des westfälischen Adels (Juni 1814–Dezember 1818), Stuttgart 1964, Zit. S. 326. 54 Vgl. Kraehe, Enno E., Metternich’s German Policy, Bd. 2: The Congress of Vienna, 1814–1815, Princeton 1983, Zit. S. 28. 55 Vgl. die Studie von Ilsemann, Politik. Vgl. zuletzt auch Schneider, Karin, Zwischen Völkerschlacht und Waterloo – Frankreich am Wiener Kongress, in: Heeresgeschichtliches Museum Wien (Hg.), Die Völkerschlacht bei Leipzig, Symposium 8. November 2013 (Acta Austro-Polonica, Bd. 6), Wien 2014, S. 179–206. 56 Paris, 10.9.1814. Druck bei Broglie, Mémoires, S. 214–254; Auszug in dt. Übersetzung u. a. bei Müller, Quellen, Nr. 14, hier v. a. S. 137–138. 57 Vgl. die Briefe Talleyrands an König Ludwig vom 9.10.1814, 17.10.1814, 25.11.1814, Mai 1815. (Druck bei Pallain, Georges [Hg.], Correspondance inédite du Prince de Talleyrand et du roi Louis XVIII pendant le congrès de Vienne, 2. Aufl., Paris 1881, Nr. IV, VIII, XXII, XCIX mit den einschlägigen Aussagen S. 26, 56, 137). Dass der Anspruch „Frankreichs“ auf den linksrheinischen Raum angesichts der Sensibilität des Gegenstands immer wieder in der Literatur ohne vertieften Nachweis kolportiert wird, erscheint mir bedenklich (vgl. etwa Ilsemann, Politik, S. 187, 203 mit Anm. 127).

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Dass sich Talleyrand auf dem Kongress im Übrigen für den sächsischen König verwandte, erschiene widersinnig58, wäre es Frankreich um nichts anderes als um die Fernhaltung Preußens von seinen Grenzen gegangen. Zu dem eigenen Sicherheitsbedürfnis trat jedoch auch die uneingeschränkte Parteinahme König Ludwigs XVIII. für Friedrich August hinzu, dessen Ansprüche er als die am besten begründeten aller Kleinstaaten auf dem Kongress bezeichnete. Friedrich August persönlich bescheinigte er die höchsten vertus de l’homme et du prince und bezichtigte seine Gegner schwerer Fehler. Das ging natürlich an die Adresse des preußischen Königs, der seinen sächsischen Kollegen noch auf dem Leipziger Schlachtfeld hatte festnehmen lassen und ihn als Kriegsgefangenen im Berliner Stadtschloss, ab Ende Juli 1814 auf Schloss Friedrichsfelde, hielt. Nicht zu unterschätzen, zumal von Ludwig explizit hervorgehoben, waren auch die liens de parenté zwischen Bourbonen und Wettinern.59 Die heikle Verbindung nach Sachsen sollte jedoch dynastisch, nicht politisch verstanden werden. So diente das auf dem Wiener Kongress immer wieder geführte Plädoyer Talleyrands60 für die Stärkung der dynastischen Legitimität dazu, die neue Königsherrschaft in den größten Gegensatz zur Revolution zu setzen und dem Verdacht entgegenzuwirken, Insubordination und gar Subversion seien dem französischen Nationalcharakter eigen. Der Adressat des recht blumigen Bekenntnisses für die Solidargemeinschaft der Dynasten und gegen das revolutionäre Prinzip war nicht zufällig Metternich, der Sachwalter einer restaurativen Monarchie und auch persönlich restaurativen gesellschaftspolitischen Vorstellungen verpflichtet war. Die Bekräftigung der absoluten Verlässlichkeit der Bourbonendynastie richtete sich in erster Linie gegen das Kalkül Castlereaghs, in Wien die territorialen Voraussetzungen für eine gegen Frankreich ausgerichtete Blockbildung zu schaffen. Vertrauensstiftung war aber aus französischer Sicht auch gegenüber Preußen das Gebot der Stunde. Abgesehen von den eher pragmatischen Differenzen der beiden Staaten war deren Verhältnis schließlich durch die nationalisierten, teils radikalisierten Öffentlichkeiten in den jeweiligen Staaten kontaminiert: Auf der einen Seite war der Franzosenhass schon 1806/07 mit 58 Vgl. die Überlegungen von Ilsemann, Politik, S. 324. 59 Vgl. Broglie, Mémoires, S. 214–254, Zit. S. 245; vgl. Ilsemann, Politik, S. 178–179. Der Vater des sächsischen Königs, Friedrich Christian, regierender Kurfürst in den letzten Monaten seines Todesjahres 1763, war einer der sächsischen Onkel Ludwigs XVI. und von dessen nach 1815 regierenden Brüdern Ludwig XVIII. und Karl X. Friedrich Augusts jüngerer Bruder Clemens Wenzeslaus war von 1768 bis 1801 letzter Kurfürst von Trier gewesen und protegierte mit Rücksicht auf seinen Neffen Ludwig XVI. in besonderem Maße die französischen Revolutionsemigranten (vgl. zuletzt Blazejewski, Jort/Laux, Stephan, Trier, Luxemburg und die Émigrés der Französischen Revolution seit 1789. Tendenzen und Perspektiven der Forschung, in: Kurtrierisches Jahrbuch 54 [2014], S. 211–242). 60 Talleyrand an Metternich am 19.12.1814 (Druck bei Angeberg, Congrès, Bd. 2, S. 540–544). Vgl. dazu Sellin, Volker, Gleichgewicht oder Konzert? Der Zusammenbruch Preußens und die Suche nach Wiedergewinnung der äußeren Sicherheit, in: Klinger, Andreas/Hahn, Hans-Werner/Schmidt, Georg (Hgg.), Das Jahr 1806 im europäischen Kontext. Balance, Hegemonie und politische Kulturen, Köln/Weimar/ Wien 2008, S. 53–70, hier S. 56–57.

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„teilweise pathologischen Zügen“ (Ilja Mieck) kulminiert, also Jahre bevor Ernst Moritz Arndt Haß, festen und bleibenden Haß der Teutschen gegen die Wälschen und gegen ihr Wesen zur höchsten Tugend ausrief.61 Waren hier die „Befreiungskriege“ bewusstseinsprägend, so war es dort jene terreur prussienne, mit der Alexandre Dumas 1867/68 die Besatzungspraxis der alliierten, vorwiegend preußischen Truppen vor und nach der endgültigen Niederschlagung Napoleons etikettieren sollte.62 2.5 Bayern Über die politischen und territorialpolitischen Ziele Bayerns im Zuge der Niederschlagung Napoleons können in diplomatischen Kreisen wenige Zweifel bestanden haben. Im Vertrag von Ried mit Österreich vom 8. Oktober 181363, der unmittelbar vor der „Völkerschlacht“ den Seitenwechsel des bayerischen Königs besiegelte, sicherte sich König Maximilian Joseph (1756–1825) bis zur Herstellung der Ordnung der Dinge in Europa die volle Souveränität über alle zu diesem Zeitpunkt kontrollierten Gebiete (Artikel 4)64 und den Anspruch auf Siegeszeichen, Beute und Gefangene in künftigen Eroberungen (Artikel 7). Weder hier noch in den Geheimartikeln wurden aber irgendwelche Angaben über Gebietsbestände gemacht. Das Kommando über die bayerischen Truppen sollte einem bayerischen General zufallen (Artikel 5). Derselbe Mann, der diese Funktion erhielt und auch maßgeblich am Rieder Vertrag mitgewirkt hatte, General Carl Philipp Fürst von Wrede (1767–1838), sollte den König auch auf dem Wiener Kongress vertreten.65 In seiner Instruktion trug Maximilian Joseph Wrede weitreichende territoriale Forderungen unter wechselnden Begründungen auch im westdeutschen Raum auf. Hier ließ sich die dynastische Verbindung mit der Rheinpfalz zum Anlass großzügiger Ansprüche auf die Region nehmen. Maximilian Joseph wies Wrede daher an, toute la partie de la rive gauche du Rhin entre ce fleuve, la nouvelle frontière de la France et la Moselle zu fordern, was die beste Kompensation für die angeblich großzügigen Abtretungsangebote 61 Arndt, Ernst Moritz, Ueber Volkshaß und über den Gebrauch einer fremden Sprache, Leipzig 1813, Zit. S. 13. 62 Vgl. Mieck, Ilja, Das Preußenbild der Franzosen zwischen 1815 und 1870, in: Grunewald, Michel/Schlobach, Jochen (Hgg.), Médiations/Vermittlungen. Aspects des relations franco-allemandes du XVIIe siècle à nos jours/Aspekte der deutsch-französischen Beziehungen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Band 1, Bern u. a. 1992, S. 281–301 (Lit.). 63 Historischer Druck in: Kletke, G. M., (Hg.), Die Staatverträge Bayerns […]. Von 1806 bis einschließlich 1858, Regensburg 1860, Nr. II/18, S. 236–240; die ebenfalls elf Geheimartikel ebd., S. 240–242. 64 Die Formulierung lässt freilich den genauen Referenzzeitpunkt für den bayerischen Gebietszuschnitt offen (freien und ruhigen Besitz, so wie die volle Souveränität über alle Staaten, Städte, Domainen und Festungen, in deren Besitz Seine Majestät sich vor dem Anfange der Feindseligkeiten befunden hat). 65 Vgl. Winter, Alexander, Karl Philipp Fürst von Wrede als Berater des Königs Max Joseph und des Kronprinzen Ludwig von Bayern (1813–1825) (Miscellanea Bavarica Monacensia, H. 7), München 1968, Kap. IV.

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Bayerns wäre.66 Die großflächige bayerische Landnahme in der Region sollte den westlichen Ausläufer eines Territorialgürtels über den hessischen Raum nach Unterfranken und schließlich bis nach Altbayern bilden. Die Berücksichtigung des Grundsatzes der Contiguität, des territorialen Landeszusammenhangs, wurde auf dem Wiener Kongress Bayern wortwörtlich versprochen. Die Forderung Bayerns nach der Übernahme Frankfurts wurde dagegen ähnlich kritisch gesehen wie die nach Mainz, an dessen Belagerung und Einnahme am 4. Mai 1814 bayerische Truppen nur am Rande beteiligt gewesen waren.67 Die Instruktion Maximilian Josephs lässt darauf schließen, dass ihm selbst die quantitativen und auch die qualitativen Ausmaße seiner territorialen Forderungen als große Schwierigkeit, deshalb aber nicht als als unbegründet vor Augen standen. Damit spielte er in erster Linie auf die Konkurrenz gegenüber Österreich an, mit dem auf dem Kongress harte Verhandlungen um die 1809 im Frieden von Schönbrunn erworbenen Gebiete anstanden. Das noch unvorhersehbare Ergebnis musste im Ausgang eines territorialen Verschiebespiels nach der folgenden Grundregel liegen: „Je ungünstiger die Verlustszenarien im alpinen Raum auszufallen drohten“, so Reinhard Stauber, „desto mehr richtete sich der Blick Bayerns auf der Suche nach adäquaten Entschädigungen auf den Raum Mainfrankens […], das Neckargebiet und letztlich auch auf Gebiete auf dem linken Rheinufer.“68 Gegenüber 1813 hatten sich für einen Vertreter klassischen fürstlichen Libertätsdenkens wie Maximilian Joseph jedoch die Handlungsmöglichkeiten verändert: In ihrer Neigung, nach Fasson früherer Jahrzehnte der Opportunität folgend Allianzen mal in die eine, mal in die andere Richtung einzugehen, was freilich eine uneingeschränkte bündnispolitische Dispositionsfreiheit voraussetzte, sieht Wolfram Pyta eine „Wiederaufnahme der Gleichgewichtspolitik alten Stils“69, deren Logik auf dem Wiener Kongress aber prinzipiell verworfen wurde. Kritische Beobachter wie der hessen-darmstädtische Minister und spätere Kongressvertreter Baron Braun – auch er freilich in Wien ein ­Lobbyist sei-

66 Druck der Instruktion vom 24.9.1814 in der französischen Originalsprache bei Treichel, Entstehung, Bd. I/2, Nr. 68, Zit. S. 451 aus dem Abschnitt III: Les Limites futures de la Bavière. Auszüge in deutscher Übersetzung bei Müller, Quellen, Nr. 16. 67 Der bayerische Generalleutnant Peter de la Motte (1765–1837) wurde nach Etablierung der hessen-darmstädtischen Zivilverwaltung abgezogen. Die Festung dagegen wurde alternierend unter bayerisch-österreichisches Kommando gestellt. Vgl. Schütz, Friedrich, Provinzialhauptstadt und Festung des Deutschen Bundes (1814/16–1866), in: Dumont, Franz u. a. (Hgg.), Mainz – die Geschichte der Stadt, Mainz 1998, S. 375–428, hier S. 375–377. 68 Zit. Stauber, Kongress, S. 121. 69 Zit. Pyta, Wolfram, Stein und die europäische Friedensordnung seit dem Wiener Kongreß 1814/15, in: Duchhardt, Heinz/Teppe, Karl (Hgg.), Karl vom und zum Stein. Der Akteur, der Autor, seine Wirkungsund Rezeptionsgeschichte (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Beiheft 58), Mainz 2003, S. 65–84, hier S. 72.

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nes Dynasten – erkannten darin zu Recht eine Unmöglichkeit und eine Gefahr für die künftige Sicherheitsstruktur Deutschlands.70 2.6 Niederlande Der Anwärter auf den niederländischen Thron, Prinz Wilhelm VI. von Oranien (1772– 1843)71, sah seine Ziele in der Anerkennung ständischer Ebenbürtigkeit unter den europäischen Dynasten, in der Erlangung von Souveränität über alle von ihm künftig beherrschten Gebiete, in militärischer Sicherheit und daneben natürlich in einer möglichst breiten Bemessung seiner Herrschaftsgebiete. Hierfür schienen die Startbedingungen sehr günstig: Schon der Erste Pariser Frieden brachte la Hollande, placée sous la souveraineté de la maison d’Orange […] un accroissement de territoire ein.72 Näheres dazu bestimmten Geheimartikel der fünf Mächte einschließlich Frankreichs: So sollten die Niederlande proportions erhalten, die der Wahrung ihrer Unabhängigkeit dienlich seien, und zwar les pays compris entre la mer, les Frontières de la France […] et la Meuse, wobei die Grenzen rechts der Maas nach Maßgabe militärischer Erwägungen zu ziehen seien (Artikel III). Ein anderer Artikel (IV) reservierte die weiteren linksrheinischen Gebiete als Verfügungsmasse ebenfalls zugunsten der Niederlande und ausgewählter deutscher Einzelstaaten.73 Prinz Wilhelm und sein wichtigster Berater, Hans von Gagern (1766–1852)74, bezeichneten den Anspruch auf die südlichen niederländischen Gebiete fortan mit einiger Selbstverständlichkeit als eine „réunion“.75 Es war dies ein schillernder Begriff nicht erst seit den französischen Reunionen des späten 17. Jahrhunderts, suggerierte er doch einen aus der Vergangenheit herzuleitenden Anspruch auf die Wiederherstellung eines 70 La Bavière et l’Autriche ne sont pas encore d’accord. La Bavière se donne l’air de ne pas pouvoir se passer des pays qu’elle doit restituer à l’Autriche, probablement parce qu’elle veut les faire taxer au plus haut prix et ne renonce pas à l’espoir d’étendre ainsi ses possessions jusqu’au Rhin, espoir inadmissible parce que ce plan brouillerait les cours les plus respectables et compromettrait l’existence de toute l’Allemagne. Il est possible que l’on indemnisera la Bavière entre le Rhin et la Moselle (Braun an N.N., 13.7.1814, in: Weil, ­Dessous, Bd. 1, Nr. 31, Zit. S. 24). 71 Vgl. zuletzt Graaf, Beatrice de, Second-tier Diplomacy: Hans von Gagern and William I in their Quest for an Alternative European Order, 1813–1818, in: Journal of Modern European History 12 (2014), S. 546– 566. 72 Druck des Friedensvertrags CTS 63, S. 172–202 (hier Zit. S. 180). 73 Geheime Zusatzvereinbarung zwischen Frankreich, Großbritannien, Österreich, Preußen, Russland (CTS 63, S. 191–193). 74 Instruktion Wilhelms für seine Gesandten Spaen und Gagern, Brüssel, 10.8.1814 (vollständig in deutscher Übersetzung bei Müller, Quellen, Nr. 11). Vgl. Graaf, Diplomacy. Hans von Gagern war nominell dem niederländischen Außenminister Baron Spaen de Voorstonde nachgeordnet, führte aber in Wien die Verhandlungen für den König (ebd., S. 557). 75 Vgl. Salmon, Jean, Les frontières de la Belgique lors de son indépendance, in: Revue belge de droit international 31 (1998), S. 7–50, hier S. 7–20.

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rechtmäßigen Zustandes. Dass diese Einheit ausgerechnet nicht in der Republik der ­Vereinigten Niederlande begründet, sondern nur aus der burgundischen oder habsburgischen Herrschaft vor der „Afzweering“ von 1581 ableitbar war, deutete 1814/15 freilich auf eine invention of tradition hin, die der réunion de la Belgique à la Hollande ebenso eigen war wie die Begründung eines niederländischen Königtums auf der geografischen, historischen und damit auch ideellen Grundlage der vormaligen Republik. Die eng­ lischen Diplomaten werden dies verstanden haben und kommentierten die Ungeduld Wilhelms gegenüber seiner neuen „Braut“ Belgien nicht ohne Sarkasmus, wussten sie doch, dass Wilhelm diese gute Partie in erster Linie ihrer eigenen Regierung, jedenfalls nicht der freien Entscheidung der vermeintlich Reunierten, zu verdanken hatte.76 Darüber hinaus stand Wilhelm noch das Herzogtum Luxemburg sowie der Raum rechts der Mosel vor Augen. Dass er allerdings ein ernsthaftes Interesse an Luxemburg hatte, ist zu bezweifeln. Ein erstrebenswertes Verhandlungsziel war Luxemburg entsprechend den Worten Gagerns wohl nur als reiches Aequivalent für einen sich abzeichnenden Verlust der oranischen Stammgebiete rechts des Rheins an Preußen (Dillenburg, Siegen, Diez, Hadamar und Beilstein).77 Im Sommer 1814 hatte Wilhelm gegenüber Castlereagh noch seinen Optimismus hervorgekehrt, dass eine großzügige Bemessung des niederländischen Territoriums, eben weil dieses als „Bollwerk“ gegenüber Frankreich fungieren solle, Konsens sei und dass dem jungen Königreich zur Erfüllung dieser Mission keine untragbaren finanziellen Auflagen gemacht würden. Allenfalls befürchte er, für den „Dutch Loan“ – Schulden des Zaren in Amsterdam – haftbar gemacht zu werden, weil man sonst dessen Zustimmung nicht erhalten würde.78 Schließlich hatte Castlereagh dem Prinzen persönlich schon kurz nach der Schlacht bei Leipzig angezeigt, die Niederlande seien durch einen großzügigen Gebietszuschnitt in die Lage zu versetzen, Frankreich Paroli zu bieten.79 Selbst 76 Like a young bridegroom, he is, however, extremely impatient for the actual possession of his future bride; and as the arrangements for the union of Belgium with his Dutch provinces are to be effected in England, he seems extremely anxious to set out for London (Clancarty an Castlereagh am 7.6.1814. Druck bei Colenbrander, Gedenkstukken, Nr. 105, S. 136–137, Zit. S. 136). 77 Zit. Gagern, Hans von, Mein Antheil an der Politik, Band II: Nach Napoleons Fall. Der Congreß zu Wien, Stuttgart/Tübingen 1826, S. 193. Vgl. den Brief Wellingtons an Castlereagh, 27.10.1814 (Castlereagh, Correspondence 10, S. 176–178), und den des britischen Botschafters in Den Haag, Charles Stuart (1779– 1845), an Wellington vom 13.2.1815 (Druck ebd., S. 250–252). Vgl. vor dem Hintergrund der dynastischen Strukturen des Hauses Nassau Schüler, Winfried, Das Herzogtum Nassau 1803–1866, in: Heinemeyer, Walter (Hg.), Handbuch der hessischen Geschichte, Bd. 4: Hessen im Deutschen Bund und im neuen Deutschen Reich (1806) 1815 bis 1945, 2. Teilband: Die hessischen Staaten bis 1945 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 63,4,2,2), Marburg 2003, S. 421–607, hier S. 48–430 u. 466–471. 78 Memorandum des niederländischen Gesandten in London, Hendrik Fagel, an Castlereagh, London, Juni/ Juli 1814 (Druck bei Müller, Quellen, Anhang zur Nr. 11, Zit. S. 104). 79 Vgl. die Notiz zu einem persönlichen Gespräch zwischen Castlereagh und Prinz Wilhelm, 18.5.1813 (Colenbrander, Ontstaan, Nr. 4).

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ihre Ausdehnung im Raum zwischen Mosel und Rhein wurde hierbei erwogen, um den Niederlanden, dem boulevard de l’Europe contre la France, die consistance nécessaire zu verschaffen.80 Derartige Bekenntnisse und Versprechungen aber wurden auch gegenüber dem Prinzen ausdrücklich unter den Vorbehalt der künftigen politischen und militärischen Entwicklung gestellt. Keineswegs nämlich gedachte Castlereagh – hierbei einmal mehr das favorite scheme of Mr. Pitt in Erinnerung rufend – die Niederlande zu einer power of the first order zu erheben, indem man sie mit mehr ausstatten würde, als sie gegen Frankreich bewahren könnten.81 Deshalb verpflichtete die englische Regierung Wilhelm unmittelbar vor Beginn des Kongresses, neben den zwei Millionen Pfund Sterling, die man ihm für die Rückerstattung der Kapkolonie und Guayanas zugestand, einen Betrag in derselben Höhe – de facto sicher genau diese Zuwendung! – vollständig in die Grenzsicherung gegenüber Frankreich zu investieren.82 Was immer der Oranier somit in Wien hoffte und wollte: Er war darin abhängig von England. Das hatte seit 1795 für die Situation der Niederlande insgesamt gegolten, da der letzte Erbstatthalter, Wilhelm V. (1748–1806), der Vater des ersten Königs, nach England geflohen war. Der auf dem Kongress nicht persönlich anwesende niederländische Prinz genoss somit bestenfalls den Status einer „mittelmächtigen“ Instanz.83 Als solche war er nicht nur nicht an den Verhandlungen der großen vier beziehungsweise fünf, sondern auch nicht am internationalen Achtergremium und am nationalen deutschen Komitee beteiligt. Der am Ende gescheiterte Versuch Gagerns, zur Stärkung der niederländischen Position an die Spitze der Mindermächtigen zu treten – sinnfällig durch die von ihm vorangetriebene „Kaisernote“ an die Adresse Österreichs und Preußens im November 181484 –, versteht sich im Übrigen nicht allein aus den territorialen Interessen der Niederlande. Vielmehr musste es Wilhelm auf dem Wiener Kongress angesichts der zu erwartenden zentrifugalen Kräfte im Süden seines Staatsgebiets unbedingt darum gehen, jede Tendenz zur Minderung seiner Souveränität im Staatsinneren abzuwehren. Die Ermöglichung einer zentralistischen, wenngleich konstitutionell gebundenen Staatsführung war dem zu berufenden König zwar bereits in den sogenannten „Acht

80 Protokoll des britischen Kabinetts vom 26.12.1813 (Druck bei Colenbrander, Ontstaan, Nr. 8, Zit. S. 4). 81 So Castlereagh an Premierminister Liverpool, 22.1.1814 (Druck bei Colenbrander, Ontstaan, Nr. 10). 82 So die englisch-niederländische Konvention vom 13.8.1814 (Druck u. a. in CTS 63, S. 321–330, hier Zusatzartikel 1,2). 83 Vgl. Graaf, Diplomacy, S. 558–559. 84 Vgl. zu Gagern und der von ihm reklamierten Rolle als Vertreter der „Mindermächtigen“ Hundt, Michael, Die mindermächtigen deutschen Staaten auf dem Wiener Kongreß (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Bd. 164), Mainz 1996, S. 182–195. Zur „Kaisernote“ vom 16.11.1814 (Zustellung) vgl. ebd., S. 138–149 u. Duchhardt, Heinz, Stein. Eine Biographie, Münster 2007, S. 334–335, mit neuerer Literatur.

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Artikeln“ vom 21. Juni 1814 in Aussicht gestellt worden.85 Ihre Umsetzung aber setzte logischerweise die Souveränität des Regenten voraus, deren Bewahrung die Vertreter der „Mindermächtigen“ auf dem Wiener Kongress im Rahmen der Verfassungsdiskussionen als höchstes Ziel verfolgten. Von derlei strukturellen und territorialen Entscheidungsfragen blieb Wilhelm von Oranien in den ersten Wochen des Jahres 1815 aber ausgeschlossen. Dies war insbesondere in jener entscheidenden Situation der Fall, da die britische Diplomatie erkannt hatte, dass die extreme Schwierigkeit einer Befriedigung der preußischen und russischen Ansprüche sacrifices der alliierten Mächte erfordere, die gegebenenfalls auch zulasten der Niederlande ausfallen könnten.86 Es ist daher vorwegzunehmen, dass der niederländische Vertreter auf dem Kongress die – freilich nicht schlechten – Ergebnisse zu akzeptieren hatte, auf die sich andere für seinen König einigten.87 Diese Entscheidungen sollten bereits vor der Rückkehr Napoleons nach Frankreich fallen.

III. Fast vollendete Tatsachen: Die alliierte Verwaltung in den linksrheinischen Gebieten vor dem Wiener Kongress Durch die „Leipziger Konvention“ vom 21. Oktober 1813 – unmittelbar nach Ende der Völkerschlacht bei Leipzig also – waren die linksrheinischen Gebiete im Zuge ihrer Eroberung einem gemeinschaftlichen „Zentralverwaltungsdepartment“ unter der Leitung des Freiherrn vom Stein unterstellt worden.88 Im November 1813 richtete diese Oberbehörde in den Besatzungsgebieten mehrere Generalgouvernements ein, die im Wesent-

85 Art. I: Cette réunion devra être intime et complète de façon que les deux Pays ne forment qu’un seul et même Etat, régi par la constitution déjà établie en Hollande […]. Art. IV: Tous les habitans des Pays-Bas se trouvant ainsi constitutionnellement assimilés entre eux (Druck der Acht Artikel in CTS 63, S. 240–244, hier S. 242–243). Die Verfassung, die „Grondwet voor de Vereenigde Nederlanden“, war am 30.3.1814 in Kraft getreten. Am 18.8.1815 wurde sie von den belgischen Notabeln anerkannt (vgl. Dippel, Horst u. a. [Hg.], Constitutional Documents of Belgium, Luxembourg and The Netherlands 1789–1848, München 2008, S. 27 mit Anm. 2). 86 So Clancarty gegenüber dem niederländischen Außenminister Anne Willem Carel Baron von Nagell (1756–1851) am 6.1.1815 (Druck bei Colenbrander, Ontstaan, Nr. 4). Richard Le Poer Trench, 2nd Earl of Clancarty (1767–1837), sollte in Wien dem britischen Gesandtenstab angehören. Gleichzeitig fungierte er als britischer Botschafter in den Niederlanden (vgl. u. a. Stauber, Kongress, u. a. S. 115). 87 Gagern, der um eine positive Selbstdarstellung in seinen Erinnerungen nicht verlegen war, räumte mit Blick auf die Schlussphase der Kongressverhandlungen selbst ein: Sehr vieles geschah gänzlich ohne mein Zuthun, oder so, daß ich nicht einmal eine Meinung hatte (Gagern, Antheil, S. 183). 88 Vgl. in der reichhaltigen, teils aber veralteten Literatur Herres, Jürgen, „Und nenne Euch Preußen!“ Die Anfänge preußischer Herrschaft am Rhein im 19. Jahrhundert, in: Schnabel-Schüle, Helga/Gestrich, Andreas (Hgg.), Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa (Inklusion, Exklusion, Bd. 1), Frankfurt am Main u. a. 2006, S. 103–137.

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lichen der Besatzungssituation entsprachen.89 Am 12. Januar 1814 erfolgte im Hauptquartier der Alliierten in Basel ein Beschluss über die Aufteilung der linksrheinischen Gebiete in sechs General-Gouvernements: Niederrhein, Mittelrhein, Oberrhein, die im Zuge der weiteren Eroberungen durch entsprechende Gouvernements im französischsprachigen Raum ergänzt wurden. Am „Niederrhein“, unter der Direktion von Johann August Sack, stand nun preußisches Militär, am Mittelrhein, verwaltet durch den in russischen Diensten stehenden Staatsrat Justus Gruner (1777–1820), hauptsächlich russisches, am Oberrhein gemischt österreichisches, preußisches, bayerisches und württembergisches Militär. Nachdem der Erste Pariser Frieden Ende Mai 1814 den Rückzug Frankreichs in seine Grenzen von 1792 beschieden hatte, fällten die Alliierten die Entscheidung, die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Gouvernementsverwaltungen mit Wirkung zum 15. Juni 1814 den jeweiligen Mächten zur Regulierung durch ihre jeweiligen Staatenministerien zu übertragen.90 Schließlich stand im Mai, so ein informierter englischer Beobachter aus dem alliierten Hauptquartier in Brüssel, the whole country from the Rhine to the sea, on this side of the old frontier of France, bereits oder absehbar unter preußischer Militärkontrolle.91 Der Raum rechts der Mosel ohne den zu Preußen geschlagenen „Brückenkopf “ Koblenz war Österreich und Bayern bis auf Weiteres zur gemeinschaftlichen Verwaltung durch eine „Landesadministrationskommission“ mit Sitz in Kreuznach überlassen92, wurde aber ausdrücklich unter den Vorbehalt späterer Regelungen gestellt. Im nördlichen Rheinland verlief der administrative Prozess anders: Die preußische Regierung legte Mitte Juli 1814 ihre Verwaltungsgebiete zu einem „Generalgouvernement Nieder- und Mittelrhein“ mit Sitz in Aachen zusammen. Forciert durch den Aufbau ziviler Mittel- und Fachbehörden seit etwa Mitte 1815, wuchs dem preußischen Staat als federführender Militärmacht für die okkupierten Länder unweigerlich eine wachsende Zuständigkeit zu.93 Die distanzierte Diktion der preußischen Besitzergreifungs-

89 Vgl. die historischen Darstellungen bei Neigebaur, [Johann Daniel Ferdinand], Darstellung der Provisorischen Verwaltungen am Rhein vom Jahr 1813 bis 1819, Köln 1821, hier Kap. 5, u. Nahmer, Wilhelm von der, Handbuch des Rheinischen Particular-Rechts, Band 3: enthaltend die Entwickelung der früheren rheinischen Territorial- und Verfassungs-Verhältnisse, Frankfurt am Main 1832, § 67. Lit.: Koltes, Rheinland, S. 23–31. 90 Clancarty an Castlereagh, Den Haag 10.5.1814 (Castlereagh, Correspondence 10, S. 21–24, hier S. 23; vgl. auch ebd., S. 42). 91 Lord Lynedoch aus Brüssel an Clancarty, 16.5.1814 in: Castlereagh Correspondence 10, S. 42–43. 92 Vgl. dazu die Studie von Schmitt, Friedrich, Die provisorische Verwaltung des Gebietes zwischen Rhein, Mosel und französischer Grenze durch Österreich und Bayern in den Jahren 1814–1816 (Mainzer Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, Bd. 10), Meisenheim am Glan 1962. 93 Vgl. Bär, Max, Die Behördenverfassung der Rheinprovinz seit 1815 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. XXXV), Bonn 1919, S. 82–84. Damit wurde der Etablierung zunächst zweier separater Provinzen am 30.4.1815 in der später so genannten „Rheinprovinz“ vorgearbeitet.

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patente vom 5. April 181594, notabene also zwei Monate vor Schluss des Wiener Kongresses, änderte somit nichts an der Normativität des Faktischen, die dem Rheinland bereits kurz nach der Völkerschlacht bei Leipzig eine rasch verfestigte preußische Herrschaft einbrachte.

IV. Die Verhandlungen bis zum Jahresende 1814 Richten wir den Blick nun auf den Kongress selbst, so ist zunächst auf die skurrile, aber erklärliche Tatsache hinzuweisen, dass dieser ein klar erkennbares Ende, aber keinen ebensolchen Anfang hatte.95 Eine förmliche Eröffnungssitzung des Kongresses, die die heikle Frage der Teilnahmeberechtigungen geklärt hätte, hat es nicht gegeben. Der 3. November 1814 markierte nur den formellen Eröffnungstermin. Zu diesem Zeitpunkt sollten die Kongressgesandten ihre Vollmachten in einem Bureau hinterlegen, das von einer Kommission geleitet werden sollte, die mit Vertretern von drei Mächten bestellt werden sollte.96 Angesprochen wurden damit die acht Hauptmächte Österreich, Spanien, Frankreich, Großbritannien, Portugal, Preußen, Russland und Schweden, die in dieser alphabetischen Reihenfolge nach französischer Bezeichnung auch die Kongressakte (den „Acte final“) unterzeichnen sollten. Durch Eröffnung des Bureaus am 3. November 1814 durch Staatskanzler Metternich war der Kongress somit offiziell eröffnet. Der Einzug der gekrönten Häupter97 begann mit König Friedrich I. von Württemberg (1754–1816) am 22. September 1814 und gipfelte mit dem des russischen Zaren Alexander I. (1777– 1825), des österreichischen Kaisers Franz I. und des preußischen Königs Friedrich Wilhelm  III. (1770–1840) in der Hofburg am 25. September 1814. Die Gesandten der vier Hauptmächte Großbritannien, Österreich, Russland und Preußen hatten ihre Gespräche schon am 16. September 1814 aufgenommen.98 Ab Mitte Oktober99, da das „Komitee für deutsche Angelegenheiten“ tagte, war das große Thema auf dem Kongress die Sachsenfrage, die wiederum mit der Polenfrage verbunden war. Besonders im Übergang 1814 zu 1815 wurde über diesen Komplex überaus kontrovers debattiert, wobei die beteiligten Gesandten einander manche Wunden zufügten. Weder England geschweige denn Österreich zeigte sich bereit, ein nur schein94 Druck der Patente u. a. in: Gesetz-Sammlung für die königlich Preußischen Staaten, Berlin 1815, Nr. 4, S. 21–22 (nördlicher) bzw. S. 23–24 (südlicher Teil). 95 Vgl. Stauber, Kongress, S. 25. 96 Die entsprechenden Erklärungen vom 8.10.1814 bzw. 1.11.1814 im Druck bei Müller, Quellen, Nr. 25 u. 27. Vgl. zur Eröffnung des Kongresses auch Müller, Quellen, S. 9. 97 Vgl. Stauber, Kongress, S. 206–207. 98 Vgl. Mayr, Aufbau, S. 68. 99 Vom 14.10. bis 16.11. tagte die erste Sitzung des Komitees für deutsche Angelegenheiten. In diese Zeit fiel die Eröffnung am 3.11. Zuvor, am 30./31.10.1814 wurde die Aufnahme der Verhandlungen durch die acht Mächte und der Vorsitz Metternichs beschlossen.

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autonomes Königreich Polen unter russischer Führung hinzunehmen, zumal wenn dies die Überlassung Sachsens an Preußen und damit die unmittelbare Nachbarschaft eines preußischen Sachsen zum gegenüberliegenden österreichischen Böhmen zur Folge gehabt ­hätte.100 Am 16. Dezember 1814 etwa verlieh Hardenberg gegenüber Metternich seiner großen Enttäuschung über die angebliche Ablehnung der Vereinigung Sachsens mit Preußen durch Österreich Ausdruck.101 Indirekt schlug hier der rheinische Aspekt durch: Hardenberg legte nämlich einen Entschädigungsplan vor, den man schon an Sachsen herangetragen habe.102 Dem sächsischen König wurde demnach ein großer Anteil Westfalens aus den ehemaligen geistlichen Territorialbesitzungen von Münster, Paderborn und Corvey angeboten, zuzüglich eines näher zu bemessenden Gebietes am Rhein, wo man ihm gegebenenfalls sogar das Doppelte dessen böte, was ihm eigentlich zustehe. Darin finde sich gewiss auch une ville agréablement située sur le Rhin même, propre à une résidence, womit Bonn gemeint war. Dann, so Hardenberg mit unverkennbar sarkastischem Unterton weiter, könne sich der König der Nachbarschaft Frankreichs erfreuen und werde von Preußen nicht gestört. Allenfalls die Bundesfestung in Luxemburg müsse er erdulden. Eine solche „Verpflanzung“ einer Dynastie sei schließlich in der Geschichte nichts Ungewöhnliches. Der Plan war aber diplomatisch denkbar schlecht vorbereitet. Einen Grund hierfür benannte Castlereagh mit Steins verbissenem Festhalten an Sachsen: Baron Stein is the most earnest opponent in the Prussian councils of any modification of the Saxon point, bemerkte er gegenüber dem britischen Premierminister Lord Liverpool (1770–1828) am 18. Dezember 1814.103 Stein selbst äußerte zu alledem in seinem Kongresstagebuch zum 31. Dezember 1814 Verärgerung darüber, dass man dem Sachsenkönig überhaupt Gehör schenke, in Anbetracht nämlich der angeblichen akuten französischen Bedrohung im Rheinland: Es sollte also Deutschland von neuem einem bürgerlichen und französischen Krieg preisgegeben werden wegen des Interesses eines Anhängers von Napoleon und über die Frage, ob es besser sei, ihn auf das linke Rheinufer zu versetzen oder Sachsen zu zerreißen und ihm dort ein Fragment anzuweisen. Welche Verblendung! 104 Gewiss ist in Rechnung zu stellen, dass Stein, der sich diplomatisch zwischen dem preußischen König und dem russischen Zaren bewegte, nominell aber in Wien in den

100 Vgl. Engehausen, Frank, Länderschacher nach Napoleon: die Neuverteilung der linksrheinischen Gebiete und die preußische Provinz Sachsen 1813 bis 1815, in: Kretzschmar, Robert/Schindling, Anton/Wolgast, Eike (Hgg.), Zusammenschlüsse und Neubildungen deutscher Länder im 19. und 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Forschungen, Bd. 197), Stuttgart 2013, S. 51–74, hier S. 58. 101 Hardenberg an Metternich, Wien, 16.12.1814 (Druck bei Angeberg, Congrès, Bd. 2, S. 1952–1956, Zit. S. 1954). Vgl. Engehausen, Länderschacher, S. 62–63. Vgl. auch die Notizen Steins in seinem „Kongresstagebuch“ in: Botzenhart/Hubatsch, Stein, Bd. 5, S. 316–386, hier S. 346–347. 102 Vgl. u. a. Ilsemann, Politik, S. 193, 324. 103 Castlereagh an Liverpool, Wien, 18.12.1814 (Druck bei Webster, Diplomacy, Nr. CXLIII, Zit. S. 260). 104 Druck bei Botzenhart/Hubatsch, Stein, Bd. 5, Zit. S. 355. Vgl. Duchhardt, Stein, Kap. 9.

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Diensten des Letzteren stand, auf dem Kongress keine „Schlüsselfigur“ war.105 Sofern er sich in seiner dezidiert antifranzösischen Haltung als Interessenvertreter Preußens zu erkennen gab, wird sein Standpunkt aber nur graduell von dem der preußischen Verhandlungsführer abgewichen sein. Hardenberg – immerhin preußischer Staatskanzler und Prinzipalgesandter in Wien – sah das Beharren auf Sachsen allerdings kritisch. Die von einer geradezu „blinden Gefolgschaftstreue“ gegenüber dem Zaren und seinen Zielen zeugende Haltung Friedrich Wilhelms – so Stamm-Kuhlmann in seiner stark psychologisch interessierten Biografie des Königs106 – empfand Hardenberg als umso bedenklicher. An der offiziellen Haltung Preußens auf dem Kongress und an der Wahrnehmung durch andere änderte dies aber wenig. So schrieb Castlereagh am 1. Januar 1815 noch an Liverpool, sämtliche preußischen Gesandten verfielen, wenn nur die Rede auf Sachsen komme, in eine Sprache, die warlike sei, was besonders für die Person Humboldts gelte.107 Durch die Härte Preußens in der Sachsenfrage würden alle weiteren Streitpunkte extrem verschärft. Das sei auch so in der Frage des linksrheinischen Raums, bei der die preußischen Gesandten den Wünschen des niederländischen Prinzen neuerdings brüsk begegneten. Premierminister Liverpool schrieb Castlereagh am 12. Januar 1815, der Plan Preußens, den sächsischen König im Rheinland zu entschädigen, bestärke ihn nur in seiner Ablehnung einer Freigabe Sachsens an Preußen.108 Man sieht hier, wie sehr die Sachsen-Rheinland-Frage auch das innere Verhältnis der Mächte untereinander belastete. Hardenberg etwa hatte aus Enttäuschung darüber, dass Preußen auf das Rheinland statt auf Sachsen festgelegt werden sollte, seine Privatkorrespondenz an den Zaren weitergeleitet, wodurch England und Österreich desavouiert werden sollten.109 Humboldt deutete im Februar 1815 in seinem ablehnenden Kommentar zu Steins Forderung nach Wiederherstellung der deutschen Kaiserwürde an, Österreich sei geografisch so stark nach Osten und Süden hin orientiert, dass es auch die Preisgabe von Teilen des Rheinlandes zugunsten Frankreichs oder Hollands klaglos hinnehmen, vielleicht sogar politische Verbindungen mit Frankreich schließen würde.110 In die Person 105 Vgl. Duchhardt, Stein, S. 332. 106 Vgl. Stamm-Kuhlmann, Thomas, König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III., der Melancholiker auf dem Thron, Berlin 1992, S. 394–406, Zit. S. 400. 107 Castlereagh an Liverpool, 1.1.1815. Druck bei Webster, Charles K., England and the Polish-Saxon problem at the Congress of Vienna, in: Transactions of the Royal Historical Society (Third Series) Vol. 7 (Dec. 1913), S. 49–101, hier S. 88–89 u. ders., British Diplomacy, Nr. CLV; Müller, Quellen, Nr. 54, Zit. S. 277. 108 Liverpool an Castlereagh, 12.1.1815 (Druck bei Castlereagh, Correspondence 10, S. 239–240, hier S. 240). 109 Vgl. Müller, Quellen, S. 13. 110 Undatierte Denkschrift Humboldts bei Treichel, Entstehung, Bd. I/2, Nr. 188, hier S. 1133; die Schrift Steins ebd., Nr. 186. Vgl. in diesem Zusammenhang die Feststellung von Schroeder, Paul W., The Transformation of European Politics 1763–1848 (Oxford History of Modern Europe), Oxford 1994, S. 541: „Here, as in much of its history, the Habsburg monarchy faced the choice of whether its first priority as a great power should be to defend the Reich against France or to sustain its own power on the Danube. It opted for the latter.“

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Castlereaghs investierte die preußische Seite dennoch die größten Hoffnungen, und so bot man kurz vor Weihnachten geballte diplomatische Kraft auf – Humboldt, Stein und Hardenberg –, um Castlereagh von den angeblich katastrophalen Folgen einer Teilung Sachsens zu überzeugen. Letztlich ohne Ergebnis. Man mag sich vorstellen, wie es auf die preußische Delegation gewirkt haben muss, wenn Castlereagh um Rücksichtnahme ausgerechnet für angeblich berechtigte Interessen Frankreichs, Sachsens und Österreichs warb.111 Der Zar dagegen zeigte sich gegenüber Stein als treuer Patron des seit Februar 1813 verbündeten Preußen112: Sage ihm der König von Pr[eußen], er sei befriedigt, so sei er sogleich zu unterschreiben bereit; sei er es nicht, so werde er ihn auf jede Art unterstützen, so Stein in seinem Kongresstagebuch.113 In diese Auseinandersetzungen spielte die Frage nach dem Verbleib der Festung Mainz – mit anhängiger Stadt, wie man sagen muss – hinein.114 Die Festung war von eminenter Bedeutung und wurde von gleich mehreren Seiten beansprucht. Angespornt von der preußischen Generalität – darunter der schon genannte Knesebeck115, der Mainz in jeder Hinsicht für einen Teil von Nord-Teutschland und offensichtlich Preußen und Norddeutschland für identisch hielt –, hatte Hardenberg Metternich zu Beginn des Kongresses gedrängt, auf den Kaiser einzuwirken, von der Begünstigung Bayerns mit Mainz abzurücken. Preußen würde sich als Gegenleistung sogar bereit zeigen, alle Rhein- zu Bundesfestungen zu machen (es wurden dann nur Luxemburg, Mainz, Landau, später auch Ulm und Rastatt).116 Der Konflikt geriet umso bitterer, als sich der bayerische Gesandte Wrede in der Sachsenfrage ausgerechnet für König Friedrich, überdies auch für Napoleons Stief- und Adoptivsohn Eugène de Beauharnais (1781–1824) starkmachte, wodurch die Verhandlungsposition Bayerns nicht eben gestärkt wurde.117 Der Streit um Mainz wirft auch insofern ein Licht auf die Antagonisten auf dem Kongress, als historische Erfahrung respektive die Auslegung historischer Erfahrung zum Maßstab zwischenstaatlicher Beziehungen gemacht wurde. So bemerkte Stein in seinen Marginalien zu Hardenbergs „41 Artikeln“, dessen einflussreichem Verfassungsentwurf unmittelbar vor Beginn des Kongresses118, er halte es für sehr bedenklich, Bayern bedeutende Besitzungen auf dem linken Rheinufer anzuvertrauen, besonders Festun111 Castlereagh an Liverpool, Wien, 24.12.1814 (Druck bei Webster, Diplomacy, Nr. CXLIX, hier S. 269). 112 Vertrag von Kalisch vom 28.2.1813 (Druck in: CTS 62, S. 137–146). 113 Aus Steins Kongresstagebuch vom 4.1.1815 (Botzenhart/Hubatsch, Stein, Bd. 5, Zit. S. 356). 114 Vgl. etwa den Bericht von Wellington an Castlereagh, Wien, 4.3.1815 (Druck bei Müller, Quellen, Nr. 104). Vgl. Martin, Constanze, „Mainzer Frage“ 1814–1816. Die Zeit von 1797 bis zum Wiener Kongress, http://www.regionalgeschichte.net/bibliothek/texte/aufsaetze/martin-mainzer-frage.html (abgerufen am 13.8.2018). 115 Vgl. das diesbezügliche „Pro Memoria“ Knesebecks bei Duchhardt, Maynz, S. 668–674 und Pertz, Stein, S. 678–686. 116 Hardenberg an Metternich, Wien, 9.10.1814 (Druck bei Müller, Quellen, Nr. 31, hier S. 208). 117 Vgl. Winter, Wrede, S. 189–209 (Sachsen) bzw. 209–215 (Beauharnais). 118 Zit. aus der zweiten Fassung. Druck bei Müller, Quellen, Nr. 65, hier S. 335–336, Anm. r.

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gen. Die bayrische Politik neigt sich seit zwei Jahrhunderten nach Frankreich, der König, sein undeutscher Minister, mehrere seiner Beamten, sein Schwiegersohn, alle haben eine französische Richtung […]. Es wird also immer geneigt sein zu versuchen, selbst mit Aufopferung entfernter unpassend gelegener Besitzungen sich gegen Osten oder Norden zu vergrößern und in dieser Absicht sich an Frankreich anzuschließen. Bei späterer Gelegenheit, im Februar 1815, gab Stein, der sich wegen bösartigen Benehmens Bayerns schon zuvor verbittert gezeigt hatte, Feldmarschall Wellington persönlich zu verstehen, die Präsenz Bayerns links des Rheins sei überhaupt nicht zu verantworten, denn der Geist seiner Politik werde immer für Deutschland und seine Nachbarn verderblich sein.119 Nur Preußen könne und werde linksrheinisch die Sicherheit Deutschlands garantieren. Im Grunde wurde die Abscheu gegenüber der angeblich überdauernden französisch-bayerischen Allianz auch von der englischen Seite geteilt: So warnte Wellington Castlereagh zu Beginn des Kongresses davor, Bayern zu viel Vertrauen zu schenken, denn es sei militärisch schwach und scheue in seiner Anlehnungsbedürftigkeit gegenüber Frankreich nicht den fundamentalen Gegensatz zu britischen Interessen (in the opposite system to ours).120

V. Weichenstellungen im Frühjahr 1815 Der so sehr gefährdete Fortgang der Verhandlungen auf dem Kongress ist durch zwei ganz unterschiedliche Faktoren begünstigt worden, die hier kurz skizziert werden sollen. Erstens wurde die Politik Preußens im Januar 1815 auf eine neue, und zwar erschwerte, Grundlage gestellt, da England, Österreich und Frankreich am 3. Januar 1815 ein Defensivbündnis geschlossen hatten, das eindeutig gegen Preußen gerichtet war.121 Talleyrand kommentierte dies mit triumphalem Gestus, sollte sich in seiner Erwartung eines Zerfalls der Allianz allerdings durch die Folgen der Rückkehr Napoleons getäuscht sehen.122 Plausibilität spricht für das seit Webster in der Forschung vertretene Argument, dieser

119 Zit. aus Steins Kongresstagebuch vom 7.1. bzw. 24.2.1815 (Druck bei Botzenhart/Hubatsch, Stein, Bd. 5, S. 356 bzw. 367). 120 Wellington an Castlereagh, 17.10.1814 (Castlereagh, Correspondence 10, S. 166–167, hier S. 167). 121 Druck des Vertrags in: CTS 63, S. 435–440; vgl. Müller, Quellen, S. 14 mit Verweis auf die diesbezüglichen Quellenstücke. 122 Bericht Talleyrands an König Ludwig XVIII. vom 4.1.1815, gedruckt bei Müller, Quellen, Nr. 57. Der Vertrag verpflichtete die beteiligten Mächte de pourvoir aux moyens de repousser toute agression à laquelle leurs propres Possessions ou celles de l’un d’eux pourraient se trouver exposés, wozu jede Seite im Verteidigungsfall 150.000 Soldaten aufzubieten hätte. Auffälligerweise war der Vertrag nur von England und Österreich (Castlereagh und Metternich) unterzeichnet. Der französische König wird nur in der Vorrede genannt, und zwar im Hinblick darauf, dass er die Überzeugung teile, die Stabilität Europas im Sinne des Ersten Pariser Friedens müsse gewahrt werden. Gleichwohl war Frankreich lt. CTS 63, S. 435, der erste Staat, der den Vertrag, am 11.2.1815, ratifizierte.

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Bündnisvertrag sei nur eine Drohgebärde gewesen.123 Für Wolfram Pyta bildete er den „Ausklang, so etwas wie ein letztes heftiges Aufflackern der herkömmlichen Gleichgewichtspolitik“, ohne, wie zu schließen ist, noch einmal eine realistische Option für einen weiteren Kabinettskrieg nach Art des 18. Jahrhunderts zu eröffnen.124 Gleichwohl steht der Vertrag für eine diplomatische und folglich auch militärische Isolation Preußens, die ihre Wirkung offenbar nicht verfehlte, denn der preußische König hielt am Wiener Kongress fest. Der zweite Punkt betraf die Verhandlungspraxis auf dem Kongress seit Jahreswechsel. Zum Weihnachtstag 1814 wurde dort eine „Statistische Kommission“125 konstituiert, die Castlereagh vier Tage zuvor formaliter als Fünf-Mächte-Gremium vorgeschlagen hatte. Dieser Expertenkreis sollte, so das Kalkül Castlereaghs, durch die „Erarbeitung einer konsolidierten Faktenbasis“ (R. Stauber) eine Handhabe zur Aufweichung der obstruktiven Haltung Preußens bieten.126 An der Arbeit der Kommission hatte die preußische Seite einen gleichberechtigten Anteil. Und sie wurde prominent repräsentiert: Der Jurist Johann Ludwig von Jordan (1773–1848)127 war ein enger Berater Hardenbergs vor und auf dem Kongress und im Sommer zum Sektionsleiter im Ministerium des Auswärtigen Amtes erhoben worden. Ihm assistierte der Kameralist Johann Gottfried Hoffmann (1765– 1847), der schon auf der zweiten Zusammenkunft der Kommission mit der Bewertung der statistischen Vorlagen und der Erstellung tabellarischer Übersichten betraut wurde.128 Die der Kommission laut Instruktion aufgetragene Bewertung der betreffenden Gebiete zunächst auf der Grundlage der Bevölkerung, dann aber auch de l’espèce ou de qualité, 123 „But the treaty was meant to prevent war, not to make it, and it succeeded in its object. In a few days all danger of a rupture was over“ (Webster, C[harles] K[ingsley], The Congress of Vienna, 1. Aufl., London u. a. 1934, S. 115). 124 Pyta, Stein, Zit. S. 76. 125 Klüber, Acten, Bd. 5, S. 9–94, bietet eine geschlossene Dokumentation der „Procès-verbaux de la Commission statistique“. Einzelne Dokumente finden sich in den chronologischen Abschnitten Dezember 1814 u. Januar 1815 bei Angeberg, Congrès, Bd. 1. Vgl. Stauber, Reinhard, Polen und die Arbeit der „Statistischen Kommission“ auf dem Wiener Kongress, in: Die polnische Frage auf dem Wiener Kongress (im Druck. Ich danke Herrn Stauber für die Überlassung seines für den Druck vorgesehenen Manuskripts am 16.9.2015). In der älteren Literatur vgl. Mayr, Aufbau, S. 104–106. 126 Der betreffende Passus der Instruktion bei Klüber, Acten, Bd. 5, S. 8–9. Im Wortlaut: 1. Le but de la réunion de la Commission sera la détermination précise des territoires conquis sur l’Empereur Napoléon et ses alliés dans la dernière guerre sans égard à la destination de ces territoires. 2. L’évaluation de ces territoires se fera sous le point de vue de la population. Mais l’évaluation de la population elle-même ne sera pas faite sous le simple rapport de quotité; elle le sera aussi sous celui de l’espèce ou de qualité. 127 Vgl. Bailleu, Paul, Art. „Jordan, Johann Ludwig von“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 14, Leipzig 1881, S. 506. 128 Vgl. Angeberg, Congrès, Bd. 2, S. 566. Hoffmann war seit 1810 erster Direktor des fünf Jahre zuvor eingerichteten „Königlich Preußischen Statistischen Bureaus“ an der Universität Berlin. Seit 1807 hielt er eine Professur für Kameralwissenschaften in Königsberg, ab 1810 in Berlin. Zwischenzeitlich, 1808, war er zum Staatsrat im Ministerium des Innern erhoben worden (vgl. Inama-Sternegg, Karl Theodor von, Art. „Johann Gottfried Hoffmann“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 12, Leipzig 1880, S. 598–604).

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Abb. 15  Auszug aus dem „Rapport“ der „Statistischen Kommission“, Wien, Januar 1815, aus: Klüber, Acten, Band 5, S. 99.

wurde auf Druck Preußens – entgegen dem Dafürhalten Talleyrands – zurückgestellt, angeblich weil sie im gegebenen Rahmen nicht durchführbar war.129 Dies zog eine große Vereinfachung der Urteilsgrundlage mit sich und erklärt wohl, warum über manche Gebiete wider besseres Wissen um deren Wert eben nicht kontrovers verhandelt wurde. Dies gilt beispielsweise für den deutschsprachigen Teil der Saarregion mit den seit Mitte des 18. Jahrhunderts im größeren Maßstab ausgebeuteten Kohle- und Erzvorkommen. Auch und gerade Bevölkerungszahlen aber konnten in der Kürze der Zeit natürlich nicht eigenständig erhoben werden. Die Kommission nutzte daher die verfügbaren amtlichen Statistiken, die im Falle der linksrheinischen Gebiete logischerweise französischer Provenienz waren. Den bei Klüber abgedruckten Akten der Statistischen Kommission ist dabei zu entnehmen, dass man sich nicht auf den „Almanach Impérial“ für die Zeit ab 1811 (also nach den französischen Annexionen von 1810) verlassen wollte. Stattdessen bediente man sich eines „Annuaire“, das dem französischen Mathematiker Pierre-Simon (Marquis de) Laplace (1749–1827) zugeschrieben wurde.130 Die preußischen Kommissionsvertreter hatten sich – sicher nicht anders als ihre Kollegen – von Anfang an auf rein statistische Größen verlegt und sich hinsichtlich poli-

129 Vgl. Pallain, Correspondance, Nr. XXXIV (28.12.1814). Vgl. Peterson, Genevieve, Political Inequality at the Congress of Vienna, in: Political Science Quarterly 60 (1945), S. 532–554, hier S. 547–548. 130 Vgl. Klüber, Acten, Bd. 5, S. 11–12 mit Anm. ** u. 14. Die auf die vormaligen Departements bezogenen Angaben zu den linksrheinischen, von Frankreich eroberten Gebieten sind mit denen zu weiteren, nicht deutschen Gebieten zusammengefasst (vgl. „Tableau spécial“ Nr. 5a ebd., S. 111–113).

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tischer Erwägungen für unzuständig erklärt.131 Indem die Kommission ihre Arbeit am 19. Januar 1815 mit der Vorlage eines reichhaltigen Schlussberichts zu 23 territorialen Einheiten beendet hatte, wurde die in diesen Tagen anstehende Entschädigung Preußens auf eine rechnerische Grundlage gestellt. Es mag dahingestellt sein, ob es in der Logik ihrer Ziele nicht ein taktischer Fehler war, dass sich die preußische Delegation auf diese Verfahrensweise eingelassen hatte. Man möchte der somit vorbestimmten Zählung von Köpfen auf dem Wiener Kongress im historischen Urteil spontan entgegentreten. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass im Zuge dessen die Gleichheit aller Einwohner zur Voraussetzung des Verfahrens gemacht wurde. Hätte im Gegenteil eine Validierung nach Steuerfähigkeit oder Besitz gegriffen, hätte dies – wenn auch in der Praxis schwer vorstellbar – zu einer folgenreichen Exklusion von sozialen Gruppen oder regionaler Einheiten geführt. Nicht ohne Grund hatte schließlich der bayerische König vor dem Wiener Kongress seine exorbitanten Forderungen damit gerechtfertigt, dass die verlorenen linksrheinischen Gebiete im Zuge der Französischen Revolution aufgrund der Minderung der Feudalrechte und -einkünfte stark an Wert verloren hätten.132 Nach der Einigung der Großmächte widersprach denn auch der bayerische Gesandte Wrede dem ersten der von Metternich und Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774–1860) vorgeschlagenen Ausgleichspläne für Bayern mit dem Argument, Bayern werde mit Untertanen in Mediatherrschaften abgespeist, die weniger wert seien als direkte Untertanen.133

VI. Lösungen: Frühjahr 1815 Am 12. Januar 1815 begannen die Sitzungen der „Konferenz der Fünf Mächte“, zu denen erstmals auch Talleyrand für Frankreich zugelassen war134: Le véritable Congrès135, der teutsche Congreß136, so die preußischen Gesandten, nahm seinen Anfang. Bis Juni 1815 kam man zu 47 Sitzungen zusammen, in denen man über die territoriale Neuordnung 131 Erklärung der Kommissionsmitglieder Jordan und Hoffmann, Wien, 28.12.1814 (Druck bei Klüber, Acten, Bd. 5, S. 29–30). 132 Treichel, Entstehung, Bd. I/2, Nr. 68, hier. S. 451. 133 Vgl. mit archivischem Nachweis Sahrmann, Adam, Pfalz oder Salzburg? Geschichte des territorialen Ausgleichs zwischen Bayern und Österreich von 1813 bis 1819. Nach bayerischen Quellen (Historische Bibliothek, Bd. 47), München/Berlin 1921, S. 45 f. Die Aussage könnte sich auf die Erwerbungen Bayerns im fränkischen Raum beziehen, wo in dieser Phase Rechtsansprüche landsässiger Herrschaftsträger gegenüber den Untertanen die Mediatisierung ebenso wie den Wechsel der Landesherrschaft zugunsten Bayerns überdauert haben könnten. 134 Vgl. Stauber, Kongress, S. 94. 135 Vgl. Griewank, Karl, Der Wiener Kongreß und die europäische Restauration 1814/1815, Leipzig 1954, S. 153. 136 Hardenberg und Humboldt an Metternich, 4.2.1815 (Druck bei Klüber, Acten, Bd. 1, S. 132–134, Zit. S. 132).

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Europas verhandelte. Die „Entschädigung Preußens“ wurde auf den ersten drei Sitzungen der fünf Mächte am 12. und 28. Januar und am 8. Februar in den Vordergrund gestellt.137 Noch am Eröffnungstag legte Hardenberg einen Plan über die Wiederherstellung der preußischen Monarchie vor,138 Castlereagh kündigte einen Vertrag über die Vergrößerung Hollands an, die als solche unstrittig war.139 Die Zwischenzeit hatte er für intensive Gespräche genutzt. Am 5. Januar 1815 meldete er nach London, er habe Hardenberg klarzumachen versucht, dass die Platzierung eines schwachen Herrschers im Westen unweigerlich die Ambitionen der Bourbonen auf das Rheinland, außerdem auch die der Wettiner auf ihren sächsischen Stammbesitz anreizen würden140: To place a weak Prince, from a variety of causes likely to be dependent on France, in so advanced a position, occupying Luxembourg and the countries between the Meuse and the Moselle, was to expose all our defences on the left bank of that river to be turned […]. In der Tat grassierten zum Ende 1814 nicht unbegründete Gerüchte über eine erneute französisch-sächsische Allianz.141 Die Bemerkung, auch Prince Talleyrand habe die „Verpflanzung“ des Sachsen an den Rhein für ungut befunden, obwohl der Verzicht auf diese an sich gute Lösung den eigenen purposes of ambition zuwiderlief, der Ausdehnung seines eigenen, friedfertigen Landes aber die wünschenswerte Begrenzung auferlege, zeugt von der fast sprichwörtlichen Wendigkeit dieses Diplomaten. Sie wird den Verdruss Hardenbergs über die Einmischung Talleyrands gestärkt haben, zumal dieser dafür votierte, Festung und Fürstentum Luxemburg den Oraniern zur vollständigen Kontrolle zu überlassen. Hardenberg demonstrierte mit seinem Entschädigungsplan vom 12. Januar 1815 noch einmal die Maximalforderungen Preußens mit ganz Sachsen, Gebieten im Westen des Großherzogtums Warschau, Berg, Teilen Westfalens, der Hälfte Fuldas sowie Teilen Nordund Mitteldeutschlands (502.000 Einwohner). Von den linksrheinischen Gebieten sollte nur das Roerdepartement mit 729.000 Einwohnern anfallen.142 Am 28. Januar 1815 legte Metternich143 einen mit Castlereagh und Talleyrand abgesprochenen Gegenplan vor, der für Preußen linksrheinisch nun eine Million Einwohner und erweiterte rechtsrheinische Gebiete (darunter Nassau-Oranien) vorsah, vor allem aber Nordsachsen mit 780.000 Ein137 Vgl. Stauber, Kongress, S. 95. 138 „Plan pour la reconstruction de la Prusse“ vom 12.1.1815. Druck bei Angeberg, Congrès, Bd. 1, S. 602– 604; vgl. Stauber, Kongress, S. 90. Vgl. Metternich, Richard von (Hg.), Aus Metternich’s Nachgelassenen Papieren, 8 Bände, Wien 1880–1884, Tl. 1, Bd. 2, Wien 1880, S. 487–497 („Affaires territoriales de l’Allemagne“), hier S. 492–493. 139 Vgl. Weber, Grenzvermessung, S. 18. 140 Castlereagh an Liverpool, Wien. 5.1.1815 (Druck bei Webster, Diplomacy, Nr. XLX, Zit. S. 282). Am 8.1.1815 berichtete Castlereagh an Liverpool, er habe diese Haltung Großbritanniens auch dem russischen Gesandten Razumoffsky zu verstehen gegeben. 141 Vgl. Talleyrands Brief an König Ludwig XVIII. vom 24.11.1814 (Druck in: Broglie, Mémoires, S. 373–378, hier S. 377). 142 Druck bei Angeberg, Congrès, Bd. 1, S. 602–604; vgl. Stauber, Kongress, S. 95. 143 Druck bei Angeberg, Congrès, Bd. 1, S. 677–684 („Note“ Metternichs mit Anhängen).

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wohnern. Der Verlegung des Sachsenkönigs an den Rhein, wo er entièrement subordonné à l’influence de l’étranger (also Frankreichs!) wäre, widersprach Metternich entschieden. Dafür brachte er erstmals die Erweiterung Preußens über die Mosel hinweg ins Spiel, die Preußen weitere 150.000 Einwohner und insgesamt 1.044.156 Untertanen verschafft hätte.144 Die Voraussetzung für diese Regelung war freilich ein Entgegenkommen Preußens hinsichtlich des Anspruchs auf Sachsen, den man gegen Ende Januar unter der Voraussetzung geeigneter Kompensationen im Linksrheinischen offenbar verworfen hatte.145 Den Vorstellungen Metternichs hielt Hardenberg in der dritten Sitzung der FünfMächte-­Konferenz am 8. Februar 1815 ein modifiziertes „Anspruchspapier“ entgegen, in dem die preußische Delegation tatsächlich erstmals, wenn auch für ­Castlereagh nicht mehr unerwartet,146 den Anspruch auf das gesamte Sachsen aufgab und ‚nur‘ noch eine Gebietsmasse mit 855.000 Sachsen forderte. Dieser Vorschlag fand die Unterstützung Metternichs und des Kaisers.147 Die in der Folge anstehenden Detailprobleme sind im rheinischen Kontext nicht aus den Augen zu verlieren, weil sie sich als Regulatoren von Kompensationsforderungen Preußens auswirkten148: So erhielt der preußische König im Radius der nordsächsischen Landmasse die Festung Torgau, während Leipzig, où la liberté de I’Europe a été conquise, so Hardenberg149, sächsisch blieb, was für den preußischen König angesichts des von ihm beanspruchten Schlachtensiegs einen Prestigeverlust bedeutete. Dennoch waren am 28. Februar bereits die Voraussetzungen für die Bemessung des preußischen Herrschaftsgebiets gelegt, wie sie in Artikel 25 der Wiener Kongressakte genau vorgenommen werden sollte. Anfang des Monats hatten die fünf Mächte eine Redaktionskommission eingerichtet, die mit der Verschriftlichung der Gebietsregelungen beauftragt wurde.150 Somit wurde das weitere Geschäft im Wesentlichen auf technisch-redaktionelle Fragen beschränkt: Am 10. Februar 1815 legte die Redaktionskommission im Entwurf 29 Vertragsartikel vor, die von der Fünf-Mächte-Konferenz in vier weiteren Sitzungen vom 10. bis 13. Februar 1815 gebilligt wurden.151 Zwei Tage später wurde Castlereagh aus Wien abberufen.152 144 Du département de la Sarre, en tirant une ligne au Sud de Trèves depuis Conz par Hermerkeil [!], Grumbach et Meisenheim (Angeberg, Congrès, Bd. 1, S. 679 bzw. 681–82). 145 Vgl. die Meldung eines N.N. an Baron Hager, Leiter der Polizeihofstelle Wien, Wien, 29.1.1815 (Weil, Dessous, Bd. 2, Nr. 1431). 146 Bericht Castlereaghs an Liverpool vom 29.1.1815 über eine mit Hardenberg geführte Unterredung (Druck bei Müller, Quellen, S. 291). 147 Protokoll der Sitzung 8.2.1815 bei Angeberg, Congrès, Bd. 1, S. 706–707. 148 Vgl. dazu etwa Steins Kongresstagebuch, Botzenhart/Hubatsch, Stein, Bd. 5, S. 359. Vgl. Stauber, Kongress, S. 96–97; Engehausen, Länderschacher, S. 58. 149 Memorandum Hardenbergs bei Angeberg, Congrès, Bd. 1, S. 708–712, Zit. S. 711. 150 Stauber, Kongress, S. 129. Mitglieder waren Clancarty und Münster für Großbritannien, Humboldt und Jordan für Preußen, Kapodistrias für Russland, Besnardière für Frankreich und Hudelist und Wacken für Österreich. 151 Vgl. Stauber, Kongress, S. 129, mit Angabe der Quellen. 152 Ebd., S. 97.

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VII. Vertagte Lösungen Auch für den westdeutschen Großraum gilt: Vieles konnte, manches sollte aber auch auf dem Kongress nicht geklärt werden. Eher technisch-redaktionellen Charakters waren die Regelungen zwischen Preußen und den Niederlanden, die sich völlig unproblematisch gestalteten. Die grundsätzlichen Vorgaben hatte schon die Kongressakte selbst mit neun Artikeln vorgenommen.153 Acht dieser Artikel entstammten einem in Wien am 31. Mai 1815154 geschlossenen Vertrag zwischen Preußen und dem Haus Oranien, den Hardenberg für Preußen und die niederländischen Bevollmächtigen Gerrit Karel Spaen van Voorstonden (1756–1841) und Gagern unterzeichneten. Die exakte örtliche Festlegung wurde laut Wiener Vertrag einer gemischten Grenzkommission anvertraut, die für Preußen von Johann August Sack in seiner Funktion als Generalgouverneur geleitet wurde. Der schon früh auf dem Wiener Kongress von Hardenberg den Niederlanden angebotene Grenzstreifen rechts der Maas (eine halbe teutsche Meile oder 1000 rheinländische Ruthen von dem Strombette der Maas entfernt) wurde bestätigt.155 Der weitere Verlauf der preußisch-niederländischen Grenze am „einzigen Abschnitt der deutschen Westgrenze […], an dem der heutige Grenzverlauf in substanzieller Weise von den in der Wiener Kongressakte vom 9. Juni 1815 getroffenen territorialen Festsetzungen abweicht“ (Khan), war nach dem Wiener Kongress fast völlig unstrittig und wurde bereits Mitte 1816 definiert, wobei die neu gebildeten Kreisgebiete Eupen und Malmedy an Preußen fielen.156 Auch der weitere Grenzverlauf im Westen gegenüber dem Großherzogtum Luxemburg war Teil der preußisch-niederländischen Verhandlungen. Hier wurde die Grenze über 128 Kilometer durch die Flüsse Our (mit Ausnahme nur des luxemburgischen Traditionsorts Vianden) und Saur bis nach Oberbillig und von dort moselaufwärts bis Perl geführt. Das vormalige, deutschsprachige Arrondissement Bitburg im ehemaligen französischen Wälderdepartement wurde mit der Westeifel somit preußisch. Das Flusssystem wurde seitdem als gemeinschaftlich preußisch- beziehungsweise deutsch-luxemburgisches Hoheitsgebiet ausgewiesen.157 Die Finalisierung der deutsch-niederländischen Grenze vollzog sich über mehrere Verträge 153 Wiener Kongressakte, Art. 65–73 (CTS 64, S. 477–484). 154 Druck des Wiener Vertrags vom 31.5.1815 in CTS 64, S. 388–394; vgl. Khan, Staatsgrenzen, S. 474; Weber, Grenzvermessung, S. 16–17 (Auszüge). Eine „Convention“ vom 28.5.1815 zwischen Preußen auf der einen Seite und Österreich und Bayern auf der anderen hatte kurz zuvor die avisierte rechtliche Übertragung der Gebiete rechts der Mosel an Preußen vorbereitet und regelte den Grenzverlauf im Osten – gegenüber einem Nachbarn, der noch nicht genau feststand. 155 So im Besitzergreifungspatent für den Norden der späteren Rheinprovinz vom 5.4.1815 (Klüber, Acten, Bd. 7, S. 286–288, hier Pkt. 2, S. 288). 156 Vgl. Khan, Staatsgrenzen, S. 439–442, Zit. S. 439. Nach Khan blieb in den Grenzkommissionen allein die Zugehörigkeit des Montanbezirks Moresnet im Kanton Aubel strittig, dessen geografisch mittlerer Teil bis zum Ende des Ersten Weltkriegs daher neutralisiert wurde. 157 Vgl. ebd., S. 474–479.

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und Protokolle bis zum Jahr 1824. Sie wurde auch später, selbst durch die im Kontext der Belgischen Revolution politisierte „Limburg-Frage“, kaum verändert.158 Im Südwesten veränderte sich die Grenze gegenüber Frankreich im Vergleich mit den Bestimmungen des Ersten Pariser Friedens noch einmal substanziell, indem das Saartal mit Saarbrücken und Saarlouis – zuvor im Wesentlichen das „Arrondissement de la Sarre“ – an Preußen gingen.159 Vom deutschen Perl bis zum französischen Sarreguemines wurden Preußen und Frankreich, was sie zuvor nicht gewesen waren: unmittelbare Nachbarn, in einem Gebiet ohne natürliche Grenzen, da die Saar unterhalb von Saarbrücken ebenso wenig wie heute die Grenze bildete.160 Im Südosten schließlich wurden die preußischen Grenzen gegenüber dem Fürstentum Birkenfeld wie vorgesehen durch die Flüsse Glan und Nahe bis zur Mündung in den Rhein bei Bingen gebildet. Von ungleich größerem Gewicht war die bayerische „Satisfaktion“, die weder Gegenstand der Wiener Kongressakte noch des Zweiten Pariser Friedensvertrags gewesen war. Der einzige territoriale Zugewinn Bayerns in der Kongressakte selbst betraf die unterfränkischen Hochstifte Aschaffenburg und Würzburg (Artikel 44). Alle weiteren Interessen Bayerns wurden einem späteren Gebietsausgleich mit Österreich anheimgestellt und folglich der Kongressöffentlichkeit entzogen. Dies empfand König Maximilian als eine ausgesprochene Desavouierung, die stark zum Vertrauensverlust gegenüber Metternich beitrug.161 Die weitgehende Isolation Bayerns war aber auch eine Folge der ausgesprochenen Verbitterung der preußischen Kongressgesandten über die Haltung Bayerns.162 Die Konsequenz war, dass Bayerns General Wrede in Wien hatte mit ansehen müssen, dass gemachte Zusagen sogar zurückgezogen wurden, insbesondere die von Wessenberg für Österreich und Nesselrode für Russland erwirkte, dann aber nicht ratifizierte Konvention vom 23. April 1815163, gegen die sich die konkurrierenden Regionalmächte Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt gestemmt hatten. Da sich Österreich in der Kongressakte die Verfügungsmacht über alle restlichen linksrheinischen Gebiete hatte reservieren lassen (Artikel 51), ohne daran ein eigenes Interesse zu knüpfen, konnte Metternich relativ frei disponieren. Die wichtigste 158 Vgl. ebd., S. 406–440, 439–440 (Limburg). 159 Vgl. Weber, Grenzvermessung, S. 16; Stauber, Kongress, S. 101. 160 Vgl. Schlesier, Stephanie, Vereinendes und Trennendes. Grenzen und ihre Wahrnehmung in Lothringen und preußischer Rheinprovinz, 1815–1914, in: François, Etienne/Seifarth, Jörg/Struck, Bernhard (Hgg.), Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York, 2007, S. 135–161, S. 137. 161 Vgl. Winter, Wrede, S. 222–223. 162 So resümierte Stein seine klar ablehnende Haltung zum bayerischen Entschädigungsplan auf dem Wiener Kongress am 5.3.1815: Es leuchtet ein, daß die Vergrößerung Bayerns und seine Versorgung am Rhein der Erhaltung der Kraft und Unabhängigkeit Deutschlands schadet (Druck bei Pertz, Stein, S. 347–350, Zit. S. 349). 163 Vgl. die Dokumentation bei Angeberg, Congrès, Bd. 2, S. 1099–1109. Tendenziöse Darstellung bei Sahrmann, Pfalz, S. 50–51.

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Frage war die „Mainz-Frage“, deren Lösung Österreich und Preußen aber schon vorgezeichnet hatten, indem sie Hessen-Darmstadt in Wien die Aussicht auf un territoire sur la rive gauche du Rhin mit 140.000 Einwohnern gegeben hatten (Artikel 47). Unter Umgehung der bayerischen Ansprüche auf Mainz interpretierte Metternich diese Bestimmung dahingehend, dass Stadt, Festung und Umland von Mainz („Rheinhessen“) an Hessen-Darmstadt fielen.164 Ebenso eigenmächtig verfuhr Metternich mit den Prätendenten der Häuser Oldenburg, Sachsen-Coburg und Hessen-Homburg, für die, wie bereits erwähnt, die Artikel 49–50 im ehemaligen französischen Saardepartement ebenfalls Gebietsreservierungen vorgesehen hatten (einen District mit 69.000 Seelen). Der Prominenteste der hierbei Enttäuschten war (Groß-)Herzog Peter Friedrich Ludwig (1755–1829), der sich aufgrund seiner Widersetzlichkeit gegenüber Napoleon und seiner verwandtschaftlichen Beziehungen nach Russland auf die Erfüllung großoldenburgischer Visionen Hoffnung machte, um nun mit einem Stück Hoch- und Idarwald abgefertigt zu werden.165 Der Gebietsausgleich zwischen Österreich und Bayern, der freilich weit über den rheinisch-pfälzischen Horizont hinausreichte, wurde im Münchner Vertrag vom 14. April 1816 fixiert:166 Für die an Österreich abgetretenen Gebiete (Hausruck- und Innviertel, größte Teile von Salzburg und verbliebene Teile von Tirol) erhielt Bayern einen ca. 6.000 Quadratkilometer umfassenden Gebietskomplex in der linksrheinischen Pfalz.167 Dieser wiederum wurde etwa zur Hälfte durch das Territorium des Kurstaats und Pfalz-Zweibrückens gefüllt, daneben mit einer Vielzahl von kleineren bis kleinsten mediatisierten und säkularisierten Gebieten. Nicht dazu gehörte neben der schon 1803 an Baden gefallenen rechtsrheinischen Pfalz das Herzogtum Pfalz-Simmern im künftigen preußischen Landkreis Simmern. Diese für Bayern enttäuschende Regelung veranlasste einen Kommentator in offenkundig probayerischer Absicht 1921, in einem doppelten Sinne der Schulbuchmeinung zu widersprechen, der Wiener Kongress habe

164 Detailregelungen erfolgten per Staatsvertrag vom 30.6.1816 zwischen Preußen, Österreich und Hessen in Frankfurt. Die Festung wurde unter Bundesverwaltung gestellt, wozu es aber erst 1825 kam. Vgl. Engehausen, Länderschacher, S. 66–68. 165 Vgl. Lampe, Klaus, Oldenburg und Preußen 1815–1871 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen, Bremen und die Ehemaligen Länder Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe, Bd. XXV, H. 11), Hildesheim 1972, S. 25–36. 166 Druck u. a. bei Kletke, Staatsverträge, S. 310–324. Vgl. Mattheis, Martin, Die Entstehung der Pfalz als Entschädigung für Bayern auf dem linken Rheinufer, in: Pfälzer Heimat 38, H. 4 (1997), S. 97–110, hier S. 105. 167 Detailliertere Angaben bei Volz, Günther, Der bayerische Reichskreis um 1830, in: Pfalzatlas, Textband, III, Speyer 1988, S. 1679–1693, hier S. 1680 u. Weiß, Eberhard, Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799–1825), in: Schmidt, Alois (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 4: Das neue Bayern. Von 1800 bis zur Gegenwart, Teil 1: Staat und Politik, 2. Aufl., München 2003, S. 3–126, hier S. 95–101.

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Bayern in den Besitz der Pfalz gebracht.168 Letzte Modifikationen erfolgten im „Frankfurter Territorialrezess“ 1819.169 Auch dieser brachte Bayern keine Contiguität: Die Pfalz blieb somit eine Insel Bayerns, formaliter bis 1946.

VIII. Bilanz Der zentrale Gegenstand dieses Beitrags, die Übertragung des Rheinlandes auf Preußen auf dem Wiener Kongress, unterlag einer wechselhaften historiografischen Konjunktur: Seitdem die Geschichtsschreibung das Verhältnis von Region beziehungsweise „Land“ und Nation ins Auge fasste, stand die herausragende Bedeutung der preußischen Herrschaft ganz außer Frage. Die schon von Franz Petri bemühte Kategorie „Weltgeschichte“ klingt auch in größeren Werken wie Thomas Nipperdeys „Deutscher Geschichte“ von 1983 an, der in der „Versetzung“ Preußens ins Rheinland „eine der fundamentalen Tatsachen der deutschen Geschichte, eine der Grundlagen der Reichsgründung von 1866/1871“ sah.170 Interessiert man sich dagegen für die konkreten Umstände, unter denen jene „Versetzung“ Preußens in den Westen vonstattengegangen war, dann ergibt sich der Eindruck, dass der Vorgang weit aus dem Horizont der Landesgeschichte heraustrat – und gewissermaßen verloren ging. Das Desinteresse der landesgeschichtlichen Forschung an „1815“ dürfte sich vor allem dadurch erklären, dass die Aussagen der preußischen Kongressdiplomaten zur verhandelten Region von einer fast schon schmerzlichen Dürftigkeit zeugten: Keine der federführenden Parteien hatte ein substanziell zu nennendes, differenziertes Interesse an der Zukunft der ab 1792 unter französische Herrschaft gelangten Gebiete links des Rheins. Von der Aussage sind Abstriche zu machen hinsichtlich neuralgischer Einzelpunkte wie vor allem der Festungen Mainz und Luxemburg und gewiss auch hinsichtlich der strategischen Bedeutung der Großregion im Ganzen. Keine Abstriche zu machen sind hingegen hinsichtlich der Haltung zu den Menschen in der Region und ihrer wie auch immer zu gestaltenden staatlichen beziehungsweise herrschaftlichen und gesellschaftlichen Zukunft. In Wien wurde die Region gewissermaßen aus der Vogelperspektive betrachtet und als Eroberungs- und Dispositionsmasse erachtet. Maßgebliche Kriterien bei der Bewertung oder Taxierung der Region waren Lage, Bevölkerungszahl und militärische Ressourcen. Neue Erwerbungen, so Generalgouverneur Sack an Generalleutnant August Neidhardt von Gneisenau im April 1814, setzten voraus, daß das Land Saft und 168 Vgl. Sahrmann, Pfalz, S. 52–53, Anm. 1. Ebd. auch das Urteil über die negative Haltung Österreichs bzw. Metternichs gegenüber Bayern: „[…] Gegen Ende des Kongresses verließ das Wiener Kabinett die zarte Rücksichtnahme gegen Bayern und betrat den dunklen Weg der Ränke und Geheimnistuerei um nur seine Ziele, die Gewinnung seiner deutschen Provinzen, restlos zu befriedigen […].“ 169 Vgl. Mattheis, Entstehung, S. 106–107. 170 Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 91.

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Kraft habe und mit Sicherheit gegen die charakterlosen und unruhigen Nachbarn aushalten kann.171 Weil keiner der beteiligten Instanzen das Rheinland als eine spezifische räumliche Bezugsgröße vor Augen stand, gab es auch keine „Rheinlandfrage“, etwa analog zur „Sachsenfrage“ – ebenso wenig wie es eine „Pfalz-“ oder übrigens eine „Westfalenfrage“ gegeben hat. Die Territorialregelungen zum Rheinland bildeten vor, auf wie nach den Kongressverhandlungen einen Nebenschauplatz und als solche stets einen Randaspekt bei der Konfigurierung des Königreichs der Niederlande. In diesem Bezugsrahmen firmierte le Rhin als Chiffre all jener Regelungen über den Raum vom Ärmelkanal bis zum Fluss selbst. Der vrai boulevard de l’Allemagne, an dessen Flanken sich einst das Herz des Alten Reiches befunden haben mag, war zu einer Art Heerstraße geworden. Mit Blick auf das 1815 neu verteilte Gebiet ist deswegen am besten schlichtweg von „linksrheinischen Gebieten“ zu sprechen. Es ist wohl nicht auszuschließen, sondern vielmehr vorauszusetzen, dass mit so beiläufigen Etikettierungen eines kulturell und gesellschaftlich hoch differenzierten Großraums bei den handelnden Diplomaten auch ein Verlust an Kenntnis und Empathie einherging. Diese Aussage trifft auch und in erstaunlichem Maße auf die preußische Sicht auf das Rheinland zu. Selbst unter den nach Oktober 1813 gewandelten Voraussetzungen sind keiner maßgeblichen Persönlichkeit echte Interessen am Rheinland zuzuschreiben, wobei sich stark der Eindruck aufdrängt, als sei die historische Verbindung mit den seit 1609 erworbenen preußischen Besitzungen auch mental abgerissen gewesen. Neue Grenzen entsprachen bevorzugt vormaligen französischen Verwaltungseinheiten oder richteten sich nach dem Verlauf von Flüssen, nicht aber nach Traditionsgrenzen von vor 1794. Die von Seiten Großbritanniens vor Kongressbeginn Preußen zugewiesene Rolle eines antifranzösischen Bollwerks gründete auf der festen Überzeugung, Frankreich werde unter jeder Regierungsform nach dem Rheinland ausgreifen, wenn die Umstände dies nur erlaubten.172 Preußen hat diese Rolle in Wien desto eher angenommen, je dürftiger seine Aussichten auf den Erwerb ganz Sachsens waren. Das Interesse an den rheinischen Besitzungen aber war gering bis inexistent – sicher auch, weil es dort größtenteils keine preußische Staatstradition gab und weil man die Schwierigkeit voraussah, erneut Fernbesitz effektiv verwalten zu müssen. Zudem wurde die Bevölkerung gemeinhin als avers gegenüber Preußen empfunden. So diagnostizierte Ernst Friedrich Herbert Graf zu Münster (1766–1839), seit 1805 leitender hannoverscher Minister am englischen Hof, zu einem Zeitpunkt, da die territorialen Regelungen noch nicht abgeschlossen, aber doch in Sichtweite waren, die Bewohner des linken Rheinufers und „sogar“ Süddeutschlands seien zur révolte bereit: Anstelle von Freiheit als Siegeslohn erführen sie unter den pro-

171 Sack an Gneisenau 25.4.1814 (Druck bei Steffens, Briefwechsel, Nr. 32). 172 French Government, will infallibly revive, whenever circumstandes favour its execution, so Castlereagh an Wellington, 1.10.1814 (Castlereagh, Correspondence 10, S. 142–145, Zit. S. 145).

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visorischen Gebietsverwaltungen nun nämlich eine nie dagewesene Unterdrückung.173 Und kurz nachdem die Entscheidung für das Rheinland gefallen war, wurde dem Wiener Polizeiminister Hager zugetragen, die Preußen wüssten sehr wohl, dass sie von den Rheinländern nicht geliebt würden, denn die Bevölkerung sei dénationalisée und fürchte die preußische Steuer- und Konskriptionspolitik.174 Unter diesen Voraussetzungen musste es für Preußen künftig darum gehen, durch positive Integrationsleistungen die Voraussetzungen dafür zu schaffen, das Rheinland auf seine Seite zu ziehen und durch die Stabilisierung der Region entscheidend zur Sicherheit in Europa beizutragen. Das Kernproblem wurde hingegen gesehen in der militärischen Herausforderung der Verteidigung der neuen Westgrenze – und als uneigennütziger Verdienst um die Verteidigung Deutschlands hingestellt. Dabei sei nochmals unterstrichen, dass die Gebietserweiterung Preußens auf dem Kongress bereits vor der Landung Napoleons bei Cannes am 1. März 1815 entschieden gewesen war. Die wenige Tage zuvor von Metternich ins Spiel gebrachte Erweiterung Preußens über die Mosel hinaus war hierbei nicht mehr als ein Summand in der Verrechnung mit dem preußischen Anteil an Sachsen. Die Schaffung einer gemeinsamen Grenze mit Frankreich bei der Saar dagegen erfolgte gegen den lange gehegten Wunsch der preußischen Staatsmänner erst nach der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni 1815. Die herausragende geostrategische Bedeutung des „Rheinlandes“, wie sie von allen erklärten Gegnern Frankreichs auf dem Wiener Kongress vertreten wurde, erwies sich durch den Ort der Schlacht, der irgendwo im südlichen Beneluxraum zwischen dem Rhein und der Kanalküste erwartet worden war, demnach als eine self-fulfilling prophecy.175 Unter den geschilderten Voraussetzungen wäre es zu verstehen und nicht weiter zu monieren, dass die Forschungsliteratur die Übertragung des Rheinlandes an Preußen bislang eher als Fait accompli denn als Ergebnis eines Prozesses gesehen hatte, den zu verfolgen Sinn ergeben würde. Allerdings berechtigt allein die immer wieder repetierte negative Konnotierung des „Seelen-“176 oder „Länderschachers“177 auf dem Wiener Kongress nicht oder noch nicht hinlänglich zu der Kritik, Opportunismus und Ignoranz hätten insbesondere die preußischen Gesandten geleitet. Ein wie auch immer geartetes Bekenntnis 173 Bericht Graf Münsters an den Prinzregenten, Wien, 27.11.1814. Die Aussage wörtlich: J’ajoutai que les habitants de la rive gauche du Rhin et ceux même du sud de l’Allemagne étaient prêts a la révolte parce qu’au lieu d’avoir recueilli le fruit de la victoire et de la paix ils étaient ou [!] plus opprimés que par le passé […] (Druck bei Webster, Policy, Bd. 1, Appendix D, S. 551–555, Zit. S. 553, in dt. Übersetzung bei Müller, Quellen, Nr. 44). Vgl. zu Graf Münster Aschoff, Hans-Georg, Der Wiener Kongress und die norddeutschen Staaten, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 71 (1999), S. 111–128, hier S. 115–117. 174 N.N. an Baron Hager, Wien, 15.2.1815 (Weil, Dessous, Bd. 2, Nr. 1622). 175 Notiz von Grote an Münster aus Paris, 10.3.1815 (Weil, Dessous, Bd. 2, Nr. 1961). 176 Maty, Helmut, Die gewisse Beständigkeit beim territorialen „Seelenschacher“. Neue Ordnung auf dem Wiener Kongreß, in: Lau, Dieter/Heyen, Franz-Josef (Hgg.), Vorzeichen. Geschichte in Rheinland-Pfalz, Band II, Mainz 1988, S. 135–156. 177 Vgl. den Beitrag von Engehausen, Länderschacher.

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der begünstigten Mächte zu den ihnen zuerkannten Regionen ist kein geeigneter Maßstab der historischen Bewertung. So bedarf es einer Versachlichung, Präzisierung und auch Differenzierung der Meinungen, die man bislang über den „Länderschacher“ auf dem Kongress vertreten hat.178 Hierbei müssen zwingend die Voraussetzungen der Wiener Kongressdiplomatie geklärt und gewichtet werden: Erstens nämlich gab es für diese größte territoriale Revolution nach Säkularisation, Reichsdeputationshauptschluss und Mediatisierung, Rheinbund und Reichsauflösung keinen Handlungsmaßstab. Zweitens erfolgten die Voten und Entscheidungen in Wien unter großem zeitlichen Druck und auf begrenzter Informationsgrundlage, drittens im Angesicht schwerster Verwerfungen der beteiligten Mächte und viertens vor dem Hintergrund der Rückkehr Napoleon Bonapartes. Dass die handelnden Personen in dieser Situation von Pragmatismus geleitet waren, schließt nicht aus, dass sich individuelle Sozialisationen und Prägungen bei den Verhandlungen niederschlugen. In diese gewinnen wir allerdings auf Grundlage der dispersen, niemals auch quellenkundlich erfassten und problematisierten Überlieferungen einen nur sehr entlegenen Einblick. Hierzu zählen auch historische Erfahrungen, insofern sie sich im Sinne von Stereotypenbildung meinungsbildend niederschlugen. Der Freiherr vom Stein, der 1809 von Napoleon geächetet worden war und auf dem Wiener Kongress seine letzte staatspolitische Mission erfüllte, ist hierfür nur das prominenteste Beispiel.179 Die Kaltherzigkeit der federführenden Diplomaten im Umgang mit dieser Region und anderen sollte schließlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Abkühlung des glimmenden Konfliktherdes „Rheinland“ eine Errungenschaft des Kongresses war. Sie dürfte aber weniger dem hohen staatspolitischen Kalkül als vielmehr einem von Statusempfinden induzierten und damit irrationalen Moment geschuldet sein. Denn am Ende meinte jeder der Verhandlungsführer, seinem Staat – und nicht zuletzt sich selbst – die Einigung über den Rhein und damit den Erfolg des Wiener Kongresses zuschreiben zu dürfen: Österreich innerhalb, Großbritannien außerhalb des Kontinents jeweils in der Rolle angeblich unbeteiligter Lenker, ebenso das territorial zwar stark begünstigte Preußen, das seine Landnahme am Rhein nun aber als höhere Rücksicht auf das gesammte deutsche Vaterland verstanden wissen wollte.180 Als Gewinner meinte sich selbst der Kriegsverlierer Frankreich sehen zu können, dessen abandon patriotique auf das Rheinland – so Talleyrand – den Frieden in Europa überhaupt erst ermöglicht habe.181

178 Vgl. Laux, Stephan, „Errors of statesmanship“ en 1815? Le Congrès de Vienne et les régions allemandes, in: Austriaca 84 (2017), S. 157–176. 179 Vgl. etwa Fenske, Hans, Freiherr vom Stein und Frankreich, in: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 20 (2013), S. 11–25, hier S. 17. 180 Öffentliche Adresse König Friedrich Wilhelms III. an die Einwohner der mit der preußischen Monarchie vereinigten Rheinländer am Tag der formellen Besitzergreifung der rheinischen Provinzen aus Wien am 5.4.1815 (Gesetz-Sammlung für die königlich Preußischen Staaten, Nr. 4, S. 25–27). 181 Bericht Talleyrands, Juni 1815, u. a. in: Pallain, Correspondance, Nr. C, S. 436–484, Zit. S. 442.

Der Rhein fließt in meinen Adern

Metternich, das Rheinland und der Wiener Kongress Wolfram Siemann

I. Die rheinischen Wurzeln Als sich Clemens Lothar Wenzel von Metternich (1773–1859) und Napoleon Bonaparte (1769–1821) in ihrem berühmten Disput im Juni 1813 in Dresden gegenüberstanden, schwang jenseits der ausgetauschten Worte auf einer höheren Ebene unausgesprochen das Bewusstsein mit, dass hier auf der einen Seite ein Aufsteiger stand – ein Parvenu1 (wie Napoleon selbst von sich und Metternich über diesen sagte). Er hatte einen traditionsreichen Würdenträger der Aristokratie zum Gegenüber, obwohl der eine sich Empereur, der andere nur Staatsminister nannte. Es war genauso wie im Juni 1807, als Napoleon es für nötig hielt, die Ebenbürtigkeit gegenüber seinem Bruder Zar Alexander I. (1777– 1825) mit einem Treffen auf einem Pontonboot in der Mitte der Memel (des Njemen) zu bekunden. Deshalb lohnt es die Mühe, sich auf diese andere altadlige und zugleich alteuropäische Denk-und Lebenswelt einzulassen. Der erste Satz meiner Metternich-Biografie nach der Einleitung lautet: „Warum gerade die Metternichs?“2 Hunderte von Adelsgeschlechtern sind ausgestorben, die Metternichs hielten durch bis zum Tode der Fürstin Tatjana (1915–2006), 14 Jahre nach dem Ableben des letzten leiblichen Nachfahren und Urenkels des Staatskanzlers – ihres Gemahls Paul Alfons von Metternich-Winneburg (1917–1992). Aus dem Abstand der Zeiten heben sich drei tragende Fundamente des Jahrhunderte überdauernden Metternich’schen Erfolges ab; drei Worte bezeichnen sie: Kaiser – Kirche – Familienstärke. Der Hinweis auf den Kaiser besagt: Anlehnung an die kaiserliche Macht, welche im Rheinland ihren Anker im Reich hatte, namentlich durch die Kurfürstentümer Mainz, Trier und Köln. Mainz stellte ja den Reichserzkanzler. Weitverzweigt und ausdauernd stand diese Familie auf der Seite des Kaisers: bei fünf Kaiserwahlen allein in einem Jahrhundert, dann auf Reichstagen, in Kurfürstenkollegien; sie dienten dem Kaiser in heiklen diplomatischen Angelegenheiten und Verhandlungen und nicht zuletzt als Offiziere und

1 Metternich, Richard von (Hg.), Aus Metternich’s Nachgelassenen Papieren, 8 Bände, Wien 1880–1884, Band 1, S. 276; vgl. zum Disput Siemann, Wolfram, Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, 2., durchges. Aufl., München 2017, S. 403–414; der folgende Beitrag stützt sich ganz maßgeblich auf diese Biografie. 2 Siemann, Metternich (2017), S. 31.

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Generäle unter Tilly im Dreißigjährigen Krieg gegen die widersetzlichen Protestanten, die aufrührerischen böhmischen Stände und die feindlichen Türken. Kirche bedeutet: Einbettung in das karrierefördernde Netzwerk der katholischen Reichskirche. Und hier in diesem rheinischen heiligen Dreieck des Reiches – Mainz, Trier und Köln – war sie besonders einflussreich, verstärkt durch ihre Domkapitel und Hochstifte. Die Metternichs stellten drei Erzbischöfe. Kein anderes Geschlecht mit Ausnahme der Schönborns schaffte das. Seit 1648 zählt man 137 Metternichs als Domherren.3 Familienstärke schließlich heißt: regelmäßig viele Nachkommen erzeugen, immer dabei einen Stammhalter. Erst Paul Alfons hatte das nach knapp sieben Jahrhunderten nicht mehr geschafft. Familienstärke heißt neben kontinuierlicher Fruchtbarkeit auch dauerhafte zielgerichtete Energie, um den familiären Besitz zu wahren und zu steigern. Ein kurzer Blick lohnt zu schauen, von wo und wie weit unten die Metternichs herkamen, um den nachfolgenden Aufstieg richtig würdigen zu können und zu verstehen, aus welchem Traditionsbewusstsein der spätere Staatskanzler zur urteilen vermochte. Dieser Aufstieg durch 14 Generationen spielte sich im Rheinland ab, seit 1630 zusätzlich mit herrschaftlichem Rückhalt im böhmischen Königswart. Man stelle sich einmal die adelige Rangordnung als ein Palais mit fünf Stockwerken vor:4 Im Parterre residierte der Brief-, Hof- und Dienstadel ohne alle weiteren Würden; das waren im Mittelalter zunächst die Ministerialen und einfachen Ritter. Die ältesten Spuren des Geschlechts sind in der Tat im Parterre angesiedelt, wo man Angehörige des Geschlechts als rechtsprechende Vögte im Dienste der Merowinger oder der karolingischen Pippine vermutet, auf dem Gebiet der alten Colonia Agrippina und Trevirensis (Köln und Trier). Seit dem Jahre 1166 jedenfalls traten dann Kämmerer der kölnischen Kirche in das Licht der urkundlich bezeugten Geschichte – als Angehörige eines dienstadligen Geschlechts derer von Hemberg in Hemmerich bei Bonn; sie führten drei schwarze Jakobsmuscheln im Wappen. In die erste Etage hatten es diejenigen gebracht, die sich Herren nennen durften, in Fehden einen Stammsitz – eine Burg – erkämpft hatten oder für ihre Dienste damit belohnt worden waren und von dort ihre Herrschaft über „Land und Leute“ ausübten, denn adelige Qualität und Herrschaft ließen sich dauerhaft nur durch Landbesitz begründen.5 Ein Zweig von ihnen mit Sibido von Metternich im 14. Jahrhundert als Familienoberhaupt errichtete am Fuße der Burg Hemmerich im Orte „Metternich“ eine 3 Vgl. Fuchs, Peter, Metternich, in: Neue Deutsche Biographie Band 17 (1994), S. 232–235. 4 Vgl. zum Folgenden Siemann, Metternich (2017), S. 32 f. Es versteht sich, dass in der mittelalterlichen Frühzeit des 11. bis 14. Jahrhunderts die Übergänge fließender waren und sich erst im frühneuzeitlichen Reich die hier vorausgesetzten Strukturen fester etabliert hatten, vgl. z. B. Paravicini, Werner, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 32), München 1994. 5 Vgl. zu dieser kultur- und sozialgeschichtlichen Qualifizierung des Adels ursprünglich Riehl, Wilhelm Heinrich, Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik, 4 Bände, Stuttgart 1851–1859, Band 1: Land und Leute.

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Stammbaum der Metternichs von den Anfängen bis zu Clemens von Metternich 1. Sibido (Sybgin) von Metternich, Herr zu Metternich (mit den drei Muscheln im Wappen) (ca. 1325–ca. 1382) ∞ Frau von Dünstekoven | 2. Johann I., Herr zu Metternich (1340–1449) ∞ 1375 Anna von Binsfeld | 3. Johann II., Herr zu Sommersberg († nach 1465) / Otto II., Herr zu Metternich (Linie Niederberg) ∞ 1424 Agnes Rumschöttel v. FritzdorffzuS ommersberg (* 1405) | 4. Karl II., Herr zu Sommersberg und Zievel (1425–1496) / Ludwig (Linie Brohl) ∞ 1456 Sybilla (Belgine) Beisselin von Gymnich (* 1430) | 5. Edmund, Herr zu Vettelhoven und Sommersberg (1475–1540) / Dieter zu Zievel (Erbteilung 1516, Linie Zievel-Burscheid) ∞ 1495 Amalia Kolff von Vettelhoven | 6. Johann, Herr zu Vettelhoven, Amtmann zu Sinzig (1500–1575) / Dietrich (Linie Sommersberg/Chursdorf ) ∞ 1547 Katharina von der Leyen (1528–1567) | 7. Lothar (Erzbischof von Trier: 1599–1623) / Johann Dietrich, Herr zu Sinzingen (1553–1625) / Bernhard zu Vettelhoven ∞ 1579 Anna Frey von Dehren (* 1560) | 8. Wilhelm (ab 1635 Freiherr) von Metternich-Winneburg und Beilstein (1590–1655) / Brüder: Lothar († 1663), Carl († 1636), Emmerich († 1653), Johann Reinhard († 1638) ∞ 1619 Anna Elenora Broemserin von Rüdesheim (1600–1660) | 9. Karl Heinrich (Erzbischof von Mainz: 1679) / Philipp Emmerich (ab 1679 Graf ) von Metternich-Winneburg und Beilstein (1628–1698) ∞ 1652 Maria Elisabeth Magdalena Freiin Waldpotin von Bassenheim (1630–1685) Lothar Friedrich von Metternich-Burscheid (Erzbischof von Mainz: 1673–1675) | 10. Franz Ferdinand, Graf von Metternich-Winneburg und Beilstein (1660–1719) ∞ 1683 Elenore Juliana Gräfin von Leinigen Westerburg (1667–1742) | 11. Philipp Adolph, Graf von Metternich-Winneburg und Beilstein (1686–1739) ∞ 1707 Maria Franziska Schenckin von Schmidtberg (1685–1723) | 12. Johann Hugo Franz, Graf von Metternich-Winneburg und Beilstein (1710–1750) ∞ 1745 Clara Louisia Elisabeth Freiin von Kesselstadt (1726–1746) | 13. Franz Georg, Graf von Metternich-Winneburg und Beilstein (ab 1803 Fürst von Ochsenhausen) (1746–1818) ∞ 1771 Maria Beatrix Aloysia Freiin von Kageneck (1755–1828) | 14. Clemens Wenzeslaus Lothar, Graf (ab 1813 Fürst) von Metternich-Winneburg und Beilstein, (ab 1818) Herzog von Portella (1773–1859) ∞ 27. 9. 1795 Eleonore von Kaunitz (1. 10. 1775–19. 3. 1825) ∞ 5. 11. 1827 Maria Antonia von Leykam (15. 8. 1806–17. 1. 1829) ∞ 30. 1. 1831 Melanie Maria Antonia Zichy-Ferraris zu Zichy und Vásonykeö (18. 1. 1805–3. 3. 1854)

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Tab. 1  Stammbaum der Metternichs von den Anfängen bis zu Clemens von Metternich., Anmerkung des Autors: Das Geburtsjahr der Maria Beatrix Aloysia Freiin von Kageneck ist 1754 (nicht 1755), aus: Siemann, Metternich (2016), S. 35 Stammbaum.

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Wasserburg6 und nannte sich fortan Herr zu Metternich; diese Herren behielten auffälligerweise in ihrem Wappen die Muscheln bei, zeigten sich also denen zu Hemberg verbunden. Noch der Staatskanzler band 1813 die drei Muscheln in sein neu zu bildendes Fürstenwappen ein. Der Ort „Metternich“ existiert noch heute. Wer es genau wissen will, findet die Anfänge dieser Metternich’schen Herrschaft räumlich zwischen Bonn und Euskirchen im fruchtbaren Lößgebiet des langgezogenen Tals der Swist von der Grenze der Herrschaft Tomberg im Süden, große Teile des Kottenforstes einschließend, bis zur Mündung der Swist in die Erft im Norden. Dieses ist das richtige „Metternich“ und darf nicht mit dem bei Koblenz verwechselt werden, wie es bisweilen noch geschieht.7 Die zweite Etage war den Freiherren vorbehalten, ausgestattet mit Privilegien, welche sie Freiheiten nannten, etwa dem Recht, in den ständischen Vertretungen des Landes Sitz und Stimme innezuhaben. Das gelang den Metternichs, als sie auf Seiten des Kaisers im Dreißigjährigen Krieg kämpften und zum Dank dafür am 10. April 1630 zu dem günstigen Preis von 66.114 Rheinischen Gulden die Herrschaft Königswart erhielten, die sich zuvor in der Hand eines vom Kaiser Abtrünnigen befunden hatte. Die Herrschaft war Voraussetzung für die Erhebung in den Freiherrenstand im Jahre 1635. Die Stammtafel verrät den häufigen Ortswechsel und die Aufsplitterung des Geschlechts, hervorgerufen durch immer neue Erbteilungen. Nach der Gemeinde Metternich folgten dann Sommersberg, Vettelhoven, Zievel und Sinzig. Durch den Erwerb von Königswart – mit kräftiger Unterstützung Erzbischof Lothars (1551–1623), der im Vorfeld den Boden bereitet hatte – war damit Schluss. Außerdem trat durch den Erwerb der Grafschaften Winneburg und Beilstein Stabilität ein, gleichfalls im Dreißigjährigen Krieg. Einen weiteren Aufstieg bedeutete der Übergang in das dritte Geschoss der Grafen – durch die Standeserhöhung im Jahre 1679. Die Grafen herrschten wie kleine Regenten, die über ihre Untertanen richteten und wachten. Sie waren reichsunmittelbar, hatten Zutritt zum Reichstag des Heiligen Römischen Reiches und sich dort in einer eigenen Kurie vereinigt. 1697 wurde der gesamte Besitz durch Unteilbarkeitserklärung abgesichert, im Juristendeutsch: durch ein Fideikommiss. Die oberste Beletage war den Fürsten vorbehalten. Sie galten als der wichtigste Stand im Reichstag, und ihre Stimme hörte man dort an erster Stelle, bevor die anderen an der Reihe waren. Je höher man in diesem Palais aufstieg, umso geringer war die Zahl 6 Das war der an die Linie Ottos II. vererbte sogenannte „Ottohof “ (später „Haus Velbrück“). Im selben Ort „Metternich“ existierte ein zweiter Rittersitz mit der noch heute als Ruine bestehenden „Burg Metternich“ als Stammsitz der Metternichs mit dem Löwenwappen; vgl. Broemser, Ferdinand, Zur Geschichte der Familien Metternich mit den drei Muscheln und mit dem Löwenwappen bis zum Jahr 1700, Andernach 1988, S. 2. 7 Vgl. z. B. Palmer, Alan, Metternich. Der Staatsmann Europas. Eine Biographie, Düsseldorf 1977, S. 16, dem ich mich in der 1. Auflage von Siemann, Wolfram, Metternich. Staatsmann zwischen Restauration und Moderne (Beck’sche Reihe 2484), München 2010, S. 19, noch angeschlossen hatte, bevor mich die Daten aus dem Familienarchiv in Prag eines Besseren belehrt haben.

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Abb. 16  Burg Beilstein, Original: Schloss Königswart.

der Bewohner, aber umso mehr Kraft bedurfte es, vorzudringen. Es erforderte Zähigkeit und Ausdauer über Generationen hinweg. Diese Stufe erreichte erstmals der Vater Franz Georg (1746–1818) im Jahre 1803. Der Heraldiker des Fürstenwappens inkorporierte symbolisch alle Stationen im Aufstieg der ehemaligen Herren zu Metternich: im Herzschild den Anfang: die schwarzen Jakobsmuscheln aus dem Stammwappen, darüber ganz oben platziert den Endpunkt: die Fürstenkrone; die beiden Felder mit dem staffelförmigen Querbalken und den Kreuzchen stehen für die Herrschaft Winneburg. Die beiden Felder mit den je drei Hifthörnern verweisen auf die Herrschaft Beilstein. Für die verlorenen linksrheinischen Herrschaften erhielten die Metternichs durch den Reichsdeputationshauptschluss 1803 die Reichsabtei Ochsenhausen. Der Ochsenkopf unter den Muscheln versinnbildlicht das neue Reichsfürstentum Ochsenhausen. Franz Georg wurde für die Erhebung zum Fürsten von Ochsenhausen verspottet, sogar von Erzherzog Johann (1782–1859).8 Doch wer das Alte 8 Srbik, Heinrich von, Metternich, der Staatsmann und der Mensch, 2 Bände, München 1925, Band 3, München 1954, Band 1, S. 57.

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Abb. 17  Das große Fürstenwappen von 1813, Original: Schloss Königswart.

Reich kannte, musste die innere Logik anerkennen. Die Metternichs besaßen Reichsstandschaft, welche kraft Urkunde und Reichsmatrikel untrennbar mit den Reichsgrafschaften Winneburg und Beilstein verbunden war. Kamen diese abhanden, war auch die politische Stellung eines Reichsstands im Reichstag verloren. Den Metternichs diese wichtige politische Qualität zurückzugeben bedeutete, sie mit einer adäquaten reichsunmittelbaren Herrschaft auszustatten. Ebendas leistete die ehemals reichsunmittelbare, nun säkularisierte und den Metternichs zugedachte Abtei Ochsenhausen. Und diese war keineswegs eine „unzureichende Entschädigung“9 für die verlorenen linksrheinischen Besitzungen, sondern eine überreiche. Ausdrücklich wünschte Metternich im Wappen ein Motto „nach Art des englischen Hosenbands“ beigefügt. Wer seine reichsherrliche Herkunft, die Zähigkeit seiner Familie im Aufstieg und sein Verständnis für den Rechtscharakter des Alten Reiches kennt, begreift, was er in seinen Wappenspruch Kraft im Recht 10 hineinlegen wollte. Das Recht zu wahren hieß für ihn, sich auf die althistorische Ordnung der Dinge im Reiche zu berufen. Metternichs Vater und der Staatsminister selbst machten die Erfahrung, welche ein geflügeltes Wort aussprach: Lieber Sauhirt in der Türkei, als Standesherr in Württem 9 Ebd. 10 Metternich, Papiere, Bd. 7, S. 634; das Fürstenwappen aus: Denkmalinstitut Pilsen (Hg.), Schloss Kynžvart, Nymburk 2005.

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Abb. 18  Das Geburtshaus, der „Metternicher Hof “, aus dem Jahre 1674, Original: Schloss Königswart.

berg.11 Deshalb verkaufte der Sohn Clemens 1826 Ochsenhausen und erstand dafür die böhmische Domäne Plaß nördlich von Königswart. Durch die dort vorhandenen Flöze aus Eisenerz und Kohle wurde er zum frühindustriellen Unternehmer kraft einer hochmodernen Eisenhütte mit rund 400 Fabrikarbeitern in den 1840er Jahren. Um die Reihe der Besitztümer vollständig zu machen: Das Wiener Stadtpalais, die Villa am Rennweg, war ein Geschenk des Schwiegervaters Ernst von Kaunitz (1737–1797) anlässlich der Heirat Metternichs 1795. Aber warum wurde Clemens in Koblenz – im „Metternicher Hof “ am Münzplatz12 – und nicht auf Königswart geboren? Die jüngeren Generationen seiner Vorväter hatten ihren Schwerpunkt wieder in das Rheinische verlegt, wohin die kurfürstlichen und kaiserlichen Dienste lockten. So war es ja auch bei Franz Georg gewesen.

11 Vgl. Siemann, Metternich (2017), S. 526. 12 Die Abbildung aus Königswart, Bibliothek, Ky 7006, zeigt das Gebäude im Jahre 1674.

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II. Revolutionserfahrungen im Rheinland Die Prägung während seiner Studienzeit am Ende des Ancien Régime geschah mithin im Horizont der europäischen Aufklärung; sie machte Metternich zum Exponenten einer Generation, die sich noch als Teil einer europäischen Community verstand. Der Adel war dabei neben den rechtskundigen Schriftgelehrten der prädestinierte Stand, denn er war darin der am spätesten nationalisierte. Die „Generation Metternich“ beherzigte die hier dargestellten gemeinsamen Werte und Erfahrungen.13 Diese um 1770 Geborenen teilten die europäische Aufklärung und einen transnationalen Kosmopolitismus. Sie teilten die Idee von der alteuropäischen Rechtsordnung, welche hier nicht als feudalistisches Repressivsystem begriffen wurde, sondern als Raum einer rechtlichen Ordnung, in welcher auch den Mindermächtigen ein Recht zukam. Zu dieser Prägung gehörte auch, dass Metternich über die Kontakte der Mutter zum literarischen Salon der Sophie de La Roche (1730–1807) in Koblenz mit den Tendenzen der literarischen Epoche der Empfindsamkeit vertraut wurde. Erst wer dies weiß, vermag das Pathos seiner Liebesbriefe richtig zu verstehen. Die Französische Revolution deutete Metternich als eine einschneidende welthistorische Wende. Er wusste von der britischen „Glorious Revolution“, deren fortschrittliche Impulse für die Entwicklung der englischen Verfassung er schätzte; er kannte die Grundzüge der Amerikanischen Revolution, deren republikanischen Impetus er in jenem weitläufigen Land sogar für legitim hielt, aber die von Paris ausgehende war die eigentliche, die grundumstürzende, die furchterregende, denn sie – das betonte er immer wieder – war nicht nur eine politische, sondern von ihrem Wesen her eine soziale Revolution; es sei um den Umsturz der Gesellschaftsordnung und des alten Rechts in Europa gegangen. Man hat bisher viel zu oberflächlich hingeschaut, was er denn eigentlich mit dem Sozialen meinte. Das erschließt sich, wenn man genauer biografisch verfolgt, wie Metternich in Kontakt zur Revolution getreten war, welche Ereignisse sein Urteil prägten, welche persönlichen Kontakte dabei mitbestimmten und wie die Konfrontationen aufeinander folgten. Es ist dabei wesentlich zu wissen, wann er jeweils wo vor Ort gewesen war, was man nun erstmals nachverfolgen kann. Eine Schlüsselrolle spielte dabei sein Erzieher, der Hofmeister Johann Friedrich Simon (1751–1829). Er brachte revolutionäre Schriften in die Studierstube Metternichs in Straßburg und schrieb dort seine revolutionäre Zeitung. Der Sturm auf das Straßburger Rathaus, der aussah wie der elementare Ausbruch des Volkszorns, angetrieben durch wirtschaftliche Nöte, die gewiss eine Rolle spielten, war tatsächlich das Resultat einer kühl kalkulierten Aktion. Metternich verschwieg in seinen gedruckten Memoiren die eigentlichen Hintergründe, die ihm damals bewusst waren. Seine ungedruckten 13 Vgl. Siemann, Metternich (2017), S. 490 f.

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Aufzeichnungen verraten, dass eigentlich sein eigener Hofmeister Simon hinter dieser Aktion stand: Er war einer der Leiter der Erstürmung des Rathauses zu Straßburg, dessen Zweck die Vernichtung der in demselben aufbewahrten geschichtlichen Akten, der Grundbücher und der sämtlichen den Grundbesitz schirmenden Dokumente war.14 Damit bekam die Aktion in der Tat Rationalität und eine revolutionäre Dimension. Sie zielte auf die verbliebenen Feudalrechte des Adels, auf das, was Metternich immer mehr als die alte Rechtsordnung begriff, und Simon zeigte, wie man die Volksmassen agitierte und sich dienstbar machte. Simon kannte den politischen und sozialen Hintergrund. Er forderte, die Adelstitel aufzuheben, das Führen von Wappen zu verbieten und die Kirchengüter einzuziehen.15 Schließlich ermunterte er zum europäischen Heiligen Krieg mit dem Aufruf: Allgemeiner Aufstand oder vertrauliches Sendschreiben an die benachbarten Völker, um sie zu einer heiligen und heilsamen Empörung aufzumuntern.16 Seine Radikalisierung führte ihn bis in die engsten Zirkel der Revolutionshäupter JeanPaul Marat (1743–1793) und Maximilien Robespierre (1758–1794) in Paris. Er gehörte zu den Organisatoren des Sturms auf die Tuilerien am 10. August 1792. In Straßburg war er im Oktober 1793 Mitglied eines tribunal militaire, das 62 Todesurteile fällte.17 Metternich erinnerte sich richtig, als er über Simon schrieb, er habe seinen Anteil an der Verantwortlichkeit für die Ströme Blutes, die jenes verabscheuungswürdige Tribunal in jener unglücklichen Provinz hat fließen lassen.18 Simon war für Metternich der Urtyp des scheinbar sanften, engagierten Gutmenschen und gewaltbereiten revolutionären „Fundamentalisten“, wie wir heute sagen. In Metternichs Redeweise war er der Inbegriff des Radikalen, aber es meinte von der Wortbedeutung her das Gleiche, wenn man an die Wurzel („radix“) oder auf den Grund ging („fundamentum“). Johann Friedrich Simon war einer derjenigen, die sich begeistern und schnell hinreißen ließen, im Streit für die hohen Ideale der Menschheit rücksichtslos Opfer forderten, weil der Zweck alle Mittel zu rechtfertigen schien. Er folgte einem Grundsatz, den Metternich später folgendermaßen verurteilte, als er das Attentat auf den Lustspieldichter August von Kotzebue (1761–1819) bewertete: Mir ist zuwider, wenn gemordet wird im Namen der Menschenliebe, ich habe keine Vorliebe für Tolle und Irrsinnstaten irgendwelcher Art […] Die Welt ist sehr krank, Freundin; nichts Schlimmeres gibt es als den missberatenen Durst nach Freiheit. Er tötet alles und zuletzt sich selbst.19 14 Bemerkungen als Zugabe und Erläuterung zu der Geschichte meines Lebens und Werkes, niedergeschrieben Dez. 1844; Nationalarchiv Prag, Acta Clementina, Abteilung 8, Karton, 3, 22; vgl. insgesamt Siemann, Metternich (2017), S. 90–95, Zit. S. 92. 15 Renaud, Theodor, Johann Friedrich Simon, ein Strassburger Pädagog und Demagog (1751–1829), in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 62 (1908), S. 449–500, Zit. S. 474. 16 Ebd., S. 478. 17 Ebd., S. 490 f. 18 Metternich, Papiere, Bd. 1, S. 9. 19 Metternich, 20.4.1819, an Gräfin Lieven, in: Mika, Emil (Hg.), Geist und Herz verbündet. Metternichs Briefe an die Gräfin Lieven, Wien 1942, S. 265.

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Eine Sammlung Metternichs an Zeitungen und Flugschriften aus den Jahren 1792/93 mit seinen eigenhändigen Anstreichungen erwies sich in der Königswarter Bibliothek als ein sensationeller Fund, denn dadurch hat man erstmals authentische Äußerungen des 20-Jährigen über die Revolution und nicht lediglich die Erinnerungen des rund 60-Jährigen. Daraus lernt man, wie elementar und dicht er die Französische Revolution im Rheinland erlebt hatte, und zwar von beiden Extremen her, die er beide verabscheute: von Seiten der royalistischen französischen Emigranten in seiner Heimatstadt Koblenz und von Seiten der jakobinischen Revolutionsfreunde, die er in Mainz und Brüssel kennenlernte. Die Neigung vieler akademischer Lehrer, ihre tradierte Lehre nun neu unter dem Horizont der Revolution zu deuten, erfuhr der junge Student bereits an dem Straßburger Professor für Kirchenrecht Franz Anton Brendel (1735–1800), den er seinen Religionslehrer nannte.20 Der Professor für Philosophiegeschichte und Naturrecht Andreas Joseph Hofmann (1752–1849) habe es verstanden, seine Vorlesungen über Recht mit Anspielungen auf die Emanzipation des menschlichen Geschlechts zu verflechten, wie sie unter Marat und Robespierre so gut in Gang gebracht worden war.21 Tagtäglich studierte Metternich, wie der Fund in Königswart zeigt, bis zu vier Mainzer Zeitungen parallel. Als Redakteur einer Mainzer Zeitung und Herausgeber von Flugschriften trat sein Mainzer Mathematikprofessor und Namensvetter Matthias Metternich (1747–1825) hervor, zugleich Exponent des Jakobinerklubs. Der Professor Metternich rief auf zum modernen Kreuzzug; er forderte Ausrottung der Gegner aus den Motiven vermeintlicher wahrer Menschengröße.22 Diese Töne erzeugten bei Clemens von Metternich später im Falle des Attentäters Carl Ludwig Sand (1795–1820) das argumentative „Déjà-vu“. Als weiteren Exponenten des Jakobinerklubs erlebte er neben anderen Anton Joseph Dorsch (1758–1819); er las dessen Anrede an die neu gebildete Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit in Mainz und versah sie mit eigenhändigen Vermerken. Ihr entnahm er bereits an der Jahreswende 1792, dass sich diese Bewegung, die alle Völker ansprach, über die Grenzen Frankreichs hinaus nach Europa ausdehnen musste und alle inneren Verwaltungen von Grund auf umstürzen würde.23 Indem Metternich sich mit der frühesten deutschen Revolutionspublizistik auseinandersetzte, wie sie erstmals seit 1792 in Mainz hervorgebracht worden war, und zugleich vier Tageszeitungen parallel las, zeigte er, dass er bereits viel früher die Presse als die sogenannte Vierte Macht begriffen und ernst genommen hatte – lange bevor Napoleon, dem man diese Formulierung zuschreibt, sie auf seine Weise zu manipulieren begann. Er hatte tiefe Einblicke in die Willensbildung der Mainzer Jakobiner gewonnen 20 21 22 23

Metternich, Papiere, Bd. 1, S. 9. Ebd., S. 14. Vgl. Siemann, Metternich (2017), S. 104. Ebd., S. 102.

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Abb. 19  Mainzisches Intelligenzblatt vom 27. Oktober 1792, Original: Schloss Königswart.

und in ihre Kohabitation mit den französischen Eroberern; der aus einer Lesegesellschaft hervorgegangene Jakobinerklub prägte sich ihm ein in der Weise, wie er funktionierte und sich verzweigte, gleichsam als eine „Blaupause“ für alle späteren geheimen Gesellschaften, für die Kern- und Keimzelle jeder Revolutionspartei, wie er später sagte, seien es die Carbonari in Italien, der Bund der Geächteten, der Bund der Gerechten deutscher

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Abb. 20  Titelblatt der eigenhändigen Flugschrift von 1794, Original: Nationalarchiv Prag.

Frühsozialisten in Paris, die politisierten Arbeitergesellenvereine in der Schweiz oder das Junge Europa Giuseppe Mazzinis in Oberitalien. Während Mainz von den Franzosen erobert war, zog Metternich zu einem längeren Aufenthalt in den diplomatischen Dienst seines Vaters nach Brüssel, der hier seit 1791 als Dirigierender Minister in den österreichischen Niederlanden herrschte. Im März 1794 reiste er nach England und kehrte

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im Juli 1794 auf den Kontinent zurück. Sogleich stieß Metternich in den Gefechtslärm des Ersten Koalitionskrieges. Er war nach seiner Reise durch Holland Anfang August zunächst nach Benrath bei Düsseldorf gekommen. Hier residierte die Exilregierung des niederländisch-österreichischen Gouvernements unter der Leitung seines Vaters. Doch es hielt ihn nicht mehr bei dieser Schattenregierung, sondern er reiste in das Hauptquartier des kaiserlichen Oberbefehlshabers Prinz Friedrich Josias von Coburg (1737–1815) zwischen Lüttich und Maastricht. Hier im August 1794 verfasste er den auch gedruckten Aufruf zur allgemeinen Bewaffnung des Volkes; es wurde Metternichs erstes politisches Manifest.24 Die Flugschrift macht schon damals und nicht erst aus dem Rückblick seiner Memoiren begreiflich, warum er die Französische Revolution bis an sein Lebensende als soziale und nicht als politische bewertete. Er wurde gewahr, dass die französische Herrschaft, die linksrheinisch und in den süddeutschen Reichslanden zunehmend als Besatzung empfunden wurde, Initiativen zur Volksbewaffnung angeregt hatte. Die „vorderen“ fünf südwestdeutschen Reichskreise – der schwäbische, fränkische, rheinische, oberrheinische und niederrheinisch-westfälische – hatten sich auf ihren Kreistagen für eine allgemeine Volksbewaffnung entschieden. Die Reichskreise rechneten nach Signalen aus der Bevölkerung damit, mindestens 150.000 Mann mobilisieren zu können.25 Der Kaiser selbst hatte am 20. Januar 1794 ein sogenanntes Kommissionsdekret erlassen, mit dem er das Thema im Reichstag zur Beratung stellte. Das Vorhaben scheiterte an Preußen, das sich im Westen immer mehr aus dem Krieg zurückzog, um bei der polnischen Teilung zu gewinnen und dabei Truppen verfügbar zu haben, bis es dann im Separatfrieden von Basel 1795 mit Frankreich völlig aus dem Krieg des Reiches gegen die Revolution ausschied. Viele Zeitgenossen und auch Metternich empfanden das als Verrat an Reich und Kaiser.

III. Der Staatsmann und der Wiener Kongress Zum Wiener Kongress sind viele Bücher erschienen, von denen zwei besonders öffentlichkeitswirksame hervorgehoben sein sollen, weil sie von der Grundtendenz her Metternich in den Mittelpunkt stellen, und zwar schon auf dem Umschlag. Das eine ist ein Sammelband mit Beiträgen von 23 Autorinnen und Autoren, herausgegeben vom Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs Thomas Just. Der Verlag rühmt es zu Recht als „das schönste und facettenreichste Buch“.26 Parallel dazu erschien ein beispiellos prächtiger 24 Nationalarchiv Prag, Acta Clementina, Abteilung 8, Karton 3, 24; unvollständig abgedruckt bei Metternich, Papiere, Bd. 1, S. 340–345; vgl. zur Interpretation Siemann, Metternich (2017), S. 161–169. 25 Vgl. Wendland, Wilhelm, Versuche einer allgemeinen Volksbewaffnung in Süddeutschland während der Jahre 1791 bis 1794, Berlin 1901, S. 140 f. 26 Just, Thomas/Maderthaner, Wolfgang/Maimann, Helene (Hgg.), Der Wiener Kongress. Die Erfindung Europas, Wien 2014.

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Bildband. Er dokumentiert in unglaublicher Qualität die Ausstellung des Jahres 2015 im Belvedere in Wien zum Kongress.27 Beide Bücher folgen der neuen Deutung, welche Europa hervorhebt, der Ausstellungsband mit der Sicht, dass Europa sich in Wien versammelt, der Band von Thomas Just mit der ambitionierten Deutung von der „Erfindung Europas“. Beide heben Metternich hervor, der eine Band klassisch durch das Gemälde von Thomas Lawrence auf der Titelseite, das Gemälde, das Metternich selbst gutgeheißen hat. Justs Band operiert hintersinniger durch zwei Unterschriften auf dem Buchcover – hintersinnig, weil Napoleons darauf abgebildete Unterschrift verblasst erscheint, Metternichs hingegen kräftig hervortritt. So stehen optisch Besiegter und Sieger gegenüber. Nichts mehr ist übrig von dem Metternich, der nach antiquierter Schulbuchmanier als Absolutist, Reaktionär, Verfassungsfeind und Vorkämpfer der Friedhofsruhe in Europa traktiert wird wie bei Heinrich August Winkler in seinem populären Buch „Der lange Weg nach Westen“ und bei Matthias Schulz über „Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat“.28 Beiden fehlt auch noch der Blick dafür, dass es sich bei der Auseinandersetzung zwischen Napoleon und dem Rest der Welt um einen „Weltkrieg“ handelte, der ganz andere Blickrichtungen nahelegt als das immer gleiche Argument, der Wiener Kongress habe „die Stimmen der Völker“ nicht gehört. Am lautesten hat Letzteres in einem „Zeit“-Interview der polnische Journalist Adam Krzemiński beklagt, der den Wiener Kongress und damit auch Metternich für den Ersten Weltkrieg verantwortlich macht.29 Dem ist nur entgegenzuhalten, dass es für die damals verhandelnden Politiker der Großmächte nicht die Kategorie des nationalen Anstaltsstaats gab; sie operierten auf der Basis zusammengesetzter Staatlichkeiten, nach der Kategorie der Imperien, wie sie es alle verkörperten: Großbritannien, Frankreich mit seinen Kolonien, Russland, das Habsburgerreich, in gewisser Weise nach innen gesehen auch Preußen sowie, ohne am Tisch zu sitzen, das Osmanische Reich. Eine methodische Bemerkung zum Verständnis der Metternich’schen Politik ist vorauszuschicken. Um ihn seit dem Dezember 1812 zutreffend zu verstehen in dem Geflecht der politischen und militärischen Operationen, die in die Verhandlungen und Beschlüsse des Wiener Kongresses mündeten, muss man hinter seiner äußerlich wahrnehmbaren Vorgehensweise seine eigentlichen Absichten erkennen. Metternichs neuer Kurs nach dem Frieden von Schönbrunn 1809 bestand aus zwei Elementen. Das war erstens ein genauer Plan des eigenen Vorgehens auf ein politisches Ziel hin (die Strategie), und dieses Ziel hieß Rettung des Gesamtstaates kraft möglichst schneller Entfaltung seiner Ressourcen für den Wiederaufbau und die Wiederherstellung des europäischen 27 Husslein-Arco, Agnes/Telesko, Werner/Grabner, Sabine (Hgg.), Europa in Wien. Der Wiener Kongress 1814/15, München 2015. 28 Vgl. Schulz, Matthias, Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat, 1815–1860 (Studien zur internationalen Geschichte, Bd. 21), München 2009; Winkler, Heinrich August, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte, 2 Bände, München 2000. 29 Vgl. Krzemiński, Adam, Der Griff nach der Weltmacht, in: Die Zeit, Nr. 38 (12.9.2013), S. 22.

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Gleichgewichts. Das war zweitens, kühl berechnend und stets zweckbestimmt, die Art und Weise des Vorgehens (die Taktik). Beides zusammen lässt sich vorzüglich mit einer Parabel Bertolt Brechts (1898–1956) veranschaulichen, in der man die „Methode Keuner“ erkennen kann. Sie leitet sich her aus den Geschichten vom Herrn Keuner, und zwar aus derjenigen über die Maßnahmen gegen die Gewalt.30 Eigentlich ist es eine Geschichte in einer Geschichte, denn Herr Keuner erzählt von einem Herrn Egge, welcher in der Zeit der Gewaltherrschaft einen allmächtigen Agenten in seinem Haus beherbergen musste. Dieser fragte: Wirst du mir dienen? Herr Egge blieb stumm, diente aber dem Gebieter in allen Dingen sieben Jahre lang, bis dieser dick geworden war und starb. Herr Egge schaffte ihn aus dem Haus und antwortete: Nein. Diese Parabel berührt in szenisch-anschaulicher Weise, wie ein Verhalten von außen irrtümlich als weichlich und opportunistisch angesehen wird, das erst in der folgenden Maxime Herrn Egges seine richtige Erklärung findet: Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen. Gerade ich muss länger leben als die Gewalt.31 So ist Metternichs Politik zwischen den Jahren 1809 und 1815 über sieben Jahre lang gegenüber Napoleon – zumindest aber bis zum Kriegseintritt Österreichs im August 1813 – zu verstehen. Wer diese Methode bei ihm nicht begriffen hat, lässt sich zu leicht verführen, seine Strategie und Taktik mit seinem Charakter gleichzusetzen, wie Srbik es tut, für den Metternich „der schmiegsame Mann“ ist, und das im Gegensatz zu dem „steifnackigen“, oftmals unbequemen, hochgesinnten Johann Philipp von Stadion (1763–1824), der wegen dieser Eigenschaften im Rahmen des von dem Biografen gepflogenen Herrenmenschentums als der „edlere“ gilt.32 Aus dem umfangreichen Problemfeld Wiener Kongress und Metternich seien hier thesenhaft vier Aspekte hervorgehoben: 1. das Dilemma der Quellen, 2. die diplomatische Revolution, 3. die Präfiguration des Wiener Kongresses durch Beschlüsse der Jahre 1813/14 sowie 4. die Antiquiertheit des Restaurations-Arguments. Aus den vielen umstrittenen Fragen des Wiener Kongresses wird dabei nur eine stellvertretend herausgegriffen, die aber besonders viele Missverständnisse und Fehlurteile hervorruft: die Entstehung der föderativen Nation, womit der Umgang mit den ehemaligen Rheinbundstaaten zusammenhängt. 3.1 Das Dilemma der Quellen Die eigentliche Bedeutung des österreichischen Außenministers in den Jahren 1813/14 ist so gut wie unbekannt. Er hat die ganze Spanne der sogenannten Befreiungskriege in einem bisher nicht wahrgenommenen Maße gesteuert. Ohne seine politische Kombinationsgabe und seine Obacht auf die militärische Gesamtlage wäre die Koalition gescheitert 30 Vgl. zum Zusammenhang Siemann, Metternich (2017), S. 306. 31 Vgl. Brecht, Bertolt, Gesammelte Werke, Frankfurt am Main 1967, Band 12, S. 375 f. 32 Vgl. Srbik, Metternich, Bd. 1, S. 119.

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wie alle fünf vorausgegangenen. Diese gewagt anmutende Deutung lässt sich nur halten, wenn man die ungedruckten Quellen neu liest und planmäßig auf den Anteil Metternichs hin prüft. Besaß er tatsächlich das Potenzial eines willensstarken, zielorientierten Strategen? War nicht vielmehr Zar Alexander „der Retter Europas“?33 Die vorherrschende Meinung legt nahe: „Metternich verfügt Anfang 1813 keineswegs über einen Generalplan, wie er später glauben machen will.“ Er sei „hinterhältig“, übe „Betrug, politische Bigamie“.34 Erst im Laufe des Jahres habe er seine Meinung geändert und sich, als die Lage günstig erschienen sei, opportunistisch der Koalition angeschlossen.35 Das Augenmerk beschränkt sich bei dieser Sicht vorwiegend auf seine diplomatischen Aktionen. Sein Anteil am militärischen Geschehen fehlt vollkommen. Das ist vor allem ein Dilemma der Quellen, weil einseitig die britischen, kaum aber die Wiener Archivalien durchforscht wurden. Sogar Heinrich von Srbik hat von den 39 Jahrgängen oder 115 Kartons Vorträgen Metternichs an den Kaiser zwischen 1809 und 1848 nur diejenigen für zwei Jahrgänge (1810 und 1813) nach Ausweis seiner Anmerkungen selbst eingesehen. Metternichs vermeintliche Abwesenheit offenbart sich besonders auch vor und in der „Völkerschlacht“; in einschlägigen neueren Darstellungen kommt er gar nicht vor.36 Es ist möglich gewesen, in einer weit beachteten Ausstellung in der Kunsthalle in Bonn 2011 traditionelle Betrachtungsweisen über „Napoleon und Europa“ zu überwinden und seine Herrschaft über den Kontinent nicht nur als „Traum“, sondern auch als „Trauma“ in Erinnerung zu rufen.37 Aber der große Antipode Napoleons, an dem dieser letztlich gescheitert war – Metternich –, kam darin nicht mit einem Wort oder Bild vor. Die Ausstellung zum 200-jährigen Gedenken an die Völkerschlacht 2013/14 in Leipzig durchmusterte einfallsreich die „Helden nach Maß“38, vergaß nicht einmal „Deutsche und Österreicher für, mit und gegen Napoleon Bonaparte“39, aber auch hier fehlte Metternich als Beteiligter im großen Kriegstheater. Die zeitlich parallele große Schau zum Jubiläum im Militärhistorischen Museum in Dresden ließ in ihren Exponaten auch jeden Hinweis auf den Minister und seine Rolle fehlen, erkannte ihn aber immerhin in seinen 33 So Zamoyski, Adam, 1815 – Napoleons Sturz und der Wiener Kongress, München 2014, S. 30. 34 So Müchler, Günter, 1813. Napoleon, Metternich und das weltgeschichtliche Duell von Dresden, Darmstadt 2012, Zitate S. 158, 159, 210. 35 So auch Schroeder, Paul W., The Transformation of European Politics 1763–1848 (Oxford History of Modern Europe), Oxford 1994, S. 462. 36 Vgl. Platthaus, Andreas, 1813. Die Völkerschlacht und das Ende der Alten Welt, Berlin 2013; ebenso Thamer, Hans-Ulrich, Die Völkerschlacht bei Leipzig. Europas Kampf gegen Napoleon (Beck’sche Reihe 2774), München 2013, wo Metternich in den Planungen vor und in der Völkerschlacht fehlt. 37 Bénédicte Sovoy als Kuratorin der Ausstellung in: Savoy, Bénédicte (Hg.), Napoleon und Europa. Traum und Trauma, München u. a. 2010, S. 16. 38 Rodekamp, Volker (Hg.), Helden nach Maß. 200 Jahre Völkerschlacht bei Leipzig. Katalog zur Ausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig, 4. September 2013–5. Januar 2014, Leipzig 2013. 39 So Häusler, Wolfgang, „Krieg ist das Losungswort! Sieg! Und so tönt es fort!“ Deutsche und Österreicher für, mit und gegen Napoleon Bonaparte, in: Rodekamp, Helden, S. 46 f.; lediglich Metternichs Skizze zum Leipziger Schlachtfeld wird abgedruckt, ebd., S. 204.

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diplomatischen Bemühungen.40 Die militärhistorischen Erinnerungen der Jubiläumsausstellungen in Deutschland rankten sich hingegen bevorzugt um die Personen Gebhard Leberecht von Blücher (1742–1819), August Neidhardt von Gneisenau (1760–1831), die Monarchen, Napoleon und den verklärten, immer wieder scheiternden Zaren Alexander. Erst bei genauerem Hinschauen tauchen Josef Wenzel Radetzky (1766–1858) und Karl Philipp zu Schwarzenberg (1771–1820) auf. Metternich fehlte.41 Es spiegelt das herrschende Geschichtsbild wider, dass die Erinnerung an die Beteiligung der Österreicher in den Kriegen 1813/14 nur wenig in den historischen Ausstellungen in Dresden und Leipzig vorkam und stattdessen ausgelagert wurde in einen kleinen Vorort Leipzigs: in das Schloss Markkleeberg. Aber auch hier suchte man den Einfluss des österreichischen Ministers vergebens.42 3.2 Metternichs „diplomatische Revolution“ Der Minister erkannte schon damals als unmittelbar Handelnder, dass sich in dem großen Endkampf gegen Napoleon die Gepflogenheiten der internationalen Politik und der Diplomatie revolutionierten und dass dies bei einem Gegner wie Napoleon unbedingt nötig war. Am 1. Juni 1813 verließen der österreichische Kaiser und sein Minister nämlich verborgen vor der Wiener Öffentlichkeit die heimische Residenz, um im böhmischen Winkel des Reiches dem Geschehen nahe zu sein. Im Herzen des Kontinents wurde nun in einer bisher unerhörten Kommunikationsdichte Weltgeschichte gemacht: zwischen dem Dresdener Palais Marcolini (Napoleons Hauptquartier), Reichenbach – Dzierżoniów – im schlesischen Eulengebirge (russisches und preußisches Hauptquartier), Schloss Gitschin – Jičín – 85 Kilometer nordöstlich von Prag (österreichisches Hauptquartier), dem ostböhmischen Schloss Opotschno – Opočno – (zeitweise Verhandlungsort des Zaren) und dem nordböhmischen Ratiborschitz – Ratibořice –, dem Sommerpalais der Herzogin Wilhelmine von Sagan (1781–1839). Am 3. Juni trafen Metternich und der Kaiser in Gitschin ein. Der Minister betrat mit seiner Politik Neuland. Er bildete um sich eine mobile Staatskanzlei mit Büro, Mitarbeitern, Bediensteten, eigenem Koch und Ausrüstung, um dem Hauptquartier immer nahe zu sein und ihm folgen zu können. Wenn sein ganzer Stab beisammen war, fuhr Metternich mit Dienerschaft und Kanzleipersonal in zehn Kut40 Plischnack, Alfred, „Sie sind alle verrückt und gehören ins Narrenhaus.“ Österreich und seine Alliierten im Kampf gegen Napoleon 1813/1814, in: Bauer, Gerhard/Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hgg.), Blutige Romantik. 200 Jahre Befreiungskriege. Band Essays, Dresden 2013, S. 184–191. 41 Pointiert bei Hofschröer, Peter, 1813 – die Napoleonischen Befreiungskriege. Großgörschen (Lützen), Bautzen, Leipzig, Königswinter 2013; vgl. aber jüngst mit Berücksichtigung einzelner militärischer Aspekte bei Metternich Price, Munro, Napoleon. The End of Glory, Oxford u. a. 2014. 42 Er kam nicht in den Exponaten vor, wohl aber in einem Katalogbeitrag von Mitterer, Karl Anton, Die Rolle Österreichs im Feldzug 1813, in: Förderverein „Historisches Torhaus zu Markkleeberg 1813“ (Hg.), 1813. Kampf für Europa. Die Österreicher in der Völkerschlacht bei Leipzig, Markkleeberg 2013, S. 16–27.

28. der taktische weg in die «bewaffnete mediation»

und eigener Ausrüstung, um dem österreichischen und dem russisch-preußischen Hauptquartier immer nahe zu sein und ihnen folgen zu können. Wolfram Siemann 108 Wagenliste Metternichs während des Feldzuges 1813 / 14 Suite 1.) Große Kalesche Seiner Exzellenz + 1 Jäger

6 Hofpferde

3.) viersitzige Kalesche: Koch, Tafeldecker, Kammerdiener von Baron Binder

4 detto [d. h. dasselbe]

2.) kleine Kalesche: Leyder, Giroux + 1 Jäger

4 Vorspann

4.) großer Fourgon [Vorratswagen] – Hausknecht

6 detto

6.) kleine Wurst [offenes Fuhrwerk in Form einer Wurst, auf der man rittlings sitzt]

2 detto

5.) Küchenwagen – Küchenjunge

4 detto

Kanzlei

7.) Baron Binder + 1 Jäger von Baron Binder

4 detto

9.) Schweiger, Gigel

4 detto

8.) Rath von Wacken, Baron Kruft + Bedienter von Kruft

10.) Kabinettsoffiziale, Huissier [Gerichtsdiener] Summa der Pferde

4 detto

4 detto

42

Tab. 2  Wagenliste Metternichs während des Feldzuges 1813/14, aus: Siemann, Metternich (2016), WennWagenliste. sein ganzer Stab beisammen war, fuhr Metternich mit Dienerschaft S. 395

und Kanzleipersonal in zehn Kutschen mit insgesamt 42 Pferden. Anders als bei mit deninsgesamt vorausgegangenen fünfAnders Koalitionen er bei der sechsten für schen 42 Pferden. als beischuf den vorausgegangenen fünf Koalitionen damalige Verhältnisse enorm effektive für die Kommuschuf er für damalige Verhältnisse bei Voraussetzungen der sechsten unvergleichlich effektivere Voraus36 dass nikation. Es war «ohne Beispiel inEsden setzungen zur Kommunikation. warJahrbüchern ohne Beispielder inGeschichte», den Jahrbüchern der Geschichte 43, der Kaiser von Österreich, der Zar der König von Preußen dass der Kaiser von Österreich, dervon ZarRussland, von Russland, der König von Preußen und der und der Chef des britischen Kabinetts persönlich permanent vor Ort ver- Die schwieChef des britischen Kabinetts vor Ort persönlich permanent vereint waren. eint waren. Die schwierigsten Geschäfte wurden «sozusagen von einem rigsten Geschäfte wurden sozusagen von einem Zimmer zum anderen verhandelt – ohne Zimmerund zumohne anderen verhandelt» – ohne Kuriere, Austausch von Kuriere Austausch von Schriftstücken oder Gesandten alsSchriftZwischenhändler. Die stücken oderund Gesandte als Zwischenhändler. Monarchen und KabiMonarchen Kabinettschefs beredeten dasDie Wesentliche zunächst vertraulich. Wenn nettschefs beredeten zunächst vertraulich. sich in sich Gegenstände alsdas reifWesentliche abzeichneten, traten die MinisterSobald zu regelmäßigen Konferenbestimmten Gegenständen Einigkeit abzeichnete, traten die Minister zu zen zusammen, bei denen man Protokolle anfertigte, welche die Form und Geltung der regelmäßigen festhielten, Konferenzen zusammen, beiDenkschriften. denen man Protokolle anferÜbereinkunft sowie erläuternde Nach Verhandlungen mit dem tigte, welche die Form und Geltung festhielten,und sowie russischen Außenminister Karl Robertder vonÜbereinkunft Nesselrode (1780–1862) dem preußischen Staatskanzler Karl August von Hardenberg (1750–1822) stellte Metternich fest: Ich glaube 395drei Wochen Korrespondenz bewirkt zu haben.44 in einigen Unterredungen mehr als in 43 Metternich, Papiere, Bd. 1, S. 139. 44 Metternich aus Nachrod, 19.6.1813, an Kaiser Franz, ÖStA, HHStA Wien Staatskanzlei, Vorträge Karton 194, Fol. 36.

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3.3 Die Präfiguration des Wiener Kongresses Durch diese neue Diplomatie gelangte man mit Hilfe der je beschlossenen Vereinbarungen zu Eckpunkten und Konturen einer künftigen Neuordnung. Vielleicht ist bisher nicht genügend gewürdigt worden, dass bereits auf diesem Wege wesentliche Ergebnisse des Wiener Kongresses vorweg festgelegt worden sind, sodass die eigentliche Materie mit allen auftretenden Reibungen bereits 1813/14 verhandelt, auf dem Kongress dann aber in relativ kurzer Zeit förmlich beglaubigt worden ist. Im November 1814 konnte man keineswegs mehr frei die europäische Ordnung „rekonstruieren“, wie manche Autoren in ihren Büchern über den Wiener Kongress noch annehmen. In diesem besonderen Falle ist Adam Zamoyski beizupflichten, wenn er im Rückblick über Metternich urteilt, der erfolgreiche Weg bis zur Leipziger Völkerschlacht sei insgesamt sein Werk gewesen, weil er „diese Koalition gesteuert und mehrmals verhindert hatte, dass sie auf Grund lief.“45 Der britische Außenminister Viscount Castlereagh (1769–1822) ging noch weiter, nachdem er Metternichs Verhandlungsgeschick und Zielstrebigkeit in schwierigsten Phasen, vor allem mit Zar Alexander und den Beratern des preußischen Königs, miterlebt hatte: Ihr seid der Premierminister der Welt, und ich bitte Sie mir zu verzeihen, dass ich Ihnen nicht immer dasselbe Vertrauen geschenkt hatte.46 In der Tat betrieb Metternich in der für einen Politiker einzigartigen Weise ein ganzes Jahr lang diese ambulante Konferenzdiplomatie – von seiner Ankunft in Gitschin am 3. Juni 1813 bis zum Abschluss des Ersten Pariser Friedens am 30. Mai 1814. Das Bild von dem Trümmerfeld, das Napoleon hinterlassen habe, zeigt nur die halbe Wahrheit. Denn er hatte nicht lediglich Kriege geführt und Länder zerstört, sondern eine neue Rechts- und Verfassungsordnung mit europäischer Verbindlichkeit aufgebaut. Unter Napoleon regierte formal in Frankreich die Konsulatsverfassung (1799) und mit der Begründung des Kaiserreichs bis zu dessen Ende die Senatsverfassung (1804). Durch Annexionen hatte der Kaiser fremde Staatsgebiete zu französischem Territorium gemacht (Katalonien, Illyrien, Toskana, Nordseeküste, Belgien, Holland). Er schuf neue Musterstaaten. Napoleon ersetzte alteuropäische Dynastien wie die Bourbonen (Spanien, Neapel), Oranier (Holland), Welfen (Hannover) oder Habsburger (Toskana) durch Herrscher aus seiner Familie und seinem Generalstab. Er machte das sogenannte Dritte Deutschland zu einem Teil seines Empires. Das geschah durch das Rheinbundsystem, dessen oberster Protektor er war und für das er eine eigene Verfassung stiftete. Das Herzogtum Warschau und die Schweizer Eidgenossenschaft waren ihm in gleicher Weise verbunden. Fast alle europäischen Mächte hatten sein Kaisertum anerkannt; viele waren mit seinen Familienangehörigen Eheverbindungen eingegangen – die Bayern, Württem45 Zamoyski, 1815, S. 161. 46 Metternich aus Troyes, 15.2.1814, an Wilhelmine von Sagan, in: Ullrichová, Maria (Hg.), Clemens Metternich – Wilhelmine von Sagan. Ein Briefwechsel 1813–1815, Graz/Köln 1966, S. 207.

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berger, Badener, zuletzt die Habsburger mit ihm selbst. Alle seine Kriege endeten mit bilateralen Friedensverträgen, welche in die zeitgenössischen Sammlungen des öffentlichen Rechts eingegangen waren. Er propagierte sich als Vorkämpfer moderner zeitgemäßer Verfassungen. Das auf seine Person zugeschnittene Empire verkörperte ein im internationalen Recht verankertes Staatensystem und dieses durchdrang – zumindest der Absicht nach – mit dem Code Napoléon und den Musterverfassungen in den Satellitenstaaten auch das Innere der Gesellschaften. Seine Kriege gemeinsam mit den Verbündeten forderten diesen nicht nur harte menschliche und finanzielle Opfer ab: Sie trugen territorial auch reiche Beute ein, sodass sich der Gebietsstand etwa Bayerns, Württembergs, Badens, Sachsens oder Warschaus immer wieder erweiterte. Napoleon war sich dessen bewusst, dass sein Reich vollkommen auf seine Person ausgerichtet war. Das System funktionierte durch einen allseits militärisch eingriffsbereiten Despotismus. Seine Alliierten waren mithin nicht nur Unterworfene, sondern auch Profiteure. Dieses ganze System implodierte 1813/14 innerhalb eines halben Jahres. Eine autokratisch gestützte Staatsordnung verschwand, in kleinem Maßstab vergleichbar der Implosion der Deutschen Demokratischen Republik 1989/90 und des sie umgebenden Warschauer Paktes. War nun Tabula rasa? Man kann sich dieses Problem nicht konkret genug vor Augen führen, um die Aufgabe des Wiener Kongresses zu verstehen. Dann begreift man, warum die moderne Geschichtsschreibung – zumindest für die deutsche Geschichte – den Begriff der „Restauration“ als Zielbegriff des Wiener Systems hat fallen lassen.47 Dieser politische Kampfbegriff des an der Hochschule gescheiterten Berner Staatswissenschaftlers Karl Ludwig von Haller (1768–1854) konnte bestenfalls Träumern und Verlierern vorgaukeln, sie würden ihr Verlorenes wiedergewinnen: der katholischen Kirche ihr theokratisches Regiment in einem wiederhergestellten Deutschen Reich, den Reichsgrafen und Reichsrittern ihre Herrschaften, den Reichsstädten ihre Unabhängigkeit usw. „Rekonstruktion“ oder „Restitution“ waren die zeitgenössischen Begriffe, welche der Sache näher kamen, wenn man einmal von dem auf die Bourbonen bezogenen Sprachgebrauch für Frankreich absieht. In „Rekonstruktion“ konnte dabei auch das Element des konstruierenden Weiterbauens enthalten sein. Am treffendsten scheint der Begriff des „Umbaus“, denn dieser bezeichnet Aufbau auf Vorhandenem bei gleichzeitigem Einfügen von Neuem. Die beschriebene Implosion schuf einen Schwebezustand des Unentschiedenen: Galt für die bisher von Napoleon beherrschten Gebiete ein Rechtsvakuum? Gerade die Herrscher und Minister der Rheinbundstaaten trieb diese Ungewissheit um. Hatte das noch Bestand, was sie unter Napoleon sich aneignen konnten? Und durften die Bewohner im Linksrheinischen ihre Besitztümer behalten, die sie aus dem Fonds des sogenannten 47 Vgl. Gruner, Wolf D., Der Wiener Kongress 1814/15 (Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 19252), Stuttgart 2014, S. 12; vgl. auch die Distanzierung von dem Begriff bei Stauber, Reinhard, Der Wiener Kongress (UTB 4095), Wien/Köln/Weimar 2014, S. 11–13.

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französischen „Nationaleigentums“ erworben hatten, also aus enteignetem Gut des Adels und der Kirche? Metternich, selbst ein Enteigneter, war dieser Schwebezustand deutlich bewusst, und mehrfach brachte er das in der Sentenz auf den Punkt, wie schwer es sei, eine Gesellschaft auf neuen Grundlagen zu errichten, wenn die alten zerstört sind.48 3.4 Das Beispiel der föderativen Nation Hier soll besonders der Umgang mit den Rheinbundstaaten betrachtet werden. In Teplitz waren zur Bildung der sechsten Koalition die förmlichen Bündnisverträge im September 1813, mit England am 3. Oktober, geschlossen worden. Nur wer die beigegebenen Geheimartikel nicht kennt, kann die Abmachungen als vage und verschwommen bemäkeln.49 Diese Geheimartikel bestimmten für Deutschland: Auflösung des Rheinbundes und vollständige und uneingeschränkte Unabhängigkeit (l’indépendance entière et absolue) der Staaten, welche nach dem Maßstab des Jahres 1805 zwischen den Grenzen der österreichischen und preußischen Monarchien sowie zwischen Rhein und Alpen wiederherzustellen (reconstruites) seien. Die Worte indépendence entière et absolue klangen wie ein „Zauberspruch“50, welcher den Alliierten Napoleons die Tür aus dem Gehäuse des Rheinbunds öffnete, weil er ihren Besitzstand garantierte. Diese Wendung präformierte die föderative Gliederung des späteren Deutschen Bundes. Die Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815 definierte die neue nationale Ordnung später nämlich ebenso als Bündnis der souveränen Fürsten und freien Städte Deutschlands! In seinem Nachlass offenbart Metternich, dass er bereits in Teplitz mündlich noch weiter gegangen sei und verlangt habe, es dürfe Deutschland als politischer Körper in keiner anderen Form als in der eines Staatenbundes gebildet werden. Das hatte für ihn den Wert einer Grundbedingung für den Eintritt Österreichs in die Quadrupelallianz. Insofern war das Konzept des föderativen Bands, welches das kommende Deutschland verbinden sollte, nicht erst im Ersten Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 fixiert worden; auch stammte die genaue Formulierung aus einer Instruktion Metternichs vom Januar 1814 und nicht von Castlereagh. Es steht somit fest, dass die Idee und der Wille zu einem Föderativstaat in Gestalt eines Deutschen Bundes von Metternich ausgegangen waren.51 Was war der tiefere Grund? Militärische Klugheit allein genügte nicht, Napoleon zu besiegen; Metternich hielt es für unerlässlich, vorab die militärischen Reihen Napoleons zu schwächen. Es wurde mit kriegsentscheidend, dass der französische Kaiser nicht mehr rückhaltlos auf die Rheinbundtruppen zählen konnte, vor allem auf deren wichtigstes 48 Metternich, Papiere, Bd. 1, S. 13. 49 Zamoyski, 1815, S. 121–123, der die Geheimartikel nicht kennt. 50 Vgl. Oncken, Wilhelm, Das Zeitalter der Revolution, des Kaiserreiches und der Befreiungskriege, 2 Bände, Berlin 1884/1886, Band 2, S. 698 f.; hier mit Hinweis auf die Separatartikel. 51 Nationalarchiv Prag, Acta Clementina, Abteilung 8, Karton 7, 40 (Denkschriften 1813); vgl. das Nähere bei Siemann, Metternich (2017), S. 427 f.

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Mitglied: die Bayern, welche Metternich durch geschicktes Verhandeln am 8. Oktober noch vor der Völkerschlacht durch den Vertrag von Ried aus dem Bündnis herausgelöst hatte. Mit der Anerkennung des Status quo bei den Rheinbundstaaten sicherte Metternich den inneren deutschen Frieden und nahm den Betroffenen die Angst vor Racheund Annexionsgelüsten, wie sie der Freiherr Karl vom Stein (1757–1831) unverhohlen in die Welt setzte, nachdem er als Chef des Zentralverwaltungsrats für die eroberten deutschen Länder mitsprechen konnte. Metternich verhinderte zugleich, dass es statt eines Deutschlands kein Deutschland geben würde, was durchaus im Sinne der französischen oder der russischen Regierung gewesen wäre. Die Anerkennung der territorialen und materiellen Umwälzungen der Rheinbundära war umbauende Konstruktion, nicht im Entferntesten aber Restauration. Metternich war dann während der ganzen Zeit des Kongresses derjenige, der am meisten „omnipräsent“ zu sein hatte.52 Das galt bis zur definitiven Fertigstellung des Gesamtpakets der Kongressakte in seinem Büro der Staatskanzlei am 9. Juni 1815. Betrachtet man die Problemfelder, auf denen sich Metternich besonders nachdrücklich als Schlichter und Streiter einschaltete, lassen sich zwei Typen unterscheiden. Die Krisenthemen entzündeten sich im Widerstreit der vier Alliierten und konnten bis an die Substanz der Koalition gehen. Diese Themen stellten stets die Dominanzfrage in Europa und nahmen das Krisenmanagement des Wiener Systems nach 1815 vorweg. Die Konfliktthemen wurden auf der Ebene darunter ausgetragen und mündeten erheblich leichter in einen Konsens. Die „Deutsche Frage“ nahm für Metternich eine Sonderrolle ein; von seiner Biografie her waren hier seine eigenen, dem Alten Reich verpflichteten Traditionsbindungen am stärksten angesprochen.

IV. Der Johannisberg Der Rhein fließt in meinen Adern, ich fühle es, und deshalb entzückt mich sein Anblick.53 Das gestand Metternich am 22. August 1857, knapp zwei Jahre vor seinem Tod, vom Johannisberg aus seiner Tochter Leontine. So konnte der alte Staatskanzler schreiben, weil ihm Kaiser Franz (1768–1835) im Jahre 1816 die Domäne Johannisberg als Dank für die großen Verdienste bei der Durchführung des Wiener Kongresses geschenkt hatte – sehr zum Kummer und zum Zorn des Freiherrn vom Stein, der sich inständig dieses Kleinod des Rheintals gewünscht hatte.

52 Vgl. insgesamt die ausgewogene, treffende Würdigung der Rolle Metternichs bei der Konzeption, Organisation und Durchführung des Wiener Kongresses bei Stauber. 53 Metternich aus Johannisberg, 22.8.1857, an Tochter Leontine, Nationalarchiv Prag, Acta Clementina, Abteilung 14, Karton 10, 193; vgl. Metternich, Papiere, Bd. 8, S. 276.

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Abb. 21  Der Johannisberg zur Barockzeit, Zeichnung von Carl Hemerlein (1807–1884), Original: Schloss Königswart.

Schon bei seinem ersten Besuch am 12. September 1816 war Metternich überwältigt. Er war am späten Nachmittag eingetroffen und versuchte, seiner in Wien weilenden Gemahlin ein Bild zu beschreiben, das sich ihm bot: Ich bin noch frühzeitig genug gekommen, um von meinem Balkon aus zwanzig Meilen des Rheinlaufes zu sehen, acht oder zehn Städte, an die hundert Dörfer und Weinberge, die dieses Jahr für zwanzig Millionen Wein geben werden, unterbrochen von Wiesen und Äckern, Gärten gleich, von stattlichen Eichenwäldern und eine weite Ebene, von Bäumen bedeckt, die sich unter der Last von vorzüglichen Früchten biegen.54 Das südländisch anmutende Flair der Landschaft konnte ihm in der Heimat einen Hauch von Italien herzaubern, das er kurz zuvor auf seinen Reisen während der Jahre 1816 und 1817 lieben gelernt hatte. Der Johannisberg hatte ursprünglich noch eine barocke Bauform. Metternich ließ ihn, wie Königswart, im klassizistischen Stil umbauen. Die ihm vertraute Geschichte, die gepflegte Kulturlandschaft, die milde Witterung des Rheintals, die reiche Vegetation, die Weite und Erhabenheit des Blicks hielten ihn 54 Staab, Josef u. a. (Hgg.), Schloss Johannisberg. Neun Jahrhunderte Weinkultur am Rhein. Mainz [2001], S. 82; das französische Original in Nationalarchiv Prag, Acta Clementina, Abteilung 12, Karton 2, 10.

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zeitlebens gefangen. Sie rissen ihn noch im August 1857 bei seinem letzten Besuch vor seinem Lebensende hin zu einer Liebeserklärung an den Rhein: Dieser Strom ist, alles erwogen, einzig in seiner Art, denn er vereinigt alles, was Natur und Zivilisation an Reizen darbieten können. Diese Eingebung verdichtete sich für ihn in Nikolaus Beckers (1809– 1845) Rheinlied. Dessen fünf Worte Sie sollen ihn nicht haben lieferten einen Beweis dieser Wahrheit [des Rheinerlebnisses] und des Nationalgefühles, das sie hervorruft. Hier ließ er seinen vielzitierten Spruch folgen: Der Rhein fließt in meinen Adern …55 Dieser Panoramablick lockte auch viele Besucher, denn Metternich führte ein offenes Haus. Fremde durften sich in einem Einschreibbuch eintragen und hatten bis 1857 zwei große Foliobände gefüllt.56 Triviale Worte reihten sich an – seltene – aphoristische Geistesblitze. Mit seinem Gespür für feine Ironie kommentierte er den Reigen literarischer Ergüsse: Meine lieben Deutschen, zumal die aus dem Norden, finden es lustig, ihren Geist überall blicken zu lassen. Eine ganze Litanei schlechter Verse findet sich da bei unbekannten Namen. Die einzige Unterschrift, die mir Freude bereitet in meinem Buch, ist die eines unserer begabtesten Dichter, eines gewissen Jean-Paul; er ist in Deutschland berühmt – und er meint die Zeilen: Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Der Gastfreundschaft Metternichs, der Künstler gern willkommen hieß, verdanken wir die kunstvollen Abbildungen des Johannisbergs. Der aus Mainz gebürtige Historienund Landschaftsmaler Carl Hemerlein (1807–1884), geschult an der Wiener Akademie der bildenden Künste, hatte sich in den Pariser Ateliers weitergebildet, bis er 1837 nach Deutschland zurückkam und die Bekanntschaft Metternichs machte. Als Dank für einen längeren Aufenthalt auf dem Schloss hat er dem Minister eine kostbare Huldigungsmappe mit kunstvollen Aquarellen zum Johannisberg zusammengestellt, sodass wir auch in die im Zweiten Weltkrieg zerstörten Innenräume blicken können.57 Während der Sommeraufenthalte weilte Metternich in Königswart und Plaß, danach fuhr er in „sein Italien“: zum Johannisberg. Aber auch in Königswart vergaß er nie die lieblichen Rheingegenden. In seinem kleinen Arbeitszimmer hatte er an den Wänden immer zahlreiche Gemälde vom Rhein und seiner Landschaft, wie sie der heutige Besucher bei einem Rundgang durch das fabelhaft restaurierte Schloss immer noch bewundern kann. Und der Johannisberger, der damals vielgerühmte Wein, begleitete ihn überallhin, auch nach Wien. Der Johannisberg als Stätte und dessen geschätzte Gaben ließen den kritischen Heinrich Heine (1797–1856) mit seltenem und überraschendem Wohlwollen auf den bei seinen literarischen Zeitgenossen vielgeschmähten Metternich schauen: 55 Metternich aus Johannisberg, 22.8.1857, an Tochter Leontine, Nationalarchiv Prag, Acta Clementina, Abteilung 14, Karton 10, 193; vgl. Metternich, Papiere, Bd. 8, S. 276. 56 Der 2. Band (1838–1857) und der angefangene 3. befinden sich in der Bibliothek in Königswart. 57 Die Mappe befindet sich in Schloss Königswart.

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Ich weiß, Metternich denkt oft an mich und hat mich gern; auch ich habe ihn gern, lasse mich nicht täuschen durch seine politischen Bestrebungen, und ich bin überzeugt, der Mann, der den Berg besitzt, wo der flammende, liberale Johannisberger wächst, kann im Herzen den Servilismus und den Obskurantismus nimmermehr lieben. Es ist vielleicht eine Weinlaune von ihm, dass er der einzige freie und gescheute Mensch in Österreich sein will? Ich habe den Wein, der dort wächst, immer für den besten gehalten und für einen gar klugen Vogel hielt ich immer den Herrn des Johannisbergs; aber mein Respekt hat sich noch vermehrt, seitdem ich weiß, in welchem hohen Grade er meine Gedichte liebt.58

58 Bäder von Lucca, in: Heine, Heinrich, Historisch-kritische Gesamtausgabe, hg. v. Manfred Windfuhr, 16 Bände, Hamburg 1975–1997, Band 7,1, S. 429.

Staat, Kommunen und Akteure

… beynahe gänzliche Vernachlässigung der Einländer?

Kommunale und staatliche Verwaltung im Übergang vom Empire français zum Königreich Preußen Martin Schlemmer

I. Einleitung Ein Land als patriarchalisch verfasstes System, als „Familie“, mit dem Herrscher, dem Fürsten an der Spitze – dieses Modell befand sich, wie Jürgen Osterhammel in seinem vielbeachteten Werk „Die Verwandlung der Welt“ konstatiert, bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf dem Rückzug. Die staatliche Verwaltung entwickelte sich auch in unserem Betrachtungsraum, dem Rheinland im Sinne der seit 1822 vereinigten Rheinprovinz, mehr und mehr zur „Herrschaftsagentur“1. „[P]atrimoniale Verwaltungsstäbe“ waren im Begriff, sich allmählich zu „rationale[n] Bürokratien“ zu wandeln, eine Entwicklung, an welcher die Französische Revolution und die Herrschaft Napoleons respektive der Napoleoniden in verschiedenen Satellitenstaaten maßgeblichen Anteil hatten.2 Preußen wurde, so Lutz Raphael, „vom revolutionären Frankreich militärisch und administrativ in den Schatten gestellt“3. In Stendhals (1783–1842) 1830 erschienenem Roman „Rot und Schwarz“ („Le Rouge et le Noir“) heißt es in Hinblick auf den Bürgermeister des burgundischen Städtchens Verrières, den Nagelfabrikanten Monsieur de Rênal: „1815 hat ihn zum Bürgermeister von Verrières gemacht“4. Zumindest wenn wir der Schilderung des Romanciers Glauben schenken, handelt es sich bei dem Jahr 1815 im Bereich der kommunalen Verwaltung des nachnapoleonischen Frankreich also um ein Jahr der Zäsur. Wenden wir uns im Folgenden der Frage zu, inwiefern sich Ähnliches von den Verhältnissen in den 1815 an Preußen gefallenen und später in der Rheinprovinz zusammengefassten Gebieten im Westen des entstandenen Deutschen Bundes sagen lässt.5 Dabei 1 Vgl. Osterhammel, Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), 2. Aufl., München 2009, S. 866 f. 2 Ebd., S. 868. 3 Raphael, Lutz, Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert (Fischer 60158, Europäische Geschichte), Frankfurt am Main 2000, S. 53. 4 Stendhal, [Henri-Marie Beyle], Rot und Schwarz. Chronik aus dem 19. Jahrhundert, hg. u. übersetzt von Elisabeth Edl, 4. Aufl., München 2012, S. 11 (Titel der Originalausgabe: Le Rouge et le Noir, erschienen Paris. 1830). 5 Zum Wiener Kongress und der aus diesem resultierenden Neuordnung der europäischen Staatenwelt vgl. den Beitrag von Dominik Geppert im vorliegenden Tagungsband. Zuletzt verwies Gerd Fesser in einer Besprechung darauf, dass das Ausgreifen Preußens an den Rhein in der deutschen Forschung nicht mehr

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haben wir sowohl die kommunale als auch die nachgeordnete Ebene der staatlichen Verwaltung im Blick. Zwei Tage nach der ersten Sitzung der neu eingerichteten preußischen Regierung in Köln, am 24. April 1816, hielt ein gewisser Lehrer Schmitz aus ebendieser Stadt schriftlich fest, dass die beynahe gänzliche Vernachlässigung der Einländer […] auch dem Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten Friedrich zu Solms-Laubach (1769–1822) nicht angenehm sei.6 Erfolgte also auch in den nun zum preußischen Staat gehörenden Gebieten ein mehr oder weniger vollständiger Austausch des Verwaltungspersonals vor Ort? Oder gab es auch Fälle einer personellen Kontinuität über das Ende des Empire français hinaus? Bislang wurde dieser Aspekt in Teilen, jedoch noch nicht umfassend für die ganze Rheinprovinz, geschweige denn im regionalen Vergleich, erforscht: Sabine Graumanns Monografie zur französischen Verwaltung am Niederrhein aus dem Jahr 1990 befasst sich ausschließlich mit dem Roerdepartement und endet im Jahr 1814.7 Und um das Zeitrad noch ein wenig weiter zurückzudrehen: Die Dissertation von Norbert Schindlmayr aus dem Jahr 1969 hat die preußische Personalpolitik in der Rheinprovinz zum Gegenstand, beschränkt sich jedoch auf die Jahre 1815 bis 1848 und auf die Regierungsbezirke Koblenz und Trier, archivisch betrachtet auf die Archive in Koblenz (damals Staatsarchiv) und Merseburg (damals Deutsches Zentralarchiv).8 Schindl­mayr überträgt seine auf statistischen Erhebungen beruhenden Ergebnisse auf die gesamte Rheinprovinz.9 Wenig zuvor hatte sich August Klein in seiner 1967 erschienenen Monografie zur preußischen Personalpolitik auf die Verhältnisse im Regierungsbezirk Köln und auf das Personal in den Regierungen sowie die Landräte kapriziert.10 Auch Klein arbeitet nicht vergleichend, erhebt aber – anders als Schindlmayr – ausdrücklich nicht den Anspruch auf Übertragung der Resultate auf das gesamte Rheinland.11

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so negativ gesehen wird, wie dies in der französischen Geschichtswissenschaft wohl noch überwiegend der Fall ist (vgl. Fesser, Gerd, Besprechung von: Thierry Lentz, 1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas, und: Eberhard Straub, Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63,4 [2015], S. 390 f., hier S. 390). Zit. n. Herres, Jürgen, Köln in preußischer Zeit. 1815–1871 (Geschichte der Stadt Köln, Bd. 9), Köln 2012, S. 55. Graumann, Sabine, Französische Verwaltung am Niederrhein. Das Roerdepartement 1798–1814 (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, Bd. 27), Essen 1990. Schindlmayr, Norbert, Zur preußischen Personalpolitik in der Rheinprovinz. Eine Untersuchung über die Anstellung der höheren Regierungsbeamten und der Landräte in den Regierungsbezirken Koblenz und Trier zwischen 1815 und 1848, Köln 1969. Vgl. ebd., S. 3. Klein, August, Die Personalpolitik der Hohenzollernmonarchie bei der Kölner Regierung. Ein Beitrag zur preußischen Personalpolitik am Rhein (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein insbesondere das Alte Erzbistum Köln, Bd. 10), Düsseldorf 1967. Vgl. ebd., S. 9.

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Kritik blieb nicht aus: Dieter Poestges moniert in seiner 1975 veröffentlichten Dissertation zur preußischen Personalpolitik im Regierungsbezirk Aachen12 die in seinen Augen unsaubere Arbeitsweise von Klein und Schindlmayr und mahnt ein mehr vergleichendes Vorgehen an. Klein wirft er eine undifferenzierte und willkürliche Verwendung des „Altpreußen“-Begriffes vor,13 beiden Autoren legt er zur Last, dass sie „die Berichte der Organisationskommissare nur unvollständig oder fehlerhaft ausgewertet“14 hätten. Rüdiger Schütz stellt in seiner 1979 erschienenen Habilitationsschrift „Preußen und die Rheinlande“ die Bedeutung der Oberpräsidialbehörde im Rahmen des preußischen Verwaltungssystems, die Auseinandersetzung um die rheinische Kommunalordnung sowie die verfassungspolitischen Bemühungen um die Integration der Rheinlande in den preußischen Staatsverband in den Mittelpunkt seines Interesses.15 Im Jahr 1992 legte Manfred Koltes seine vielbeachtete Untersuchung zum „Rheinland zwischen Frankreich und Preußen“ vor, die zahlreiche bemerkenswerte Aspekte unter dem Stichwort „Kontinuität und Wandel“ einer Betrachtung unterzieht und in Ansätzen den Vergleich mit nichtpreußischen Regionen – namentlich mit der später bayerischen Pfalz – anstrengt.16 Französische oder deutsche nichtpreußische Archivbestände wurden bei keiner der letztgenannten Untersuchungen herangezogen. Immerhin hat Wolfgang Hans Stein vor einiger Zeit eine Übersicht zu den im Landeshauptarchiv Koblenz vorhandenen Unterlagen der französischen Besatzungsverwaltungen vorgelegt.17 Die Akten zum Schriftwechsel der Generaldirektion der Lande zwischen Rhein und Mosel (Direction générale des pays conquis d’entre Rhin et Moselle) mit den einzelnen Büros der Domänen und Steuern18 erlauben Aufschluss über die Personengruppe der „Einnehmer“, in den Akten zur Personalverwaltung finden sich Unterlagen, die Beamten- und Personallisten enthalten19 oder das Bewerbungsverfahren im Rahmen der Besetzung einer Einnehmer-

12 Poestges, Dieter, Die preußische Personalpolitik im Regierungsbezirk Aachen von 1815 bis zum Ende des Kulturkampfes, o. O. [Aachen] 1975. 13 Vgl. ebd., S. 26. 14 Ebd., S. 193. 15 Schütz, Rüdiger, Preußen und die Rheinlande. Studien zur preußischen Integrationspolitik im Vormärz (Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815–1945, Reihe A, Bd. 7), Wiesbaden 1979. 16 Koltes, Manfred, Das Rheinland zwischen Frankreich und Preußen. Studien zu Kontinuität und Wandel am Beginn der preußischen Herrschaft (1814–1822) (Dissertationen zur neueren Geschichte, Bd. 22), Köln/Weimar/Wien 1992, für den Vergleich mit der bayerischen Pfalz etwa S. 488 f. 17 Stein, Wolfgang Hans (Bearb.), Die Akten der französischen Besatzungsverwaltungen 1794–1797. Landeshauptarchiv Koblenz Bestand 241,001–241,014 (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 110), Koblenz 2009. 18 Vgl. ebd., S. 110–122. 19 Vgl. ebd., S. 61.

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stelle transparent machen20. Für den Bereich Schule verdienen etwa die „Berichte der Munizipalitäten bzw. Erklärungen der Geistlichen und Schullehrer“ Aufmerksamkeit.21 Der auf verschiedene Tagungen und Veranstaltungen zurückgehende, 2009 erschienene Sammelband „Frankreich am Rhein“22 hingegen spart den Bereich der Verwaltung zugunsten anderer Untersuchungsschwerpunkte nahezu völlig aus. Der zwei Jahre zuvor publizierte Begleitband zur Ausstellung „Napoleon. Trikolore und Kaiseradler über Rhein und Weser“23 setzt einige auch für unser Thema relevante Akzente; er ist vergleichend angelegt und nimmt auch Nachbarterritorien in den Blick, wenngleich aufgrund der zahlreichen Autorinnen und Autoren vieles unverbunden nebeneinander stehen bleibt. Natürlich kann auch dieser Beitrag das Desiderat einer ebenso übergreifenden wie vergleichenden Untersuchung des Übergangs der Verwaltung von Frankreich auf Preußen nicht ansatzweise in Angriff nehmen; er soll vielmehr einen knappen Überblick bieten, Fragestellungen aufzeigen und punktuelle „Probebohrungen“ vornehmen.

II. Die Entwicklung der Verwaltung vom Ende des Ancien Régime bis zum Ende des Empire français Wie sah es nun seit den 1790er Jahren im französisch besetzten Gebiet des Ancien Régime links des Rheines aus? Ständige Umorganisationen und Änderungen der Sprengelzuschnitte ließen bis zum Jahr 1798 dauerhafte Verwaltungsstrukturen nicht zu. Seit 1794 waren im linksrheinischen besetzten Gebiet mit Zivilisten bestückte Verwaltungen eingerichtet worden, die den Armeen zugeordnet waren: im Norden der Sambre-Maas-­ Armee, im Süden der Rhein- und der Mosel- beziehungsweise dann der Rhein-Mosel-­ Armee.24 Hauptsitz des Roerdepartements wurde nicht Köln als größte Stadt, sondern das wesentlich überschaubarere Aachen.25 Integrierte die neue französische Verwaltung auf der Ebene der Departementsleitung zunächst noch recht viele Einheimische, die sich als republikanisch gesinnt zu erkennen gegeben hatten, so nahm deren Anteil schon sehr bald zugunsten französischer Verwaltungskräfte rapide ab, wie Sabine Graumann vor geraumer Zeit herausgearbeitet hat.26 Manche Verwaltungszweige, wie die Forstverwaltung, wurden, auch wenn die Führungsebene mehrheitlich Franzosen vorbehalten 20 Vgl. ebd., S. 107. 21 Vgl. ebd., S. 137–142. 22 Theis, Kerstin/Wilhelm, Jürgen (Hgg.), Frankreich am Rhein. Die Spuren der „Franzosenzeit“ im Westen Deutschlands (Eine Veröffentlichung des Landschaftsverbandes Rheinland), Köln 2009. 23 Veltzke, Veit (Hg.), Napoleon. Trikolore und Kaiseradler über Rhein und Weser, Köln/Weimar/Wien 2007. 24 Vgl. die kurze und prägnante Übersicht über die Verwaltungsgliederung bei Stein, Akten, S. 2 f. 25 Vgl. Graumann, Verwaltung, S. 103. 26 Vgl. ebd., S. 103 f.

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blieb, nahezu ausschließlich mit Einheimischen besetzt.27 In der Zollverwaltung verhielt es sich hingegen genau umgekehrt: Die Einnehmer der Zolldirektion Köln waren im Jahr 1809 zu 83 Prozent gebürtige Franzosen und nur zu 3 Prozent gebürtige Rheinländer.28 Die Erschütterungen, die Zäsur, welche die französische Zeit für den reichsunmittelbaren beziehungsweise landsässigen grundbesitzenden rheinischen Adel bedeutete, hat Ende der 1990er Jahre Carl Heiner Beusch umfassend dargestellt.29 Der in den vorrevolutionären rheinischen Territorien privilegierte und politisch führende Adel büßte diese Stellung mit der Franzosenzeit ein und erlangte sie auch unter preußischer Herrschaft nicht wieder. An die Stelle der althergebrachten Ständegesellschaft des Ancien Régime trat nun ein bürgerlicher Etatismus.30 Die Verwaltung erfuhr also in französischer Zeit eine allenthalben spürbare, tiefgreifende Reform, welche der „straff bürokratisch geordnete[] territoriale[] Machts­ staat  [!]“31 mit sich brachte: Ein System von Statthaltereien, den Mairies, wurde eingerichtet, in der Regel auf der Basis von ein bis zwei Pfarren, während einem Zwischensystem mit „Munizipalitäten“ nur kurze Dauer beschieden war. Seit der napoleonischen Verwaltungsreform des Jahres 1800 präsentierte sich die französische Verwaltungsstruktur auch am Rhein wie folgt: Den Mairies stand ein staatlich ernannter Statthalter, der Maire, vor, welcher der traditionellen kommunalen Selbstverwaltung ein Ende setzte.32 Rasch war die rheinische Bevölkerung jedoch bereit, dieses Weniger an kommunaler Freiheit zugunsten eines Mehr an staatsbürgerlicher Freiheit in Kauf zu nehmen.33 Die der Mairie übergeordnete Einheit war der Kanton. Die Kantone wiederum waren zu von Unterpräfekten geleiteten Kreisen (Arrondissements) und diese schließlich zu von Präfekten geleiteten Abteilungen (Departements) zusammengefasst.34 Ein Beispiel aus dem Raum Neuss-Grevenbroich35: Die Pfarren Neukirchen und Hoisten bildeten die „Mairie d’­­Hulchrath“, welche zum „Canton d’Elsen“ gehörte, welcher im „Arrondissement de Cologne“ lag, das zum „Departement de la Roer“ gehörte, Hauptstadt Aachen – Aix la Chapelle. 27 Vgl. ebd., S. 135 f. 28 Vgl. ebd., S. 128. 29 Vgl. Beusch, Carl Heiner, Adlige Standespolitik im Vormärz: Johann Wilhelm Graf von Mirbach-Harff (1784–1849) (Historia profana et ecclesiastica, Bd. 3), Münster/Hamburg/London 2001, hier insbesondere S. 3–6. 30 Ebd., S. 4. 31 Rowe, Michael, From Reich to State. The Rhineland in the Revolutionary Age, 1780–1830 (New Studies in European History), Cambridge 2003, S. 157. 32 Rummel, Walter, Das Nachwirken der französischen Herrschaft im preußischen Rheinland des 19. Jahrhunderts, in: Theis/Wilhelm, Frankreich, S. 131–144, hier S. 140. 33 Vgl. ebd., S. 141. 34 Vgl. Rowe, Reich, S. 149. 35 Vgl. hierzu Wiltsch, Christian, Neukirchen-Hülchrath (Beiträge zur Geschichte der Stadt Grevenbroich, Bd. 18), Grevenbroich 2006, S. 215–218.

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Gemeinde- und Gerichtsverwaltung wurden voneinander getrennt, Schöffen vor Ort existierten nicht mehr, stattdessen Friedensgerichte an zentralen Orten. Die bisher von den Schöffen erledigten Geschäfte wurden neu eingesetzten, republikanisch approbierten Notaren übertragen, die zudem der französischen Sprache mächtig sein mussten. Das bürgerliche Gesetzbuch trat an die Stelle des althergebrachten Gewohnheitsrechtes. Ende des Jahres 1797 mussten alle Beamten den Treueeid auf die französische Republik leisten. In der Mairie wurden auch die Urkunden über den Familienstand geführt, war also das Standesamt als neue Verwaltungseinheit angesiedelt. Wenn Jürgen Herres konstatiert, dass sich nach der preußischen Besitzergreifung ein „sub-staatlicher – oder nicht-staatlicher – Regionalismus entwickelt[]“ habe, ist hervorzuheben, dass sich dieser Regionalismus nicht etwa an der Staatenwelt des untergegangenen Ancien Régime orientierte – wenngleich es beispielsweise in den Städten Köln und Aachen durchaus Kreise gab, die sich nach dem Status der Reichsstadt zurücksehnten36 –, sondern an den Räumen, welche die französische Verwaltungsorganisation kreiert hatte.37 In dieser Form lebten die administrativen Errungenschaften der „Franzosenzeit“ weiter, ja sie entwickelten sogar identitätsstiftende Kraft.

III. Die Neuordnung der Verwaltung unter preußischer Herrschaft 1. Die Neustrukturierung der Verwaltung Der preußische Staat hatte mit seinen Reformen der Jahre 1806/07 den Versuch unternommen, auch auf dem Gebiet der Verwaltung den von Lutz Raphael konstatierten Rückstand gegenüber dem revolutionären beziehungsweise napoleonischen Frankreich wettzumachen. Gleichzeitig sollte die althergebrachte Ständeordnung in die neue Zeit hinübergerettet werden. Die preußischen Reformen brachten bereits einige Neuerungen für die Verwaltung: Auf der höheren Ebene wurden Ministerien nach dem Ressortprinzip gebildet, die Justiz von der übrigen Verwaltung getrennt. Auf der mittleren Ebene galt das Territorialprinzip, wurden Provinzen38 geschaffen, bestehend aus einer jeweils differierenden Zahl von Regierungsbezirken.

36 Vgl. Rowe, Reich, S. 256; Herres, Jürgen, Rhein-Preußen. Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im 19. Jahrhundert, in: Groten, Manfred (Hg.), Die Rheinlande und das Reich. Vorträge gehalten auf dem Symposium anlässlich des 125-jährigen Bestehens der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde am 12. und 13. Mai 2006 im Universitätsclub in Bonn, veranstaltet von der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde in Verbindung mit dem Landschaftsverband Rheinland (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Vorträge 34), Düsseldorf 2007, S. 159–202, hier S. 172. 37 Vgl. Herres, Rhein-Preußen, S. 164. 38 Vgl. Poestges, Personalpolitik, S. 27.

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Anders als im napoleonischen Verwaltungsapparat waren die preußischen Mittelbehörden nach wie vor kollegial strukturiert; auf der Provinzebene bildete ein Oberpräsident quasi den Transmissionsriemen zwischen den Regierungen auf Bezirksebene und der zentralen Regierung in Berlin, ohne jenen direkt vorgesetzt zu sein.39 Die elementare Verwaltungseinheit der unteren Ebene war in Preußen der Landkreis, „eine in den ostelbischen Landesteilen tradierte Verwaltungseinheit“40. Hier partizipierte der Adel in besonderer Weise an der Exekutive, nicht zuletzt, weil das Amt des Landrats lange Zeit außerhalb der regulären staatlichen Beamtenordnung, also außerhalb der Ämterlaufbahn des höheren Verwaltungsdienstes stand. Es wurde bevorzugt an politisch zuverlässige Mitglieder des landsässigen Adels vergeben, sodass noch im Jahr 1910 etwa 58 Prozent der preußischen Landrat-Stellen mit Adeligen besetzt waren.41 Der preußische Staat war bemüht, regionale administrative Traditionen und Gepflogenheiten zu achten; dies galt für die östlichen Provinzen ebenso wie für den nach 1815 neu ins Staatsgebiet zu integrierenden Westen. Lutz Raphael formuliert in diesem Zusammenhang die Faustregel: „Von West nach Ost nahm die Staatlichkeit der Verwaltung ab“.42 In Preußen waren die Städte, anders als im Rheinland der Franzosenzeit, mit großzügigen Selbstverwaltungskompetenzen ausgestattet. Das Bürgertum, das sich aufstiegsorientiert und ambitioniert gab, wurde in den Aufbau der neuen Verwaltungselite einbezogen. Diese Berücksichtigung des Bürgertums stellte eine Parallele zur napoleonischen Verwaltung dar.43 Im Unterschied zu Frankreich differenzierte die höhere preußische Beamtenschaft in ihrem ausgeprägten Zusammengehörigkeitsgefühl jedoch nicht mehr strikt zwischen Adel und Bürgertum.44 Lenken wir den Blick nun also auf die Verhältnisse im Rheinland: Nachdem die französische Herrschaft am Rhein mit der Überschreitung dieses Stromes durch die Alliierten im Januar 1814 beseitigt worden war, richteten die Sieger eine provisorische Verwaltung ein, die, obzwar sie ausschließlich in preußischer Obhut lag, in vielerlei Hinsicht Kontinuitäten zu den soeben abgelösten Verwaltungsstrukturen aufwies. Diese Feststellung gilt für die Einteilung der Verwaltungsgrenzen ebenso wie für die behördlichen Ämter und Strukturen: Aus dem Souspräfekt wurde der Kreisdirektor, aus dem Maire der Bürgermeister, aus dem Adjoint der Beigeordnete, aus dem Municipalrat der Stadtrat. Die Departements Roer, Nieder-Maas und Ourthe wurden Anfang 1814 ersetzt durch das Generalgouvernement Niederrhein mit dem Geheimen Staatsrat Johann August Sack (1764–1831) als in Aachen residierendem Generalgouverneur. Im Süden wurden am 2. Februar 1814 die Departements Rhein-Mosel, Saar und Donnersberg zum General39 40 41 42 43 44

Vgl. Raphael, Recht, S. 53 f. Ebd., S. 54. Vgl. ebd., S. 57. Ebd., S. 55. Vgl. ebd., S. 55 f. Vgl. ebd., S. 56.

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gouvernement Mittelrhein unter Generalgouverneur Justus Gruner (1777–1820) mit wechselndem Amtssitz – zunächst Trier, dann Koblenz und zuletzt Mainz – zusammengefasst; am 9. März 1814 kam noch das Wälderdepartement hinzu.45 Die „Kollaborateure“ der französischen Verwaltung standen beim Zurückweichen der französischen Truppen vor der Wahl, ebenfalls die Flucht zu ergreifen und den Weg nach Westen anzutreten oder auf eine (Weiter-)Verwendung auf Seiten der alliierten Sieger zu hoffen. Die Präfekten verließen ihre Departements und setzten sich angesichts der anrückenden alliierten Verbände ab, ebenso über die Hälfte der Unterpräfekten. Die Bürgermeister und die Forstbeamten – jeweils überwiegend Einheimische – verblieben mehrheitlich in ihren Städten und Dörfern, während die Steuereinnehmer, die der Bevölkerung regelrecht verhasst waren, in großer Zahl das Rheinland verließen, ebenso die zum größten Teil französischen Zöllner und Gendarmen.46 Da die preußische „Säuberungskampagne“, so Koltes, nach 1815 „ohnehin nicht mit gleicher Intensität betrieben“ worden sei wie ursprünglich vom Freiherrn vom Stein angedacht, habe „sich hier auch eine ganze Reihe von Franzosen im Staatsdienst halten“ können.47 Während die Weiterbeschäftigung von Deutschen, die in französischen Verwaltungsdiensten gestanden hatten, auf preußischer Seite zu keinem Zeitpunkt wirklich umstritten war, sah dies bei gebürtigen Franzosen deutlich anders aus: Hier standen ganz pragmatische Erwägungen im Vordergrund, insbesondere die Aufrechterhaltung der notwendigen Verwaltungsfunktionen.48 Die Wiener Besitzergreifungspatente des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. vom 5. April 1815 beendeten das Provisorium am Rhein.49 Der Übergang ging mitunter allerdings recht schleppend voran, die Reorganisation der Verwaltung bedurfte einer gewissen Zeit. So drängte der zuständige Kreiskommissar den Neusser Bürgermeister im Mai 1816, die noch häufigen Aushängeschilder in französischer Sprache 50 durch eine deutschsprachige Beschilderung zu ersetzen. Mit der „Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzialbehörden“ vom 30. April 1815 wurden am Rhein zwei preußische Provinzen mit insgesamt 1,9 Millionen Einwohnern51 errichtet: zum einen die Provinz Großherzogtum Niederrhein mit den Regierungsbezirken Koblenz und Köln; zum anderen die Provinz Kleve-Berg, später Jülich-Kleve-Berg genannt52, 45 46 47 48 49

Vgl. Schütz, Preußen, S. 20 f. Vgl. Rowe, Reich, S. 222 f. Koltes, Rheinland, S. 489. Vgl. ebd., S. 129 f. Vgl. Engels, Wilhelm, Geschichte der Stadt Neuss, Teil 3: Die preußische Zeit 1814/15 bis 1945 (Schriftenreihe des Stadtarchivs Neuss 10, Teil 3), Neuss 1986, S. 192. 50 Zit. n. ebd., S. 194. 51 Vgl. Herres, Rhein-Preußen, S. 166. Rowe, Reich, S. 145, nennt für den deutschsprachigen linksrheinischen Raum für die 1790er Jahre eine Bevölkerungszahl von 1,5 bis 1,6 Millionen. 52 Vgl. hierzu Waldecker, Christoph, Rheydt 1815–1974, in: Löhr, Wolfgang (Hg.), Loca Desiderata. Mönchengladbacher Stadtgeschichte, Bd. 3.1, Köln 2003, S. 241–372, hier S. 242.

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Abb. 22  „Register Charte der Königl. Preuss. Provinz Nieder-Rhein“, entworfen und gezeichnet von F. W. Streit, Königl. Preuss. Hauptmann der Artillerie, 1826.

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Abb. 23  Das Kurfürstliche Schloss in Koblenz, bis 1911 Sitz des Oberpräsidenten der vereinigten Rheinprovinz.

mit den Regierungsbezirken Kleve und Düsseldorf. Sack wurde Oberpräsident in Kleve-Berg, Graf Solms-Laubach im Großherzogtum Niederrhein. Nach Spannungen zwischen Solms-Laubach und Sack sowie einer Intrige gegen Letzteren und damit verbundenen Umorganisationen der Provinzen kam es am 10. Januar 1816 zu einer erneuten Umstrukturierung: Nun wurden die inzwischen neu geschaffenen Regierungsbezirke Aachen und Trier mit dem Regierungsbezirk Koblenz der Provinz Großherzogtum Niederrhein zugeordnet, während die Regierungsbezirke Düsseldorf, Kleve und Köln die Provinz Jülich-Kleve-Berg bildeten.53 Am 22. April 1816 trat die neue Verwaltungsorganisation für die Provinzen am Rhein in Kraft. Nach Solms-Laubachs Ableben wurden die Provinzen Jülich-Kleve-Berg und Niederrhein im Jahr 1822 vereinigt, Koblenz wurde Sitz des Oberpräsidenten der vereinigten Rheinprovinz.54 Auch die mit Verfügung vom 30. April 1815 vorgenommene Einteilung der Provinzen am Rhein in vier Regierungsbezirke war nicht von Dauer: Nach dem im Zweiten Pariser Frieden beschlossenen Anfall des Gebietes an der Saar an Preußen erfolgte eine Umorganisation der Regierungsbezirke. Allein Kleve blieb unangetastet, während Düssel-

53 Vgl. Beusch, Standespolitik, S. 42 f.; S. 50 f. 54 Vgl. Waldecker, Rheydt, S. 242, Anm. 8; Herres, Rhein-Preußen, S. 167.

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dorf Gebiete im Rechtsrheinischen an Köln und Koblenz verlor. Diese gaben wiederum Gebiete an die neu geschaffenen Regierungsbezirke Aachen und Trier ab.55 Wir können festhalten, dass Preußen den durch die Zugehörigkeit zum französischen Empire links des Rheinstroms geschaffenen einheitlichen Verwaltungs- und Rechtsraum akzeptierte und in seinem Bestand zunächst nicht in Frage stellte.56 Als dies dann insbesondere im juristischen Bereich doch recht bald der Fall war, leisteten die rheinischen Protagonisten lange hartnäckigen Widerstand und verteidigten das „französische“ – oder besser: ihr „rheinisches Recht“.57 Ebenso war man in den Provinzen am Rhein geneigt, an der französischen Kommunalverfassung aus dem Jahr 180058 festzuhalten, welche die rheinischen Städte nach dem Übergang zu Preußen der preußischen Städteordnung des Reichsfreiherrn vom Stein aus dem Jahr 1808 vorzogen, obwohl jene den Kommunen deutlich weniger Spielraum in Sachen Selbstverwaltung zugestanden hatte. Dafür galt sie gleichermaßen für Stadt und Land und an diesen Baum der kommunalpolitischen Rechtsgleichheit ließen die Rheinländer Berlin nicht die Axt unterschiedlicher Kommunalordnungen anlegen. Mit den Worten von Helmut Rönz: „Die Rechtsgleichheit zwischen Stadt und Land war für das bürgerliche Rheinland lange Zeit ein Dogma“.59 Die Regierungsseite hingegen sah in der französischen Munizipalverfassung eine Negierung der ständischen Verfasstheit des preußischen Staates mit klar voneinander zu unterscheidenden Ebenen von Ritterschaft, Städten und Landgemeinden.60 Dies alles trug dazu bei, dass Preußen politisch nicht die Herzen der Bevölkerung im Westen gewinnen konnte. „Preußens Ansehen gründete sich besonders auf die Leistungen seiner Bürokratie seit der Reformzeit, auf seinen Vorsprung in der industriellen Entwicklung und auf seine Führungsrolle im Zollverein“.61 Doch es bedurfte einiger Zeit, bis diese Feststellung des Frühneuzeithistorikers Eberhard Weis zutreffen sollte. Im Jahr 1815 war eine solche Entwicklung noch nicht absehbar.

55 Vgl. Poestges, Personalpolitik, S. 28. 56 Vgl. Koltes, Rheinland, S. 128. 57 Vgl. Rummel, Nachwirken, S. 138–143; stärker noch der Fokus auf dem rechtlichen Aspekt bei Strauch, Dieter, Der Einfluss des französischen Rechts auf die rheinische und deutsche Rechtsentwicklung im 19. Jahrhundert, in: Theis/Wilhelm, Frankreich, S. 161–180; Ohl, Thomas, Cinq Codes. Vom Französischen zum Rheinischen Recht, in: Veltzke, Napoleon, S. 109–111. 58 Vgl. Raphael, Recht, S. 175. 59 Rönz, Helmut, Zwischen staatsbürgerlichem Selbstbewusstsein und kulturellem Provinzialismus – Staat und Städte an Rhein, Mosel und Ruhr vom späten 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, in: Ditt, Karl/ Tenfelde, Klaus (Hgg.), Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen. Koexistenz und Konkurrenz des Raumbewusstseins im 19. und 20. Jahrhundert (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 57), Paderborn u. a. 2008, S. 55–84, hier S. 71. 60 Vgl. Herres, Rhein-Preußen, S. 183 f. 61 Weis, Eberhard, Der Durchbruch des Bürgertums. 1776–1847 (Propyläen-Geschichte Europas, Bd. 4), Berlin 1998 [ungekürzter fotomechanischer Nachdr. der 2. Aufl. 1981], S. 398.

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Im Gegenteil: Die preußische Verwaltung, später regelrecht besungen ob ihrer Effizienz und ihres Organisationsgrades, hatte am Rhein mit Startschwierigkeiten und mangelnder Akzeptanz zu kämpfen. Jürgen Herres spricht in diesem Zusammenhang von einem „Fehlstart“.62 Die preußische Bürokratie wirkte schwerfälliger als die französische, aber auch als die nachnapoleonische provisorische Verwaltung.63 Während Anfragen und Eingaben in der französischen Verwaltung maximal zwölf Tage Bearbeitungszeit in Anspruch genommen hatten, waren es in der preußischen Verwaltung mit ihrem umständlichen Geschäftsgang und dem zeitintensiven Kollegialprinzip nun zwischen zwei und sechs Wochen. Zu Beginn des Jahres 1826 führte dieser Missstand zur Auflösung des Kollegiums und zur Stärkung der Position des Oberpräsidenten.64 Die Schwierigkeiten im Umgang mit der Hungerkrise der Jahre 1816/17 sorgten in der rheinischen Bevölkerung für weiteren Unmut.65 Johann August Sack wies als ehemaliger Oberpräsident in seinem an den Staatskanzler Fürst Karl August zu Hardenberg (1750–1822) gerichteten „Pro Memoria“ aus dem Jahr 1817 darauf hin, dass die Rheinländer anstelle „einer geistigen, thätigen und kräftigen Verwaltung, woran sie gewöhnt waren“, „eine bloß formelle, schleppende und langsame“ erhalten hätten.66 Generell spielte die Neuordnung der Verwaltung im Deutschland der nachnapoleonischen Zeit eine große Rolle, um das Vertrauen der Bevölkerung insbesondere in den neu zu einem Staat hinzugekommenen Gebieten zu bilden respektive zu festigen. Die „Verwaltungsleistungen einer liberalen Bürokratie“67 sind in diesem Zusammenhang sicher hervorzuheben. Der vornehmlich in intellektuellen Kreisen artikulierte Wunsch nach nationaler Einheit trat hinter den alltäglichen Sorgen – vor allem während der Missernten der Jahre 1816 und 1817 – spürbar zurück; die Mehrheit der Bevölkerung bedrückten andere Nöte.68 Gleichzeitig setzte nach der Besitzergreifung durch den preußischen Staat unter den rheinischen Städten ein „Run“, wie man heute vielleicht sagen würde, auf die staatlichen Verwaltungsstellen, Gerichte und Bildungseinrichtungen ein, deren Sitz man gerne in der eigenen Stadt gesehen hätte.69 Die Stadt Köln durfte sich als Sitz des Oberpräsidenten bis 1822, des Regierungspräsidenten, des Appellationsgerichtshofes (seit 1819), im kirchlichen Bereich seit 1821/25 zudem des Erzbistums, zunächst als Gewinnerin fühlen, auch wenn nicht alle ihre Wünsche erfüllt wurden.70 Die preußische Entscheidung, 1822 Koblenz 62 63 64 65 66 67 68 69 70

Herres, Köln, S. 53. Vgl. ebd., S. 54 f. Vgl. Koltes, Rheinland, S. 162 f. Vgl. Herres, Rhein-Preußen, S. 173. Zit. n. ebd., S. 169. Weis, Durchbruch, S. 358. Vgl. ebd. Vgl. Herres, Rhein-Preußen, S. 172. Vgl. Herres, Köln, S. 53.

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und nicht Köln zum Sitz des Oberpräsidenten der vereinigten Rheinprovinz zu machen, führt Helmut Rönz auf einen „antikölnische[n] Affekt“ zurück.71 Der konfessionelle Faktor, darin sind sich die eingangs erwähnten Studien zur preußischen Personalpolitik im Rheinland einig, spielte – wenn überhaupt – eine untergeordnete Rolle.72 Wenn Hardenberg in seiner Instruktion vom 3. Juli 1815 seinem Wunsch Ausdruck verlieh, bei der Besetzung von Ratsstellen und subalternen Posten bevorzugt Einheimische zu berücksichtigen, so war an dieser Stelle und auch bei den Berichten der Organisationskommissare von der konfessionellen Verteilung keine Rede, dieser Aspekt blieb völlig unerwähnt.73 Auch diesbezügliche Beschwerden sind für die Zeit unmittelbar nach 1815 kaum wahrnehmbar. Wie Manfred Koltes aufgezeigt hat, sind Klagen über eine konfessionelle Imparität zuungunsten der Katholiken erst in den 1830er Jahren vermehrt auszumachen.74 2. Die Frage nach personeller Kontinuität „Die Franzosen haben wohl ihre Strukturen in die Rheinlande eingeführt, aber sie verließen sich auf einheimisches Personal, um diese aufrechtzuerhalten“. So fasst Michael Rowe die französische Praxis bei der Organisation der Verwaltung im linksrheinischen ehemaligen Reichsgebiet zusammen.75 Dabei gab es in den verschiedenen Verwaltungszweigen durchaus nennenswerte Unterschiede: Wie im übrigen Frankreich auch, kamen die Präfekten immer aus einer fremden Region, bei den Unterpräfekturen war das Verhältnis zwischen Einheimischen und Franzosen gemischt, während auf der Ebene der Munizipalitäten die Rheinländer mehr oder minder unter sich blieben. Stark vertreten waren Einheimische auch auf der unteren Ebene der Fiskaladministration. Offiziere der Gendarmerie waren mehrheitlich Franzosen, die Truppen selbst jedoch wiederum gemischt.76 Bei der Mehrheit der zunächst 2000, später dann 3000 am Rhein eingesetzten Zollbeamten, der „douaniers“, handelte es sich um gebürtige Franzosen. Insbesondere im Justizwesen griff die französische Verwaltung gerne auf einheimische Juristen zurück. Die unterste Ebene der französischen Gerichtsbarkeit, die Friedensgerichte, wurde mehrheitlich mit Einheimischen besetzt. Bei den in der Hierarchie darüber stehenden Tribunalen erster Instanz stellten ebenfalls Einheimische die Mehrheit der Richter, während auf den darüber stehenden Ebenen von „Cours criminels“ (Kriminal71 Rönz, Selbstbewusstsein, S. 70. 72 „Man darf also davon ausgehen, daß die Regierung in Berlin der Konfession der Beamten anfangs keine Bedeutung beimaß, ja sie sogar in vielen Fällen vermutlich nicht einmal kannte“ (Poestges, Personalpolitik, S. 57). 73 Vgl. ebd., S. 56. 74 Vgl. Koltes, Rheinland, S. 163, Anm. 108. 75 Rowe, Reich, S. 150. 76 Vgl. hierzu und im Folgenden ebd., S. 147–157.

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gerichten) respektive den höheren „Cours d’appel“ die Einheimischen die Hälfte stellten beziehungsweise dann so gut wie gar nicht mehr vertreten waren. Die Institutionen des napoleonischen „Sicherheitsstaates“ – Spezialgerichte, Gendarmerie, das Netz von im Geheimen tätigen Agenten – waren ebenfalls ganz überwiegend mit gebürtigen Franzosen besetzt, was allerdings einem Prinzip entsprach, das auch im übrigen Frankreich galt (ähnlich dem Prinzip des Durchlaufs in Preußen). Diese französischen Verwaltungsbeamten zogen sich 1813 in aller Regel mit den abrückenden militärischen Kontingenten aus dem Rheinland zurück. Somit verblieben die in der kommunalen Verwaltung und bei den Friedensgerichten eingesetzten Einheimischen, die für gewöhnlich weiter ihren Dienst versahen, nun jedoch unter Aufsicht der interimistischen alliierten Verwaltung. Eine königlich-preußische Order verfügte schließlich, dass alle Beamten bei treuer Ausübung ihrer Verwaltungstätigkeit ihre Aufgaben weiterhin wahrnehmen sollten. So blieb etwa der Rheydter Bürgermeister Dietrich Lenßen, der bereits seit 1808 als Maire fungiert hatte, bis zu seinem Tode im Jahr 1823 in diesem Amt.77 Von den Tausenden von Einheimischen, die sich in französische Verwaltungsdienste begeben hatten, hätten die meisten, so Michael Rowe, auch im Ancien Régime eine Karriere im Staatsdienst angestrebt. Man wird sie somit wohl kaum als überzeugte Republikaner oder Bonapartisten bezeichnen dürfen.78 Bereits in der Zeit der preußischen Inbesitznahme mehrten sich die rheinischen Stimmen, die eine überdurchschnittliche Repräsentanz nichtrheinischer Beamter in der Verwaltung der rheinischen Provinzen monierten. Joseph Görres (1776–1848) formulierte gleich zu Beginn des preußischen Regiments am Rhein den Vorwurf, die Preußen beschäftigten in der Verwaltung weniger Einheimische, als dies bis kurz zuvor noch die Franzosen getan hätten.79 Der Koblenzer Polizeidirektor Weber, ein „Altpreuße“, räumte in seinem Bericht an den Polizeiminister Fürst Wilhelm Ludwig Georg zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (1770–1851) vom 9. Februar 1817 ein, dass die Besetzung der meisten Stellen […] mit Ausländern, selbst Botenstellen mit inbegriffen, […] vom ersten Augenblick an […] Stoff zu vielfachem Spott geboten habe.80 Die einheimische Bevölkerung betrachte die neue Verwaltungsform, eine Regierungs-Behörde, die aus so vielen und mannigfaltigen Gliedern zusammengesetzt sei, als unförmliche[n] Koloß.81 Wenige Tage zuvor, am 27. Januar, hatte Weber bereits berichtet, dass die Rheinländer mißtrauisch gegen den fremden Beamten und ohne Ausnahmen solchem abgeneigt seien.

77 78 79 80 81

Vgl. hierzu Waldecker, Rheydt, S. 241–246. Vgl. Rowe, Reich, S. 151. Vgl. Poestges, Personalpolitik, S. 192 f. Zit. n. Herres, Rhein-Preußen, S. 173. Zit. n. ebd., S. 170. Dort auch das folgende Zitat.

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Im August 1817 richtete die Stadt Köln anlässlich der Besuche von König Friedrich Wilhelm  III. (1770–1840) sowie seines Sohnes in den neuen Provinzen am Rhein eine Adresse an den Kronprinzen, den späteren König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861), in der es heißt: Das Volk sieht sich […] jeder Theilnahme an der Landesverwaltung ausgeschlossen und die Regierung hat dadurch ein wesentliches Mittel verloren den Zustand der Provinzen und der Volksstimmung kennen zu lernen.82 Am 22. August 1817 forderte Hardenberg von allen rheinischen Regierungsbezirken Aufschluss über den Anteil von Einheimischen an der Verwaltung. Auch hier ergab sich das bekannte Bild: Je weiter sich der Blick auf die Hierarchie der Verwaltung nach unten richtete, desto stärker präsentierte sich das einheimische Element, wohingegen die höheren politischen Beamten mehrheitlich aus anderen Provinzen beziehungsweise aus Altpreußen stammten. Laut Koltes stammten in Koblenz von 22 Oberbeamten neun aus dem Rheinland, von 90 Beamten der mittleren Verwaltungsebene 52, von 28 landrätlichen Beamten 22, von sieben Polizeibeamten drei, von 110 Forstbeamten 95, ferner alle drei Domänendirektoren, alle 21 Beamten der Kreiskassen, 70 von 73 Steuerbeamten und sechs der 13 Baubeamten. Auch Koltes kann keine Zurücksetzung der Einheimischen ausmachen, eine Beobachtung, die er auch für das im Jahr 1816 in die preußische Verwaltung integrierte Gebiet an der Saar bestätigen kann, wo drei Beamte der französischen Verwaltung das Amt des Landrates bekleiden konnten – in Ottweiler, Saarbrücken und Saarlouis.83 In Berlin hegte man, nicht zuletzt aufgrund des französischen Einflusses der zurückliegenden Jahre, allerdings Zweifel an der Fähigkeit der Rheinländer, sich selbst zu verwalten.84 Diese Einschätzung rührte von der Praxis her, dass sich die Bürgermeister während der Franzosenzeit großzügige Aufwandsentschädigungen gönnten; eine Praxis, die von der französischen Hierarchie geduldet wurde, nicht jedoch von der preußischen. Weiterhin wurden die früheren „Kollaborateure“ misstrauisch beäugt und als unzuverlässig eingeschätzt. Eine im Oberpräsidium Köln erstellte Liste möglicher rheinischer Kandidaten für Verwaltungsposten im Regierungsbezirk Köln mit dem Titel „Personal-­ Notizen“ untergliedert die aufgelisteten Personen in drei Klassen:

82 Zit. n. ebd., S. 174. 83 Vgl. Koltes, Rheinland, S. 164–166. 84 Vgl. hierzu und im Folgenden Rowe, Reich, S. 254 f.

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Abb. 24  Aufteilung möglicher rheinischer Kandidaten für Verwaltungsposten im Regierungsbezirk Köln nach drei Klassen.

Auf Rang eins firmierten diejenigen, die sich auch während des napoleonischen Regimes als Deutsche deklariert hatten – der Kaufmann Lenné wird etwa folgendermaßen charakterisiert: Deutsch, fähig, überhaupt sehr brauchbar 85 –; dann folgten diejenigen, welche zwar eine fachliche Eignung, jedoch einen zweifelhaften Leumund aufwiesen; zuletzt folgten als überzeugte Bonapartisten vor der Öffentlichkeit disqualifizierte Personen wie etwa der vormalige Kölner Bürgermeister Johann Jakob von Wittgenstein. Mit einer Verordnung vom 30. April 1815 war auch in den neuen Provinzen das preußische Landratsamt als Exekutivorgan der Regierungen in den Bezirken eingeführt worden.86 Die dieser Verordnung folgende Instruktion vom 3. Juli 1815 relativierte bereits die eigentlichen Anforderungen bei der Auswahl der Landräte. In § 8 heißt es: Es ist die Absicht, daß in den alten Staaten angenommene landräthliche Verhältnis – wonach angesehene, mit dem öffentlichen Vertrauen beehrte, im Kreise angesehene Gutsbesitzer die Polizey verwalten – möglichst allgemein beizubehalten, ohne doch unter besonderen Ver85 LAV NRW R, BR 2, Nr. 1534, Bl. 21r (Personal-Notizen). 86 Vgl. Schindlmayr, Personalpolitik, S. 75.

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hältnissen Modificationen auszuschließen.87 Nach der französischen Zeit gab es im Rheinland jedoch kaum noch Personal, auf das diese Anforderungen zutrafen, namentlich an Gutsbesitzern mangelte es. Schließlich wurde die Anforderung, einen Gutsbesitzer mit Ratsqualifikation ausfindig zu machen, mit Kabinettsorder vom 13. März 1816 fallen gelassen.88 Die „Kabinettsorder wegen Einrichtung der Kreisbehörden“ vom 11. Juni 1816 wird noch konkreter: In der Regel ist künftig der Landrat aus den Gutsbesitzern des Kreises zu wählen. […] Da jedoch bei der jetzigen ersten Organisation der Kreisbehörden in den alten und neuen Provinzen nicht überall ein zum Landrat völlig qualifizierter, mit der Verfassung genau bekannter Gutsbesitzer anzutreffen sein dürfte, so will Ich gestatten, daß daselbst für jetzt die Landratsstelle auch durch andere, sonst gehörig qualifizierte Personen […] nach vorher von mir erteilter Genehmigung, besetzt werden können. Ob in der Folge die sich zu Landratsstellen meldenden Kandidaten, einem Examen bei der Ober-­ Examinations-Kommission in Berlin, oder bei den Präsidien der Regierungen unterworfen werden müssen, behalte ich Mir zu bestimmen noch vor […].89 Tatsächlich berichtete Oberpräsident Freiherr Karl Heinrich Ludwig von Ingersleben (1753–1831) am 30. August 1818 nach Berlin, dass keiner der für den Regierungsbezirk Koblenz vorgeschlagenen Landratskandidaten das Berliner Examen abgelegt habe, woraufhin die Kandidatenliste von Berlin ohne jegliche Ausnahme bestätigt wurde.90 Schließlich wurden im Jahr 1816 14 Landräte im Bezirk Koblenz angestellt. Alle waren Einheimische, niemand von ihnen erfüllte alle ursprünglich vorgesehenen Anforderungen für das Landratsamt. Einige hatten bereits in der französischen Verwaltung Verantwortung übernommen – etwa der aus Koblenz stammende Katholik Peter Franz Oster als Bürgermeister von zunächst Kaisersesch in der Eifel und dann Cochem an der Mosel oder der aus Kastellaun im Hunsrück stammende Protestant Christian Ludwig Schmidt als Bürgermeister von Kastellaun.91 In Berlin setzte sich diejenige Linie durch, die aus Gründen der Identifikation und Integration der neuen Provinzen mit dem und in den preußischen Gesamtstaat für einheimisches Verwaltungspersonal plädierte, während die bereits 1815 einsetzenden Bemühungen reaktionärer Kreise um Innenminister Friedrich von Schuckmann (1755– 1834) scheiterten, die Regierungskollegien im Rheinland mit Altpreußen zu besetzen – wovon man sich ebenfalls eine rasche Integration versprach.92 Die Organisationskommissare, die 1815 vom Staatskommissar für die Rheinprovinzen ernannt wurden, sollten nach Beendigung der provisorischen Verwaltung Regierungspräsidenten werden und in Berichten geeignetes Personal für die Verwaltungsstellen in 87 88 89 90 91 92

Zit. n. ebd., S. 76. Vgl. ebd., S. 77. Zit. n. ebd., S. 78. Vgl. ebd., S. 80. Vgl. ebd., S. 83. Vgl. ebd., S. 109.

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den Regierungskollegien und für die Landratsstellen benennen.93 Bis Ende 1815 übermittelten alle Kommissare ihre Vorschlagslisten nach Berlin. Zum Vorschlag kamen 37 Rheinländer, zehn Westfalen, elf Altpreußen und elf Sonstige.94 Den 37 Einheimischen standen somit lediglich 32 Nichtrheinländer gegenüber. Für den Regierungsbezirk Köln lässt sich eine Benachteiligung der Einheimischen ebenfalls nicht ausmachen. Auch hier kann, wie August Klein schreibt, „von einer antirheinischen Personalpolitik nicht gesprochen werden“. Dem dortigen Oberpräsidenten Solms-Laubach attestiert Klein sogar Ansätze zu einer „prorheinischen Personalpolitik“95. Der aus der Wetterau stammende Reichsgraf Friedrich zu Solms-Laubach skizzierte sein Auswahlverfahren bei der Einstellung von Verwaltungsbeamten in seinem ersten Organisationsbericht für den Regierungsbezirk Köln vom 1. November 1815 dahingehend, dass neben dem Erfolg des Geschäftsbetriebes vor allen Dingen der Grad des öffentlichen Vertrauens von Bedeutung sei und dieses zu gewinnen, bei einer neuen Provinz unstreitig die erste Sorge und Tendenz sein müsse.96 Unter den 16 Beamten des höheren Dienstes bei der Kölner Bezirksregierung befanden sich acht „Neupreußen“, wobei diese nicht alle aus dem Rheinland stammten.97 Regierungsrat Johann Baptist Fuchs zählte zu diesen „Neupreußen“ und ist ein weiteres Beispiel für personelle Kontinuität: Der gebürtige Kölner stand bis 1794 in kurkölnischen Diensten, bevor er 1798 in das französische Amt des Kölner Stadtpräfekten bestellt wurde.98 Dieter Poestges hebt ebenfalls hervor, „daß die preußische Personalpolitik der ersten Jahre konstant prorheinisch“ gewesen sei.99 Er verweist unter anderem auf die Tatsache, dass „überwiegend einheimische Beamte, die aus dem französischen Dienst kamen, mit der Verwaltung der Kreise betraut wurden“.100 So befanden sich unter den 13 ersten Landräten des Regierungsbezirks Aachen elf Einheimische. Auch der von März 1814 bis Anfang 1816 als Generalgouverneur beziehungsweise Oberpräsident amtierende Johann August Sack stammte aus Kleve; er zählte sich allerdings selbst zu den älteren Preußen, die fest an unserm Könige in Noth und Tod festzuhalten hätten.101 Nehmen wir als anschauliches Beispiel die in Hülchrath ansässige Familie von Pröpper: Die Franzosen konfiszierten Schloss Hülchrath 1794 als ehemaliges Domanialgut und boten es 1798 öffentlich zur Versteigerung an. Der kurkölnische Vogt Heinrich Joseph von Pröpper (1732–1811) schlug seinem Herrn im Frankfurter Exil vor, das Schloss für diesen zu erwerben und interimistisch zu verwalten. Kurfürst Maximilian Franz (1756–  93 Vgl. Poestges, Personalpolitik, S. 11 f.  94 Vgl. ebd., S. 35.  95 Klein, Personalpolitik, S. 64.  96 Zit. n. ebd., S. 33.  97 Vgl. ebd., S. 35 f.  98 Vgl. ebd., S. 48.  99 Poestges, Personalpolitik, S. 193. 100 Ebd., S. 78. 101 Zit. n. Herres, Rhein-Preußen, S. 169.

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1801) erteilte sein Plazet, sodass von Pröpper das Schloss im Jahr 1803 für eine Summe von annähernd 5000 Franc ersteigerte.102 Heinrich Joseph von Pröpper103 war von 1756 bis 1794 Vogt und Kellner im kurkölnischen Amt Hülchrath und Erprath (bei Neuss) und stand dann in französischen Diensten. Im Sommer 1797 sollte Pröpper aufgrund massiver Kritik an seiner Amtsführung (wegen vorgeblich „verspäteter Verwaltung“) suspendiert werden,104 Landrentmeister Nettekoven hatte ihn bei der Regierung angezeigt. Obwohl sich ­Pröpper dezidiert zur Wehr setzte  – und sich dabei durchaus einer „reaktionären Diktion“ bediente105 –, wurde er im Spätsommer des Jahres 1797, mit Verfügung vom 30. August, tatsächlich suspendiert und die Verwaltung der sequestrierten Güter im Amt Erp- und Hülchrath dem Vogt und Kellner Kopp zu Liedberg übertragen.106 Zieht man in diesem Falle ein Fazit, so lässt sich sagen, dass zunächst das „alte“ Personal im Amt verblieb, bis es von einem Deutschen denunziert wurde, sich energisch, ja provokant verteidigte und letztlich wegen eines sachlichen Grundes (verspäteter Verwaltung) aus dem Amt entfernt wurde, welches die Regierung wiederum einem Deutschen übertrug. Ausschlaggebend war also – zumindest vorgeblich – nicht die Nationalität der Beteiligten, sondern die Qualität der Amtsführung – was in Richtung einer modernen Verwaltung weist. Pröppers Sohn Paul Joseph (1765–1848) übte dann in preußischer Zeit von 1816 bis 1839 das Amt des Landrats im neu gebildeten Kreis Grevenbroich aus, zunächst noch

102 Vgl. die Einleitung des Findbuchs zu Bestand LAV NRW R, RW 1145. 103 Den Hinweis auf die Familie Pröpper verdanke ich meinem Kollegen Jörg Franzkowiak. 104 Ihr weigertet Euch die Verwaltung der in dem Bezirke Eurer Kellnerei liegenden sequestrirten Güter zu übernehmen, ehe Ihr über die desfallsige Belohnung vergewissert wäret. […] so befehlen Wir Euch hiermit unter Wiederholung obiger Zusage, zugleich aber auch mit Vorbehalt der von Euch nachzusuchenden Entschädigung wegen verspäteter Verwaltung auf der Stelle mit dem gebührenden Fleiße um so gewisser Euch zu unterziehen, und daß dieses geschehen sey, mit umgehender Post Uns zu melden, als Wir widrigen Falls Euch von Eurem Kellnereiamt und den damit verbundenen Nutzungen suspendiren, und dasselbe durch Jemand anderst verwalten lassen werden (Schreiben der Regierung des kölnischen Landes an den Oberkellner zu Hülchrath, Bonn, den 16.8.1797 [LAV NRW R, RW 1145, Nr. 63, Bl. 8r–v]). 105 Das man nirgendwo in der Welt mehr einen Dienstbothen ohne vorbedingten und von beiden Theilen beliebten Lohn finden werde, und wie soll denn ein Beamter, und das noch zu dieser unter dem Freiheitsbaum so hoch angerühmt verkündigten Freiheit und Gleichheit allein sklavisch behandelt oder ihm dergleichen zugemuthet werden mögen? […] wenn ich noch von meinem Amt, welches ich ohne erheblichen Vorwurf und ohne Geschrei von den mir anvertrauten Unterthanen beinahe fünfzig Jahr bekleidet habe […], suspendiert werden solle […]: So kann ich gegen all solche Despotische Gewalt nichts anbringen, sondern muß geduldig leiden; nur Gott dem alleinigen Beherrscher Himmels und der Erden bloshin alles anheim gestellt sein lassen, und mich herzlich erfreuen mit dem: Herr dein Wille geschehe. So bin und bleib ich wie ein redlicher teutscher entschloßen und bestehe mit dem: Tuhe recht und scheue Niemand. Denn nach dieser Zeit folgt auch noch eine andere, und der tröstlichen Versicherung unseres göttlichen Heilands beati qui lugent. (Entwurf des Schreibens des Kellnerei-Beamten zu Erb- und Hülchrath an die Regierung des Kölnischen Landes, Schloss Hülchrath, 9.8.1797 [ebd., Bl. 19r, 20v]). 106 Vgl. ebd., Bl. 12r. Vgl. auch das Schreiben an v. Pröpper vom 2. September 1797 (ebd., Bl. 14).

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als landrätlicher Kreiskommissar.107 In dem Ernennungsschreiben heißt es: Durch das uns mitgetheilte Allerhöchste Cabinets-Schreiben vom 16. Januar d. J. haben des Königs Majestät geruht, Sie zum Landrathe im Kreise Grevenbroich mit 1.000 Thaler jährlichem Gehalte […] zu ernennen […]. Diese Ernennung ist jedoch mit der Bedingung begleitet, daß Sie die vorschriftsmäßige Prüfung binnen sechs Monaten ehrenvoll bestehen müssen. Allerdings gestanden Finanz- und Innenministerien von Pröpper zu, nach dem erfolgreichen Bestehen der schriftlichen Probe-Arbeiten vom mündlichen Examen in Berlin dispensiert zu werden.108 Zum Landkreis Grevenbroich gehörte auch die Gemeinde Hülchrath, die unmittelbare Nachfolgerin der Mairie d’Hulchrath. Von 1816 bis 1831 amtierte dort Paul Joseph von Pröpper als Bürgermeister der Gemeinde Hülchrath, danach sein Schwiegersohn und nach diesem wiederum ein Enkel Pröppers.109 Ein Beispiel von persönlicher wie familiärer Kontinuität aus dem Bereich der Schulverwaltung ist das Amt des Schulmeisters und Lehrers von Neukirchen. Dieses war von 1800 bis 1819 in den Händen von Andreas Bedorff. Dessen Vorgänger und Nachfolger entstammten ebenfalls dieser Familie.110 Wir sehen, dass mit dem Jahr 1815 bei Weitem nicht alle Bande der Kontinuität gekappt wurden, vielmehr gibt es zahlreiche Beispiele für personelle Kontinuität, nicht selten über Generationen hinweg. Einige Adelige wie Johann Wilhelm Graf von Mirbach-Harff (1784–1849) hatten sich während der „Franzosenzeit“ vom linken auf das rechte Rheinufer begeben und jegliche öffentliche Tätigkeit im französischen Einflussbereich abgelehnt.111 Mirbach selbst bemühte sich nach 1813 wiederholte Male um eine Anstellung in preußischen Diensten, um an der Reorganisation des Rheinlandes teilzuhaben.112 Seine Sorgen, nicht zuletzt im Hinblick auf die unglücklich agierende Übergangsverwaltung, vertraute Mirbach am 27. Januar 1815 seinem Tagebuch an: Wie soll man die Menschen, welche gegen die Regierung so gewaltig schreien, die diese so sehr fürchten, behandeln? Wie soll man diejenigen behandeln, die in dieser Zeit noch wenig Trost finden, die über den augenblicklichen Druck, über Verwaltungsfehler, über Misgriffe [!] einzelner Individuen kleinlaut sind und klagen? Wie soll man sich überhaupt benehmen, um die Stimmung für Preußen und die deutsche Sache zu befördern? 113 107 Vgl. Franzkowiak, Jörg, Archivischer Schatz entdeckt! Neuerschließung des Familienarchivs von Pröpper im Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland eröffnet neue Forschungsmöglichkeiten, in: Archivar 68,1 (2015), S. 68–70, hier S. 68 f.; vgl. auch den entsprechenden Bestand des Landratsamtes Grevenbroich im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland (LAV NRW R, BR 25, Nr. 102). 108 Schreiben der Abteilung I der Königlichen Regierung zu Düsseldorf an den Kommissar des Kreises Grevenbroich v. Pröpper zu Wevelinghoven vom 15.2.1817 (LAV NRW R, BR 25, Nr. 102, Bl. 11). 109 Vgl. Wiltsch, Neukirchen-Hülchrath, S. 220, 433. 110 Vgl. ebd., S. 435. 111 Vgl. Beusch, Standespolitik, S. 26. 112 Vgl. ebd., S. 33, 40. 113 Zit. n. ebd., S. 34.

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Personelle Kontinuität begegnet uns beispielsweise im Falle des Freiherrn Giesbert Christian Friedrich von Romberg (1773–1859), der einem alten märkischen Adelsgeschlecht entstammte und im Ancien Régime die Familiengüter verwaltete, bevor er im März 1809 als Präfekt an die Spitze des Ruhrdepartements berufen wurde. In preußischer Zeit wurde er für zweieinhalb Jahre, bis 1816, als Landesdirektor eingesetzt.114 Ein weiteres Beispiel aus Mönchengladbach: Man kann es mit Wolfgang Löhr als „eine Art Wiedergutmachung“ betrachten, dass diese Stadt am 24. April 1816 unter Preußen als Sitz des Kreises Gladbach im Regierungsbezirk Düsseldorf wieder Verwaltungsmittelpunkt wurde.115 Dies bedeutete eine Aufwertung der Stadt, ähnlich die Errichtung des Dekanats Gladbach im Februar 1821 nach der Auflösung des französischen Bistums Aachen. Landrat wurde mit Franz Gottfried von Märcken (1768–1833) ein Sohn des Amtmannes der bis zum Ende des Ancien Régime reichsunmittelbaren Myllendonck, Franz Rudolf von Märcken (1700–1781). Zum Bürgermeister avancierte der protestantische Fabrikant und Großhändler Matthias Brinck, der zur französischen Zeit Korrespondent der französischen Handelskammer zu Köln gewesen war. Das unter der französischen Verwaltung eingerichtete Gewerbegericht zur Schlichtung von Differenzen zwischen Fabrikanten und Arbeitnehmern blieb auch in preußischer Zeit bestehen. Auch hier also kann, bei allen Veränderungen, von einem rigorosen Schnitt nicht die Rede sein. In der Biografie des späteren Oberpräsidenten Solms-Laubach bedeutete die Franzosenzeit hingegen einen klaren Bruch: Während er von 1791 bis 1797 als kaiserlicher Reichshofrat in Wien wirkte, zog er sich zwischen 1806 und 1813 ins Private zurück, um dann in der nachnapoleonischen Ära als Mitarbeiter des Freiherrn vom Stein im Zentralverwaltungsdepartement tätig zu werden und anschließend an die Spitze der Provinz Großherzogtum Niederrhein zu treten.116 Wichtig bei der Beurteilung der personellen Kontinuität im Verwaltungsdienst ist ein Aspekt, auf den zuletzt Michael Rowe hingewiesen hat, nämlich die Tatsache, dass die alliierten Mächte der Abtretung von Reichsgebiet an Frankreich in Friedensverträgen zugestimmt hatten. Infolgedessen konnten in französische Dienste wechselnde Beamte nicht mehr ohne Weiteres als „Verräter“ bezeichnet werden.117 Tatsächlich akzeptierten viele der vor den heranrückenden Franzosen ins Exil geflüchteten Fürsten aus dem linksrheinischen Reichsgebiet die nun unter französischen Vorzeichen fortgesetzte Tätigkeit ihrer Beamten in deren angestammten Positionen und Funktionen, zumindest solange nicht der Verdacht auf politisch bedingte Konspiration mit dem französischen Gegner genährt wurde.118 114 Vgl. ebd., S. 51 f., Anm. 187. 115 Vgl. hierzu und im Folgenden Löhr, Wolfgang, Mönchengladbach im 19./20. Jahrhundert, in: Löhr, Loca, S. 9–240, hier S. 77–81, das vorhergehende Zitat S. 77. 116 Vgl. Beusch, Standespolitik, S. 41, Anm. 140. 117 Vgl. Rowe, Reich, S. 150. 118 Vgl. ebd., S. 147.

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Wenn wir den Fokus, letztlich ein wenig verengt, allein auf die Rheinprovinz richten, kommen wir vielleicht zu einer anderen Einschätzung, als wenn wir den Blick weiten und den preußischen Staat in seiner Ganzheit, also provinzübergreifend, betrachten. Ein Beispiel: Schindlmayr nennt für die Zeit zwischen 1818 und 1848 für den Regierungsbezirk Trier acht ernannte nichttechnische Regierungsräte, die evangelischer Konfession waren, welchen sechs katholische Räte gegenüberstanden – bei zwei weiteren Räten fand sich keine Angabe der Konfession.119 Bezogen auf die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung der vereinigten Rheinprovinz – fast vier Fünftel gehörten der katholischen Konfession an – war dies natürlich ein unterdurchschnittlich geringer Katholikenanteil; gemessen an der konfessionellen Verteilung im preußischen Gesamtstaat – drei Fünftel Protestanten im Jahr 1815 – war der Anteil überdurchschnittlich hoch.120 Ähnliches gilt für die Herkunft der zwischen 1816 und 1848 eingestellten höheren Beamten in den Regierungsbezirken Koblenz und Trier: Zwar stammte von den zehn Regierungspräsidenten nur einer aus dem Rheinland, doch auch nur vier – und somit nicht einmal die Hälfte – aus Altpreußen. Rheinland

Altpreußen

Westfalen

Sonstige

Regierungspräsidenten

1

4

3

2

Unbekannt

Insgesamt

Oberregierungsräte

7

3

1

3

2

16

Regierungsräte

26

17

5

4

4

56

Insgesamt

34

24

9

9

6

82

10

Tab. 3  Herkunft der höheren Beamten in den Regierungsbezirken Koblenz und Trier zwischen 1816 und 1848.

Alles zusammengenommen standen 34 Einheimische 24 Altpreußen gegenüber.121 Das Trierer Regierungskollegium wies als einziges sogar eine Mehrheit von Rheinländern auf.122 Freilich, es gab auch antikatholische oder doch wenigstens skeptische Stimmen. So schrieb der evangelische, aus Ostwestfalen stammende, in der preußischen Verwaltung beheimatete Daniel Heinrich Delius (1773–1832), seit 1816 Regierungspräsident von Trier, am 21. März 1825 an Staatsminister Karl Friedrich Heinrich von Lottum (1767–1841) in Berlin: Der Präsident von Schmitz-Grollenburg in Koblenz soll […] mein Nachfolger 119 Vgl. Schindlmayr, Personalpolitik, S. 72 f. 120 Zur konfessionellen Verteilung vgl. etwa Klein, Personalpolitik, S. 73. 121 Tabelle nach Schindlmayr, Personalpolitik, S. 73. 122 Vgl. Poestges, Personalpolitik, S. 59.

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sein. Also ein katholischer Präsident von weicher Gemütsart in der Mitte von fast lauter katholischen Räten, unter denen der Justitiarius täglich für die Bekehrung des Königs […] betet und die Unterdrückung der Andersgläubigen als Gewissenssache betrachtet! […] Wenn auch der katholische Präsident ein völlig vorurteilsfreier Mann von seltener Kraft und Charakterfestigkeit wäre: so würde es ihm doch in jener Stellung überaus schwer werden, die Rechte des Staates und des gedrückten Teils gegen seine Glaubensgenossen aufrecht zu erhalten. […] Die Verbindungen verzweigen sich in das gefährliche Nachbarland, wo die Geistlichkeit herrscht, und sie können leicht […] einen ernsten politischen Charakter annehmen. Schon sind französische Missionäre hiergewesen und haben über alle Verhältnisse Erkundigungen eingezogen […]. Persönlich sehe ich in einer so nachteiligen […] Versetzung – in der Entfernung von einem so wichtigen Vorposten, der nun Ausländern anvertraut werden soll – eine unverdiente Kränkung.123 Auch zehn Jahre nach der Inbesitznahme des Rheinlands konnte man demnach in der preußischen Verwaltung – wohlgemerkt im Rheinland selbst – von „Ausländern“ sprechen.

IV. Zusammenfassung und Ausblick Als die Preußen am Rhein mit dem Ende der napoleonischen Herrschaft die Nachfolge der französischen Verwaltung antraten, blieben der Zuschnitt der Verwaltungseinheiten sowie Teile des Verwaltungspersonals von großen Umwälzungen zunächst verschont. So wurden die Gebietskörperschaften der unteren Ebene in preußischer Zeit keiner Änderung unterzogen und auch das französische Recht blieb im Linksrheinischen anstelle des preußisch-brandenburgischen Landrechts in Geltung. In dieser Beziehung dominierte ein letztlich doch recht flexibler Umgang mit den vorgefundenen Strukturen in Verwaltung und Justiz. Prinzipiell hatte es der preußische Staat erheblich einfacher als einige Jahre zuvor der französische; denn anders als die Franzosen musste die preußische Seite nicht mehr einen ganzen Flickenteppich an Staaten mit entsprechend voneinander abweichenden Verwaltungsstrukturen und -kulturen vereinheitlichen, sondern konnte auf diesem vereinheitlichten Verwaltungsapparat zunächst einmal aufbauen.124 Was das Verwaltungspersonal anbelangt, legten sowohl Frankreich als auch Preußen weniger Wert auf einen kompletten Austausch der Beamten, sondern richteten ihr Augenmerk auf das Führungspersonal, das an der Verwaltungsspitze Verantwortung trug. Hier und in bestimmten Spezialverwaltungen trug man Sorge dafür, dass die Akteure überwiegend loyal und ortsfremd waren. Dies korrespondierte jedoch mit der generell üblichen Praxis, nicht zu viel einheimisches Personal in der eigenen Provinz, der Herkunftsregion einzusetzen. Dennoch konnten zahlreiche Einzelpersonen oder Familien123 Zit. n. Klein, Personalpolitik, S. 76 f. 124 Vgl. Koltes, Rheinland, S. 128.

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angehörige in generationenübergreifender Folge Beamtenstellen in drei verschiedenen Verwaltungen besetzen: vom Ancien Régime über die Franzosenzeit bis hin zum preußischen Staat. Eine bewusste Diskriminierung Einheimischer kann, bei aller grundsätzlichen Skepsis der Herrschenden gegenüber den neu inkorporierten Gebieten, nicht unterstellt werden. Die preußische Personalpolitik in den Provinzen am Rhein war, wie Schindlmayr feststellt, „zwischen 1815 und 1848 im Hinblick auf die höheren Regierungsbeamten und Landräte weder antirheinisch noch propreußisch“125 – und man kann ergänzen: auch nicht antikatholisch. Ob allerdings Schindlmayrs Begründung für diesen Befund zutrifft, ist zu bezweifeln: „Wenn nach Ansicht der Rheinländer zu viele fremde Beamte angestellt worden sind, so geschah es nicht so sehr aus politischen Gründen, sondern es lag an der mangelnden Befähigung und Bereitschaft der einheimischen Kandidaten, ein entsprechendes Amt zu übernehmen“.126 Ganz ähnlich urteilt der Schindlmayr ansonsten scharf kritisierende Dieter Poestges: Wenn die preußische Regierung es nicht geschafft habe, noch mehr Einheimische in der Verwaltung der Provinzen am Rhein zu beschäftigen, so liege dies begründet „in der keineswegs prorheinischen französischen Personalpolitik und auch in der mangelnden Bereitschaft der Einheimischen, Ämter zu übernehmen“.127 Plausibler dürfte der Erklärungsansatz von Manfred Koltes sein, wobei auch dieser die geringe Zahl von im preußischen Sinne nicht genügend qualifizierten Kandidaten nicht unterschlägt. Als ausschlaggebende Gründe für die Besetzung gerade der höchsten und höheren Beamtenstellen mit Nichtrheinländern macht Koltes „die schrittweise Angliederung des rheinischen Geschäftsganges an den im übrigen preußischen Staat gebräuchlichen“ aus, ebenso die Furcht der Berliner Regierung vor Filz und Nepotismus im Falle der Besetzung der Verwaltungsspitzen mit einheimischen Beamten.128 Zudem hatten preußische Zivilbeamte vor ihrer Einstellung eine anspruchsvolle Ausbildung mit zahlreichen Prüfungen und Examina zu durchlaufen, die dem in der französischen Zeit herangewachsenen einheimischen Verwaltungspersonal naturgemäß fehlte. Bezüglich der Beurteilung der preußischen Personalpolitik ist letztlich entscheidend, welche Perspektive man einnimmt: die des Gesamtstaates oder die der jeweiligen Provinz. Als Desiderata haben wir vor allen Dingen vergleichende Untersuchungen zu betrachten, die den preußischen Westprovinzen den Gesamtstaat, aber auch andere preußische Provinzen – etwa das quasi rein protestantische Pommern, das gemischt-

125 Schindlmayr, Personalpolitik, S. 113. 126 Ebd. 127 Poestges, Personalpolitik, S. 201. 128 Koltes, Rheinland, S. 168 f.

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konfessionelle Schlesien, das 1866 hinzugekommene Hannover129 –, dem Rheinland benachbarte deutsche Staaten, aber auch die Praxis im napoleonischen Frankreich vergleichend und kontrastierend an die Seite stellen. Die Perspektive ist demnach diachron und synchron zu weiten, die drei Verwaltungssysteme des Ancien Régime, der „Franzosenzeit“ und des preußischen Staates mit seinen Provinzen in Augenschein zu nehmen. Des Weiteren versprechen prosopografische Studien weiteren Aufschluss über Werdegänge und Karrieren von Verwaltungsangehörigen im Rheinland. Das nächste Gedenkjahr kommt bestimmt.

129 So führt etwa Poestges, Personalpolitik, S. 27, aus: „Nach der Annexion Hannovers durch Preußen hatte man in Berlin Bedenken wegen der Zuverlässigkeit der einheimischen Beamten, die man noch mit dem Welfenhaus verbunden glaubte. Da an der Qualifikation der Beamten kein Zweifel bestehen konnte, gedachte man, sie in andere preußische Provinzen zu versetzen“. Die Handhabung der Integration der Verwaltung des überwiegend protestantischen Königreichs Hannover in den ebenfalls mehrheitlich protestantischen preußischen Staat verdiente eine nähere Betrachtung und müsste der Entwicklung im Rheinland seit 1815 gegenübergestellt werden.

Bürokratische Herrschaft im ländlichen Raum Ein französisch-preußisches Projekt des 19. Jahrhunderts Walter Rummel

I. Einleitung „Am Anfang war Napoleon“ – mit diesem Satz hat Thomas Nipperdey auf die fundamentalen Wirkungen hingewiesen, welche die Epoche der französischen Herrschaft für die Entwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert hatte.1 Die ältere deutsche historische Forschung hat das französische Erbe unter dem Einfluss der insbesondere nach 1850 hervorgetretenen national- und außenpolitischen Zuspitzung im Verhältnis beider Völker ganz überwiegend unter dem Begriff der „Fremdherrschaft“ herabgewürdigt.2 Alles Französische wurde zurückgewiesen, dagegen alles Preußische als allein seligmachender Weg der deutschen Geschichte gepriesen. Zu Kronzeugen dieser Leitlinie berief man die preußischen Reformen der Jahre 1807 bis 1812, das Scheitern der Revolution von 1848/49 und die Reichsgründung von 1871.3 Im Rheinland hingegen wusste man dies entgegen dem wilhelminischen Zeitgeist besser. So betonte der Bonner Landeshistoriker Justus Hashagen noch 1908: „Dass die französische Herrschaft im Rheinland eine Fülle des Segens verbreitet hat, ist allgemein bekannt. Trotz aller immer wieder auftauchenden künstlichen Verdunkelungsversuche wird ihr Andenken bei einer dankbaren Bevölkerung 1 Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 11. 2 Dufraisse, Roger, Das napoleonische Deutschland. Stand und Probleme der Forschung unter besonderer Berücksichtigung der linksrheinischen Gebiete, in: Berding, Helmut (Hg.), Napoleonische Herrschaft und Modernisierung (Geschichte und Gesellschaft 6, 1980, H. 4), Göttingen 1980, S. 467–483, hier S. 467 f.; Dumont, Franz, Befreiung oder Fremdherrschaft? Zur französischen Besatzungspolitik am Rhein im Zeitalter der Revolution, in: Hüttenberger, Peter/Molitor, Hansgeorg (Hgg.), Franzosen und Deutsche am Rhein. 1789–1918–1945 (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, Bd. 23), Essen 1989, S. 91–112. Zur Begriffsgeschichte vgl. Koller, Christian, „Die Fremdherrschaft ist immer ein politisches Uebel“. Die Genese des Fremdherrschaftskonzepts in der politischen Sprache Deutschlands im Zeichen umstrittener Herrschaftslegitimation, in: Schnabel-Schüle, Helga/Gestrich, Andreas (Hgg.), Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa (Inklusion, Exklusion, Bd. 1), Frankfurt am Main u. a. 2006, S. 21–42. Vgl. auch Planert, Ute, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden: Alltag – Wahrnehmung – Deutung 1792–1841, Paderborn u. a. 2007, hier S. 18. 3 Beispielhaft dafür aus rheinischer Perspektive: Hansen, Josef, Preußen und Rheinland von 1815 bis 1915, Bonn 1918, S. 1–4 (unv. Nachdruck mit Beiträgen von Everhard Kleinertz und Beate-Carola Padtberg und einer Auswahlbibliographie von Georg Mölich, hg. von der Archivberatungsstelle des Landschaftsverbandes Rheinland, Pulheim-Brauweiler 1990).

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weiterleben. Es ist hier nicht der Ort, eingehender davon zu sprechen. Aber man weiss ja, dass die Errungenschaften, die die Franzosen dem Lande gebracht haben, noch heute in mancher Hinsicht die feste Grundlage seiner modernen Größe bilden.“4 Diese Einschätzung, die sich insbesondere auf die Beibehaltung des französischen Rechts bezog, war allerdings mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges auch im Rheinland nicht mehr salonfähig.5 Erst im Zeichen der deutsch-französischen Aussöhnung nach 1945 und mit dem Aufstieg der Sozialgeschichte in den 1970er Jahren setzte sich hier eine Neueinschätzung durch. Kennzeichnend dafür war, dass nun die Bedeutung der französischen Herrschaft für die Modernisierung von Staat, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft nicht allein in Deutschland, sondern mehr oder weniger in allen damals der französischen Herrschaft unterliegenden Ländern des Kontinents anerkannt wurde.6 Die frühe Sozialgeschichte der 1970er Jahre hatte, entsprechend der damaligen Aufbruchsstimmung, insbesondere die emanzipatorischen Auswirkungen der Entfeudalisierung und der Einführung einer gänzlich neuen Rechtsverfassung betont. Damit waren im Wesentlichen das öffentliche Gerichtswesen mit der Beteiligung von Geschworenen und der auf rechtlicher Gleichheit aller Staatsbürger beruhende Code Napoléon gemeint.7 Seit den 1980er Jahren gesellten sich dazu kritische Fragen nach 4 Hashagen, Justus, Das Rheinland und die französische Herrschaft. Beiträge zur Charakteristik ihres Gegensatzes, Bonn 1908, S. 335. Vgl. Schulze, Reiner, Rheinisches Recht im Wandel der Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für neue Rechtsgeschichte 24 (2002), S. 65–90, hier S. 77 f. 5 Zur Verbeugung des Rechtshistorikers Ernst Landsberg vor der durch den Kriegsausbruch 1914 ausgelösten antifranzösischen Stimmung, die ihn – erklärtermaßen gegen die „historische Objektivität“ – dazu veranlasste, in seiner Rektorats-Antrittsrede an der Universität Bonn am 18. Oktober 1914 das „rheinische Recht” mit dem Verdikt des „Fremdrechts“ zu versehen und damit „aus dem Kreis der ‚deutschen‘ Rechte“ zu verstoßen, vgl. Landsberg, Ernst, Das rheinische Recht und die rheinische Justizverfassung, in: Hansen, Josef (Hg.), Die Rheinprovinz 1815–1915. Hundert Jahre preußischer Herrschaft am Rhein, Bonn 1917, S. 149–195, hier S. 195. Zum „rheinischen Recht“ vgl. den bibliografischen Überblick von Padtberg, Beate-Carola, in: Hansen, Preußen, S. 336 f. und S. 357 f.; Schulze, Reiner (Hg.), Französisches Zivilrecht in Europa während des 19. Jahrhunderts (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 12), Berlin 1994, S. 123–155; Rummel, Walter, Das Nachwirken der französischen Herrschaft im preußischen Rheinland des 19. Jahrhunderts, in: Theis, Kerstin/Wilhelm, Jürgen (Hgg.), Frankreich am Rhein. Die Spuren der „Franzosenzeit“ im Westen Deutschlands (Eine Veröffentlichung des Landschaftsverbandes Rheinland), Köln 2009, S. 131–144. 6 Nach 1945 markiert erst der Beitrag des Historikers Kurt von Raumer 1965 zum „Handbuch der deutschen Geschichte“ den Beginn einer Abkehr von der nationalpolitisch-borussischen Perspektive. Raumer stellte darin den Beitrag des napoleonisch-rheinbündischen Reformwerks ohne nationalistische Vorbehalte neben die preußischen Reformen, womit er an die ihrer Zeit weit vorauseilende Interpretation von Franz Schnabel (Deutsche Geschichte, 1929) anknüpfte. Vgl. Fehrenbach, Elisabeth, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongress (Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Bd. 12), München/Wien 1981, S. 136, S. 179 f. und S. 183. 7 Berding, Helmut, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807– 1813, Göttingen 1973. Ders., Einleitende Bemerkungen, in: Berding, Herrschaft, S. 456; Fehrenbach, Elisabeth, Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoléon in den Rheinbundstaaten, Göttingen 1974 (3. Aufl. 1983); Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschafts-

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Abb. 25  Code civil des Français. ­Edition originale et seule officielle, 1804, Original in der Bibliothek des „Cour des Cassation“, Paris.

dem bürokratischen Erbe der französischen Herrschaft in Deutschland. Eckhardt Treichel hat seine Studie zur staatlichen Entwicklung in dem Rheinbundstaat Nassau unter den bezeichnenden Titel „Der Primat der Bürokratie“ gefasst. Peter Burg hat auf die lange nachwirkenden bürokratischen Strukturen der französischen Kommunalverfassung hingewiesen.8 Natürlich bezog auch dieser perspektivische „turn“ seine Anregung aus der Gegenwart: In Deutschland diskutiert man seit den 1980er Jahren über erweiterte Partizipationsmöglichkeiten und seit den 1990er Jahren über Alternativen zum „überforderten Staat“.9 geschichte. Band 1: Vom Feudalismus des „alten Reiches“ bis zur „defensiven Modernisierung“ der Reformära. 1700–1815, München 1987, S. 506–530; Nipperdey, Geschichte, S. 30 f. 8 Treichel, Eckhardt, Der Primat der Bürokratie. Bürokratischer Staat und bürokratische Elite im Herzogtum Nassau 1806–1866 (Frankfurter historische Abhandlungen, Bd. 31), Stuttgart 1991; Burg, Peter, Kommunalreformen im Kontext historischen Wandels. Die napoleonischen und die modernen Gemeindezusammenlegungen im Vergleich, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 8 (1982), S. 251–283; ders., Verwaltung in der Modernisierung. Französische und preußische Regionalverwaltung vom Ancien Régime zum Revolutionszeitalter (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 15), Paderborn 1994. 9 Ellwein, Thomas/Hesse, Joachim Jens, Der überforderte Staat, Baden-Baden 1994.

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Die im Folgenden vorgelegten Befunde und Interpretationen stehen ebenfalls in diesem diskursiven Kontext. Sie sind Ergebnis einer breiten Untersuchung zum Verhältnis von Verwaltung und ländlicher Bevölkerung im Übergang vom Alten Reich zur Staatlichkeit des 19. Jahrhunderts im ländlichen Raum des westlichen Deutschland, also in jenem Gebiet, das durch die französische Herrschaft maßgebliche und über 1814 hinaus reichende Prägungen erhielt.10 Das Thema wurde in den letzten 20 Jahren intensiv unter verschiedenen Aspekten erforscht.11 In einem weiteren Sinne handelt es sich dabei auch um die Frage der Staatsbildung als kulturellem Prozess und einer kulturgeschichtlichen Perspektive auf Entstehung und alltägliche Praxis von Verwaltung.12 10 Vgl. Rowe, Michael, From Reich to State. The Rhineland in the Revolutionary Age, 1780–1830 (New Studies in European History), Cambridge 2003; ders., Between Empire and Home Town: Napoleonic Rule on the Rhine, 1799–1814, in: The Historical Journal 42 (1999), S. 643–674. 11 Vgl. die beiden aus einem von Lutz Raphael geleiteten DFG-Projekt an der Universität Trier hervorgegangenen Tagungsbände: Franz, Norbert/Grewe, Bernd-Stefan/Knauff, Michael (Hgg.), Landgemeinden im Übergang zum modernen Staat. Vergleichende Mikrostudien im linksrheinischen Raum (Trierer historische Forschungen, Bd. 36), Mainz 1999; Dörner, Ruth/Franz, Norbert/Mayr, Christine (Hgg.), Lokale Gesellschaften im historischen Vergleich. Europäische Erfahrungen im 19. Jahrhundert (Trierer historische Forschungen, Bd. 46), Trier 2001, sowie Raphael, Lutz, Staat im Dorf. Transformationen lokaler Herrschaft zwischen 1750 und 1850. Französische und westdeutsche Erfahrungen in vergleichender Perspektive, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 51 (2003), H. 1, S. 43–61; Mayr, Christine, Zwischen Staat und Dorf. Amtspraxis und Amtsstil französischer, luxemburgischer und deutscher Landgemeindebürgermeister im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2006 (Diss., Trier 2003); Franz, Norbert, Durchstaatlichung und Ausweitung der Kommunalaufgaben im 19. Jahrhundert. Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume ausgewählter französischer und luxemburgischer Landgemeinden im mikrohistorischen Vergleich (1805–1890) (Trierer historische Forschungen, Bd. 60), Trier 2006. Vgl. auch Klinkhammer, Lutz, Die Zivilisierung der Affekte. Kriminalitätsbekämpfung im Rheinland und in ­Piemont unter französischer Herrschaft 1798–1814, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1998, S. 119– 161. Klinkhammer hat dazu 2015 eine vergleichende Untersuchung als Habilitationsschrift an der Universität Mainz unter dem Titel „Die Grenzen der Liberté. Die Proklamation revolutionärer Freiheiten und deren Kontrolle im linksrheinischen Deutschland und im Piemont 1794–1813“ vorgelegt. Speziell dazu in zeitlich weiterer, aber rein städtischer Perspektive: Hachenberg, Karin, Die Entwicklung der Polizei in Köln von 1794 bis 1871 (Rechtsgeschichtliche Schriften, Bd. 10), Köln 1997 (vgl. die Rezension von Finzsch, Norbert, in: Rheinische Vierteljahresblätter 62 [1998], S. 441 f.). Die französische Forschung hat der Untersuchung der machtpolitischen Strukturen und Prozesse in den Gemeinden ebenfalls große Aufmerksamkeit gewidmet. Vgl. Jessenne, Jean-Pierre, Pouvoir au village et la Révolution. Artois 1760–1848, Lille 1987, sowie Dupuy, Roger (Hg.), Pouvoir local et Révolution 1780–1850. La Frontière Intérieure. Colloque International Rennes 28ième sept.–1er oct. 1993, Rennes 1995. 12 Zusammenfassend: Raphael, Lutz, Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert (Fischer 60158, Europäische Geschichte), Frankfurt am Main 2000. Zum weiteren Kontext der europäischen Staatsbildung vgl. Reinhardt, Wolfgang, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999; ders., „Staat machen“. Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1998, München 1999, S. 99–118; Asch, Ronald G./Freist, Dagmar (Hgg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005; Blockmans, Wim/ Holenstein, André/Mathieu, Jon (Hgg.), Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe, 1300–1900, Aldershot 2009.

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II. Revolution, Staat und Bürokratie in französischer Zeit Wer nach der Qualität staatlicher Entwicklung im Hinblick auf ihre politischen und sozial-kulturellen Auswirkungen fragt, ist noch immer gut beraten, die Thesen zur Kenntnis zu nehmen, die der französische Historiker Alexis de Tocqueville (1805–1859) bereits 1856 zum Verhältnis von Revolution und Ancien Régime vorlegte. Obschon von der Richtigkeit der Revolution überzeugt, argumentierte Tocqueville, sie habe im Hinblick auf die staatliche Entwicklung nur die vom Absolutismus begonnene Zentralisierung und Bürokratisierung vollendet.13 Die Erklärung dafür liegt auf der Hand, denn die absolutistische Tradition eignete sich wie keine andere zur Durchsetzung erst der missionarisch-revolutionären Sendung, sodann zur Durchsetzung des napoleonischen Herrschaftsanspruchs im Inneren wie gegenüber den Nachbarstaaten.14 Im Gefolge des Sieges der revolutionären Armeen Frankreichs erlebte das linksrheinische Gebiet ab 1798 einen beispiellosen Umbruch. Mit einem Federstrich wurden hier im Westen die alten feudalen Gewalten des Alten Reiches hinweggefegt. Mit einem Schlag verschwanden die Untertanen, Leibeigenen, Grundhörigen, Hintersassen und Zinser der alten Zeit und an ihre Stelle traten die „Bürger“ der „fränkischen Republik“.15 Freilich beanspruchte auch die neue Herrschaft Abgaben, was gleich 1798 ein so lautes Murren in der Bevölkerung auslöste, dass der erste Generalkommissar der vier neuen Departements, François Joseph Rudler (1757–1837), in einem Aufruf inständig die

13 Tocqueville, Alexis de, L’Ancien Régime et la Révolution, Paris 1856. 14 Vgl. die wegweisende Analyse von Agulhon, Maurice, La République au Village, Paris 1970, sowie Jones, Peter, Liberty and Locality in Revolutionary France. Six Villages Compared, 1760–1820, Cambridge 2003. 15 Käss, Ludwig, Die Organisation der Staatsverwaltung auf dem linken Rheinufer durch die Franzosen während der Besetzung 1792 bis zum Frieden von Lunéville (1801), Mainz 1929; Ortlepp, Rainer, Die französische Verwaltungsorganisation in den besetzten linksrheinischen Gebieten 1797–1814 unter besonderer Berücksichtigung des Departements Donnersberg, in: Gerlich, Alois (Hg.), Vom Alten Reich zu neuer Staatlichkeit. Kontinuität und Wandel im Gefolge der Französischen Revolution am Mittelrhein. Alzeyer Kolloquium 1979 (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 22), Wiesbaden 1982, S. 132–151; Graumann, Sabine, Französische Verwaltung am Niederrhein. Das Roerdepartement 1798–1814 (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, Bd. 27), Essen 1990; Dufraisse, Roger, L’installation de l’institution départementale sur la rive gauche du Rhin (4 novembre 1797–23 septembre 1802), in: ders., L’Allemagne à l’époque napoléonienne. Questions d’histoire politique, économique et sociale (Pariser historische Studien, Bd. 34), Bonn/Berlin 1992, S. 77–103; Engelbrecht, Jörg, Grundzüge der französischen Verwaltungspolitik auf dem linken Rheinufer (1794–1814), in: Dipper, Christof/Schieder, Wolfgang/Schulze, Reiner (Hgg.), Napoleonische Herrschaft in Deutschland und Italien – Verwaltung und Justiz, Berlin 1995 (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 16), S. 79–91; Feldmann, Irene, Die französische Verwaltung im Departement Roer – Gliederung und Arbeitsweise 1798–1814, in: Laux, Eberhard/Teppe, Karl (Hgg.), Der neuzeitliche Staat und seine Verwaltung. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte seit 1700 (Nassauer Gespräche der Freiherr vom Stein-Gesellschaft, Bd. 5), Stuttgart 1998, S. 65–84.

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Abb. 26  François Joseph Rudler (1757–1837), vor 1830, aus: Kraus, Thomas, Auf dem Weg in die ­Moderne – Aachen in französischer Zeit, Aachen 1994, S. 456.

Wohltaten der „Republik“ anpreisen musste.16 Noch heftiger fielen die Reaktionen auf die Einführung der Wehrpflicht aus. Überhaupt war der Einzug der neuen Verwaltungsgewalten von einer Fülle von Vorschriften begleitet. Der Erlass von über 600 Dekreten an einem einzigen Tag des Jahres 1798 kennzeichnet den enormen Bürokratisierungsschub. Die Verordnungen umfassten zum Teil Hunderte von Seiten. Ihre Drucklegung erschöpfte zeitweise die Kapazitäten sämtlicher rheinischer Druckereien.17 Die Bürokratisierung machte aus dem Untertan der Feudalzeit den „Administré“, den Verwalteten, wobei einiges, was nach revolutionärem Verständnis den „Bürger“, den „citoyen“, ausmachte, auf der Strecke blieb.18 Eine dieser Vorschriften besagte, dass 16 Landesarchiv Speyer, Bestand Y 24, Nr. 4742. Zur Finanzverwaltung vgl. Graumann, Verwaltung, S. 110– 131. 17 Müller, Jürgen, 1798 – Das Jahr des Umbruchs im Rheinland, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 62 (1998), S. 205–237, hier S. 217. 18 Vgl. insgesamt: Molitor, Hansgeorg, Vom Untertan zum Administré. Studien zur französischen Herrschaft und zum Verhalten der Bevölkerung im Rhein-Mosel-Raum von den Revolutionskriegen bis zum Ende der napoleonischen Zeit (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 99), Wiesbaden 1980; Smets, Josef, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Untersuchungen zum Verhalten der linksrheinischen Bevölkerung gegenüber der französischen Herrschaft 1794–1801, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 59 (1995), S. 79–122; ders., Von der „Dorfidylle“ zur preußischen Nation. Sozialdisziplinierung der linksrheinischen Bevölkerung durch die Franzosen am Beispiel der allgemeinen Wehrpflicht (1802–1814), in: Historische Zeitschrift 262 (1996), S. 695–738; ders., Les Pays Rhénanes (1794–1814). Le comportement des Rhénans face à l’occupation française, Bern 1997. Die Arbeit von Blanning, Timothy W. C., The French Revolution in Germany. Occupation and Resistance in the Rhineland 1792–1802, Oxford 1983, begreift die Wirkungen französischer Herrschaft in erster Linie als Folgen

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Abb. 27  Andreas Georg Friedrich von Rebmann (1768–1824), um 1800.

ein jeder, der sich an die Behörden wandte, seinem Namen stets den Begriff „Bürger“ beziehungsweise „citoyen“ hinzufügen musste, ansonsten wurde seine Eingabe erst gar nicht zur Kenntnis genommen.19 Die Bürokratisierung galt besonders für die kommunalen Verwaltungen. Ein zweibändiges Verwaltungshandbuch für deutsche Maires und Adjuncte vom Jahr X (1801/02) umfasste fast 1300 Seiten.20 Beflügelt von missionarisch-revolutionärem Elan gebärdete sich der neue Staat durch und durch obrigkeitsstaatlich, was damals selbst bei überzeugten Anhängern der neuen Errungenschaften wie Georg Friedrich Rebmann (1768–1824) Kritik hervorrief.21 einer militärischen Besatzung und nicht als systemische Folgen einer massiv intensivierten Staatlichkeit. Vgl. die Kritik von Clemens, Gabriele B., Diener dreier Herren. Die Beamtenschaft in den linksrheinischen Gebieten vom ‚Ancien Régime‘ bis zur Restauration, in: Schnabel-Schüle/Gestrich, Herrscher, S. 73–102, hier S. 75, Anm. 6. 19 Landesarchiv Speyer, Bestand G 1, Nr. 693. 20 Keil, Anton/Reinhard, Philipp Christoph, Vollständiges Handbuch für Maire und Adjuncten, für Polizey-Commissaire, Munizipal-Räthe, Contributions-Einnehmer und Repartitoren, Forst- und Feldwächter, etc., der vier neuen Departemente des linken Rheinufers, 2 Bände, Köln, Jahr X [1801/1802]. 21 Rebmann, Georg Friedrich, Blick auf die vier neuen Departemente des linken Rheinufers in Hinsicht auf Kunstfleiß, Sitten, und auf die Maasregeln betrachtet, welche zu ihrem Glück erforderlich seyn möchten, Koblenz/Trier, Jahr X [1801/1802]. Das Buch erschien 1805 in einer französischen Übersetzung unter dem Titel „Coup d’oeil sur les quatres départements de la rive gauche du Rhin“. Vgl. Rummel, Walter, „… bloß alle Lasten und noch keine Wohlthaten“. Wirken und Nachwirken der französischen Herrschaft der Jahre 1798–1814 im Rheinland, in: Veranstaltungen zum 220. Jahrestag der Ausrufung der Mainzer Republik am 18. März 2013, hg. vom Präsidenten des Landtags Rheinland-Pfalz (Schriftenreihe des Landtags Rheinland-Pfalz, Bd. 59), Mainz 2014, S. 89–114.

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Doch war von der demokratischen Gemeindeverfassung von 1789/90 schon vor dem Anschluss der Rheinlande an Frankreich nicht mehr viel übrig geblieben.22 Die Version, die Generalkommissar Rudler 1798 in den vier rheinischen Departements einführte, war nach den Erfahrungen des „Terreur“ und der direktorialen Reaktion stark obrigkeitsstaatlich geprägt. Alle Gemeindebeamten wurden vom Staat ernannt, ihre Aufgaben vom Staat definiert; staatliche Exekutivbeamte standen ihnen als Kontrolleure zur Seite. Eine Mitwirkung der Bevölkerung gab es nur bei der Bestellung von Gemeinderäten und anderen Beratungsgremien, doch war deren Einfluss auf die Exekutive gering. Wobei die Auswahl der dafür in Frage kommenden Kandidaten noch zusätzlich auf den Kreis der Höchstbesteuerten, also auf die sogenannten Notabeln, beschränkt war. Außerdem konnten die Wahlberechtigten nur Kandidaten wählen; Auswahl und Ernennung blieben der Staatsspitze vorbehalten. Ein wesentliches Element des Bürokratisierungsschubes war die Zusammenfassung der Einzelgemeinden in Gemeindeverbänden. Nachdem das Modell der kantonalen Gebietsgemeinde, die kleinere Gemeinden zusammenfasste, schon im Mutterland am Widerstand der ländlichen Bevölkerung gescheitert war,23 sollte ab 1800 grundsätzlich wieder das Prinzip der Einzelgemeinde („Mairie“) gelten. Doch in den linksrheinischen Departements hielt die französische Verwaltung auch unter dem Begriff „Mairie“ am Modell der Gebietsgemeinden fest. Eine eigene Mairie für eine Ortschaft sollte hier mindestens 2500 Einwohner aufweisen; kleinere Gemeinden mussten sich daher auch weiterhin zusammenschließen. Der gravierende Mangel an Personen, welche die aus französischer Sicht notwendigen Qualifikationen zur Leitung der Kommunen hatten – dazu gehörte auch die Beherrschung des Französischen als neuer Amtssprache24 –, zwang zu weiterer Konzentration. In ländlichen Gebieten konnten bis zu 100 Ortschaften einer einzigen Mairie angehören. Im Rhein-Mosel-Departement bestanden zeitweise 87 Mairien mit insgesamt 722 Einzelgemeinden.25 22 Knothe, Hermann, Die Gemeindegesetzgebung der französischen Revolution, Borna-Leipzig 1910 (Diss., Erlangen 1910); Heffter, Heinrich, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, 2., überarb. Auflage, Stuttgart 1969, S. 53–63. Vgl. Hintze, Hedwig, Staatseinheit und Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe 1928 mit einer neuen Einleitung von Rolf Reichardt, Frankfurt am Main 1989; Jessene, Jean-­Pierre, La mise en place des administrations locales dans le Pas-de-Calais en 1790. Adhésions et conflits, in: Dupuy, Pouvoir, S. 169–192. 23 Wolikow, Claudine, Les municipalités de canton: Èchec circonstanciel ou faiblaisse structurelle? Le cas du département de l’Aube, in: Bourdin, Philippe/Gainot, Bernard (Hgg.), La révolution directoriale, 2 Bände, Paris 1998, S. 231–260. 24 Müller, 1798, S. 218 f. 25 Bär, Max, Die Behördenverfassung der Rheinprovinz seit 1815 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. XXXV), Bonn 1919, S. 48; Ortlepp, Verwaltungsorganisation, S. 148; Engelbrecht, Grundzüge, S. 84. Vgl. Graumann, Verwaltung, S. 73–88, bes. S. 83–86. Graumann, Verwaltung, S. 86 f., geht für das Roerdepartement von insgesamt 684 Maires und Adjunkten gegenüber 1316 Präsidenten-, Agenten-, Adjunkten- und Sekretärstellen im kantonalen System aus. Knemeyer, Franz-Lud-

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Die Krönung des bürokratischen Zentralismus schuf der revolutionär-republikanische Staat in Gestalt seiner Departementverwaltungen.26 Sie erhielten ihre Weisungen von der Pariser Regierung und gaben sie befehlsgemäß nach unten weiter – an die Maires, die Munizipalagenten und an die „adjoincts“. 1801 verschärfte Napoleon Bonaparte (1769–1821) das System, indem er die bislang kollegialen Führungen der Departements durch von ihm ernannte Präfekten ersetzte, getreu der Devise: Verwalten muss das Geschäft eines Mannes […] seyn.27 Nicht zufällig war die Amtstracht der Präfekten der militärischen Uniform nachgebildet. Ganz nach militärischem Vorbild führte der Korse ein striktes System von Unter- und Überordnung ein, das von der Pariser Regierung bis hinunter zur Leitung von Gemeinden reichte. Passend dazu ist von Napoleons Schatzmeister Nicolas-François Mollien (1758–1850) der Ausspruch seines Herrn überliefert, der da lautete: Ich bin nicht nur die Regierung, sondern auch die Verwaltung jeder Stadt, jeden Dorfs.28 In diesem Sinne war jeder Maire in seiner Gemeinde ein Vertreter des Ersten Konsuls beziehungsweise des Kaisers, was eine völlige Umkehrung der Stellung bedeutete, welche Bürgermeister oder Heimbürgen im Alten Reich innehatten; selbst der herrschaftliche Schultheiß hatte noch mehr Bezug zu dem von ihm beaufsichtigten lokalen Personenverband. Der Speyerer Advokat Johann Löw (1771–1833), der seine Laufbahn in französischer Zeit in der Gemeindeverwaltung von Deidesheim begonnen hatte und über den Abzug der Franzosen 1813 hinaus grundsätzlich ein Befürworter der französischen Einrichtungen war, charakterisierte die napoleonische Kommunalverwaltung im Rückblick als ein militärisches Regiment blinden Gehorsams.29 Hansgeorg Molitor hat darauf bezogen geurteilt: „Hinter der Funktion des Maire als Staatsorgan trat die des Repräsentanten der kommunalen Selbstverwaltung völlig in den Hintergrund.“30 Noch drastischer

26 27

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wig, Regierungs- und Verwaltungsreformen in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Köln/Berlin 1970, S. 34, stellt für das Saar-Departement und das Rhein-Mosel-Departement fest, dass die Anzahl der Mairien auf ein Fünftel oder gar Sechstel ihrer ursprünglichen Zahl gesunken sei. Vgl. Rörig, Reinhold, Idee und Entwicklung der rheinischen Bürgermeistereiverfassung, Diss., Mainz 1956, S. 53 f., ferner Rolef, Georg, Die rheinische Landgemeindeverfassung seit der französischen Zeit, Berlin/Leipzig 1912/1913, S. 27 f. Vgl. den Beitrag von Martin Schlemmer in diesem Band. Zitat aus der Begründung des Verwaltungsgesetzes vom 28. Pluviôse bei Keil/Reinhard, Handbuch, Bd. 1, S. 30. Vgl. Knemeyer, Verwaltungsreformen, S. 34; Ortlepp, Verwaltungsorganisation, S. 148; Burg, Kommunalreformen, S. 255 mit weiterer Literatur; Graumann, Verwaltung, S. 73–88, bes. S. 83–86. Texte bei: Bormann, K. Th. F./Daniels, A. v. (Hgg.), Handbuch der für die Königlich Preußischen Rheinprovinzen verkündigten Gesetze, Verordnungen und Regierungsbeschlüsse aus der Zeit der Fremdherrschaft, Band 1–8, Köln 1833–1843, hier: Band 4, S. 124–129; ebd., Band 6, S. 466–559. Zit. bei Hunecke, Volker, Napoleon. Das Scheitern eines guten Diktators, Paderborn u. a. 2011, S. 156. Allgemeines Organisationsgutachten (1816), ediert bei Haan, Heiner (Bearb.), Hauptstaat – Nebenstaat. Briefe und Akten zum Anschluss der Pfalz an Bayern 1815–1817 (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 29), Koblenz 1977, S. 82. Molitor, Untertan, S. 64.

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hat der Historiker Karl-Georg Faber das Resultat dieser Umwälzungen im kommunalen Bereich in die Formulierung gefasst, dass die Entwicklung der modernen Kommunalverfassung im Westen Deutschlands um 1800 „mit der völligen Vernichtung jeder Selbstverwaltung“ begonnen habe.31 Was bedeutete dies in der Praxis? Ein zentrales Element von Bürokratisierung ist die Durchsetzung staatlicher Normen in gleichmäßiger Form an jedem Ort eines Staates. Insofern waren ihre damaligen Auswirkungen am meisten spürbar in den noch immer relativ staatsfern existierenden ländlichen Gemeinden.32 Sie unterstanden nun nicht nur dem staatlich eingesetzten Maire, sondern waren auch der staatlichen Kontrolle ihrer Ressourcen ausgesetzt. Letzteres erfolgte zunächst vor allem durch Einführung der Haushaltspflicht. Traditionell verfügten ländliche Gemeinden nicht über einen Haushalt, in dem Einnahmen und Ausgaben vorab festgelegt waren. Stattdessen finanzierten sie ihre Ausgaben von Fall zu Fall entweder aus Umlagen oder Darlehen. Am Ende eines Rechnungsjahres wurde dann abgerechnet. Ein höherer Beamter einer größeren Stadt des Rheinlandes, vermutlich Koblenz, brachte die traditionelle Praxis gemeindlicher Rechnungsführung im Rückblick aus den 1830er Jahren gegenüber August Freiherrn von Haxthausen (1792–1866) auf den Punkt, als dieser im Auftrage der preußischen Regierung die kommunalen Verwaltungsverhältnisse in den ehemals französischen, jetzt preußischen Gebieten am Rhein und in Westfalen erkundete: Seitdem es der Staatshaushalt mit sich brachte, Etats aufzustellen über die muthmaßliche Einnahme und Ausgabe des Jahres, sollte alles in dieselbe Form gegossen werden, die nun bis in die untersten Corporationsverhältnisse, die der Gemeinden, hinab zur Anwendung gebracht wurde. Völlig anders hatte jener Amtsträger noch die im Alten Reich in Dorfgemeinden übliche Praxis in Erinnerung: Sonst pflegten wohl die Gemeinden schlicht und einfach ihre Einnahme und Ausgaben, ihre Hülfsmittel und Bedürfnisse im Kopf zu rechnen, und wann das Jahr zu Ende gebracht war, das Resultat zu Papier zu bringen, oder wenn der Geist sich nicht so weit verstieg, die Sache mit Kreide auf dem Tisch abzurechnen – war der Tisch abgewischt, so war die Abrechnung gethan.33 Die Abschaffung dieser unbürokratischen Verfahrensweise stand zwar schon im 18. Jahrhundert auf der Agenda spätabsolutistischer Territorialherrschaft, wie entsprechende Verbote im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken (1758) und der

31 Faber, Karl-Georg, Die kommunale Selbstverwaltung in der Rheinprovinz im 19. Jahrhundert, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 131–151, hier S. 135. Zur Entwicklung der kommunalen Verwaltung im Heiligen Römischen Reich aus der Sicht der älteren verfassungsgeschichtlichen Landesgeschichtsforschung vgl. Steinbach, Franz (unter Mitwirkung von Becker, Erich), Geschichtliche Grundlagen der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland (Rheinisches Archiv, Bd. 20), Bonn 1932. 32 Rowe, Empire, S. 643 und S. 645. 33 [Haxthausen, August Freiherr von], Nachtrag zu dem Gutachten über den nach den Beschlüssen eines Königl. Hohen Staatsraths redigierten Entwurf einer ländlichen Gemeindeordnung für die Provinzen Westphalen und Rheinland, o. J., o. O. [ca. 1835], S. 179.

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Markgrafschaft Baden-Durlach (1760) zeigen, konnte aber im linksrheinischen Deutschland erst durch den französischen Staat durchgesetzt werden.34 Die neue Etatisierungspflicht verschaffte dem französischen Staat einen Zugriff auf die gemeindlichen Ressourcen, wie er in dieser Weise zumindest gegenüber den ländlichen Gemeinden bis dahin nicht existiert hatte. Nach dem Finanzgesetz vom 5. Dezember 179735 mussten alle Einkünfte vorab im Etat aufgelistet und sodann ihre beabsichtigte Verwendung deklariert werden, womit alle Ausgaben der Genehmigung der vorgesetzten Behörden unterlagen. Bislang autonom gestaltete innerdörfliche Praktiken gerieten auf den Prüfstand der staatlichen Bürokratie. Noch stärker wirkte sich dieser Umbruch in einigen Gebieten dadurch aus, dass der seit 1809 amtierende Präfekt des Roerdepartements, Jean Charles François de Ladoucette (1772–1848), damit begann, die Güter von ländlichen Einzelgemeinden in den Besitz der Mairie zu überführen, weil er innerhalb dieser Gemeindeform überhaupt keine Ortsgemeinden mehr anerkannte, getreu seinem Wahlspruch, wo ich also einen Maire finde, da ist auch nur eine Commune […].36 Er folgte damit vermutlich einer Entwicklung, die durch Einführung einer neuen Gemeindeverfassung im Großherzogtum Berg 1807 initiiert war.37 Die Gegenreaktion in den Gemeinden blieb nicht aus, es blühten in allen Departements die schwarzen Kassen beziehungsweise „Winkelkassen“, wie die spätere preußische Verwaltung feststellen musste38, und viele Gemeinden taten alles, um ihr Vermögen gegenüber dem Maire und vorgesetzten Stellen zu verschleiern. So stellte Andreas van Recum (1765–1828), Unterpräfekt im Hunsrück mit Sitz in Simmern, fest: Es ist unglaublich, wie die Gemeinden, und selbst oft in Beystand ihres Maires und Municipal-Rathes, ihre gemeine Einkünften zu verheimlichen suchen!39

34 Landeshauptarchiv Koblenz, Bestand 33, Nr. 7508 und Nr. 260. 35 Das Gesetz wurde mit Verordnung vom 21.4.1798 von Rudler eingeführt. Loi qui établit un mode pour l’imposition et le paiement des dépens administratives et judiciaires, gedruckt in Bormann/Daniels, Handbuch, Bd. 3, S. 583–587; vgl. Bd. 6, S. 642. Hintergrund dieses Gesetzes wie auch des darauf folgenden Finanzgesetzes vom 1.12.1798 war der praktische Staatsbankrott Frankreichs um 1797/98; vgl. Godechot, Jacques, Les institutions de la France sous la Révolution et l’Empire, Paris 1951 (2. Aufl. Paris 1968), S. 431–434. 36 [Haxthausen, August Freiherr von], Gutachten über den nach den Beschlüssen eines Königlichen Hohen Staatsrats redigierten Entwurfs einer ländlichen Gemeindeordnung für die Provinzen Westfalen und Rheinlande, o. O., o. J., [Berlin 1833/34], S. 12. 37 Severin-Barboutie, Bettina, Französische Herrschaftspolitik und Modernisierung. Verwaltungs- und Verfassungsreformen im Großherzogtum Berg (1806–1813) (Pariser historische Studien, Bd. 85), München 2008, S. 163–253. 38 Schütz, Rüdiger, Preußen und die Rheinlande. Studien zur preußischen Integrationspolitik im Vormärz (Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815–1945, Reihe A, Bd. 7), Wiesbaden 1979, S. 126. 39 [Recum, Andreas van], Unterricht für die Municipal-Räthe und diejenigen, welche durch besondern Auftrag mit der Abhörung der Gemeinds-Rechnungen und mit der Liquidation und Gleichstellung der Gemeinds-Kriegs-Schulden beschäftiget sind, o. O., Jahr X [1801/1802], S. 19.

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Abb. 28  Jean Charles François de Ladoucette (1772– 1848), Lithografie, Paris, 1848, Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 495.

Worum es in sozial-kultureller Hinsicht dabei letztlich ging, geht sehr anschaulich aus Unterlagen der zum Landkreis Cochem gehörenden Gemeinde Lutzerath in der südlichen Eifel hervor:40 Am 8. März 1821 schrieb der Bürgermeister an den Landrat einen Brief, der en passant eine kleine Geschichte der Bürokratie im ländlichen Raum zum Besten gab: Seit unerdenklichen Zeiten war es dahier in Lutzerath gebräuchlich, daß den Weibern am Fastnacht eine Ohm Wein als Fastnachtstrunk aus der Gemeinde-Casse angekauft und auf dem Gemeinde-Haus abgegeben wurde. Dieser Ausgabe Posten findet sich in allen früheren Bürgermeisters Rechnungen [!] eingetragen und von der höhern Verwaltungs Behörde [!] genehmigt, und ist erst bey der französischen Verfassung aus denselben heraus geblieben, weil man voraus wußte, daß er nicht genehmigt würde [!]. Dieser Umstandt verhinderte jedoch nicht die fernere Beibehaltung dieses alten Gebrauchs und wurden die Kosten theils aus den frühern Winkelkassen, theils von sonstigen Fonds gezahlt. Als erstere [das heißt die Winkelkassen; W. R.] aufhörten, griffen die Bürger ihr Brandholz an, so haben sie auch voriges Jahr bey meiner Abwesenheit eine bey der Theilung des Brandholzes unter die Burger übrig gebliebene Quantität Holz ihren Weibern zum Verkauf und [zur] Anschaffung ihres Fastnachts Trunks abgegeben. Da aber das diesjährige Brandholz so gering ausgefallen, auch schon abgetheilt ist, so verschwindet das letzte Mittel […] um den Weibern zu ihrem Trunk zu verhelfen, weshalb eine ganze Deputation bey mir erschienen ist, und die Anschaffung des Weins aus der Gemeinde-Casse geziemend verlangte. Der Bericht bescheinigt einer kleinen ländlichen Gemeinde ein erstaunliches Beharrungsvermögen gegenüber dem bürokratischen Regiment des französischen Staates. Aber es gab noch stärkere Reaktionen auf die jetzt stattfindende Modernisie40 Landeshauptarchiv Koblenz, Bestand 655/117, Nr. 432.

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rung. So kam es in Reaktion auf die Einführung der Wehrpflicht 1798 im luxemburgischen Wälder-Departement zu einem regelrechten Bauernaufstand, dem berühmten „Klöppelkrieg“.41 Spielte dabei auch die revolutionär motivierte Unterdrückung öffentlicher Religionsausübung noch eine Rolle, so reichte die Einführung der Wehrpflicht (1802) in den rheinischen Departements aus, um 1809 im ländlichen Bereich des Saar-Departements ein Zusammenlaufen von ca. 5000 Bauern auszulösen, die sich eine stundenlange Schlacht mit Gendarmerie und Militär lieferten.42 Eine weitere Steigerung war der sogenannte „Knüppel-“ oder „Speckrussenaufstand“ im napoleonischen Musterstaat Großherzogtum Berg im Januar 1813. Er wurde zwar durch das Verlangen nach neuen Rekruten ausgelöst, zeigt aber daneben ganz deutlich eine allgemein antibürokratische Motivation. So wurden vorrangig Bürgermeisterämter gestürmt und nicht nur Akten zur Konskription (inklusive der Zivilstandsregister) vernichtet, sondern auch Steuerakten.43 Alles das ist später unter dem Einfluss eines nationalpolitischen Zeitgeistes als patriotisches Aufbegehren gegen die französische „Fremdherrschaft“ glorifiziert worden. In Wirklichkeit aber handelte es sich um Gegenreaktionen gegen grundlegende Institutionen, Praktiken und Lasten des modernen Staates.44

41 Trausch, Gilbert, Die Luxemburger Bauernaufstände aus dem Jahre 1798. Der „Klöppelkrieg“, seine Interpretation und sein Nachleben in der Geschichte des Großherzogtums, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 48 (1984), S. 161–237. 42 Dieser Vorgang ist leider noch nicht eingehender erforscht. Vgl. Dufraisse, Roger, Une rebellion en pays annexé: Le „soulèvement“ des gardes nationales de la Sarre an 1809, in: Bulletin de la Société d’histoire moderne, 14. serie, 109 (1969), S. 2–6; ders., Les „oubliés“ de la Revolution en pays annexés: L’example des campagnes du Palatinat à l’époque napoléonienne, in: ders., L’Allemagne, S. 295–351, hier S. 340; Stein, Wolfgang Hans, Napoleonfeste im Saar-Departement, in: Landeskundliche Vierteljahrsblätter 58 (2012), H. 1, S. 13–28, hier S. 24. 43 Iskjul’, Serguei N., Der Aufstand im Großherzogtum Berg gegen Napoleon im Jahre 1813, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 92 (1986), S. 57–86; Nehls, Alfred (Hg.), Der Speckrussenaufstand 1813. Gummersbach am Ende der Napoleonischen Herrschaft (Beiträge zur Gummersbacher Geschichte, Bd. 2), Gummersbach 1988; Kandil, Mahmoud, Sozialer Protest gegen das napoleonische Herrschaftssystem. Äußerungen der Bevölkerung des Großherzogtums Berg 1808–1813 aus dem Blickwinkel der Obrigkeit, Aachen 1995, S. 72–74 und S. 101–116. 44 Vgl. Faber, Karl-Georg, Verwaltungs- und Justizbeamte auf dem linken Rheinufer während der französischen Herrschaft. Eine personengeschichtliche Studie, in: Aus Geschichte und Landeskunde. Forschungen und Darstellungen. Franz Steinbach zum 65. Geburtstag gewidmet von seinen Freunden und Schülern, Bonn 1960, S. 350–388, hier S. 367; Speitkamp, Winfried, Sozialer und politischer Protest im napoleonischen Deutschland, in: Heinemeyer, Walter (Hg.), Hundert Jahre Historische Kommission für Hessen. 1897–1997. Festgabe, dargebracht von Autorinnen und Autoren der Historischen Kommission (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 61), 2 Bände, Marburg 1997, S. 713–730.

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III. Fortsetzung unter preußischer Herrschaft Bei der Übernahme der drei ehemaligen französischen Departements an Rhein, Mosel und Saar sowie der französischen Musterstaaten Westfalen und Berg im Jahre 1815 durch Preußen bestand auf Seiten der Staatsführung zunächst die Absicht, alle revolutionären beziehungsweise von den Franzosen eingeführten Strukturen in der Verwaltung abzuschaffen und mittelfristig das französische Recht durch gesamtpreußisches Recht zu ersetzen. Die Städte sollten die Stein’sche Städteordnung annehmen, die Gemeinden die preußische Schulzenverfassung und direkt den Landräten unterstellt sein – so die Vorstellung von Innenminister Friedrich von Schuckmann (1755–1834). Aber in dieser Hinsicht vollzog die preußische Politik binnen weniger Jahre eine erstaunliche Kehrtwendung, wie Rüdiger Schütz in seiner Untersuchung der damaligen Diskussion um die rheinische Gemeindeordnung gezeigt hat.45 Denn schon bald nachdem sich die neuen Regierungen von Düsseldorf bis Trier eingearbeitet hatten, ging von ihnen mehr oder weniger einheitlich der Wunsch nach Beibehaltung der für Stadt und Land gleichen Kommunalverfassung der französischen Herrschaft aus. Dabei hatte die Regierung Koblenz noch 1816 ganz im Sinne des antifranzösischen Impulses des preußischen Innenministers die bestehende Vereinigung von Gemeinden zu einer Bürgermeisterei als „widernatürlich“ betrachtet, weil sie eine Gemeinschaft unterstelle, die realiter nicht existiere und sich auch bürokratisch nicht herstellen lasse: Wo keine wirkliche Sozietät von Gemeinden besteht, da läßt sich kein Verbindungssystem unter ihnen errichten. Die Regierung plädierte daher damals für die Auflösung der Mairien (jetzt Bürgermeistereien genannt) und für die eigenständige Konstruktion einer auf die Einwohnergemeinde bezogenen Gemeindeverwaltung. Diese Konzeption ist umso bemerkenswerter, als man den Gemeinden jetzt neben einem eigenen gewählten Gemeinderat sogar einen gewählten Bürgermeister als Spitze der Gemeindeverwaltung zubilligen wollte. Die bisherige Funktion des Bürgermeisters als staatlicher Vollzugs­ beamter sollte aufgehoben werden, jener ausschließlich als Gemeindebeamter fungieren. Auch in der Vermögensverwaltung sollte den Gemeinden eine größere Selbstständigkeit eingeräumt werden.46 Doch schon bald setzte sich unter allen rheinischen Regierungen die Ansicht durch, dass es vorteilhafter sei, die französische Kommunalverfassung beizubehalten. Diese Position bezog ihre Argumente nun ausgerechnet aus dem bürokratischen Zentralismus der französischen Strukturen sowie aus der Hauptamtlichkeit der Bürgermeister auch im ländlichen Bereich, weil deren Bezahlung zum Vorteil des Staates aus den gemeindlichen Steuern bestritten wurde. Die größte Wohltat sah daher die Regierung Düsseldorf in dieser Praxis, weil sie ja die Staatskasse durchaus nichts koste, die allgemeine Verwaltung 45 Dazu und zum Folgenden: Schütz, Preußen, S. 115–130. 46 Ebd., S. 126–129.

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aber in jeder denkbaren Hinsicht erleichtere.47 Der Düsseldorfer Regierungspräsident Philipp von Pestel (1767–1835) hob besonders das Prinzip der Hauptamtlichkeit hervor, modern gesprochen: der Professionalität, weil nur damit gewährleistet werde, dass man die Bürgermeisterstelle stets mit einem brauchbaren Manne besetzen könne. ­Düster erschienen ihm daher die Aussichten bei Aufgabe der französischen Kommunalverfassung zugunsten der damals vom Innenminister favorisierten Verwaltung durch Ortsvorsteher nach altpreußischem Vorbild.48 Auf der gleichen Linie lag auch die von der Regionalverwaltung propagierte und durchgeführte Einsetzung der Gemeinderechner. Deren Fehlen war aus Sicht der Regierung Koblenz für die vielen innerörtlichen Streitigkeiten, die Leidenschaften und den Partei- und Verfolgungs-Geist in den Dörfern verantwortlich – zweifellos eine Folge der vielerorts entstandenen „Winkelkassen“, deren fehlende Kontrolle natürlich auch innerhalb der Gemeinden Konflikte auslösen konnte, Kehrseite der illegalen Autonomie der vergangenen Jahrzehnte.49 Interessanterweise erhielt die neue preußische Verwaltung bei ihrem Plädoyer zur Beibehaltung der französischen Kommunalverfassung nachhaltige Unterstützung aus dem städtischen Bürgertum, das damit aus ureigenstem Interesse zugleich zwei Prinzipien verteidigte: Erstens die Gleichheit von Stadt und Land und damit das einheitliche Staatsbürgertum und zweitens die liberale Gerichtsverfassung der französischen Epoche – beides ging unter der Bezeichnung „Kampf um die rheinischen Institutionen“ in die rheinische Geschichtsfolklore ein. Dass man jedoch mit der Mairie zugleich eine ungemein bürokratische und autokratische Form der Kommunalverfassung beibehalten wollte, die jede Selbstverwaltung ausschloss, das nahmen die bürgerlichen Protagonisten gerne in Kauf, denn in den städtischen Verwaltungszentren begegneten sich die neuen Verwalter und das politisch maßgebliche Bürgertum auf Augenhöhe, hier kam der Staat ohnehin nicht ohne bürgerliche Assistenz aus. Im ländlichen Raum hingegen hielt man den autoritären Zugriff der staatlichen Verwaltung für durchaus berechtigt, um die dort üblichen, als rückständig und fortschrittsfeindlich empfundenen Traditionen abzuschaffen. In diesem Sinne formulierte 1842 der Einsender einer Zuschrift an die „Kölnische Zeitung“: Es ist anrätlicher, liberale Staatsverfassungen als allzu freie Gemeindeverfassungen zu bilden. Der Düsseldorfer Regierungspräsident brachte seine diesbezügliche Überzeugung damals in fast gleichlautenden Worten auf den Punkt: Möge man bedenken, daß die Zeit der übermächtigen und anmaßenden Selbständigkeit 47 Ebd., S. 115 u. S. 119. 48 Pestel weiter: In polizeilicher und administrativer Hinsicht war übrigens dieser Beamte [sc. der hauptamtliche Maire; W.R.] von entschiedenem Nutzen. Selten wird eine Gemeinde im Stande sein, aus eigenen Kräften einen unterrichteten, brauchbaren Vorsteher zu besolden, wenn sie auch, was noch mehr zu bezweifeln ist, einen solchen in ihrer Mitte finden sollte, der mit der Fähigkeit auch den Willen verbindet, sich der Gemeinde-Verwaltung als einem, in vielen Punkten unangenehmen Geschäft zu unterziehen […] (zit. n. ebd., S. 119). 49 Ebd., S. 126.

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der Gemeinden [!] vorüber ist und daß es anrätlicher erscheint, liberale Staatsverfassungen als allzu freie Gemeindeverfassungen zu bilden.50 Karl-Georg Faber hat diesen Widerspruch im rheinischen Liberalismus in seiner Untersuchung zum politischen Diskurs des rheinischen Bürgertums im Vormärz auf den Punkt gebracht. Die Diskussion über die rheinische Bürgermeisterei und die Stellung des Bürgermeisters zeige, so Faber, „dass viele maßgebende Fachleute für Kommunalfragen […] nicht bereit waren, der Gemeinde als Ganzes die gleichen Freiheiten und Rechte gegenüber dem Staat einzuräumen wie dem einzelnen Staatsbürger“, weil sie aufgrund ihrer Prägung durch gouvernementale Traditionen altpreußischer oder französischer Provenienz, aber auch durch die aufgeklärte Denkschule, vorrangig individualistischen Idealen des Staatsbürgers anhingen und in institutioneller Hinsicht nur den Staat als einzig legitimen Faktor des politischen Lebens anerkennen konnten. Sie hätten daher, so Faber, „nur wenig Verständnis für die Idee der Selbstverwaltung im Sinne einer korporativen Freiheit der Gemeinde gegenüber dem Staat“ gehabt.51 Der weitere Gang der Geschichte ist bekannt. Die französische Kommunalverfassung wurde im Rheinland beibehalten und in ihren Grundzügen mitsamt dem Dreiklassenwahlrecht in der Rheinischen Gemeindeordnung von 1845 festgeschrieben. Doch schon 1817 hatte die Regierung Koblenz die französische Gemeindeverfassung auch auf das davon bislang verschonte rechtsrheinische Gebiet ihres Sprengels (Westerwald) übertragen und damit dort genau jene vorrevolutionären Strukturen abgeschafft, die Innenminister von Schuckmann damals noch anstelle der französischen Neuerungen favorisierte. Verwaltung und Justiz wurden nun getrennt, Haushaltspflicht und -kontrolle eingeführt, desgleichen Bürgermeister und Gemeinderechner als hauptamtliche Posten, und ihre Besoldung wurde den Gemeinden übertragen. Die Schockwirkung dieser Maßnahme für die bislang in der vertrauten Gemütlichkeit frühneuzeitlicher Traditionen lebenden rechtsrheinischen Gemeinden lässt sich daran ablesen, dass es den Schöffen von drei betroffenen Gemeinden gelang, sich direkt an Staatskanzler Karl August von Hardenberg (1750–1822) zu wenden, als dieser 1818 die Rheinprovinzen bereiste.52 Die von den Schöffen dabei vorgebrachten Argumente sind in jeder Hinsicht klassisch für das Bemühen von Gemeinden um Bewahrung traditioneller Einrichtungen und um Abwehr finanzieller Lasten: Wir wissen uns zu bescheiden, daß über dergleichen Anordnungen dem Unterthanen kein Urtheil zustehe, daß solche auf der Willkühr seines Landesherrn beruhen. Wenn aber mit einer solchen neuen Einrichtung zugleich neue Kos50 Zit. bei Faber, Karl-Georg, Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution. Probleme der rheinischen Geschichte von 1814 bis 1848 im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik, Wiesbaden 1966, S. 194 u. S. 196; vgl. ebd., S. 186 ff. 51 Ebd., S. 204. Vgl. Theuringer, Thomas, Liberalismus im Rheinland. Voraussetzungen und Ursprünge im Zeitalter der Aufklärung (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 803), Frankfurt am Main u. a. 1998. 52 Zum Folgenden: Landeshauptarchiv Koblenz, Bestand 402, Nr. 186 (1818), S. 5–35, hier bes. S. 8–20.

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ten verknüpft werden, welche nicht allein an sich schon sehr drückend erscheinen, sondern auch mit den hergebrachten vom Landesherrn garantierten Verfassung in geradem Wiederspruche stehen, so wird es dem getreuen Unterthanen niemand verargen, wenn er dagegen in aller Unterthänigkeit seine Remonstrationen vorträgt. Modern gesprochen formulierten die Beschwerdeführer bereits hier das sogenannte Konnexitätsprinzip, mit dem sich etwa das Land Rheinland-Pfalz 2004 in seiner Verfassung (Artikel 49, Absatz 5) gegenüber den Kommunen dazu verpflichtet hat, künftig für alle gesetzlich den Gemeinden übertragenen zusätzlichen Aufgaben eine entsprechende Finanzausstattung zu gewähren.53 Doch auch in den Details ihrer Eingabe von 1818 beim preußischen Staatskanzler argumentierten die Beschwerdeführer überraschend modern:54 Die von ihnen vorgetragenen Einwände seien bei den Behörden ohne Beantwortung geblieben – dies beklagte die Arroganz der Verwaltung. Auch sei bereits auf die schnellste Erhebung und Auszahlung der Umlagen zur Finanzierung der neuen Posten schärfste Execution angesagt und in einer Bürgermeisterei schon vollzogen worden – dies bedeutete, dass der neue Staat willens war, rigoros durchzugreifen. Schließlich folgte eine vernichtende Kritik am Primat bürokratischer Zwecke: Es sei augenscheinlich, dass jene Anordnung bloß zur Erleichterung des Geschäftsganges der vorgesetzten Verwaltungsbehörden geschaffen worden sei, da sie für die Untertanen nicht den mindesten Nutzen ergebe, diesen vielmehr völlig einerlei sein könne, ob Justiz- und Polizeigeschäfte wie früher von einer Stelle oder nun von zwei verschiedenen Behörden ausgeübt würden (!). Die Vortragenden rundeten ihre Einwände mit dem Königsargument traditionaler Beschwerdeführung ab – mit dem Verweis auf das Herkommen, das hier in Gestalt einer Garantie ihres früheren Landesherrn, des Herzogs von Nassau, bestand. Dieser habe die Beachtung bestimmter Obergrenzen bei der Besteuerung zugesagt, die nun durch die Erhebung einer Abgabe zur Finanzierung der neuen Posten überschritten würden.55 Auf der gleichen Ebene lag noch ein zweiter Stein des Anstoßes: die Entmachtung der Schöffen durch Anordnung einer fernere[n] drükkende[n] neue[n] Einrichtung, die ebenfalls aus dem Beutel der Gemeindemitglieder zu bezahlen war – eines Gemeinderechners, der die bislang den Schöffen zustehende Rechnungslegung vornehmen sollte. Den dritten Stein des Anstoßes in dieser Modernisierungskritik bildete schließlich der Einzug des bürokratischen Formalismus im Dorf. Dazu lautete die Beschwerde: Daß nun bei allen Verwendungen und Anschaffungen für Gemeindezwecke solche unerträgliche Weitläufigkeiten und Formalitäten vorgeschrieben sind, daß kein Mensch mehr auf 53 35. Landesgesetz zur Änderung der Verfassung von Rheinland-Pfalz vom 27.5.2004. Das entsprechende Ausführungsgesetz trat am 16.3.2006 in Kraft. In Nordrhein-Westfalen galt bis zum 30.6.2004 das „relative Konnexitätsprinzip“, das zum 1.7.2004 durch das „strikte Konnexitätsprinzip“ abgelöst wurde. Vgl. Müller, Walter/Meffert, Horst, „Wer bestellt, bezahlt“. Die Einführung des Konnexitätsprinzips in Rheinland-Pfalz, in: Der Gemeindehaushalt 6 (2006), S. 121–126. 54 Landeshauptarchiv Koblenz, Bestand 402, Nr. 186, S. 9. 55 Ebd., S. 9–12.

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Gemeinde-Rechnung etwas arbeiten will. Auch bey den geringsten Kleinigkeiten soll jezo mit der größten Genauigkeit ein Überschlag von Sachverständigen entworfen, derselbe vom Schöffen attestiert, demnächst der Kreis-Direction zur Genehmigung vorgelegt, endlich die Rechnung über den Betrag abermals an die Kreis-Direction zur Assignation eingesendet und wieder remittirt werden. Alle diese Formalitäten sind bey einer Sache, die oft kaum einige Gulden betrifft, streng zu beobachten. Bisweilen fällt diese Pünktlichkeit ins Lächerliche, wenn z[um] Ex[emplum] bey einer kleinen Reparatur vom Herrn Landrath eine strenge Nachweisung verlangt wird, wie viel Nägel dazu erforderlich seyen. Auch diese Ausführungen sind von verblüffender Aktualität; man könnte sie heutzutage in jeder Diskussion um die Bürokratisierung der öffentlichen Verwaltung beziehungsweise ihres Gebarens gegenüber der gewerblichen Wirtschaft anführen. Das Fazit der Eingabe der Gemeindevertreter lautete: Nichts wäre wünschenswerther, als wenn die alte Verfassung beybehalten und das Geschäft der Gemeinde-Einnahme und Ausgabe vor wie nach den Schöffen überlassen bliebe. Die Gemeinden würden viel daran gewinnen und der Gang der Geschäfte würde erleichtert werden.56 Die Beschwerdeführer der rechtsrheinischen Gemeinden kamen dann auch auf ähnliche Eingriffe in die Forst­verwaltung zu sprechen, die zwar ältere Beschränkungen ihres Waldeigentums aufhoben, ihnen aber gleichzeitig eine Menge neuer Forstbedienter zumuteten,57 welche auf Kosten der Gemeinden und nach den Vorstellungen der staatlichen Verwaltung die Aufsicht über die Waldungen halten sollten. Mit der Wald-Frage ist ein Thema angeschnitten, das ganz zentral zu der hier behandelten Frage der gemeindlichen Selbstverwaltung beziehungsweise ihrer Unterdrückung im ländlichen Raum gehört. Denn der Wald war noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein die zentrale Ressource der ländlichen Bevölkerung für Brenn- und Baumaterial, Dünger und Weide.58 Der Staat wiederum sah in diesen Nutzungen nur sogenannte „Neben-Nutzungen“, wie sie bezeichnenderweise in der Sprache der Verwaltung hießen, während die Hauptnutzung des Waldes in der Bereitstellung von Holz für den expandierenden Markt bestehen sollte. Aus staatlicher Sicht ging es also primär um die Erzielung von monetärem Gewinn, der in den Gemeindehaushalt fließen und dort – damit schließt sich der Kreis – gemäß dem von den staatlichen Behörden geprüften und genehmigten Haushalt zur Finanzierung staatlich vorgegebener Aufgaben herhalten sollte. Ein eisernes System staatlicher Kontrolle überzog daher den Umgang mit dem gemeindlichen Wald.59 In allen Belangen auch des gemeindlichen Waldes hatte 56 Ebd., S. 19–20. 57 Ebd., S. 20–22. 58 Vgl. zum Gesamtzusammenhang Selter, Bernward, Waldnutzung und ländliche Gesellschaft. Landwirtschaftlicher ‚Nährwald‘ und neue Holzökonomie im Sauerland des 18. und 19. Jahrhundert (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 13), Paderborn 1995. 59 Grewe, Bernd-Stefan, Der versperrte Wald. Ressourcenmangel in der bayerischen Pfalz (1814–1870) (Umwelthistorische Forschungen, Bd. 1), Köln 2004.

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nun die staatliche Forstverwaltung das letzte Wort. Die Gemeinden durften zwar eigene Waldhüter anstellen, mussten dabei aber vorrangig ausgediente Soldaten nehmen, die über den ihnen vom Staat gewährten „Forstversorgungsberechtigungsschein“ verfügten. Gemeindliche Versorgungsbelange waren nachrangig, während die Waldkultur mit dem Argument der Nachhaltigkeit auf das Wachstum von schnell wachsendem Nadelholz umgepolt wurde, welches für die Landbevölkerung ohne Wert war, aber lukrative Erlöse erzielte. Die erzwungene Aufforstung mit dem „Preußenbaum“, so die damals aufkommende verächtliche Bezeichnung für die von der preußischen Forstverwaltung favorisierten Nadelbäume, ging örtlich mit so erbitterten Auseinandersetzungen einher, dass zum Beispiel im Hunsrück in den 1850er Jahren Militärschutz für die Durchführung dieser Maßnahmen angefordert werden musste.60 Beispielhaft für die vielen erfolglosen Eingaben sei eine Eingabe der Eifelgemeinde Elsenborn im Regierungsbezirk Aachen aus dem Jahr 1863 angeführt. Nachdem wiederholt ihre Versuche gescheitert waren, ein Eingehen der staatlichen Forstverwaltung auf die gemeindlichen Bedürfnisse hinsichtlich der Nutzung des Gemeindewaldes zu erreichen, schrieb der Gemeinderat an den Koblenzer Oberpräsidenten: Schließlich werden wir wohl so ziemlich mit dem Gedanken vertraut werden, daß die Gemeinde-Waldungen mehr wegen der Gemeinde-Forst-Verwaltung, letztere aber weniger wegen unserem Wald vorhanden sind.61 Das Fragezeichen, mit dem der Oberpräsident diese Bemerkung am Rande kommentierte, zeigt, dass die Verwaltung in keiner Weise imstande war, ihre Position zu hinterfragen. Über Jahrzehnte finanzierten die Gemeinden mit dem Ertrag ihrer Wälder vornehmlich die Kosten der Forstverwaltung und andere ihnen vom Staat auferlegte Aufgaben wie Wegebau und Schulwesen. Was sie selbst von ihrem Wald zugunsten ihrer unmittelbaren Bedürfnisse erhofften, mussten sie sich wie Diebe in der Nacht beschaffen. Das taten sie denn auch, weniger aus Lust denn aus schierer Not, mit dem Ergebnis, dass der sogenannte Forstfrevel das häufigste Eigentumsdelikt des 19. Jahrhunderts wurde.62 Mit dieser Konsequenz berührt nun das Projekt der Verstaatlichung der ländlichen Gemeindeverwaltungen das zentrale politische Ereignis der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – die Revolution von 1848/49. Denn Entmündigung und Reglementierung sowie der faktische Verlust des Verfügungsrechts über den Waldbesitz waren neben der steuerlichen Überlastung die zentralen Beschwerden, welche die Landgemeinden in der Revolution artikulierten. Die Forderung nach Selbstverwaltung

60 Gildemeister, Reinhard, Wald, Bauernland und Holzindustrie im östlichen und mittleren Hunsrück. Wirtschaftslandschaft und sozialgeographisches Gefüge (Arbeiten zur rheinischen Landeskunde, H. 17), Bonn 1962, S. 41–43. 61 Landeshauptarchiv Koblenz, Bestand 403, Nr. 8620, S. 200. 62 Blasius, Dirk, Kriminalität und Alltag. Zur Konfliktgeschichte des Alltagslebens im 19. Jahrhundert (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1448), Göttingen 1978, S. 16 f., S. 22 f. und S. 55–58.

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war entsprechend ihre zentrale Forderung.63 Die damals vielerorts stattfindende Vertreibung von Bürgermeistern, Forsthütern und Lehrern dokumentiert Ausmaß und Ursache des Unmuts.64 Diese ländliche Revolution ist von der Forschung lange Zeit übersehen worden, bis der amerikanische Historiker Jonathan Sperber sich ihr in seinem Buch „Rhineland Radicals“ 1991 erstmals ausführlich gewidmet hat.65 Sperbers These ist bemerkenswert: Hätte das oppositionelle städtische Bürgertum die Bedeutung dieser Problematik für den ländlichen Raum erkannt und berücksichtigt, wäre die Revolution erfolgreich gewesen. Tatsächlich fürchtete der preußische Staat damals nichts mehr als einen Aufstand der Landbevölkerung, eine Tatsache, die beim Winzeraufstand im Herbst 1848 an der mittleren Mosel und während der Steuerverweigerungskampagne offen ausgesprochen wurde.66 Doch keine der damals von und in den Landgemeinden erhobenen Forderungen wurde eingelöst. Selbst die Revolution von 1918 änderte nichts an der bürokratischen Struktur der preußischen Gemeindeordnung. Erst im Jahre 1927 beschloss die damalige preußische Regierung ein Gesetz, das die Wahl des Amtsbürgermeisters durch die Mitglieder des Gesamtgemeinderates vorsah,67 womit es dann schon sechs Jahre später aufgrund der Machtübernahme der Nationalsozialisten wieder vorbei war.

IV. Ausblick Der weitere Verlauf der Auseinandersetzung um den Fastnachts Trunk der Weiber im Eifelort Lutzerath deutet diese Entwicklung exemplarisch an. Weil der Bürgermeister 1821 auf sein Ersuchen um Genehmigung des Fastnachtsweines für die Frauen seiner Gemeinde vom zuständigen Landrat keine Antwort erhalten hatte, kam es zur innergemeindlichen Selbsthilfe. Maskiert zogen fast alle Weiber von Lutzerath und Driesch nur wenige ausgenommen mit Äxten bewaffnet durchs Dorf in den Wald und hieben dort eine 63 Zu Auswirkungen dieses Prozesses auf Ursachen und Verlauf der Revolution von 1848/49 im ländlichen Raum vgl Rummel, Walter, Gegen Bürokratie, Steuerlast und Bevormundung durch den Staat. Anliegen und Aktionen der ländlichen Gebiete der Rheinprovinz während der Revolution 1848/49, in: Lennartz, Stephan/Mölich, Georg (Hgg.), Revolution im Rheinland. Veränderungen der politischen Kultur 1848/49 (Bensberger Protokolle, Bd. 99), Bielefeld 1998, S. 109–162. 64 Vgl. ebd., S. 135–141. Vgl. den insgesamt ähnlichen Befund zur Rolle der ländlichen Gebiete in der Revolution bei Back, Nikolaus, Dorf und Revolution. Die Ereignisse von 1848/49 im ländlichen Württemberg (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 70), Sigmaringen 2010. 65 Sperber, Jonathan, Rhineland Radicals. The Democratic Movement and the Revolution of 1848–1849, Princeton N.J. 1991. 66 Rummel, Bürokratie, S. 149 f.; ders., Kanonen gegen Winzer – Kolonnen gegen Bauern. Die Revolution von 1848/49 in den ländlichen Gebieten des Saar-Mosel-Raumes, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 24 (1998), S. 305–328. 67 Gesetz über die Regelung verschiedener Punkte des Gemeindeverfassungsrechts vom 27.12.1927, § 6, § 2 (Preußische Gesetzsammlung Nr. 43 vom 29.12.1927, S. 212).

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Eiche um, nachdem sie einen Waldhüter an einen Baum gebunden hatten (ein zweiter konnte diesem Schicksal nur knapp entgehen). Anschließend läuteten die „Frevler“ die Gemeindeglocke, um zur Versteigerung zu schreiten. Für den Februar 1831 ist immerhin ein weiterer offizieller Vorstoß der Gemeinde dokumentiert, um den traditionellen Fastnachtswein für die Frauen der beiden Dörfer Lutzerath und Driesch aus der Gemeindekasse bezahlen zu dürfen, und erstaunlicherweise wurde dieses Gesuch vom damaligen Landrat, wenn auch um ungefähr ein Drittel gekürzt, sogar genehmigt (laut Rechnung des Schankwirtes wurden offiziell 7/12 Ohm Wein anstelle eines Ohmes gekauft). Der Bürgermeister hatte damals dem Landrat die Beibehaltung der gemeindlichen Tradition wärmstens ans Herz gelegt: Ich kann wirklich nicht dafür stimmen, diesen uralten Gebrauch, der den armen Bürgersweibern, deren viele das ganze Jahr hindurch nichts als Kummer und Last haben, doch alljährlichs einige vergnügte Augenblicke sichert, aufzuheben und dadurch allgemeinen Mismuth zu erregen; erlaube mir daher in Uebereinstimmung mit dem Willen der betreffenden Gemeinde Vorsteher, die gehorsamste Bitte, um geneigte Autorisation […]. Doch die Bezirksregierung Koblenz hatte ihr Missfallen über diese Aktion bekundet und die Bezahlung des Weines aus der Gemeindekasse nachträglich verboten.68 Vermutlich behalfen sich die Betroffenen daraufhin wieder mit einer verschleierten Aktion. Im Februar 1850 ist in der Akte der letzte offizielle Vorstoß zur Aufrechterhaltung des alten Brauchs überliefert, dieses Mal schrieb eine der Lutzerather Frauen stellvertretend für die anderen an den neuen Bürgermeister. Während der vorausgegangenen Revolution hatten auch Einwohner der Gemeinde Lutzerath die vorübergehende Erlangung faktischer Verfügung über ihren Wald, wie in vielen anderen Gemeinden, mit dem Fällen von Bäumen gefeiert.69 Das war nun vorbei und dementsprechend harsch und bürokratisch fiel die Antwort des Bürgermeisters aus: Antwort: Auf ihr im Auftrage aller Bürgersweiber an mich eingereichtes Gesuch vom 6. d[ieses] M[onats] in Betreff des Weiberfastnachtstrunk eröffne ich Ihnen als Bescheid, daß ich bei der nun wiedergekehrten Ordnung [!] alle mir zu Gebote stehenden Mittel gegen die Wiedereinführung eines der Religion und den guten Sitten widerstreitenden Mißbrauchs aufbieten und die Zuwiderhandelnden unnachsichtig zur gerichtlichen Verfolgung dem königlichen Herrn Oberprokurator anzeigen werde.70 *

68 Landeshauptarchiv Koblenz, Bestand 655/117, Nr. 432 (Auszug aus Verfügung der Koblenzer Regierung vom 28.2.1831), Bl. 13. 69 Sperber, Rhineland, S. 167. Vgl. Luz-y-Graf, Guillermo, 1848/49 in Trier und Umgebung. Revolution und Revolutionskultur einer Stadt und ihres Umlandes, in: Dühr, Elisabeth (Hg.), „Der schlimmste Punkt in der Provinz“. Demokratische Revolution 1848/49 in Trier und Umgebung. Katalog-Handbuch einer Ausstellung des Städtischen Museums Simeonstift Trier, Trier 1998, S. 239–364. 70 Landeshauptarchiv Koblenz, Bestand 655/117, Nr. 432, Bl. 15v.

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Die französische Herrschaft hat mit der Einführung hierarchischer und bürokratischer Strukturen insbesondere in der Kommunalverwaltung die Gemeinden als Verwaltungsgemeinschaft verstaatlicht – das ist eine Grundtatsache, welche in praktisch jeder historisch angehauchten staatswissenschaftlichen Abhandlung anklingt und sogar in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei Klagen betreffend das im Grundgesetz formulierte Selbstverwaltungsprinzip angesprochen wird.71 Mehr noch: Die in den rheinischen Departements des französischen Staates im Unterschied zum Mutterland entwickelte Gebietsgemeinde kann als Blaupause der heute hier im Westen Deutschlands existierenden Gemeindeverfassungstypen angesehen werden – die 1975 in Nordrhein-Westfalen eingeführte Einheitsgemeinde, innerhalb derer die ehemaligen Ortsgemeinden zu Ortsteilen reduzierten wurden, wie es bereits zur französischen Epoche in Ansätzen im Roerdepartement und im Großherzogtum Berg erkennbar war,72 sowie die Anfang der 1970er Jahre in Rheinland-Pfalz eingeführte Verbandsgemeinde mit Beibehaltung der Ortsgemeinden, die auf der 1945/46 im ehemals preußischen Norden des neuen Bundeslandes fortgeführten Amtsbürgermeisterei beruhte und ihrerseits ein ziemlich genaues Abbild der in den Departements von Saar und Rhein-Mosel eingerichteten Mairie-Verbände war.73 Erst 1993 wurde in Rheinland-Pfalz die Wählbarkeit der Verbandsgemeindebürgermeister und der Landräte eingeführt. Das heißt, erst jetzt wurden die seit dem frühen 19. Jahrhundert wichtigsten Instanzen des Staates im ländlichen Raum kommunalisiert. Gleichwohl besteht die staatliche Kommunalaufsicht natürlich weiter74 und speziell in Rheinland-Pfalz schreitet auch die weitere Zusammenfassung von Gemeinden beziehungsweise Vergrößerung der Gemeindeverbände seit der vorigen Legislaturperiode voran. Sie wird wie in der Reformperiode Ende der 1960er/Anfang der 1970er 71 Blümel, Willi, Wesensgehalt und Schranken des kommunalen Selbstverwaltungsrechts, in: Mutius, Albert von (Hg.), Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft. Festgabe zum 70. Geburtstag von Georg Christoph von Unruh (Schriftenreihe des Lorenz-von-Stein-Institut für Verwaltungswissenschaften Kiel, Bd. 4), Heidelberg 1983 S. 265–303. Knemeyer, Franz-Ludwig, Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung nach Art. 28 GG Abs. 2 GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Verwaltungsarchiv – Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik 92 (2001), S. 317–343, hier S. 320–323. 72 Für das Gebiet des Niederrheins konstatiert Hansjoachim Henning: „Am nachhaltigsten hat jedoch die kommunale Neugliederung von 1975 die überkommene Identifikation mit der Region Niederrhein in Frage gestellt, aber auch herausgefordert. Traditionelle örtliche Zusammenhänge wurden zerrissen und jahrhundertelange Eigenständigkeiten unsensibel aufgehoben.“ Henning, Hansjoachim, Historische Landeskunde als Instrument regionaler Identifikation? Beispiele aus dem Gebiet des linken unteren Niederrheins, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte und Landeskunde 21 (1997/98), S. 109–119, hier S. 112. 73 Rummel, Walter/Maier, Franz/Hennig, Joachim, Verfassung, Verwaltung und Justiz, in: Kahlenberg, Friedrich P./Kißener, Michael (Hgg.), Kreuz – Rad – Löwe. Rheinland-Pfalz. Ein Land und seine Geschichte, Band 2: Vom ausgehenden 18. bis zum 21. Jahrhundert, Mainz 2012, S. 179–258, hier S. 239–244. 74 Vgl. dazu die ungemein instruktive Arbeit von Kahl, Wolfgang, Die Staatsaufsicht. Entstehung, Wandel und Neubestimmung unter besonderer Berücksichtigung der Aufsicht über die Gemeinden (Jus Publicum, Bd. 59), Tübingen 2000.

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Jahre begleitet von den gleichen Diskussionen, die sich um die Frage der gemeindlichen Identität und Selbstbestimmung drehen – auch dies ein fernes Echo jener Beschwerden, welche schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und insbesondere in den ländlichen Gemeinden gegen das Übermaß staatlicher Bevormundung laut geworden sind. Die Bevormundung der Gemeinden hinsichtlich der Bewirtschaftung ihres Waldbesitzes lässt sich in Rheinland-Pfalz ebenfalls bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nachzeichnen. Nach einer Neuauflage im rheinland-pfälzischen Waldgesetz von 1950 wurde erst mit dem neuen Waldgesetz des Jahres 2000 eine Abkehr von der unter Frankreichs und Preußens Herrschaft eingeschlagenen Tradition eingeleitet. Ausdrücklich distanziert sich die Begründung dieses Gesetzes von der bislang praktizierten Bevormundung der Gemeinden – so lange reichte auch in dieser Hinsicht der bürokratische Atem der französisch-preußischen Tradition im Umgang des Staates mit den ländlichen Kommunen.75

75 Rummel/Maier/Hennig, Verfassung, S. 248; Gesetz- und Verordnungsblatt der Landesregierung von Rheinland-Pfalz, 2000, S. 504, bes. § 33. Vgl. für das Preußen der Weimarer Republik das Urteil von Peters, Hans, Grenzen der kommunalen Selbstverwaltung in Preußen. Ein Beitrag zur Lehre vom Verhältnis der Gemeinden zu Staat und Reich, Berlin 1926, S. 179: „Eingehende Sonderregelungen beschränken vielfach die Gemeinden von Staats wegen in der Verfügungsberechtigung über ihre Forsten.“

Johann August Sack (1764–1831)

Oberpräsident an Rhein und Oder – eine preußische Beamtenkarriere in Zeiten des Umbruchs Margret Wensky

Johann August Sack gehört zu der Generation von Spitzenbeamten aus der zweiten Reihe, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts maßgeblich zum Wiederaufstieg Preußens beigetragen und den Staat in seinen Provinzen gestärkt haben.1 Sack ist hier in einem Zuge zu nennen mit Oberpräsidenten wie Theodor von Schön (1773–1856) in der Provinz Preußen, Friedrich Theodor von Merckel (1775–1846) in Schlesien und Ludwig von Vincke (1774–1844) in Westfalen. Sie alle einte die Verbundenheit mit dem Freiherrn vom Stein (1757–1831) und dem Reformwerk.

Abb. 29  Johann August Sack (1764–1831), Lithografie gezeichnet und gestochen von Ludwig Buchhorn (1770–1856).

1 Die Vortragsfassung wurde für den Druck erweitert.

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I. Forschungsstand Sacks Wirken auf den vielen Stationen seines langen Beamtenlebens im Dienste der preußischen Monarchie und sein Anteil am Reformwerk hat Niederschlag in den Darstellungen und Untersuchungen zu Geschichte und Verwaltung Preußens und der von Sack verwalteten Provinzen gefunden.2 Es fehlt jedoch eine umfassende Biografie, zuletzt noch bemängelt von Bärbel Holtz3 und Johannes F. Weise.4 Ein Nachruf mit vielen Details aus Sacks Leben findet sich 1833 im „Neuen Nekrolog der Deutschen“.5 Hermann Petrich, ein frommer evangelischer Theologe und Schriftsteller, veröffentlichte 1887 ein Lebensbild von Sack.6 Der 100. Todestag Sacks im Jahre 1931 bot Anlass für mehrere Veröffentlichungen: Wilhelm Steffens legte neben einer Edition von Sacks Briefwechsel mit Stein und Gneisenau zwischen 1807 und 1817,7 eingeleitet mit einer Darstellung von Sacks 2 Literatur in Auswahl: Fenske, Hans, Die Verwaltung Pommerns 1815–1945 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe 5: Forschungen zur pommerschen Geschichte, Bd. 26), Köln/ Weimar/Wien 1993; Hermann, Alfred, Die Stimmung der Rheinländer gegenüber Preußen 1814/16, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 115 (1929), S. 366–394; Herres, Jürgen, „Und nenne Euch Preußen!“ Die Anfänge preußischer Herrschaft am Rhein im 19. Jahrhundert, in: Schnabel-Schüle, Helga/Gestrich, Andreas (Hgg.), Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa (Inklusion, Exklusion, Bd. 1), Frankfurt am Main u. a. 2006, S. 103–137; Inachin, Kyra T., Nationalstaat und regionale Selbstbehauptung. Die preußische Provinz Pommern 1815– 1945 (Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns, Bd. 7), Bremen 2005; Koselleck, Reinhart, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848 (Industrielle Welt, Bd. 7), Stuttgart 1987 (Sonderausgabe); M ­ ellies, Dirk, Modernisierung in der preußischen Provinz? Der Regierungsbezirk Stettin im 19. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 201), Göttingen 2012; Ribhegge, Wilhelm, Preußen im Westen. Kampf um den Parlamentarismus in Rheinland und Westfalen 1789–1947, Münster 2008, bes. S. 1–69; Rowe, Michael, From Reich to State. The Rhineland in the Revolutionary Age, 1780–1830 (New Studies in European History), Cambridge 2003, bes. S. 211–281; Unruh, Georg-Christoph von, Provinz Pommern, in: Heinrich, Gerd/Henning, Friedrich-Wilhelm/Jeserich, Kurt G. A. (Hgg.), Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands 1815–1945. Organisation – Aufgaben – Leistungen der Verwaltung, Stuttgart/ Berlin/Köln 1992, S. 589–676; Wehrmann, Martin, Geschichte von Pommern, Bd. 2: Bis zur Gegenwart, Gotha 1906, S. 247–276. 3 Holtz, Bärbel, Berliner Personalpolitik in einer „braven“ Provinz. Ernennungen zu den obersten Verwaltungsbehörden Pommerns (1815–1858), in: Stamm-Kuhlmann, Thomas (Hg.), Pommern im 19. Jahrhundert. Staatliche und gesellschaftliche Entwicklung in vergleichender Perspektive (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern Reihe V, Bd. 43), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 31–76, zu Sack bes. S. 39–42. 4 Weise, Johannes F., Johann August Sack (1764–1831) – Preußischer Oberpräsident am Rhein und in Pommern, in: Stamm-Kuhlmann, Pommern, S. 77–89. 5 9. Jg. 1831, 1. T., Ilmenau 1833, S. 566–572. 6 Petrich, Hermann, Pommersche Lebensbilder, T. 2: Aus dem Zeitalter der Befreiung, Stettin 1887, zu Sack S. 255–315. Vgl. auch ders., Sack, Johann August, in: Allgemeine Deutsche Biographie 30 (1890), S. 152– 153, https://www.deutsche-biographie.de/pnd116742569.html#adbcontent (abgerufen am 26.6.2018). 7 Steffens, Wilhelm (Hg.), Briefwechsel Sacks mit Stein und Gneisenau (1807/17). Anlässlich des 100. Todesjahres (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Bd. 5), Stettin 1931.

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Leben und Wirken, zwei kürzere biografische Skizzen vor.8 Das Lebensbild, das 1931 Gertha von Dieckmann, geb. Sack, dem ehemaligen Oberpräsidenten widmete, speiste sich unter anderem aus Dokumenten im Besitz der Familie.9 Ein Kurzporträt lieferte 1959 Hans Branig.10 In einem Vergleich von Persönlichkeit und Leistung der preußischen Oberpräsidenten um 1830 berücksichtigte Gerd Heinrich auch Johann August Sack.11 Die jüngste biografische Skizze mit Schwerpunkt auf Sacks Wirken in Pommern ist 2007 Johannes F. Weise zu verdanken,12 der sich bereits in seiner Dissertation von 2005 über die Integration Schwedisch-Pommerns in den preußischen Staat mit Sack beschäftigt hat.13 Ein nennenswerter Nachlass ist nicht erhalten, Sack hat keine Tagebücher oder sonstigen Schriften hinterlassen, wie beispielsweise seine Kollegen Vincke und Schön. Eine begonnene Autobiografie ist über einige Bemerkungen zu Kindheit und Jugend nicht hinausgekommen.14 Doch die Quellenlage ist insgesamt gut, sodass daran keine ausführliche Biografie scheitern dürfte.15 Man fühlt sich offenbar heute weder im   8 Steffens, Wilhelm, Johann August Sack (1764–1831), in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt 52 (1931), Nr. 34, S. 665–668; ders., Johann August Sack, in: Pommersche Heimatpflege 2 (1931), S. 95–102.   9 Dieckmann, Gertha von, Zum Gedächtnis des vor 100 Jahren verstorbenen Dr. Joh. Aug. Sack, Oberpräsident der Provinz Pommern, Arolsen 1931. 10 Branig, Hans, Die Oberpräsidenten der Provinz Pommern, in: Baltische Studien NF 46 (1959), S. 92–107, zu Sack S. 94–96. 11 Heinrich, Gerd, Acht Exzellenzen. Persönlichkeit und Leistung der Oberpräsidenten des Preußischen Staates um 1830 im Vergleich, in: Behr, Hans-Joachim/Kloosterhuis, Jürgen (Hgg.), Ludwig Freiherr von Vincke. Ein westfälisches Profil zwischen Reform und Restauration in Preußen (Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abt. Münster), Münster 1994, S. 89–113, zu Sack bes. S. 102–104. 12 Weise, Sack, S. 77–89. 13 Weise, Johannes Friedrich, Die Integration Schwedisch-Pommerns in den preußischen Staatsverband. Transformationsprozesse innerhalb von Staat und Gesellschaft, Diss. phil., Rostock 2005. 14 Vgl. Petrich, Lebensbilder, S. 257 f. 15 Archivalische Quellen zu Sack finden sich v. a. im Geheimen Staatsarchiv Stiftung Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) in Berlin, für Sacks rheinische Zeit auch im Landesarchiv NRW Abt. Rheinland (LAV NRW R) sowie im Landesarchiv Koblenz; zum Oberpräsidium Pommern vgl. Staatsarchiv Stettin – Wegweiser durch die Bestände bis zum Jahr 1945, bearb. v. Radosław Gaziński [u. a.] (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Bd. 24), München 2004, S. 69– 75; gedruckte Quellenwerke (Auswahl): Granier, Herman (Hg.), Berichte aus der Berliner Franzosenzeit 1807–1809. Nach den Akten des Berliner Geheimen Staatsarchivs und des Pariser Kriegsarchivs (Publikationen aus den K. Preussischen Staatsarchiven, Bd. 88), Leipzig 1913; Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934/38 (Acta Borussica NF 1. Reihe), Bd. 1 u. 2, bearb. v. Christina Rathgeber, Hildesheim/Zürich/New York 2002/2004; Scheel, Heinrich (Hg.)/Schmidt, Doris (Bearb.), Das Reformministerium Stein. Akten zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte aus den Jahren 1807/08, 3 Bände (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Schriften des Instituts für Geschichte, Reihe 1, Bd. 31 A–C), Berlin 1966–1968; Rühl, Franz (Hg.), Briefe und Aktenstücke zur Geschichte Preussens unter Friedrich Wilhelm III., vorzugsweise aus dem Nachlass von F. A. von Stägemann, 3 Bände, Leipzig 1902; Steffens, Briefwechsel; Botzenhart, Erich (Bearb.), neu hrsg. von Walther Hubatsch, Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, 10 Bände, Stuttgart 1957–1974 (zit. „Stein, Briefe und amtliche Schriften“).

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Margret Wensky

Rheinland noch in Pommern so recht für Leben und Werk dieses bedeutenden preußischen Verwaltungsmannes verantwortlich.16

II. Herkunft und Ausbildung, erste Karriereschritte in Kleve und in Westfalen Geboren wurde Johann August Sack am 7. Oktober 1764 in Kleve als sechstes von zwölf Kindern des angesehenen und wohlhabenden Kriminalrats, Regierungsadvokaten und Schöffen Carl August Sack (1721–1810)17 und seiner Ehefrau Margareta Gertrud Not(t)­ mann18 (1739–1799). Der Familie des Vaters – er selbst war Sohn eines reformierten Pfarrers im anhaltinischen Hecklingen – gehörten neben Pfarrern Kaufleute, Juristen, Offiziere, Ratsherren und Bürgermeister an. Sie war überwiegend im mittel- und ostdeutschen Raum verwurzelt, die Familie der Mutter im Rheinischen. In Straubels biografischem Handbuch der preußischen Verwaltungs- und Justizbeamten 1740–1806/15 sind außer Johann August allein elf miteinander verwandte Namensträger Sack verzeichnet,19 darunter vier seiner Brüder.20 Hinzu kommen die zahlreichen mit Sack Versippten, die es ebenfalls zu hochrangigen Stellungen in der preußischen Verwaltung gebracht haben. Stellvertretend seien hier nur Sacks Schwager August von Reiman(n) (1771–1847) genannt, 1816–1834 Regierungspräsident in Aachen, 1834–1843 Mitglied des Staatsrats,21 oder ein weiterer Schwager, Christoph Wilhelm Heinrich (von) Sethe (1767–1855), 1816 Chef der Immediat-Justizkommission und ab 1819 Präsident des Rheinischen Revisions- und Kassationshofes zu Berlin.22 Wie Sack stammten Reiman und Sethe aus höheren klevisch-preußischen Beamtenfamilien.

16 Vgl. demnächst Wensky, Margret, Johann August Sack (1764–1831), in: Rheinische Lebensbilder, Bd. 21, hg. von Elsbeth Andre/Helmut Rönz, in Vorbereitung. 17 Biografische Daten bei Straubel, Rolf, Biographisches Handbuch der preußischen Verwaltungs- und Justizbeamten 1740–1806/15, 2 Teile, München 2009, hier T. 2, S. 836. 18 Nicht Rothemann, wie gelegentlich zu lesen, z. B. in: Das silberne Buch der Familie Sack, hg. für die Mitglieder der Hofrath Sack’schen Stiftung, 2. vervollständigte Ausgabe [von] Gertha Dieckmann geb. Sack, Wiesbaden 1900, S. 26. 19 Straubel, Handbuch, T. 2, S. 836–840, zu Johann August S. 839 f. 20 Carl Heinrich Theodor (1759–1808), Regierungsrat; Christian Cornelius (1761–1819), Kriegs- und Domänenrat; Ferdinand Johann Arnold (1770–1836), Regierungsrat; Ernst Heinrich Eberhard Sigismund (1775–1847), Kriegs- und Domänenrat, Oberbergrat, Regierungsrat. 21 Vgl. Romeyk, Horst, Die leitenden staatlichen und kommunalen Verwaltungsbeamten der Rheinprovinz 1816–1945 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 69), Düsseldorf 1994, S. 684. 22 Seit 1796 verheiratet mit Sacks jüngster Schwester Henriette Philippine; der Jurist Sethe war 1812 Generalprokurator am Appellationsgerichtshof Düsseldorf und Staatsrat im Großherzogtum Berg; er leitete die Immediatkommission, die 1816 das preußische und das französische Recht vergleichen sollte, wobei er erfolgreich den Code civil verteidigte, wirklicher Geheimer Rat mit dem Prädikat Exzellenz, 1850 geadelt, vgl. Straubel, Handbuch, T. 2, S. 952.

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Seine im Nord- und Mitteldeutschen verankerten Biografen schreiben Sacks wesentliche Charakterzüge und Eigenarten – etwas klischeehaft – seiner rheinischen Herkunft zu. So schreibt Steffens: „Der Heimat und dem Elternhause verdankte er wesentliche Züge seiner Eigenart. Nach Anlagen, Temperament und Denkungsart gehörte er durchaus dem Westen Deutschlands an.“23 Ähnlich Weise:24 „Hinzu kam die für den Menschenschlag im Westen Deutschlands typische Wesensart des frohgemuten und temperamentvollen Miteinanders.“ Gleichzeitig wird Sack attestiert, dass er durchaus leidenschaftlich und verbissen sein konnte, sein Auftreten bisweilen polternd und undiplomatisch schroff. „Ebenfalls prägend war die relative Fortschrittlichkeit seiner Heimat. Früh zeigte sich Sack aufgeschlossen gegenüber liberalem und modernem Gedankengut.“ Doch zunächst einmal besuchte Johann August Sack das Gymnasium in Kleve und ab 1780 das renommierte Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin, dessen zeitweiliger Visitator (1750–1766) sein Großonkel, der Dom- und Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786) war. Als Berliner Dom- und Hofprediger wirkte seit 1777 auch dessen Sohn Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738–1817). Der ältere Sack war ein prominenter Vertreter der Aufklärungstheologie, der Neologie. Beide Hofprediger Sack sind als theologische Schriftsteller hervorgetreten, beide gehörten zu den führenden Vertretern der reformierten Kirche in Preußen und hatten großen Anteil an der 1817 vollzogenen Kirchenunion.25 Sie pflegten rege Kontakte mit führenden Persönlichkeiten und Geistesgrößen ihrer Zeit. Der 16-jährig nach Berlin verpflanzte Schüler Johann August ist von diesem Umfeld nicht unbeeinflusst geblieben, zumal er wohl im Hause des älteren Sack gewohnt hat.26 Sack selbst schreibt 1816, dass er von dem Großonkel seine erste Jugenderziehung erhalten habe.27 Ausgestattet mit einer soliden humanistischen Bildung studierte Sack 1782 bis 1785 in Halle und Göttingen Kameral-, Rechts- und Bergbauwissenschaften.28 Nach der ersten Prüfung wurde er Ende 1785 als Auskultator bei der preußischen Kriegs- und Domänenkammer in Kleve angenommen.29 Im Oktober 1787 wurde er nach Ablegung der zweiten Prüfung zum Regierungsreferendar und 1788 nach der großen Staatsprüfung zum 23 Steffens, Briefwechsel, S. 3. 24 Weise, Sack, S. 78. 25 Vgl. Pockrandt, Mark, Biblische Aufklärung. Biographie und Theologie der Berliner Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786) und Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738–1817) (Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 86), Berlin/New York 2003. Friedrich Wilhelm III. verlieh Samuel Gottfried Sack 1816 den Bischofstitel und berief ihn 1817 in den Staatsrat. 26 So Steffens, Briefwechsel, S. 5. Nach Petrich, Lebensbilder, S. 258, hat er im Hause des „frommen Professors Knapp“ gewohnt. 27 GStA PK I. HA Rep. 89 Nr. 13560 fol. 14v. 28 Zeugnis der Universität Halle über das Studium von Sack vom 12.10. bzw. 5.9.1784: GStA PK I. HA GR Rep. 34 Nr. 1121 fol. 77. Selle, Götz von (Hg.), Die Matrikel der Georg-August-Universität zu Göttingen 1734–1837 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hannover, Oldenburg, Braunschweig, Schaumburg-Lippe und Bremen 9 b), Hildesheim/Leipzig 1937, S. 283. 29 GStA PK I. HA GR Rep. 34 Nr. 1121 fol. 73, 76.

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Regierungsassessor ernannt.30 Durch seine Kenntnisse des Berg- und Hüttenwesens war er in Kontakt mit dem Minister von Heinitz31 gekommen, dem im Berliner Generaldirektorium das Bergwerks- und Hüttendepartement sowie das Departement der westfälischen Provinzen unterstanden. Das Bergwesen stand in Preußen vor allem nach dem Siebenjährigen Krieg hoch im Kurs, galt als Zukunftswissenschaft und erfreute sich der besonderen Förderung durch den König. Das Berg- und Hüttendepartement, seit 1768 ein eigenständiges Departement im Generaldirektorium, entwickelte sich unter Heinitz zu einer regelrechten Kaderschmiede für eine Reihe künftiger preußischer Spitzenbeamten,32 allen voran der Freiherr vom Stein, Alexander von Humboldt (1769–1859), Friedrich Wilhelm von Reden (1752–1815), Friedrich August Eversmann (1759–1837) und eben Johann August Sack. Auf Veranlassung von Heinitz wurde Sack 1788 zum Bergrichter und Bergrat an das Klevisch-Märkische Bergamt in Wetter an der Ruhr berufen und gleichzeitig zum Assessor cum voto in Kleve ernannt.33 In Wetter machte Sack die für sein weiteres Leben und seine Karriere so entscheidende Bekanntschaft mit dem Freiherrn vom Stein, dem die Gesamtleitung des Montanwesens in der Grafschaft Mark übertragen war. Stein wurde Sack nicht nur Mentor und zeitweilig Vorgesetzter, sondern mit dem sieben Jahre Älteren sollte ihn in gegenseitiger Hochschätzung eine lebenslange Freundschaft verbinden und fast auch der Todestag – Stein starb am 29. Juni 1831, einen Tag später als Sack. Vielseitige Fachkompetenz, Arbeitseifer und Arbeitseffizienz brachten Sack rasch vorwärts. Seiner bergbaulichen Kompetenz verdankte er die Mitarbeit am Allgemeinen Landrecht (1794), wozu er 1791 mit einem Gutachten zum bergbaulichen Teil beitrug.34 Auf Vorschlag von Heinitz wurde Sack 1791 zum Kriegs- und Domänenrat sowie Justitiarius an der Kriegs- und Domänenkammer in Kleve berufen, unter Beibehaltung seines Sitzes im Bergamt und des Rechts, weiter die Berguniform tragen zu dürfen.35 Unter der Ägide Steins, der 1793 auch Kammerpräsident in Kleve wurde, lernte Sack zunächst gründlich das noch friderizianisch-absolutistisch geprägte Verwaltungsgeschäft kennen. Als 1795 wegen der Franzosengefahr die Verlegung der Klevischen Kammer von Wesel, wo sie sich mittlerweile befand, nach Minden vorbereitet wurde, gehörte Sack zu der Kammerdeputation, die in Wesel bleiben sollte.

30 GStA PK I. HA GR Rep. 34 Nr. 1136 fol. 89. 31 Friedrich Anton Freiherr von Heinitz (1725–1802), seit 1777 preußischer Minister für das Berg- und Hüttenwesen. 32 Vgl. Duchhardt, Heinz, Stein. Eine Biographie, 2. Aufl., Münster 2010, S. 54. 33 GStA PK I. HA GR Rep. 34 Nr. 1136 fol. 124–127. 34 Vgl. Steffens, Briefwechsel, S. 7. 35 Sacks Ernennungen 1791–1798: GStA PK II. HA GD Abt. 18 Tit. 8 Nr. 2. Vgl. auch Sacks eigene Angaben zu seiner Laufbahn und seinen Aufgaben in: GStA PK I. HA Rep. 89 Nr. 13560.

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1797 wurde er mit einer heiklen diplomatisch-politischen Mission betraut, als er in Köln die Verhandlungen mit dem französischen General Hoche36 über die finanziellen Leistungen der linksrheinischen Besitzungen Preußens führen musste. Nach der Konvention, die er mit Hoche im März 1797 abschloss, sollten die Klevischen Stände monatlich 80.000 Francs zahlen, dafür aber von weiteren Leistungen befreit bleiben. Es trübte Sacks Ruf als geschickter Verhandler nicht, dass die Franzosen die Vereinbarung bereits ein Jahr später aufsagten.

III. Im Berliner Generaldirektorium Der nächste Karriereschritt kam im Oktober 1797, als Sack von Heinitz in das Generaldirektorium nach Berlin berufen wurde, also in die oberste Verwaltungsbehörde Preußens. Die Ernennung zum Geheimen Oberfinanzrat erfolgte 1798.37 Mit der Konsolidierung seiner Beamtenlaufbahn trat er in den Ehestand und heiratete 1799 in Kleve Marianne von Reiman (1776–1851). Mit der Wahl der Ehepartnerin, der Tochter des 1786 geadelten Klevischen Haupt-Domänenkassen-Rendanten und Bankdirektors Johann Reinhard Peter (von) Reiman (1731–um 1801) und seiner Ehefrau Maria Christina Godefreda von Forell,38 blieb Sack im vertrauten Kreis der klevischen Honoratiorenschicht und festigte seine gesellschaftliche Position.39 Die Ehe blieb kinderlos. Im Generaldirektorium nahm Sack in den Folgejahren vielfältige Aufgaben wahr, vorrangig war er ab Oktober 1798 mit den Angelegenheiten der westlichen Provinzen betraut, deren Bergbau, Forstwesen, technischen sowie Justiz-, Kommerzien- und Akzisesachen.40 1804 kamen auch die niedersächsischen Sachen hinzu. Sack wurde Mitglied der Oberexamenskommission, der Finanzkommission, der Gesetzkommission sowie

36 Louis-Lazare Hoche (1768–1797), Oberbefehlshaber der Sambre-Maas-Armee und Zivilgouverneur der Gebiete zwischen Mosel, Maas und Rhein, besorgte 1797 die administrative Neuorganisation der seit 1792/1794 von französischen Revolutionstruppen besetzten rheinischen Gebiete. 37 GStA PK II. HA GD Abt. 18 Tit. 2 Nr. 2. Zur Wertschätzung und Förderung Sacks durch Heinitz vgl. Straubel, Rolf, Beamte und Personalpolitik im altpreußischen Staat. Soziale Rekrutierung, Karriereverläufe, Entscheidungsprozesse (1763/86–1806) (Bibliothek der brandenburgischen und preußischen Geschichte, Bd. 2), Potsdam 1998, bes. S. 217, 342, 356 f., 362, 398. 38 Die Mutter war die Tochter des Kriminalrats, Advokaten, Schöffen und adjungierten Bürgermeisters der Stadt Kleve, Johann Matthias von Forell (1707–1769), vgl. Straubel, Handbuch, T. 1, S. 276, zu Vater Reiman vgl. Romeyk, Verwaltungsbeamten, S. 684, 707; nach Straubel, Handbuch, T. 2, S. 791, war George Mauritius Reiman, Johann Reinhards Bruder, der Vater von Sacks Frau. 39 Zum Heiratsverhalten der Räte vgl. Straubel, Beamte, S. 218–223, zu Sack S. 219. 40 Als Nachfolger des zum Ober-Land-Forstmeister ernannten Johann Wilhelm George (von) Baerensprung (1741–1803), der seit 1778 für die westfälischen Provinzialsachen zuständig gewesen war, vgl. Straubel, Handbuch, T. 1, S. 35 f.

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vortragender Rat und Kassenkurator der Akademie der Künste und der Bauakademie. Bis 1803 blieb er daneben noch Direktor des Oberbergamts in Wetter.41 Der Tod seines Lehrmeisters und Förderers von Heinitz am 15. Mai 1802 bedeutete eine Zäsur in Sacks Leben – das Ende seiner Lehrjahre, wie sein Biograf Steffens es formuliert: „[…] es beginnt die Zeit, da er im eigentlichen Sinne in freier Entscheidung auf Grund dessen, was er unter Heinitz’ und Steins Führung gelernt und sich selbst erarbeitet hatte, seine Tätigkeit gestalten mußte. Es beginnt für ihn zugleich die Zeit der außerordentlichen Geschäfte, die außerhalb des gewöhnlichen Geschäftsgangs der preußischen Verwaltung lagen; sie bilden bis 1815 das Charakteristische seiner amtlichen Stellung und Arbeit.“42

IV. Außerordentliche Aufgaben – außerordentliche Herausforderungen Die erste außerordentliche Aufgabe kam 1802 auf Sack zu, als ihm die Zivil-Hauptorganisationskommission zur Überleitung der sogenannten Entschädigungslande übertragen wurde. Diese Länder, die Bistümer Paderborn und Hildesheim, Teile des Bistums Münster, die Reichsstifte Elten, Essen und Werden, das Eichsfeld mit Erfurt, Herford und Quedlinburg, ferner die Reichsstädte Goslar, Mühlhausen und Nordhausen, sollten Preußen für die Abtretung seiner linksrheinischen Gebiete zufallen. Die Kommission mit Sitz in Hildesheim, ab 1803 in Berlin, stand unter der Leitung des ältesten Ministers im Generaldirektorium, des Grafen von der Schulenburg-Kehnert (1742–1815).43 Sack wurde sein wichtigster Mitarbeiter. Dabei kam er auch wieder in eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Stein, der eine Spezialorganisation dieser Kommission für Münster und Paderborn leitete. In einem Immediatbericht an König Friedrich Wilhelm  III. vom 13. Oktober 1803 hob Schulenburg-Kehnert Sacks Einsatz für die Entschädigungsgebiete rühmend hervor: Er hat gut und viel gearbeitet und dies mit dem glücklichsten Erfolge und sich überall als der rechtschaffenste und bravste Mann gezeigt.44 Soviel Lob wurde Sack nicht immer zuteil. Eine besondere Bewährungsprobe bedeutete Sacks Tätigkeit in der preußischen Zentralverwaltung während der französischen Besatzung nach der verheerenden Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806. Friedrich Wilhelm  III. und der überwiegende Teil der Regierung flohen nach Ostpreußen. Mit einer kleinen Rumpfbeamtenschaft blieb Sack als vom König eingesetzter Zivilgouverneur in Berlin zurück. In seinen Händen lag das Schicksal der besetzten preußischen Länder. Als 41 42 43 44

Nachfolger wurde sein Bruder Ernst Heinrich Eberhard Sack. Steffens, Briefwechsel, S. 11. Minister seit 1771. Zit. n. Steffens, Briefwechsel, S. 13.

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besonderer Krisenmanager musste sich Sack nach dem Frieden von Tilsit vom 7./9. Juli 1807 bewähren, als ihn der König am 6. August 1807 zum Vorsitzenden der Immediatkommission für den Vollzug des Friedens bestellte, eine fast unlösbare Aufgabe angesichts der aussichtslos erscheinenden Lage des Staates, der allgemeinen Not der Bevölkerung und der Habsucht der französischen Besatzer.45 Hart und unbiegsam; gierig und unersättlich, wie sie von Anfang war, bleibt die Denk- und Handlungsweise der französischen Machthaber, welche die Zügel der Civil-Administration in den Händen haben. Diese Staatsvampire haben auch nicht die Idee der Gerechtigkeit und Billigkeit, welche gegen ein so unglückliches Land grade doppelte Pflicht demjenigen erscheinen würde, der dazu nur die mindeste Anforderung in seinem Innern verspürte. Nichts von alledem […] Auch der Schaam und dem Ehrgefühl scheinen einige, um kraftvoll mit Klopstock zu reden, ganz und gar den Kopf abgebissen zu haben […], so Sack am 28. Februar 1808 in einem ImmediatZeitungs-Bericht an den König und die Regierung in Ostpreußen.46 Mit Daru47, dem französischen Bevollmächtigten für den Frieden, konnte Sack jedoch über die Höhe der Kontributionsforderungen, von deren Bezahlung die Räumung der französisch besetzten Gebiete Preußens abhing, zu keinem Ergebnis kommen beziehungsweise er scheiterte an der kompromisslosen Haltung der Franzosen. Als Sacks Versuch, die kurmärkischen Stände gegen den französischen Plan einzunehmen, ein Lager für 25.000 Mann bei Berlin einzurichten, um dort die französischen Besatzungen aus der Mark zusammenzuziehen, den Franzosen verraten wurde, musste er auf Druck Darus am 8. Mai 1808 entlassen werden und Berlin verlassen. Kurz darauf hat er die Zeit zwischen Oktober 1806 und Mai 1808 mit einer Gefangenschaft verglichen, und, wie er an Hardenberg schrieb48, als eine neunzehn-monatliche Periode von Druck und Geistes- wie Gelderpressungen aller Art. Geldmangel und Not waren immer größer geworden, die Ansprüche der Franzosen immer drückender, die Aufbringung der geforderten Kontributionen und Naturallieferungen immer schwieriger. Sack ging zur Regierung nach Königsberg, wo er auf Vorschlag Steins Kabinettsrat wurde,49 in den engeren Kreis der Reformer trat und am Reformprogramm mitwirkte, unter anderem an Steins Städteordnung. 45 Vgl. insgesamt Granier, Berichte. 46 Ebd., Nr. 57. Mit den wöchentlichen ausführlichen „Zeitungs-Berichten“ der Immediat-Friedenskommission (bei Granier, Berichte ediert) steuerte Sack maßgeblich die Unterrichtung des Königs und der Regierung im abgelegenen Ostpreußen. Zur Bedeutung dieses „Nachrichtenmonopols“ des „reformorientierten und vergleichsweise liberalen Sack“ vgl. Münchow-Pohl, Bernd von, Zwischen Reform und Krieg. Untersuchungen zur Bewußtseinslage in Preußen 1809–1812 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 87), Göttingen 1987, hier S. 28 f. Konzipient der Berichte war Carl Wilhelm Semler (gest. 1838), Referendar und Mitarbeiter Sacks bei der Friedenskommission, später Geheimer Oberfinanzrat. 47 Pierre Daru (1767–1829), Bevollmächtigter bei den Friedensschlüssen von Pressburg, Tilsit und Wien, französischer Generalintendant in Preußen und Österreich, Historiker und Schriftsteller. 48 Zit. n. Steffens, Briefwechsel, S. 17. 49 Vgl. Stein, Briefe und amtliche Schriften, Bd. 2, Nr. 714.

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Abb. 30  Staatskanzler Fürst Karl August von Hardenberg (1750–1822), Gemälde von Friedrich Georg Weitsch (1758–1828).

An dieser Stelle sollte die Frage nach den politischen Anschauungen und Vorstellungen, die Sack in diesen und den darauf folgenden Jahren bewegten, gestellt werden.50 Sack erachtete eine gründliche Reform des preußischen Staates, eine Besserung, in allen Stücken, der Menschen, der Gewerbe, des Landes, der Industrie […], Einschränkung des Militär-Etats, aber dagegen Verbesserung und zweckmäßigere Einrichtung desselben, für erforderlich, sollte Preußen nicht von den anderen, sich fortentwickelnden Staaten moralisch und politisch überflügelt werden, wie es strategisch durch fremde Armeen bereits geschehen sei, schrieb er am 4. Juni 180751 an Stein und wünschte sich dafür Männer wie ihn – Stein – und Hardenberg an der Spitze der Staatsgeschäfte, damit wieder die Grundlage zu einem kräftigeren und glücklicheren Staat gelegt werden könne. Reformen seien nötig, um des Staates, der Individuen und der Menschheit willen. Den Staat, die ehrwürdigste Institution der gebildeten Menschheit, wollte er gestärkt wissen, zunächst, um die Fesseln abzuschütteln, die ihn derzeit gefangen hielten. Doch dazu musste er einfach und übersichtlich organisiert sein, Ordnung und Redlichkeit in der Staatsverwaltung herrschen, überflüssige Behörden abgeschafft, Einheitlichkeit des Wollens und Regierens bewirkt werden. Die Rechte des Individuums gegenüber dem Staat wollte er gewahrt wissen. Die Unterschiede zwischen den Provinzen und den verschiedenen Klassen der Untertanen in den Provinzen sollten beseitigt, überhaupt eine Neueinteilung der Provinzen und Kreise vorgenommen und eine straffe, rasch funktionierende Verwaltung eingeführt werden. Eine besondere Stärkung des Staates versprach Sack sich von der 50 Vgl. Steffens, Briefwechsel, S. 19–23. 51 Ebd., Nr. 2.

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Heranziehung des Staatsbürgers an den Staat, jeder sollte sich ihm verbunden fühlen und am Wohl der Allgemeinheit mitwirken. So begrüßte er auch die Steinsche Städteordnung von 1808 mit ihren Elementen der Selbstverwaltung. Eine wesentliche Voraussetzung dafür sah er in einer gründlichen Volksbildung in vom Staat eingerichteten und unterhaltenen Einrichtungen. Im Oktober/November 1808 ging Sack zurück nach Berlin und übernahm – ab 17. Dezember als Oberpräsident – die Verwaltung der nach und nach von den Franzosen geräumten Provinzen zwischen Weichsel und Elbe: die Kurmark, Neumark und Pommern.52 Nach Steins Sturz am 24. November versuchte er, auch gegen Widerstände, dessen Reformen weiterzuführen. Er vollzog 1808 die Umwandlung der Pommerschen Kriegs- und Domänenkammer in die Pommersche Regierung mit Sitz in Stargard; auch setzte er die Einführung der Städteordnung von 1808 in Gang. Über die schwierigen Verhältnisse nach der Rückkehr des Hofes und der Regierung nach Berlin im Dezember 1809 beklagte er sich in aller Deutlichkeit in einem Brief vom 7. April 1810 bei Stein.53 Die Regierung fand er in einem desolaten Zustand: Man hat in der Tat keinen Begriff davon, wie unzusammenhängend, kleinlich, töricht und erbärmlich alles behandelt wird und daher auch so schlecht geht. Da alle meine Bemühungen vergeblich gewesen, darin etwas anderes zu bewirken, da ich von den Ministern mit gütigen Worten statt mit tatkräftigem Handeln abgefunden, von dem König gar nicht gehört, meine Tätigkeit durch Mangel an Entschluß und totales Liegenlassen, besonders im Ministerium des Innern, ganz gelähmt wird, so habe ich mich auf meine eigentliche Dienst-Pflicht zurückgezogen und erwarte so in trüber, unglücklicher Stimmung das Weitere, was erfolgen wird, was aber unmöglich gut sein kann. Harte Worte fand er auch für die Justiz, sah gute und verdiente Leute gehen, so Scharnhorst und Vincke, und sah sich selbst von Wilhelm von Humboldt (1767–1835) aus der Verwaltung der Kunst- wie der Bauakademie verdrängt: […] welches in dem Theoretisieren des Ministers des Innern und der großen Eifersucht des H. v. Humboldt, alles bis auf das kleinste Detail selbst zu besorgen, seinen Grund hat. Minister des Innern war zu der Zeit Friedrich Ferdinand Alexander Graf zu Dohna-Schlobitten (1771–1831), Humboldt sein Sektionschef. Im Juni 1810 wurde Sack unter Hardenberg Chef der Sektion der öffentlichen Abgaben, Domänen, Forsten und Steuern, im November des Departements der allgemeinen Polizei sowie des Departements für das Geistliche, Schul- und Armenwesen. In den nächsten Jahren bekam er erneut eine Reihe außerordentlicher Aufgaben übertragen und nahm 1811 engagiert an Maßnahmen zur Organisation des Widerstandes gegen Napoleon teil. 1812 verlor Sack das Departement der allgemeinen Polizei und erhielt dafür das unpolitischere für Gewerbe und Handel.

52 GStA PK I. HA Rep. 146 Nr. 5. 53 Steffens, Briefwechsel, Nr. 15; Stein, Briefe und amtliche Schriften, Bd. 3, Nr. 208.

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Vom 15. März 1813 bis 18. Februar 1814 wirkte Sack als vom König ernannter Zivilgouverneur der Lande zwischen Oder und Elbe (mit Ausschluss Schlesiens). Neben der Betreuung und Sicherung der Hauptstadt Berlin war er beteiligt an der Organisation des Kampfes gegen die Franzosen und betrieb energisch die Aufstellung von Landsturm und Landwehr.

V. Generalgouverneur und Oberpräsident am Rhein Als nach der Leipziger Konvention vom 21. Oktober 1813 die Alliierten die vorläufige Verwaltung der von den Franzosen zurückeroberten Gebiete dem Reichsfreiherrn vom Stein übertrugen, errichtete dieser am 25. November das Generalgouvernement Berg – ohne die ursprünglich preußischen Gebiete am Niederrhein – unter Justus Gruner (1777– 1820).54 Am 16. Januar 1814 teilte Stein Hardenberg mit, dass er wünsche, dass Sack das Amt des Generalgouverneurs übertragen werde, da derselbe mit der Lokalität und den Verhältnissen dieser Gegenden bekannt ist.55 Im Ernennungsschreiben vom 31. Januar 1814 betonte Hardenberg, dass es Sacks Aufgabe sei, auch in den Preußisch gewesenen Provinzen des linken Rheinufers den guten Geist wieder zu erwecken, der diese Provinzen früher auszeichnete, und an welcher Ew. Hochwohlgeboren so thätigen Antheil hatten, und es wird Ihnen dadurch leicht werden, alle vorhandenen Kräfte zu dem richtigen Zwecke der glücklichen Beendigung des großen Kampfes anzustrengen und zu benutzen. Sack sollte sich so schnell wie möglich nach Aachen begeben, um die Administration der eroberten Länder zu ordnen.56 Es galt, in einem militärisch besetzten Lande, dessen Schicksal noch unbekannt war, Ordnung aufrecht zu halten, und, ohne es als Feindesland zu behandeln, seine Hülfsquellen möglichst zum Vortheile der alliirten Herrn zu benutzen, dabei den Geist der Einwohner für die große Sache aller Staaten zu gewinnen und ihnen durch die Hofnung auf eine bessere Zukunft die Opfer des Augenblicks erträglich zu machen.57 54 Zur provisorischen Verwaltung und zum Übergang an Preußen sowie zur Verwaltungsorganisation vgl. Bär, Max, Die Behördenverfassung der Rheinprovinz seit 1815 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 35), Bonn 1919, 2. Nachdruck Düsseldorf 1998, bes. S. 68–103; Gerschler, Walter, Das preußische Oberpräsidium der Provinz Jülich-Kleve-Berg in Köln 1816–1822 (Studien zur Geschichte Preußens, Bd. 12), Köln/Berlin 1968; Koltes, Manfred, Das Rheinland zwischen Frankreich und Preußen. Studien zu Kontinuität und Wandel am Beginn der preußischen Herrschaft (1814–1822) (Dissertationen zur neueren Geschichte, Bd. 22), Köln/Weimar/Wien 1992; Schütz, Rüdiger, Preußen und die Rheinlande. Studien zur preußischen Integrationspolitik im Vormärz (Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815–1945, Reihe A, Bd. 7), Wiesbaden 1979; Vollheim, Fritz, Die provisorische Verwaltung am Nieder- und Mittelrhein während der Jahre 1814–1816, Bonn 1912; vgl. auch in diesem Band den Beitrag von Martin Schlemmer. 55 Stein, Briefe und amtliche Schriften, Bd. 4, Nr. 694. 56 LAV NRW R Generalgouvernement Nieder- und Mittelrhein Nr. 29. 57 So Sack in seinem Abschlussbericht an den König vom 31.3.1816, GStA PK I. HA Rep. 74 H II Niederrhein Nr. 2 fol. 73r–94r.

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Als Sack am 10. März 1814 das Generalgouvernement Niederrhein, bestehend aus den Departements Roer (Rur), Ourthe und Niedermaas, übernahm, begann die erste von drei Perioden seiner Amtszeit am Rhein.58 In der Anfangsperiode sah sich Sack vor allem dem Problem gegenüber, dass Truppen mehrerer Nationen im Lande standen und daran gehindert werden mussten, das Land als erobertes Gebiet zu benutzen,59 wie überhaupt die Militärbedürfnisse zu befriedigen waren. Die Verwaltung durfte eine nur konservatorische sein, während andererseits Ersatz für die geflohenen französischen Verwaltungsbeamten, die die Leitungspositionen innegehabt hatten, gefunden werden musste. Auch die Lasten des Krieges, die mit Fuhrdiensten und Einquartierungen die Bevölkerung beschwerten, waren gleichmäßig zu verteilen. Das Finanz- und Steuersystem war zu revidieren, das Lazarettwesen zu organisieren ebenso wie die Post, die auf Verordnung der Alliierten der Fürstlich Thurn- und Taxischen Administration übergeben wurde. Das Forstwesen, das in gänzlicher Unordnung war, durch die Flucht französischer Forstbedienten wie durch die bei Heereszügen unvermeidlichen Verwüstungen der Wälder, erforderte besondere Anstrengungen. Zur Unterstützung der Polizei ließ Sack eine Bürgermiliz einrichten. Die zweite Periode setzte im Juni 1814 ein, als gemäß dem Ersten Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 die südlich der Mosel zwischen Rhein und französischer Grenze gelegenen Gebiete – ohne Koblenz – der Österreichisch-Bayerischen Gemeinschaftlichen Landadministration unterstellt wurden, während im Namen des Königs von Preußen das nunmehr vereinigte Generalgouvernement Nieder- und Mittelrhein von Sack und das Großherzogtum Berg von Gruner verwaltet wurden. In dieser zweiten Periode wurde die Verwaltung ordnend, leitend und bei der Wahrscheinlichkeit, daß das Land ganz oder zum Theil Seiner Majestät dem Könige anheimfallen würde auch präparatorisch. Hauptaufgabe war es jetzt, die bisherigen französischen Verwaltungsstrukturen in die der preußischen Staatsverwaltung zu überführen beziehungsweise sie neu aufzubauen, wozu auch eine Revision und Sichtung der Bürgermeister-Stellen gehörte. Wichtig war es Sack auch, den Volksgeist im Blick zu haben, darunter die Befindlichkeiten der Katholiken wie der Protestanten, um bei den Einwohnern Vertrauen in die neue Regierung zu wecken. Während des Wiener Kongresses versorgte Sack, der mit seinem Standort Aachen den Ereignissen im Innern Frankreichs vergleichsweise nahe war, den dort teilnehmenden Hardenberg mit wichtigen Informationen über die Stimmung, die die Nachricht von Napoleons Rückkehr im März 1815 am Rhein auslöste. Nachdem der Wiener Kongress am 8. Februar 1815 die staatsrechtliche Vereinigung rheinischer Gebiete mit Preußen beschlossen hatte, nahm König Friedrich Wilhelm III. noch vor dem Ende des Kongresses von Wien aus am 5. April 1815 mit zwei Besitzergreifungspatenten und einer Adresse an

58 Die Einteilung nahm Sack selbst in seinem Abschlussbericht vor. 59 Ebd., auch für die folgenden Ausführungen.

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Abb. 31  Die Huldigung der Rheinlande an die preußische Krone, Aachen 1815.

die Einwohner der neuen preußischen Gebiete das Generalgouvernement Nieder- und Mittelrhein sowie das Großherzogtum Berg als Großherzogtum Niederrhein in Besitz.60 Es oblag Generalgouverneur Sack, mit dem Militärgouverneur General von Dobschütz (1763–1836) als erstem und sich selbst als zweitem Commissarius in Vertretung des Königs die Huldigung von Teilen der späteren Rheinprovinz entgegenzunehmen. Sack, dem die Vorbereitung der Huldigungsfeier im Wesentlichen überlassen war, legte als Tag den 15. Mai 1815 und als Ort Aachen fest – den Krönungsort der deutschen Könige des Mittelalters:61 […] allein die Stadt Aachen […] verdient es also, […] daß in ihren Mauern ein biederes Deutsches Volk dem biedersten der Könige den Eid der Treue schwöre.62 Der ursprünglich als erster Commissarius vorgesehene Generalleutnant Gneisenau (1760–1831) war zum Bedauern Sacks noch unabkömmlich vom Heer. Sack hatte 60 Bär, Behördenverfassung, S. 88–90. 61 Zur Wahl des Ortes, zu den Vorbereitungen, zur Auswahl der Deputierten und zum Ablauf der Huldigung vgl. ebd., S. 98–103; Schütz, Preußen, S. 23; vgl. auch LAV NRW R Generalgouvernement Niederund Mittelrhein Nr. 46. Die letzte Königskrönung fand in Aachen 1531 statt. 62 Bekanntmachung der Huldigung in: Außerordentliche Beilage des Journals des Nieder- und Mittelrheins, Nr. 5, 24.4.1815. Zur Inszenierung, politischen Emotionalisierung und Einordnung der Aachener Feier in einen national-patriotischen Deutungsrahmen vgl. Schwengelbeck, Matthias, Die Politik des Zeremoniells. Huldigungsfeiern im langen 19. Jahrhundert (Historische Politikforschung, Bd. 11), Frankfurt/New York 2007, bes. S. 145–151.

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Gneisenau als Mitglied des Reformkreises um Stein in seiner Königsberger Zeit kennen- und schätzen gelernt. Abgesehen von ihren formal-zeremoniellen Teilen war die feierlich-erhebende, national-patriotisch ausgerichtete Huldigungsfeier in Aachen eine geschickte, öffentlichkeitswirksame Inszenierung, um die Einwohner mit ihrem neuen Landesherrn − auch wenn dieser nur in effigie anwesend war – bekannt zu machen und sie für Preußen einzunehmen.63 Die dritte Periode von Sacks Amtstätigkeit im Rheinland reichte vom 15. Juni 1815 – der Unterstellung des Generalgouvernements Berg unter seine Verwaltung – bis zu Sacks Übergabe der Provinz am 23. März 1816. Mit der Neuschaffung der Provinzialeinteilungen und des Amtes des Oberpräsidenten vom 30. April 1815 trug Sack seit dem 1. Juli 1815 den Titel „Oberpräsident der preussischen Provinzen am Rhein“, womit ihm die Zivilverwaltung fast aller an Preußen gefallenen Gebiete am Rhein unterstand.64 Aufgrund der Verordnung vom 30. April 1815 wurden schließlich zwei Provinzen gebildet – eröffnet am 22. April 1816: die Provinz Großherzogtum Niederrhein mit den Regierungsbezirken Aachen, Koblenz und Trier mit Sitz in Koblenz und die Provinz Jülich-Kleve-Berg mit den Regierungsbezirken Köln, Kleve und Düsseldorf mit Sitz in Köln.65 Letztere übernahm Graf Solms-Laubach (1769–1822) als Oberpräsident, während Karl Freiherr von Ingersleben (1753–1831) mit seiner Versetzung von Stettin an den Rhein das Großherzogtum Niederrhein übertragen bekam. Nach Solms-Laubachs Tod 1822 wurden die beiden Provinzen unter Ingersleben vereinigt. Das Oberpräsidium der Provinz Jülich-Kleve-Berg war ursprünglich Sack in Aussicht gestellt worden – so von Hardenberg am 4. Juni 1815 bei Zusendung des Roten Adlerordens 2. Klasse. Hardenberg wollte sogar versuchen, ihm den Charakter eines Staatsministers zu verschaffen.66 Oberpräsident in der rheinischen Heimat – das wäre ein Amt ganz nach Sacks Wunsch gewesen. Doch ihm blieben nur wenige Monate am Rhein. In diese Zeit fiel die Diskussion um den Standort einer rheinischen Universität, deren Errichtung der König in seiner Adresse an die Rheinländer vom 5. April 1815 versprochen hatte. Das von Sack 1815 zur Standortfrage vorgelegte Gutachten, in dem er ausführte, dass Bonn am besten 63 Sack hat einen ausführlichen Bericht über die Huldigungsfeier mit den dabei gehaltenen Reden und einem „Geleitwort“ von Ernst Moritz Arndt als knapp 40-seitiges Heftchen drucken lassen (ein Exemplar ist überliefert in: GStA PK I. HA Rep. 77 Tit. 98 Nr. 1) und nach Berlin, an Amtskollegen und andere, u. a. Stein, geschickt. Eine Beschreibung der Huldigungsfeier einschließlich der Reden ließ Sack in den Nummern 59–64 des „Journals für den Nieder- und Mittelrhein“ 1815 veröffentlichen, um der Huldigung an die neue Landesherrschaft eine breitere Öffentlichkeit zu verschaffen. 64 Ausgenommen die vier Kantone Saarbrücken, Sankt Johann, Saarlouis und Rehlingen, die Stadt Wetzlar, das rechtsrheinische Kleve und die Abteien Essen, Elten und Werden, vgl. Bär, Behördenverfassung, S. 113, 118–120; Schütz, Preußen, S. 24. Mit dem Militärgouverneur Dobschütz kam Sack wenig zurecht, sodass er es sehr begrüßte, als im Oktober 1815 Gneisenau das rheinische Generalkommando übertragen bekam (1.12.1815 Übernahme), Steffens, Briefwechsel, Nr. 49, 50. 65 Bär, Behördenverfassung, S. 121. 66 Steffens, Briefwechsel, S. 41.

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für die Aufnahme der Universität geeignet sei,67 brachte die Entscheidung für die ehemalige kurkölnische Haupt- und Residenzstadt. Sack, mit der Mentalität und den Traditionen der Rheinländer vertraut, stand für eine „sanfte Integrationspolitik“ der Rheinlande in den preußischen Staat, so unter anderem für die Beibehaltung des fortschrittlichen französischen Rechtssystems, des Code civil. Sacks vorbildliches Verwaltungshandeln im Rheinland war die exemplarische Vorgabe für das 1823 erschienene Handbuch der Kameralwissenschaft von Johann Daniel Friedrich Neigebaur.68 Der Jurist Neigebaur (1783–1866),69 ein glühender Verehrer Sacks, war 1814 dessen Mitarbeiter im Generalgouvernement in Aachen gewesen; von ihm stammt die erste statistische Aufnahme der Rheinprovinzen, veranlasst von Sack.70

VI. Die Versetzung Am 10. Januar 1816 versetzte der König Sack als Oberpräsidenten nach Pommern, während der dortige Oberpräsident Freiherr von Ingersleben an den Rhein wechselte.71 Über die Gründe für die Versetzung, die Züge einer Strafversetzung hatte, ist viel spekuliert worden, zeitgenössisch wie in der Forschung.72 Sacks Sturz hatte viele Protagonisten – und mindestens so viele Gründe. Massive Intrigen hatten Sack schon länger in Berlin in Misskredit gebracht. Beschwerden über seine Personalpolitik beziehungsweise „Vetternwirtschaft“ spielten dabei eine Rolle, wobei die Vorwürfe nicht neu waren. Pikant war dann doch, dass Hardenberg ausgerechnet Sacks Schwager Reiman, der bereits als Regierungspräsident für Aachen ernannt war, zu seinem interimistischen Nachfolger bestimmte. Zu den tieferen Gründen für Sacks Versetzung dürfte gehören, dass er als Mann der Reformpartei den Vertretern der Reaktion, die in Berlin zunehmend an Ein67 Vgl. Renger, Christian, Die Gründung und Einrichtung der Universität Bonn und die Berufungspolitik des Kultusministers Altenstein (Academica Bonnensia, Bd. 7), Bonn 1982, bes. S. 19 f., 39–43; Schulz, René/Rönz, Helmut, Die Universität Bonn und der Geist Wilhelm von Humboldts, in: Internetportal Rheinische Geschichte, http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/dieuniversitaet-bonn-und-der-geist-wilhelm-von-humboldts/DE-2086/lido/5ad4935d2f6670.70673425 (abgerufen am 26.6.2018). 68 Neigebaur, [Johann Daniel Friedrich], Die angewandte Cameral-Wissenschaft dargestellt in der Verwaltung des Generalgouverneurs Sack am Nieder- und Mittelrhein, Leipzig 1823. 69 1815 Präfekt des Wälderdepartements, später Justizrat, Diplomat, Schriftsteller. 70 [Neigebaur, Johann Daniel Ferdinand], Statistik der preußischen Rhein-Provinzen in den drei Perioden ihrer Verwaltung, aus officiellen Quellen, Köln 1817, im Abschlussbericht Sacks als Anlage genannt, jedoch dabei nicht überliefert. Vgl. auch Neigebaur, [Johann Daniel Ferdinand], Darstellung der Provisorischen Verwaltungen am Rhein vom Jahr 1813 bis 1819, Köln 1821. 71 Die Kabinettsordre vom 10.1.1816 in: GStA PK I. HA Rep. 90A Nr. 983 fol. 8. 72 Zur Versetzung und deren möglichen Gründen vgl. u. a. Steffens, Briefwechsel, S. 39–43, 52 f., Nr. 51, 53 = Stein, Briefe und amtliche Schriften, Bd. 5, Nr. 378; Bär, Behördenverfassung, S. 121 f.; Holtz, Personalpolitik, S. 39–41; Koltes, Rheinland, S. 111–115.

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fluss gewonnen hatten, ein Dorn im Auge war. An seinem Arbeits- und Reformeifer wurde ebenso Anstoß genommen wie an seinem bürgerlichen Stand, der ihn andererseits beim rheinischen Bürgertum beliebt machte. Auch missfiel Teilen des Adels seine Adelsvorrechten abträgliche Einstellung. Besonders perfide intrigierten Sacks rheinischer Oberpräsidenten-Rivale Solms-Laubach und seine Vertrauten, der Koblenzer Regierungsrat und Dichter Max von Schenkendorf (1783–1817), der Freiherr Johann Wilhelm von Mirbach-Harff (1784–1849)73 und Werner von Haxthausen (1780–1842)74 gegen ihn bei Hardenberg – und nicht nur bei diesem.75 Den Hintergrund bildete ein Machtkonflikt um die administrative Neuordnung der beiden Rheinprovinzen zwischen Sack und Solms-Laubach. Ein lebenslang schwieriges Verhältnis hatte Sack zum Militär,76 in dieser Zeit insbesondere zu dem rheinischen Generalgouverneur Dobschütz und dem Generalmajor Roedlich,77 was Dobschütz Anlass bot, bei Gneisenau zu intrigieren, der, obwohl Sack freundschaftlich verbunden, nicht ganz unbeeinflusst blieb, wie selbst Freund Stein nicht.78 Ganz besonders verdachte man Sack in Berlin, dass er nicht energisch gegen den verhassten „Rheinischen Merkur“ und seinen Herausgeber Joseph Görres (1776–1848) vorging. Am 18. November 1815 hatte eine Kabinettsordre eine verschärfte Zensur über den „Rheinischen Merkur“ angeordnet und ihn wie andere politische Blätter unter die Oberaufsicht des Staats- und Polizeiministers Fürst Wittgenstein79 gestellt. Sacks liberaler Gesinnung entsprach die Gewährung einer gewissen Pressefreiheit, es widersprach ihm, gegen ein Blatt von dem geistigen und politischen Format eines „Rheinischen Merkur“ vorzugehen, wie er gegenüber Gneisenau äußerte, auf dessen Unterstützung er in 73 1840 in den preußischen Grafenstand erhoben, Kämpfer für die Wiederherstellung der Adelsrechte, Mitbegründer der „Genossenschaft des Rheinischen Ritterbürtigen Adels“. 74 1815 Regierungsrat in Köln, 1837 bayerischer Adel. 75 Zum Hintergrund der von Solms und Anhang initiierten Intrigen vgl. ausführlich Klein, August, Friedrich Graf zu Solms-Laubach. Preußischer Oberpräsident in Köln (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins e. V. 13), Köln 1936, bes. S. 51–61; Beusch, Carl Heiner, Adlige Standespolitik im Vormärz: Johann Wilhelm Graf von Mirbach-Harff (1784–1849) (Historia profana et ecclesiastica, Bd. 3), Münster/Hamburg/London 2001, bes. S. 41–51. Am schärfsten formuliert war eine 24-seitige, gegen Sack gerichtete Eingabe Schenkendorfs vom 28.11.1815 an Hardenberg, Klein, Solms-Laubach, S. 54 f.; dass Schenkendorf keine Gelegenheit ausließ, gegen Sack zu intrigieren, zeigt z. B. ein Brief vom 29.10.1815 an Stägemann (Rühl, Briefe, Bd. 1, Nr. 268), worin er u. a. gegen Sacks Intention, den Code civil im Rheinland in Kraft zu lassen, oder seine Präferenz für Bonn als Standort für eine preußische Universität am Rhein hetzte. − Friedrich August (von) Stägemann (Staegemann) (1763–1840), Geheimer Staatsrat, einflussreicher Mitarbeiter von Stein und Hardenberg. 76 Vgl. Steffens, Briefwechsel, S. 39; Bär, Behördenverfassung, S. 119–121. 77 Hieronymus Roedlich (1767–1833), 1815 Generalmajor, Leiter des Lazarett- und Etappenwesens im Generalgouvernement Nieder- und Mittelrhein. 78 Steffens, Briefwechsel, Nr. 50, bes. Anm. 1, S. 111 f.; vgl. jedoch Gneisenau an Gruner 10.4.1815: […] Die gröbsten Unwahrheiten hat man auf seine [Sacks] Rechnung erdacht und in Berlin in Umlauf gebracht […], zit. n. Steffens, Briefwechsel, S. 51, Anm. 73. 79 Wilhelm Graf (ab 1804 Fürst) Wittgenstein (1770–1851).

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der Sache hoffte.80 Am 3. Januar 1816 verbot der König die Zeitung wegen der Kritik an Reaktion und Bürokratie. Sack erhielt einen scharfen Verweis wegen der Vernachlässigung der Zensur des Blattes. Am 10. Januar erfolgte die königliche Kabinettsordre zu seiner Versetzung, gegen die Sack am 19. Januar vehement in einem an Friedrich Wilhelm III. gerichteten, ausführlichen Schreiben protestierte, mit der Folgerung, dass ich in dem Verhältnisse zu dem jetzigen Ministerio, worin sich meine Hauptfeinde finden, die, ohne ihnen irgend Gelegenheit gegeben zu haben, mich aus Parteysucht und Privat-Haß verfolgen, nicht zum Wohl Eurer Königlichen Majestät und Ihres Staats, am wenigstens zu meiner Zufriedenheit dort [in Pommern] würde fortdienen können.81 Sack war tief getroffen, empfand mit Recht die Versetzung als Abwertung seiner langjährigen Tätigkeit im Staatsdienst und bat um Versetzung in den Ruhestand. Der König reagierte am 31. Januar,82 die Versetzung sei keineswegs ein Beweis seiner Ungnade oder das Ergebnis von geheimen Anfeindungen, auch habe er nie vergessen, welche Dienste Sack ihm und dem Staate in schweren Zeiten geleistet habe. Die Versetzung blieb beschlossen. Mit scharfen Worten beklagte sich Sack am 27. Januar 1816 bei Stein über die Kabalen seiner Berliner Feinde um den Fürsten Wittgenstein.83 Er habe von Hardenberg – so am 5. Juli 1816 an Stein84 – eine öffentliche Genugtuung und Anerkenntnis des ihm durch grundlose Anfeindung […] widerfahrenen Unrechts verlangt, weil er sonst nicht nach Pommern gehen könne. Darauf habe man ihm als Ausweg – zusammen mit den Herren von Klewitz, von Schön, von Heydebreck und auch dem Herrn von Haenlein (Letzteren goutierte Sack in dem Kreis weniger)85 – den Titel Wirklicher Geheimer Rat mit dem Prädikat Exzellenz verliehen.86 Nunmehr könne er mit Ehren nach Stettin gehen, schrieb er Stein. Doch noch im August 1816 beschwerte sich Sack, dass er weder eine Reaktion des Königs auf seinen Abschlussbericht vom 31. März noch eine Erklärung zu seiner Versetzung erhalten habe.87 Auch am 13. Dezember 1816 spielte er bei Stägemann auf die Intrigen bei seiner Versetzung und die dabei erlittene Enttäuschung an: Ob nun, wie alles

80 8.12.1815 an Gneisenau, Steffens, Briefwechsel, Nr. 50; vgl. auch die Briefe vom 8. und 9.1.1816 an Gneisenau, ebd., Nr. 51 und 52. 81 Schreiben vom 19.1.1816 (nicht vom 16.1.1816, wie bei Holtz, Personalpolitik, S. 41, Anm. 27), GStA PK I. HA Rep. 89 Nr. 13560 fol. 3r–16r, Zitat fol. 15r. 82 Konzept, ebd., fol. 17r, 18r. 83 Steffens, Briefwechsel, Nr. 53 = Stein, Briefe und amtliche Schriften, Bd. 5, Nr. 378. 84 Steffens, Briefwechsel, Nr. 60 = Stein, Briefe und amtliche Schriften, Bd. 5, Nr. 411. 85 Wilhelm Anton von Klewitz (1760–1832), Finanzrat, 1803 nobilitiert, 1817–1824 preußischer Finanzminister, 1825 Oberpräsident in Sachsen; Georg Christian Friedrich von Heydebreck (1765–1828), seit 1815 Oberpräsident in Brandenburg; von Schön wurde 1816 Oberpräsident von Westpreußen, ab 1824 auch von Ostpreußen; Konrad Sigismund Karl von Haenlein (1760–1819), 1803 nobilitiert, preußischer Gesandter. 86 Nach Steffens, Briefwechsel, S. XIII am 2.5.1816. 87 28.8.1816 an Gneisenau, Steffens, Briefwechsel, Nr. 62, ähnlich an Stein, ebd., Nr. 61 = Stein, Briefe und amtliche Schriften, Bd. 5, Nr. 458.

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dieses so verlautbart wird, der Herr Staatskanzler [Hardenberg] einsieht, dass er durch ein Paar erbärmliche Menschen sich und den König hat auf den Gänsedreck führen lassen? 88

VII. Oberpräsident in Pommern Nach der Verordnung vom 30. April 1815 zur Neuschaffung der Provinzialeinteilungen und des Amtes des Oberpräsidenten bestand die Provinz Pommern aus den Regierungsbezirken Stettin und Köslin. Das neu erworbene Schwedisch-Pommern bildete ab 1818 einen eigenen Regierungsbezirk Stralsund. Der Regierungsbezirk Stettin wurde bis 1882 von den jeweiligen Oberpräsidenten mitverwaltet.89 Der Kontrast beim Wechsel vom Rhein an die Oder hätte nicht größer sein können. Sack kam aus den politisch, wirtschaftlich und sozial anderen preußischen Provinzen in vielerlei Hinsicht überlegenen Rheinprovinzen in ein nur schwach entwickeltes, rückständiges Land mit wenig ausgebauter Infrastruktur – es verfügte nur über eine einzige Durchgangsverbindung von West nach Ost und ansonsten kaum über brauchbare Verkehrswege, geschweige denn feste Straßen. In der ländlich geprägten Provinz lebten nur etwa 26 Prozent der Bevölkerung in Städten. Die Überleitung der Bauern von der Hörigkeit in die individuelle Freiheit war zwar begonnen, aber noch nicht vollendet worden, wie allgemein die bäuerlich-ländlichen Verhältnisse stark entwicklungsbedürftig waren. Kaum minderen Modernisierungsbedarf gab es in den Städten. Im Bildungssektor bedurfte vor allem das Volksschulwesen erheblicher Verbesserung. Die lange Kriegszeit hatte das Wirtschaftsleben beeinträchtigt, der Handel lag darnieder, die Hauptstadt Stettin hatte während der Belagerungs- und Besatzungszeit schwer gelitten – eine insgesamt desolate Ausgangslage für den neuen Oberpräsidenten.90 Anfang Juli 1816 traf Sack in Pommern ein. Über den Zustand seines neuen Wirkungsfeldes machte er sich keine Illusionen, wie aus Briefen vom 28. August 1816 an Stein und Gneisenau hervorgeht: Wie überall im Innern, so ist es auch in dieser braven Provinz wohl nötig, daß man alle Wirksamkeit übe, um den so sehr heruntergekommenen und willkürlich verwalteten Ländern und ihren Bewohnern wieder aufzuhelfen. Mein Vorgänger hat überdem nicht wie ein Staats-, sondern wie ein Acker-Minister sich bloß um die Domänen-­ Bewirtschaftungen gekümmert und bei den anderen Verwaltungen, z. B. das Schulwesen, was sich in höchster Verwahrlosung befindet, nicht einmal präsidiert, weil er mit der Gesetz-

88 Rühl, Briefe, Bd. 2, Nr. 333. 89 Stüttgen, Dieter (Bearb.), Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815–1945, Reihe A, Bd. 3: Pommern, Marburg 1975, S. 9; vgl. auch Fenske, Verwaltung; Holtz, Personalpolitik; Inachin, Nationalstaat, und Mellies, Modernisierung. 90 Vgl. Fenske, Verwaltung, S. 14 f.; Wehrmann, Pommern, Bd. 2, S. 265–276; Wehrmann, Martin, Geschichte der Stadt Stettin, Stettin 1911, Nachdruck Frankfurt am Main 1979, bes. S. 418–470; Weise, Sack, S. 81–89.

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gebung seit 1806 sich nicht [hat] bekannt machen mögen […].91 1805 war Sack mit Stein von Kolberg aus rund 14 Tage durch Pommern gereist, um mit ihm unter anderem im Zuge der Reform der Salzadministration die großen Salinen in Kolberg und dort sowie in Swinemünde den Hafen zu besichtigen, doch jetzt – 1816 – glaubte er, das Land nicht mehr wiederzuerkennen.92 Am 6. Juli 1817 zog er gegenüber Stein eine Bilanz seines ersten Jahres in Pommern und stellte ihm seinen Maßnahmenkatalog zur Verbesserung des Landes vor:93 Er sei von den braven Pommern nicht nur überall wohl aufgenommen, sondern sei auch so glücklich gewesen, ihr Vertrauen zu gewinnen […]; dem durch das Bauern-Edikt befreiten Bauernstand attestierte er, dass er noch keinen Sinn für Freiheit [habe], weil man mit der Nationalbildung noch nicht nachgekommen sei. O, es sieht mit der Landes- wie mit der Volkskultur schrecklich in Pommern aus, so vortrefflich auch Boden und Volkscharakter ist: aber es soll mit Gott bald besser werden! Seit einem Jahr […] hoffe ich, den Grund zu vielem Guten gelegt zu haben, und es wird im Lande überall anerkannt […]. Zu den zentralen Regierungsaufgaben ab 1816 gehörte in Pommern der Aufbau einer neuen Verwaltung und die Reorganisation der Verwaltungsbezirke, die Kreisreform. Trotz des erheblichen Widerstandes der Rittergutsbesitzer erreichte Sack bis Ende 1818 eine Arrondierung des Regierungsbezirks Stettin, die bis 1945 Bestand hatte.94 Die Integration Neuvorpommerns in den Staat Preußen wie in die Provinz Pommern bedeutete ab 1818 auch für den Oberpräsidenten eine besondere Herausforderung. Vorrangig war, eine Rechtsangleichung zu erreichen, wie beispielsweise die Konstituierung der Stände, die Reorganisation der Verwaltung, die Einführung der preußischen Wirtschafts- und Rechtsordnung sowie die Durchsetzung der unterschiedlichen Reformgesetze.95 Zunächst galt es für Sack, in Altpommern seinen Maßnahmenkatalog zur Hebung der Provinz in die Tat umzusetzen. Ein sofort in Angriff genommenes Projekt war die Melioration des Thurbruchs nach holländischem Muster.96 Existenziell für Schifffahrt und Handel Pommerns war die Vertiefung und Verbesserung des Swinemünder Hafens, die bereits 1804 und 1805 geplant, wegen der Kriegszeiten aber nicht vorangekommen war und erst jetzt in Gang kam: Am 17. Mai 1818 wurde das Großprojekt begonnen, am 10. September 1823 lief das erste größere Schiff in den Hafen ein, 1826 befuhr das erste Dampfschiff die Oder bis Stettin, 1829 war die gründliche Umgestaltung des Hafens vollendet – insgesamt ein enormer Modernisierungsschub für die Provinz und der größte und nachhaltigste Erfolg in Sacks Oberpräsidentenzeit. 91 Steffens, Briefwechsel, Nr. 62. 92 Ebd., Nr. 61 = Stein, Briefe und amtliche Schriften, Bd. 5, Nr. 458, vgl. auch Steffens, Briefwechsel, S. 13, 135, Anm. 3. 93 Ebd., Nr. 63. 94 Vgl. Weise, Sack, S. 82. 95 Vgl. Weise, Integration. 96 Zum Modernisierungsprozess in Pommern vgl. insgesamt Inachin, Nationalstaat; Mellies, Modernisierung; Weise, Sack; Weise, Integration. Zu einzelnen Maßnahmen vgl. auch Petrich, Lebensbilder, und Wehrmann, Stettin.

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Im Zusammenhang mit dem Hafenausbau in Swinemünde unterstützte Sack die Initiative Swinemünder Bürger, dort eine große Badeanstalt zu errichten, um den Ort als Badeort zu etablieren. Die Eröffnung konnte 1826 gefeiert werden, die zugehörigen Gartenanlagen hatte der königlich-preußische Gartenbaumeister Peter Joseph Lenné (1789–1866) aus Potsdam gestaltet. Zur Verbesserung der Wasserwege kam die der Landstraßen: 1822 bis 1827 wurde die Chaussee von Stettin nach Gartz a. d. Oder gebaut, die zur zentralen Verbindung Berlin–Danzig gehörte. Es folgte der Bau von Kunststraßen nach Vorpommern (1829) und nach Stargard. Seitdem unter Friedrich II. der Kartoffelanbau in Preußen Aufschwung genommen hatte, war der Bedarf an Hering als „Fleisch des armen Mannes“ enorm gestiegen. Die Heringseinfuhren dominierten zuerst die Holländer, dann die Schotten. Zu Sacks Förderung der einheimischen Wirtschaft gehörte die Verbesserung der Heringsfischerei, indem er die Fischer anregte, die Heringe selbst zu salzen. Für die Fischer wurden an der Ostsee neue Kolonien gegründet, wobei Ortschaften wie Heringsdorf, Ahlbeck, Zinnowitz, Hammelstatt oder Karlshagen entstanden oder ausgebaut wurden. Aufgabe der 1821 errichteten „Korporation der Kaufmannschaft“, die an die Stelle der bisherigen kaufmännischen Zünfte, Gilden und Innungen trat, sollte es sein, „das allgemeine Interesse der Schiffahrt und des Handels […] zu heben“.97 Der Belebung des Wirtschaftslebens diente ferner die Eröffnung des Stettiner Wollmarktes (1825). Eine mustergültige Einrichtung, die auf Sack zurückging, war die Straf- und Besserungsanstalt zu Naugard (1820). Auch in Pommern zeigte sich Sack als Vertreter des aufgeklärten Reformbeamtentums, indem er sich die Verbesserung von Bildung, Wissenschaft und Kultur zum Ziel setzte, vorrangig die Volkserziehung, das Schulwesen. Dafür war er durch das Land gereist, um die Gemüter anzuregen, wie er im erwähnten Brief an Stein vom 6. Juli 1817 schrieb: In Stettin habe ich eine herrliche Elementar=Schule schon angelegt, nun soll mit einer höheren Bürger=Schule eine Schiffahrts=, Steuermanns=, Handlungs= und Gewerbeschule verbunden werden. Alles ist dafür gestimmt, und es wird gut gehen! Ein wichtiges Kapitel war die Schaffung eines propreußischen Pommernbewusstseins. Sack wusste um die Symbol- und Integrationskraft öffentlicher Feiern; dass er sie zu nutzen vermochte, hatte er bereits mit der Inszenierung der Aachener Huldigungsfeier 1815 bewiesen. Nach seiner Vorstellung sollte das Feiern wichtiger Gedenktage die Menschen im besten Sinne mit Preußen bekannt und vertraut machen, was umso wichtiger war, wenn unterschiedliche Landesteile zu integrieren waren, wie 1815 am Rhein und jetzt in Pommern. „Er hatte die Bedeutung öffentlicher Foren für den Identitätsdiskurs als konstitutiv für das propreußische Pommernbewußtsein erkannt und suchte gezielt

97 Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 451.

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nach Vorbildern, die diesem Ziel dienten.“98 Als Medium wählte er lokale Traditionen, die in den preußischen Kontext gestellt werden konnten. So verband er den Geburtstag des Königs am 3. August 1821 mit dem 100-jährigen Gedenken an den Heimfall Stettins und Altvorpommerns an Preußen im Jahre 1721. In Stettin wie in der ganzen Provinz wurde ausgiebig gefeiert, auch der König nahm an den Feierlichkeiten teil. Damit nicht nur die dabei Anwesenden diese in Erinnerung behielten, wurde darüber ausführlich berichtet, so in den 1820 von Sack ins Leben gerufenen „Pommerschen Provinzial-Blättern“, die wiederum selbst ein Instrument zur Schaffung eines neuen Pommernbewusstseins waren. „Regionale Geschichte wurde in den Dienst preußischer Integration gestellt und in Form von Feierlichkeiten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.“99 Ein Ereignis war dafür besonders prädestiniert: das Ottofest, das Sack für den 15. Juni 1824 anordnete. Es erinnerte an 700 Jahre Christianisierung Pommerns durch Otto von Bamberg. Das Fest wurde nicht nur mit zahlreichen Festakten in ganz Pommern mit erheblichem Pomp begangen, sondern alle möglichen anderen Veranstaltungen wurden in den Dienst des Jubiläums gestellt. In Pyritz, wo Otto einst die ersten Pommern getauft hatte, wurde der Grundstein zum Ottostift und einem Ottobrunnen gelegt, geradezu „eine Manifestation des preußischen Identitäts-Diskurses“.100 Während des Ottofestes wurde auch das Statut der auf Sacks Initiative gegründeten „Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde“ ausgegeben, für die er den Kronprinzen, den späteren König Friedrich Wilhelm IV., als Schirmherrn gewonnen hatte.101 Als Vorbild hatte Stein mit seiner 1819 gegründeten Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde gedient, die damit begonnen hatte, historische Dokumente aufzuarbeiten und als „Monumenta Germaniae Historica“ zu veröffentlichen. Sack und Stein haben sich rege darüber ausgetauscht. Passenderweise fiel auch die Eröffnung des ersten pommerschen Landtags mit dem Ottofest zusammen. Als Mittel, das Einheitsbewusstsein in der Provinz zu fördern, verstand sich die Erforschung der Landesgeschichte, wozu auch die von Sack 1827 angeordnete Gründung eines Provinzialarchivs in Stettin diente, das 1831 der Direktion der Preußischen Archivverwaltung unterstellt wurde. Hohe Ehrungen wurden Sack 1821 zuteil: Die Universität Halle verlieh ihm den juristischen Ehrendoktor, die Stadt Stettin die Ehrenbürgerwürde. Johann August Sack starb am 28. Juni 1831 und wurde am 1. Juli im Garten seines Landsitzes bei Stettin

 98 Vgl. dazu Inanchin, Nationalstaat, S. 100–106, Zitat S. 100.  99 Ebd., Zitat S. 105. 100 Ebd. 101 Vgl. Schmidt, Roderich, 175 Jahre Gesellschaft für pommersche Geschichte, Altertumskunde und Kunst, in: Ders., Das historische Pommern. Personen – Orte – Ereignisse (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, 5; Forschungen zur Pommerschen Geschichte, Bd. 41), 2. Aufl., Köln/Weimar/Wien 2009, S. 712–738.

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Abb. 32  Ottostift und Ottobrunnen bei Pyritz, Lithografie, 1844.

begraben.102 Die Kaufmannschaft der Stadt ließ 1833 zu seinen Ehren in den Plantagen vor dem Königstor ein Denkmal errichten.103 „Die Ernennung von Johann August Sack zum Oberpräsidenten von Pommern […] erwies sich für die Provinz als wahrhaft glückliche Personalentscheidung“, urteilt Bärbel Holtz.104 Sie folgt damit dem Gesamttenor der älteren landesgeschichtlichen Literatur, in differenzierter Sicht auch dem neuerer Forschung, wonach Sack als einer der maßgeblichen Erneuerer und Förderer, die die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Provinz Pommern im 19. Jahrhundert bestimmt haben, gilt. Kritischere Töne gelten weniger Sacks Meriten an sich, sondern betreffen eher eine von der „Helden102 An der Stelle des Landsitzes, den Sack 1823 erworben hatte, wurde in den 1840er Jahren der Stettiner Bahnhof errichtet und dabei 1845 das Grab Sacks auf den alten Grabower Friedhof vor dem Königstor transloziert, vgl. Dieckmann, Gedächtnis, S. 64. 103 GStA PK I. HA Rep. 89 Nr. 20757 fol. 251, Genehmigung Friedrich Wilhelms III. vom 11.8.1831. – Die Entwürfe zum Denkmal ließ Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) anfertigen, vgl. Dieckmann, Gedächtnis, S. 62 f. 104 Holtz, Personalpolitik, S. 41.

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stilisierung“ der älteren Literatur abweichende realistischere Einschätzung der Ergebnisse und der Nachhaltigkeit von Sacks Wirken unter vergleichender Perspektive, wie etwa Gerd Heinrich sie vorgenommen hat.105 Darüber hinaus hat Dirk Mellies gezeigt, wie neben den Persönlichkeiten der höheren Provinzialverwaltung wie Sack und Nachfolger auch „sonstige Akteure aus der niederen Verwaltung und der gesellschaftlichen Sphäre maßgeblich an der Hebung des Schulwesens, dem Ausbau der Infrastruktur und der Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen beteiligt waren“.106

VIII. Schlussbetrachtung Was zeichnete Johann August Sack aus? Unbestritten ist, dass Sack eine außerordentliche Begabung für das Verwaltungsgeschäft besaß. Dieses Talent war sicher sein hervorragendstes, darin war er bedeutender als durch eigene Ideen und ihre Formulierung. Er war kein systematischer Denker wie Stein, kein visionärer Staatsmann wie Hardenberg, interessant wirken seine Ansichten in mancher Hinsicht durch seine Liberalität, eine gewisse „Modernität“ und nicht zuletzt durch seinen Pragmatismus. Es beeindruckt seine Rechtschaffenheit, seine gradlinige Persönlichkeit, die sich in sehr direkter Sprache auszudrücken vermochte. Seine Urteile über Zustände wie Zeitgenossen fielen oft hart aus, wie seine Briefe an Stein, Gneisenau, Stägemann und andere zeigen. Er war staatsloyal, aber nicht blind gegenüber den führenden Repräsentanten des Staates, sah die Schwächen des Königs, ohne die königliche Autorität in Frage zu stellen. Allerdings schreckte er – wie bei seiner Zwangsversetzung nach Pommern – nicht davor zurück, Hardenberg und dem König mit der öffentlichen Meinung zu drohen, die er am Rhein (vor allem seitens der Städte) hinter sich wusste: Mögen die Folgen davon sein, welche sie wollen, ich kann nicht anders: wir alle stehen unter der öffentlichen Meinung, sie billigt meine Schritte völlig […], schrieb er Hardenberg, der den Brief allerdings sekretierte.107 Herausragend – „schöpferisch“ nennt Steffens es übertreibend – war er als Verwaltungsbeamter in selbstständiger leitender Position. Ein hohes Arbeitsethos, eine solide juristische und kameralistische Schulung in Kombination mit vielfältiger Verwaltungserfahrung und eine rasche Auffassungsgabe ermöglichten es ihm, sich schnell in neue Aufgaben einzufinden. Er bewährte sich immer wieder als „Krisenmanager“, wie er zwischen 1802 und 1815 an wechselnden Schauplätzen und letztlich ab 1816 auch in Pommern zeigte. Er war auch ein Mann der Mobilität, der die Dinge gern selbst vor Ort in Augenschein nahm.

105 Heinrich, Exzellenzen, bes. S. 102 f. 106 Mellies, Modernisierung, S. 349. 107 Zit. n. Koselleck, Preußen, S. 225.

Johann August Sack (1764–1831)

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Seine besonderen Fähigkeiten konnte er im Rheinland in der kurzen Zeit, die ihm dort von März 1814 bis Anfang 1816 vergönnt war, nicht voll zur Geltung bringen. Wie rastlos er in dieser Zeit tätig war, wie viele Politik- und Verwaltungsfelder zu bedienen waren, zeigt sein „General Bericht über die Verwaltung der Königlich Preussischen Rhein-Provinzen“ vom 31. März 1816 an den König. Pommern zu reformieren war eine Herausforderung der besonderen Art. Hier waren Sack 15 Jahre vergönnt, hier hat er energische Aufbauarbeit geleistet und auf vielen Gebieten, hervorgehoben seien nur Verwaltung, Infrastruktur und Bildungswesen, den Modernisierungsprozess der Provinz zumindest eingeleitet, auch wenn nicht alles zum Erfolg führte. „Sack remained throughout his life a critic of old Prussian military values, his contempt for which only increased after 1806 […] He was a bitter enemy of the conservatives“, charakterisiert Michael Rowe ihn.108 Die Schar der Sack-Gegner war zeitweise Respekt einflößend groß, das Intrigengeflecht, mit dem man ihn in Misskredit bringen wollte, beachtlich dicht. Wie weit die Vorgänge um die Versetzung im Jahre 1816 dazu beigetragen haben, dass ihm vom König vielleicht nicht die Wertschätzung widerfahren ist, die ihm aufgrund seiner Leistung und seiner vielfältigen Verdienste um den preußischen Staat in mehr als vier Jahrzehnten zugestanden hätte, mag dahingestellt sein. Sack war bis 1866 der einzige Oberpräsident, der nicht nobilitiert worden ist – es ist allerdings auch nicht bekannt, dass er sich darum bemüht hätte. Andererseits darf die Verleihung des Titels „Wirklicher Geheimer Rat“ mit dem Prädikat „Exzellenz“, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Versetzungsdesaster beziehungsweise als dessen Folge geschah, nicht unterschätzt werden. Es gab keinen Automatismus, dass mit dem Amt des Oberpräsidenten, obwohl eine Spitzenposition in der preußischen Verwaltungshierarchie, auch bei langjähriger Ausübung die Verleihung dieses für die Hofrangordnung so bedeutenden Titels mit dem Prädikat „Exzellenz“ verbunden war.109 Es hätte von Sack stammen können, was Stein als Lebensphilosophie auf eine in seinen Ohren allzu überzogene Lobeshymne dem Grafen Peter Ludwig Alexander Johann Friedrich von Itzenplitz 1824 antwortete: Im Leben komme es gar nicht so sehr auf das Wissen, sondern auf das Wollen und den Charakter an. Jenes, das Wollen, könne durch Streben nach religiöser Veredelung gestärkt und gerichtet werden. Das sicherste Mittel, um eine Sache gelingen zu machen, sei, daß man sich selbst vergisst und nur der Sache lebt.110

108 Rowe, Reich, S. 226. 109 Vgl. Schütz, Rüdiger, Die preußischen Oberpräsidenten 1815–1886, in: Schwabe, Klaus (Hg.), Die preußischen Oberpräsidenten 1815–1945 (Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte, Bd. 15), Boppard am Rhein 1985, S. 33–81, hier S. 41–43. 110 Stein, Briefe und amtliche Schriften, Bd. 6, Nr. 778, Brief vom 23.10.1824, vgl. Duchhardt, Stein, S. 453.

Die rheinische Hochschule

Indianer, Prinzen, Corpsstudenten Die Universität Bonn und die Hohenzollern Thomas Becker

Am 30. Juni 1821 hielt sich der preußische König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) auf einer Reise durch die preußische Rheinprovinz für kurze Zeit in Bonn auf, wo er auch der erst drei Jahre vorher gegründeten Bonner Universität einen Besuch abstattete. Der König zeigte sich entsetzt darüber, dass bei seinem Eintreten in den Hof der Bonner Hochschule einige Studenten nur lässig grüßten, ohne mit dem Rauchen ihrer langen Pfeifen aufzuhören oder die Mütze zu ziehen. Auch bei seiner Begegnung mit dem Regierungs-­ Bevollmächtigten und dem Rektor Karl J. A. Mittermaier (1787–1867) wenige Minuten später war der Monarch über diese Respektlosigkeit immer noch aufgebracht und ließ keinerlei Entschuldigungen und Beschwichtigungen zu. Auf der kurz danach erfolgten Weiterreise konnte sich Friedrich Wilhelm III. immer noch nicht beruhigen. Mit Blick auf die Bonner Studenten rief er aus, Bonn sei wahrlich das Hauptquartier der Irokesen.1 Dieser berühmt gewordene Ausspruch des preußischen Königs markiert den Tiefpunkt einer Entwicklung im Verhältnis zwischen dem Monarchen und der von ihm gegründeten Hochschule, die schon Jahre zuvor begonnen hatte. Dabei sollte die Universität Bonn einmal das Bindeglied sein zwischen den Rheinländern, die von 1794 bis 1813 unter französischer Herrschaft gelebt hatten, und der neuen preußischen Regierung, die seit dem Wiener Kongress die Geschicke an Rhein und Mosel lenkte. Schon in der Besitzergreifungsurkunde, mit der Friedrich Wilhelm III. am 5. April 1815 von Wien aus die rheinischen Territorien in Besitz genommen hatte, war von der Gründung einer neuen Universität die Rede gewesen.2 Die Franzosen hatten während ihrer fast 20-jährigen Herrschaft am Rhein alle linksrheinischen Universitäten, darunter die altehrwürdige Universität Köln, geschlossen, um ihre neuen Untertanen zum Studium im Mutterland Frankreich zu zwingen. Das Versprechen des ungeliebten neuen preußischen Herrschers war daher von der rheinischen Bevölkerung mit großem Beifall aufgenommen worden. Zwischen zahlreichen rheinischen Städten, teils mit, teils ohne universitäre Vergangenheit, war danach ein heftiger Wettbewerb um den Sitz der neuen preußischen Rhein­ universität ausgebrochen, den nach drei Jahren der Ungewissheit Bonn für sich ent1 Bezold, Friedrich von, Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität von der Gründung bis zum Jahr 1870, Bonn 1920, S. 145. 2 Schäfer, Karl Theodor, Verfassungsgeschichte der Universität Bonn 1818 bis 1960, mit Anhang Bonner Kuratoren 1818 bis 1933 von Gottfried Stein von Kamienski, Bonn 1968, S. 381.

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schieden hatte. Mit einer allerhöchsten Kabinettsordre vom 28. Mai 1818 war der Streit zugunsten Bonns entschieden und die konkrete Vorbereitung für die Einrichtung der Universität begonnen worden.3 Aber 1818 war nicht mehr 1815. In den drei dazwischenliegenden Jahren hatte sich in Deutschland manches verändert. Nach dem heftigen, wenn auch nur kurzen Schrecken der Rückkehr Napoleon Bonapartes (1769–1821) und nach seiner endgültigen Niederlage bei Waterloo hatte sich bei den deutschen Kriegsteilnehmern und bei vielen anderen, die sich zur geistigen Elite zählten, der Wunsch nach einem geeinten deutschen Vaterland unter den Vorzeichen eines durch Verfassung und Gewaltenteilung geregelten bürgerlichen Staates geregt. Fünf Jahre nach der Völkerschlacht bei Leipzig hatte sich unter dem Vorwand der 300-Jahr-Feier der Reformation auf der Wartburg eine von Professoren und Studenten angeführte Einheitsbewegung gezeigt, die unter den Verfechtern einer Rückkehr zur alten Ordnung massive Ängste ausgelöst hatte. Der preußische König Friedrich Wilhelm  III. war von diesen Entwicklungen nicht unberührt geblieben. Er, der nie eine Universität besucht hatte, war ohnehin dem universitären Leben nicht sehr zugeneigt. Nun wuchs in ihm mehr und mehr die Überzeugung, dass gerade die Universitäten Brutstätten dieses neuen liberalen Geistes seien. Bestärkt wurde er darin von Männern aus seiner unmittelbaren Umgebung, etwa durch den Polizeiminister Fürst Wilhelm zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (1770–1851) oder den Leitenden Direktor im Polizeiministerium Karl Albert von Kamptz (1769–1849). Ganz besonders richtete sich der Grimm des Königs auf einflussreiche Männer wie den „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) oder den Publizisten Ernst Moritz Arndt (1769–1860). Ausgerechnet Arndt war aber noch vor der offiziellen Eröffnung der Universität von der Kultusabteilung im Innenministerium eingestellt worden, um die Öffnung zusammen mit dem Historiker Karl Dietrich Hüllmann (1765–1846) von der Universität Königsberg zu organisieren.4 Die Anstellung Arndts war nicht unumstritten gewesen, aber der neu ernannte Kultusminister Karl vom Stein zum Altenstein (1770–1840) und der Premierminister Karl August von Hardenberg (1750–1822) vertrauten darauf, dass der mittlerweile 50-jährige Arndt, der gerade die Schwester des Theologen Friedrich Schleiermacher (1768–1834) geheiratet hatte, sich nun einem ruhigeren, häuslichen Leben zuwenden wollte.5 Arndt selbst versicherte das auch, uneingedenk der Tatsache, dass der vierte Teil seiner politischen Streitschrift „Geist der Zeit“ just in dem Sommer in Druck gegangen war, als er seine Stellung in Bonn angenommen hatte. Kaum war das Buch heraus, gab es einen Eklat. Arndt hatte sich diesmal nämlich nicht das verhasste Frankreich vorgenommen, 3 Ausführlich dazu Renger, Christian, Die Gründung und Einrichtung der Universität Bonn und die Berufungspolitik des Kultusministers Altenstein (Academica Bonnensia, Bd. 7), Bonn 1982, S. 23–60. 4 Ebd., S. 88; s. auch Bezold, Geschichte, S. 68. 5 Bezold, Geschichte, S. 81.

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sondern das Königreich Preußen, und insbesondere seinen Polizeiminister. Wittgenstein und die anderen Vertreter der Reaktion schäumten vor Wut.6 Der König, der in seinen Vorurteilen gegen Universitäten durch Arndts Dreistigkeit bestärkt wurde, war nur mit Mühe davon abzuhalten, den gefeierten Mann gleich wieder zu entlassen.7 Von der Gründung der in Planung befindlichen Bonner Universität wollte er aber am liebsten gar nichts mehr hören. Er weigerte sich, überhaupt damit befasst zu werden, und reiste statt nach Bonn zur Inauguralfeier der neuen Rhein-Universität lieber nach Aachen zu einem internationalen Kongress, auf dem über eine neue europäische Friedensordnung nach der endgültigen Verbannung Napoleons verhandelt werden sollte. Nur mit größter Mühe gelang es Hardenberg und Altenstein, den König in Aachen doch noch dazu zu bringen, die Stiftungsurkunde zu unterschreiben. In aller Eile war sie vom Kultusbeamten Johannes Schulze (1786–1869), der bis Mitte 1818 noch Schulrat in Koblenz gewesen war, in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1818 aufgesetzt worden, und diese Hast und Improvisation sieht man ihr heute noch an.8 Damit war wenigstens der Akt der Universitätsstiftung innerhalb des Zeitplans vollzogen worden, die Universität Bonn war gegründet, die gerade einmal 17 Professoren und Dozenten konnten im November 1818 mit den wenigen schon eingeschriebenen Studenten den Vorlesungsbetrieb aufnehmen. Aber das war auch schon alles. Der König verweigerte jedes weitere Entgegenkommen. Das begann schon mit der Einweihungsfeier. Inauguralfeiern hatten in Europa eine lange Tradition, sie dienten nicht nur der Vorstellung der neuen Hochschule, sondern noch viel mehr der Verherrlichung des jeweiligen Landesherrn, der sie gestiftet hatte. Von einer solchen glanzvollen Feier, wie sie in Bonn etwa 1786 bei der Einweihung der ersten, von Kurfürst Max Franz (1756– 1801) gestifteten Bonner Universität drei Tage lang mit Prunk und Pomp stattgefunden hatte, wagten die Bonner Professoren gar nicht erst zu träumen, Aber auch eine kleine Feierstunde in der Aula in Anwesenheit eines Vertreters der preußischen Regierung gab es nicht. Ohne jedes Zeremoniell nahm man im November 1818 die Arbeit auf. Doch das war nur die kleinste der Zumutungen, unter denen die Bonner Universität durch die Ungnade des Königs zu leiden hatte. So verweigerte man der Neugründung einen Namen. Es war in Deutschland Brauch, eine neugegründete Hochschule nach ihrem Stifter zu benennen, also in diesem Fall nach König Friedrich Wilhelm III., wie es etwa mit der 1810 gegründeten Schwesteruniversität Berlin geschehen war. Aber weder der 1811 ins Leben gerufenen schlesischen Reformuniversität in Breslau noch der neuen Bonner Gründung wurde eine solche Namensführung gewährt. Die neue Bonner Universität wurde einfach unter dem Namen „Preußische Rhein-Universität“ geführt, was 6 Renger, Gründung, S. 88. 7 Bezold, Geschichte, S. 82. 8 Der Text ist zu finden bei Schäfer, Verfassungsgeschichte, S. 381–384; das Original ist ausgestellt im Universitätsmuseum der Universität Bonn. Man kann dort heute noch die Verbesserungen und Schreibfehler der eigentlich schön gestalteten Urkunde sehen.

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wohl eher als Arbeitstitel zu verstehen ist. Auch die der Universität in Aussicht gestellte eigene Verfassung wurde ihr nicht verliehen, stattdessen wurden von Berlin aus vorläufige Reglements vorgeschrieben und die universitäre Autonomie durch die Ausführungsbestimmungen zu den Karlsbader Beschlüssen in den Jahren der Demagogenverfolgung weiter eingeschränkt. Erst 1827 wurde die schon seit Jahren ausgearbeitete Universitätsverfassung unterschrieben und noch ein Jahr später, 1828, auch endlich der Universität überreicht. Damit war zum ersten Mal ein versöhnlicher Zug in der Haltung der preußischen Obrigkeit zu ihrer rheinischen Neugründung zu spüren, denn mit diesen 1828 veröffentlichten Statuten erhielt die Universität Bonn endlich den ersehnten Namen und durfte sich hinfort „Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität“ nennen.9 Das Verhältnis zwischen Krone und Katheder blieb auch in den nächsten Jahren eher frostig. Die Bonner Universitätsbehörden, vor allem der Außerordentliche Regierungsbevollmächtigte und Kurator Philipp Joseph Rehfues (1779–1843) und der Universitätsrichter Emil Bergmann (1774–1858), legten die Karlsbader Beschlüsse hinsichtlich der Unterdrückung der Studentenverbindungen in einer Weise aus, die man am ehesten als „rheinisch“ bezeichnen kann, denn obwohl die Studentenverbindungen, und zwar die unpolitischen Corps genauso wie die politisierten Burschenschaften, streng verboten waren, liefen sie unentwegt vor der Nase der Universitätsbeamten herum, wenn auch nicht offen erkennbar. Das Tragen der Corpsuniformen, der Bänder und Mützen war verboten, doch die Studenten bemühten sich, die gestrenge universitäre Ordnungsmacht zu überlisten. In einem zeitgenössischen Bericht über das Corps Guestphalia heißt es: So trugen die Westphalen grüne halbleinene Röcke und schwarz-weiß geflochtene kleine Strohhüte mit grünem Band und einem grünweißen Blumensträußchen darauf; im Winter schwarzen Astrachan mit grünem Obereinsatz und einer silbernen Agraffe darauf.10 Auch Kutschfahrten mit den Farben der jeweiligen Verbindungen wurden unternommen. Aber statt einer zum Beispiel schwarz-grün-weißen Fahne wurden drei verschiedene Fahnen mitgeführt, eine schwarz, eine grün, die dritte weiß. Die Corps fühlten sich in ihrer Rolle einigermaßen sicher, was sich etwa bei einem Besuch des preußischen Kronprinzen am 29. Oktober 1833, also ein halbes Jahr nach dem Frankfurter Wachensturm, in Bonn zeigte. Die Bonner Corps veranstalteten mit Band und Mütze, also in den verbotenen Verbindungsfarben, einen Fackelzug, für den sich der Akademische Senat später ausdrücklich bedankte. Anschließend an eine Ansprache, die von einem Vertreter des Corps Borussia vor dem Boeselager Hof, in dem der Kronprinz logierte, gehalten wurde, schritt dieser die Riege der angetretenen Mitglieder dreier Corps ab.11

  9 Schäfer, Verfassungsgeschichte, S. 100. 10 Schorn, Karl, Lebenserinnerungen. Ein Beitrag zur Geschichte des Rheinlands im neunzehnten Jahrhundert. Erster Band (1818–1848), Bonn 1898, S. 56. 11 Ebd., S. 65.

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Abb. 33  Der Universitätsrichter Friedrich von Salomon (1790–1861) als Salamander, Karikatur aus dem Bonner Karzer, erstellt vom Studenten Gustav von Szczepanski, ca. 1840.

Kurator und Universitätsrichter drückten schon lange bei verbindungsstudentischen Eskapaden ein Auge zu, aber in Berlin kamen die Berichte über die Bonner Verhältnisse immer weniger gut an.12 Schon im Januar 1834 kursierten Gerüchte, dass die Regierung den Kammergerichtsreferendar Bitkow zur Aufspürung der verbotenen Studentenverbindungen nach Bonn schicken wolle.13 Aus der politischen Situation heraus war das durchaus verständlich, und das Misstrauen der Berliner Behörden, der Kurator Rehfues halte seine schützende Hand über die heimlichen Burschenschafter und der Universitätsrichter Bergmann über die Corpsstudenten, war sicher nicht unberechtigt. Bitkows Untersuchung begann tatsächlich im Sommersemester 1834, und sie richtete sich nicht nur, wie nach dem Frankfurter Wachensturm vom April 1834 verständlich, gegen die Burschenschaften, sondern in gleicher Heftigkeit gegen die Corps. Eines der Ergebnisse der umständlichen Untersuchung war die Ablösung des allen studentischen Aktionen gegenüber sehr nachsichtigen Universitätsrichters Bergmann durch den gestrengen und bald auch verhassten Landgerichtsrat Friedrich von Salomon (1790–1861).14 Bonn, 12 Gerhardt, Hans, 100 Jahre Bonner Corps. Die korporationsgeschichtliche Entwicklung des Bonner S.C. von 1818 bis 1918, Frankfurt am Main 1926, S. 64–70. 13 Ebd., S. 66. 14 Ebd., S. 71.

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das „Hauptquartier der Irokesen“? Offensichtlich hatte sich in den 20 Jahren nach dem Kurzbesuch von König Friedrich Wilhelm  III. an der Haltung der Bonner Studenten noch nicht viel geändert. Aber die Bonner Universität hatte auch eine andere Seite. Am besten lässt sie sich durch den Ausspruch des preußischen Beamten und späteren Regierungspräsidenten von Straßburg, Adolph Ernst von Ernsthausen (1827–1894), wiedergeben. Er gedachte 1894 seiner Studienzeit in Bonn, wo er seit 1847 sein in Heidelberg begonnenes Jurastudium fortsetzte. Die Bevölkerung von Bonn lebte bis dahin trotz der massenhaft angehäuften Gelehrsamkeit im Stande der vollkommensten politischen Unschuld. Man ehrte den alten Arndt und Dahlmann als Märtyrer, ersteren auch als Sänger der Freiheitskriege und letzteren als politischen Sachverständigen. Auch mochten die Schlagworte Preßfreiheit und Konstitution nicht ungeläufig sein, aber zu irgend welchen Kundgebungen war es bisher nicht gekommen.15 Diese unpolitische Haltung, die Professoren und Studenten gleichermaßen eigen war, führte Mitte der 1830er Jahre zu einem Phänomen, das für das Ansehen der Bonner Universität im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts von eminenter Bedeutung werden sollte: Die Rede ist vom Studium von Prinzen aus regierenden Häusern des Deutschen Bundes. Den Anfang machten nicht die Hohenzollern, sondern die Häuser Mecklenburg-Strelitz und Sachsen-Coburg und Gotha. Ernst (1818–1893), der künftige Herzog, und sein jüngerer Bruder Albert (1819–1861) sollten nach der üblichen schulischen und militärischen Ausbildung für junge Prinzen nun ihre vier Semester auf einer deutschen Universität ableisten, die auch für Fürsten mittlerweile zu ihrer Ausbildung gehörten. Es waren durchaus verschiedene Universitäten im Gespräch, darunter Berlin, Göttingen und Jena. Aber: Endlich wurde entschieden, daß wir durch drei Semester Bonn besuchen sollten. […] So verließen wir im April 1837 Brüssel […] und eilten sodann mit Begeisterung von Neulingen im Universitätswesen an die Bonner Alma mater, welche Schöpfung Friedrich Wilhelms III. soeben sich zur höchsten Blüte emporgehoben hatte.16 Der Grund für die Wahl der Universität Bonn lag allerdings nicht in erster Linie in ihrer wissenschaftlichen Leistungskraft, die in der Tat in den 20 Jahren seit der Gründung sichtlich erblüht war. Entscheidender für den fürstlichen Vater und seine Berater waren andere Argumente. Berlin hatte zweifellos von allen deutschen Universitäten der 1830er Jahre das größte wissenschaftliche Renommee. Trotzdem riet der Prinzenerzieher Baron Christian Friedrich von Stockmar (1787–1863) vehement von Berlin ab: Übrigens ist in Berlin eine gewisse Liederlichkeit epidemisch wie der Katarrh, und ich möchte glauben, daß Zöglinge an jedem anderen Ort leichter gegen jenes Übel zu bewahren sein möchten als

15 Ernsthausen, A. Ernst von, Erinnerungen eines preußischen Beamten, Bielefeld/Leipzig 1894, S. 61. 16 Ernst II., Herzog von Sachsen-Coburg-Gotha, Aus meinem Leben und aus meiner Zeit, Band 1, Berlin 2 1887, S. 66.

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dort.17 Ähnlich sah das auch der berühmte Jurist Friedrich Karl von Savigny (1779–1861), der selbst an der Berliner Universität lehrte. Berlin böte zu viele Ablenkungen für einen Prinzen und die Gefahr der Verführung wäre in Berlin vielleicht größer als in kleineren Universitäten, ließ er den Herzog wissen. Savigny war es, der dem Herzog für seine Söhne die junge Universität Bonn empfahl.18 Göttingen und Jena schieden beide aus. Zwar stand die wissenschaftliche Qualität der Studien an diesen beiden Universitäten außer Frage, aber in beiden Fällen schien die politische Unruhe, die durch geheime Burschenschaften und politische Professoren an diesen Universitäten ausgelöst worden war, sie nicht für Fürstensöhne zu empfehlen. Bonn dagegen mit seiner fast schon sprichwörtlich gewordenen „vollkommensten politischen Unschuld“ bei gleichzeitiger hoher wissenschaftlicher Reputation bot sich als moderne Universität in geradezu idealer Weise an. Die beiden Söhne aus dem Hause Sachsen-Coburg und Gotha, die nun für vier Semester an die Universität Bonn kamen, waren die ersten Prinzen aus einem regierenden Hause des Deutschen Bundes, die sich hier einschrieben. Aber sie blieben nicht die einzigen. Kurz nach ihnen im selben Wintersemester 1837/38 traf der Erbprinz Friedrich Wilhelm von Mecklenburg-Strelitz (1819–1904) ein und in den folgenden Semestern kam ein hoher Adeliger nach dem anderen hinzu: Schon im Sommer 1838 waren die Häuser Schaumburg-Lippe, Löwenstein-Wertheim und Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst hinzugestoßen, Letzteres gleich mit drei Prinzen auf einmal. Weitere Häuser folgten, wie Hessen, Lippe-Detmold, Sonderburg-Glücksburg oder Arenberg.19 Es sollte aber bis 1843 dauern, bevor ein Mitglied des Hauses Hohenzollern den Weg nach Bonn fand. Der Erste war Georg von Preußen (1826–1902), jüngster Sohn von Friedrich, Prinz von Preußen (1794–1863). Dieser Friedrich von Preußen war der Sohn von Friederike von Mecklenburg-Strelitz (1778–1841), der jüngeren Schwester von Königin Luise (1776–1810), mit der zusammen sie auf dem berühmten Marmorstandbild, der sogenannten „Prinzessinengruppe“, von Johann Gottfried Schadow (1764–1850) zu sehen ist. Georg war also ein etwas weitläufiger Verwandter des 1843 amtierenden preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861), der seit 1840 regierte. Dementsprechend wenig Aufsehen erregte sein Bonner Studium. Es war zwar für die Universität etwas Besonderes, einen Spross aus dem eigenen Königshaus unter ihren Studierenden zu haben, aber größere Reaktionen blieben aus. Am 9. November 1843 immatrikulierte sich Prinz Georg, aber das „Bonner Wochenblatt“ berichtete darüber gar nicht, sondern wies lieber darauf hin, dass die Fischrechte am Poppelsdorfer Weiher von der Universität für sechs Jahre an eine Privatperson ver-

17 Netzer, Hans-Joachim, Ein deutscher Prinz in England. Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, Gemahl der Königin Victoria (dtv 30311), 2. Aufl., München 1997, S. 96. 18 Ebd. S. auch Eyck, Frank, The Prince Consort. A Political Biography, London 1959, S. 17. 19 Alle Angaben nach den amtlichen Personalverzeichnissen der Universität Bonn.

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pachtet werden sollten.20 Auch in den Senatsprotokollen findet sich keine Reaktion auf die Ankunft des ersten Hohenzollern. Natürlich war die Universitätsleitung unterrichtet, denn es war ja üblich, dass sich neue Studenten persönlich beim Rektor vorstellten, aber eine besondere Herausstellung dieses ersten Hohenzollernprinzen lässt sich nicht feststellen. Nun war der Prinz ja nicht am preußischen Hofe, sondern in der Nähe von Düsseldorf aufgewachsen, weil sein Vater Prinz Friedrich kommandierender General der 20. preußischen Division in Düsseldorf war. Es kann also sein, dass man Georg von Preußen einfach nicht so sehr wahrgenommen hat. Seitens des Königs oder der preußischen Regierung hatte man wohl auch keine Notiz von den Studienplänen des jungen Hohenzollern-Sprösslings genommen. Allerdings fällt auf, dass der Prinz sich erst am 9. November eingeschrieben hat. Es wäre nicht auszuschließen, dass hier das preußische Kultusministerium oder die preußische Regierung ihre Hand im Spiel hatten, denn drei Wochen vorher, am 18. Oktober 1843, hatte es im Senat eine bescheidene Feierstunde zum 25-jährigen Bestehen der Bonner Universität gegeben, deren Verlauf vorher umständlich mit dem Berliner Ministerium verabredet worden war. Wie stolz hätte man da einen Verwandten des Königs, wenn auch einen noch so weit entfernten, präsentieren können. Aber wieder blieb das Königshaus der Universität fern. Prinz Georg schrieb sich, wie bei hohen Adeligen allgemein üblich, für Jura ein, aber es wurde erwartet, dass die Prinzen ein Studium generale absolvierten und neben Jura auch Geschichte, Geografie, Philosophie und andere für ihre spätere Karriere nützliche Fächer kennenlernten. Georg von Preußen hörte also bei August Wilhelm von Schlegel (1767–1845), Ernst Moritz Arndt, Johann Wilhelm Löbell (1786–1863), Friedrich Bluhme (1797–1874) und Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860).21 Nach dem Wintersemester 1844/45 verließ er die Universität Bonn wieder. Auch das entsprach dem üblichen Schema. Die Adeligen, insbesondere die Fürstensöhne, studierten sehr fleißig, was nicht zuletzt an ihren Erziehern und militärischen Begleitern lag, die ihre Studien kontrollierten, die Nacharbeiten der Vorlesungen beaufsichtigten und sie durch eigene Vorträge, meist zu militärischen Fragen, ergänzten. Nach Ablauf von drei bis vier Semestern, von denen oft eines noch als „grand tour“ auf Reisen in Italien, Frankreich und der Schweiz verbracht wurde, verließen sie die Universität, ohne eine Prüfung abgelegt zu haben, denn das hätte ja bedeutet, dass ein Bürgerlicher die Leistungen einer Person, die vielleicht einmal sein König sein konnte, zu bewerten wagte.22 Auch wenn das Stu20 Bonner Wochenblatt, Nr. 212, 12.11.1843. Digital abrufbar unter: https://zeitpunkt.nrw/ulbbn/periodical/zoom/2693563 (abgerufen am 9.12.2018). 21 Hoffmann, Rudolf, Die Prinz-Georg-Bibliothek in der Universitätsbibliothek Bonn, Bonn 1965, S. 18r unter Berufung auf Lindenberg, Paul, Kaiser Friedrich als Student, Berlin 1896. Online unter: http://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/content/pageview/1951061 (abgerufen am 8.12.2018). 22 Zur Studienplanung der Prinzen aus dem Hause Sachsen-Coburg und Gotha s. Bosbach, Franz, Einleitung – Fürstliche Studienplanung und Studiengestaltung, in: ders. (Hg.), Die Studien des Prinzen Albert an der Universität Bonn (1837–1838) (Prinz-Albert-Forschungen, Bd. 5), Berlin/New York 2010, S. 13–38, hier S. 17–20.

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dium von Georg von Preußen keine deutlichen Spuren in der Erinnerung der Bonner Universität hinterlassen hat, so hatte sein Beispiel doch die Tür aufgestoßen für weitere Studenten aus dem Hause Hohenzollern. Der Nächste, der kam, war der später als „der rote Prinz“ bekannt gewordene Friedrich Karl von Preußen (1828–1885). Sein Vater, Prinz Carl von Preußen (1801–1883), war einer der vielen jüngeren Brüder des Königs. Damit war dieser Neu-Student der königlichen Familie schon erheblich näher verbunden als sein Cousin Georg. Friedrich Karl schrieb sich am 28. April 1846 in die Matrikel der Universität Bonn ein. Neben seinem Vater hatte sein militärischer Berater und Erzieher, der spätere preußische Kriegsminister Major Albrecht von Roon (1803–1879), auf ein Studium in Bonn gedrängt. Es ist zu vermuten, dass auch hier der eher unpolitische Charakter der Bonner Studierenden und das Beispiel der vielen deutschen Prinzen, die seit 1837 hier studiert hatten, den Ausschlag gegeben haben. Der Testfall mit Georg von Preußen war offensichtlich zufriedenstellend verlaufen, sodass nun schon eine größere Nähe zwischen dem Haus Hohenzollern und der so misstrauisch beäugten Bonner Alma Mater gewagt wurde. Auch Friedrich Karl blieb als prinzlicher Student nicht lange allein, denn schon zwei Tage später schrieb sich Georg, Erbprinz von Sachsen-Meiningen (1826–1914), für Jura ein. Der junge Friedrich Karl war über die Aufnahme seines Bonner Studiums todunglücklich, denn bis zu seinem 18. Lebensjahr hatte er eine militärische Erziehung genossen und er vermisste die Uniformen und die festen Abläufe, die er bei seinem Regiment erlebt hatte. Erst nach Ende des ersten Semesters hatte er dieses Heimweh einigermaßen überwunden. An seinen Vater schrieb er: Ja, ich gefalle mich sehr in Bonn, aber ich muß nur nicht an Potsdam denken und an die Garden.23 In diese Bonner Zeit fällt eine rege Korrespondenz mit seinem damals 15-jährigen Vetter, dem Prinzen Friedrich Wilhelm, dem Neffen des Königs, der später auch in Bonn studieren sollte.24 Seine Mutter sah das mit Unbehagen, weil sie fürchtete, der Ältere könnte dem Jugendlichen das Universitätsleben negativ schildern, weil es so weit vom Militär entfernt sei. Die Konsequenz war eine heimliche Überwachung des Briefwechsels, die allerdings keinerlei bedenkliche Inhalte enthüllte. Friedrich Karl kam nach Bonn in einer Zeit beginnender konfessioneller Spannungen. Hatten sich im Hermesianismusstreit noch die Katholiken untereinander bekämpft, waren durch das „Kölner Ereignis“ der Widerstandsgeist und das Selbstbewusstsein der Katholiken gestärkt worden. 1844 hatte sich an der Universität Bonn eine erste rein katholische Studentengruppe zusammengetan, aus der die Studentenverbindung Bavaria werden sollte. Im selben Jahr war als demonstrative katholische Massenveranstaltung 23 Luther, Helmut, Friedrich Karl von Preußen. Das Leben des „roten Prinzen“ (Frieling Historia), Berlin 1995, S. 20. 24 Bernhard, Andreas, Friedrich III. Ein Prinz im Widerstreit der Erziehungsmethoden, in: Stiftung Stadtmuseum Berlin (Hg.), Im Dienste Preußens. Wer erzog Prinzen zu Königen? S. 173–202, hier S. 192.

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die von einer halben Million Pilgern besuchte Aussetzung des Heiligen Rocks in Trier veranstaltet worden, gegen die die beiden Bonner Privatdozenten Heinrich von Sybel (1817–1895) und Johann Gildemeister (1812–1890) eine wissenschaftlich korrekte, aber mit viel Sarkasmus gewürzte Streitschrift verfasst hatten. Innerhalb und außerhalb der Universität gab es in diesen Jahren also Hader zwischen den Konfessionen, was dem Prinzen aus Brandenburg überaus zuwider war. Er schreibt: Man kann gar keine Worte dafür finden, was die Leute hier bigott und intolerant sind. Man hört von nichts anderem sprechen als von Fanatismus und Reibungen beider Confessionen.25 Auch wenn der protestantische Preuße von den katholischen Gebräuchen angewidert war, wie das auch bei anderen evangelischen Studenten zu lesen ist26, so kam Friedrich Karl doch bei den Rheinländern insgesamt zu einem positiven Urteil: Ebenso unruhig wie es hier auf religiösem Gebiet aussieht, ebenso ruhig ist es auf dem politischen. […] Mit keinem Menschen ist leichter umzugehen als mit dem Rheinländer. Er ist so gutmüthig, wie er irgend sein kann. Er spricht gern und amüsirt sich womöglich jeden Tag. Beides ist nicht schlimm, und wenn er das kann, wird er ein so guter Unterthan sein, wie er im Buche steht.27 Anders als bei Georg suchten die Vertreter der im Rheinland bedeutenden gesellschaftlichen Gruppen mit Friedrich Karl das Gespräch. Nicht nur hohe Beamte, Offiziere, Professoren und ortsansässige Adelige bemühten sich um ihn, auch der Kölner Erzbischof Johannes von Geissel (1796–1864) suchte den Prinzen in seiner Bonner Wohnung auf.28 Das Studium des Prinzen unterschied sich kaum von dem seiner Standesgenossen. Auch er hörte vier Semester Jura, angereichert durch Veranstaltungen und Privat­ vorlesungen aus anderen Fächern. Mittlerweile hatten sich wieder eine ganze Reihe anderer Prinzen an der Bonner Universität versammelt. Wie schon bei den ersten beiden Vertretern aus hohem Hause, den Herzogssöhnen aus Sachsen-Coburg, schlossen sich die adeligen Studenten zusammen und schirmten sich durch zahlreiche Besuche und Gegenbesuche, aber auch durch gemeinsame Einladungen bei den ortsansässigen Adeligen und hohen Beamten, gegen die bürgerlichen Studenten ab.29 Friedrich Karl allerdings war von seinen prinzlichen Kommilitonen wenig angetan. Er beklagte sich in einem Brief nach Hause über die charakterlichen Schwächen der anderen Prinzen aus Mecklenburg-­Schwerin, Hessen oder Baden und schloss mit den Worten Ich unglück-

25 Ebd., S. 21. 26 Zu Prozessionen: 2000 3000 Menschen laufen in dem kleinen Bonn bei solchen Gelegenheiten mit Kertzen in der Hand herum. Man sieht unter ihnen die allergebildetsten Leute, wie die Frau von Generalleutnant von Rummel a. D., meinen Lehrer, den Professor Walter usw. Ebd., S. 21 f. 27 Ebd., S. 22. 28 Ebd. 29 Becker, Thomas, Prinz Albert als Student in Bonn, in: Bosbach, Franz/Filmer-Sankey, William/Hiery, Hermann (Hgg.), Prinz Albert und die Entwicklung der Bildung in England und Deutschland im 19. Jahrhundert. Prince Albert and the development of education in England and Germany in the 19th Century (Prinz-Albert-Studien, Bd. 18), München 2000, S. 145–156, hier S. 153 f.

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liches gejagtes Thier soll nun allen herhalten? Und das noch im letzten Semester? Das ist ja fürchterlich!30 Schon die beiden Sachsen-Coburger hatten sich heimlich mit den Studentenverbindungen eingelassen.31 Allerdings durfte das nur sehr vorsichtig geschehen, da die Verbindungen ja verboten waren. Nach dem Tod Friedrich Wilhelms III. im Jahre 1840 wurden Corps und Burschenschaften im Königreich Preußen wieder geduldet, wenn sie auch erst 1848 offiziell wieder erlaubt wurden. Die Bonner Corps der Demagogenzeit, die Saxonia, Rhenania, Palatia und Borussia, wagten sich nun auch an die Öffentlichkeit. Damit wurden sie Anlaufstellen der Prinzen, die vom kämpferischen Geist und vom Mensurwesen angezogen wurden. Insbesondere das Corps Borussia mit seinem Adelsvorbehalt war nun eine wichtige gesellschaftliche Adresse für die Prinzen. In unterschiedlicher Weise, vom Konkneipanten bis zum aktiven Mitglied mit Band und Mütze, schlossen sie sich den Borussen an. Das war der Beginn eines engen Verhältnisses zwischen dem Corps Borussia zu Bonn und dem Hause Hohenzollern, eines Verhältnisses, das bis zum Ende des Kaiserreiches eine prägende Wirkung für Bonn haben sollte. Nahezu der gesamte deutsche Hochadel schickte nach und nach seine Söhne nach Bonn und sie alle wurden bei Borussia aktiv. In Postkarten und Karikaturen wurden die Aktiven oder Alten Herren mit dem weißen Stürmer auf dem Kopf zum Synonym für Bonner Studenten. Aber das ist schon ein Vorgriff auf die Zukunft. Zunächst einmal war Friedrich Karl bei den Borussen eingetreten. Ein halbes Jahr nach seinem Eintreffen in Bonn, im November 1846, gab der Prinz ein Souper für die Aktiven des Corps Borussia, dem er künftig weit mehr Aufmerksamkeit schenkte als anderen Bonner Corps. Die Borussia revanchierte sich, indem sie dem Prinzen Friedrich Karl im Dezember 1847 das Band verlieh und ihn so offiziell zu einem der Ihren machte.32 Auf Mensuren dürfte er verzichtet haben, sie waren ja offiziell verboten und kamen für Prinzen gar nicht in Frage. Das hinderte die Hohenzollern-Prinzen aber nicht daran, am Mensurwesen zumindest passiv regen Anteil zu nehmen.33 Friedrich Karl verließ die Universität Bonn, weil er im April 1848 mit seinem Regiment nach Schleswig verlegt wurde.34 Während der Revolution war er also nicht mehr Student. Ob er, wenn er länger studiert hätte, sein Bild von den unpolitischen Rheinländern wohl revidiert hätte? Vermutlich nicht, denn trotz einiger entschlossener Republikaner in den Bonner Burschenschaften Frankonia und Alemannia blieb die Masse der 30 Ebd., S. 29. Der unerwartete Tod des Erbprinzen von Hessen-Homburg im Januar 1848 trifft ihn zwar, aber seine Trauer hält sich in Grenzen: Er entbehrte aller Anlagen. Daher scheint es mir gnädiger vor Gott, das Heldengeschlecht mit ungeschmälertem Ruhme aussterben zu lassen, als es durch einen Schwächling fortzusetzen. Ebd., S. 31. 31 Becker, Albert, S. 151–153. 32 Hauser, Peter, Hohenzollern als Corpsstudenten in Bonn, Hilden 2014, S. 8; vgl. auch Gerhardt, Jahre, S. 157. 33 Gerhardt, Jahre, S. 328 f. 34 Bernhard, Friedrich III., S. 192.

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Abb. 34  Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen, der spätere deutsche Kaiser Friedrich III. (1831–1888).

Bonner Professoren und Studenten doch eher unbeteiligt und hielt sich aus den politischen Gärungen der Jahre 1848 und 1849 heraus. Es gab also für das preußische Königshaus auch nach der Revolution keinen Grund, die Bonner Universität als Studienort für die Hohenzollern-Prinzen zu meiden. Die Annäherung nahm noch zu, als nun der dritte Hohenzoller die Bonner Alma Mater bezog. Diesmal war es Prinz Friedrich Wilhelm (1831–1888), der Neffe des amtierenden preußischen Königs und Nummer zwei der Thronfolge, der später als der tragische 99-Tage-Kaiser Friedrich  III. den Thron besteigen sollte. Er immatrikulierte sich am 9. November 1849, also nach erfolgreicher Niederschlagung der Revolution und zu Beginn der sogenannten Reaktionsära. Der Erzieher des Prinzen, der Altphilologe Ernst Curtius, hatte selbst in Bonn studiert und riet den Eltern sehr dazu, ihren Sohn an den Rhein zu senden, um ihm Eindrücke zu vermitteln, die sich von seiner bisherigen brandenburgischen Umgebung unterschieden. Hatte die Universität schon dem Studium des Prinzen Friedrich Karl weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt als demjenigen des Prinzen Georg, so war das Studium des Prinzen von Preußen nun etwas, das die Universität unter allen anderen preußischen Universitäten hervorhob, was wiederum die Universität veranlasste, Prinz Friedrich in besonderer Weise als Bonner Studenten hervorzuheben. Friedrich Karl hatte sich noch mit einem Quartier in einer Bürgerwohnung zufriedengeben müssen, die zu allem Überfluss auch noch zugig und kalt war.35 Nun wurde dem Prinzen gleich eine ganze Zimmer35 An seine Eltern schreibt er 1846: Während ich dies schreibe, zittere ich vor Frost am ganzen Leibe. Es zieht und pfeift durch dieses baufällige Haus auf eine ganz unerlaubte Weise. Nichts schließt hier: kein Schloß, kein Fenster, nichts. Dabei kracht mein alter Erker so, als wenn er einstürzen wollte. Luther, Friedrich, S. 21.

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flucht im Hauptgebäude der Universität eingeräumt. Es handelte sich um die Wohnung des Kurators, also des Leiters der Universitätsverwaltung, die sich im ersten Stock des alten Residenzschlosses in dem Dreiecksflügel befand, der dem Buon Retiro am südwestlichen Teil des alten Residenzschlosses unmittelbar gegenüberlag und wo heute der Rektor mit seinem Stab residiert.36 Seit der Revolution gab es keinen Kurator mehr in Bonn, nachdem der letzte Kurator Moritz August von Bethmann-Hollweg (1795–1877) als Professor für Jura nach Berlin berufen worden war. Die Räume standen also leer und der Kronprinz konnte hier mit seinem Stab einziehen. In aller Regel reiste ein Prinz nicht allein zu seinem Studium nach Bonn. Er hatte immer einen Erzieher dabei, das heißt jemanden, bei dem er bisher schon Unterricht erhalten hatte, dazu mindestens einen Offizier, der ihn beraten und ihn gleichzeitig während der Zeit des Studiums in Kriegswesen und Militärfragen unterrichten sollte. Prinz Friedrich kam zusammen mit seinem Erzieher Ernst Curtius (1814–1896), einem Altphilologen, der ihm im ersten Semester Vorträge zur lateinischen Literatur hielt und mit ihm Lese- und Übersetzungsübungen veranstaltete, bevor er Bonn wieder verließ.37 Dazu kam Oberst Friedrich Leopold Fischer (1798–1857) mit seiner Frau, die beide aus Königsberg stammten. Das Ehepaar Fischer wurde sehr wichtig für den Kronprinzen, es zog ebenfalls in die alten Wohnräume der Kuratorswohnung ein und vermittelte so etwas wie eine familiäre Atmosphäre. Weiter war da der Leutnant Karl von Heinz (1818–1867), der als ständiger Begleiter des Kronprinzen gedacht war. Beide verband eine lebenslange Freundschaft. Der engste Freund des Kronprinzen, Rudolf von Zastrow (1830–1864), hatte nicht nach Bonn mitkommen können, weshalb man Friedrich als Kommilitonen den gleichaltrigen Ernst Theodor Senfft von Pilsach (1831–1887) mitgeschickt hatte, der auch mit dem Kronprinzen vertraut war, mit dem dieser aber nicht so richtig warm werden konnte.38 Der kleine „Hofstaat“ des Kronprinzen spielte in der Bonner Gesellschaft eine bedeutende Rolle, weil durch ihn das gesellschaftliche Leben während der Studienzeit des Prinzen in ganz bestimmte Bahnen gelenkt wurde. Da der Prinz nicht alleine lebte, hatte er die Möglichkeit, Einladungen auszusprechen, was er in großem Maße tat. Denn mindestens einmal in der Woche gab es mittags ein großes Diner in der Wohnung von Oberst Fischer mit den übrigen prinzlichen Studenten, mit Professoren, Offizieren der Garnison, Honoratioren und leitenden Beamten der Stadt sowie andere[n] Leute aus der Stadt, Engländer etc. und wer aus der Umgegend oder bei der Durchreise sich vorstellte.39 Noch einmal traf sich dieser Kreis, dann aber mit Damen, abends zum Tee in derselben Wohnung. An den anderen Abenden der Woche standen Leseabende, kleine Gesell36 Lindenberg, Friedrich, S. 20. 37 Ebd., S. 41, Bericht des Oberst Fischer an die Großherzogin Maria Paulowna von Sachsen-Weimar-Eisenach (31.3.1850). 38 Ebd., S. 32. 39 Ebd., S. 42.

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Abb. 35  Die Studierstube des Prinzen im Hauptgebäude der Universität.

schaften oder Besuche von Tanzveranstaltungen außerhalb der Universität auf dem Programm, und mindestens einmal im Semester gab der Prinz einen großen Ball, der vermutlich in der Aula der Universität, dem heutigen Festsaal, oder in der Galerie hinter dem Stockentor, welche die Universitätsbibliothek beherbergte, stattgefunden hat.40 Mit anderen Worten: Der Prinz war nicht nur eine herausragende Persönlichkeit unter den Bonner Studenten, sondern er veränderte auch durch seine Einladungen und Veranstaltungen das gesellschaftliche Leben der Stadt. Prinz Friedrich war dabei weder ein Jetset-Playboy noch ein von Standesdünkeln getriebener Aristokrat. Im Gegenteil suchte er bewusst den Kontakt zu Vertretern aller Klassen und bemühte sich, etwas über ihre Lebensumstände zu erfahren.41 Sein bescheidenes Auftreten und seine sympathische Art waren gerade in der Zeit nach der Niederschlagung der Revolution und der ersten Auswirkungen der Reaktion eine gute Werbung für den preußischen Staat.42 Doch dieser preußische Staat, wiewohl durch den Prinzen auf sympathische Weise verkörpert, verhielt sich der Universität Bonn gegenüber immer noch abweisend und schroff. Auch nach dem Tod des unversöhnlichen Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1840, der zur Beendigung der Suspendierung von Ernst Moritz Arndt und zur faktischen Dul40 Ebd., S. 43. 41 Ebd. 42 Ebd.

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dung der Studentenverbindungen geführt hatte, verweigerte das Ministerium trotz mancher Anfrage seitens der Universität immer noch die Genehmigung der akademischen Insignien und Trachten. Immer noch durfte der Rektor keine Amtskette tragen, immer noch gab es keine Talare für die Professoren, immer noch hatten die einzelnen Fakultäten keine Farben. Trotz des viersemestrigen Studiums von Kronprinz Friedrich, das Universität und Königshaus zweifellos ein Stück näher gebracht hatte, blieb der König bei seiner ablehnenden Haltung und verweigerte der Universität ihre ersehnten akademischen Symbole.43 Erst ein komplizierter Streit im preußischen Landtag, der nicht viel mit den Universitäten Bonn und Breslau, aber viel mit den zunehmenden Spannungen zwischen Katholiken und Liberalen zu tun hatte, führte 1853 auf einmal zu einer Änderung in der Haltung der preußischen Regierung.44 Ausgelöst durch einen Streit um die Finanzierung der Katholisch-Theologischen Fakultät der paritätischen Universität Breslau kam es im Landtag zu einer Veränderung der Allianzen, da der Kultusminister Karl Otto von Raumer (1805–1859) nun auf Seiten der Katholiken gegen die Liberalen Front machte. Das Ergebnis dieser neuen Konstellation war die Erfüllung der Forderungen der Bonner und Breslauer Lehrkörper nach ihren akademischen Trachten.45 Lediglich die katholischen Theologen mussten noch etliche Jahrzehnte warten, bis man ihnen statt ihrer Priesterkleidung ebenfalls Talare zugestand. Damit war die Eiszeit zwischen dem Haus Hohenzollern und der Universität Bonn weitgehend einer Normalisierung der Verhältnisse gewichen. Neben dem Studium der Hohenzollern-Prinzen war auch von Bedeutung gewesen, dass der Vater von Prinz Friedrich, Prinz Wilhelm (1797–1888), der jüngere Bruder von König Friedrich Wilhelm IV., als Gouverneur der Rheinprovinz in Koblenz stationiert war und seinerseits Sympathien bei den Rheinländern gewinnen und Sympathien für sie empfinden konnte. Seit 1859 war er für seinen schwerkranken Bruder Prinzregent und ab 1861 König von Preußen, 1871 schließlich der erste deutsche Kaiser. Er und sein Sohn, der ehemalige Bonner Student Friedrich, vermochten es, die Spannungen zwischen Krone und Katheder im Jahre 1868 endgültig zum Ende zu bringen. In diesem Jahr nämlich war die 50-Jahr-Feier der Universität Bonn. Acht Jahre vorher, bei der 50-Jahr-Feier der Schwesteruniversität in Berlin, waren die Feierlichkeiten unter Verzicht auf die Teilnahme der königlichen Familie abgehalten worden. Lediglich dem Gottesdienst am ersten Tag der Feiern hatten der Prinzregent und sein ältester Sohn stumm auf einer Empore beigewohnt, bevor sie wieder in ihre Schlösser enteilt waren. Die Berliner Studenten aber hatten in einem abendlichen Fackelzug spontan am Kronprinzenpalais Halt gemacht und den Kron-

43 Schäfer, Verfassungsgeschichte, S. 124. 44 Andernach, Norbert, Der Einfluß der Parteien auf das Hochschulwesen in Preußen. 1848–1918 (Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 4), Göttingen 1972, S. 20–23. 45 Schäfer, Verfassungsgeschichte, S. 130 f.

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Abb. 36  Prinz Wilhelm von Preußen (1859–1941) mit dem weißen Stürmer des Corps Borussia auf dem Kopf auf einer Mauer über dem Rhein, Fotografie des Bonner Ateliers Theo Schafgans.

prinzen dazu gebracht, zu ihnen zu sprechen und mit ihnen zu feiern.46 Nun, 1868, war die Situation noch entkrampfter und zur großen Freude der Veranstalter erschienen nun der vom Prinzregenten zum König aufgestiegene Wilhelm I. und Königin Auguste (1811–1890), zusammen mit Prinz Friedrich, numehr Kronprinz, und seiner Frau Victoria (1840–1901), auf dem Jubelfest. König und Königin nahmen sogar am nächsten Tag den Festumzug ab. Der Kronprinz überraschte seine ehemaligen Kommilitonen sogar damit, dass er ankündigte, für den ganzen Rest der Feierlichkeiten in Bonn zu bleiben.47 Der endgültige Durchbruch für die Rolle Bonns als führende Universität für den deutschen Hochadel kam mit dem Prinzen Wilhelm von Preußen (1859–1941), dem späteren Kaiser Wilhelm II. Am 24. Oktober 1877 trug er sich in die Matrikel der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn ein. Und kurze Zeit darauf war er Konkneipant des Corps Borussia. Eine berühmte Fotografie des Bonner Ateliers Theo Schafgans hat den Prinzen auf einer Mauer sitzend hoch über dem Rhein abgelichtet, im eleganten Straßenanzug mit dem weißen Stürmer des Corps Borussia auf dem Kopf.48

46 Zum Ganzen s. Becker, Thomas, Patriae doloribus Alma mater nata. Die 50-Jahr-Feiern der drei Friedrich-Wilhelms-Universitäten Berlin, Breslau und Bonn im Vergleich, in: ders./Schaper, Uwe (Hgg.), Die Gründung der drei Friedrich-Wilhelms-Universitäten. Universitäre Bildungsreform in Preußen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 108), Berlin/Boston 2013, S. 125–145, hier S. 133–139. 47 Ebd., S. 144 f. 48 Hauser, Hohenzollern, S. 11.

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Nichts kann die enge Verbundenheit des Prinzen mit seinem Bonner Corps deutlicher machen als dieses Foto. Anders als sein Vater wohnte Wilhelm mit seinem Stab nicht mehr im Hauptgebäude der Universität. Sein militärischer Berater Major Eduard von Liebenau (1840–1900) fand für ihn eine repräsentative dreistöckige Villa in der Koblenzer Straße 39, etwa in Höhe der heutigen Universitätsbibliothek.49 Wilhelm immatrikulierte sich am 24. Oktober 1877. Sein Studium umfasste die üblichen vier Semester, in denen er in der Juristischen Fakultät eingeschrieben war, was natürlich nicht bedeutete, dass er lediglich juristische Vorlesungen hörte. Sein wichtigster akademischer Lehrer war der Historiker Wilhelm Maurenbrecher (1838–1892), bei dem er in seinem ersten Bonner Semester eine bis ca. 1850 reichende öffentliche „Geschichte des 19. Jahrhunderts“ hörte.50 Diese Form der Lehrveranstaltung war jedoch für den Prinzen Wilhelm, genau wie für seinen Vater, die Ausnahme. Normalerweise erhielt er ein für ihn speziell abgehaltenes „Privatissimum“ in seinem Studierzimmer in der Villa Frank.51 Dort hörte er juristische Collegia von Roderich von Stintzing (1825–1883), Staatswissenschaften bei Erwin Nasse (1829–1890), Philosophie bei Jürgen Bona Meyer (1829–1897) und – in Abweichung von den Studienprogrammen anderer deutscher Prinzen – Physik bei Rudolf Clausius (1822–1888).52 Wilhelm hörte auch noch verschiedene andere Vorlesungen in Germanistik, Archäologie, Kunstgeschichte und Chemie, aber das interessanteste erschien ihm doch wohl das physikalische Kolleg von Clausius. Später erinnerte er sich daran, bei Clausius zum ersten Mal in seinem Leben ein Telefon gesehen zu haben. „Zum ersten Male“ schreibt er rückblickend, wurden „meine technischen Interessen fachmännisch befriedigt“.53 Die entscheidende Erfahrung seiner Studienzeit war für Wilhelm aber zweifellos seine Zeit als Konkneipant beim Corps Borussia. Durch seine begeisterte Teilnahme führte er nicht nur die Borussia, sondern auch die anderen Bonner Corps aus einer Krisensituation, die aus der Entwicklung zu Corps und Burschenschaften alternativer Gesellungsformen entstanden war, etwa durch nichtschlagende Verbindungen oder wissenschaftliche Studentenvereine.54 In den zehn Jahren nach dem Eintritt des Prinzen Wilhelm in das Corps Borussia, in dem doch auch schon sein Vater aktiv gewesen war, zählte das Corps doppelt so viele Mitglieder wie in den zehn Jahren davor.55 Der enorme Aufschwung des Corps Borussia, das 1871 nur noch drei aktive Mitglieder gehabt hatte, zog auch die anderen Studentenverbindungen mit sich. Burschenschaften oder katholische Verbindungen 49 50 51 52 53 54

Röhl, John C. G.: Wilhelm II. Die Jugend des Kaisers 1859–1888, München 1993, S. 299. Ebd., S. 309 u. S. 312–319. Ebd., S. 308. Ebd., S. 308. Ebd., S. 311. Alvensleben, Constantin von: Im Glanz der Hohenzollern. Bonner Verbindungsleben in der Zeit des Wilhelminismus, in: Kromphardt, Karl/Neupert, Herbert/Rotthoff, Michael (Hgg.): Studentenverbindungen und Verbindungsstudenten in Bonn, Haltern 1989, S. 73–82, hier S. 74. 55 Röhl, Wilhelm, S. 302.

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konnten in den 80er Jahren neben dem allgemeinen Anstieg der Studentenzahlen auch von dem gehobenen gesellschaftlichen Renommee der Corps profitieren.56 Das Lebensbund-Prinzip hat auch der spätere Kaiser noch immer sehr ernst genommen, wie sich bei verschiedenen Anlässen zeigte. So nahm er 1887, noch als Prinz, trotz der Bedenken seiner Berater am 60. Stiftungsfest der Bonner Preußen teil und 1891 besuchte er als Kaiser die Semesterantrittskneipe des Bonner Senioren-Convents.57 Bei dieser Gelegenheit drückte er gegenüber den anwesenden Corpsburschen und Alten Herren, die ihm zum Geburtstag seines gerade neun Jahre alt gewordenen ältesten Sohnes gratulierten, seine Hoffnung aus, dass auch dieser Kronprinz eines Tages ein Konkneipant des Corps Borussia werde.58 Und tatsächlich geschah es so auch. Im Jahr 1901 immatrikulierte sich wieder ein Prinz Wilhelm (1882–1951), ebendieser älteste Sohn Wilhelms II., an der Universität Bonn und trat gleichzeitig beim Corps Borussia ein. Am Tag der Immatrikulation, dem 24. April 1901, trafen auch der Kaiser und die Kaiserin nebst etlichen Vertretern des Hofstaates in Bonn ein. Die Immatrikulation selber, das heißt die eigenhändige Eintragung des neuen Studenten in die Universitätsmatrikel, ist eigentlich ein simpler Verwaltungsakt, aber durch Anwesenheit von Kaiser und Kaiserin, durch Teilnahme von Abordnungen der Studentenverbindungen, durch Antreten von Rektor und Dekanen in ihren akademischen Gewändern wurde daraus ein regelrechter Festakt. Ihm folgte am Abend ein allgemeiner Studentenschaftskommers, an dem Kaiser Wilhelm teilnahm, danach am nächsten Tag der reguläre Antrittskommers des Bonner Senioren-Convents, dem der Kaiser wiederum in seiner Eigenschaft als Alter Herr der Borussia beiwohnte, und dann am 26. April die Semesterantrittskneipe des Corps Borussia, bei der der Kaiser, den weißen Stürmer immer auf dem Kopf, bis ein Uhr nachts unter den Teilnehmern saß.59 Die tiefe Verbindung von Wilhelm II. und dem ganzen Haus Hohenzollern mit der Universität Bonn, vor allem aber mit dem Corps Borussia, war also offensichtlich. Und das hatte Folgen. Nicht nur liest sich die Mitgliederliste des Corps Borussia und teilweise auch die anderer Bonner Corps in der Kaiserzeit wie der Gothaer Adelskalender, sondern es kam auch durch die vielfachen Lobeshymnen des Kaisers in seinen Ansprachen und die verschiedenen Besuche in Bonn zu einem immer selbstbewussteren und übermütigeren Auftreten der Corpsburschen in der Öffentlichkeit. Bonn wurde zu den teuersten Universitäten Deutschlands gezählt, sofern ein Student sich zum Eintritt in ein Corps entschied. Das ausschweifende Luxusleben der Corpsburschen mit Bällen, Ausfahrten, Abendgesellschaften und dergleichen machte den Alten Herren der Verbindungen zunehmend Sorgen, drehte sich die Schraube der kostspieligen Vergnügungen doch 56 Alvensleben, Glanz, S. 78. 57 Hauser, Hohenzollern, S. 16. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 18.

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immer weiter nach oben. Sogar Kaiser Wilhelm schaltete sich ein und vermittelte 1912 ein Treffen der Chargierten und Altherren-Vorstände aller sieben damals existierenden Bonner Corps, um eine Mäßigung der Geldausgaben zu erreichen. Ein ständiger Ausschuss von sieben Alten Herren wurde eingerichtet, der als „Verbilligungs-Kommission“ die Sparbeschlüsse durchsetzen sollte. Ein Teil dieser Beschlüsse war der Verzicht auf teure Mietdroschken bei Ausflügen der Corpsmitglieder. Die Aktiven antworteten allerdings auf diese Beschlüsse auf ihre Art. Als im Corps Palatia wieder ein Ausflug anstand, bei dem Droschken nunmehr verboten waren, mieteten sich die Corpsstudenten bei einem gerade in Bonn gastierenden Zirkus Elefanten und Kamele, um mit ihnen durch die Stadt zu reiten.60 Eine der kritisierten Verhaltensweisen der Corps war das Ausreisen in die nähere Umgebung mit einem extra gecharterten und festlich geschmückten Rheindampfer. Im Winter, wenn es auf dem Rhein zu kalt war, fuhr man stattdessen mit dem „Feurigen Elias“, einer Kleinbahn, die zwischen Bonn und Godesberg verkehrte. Dabei war es für die Corpsstudenten allmählich zum festen Bestandteil des Ausflugs geworden, alles, was in den Waggons nicht niet- und nagelfest war, zu demolieren. Diese Unsitte sprach sich bis nach München herum, wo der „Simplicissimus“ 1910 eine Karikatur veröffentlichte, die eine wilde Horde von Studenten und Indianern zeigte, welche den Zug überfielen und die Zugschaffner malträtierten. Die dazugehörige Beschreibung erklärte unter der Überschrift nach den neuen Bonner-Exzessen: Um die Korpsstudenten in ihren Hauptfähigkeiten weiter auszubilden, wurden an der Universität Bonn einige Indianerhäuptlinge als Austausch-Professoren berufen.61 Da ist es wieder, das Bild von der Bonner Universität als Indianerdorf. Doch sollten diese kritischen Töne nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Treiben der Corps und auch der anderen Studentenverbindungen der Universitätsstadt Bonn in der Kaiserzeit ein besonderes Flair gab. Prinzenuniversität und Corps bedingten einander, beide überhöhten sich gegenseitig, um in der Öffentlichkeit, vor allem aber in der Presse, Bonn den Anstrich einer besonderen Universität zu geben, die zwar nicht die Größe und wissenschaftliche Reputation von Berlin hatte, aber doch einen Glanz, der andere Universitäten des Reiches überstrahlte. Nach über einem halben Jahrhundert, nach der ärgerlichen Rede vom respektlosen Indianerhauptquartier, nach den vielen Zurücksetzungen und Schikanen, die man durch die preußische Regierung und das Haus Hohenzollern erfahren hatte, war nun endgültig – um im Bild zu bleiben – das Kriegsbeil begraben worden. Krone und Katheder hatten sich versöhnt und Bonn war unangefochten Deutschlands Prinzenuniversität Nummer eins. 60 Gerhardt, Jahre, S. 352 f. und 357 (Foto). 61 Simplicissimus vom 14.2.1910, Jg. 14, Heft 46, S. 810; vgl. Hauser, Hohenzollern, S. 45. Persistenter Identifier: http://web2.6893–2.whserv.de/simpl_typo3/uploads/tx_lombkswjournaldb/1/14/14_46_810.jpg (abgerufen am 8.12.2018).

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Abb. 37  Karikatur über das „Indianerdorf “ Bonner Universität im „Simplicissimus“, 1910, aus: Simplicissimus, 14. Jahrgang, No. 46, München, 14. Februar 1910.

Bonns „entzückte Musensöhne“: „Tumultuanten“, „Demagogen“ oder „ganz normale“ Unruhestifter? Studentenkulturelle Befunde im Spiegel preußischer Zentralakten Jürgen Kloosterhuis*

Die schier überbordende Informationsfülle des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) – insgesamt circa 38 laufende Kilometer Urkunden, Amtsbücher, Akten und andere Archivalien der zentralen Instanzen des ehemaligen Brandenburg-Preußen, darüber hinaus bestimmte Provinzialüberlieferungen und nichtstaatliches Schriftgut – haben die Studentenhistorikerinnen und -historiker bislang noch nicht wirklich für sich entdeckt.1 Dabei sind für sie alle jene Akten sehr ergiebig, die im Rahmen der Universitätsaufsicht oder anderer Kompetenzen durch (brandenburg-) preußische Landesoberbehörden beziehungsweise oberste Landesbehörden entstanden sind. Allerdings ist bei ihrer Auswertung etwa für die Belange von Bonns „entzückten Musensöhnen“2 a priori zu betonen, dass sie sicher nicht den normalen studentischen Alltag in den preußischen Musenstädten spiegeln, sondern ebenso naturgemäß deren *

Der Aufsatz spiegelt die Einleitung zu meinem universitäts-, studenten- und korporationsgeschichtlichen Inventar der einschlägigen Akten im GStA PK, bereichert sie aber um die speziellen Duisburger und v. a. Bonner Betreffe; vgl. Kloosterhuis, Jürgen, Vivant membra quaelibet! Quellen zur Universitäts-, Studenten- und Korporationsgeschichte im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. 2 Teile, in: Einst und Jetzt 56 (2011), S. 29–84, und 58 (2013), S. 159–556. Für eine weitere auf die Fridericiana bezogene Version vgl. ders., Halles „kecke Musensöhne“, in: Höroldt, Ulrike/Pabstmann, Sven (Hgg.), 1815: Europäische Friedensordnung – Mitteldeutsche Neuordnung. Die Neuordnung auf dem Wiener Kongress und ihre Folgen für den mitteldeutschen Raum (Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts, Bd. 13), Halle (Saale) 2017, S. 285–323; sowie den vergleichbaren, ebenso ertrag- wie kontrastreichen Aufsatz von Stickler, Matthias, Studentisches Verbindungswesen an der Universität Königsberg im 19. und frühen 20. Jahrhundert – Anmerkungen zu einem wenig beachteten Thema, in: Kraus, Hans-­ Christof/Kroll, Frank-Lothar (Hgg.), Historiker und Archivar im Dienste Preußens. Festschrift für Jürgen ­Kloosterhuis, Berlin 2015, S. 409–426, wertvoll nicht zuletzt aufgrund seiner Benutzung der Archivalien im Archiwum Panstwowe w Olsztyniu. 1 Als weitere einschlägige Wegweiser vgl. Lönnecker, Harald, Quellen und Forschungen zur Geschichte der Korporationen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Ein Archiv- und Literaturbericht, in: Steinbach, Matthias/Gerber, Stefan (Hgg.), „Klassische Universität“ und „akademische Provinz“. Studien zur Universität Jena von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, Jena 2005, S. 401–437; ders., Besondere Archive, besondere Benutzer, besondere Schriften. Archive akademischer Verbände, in: Der Archivar 55 (2002), H. 4, S. 311–317; Stickler, Matthias, Archivalische Quellen zu Studentenverbindungen und -vereinen an deutschen Universitäten. Das Beispiel Würzburg, in: Bulletin der Polnischen Historischen Mission 6 (2011), S. 271–299; sowie Vogt, Annette, Archivführer zur Wissenschaftsgeschichte, Berlin 2013. 2 Die Phrase zitiert die erste Strophe des Universitätsstadt-Lieds „Bonna hoch!“ von Hermann Schiltz, 1907; vgl. Foshag, Michael (Hg.), Allgemeines deutsches Kommersbuch, 165. Aufl., Kehl 2008, S. 196.

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Chronique scandaleuse: eben alle jene Vorgänge eher unerfreulicher Natur, um die sich akademische und staatliche Obrigkeiten zu kümmern hatten.3 Wie schön, dass trotz alledem gelegentlich auch das Lob braver Studenten gesungen wurde, welche sich durch ihre Geschicklichkeit, Fleiß und gute Aufführung hervorgethan haben – wie es 1771 erfreulicherweise aus Duisburg im rheinisch-westfälischen Alt-Preußen verlautete, wo obendrein unverbesserliche Musensöhne umso weniger angezeigt werden mussten, als dort angeblich gar keine sogenandte Studenten-Ordens existier[t]en4. Das lenkte einen sozusagen propädeutischen Blick auf die Universität Duisburg, die uns hier als Bonner Vorläuferin besonders interessiert.

I. Burschenfreiheit und Staatsräson bis 1808 Die bis 1808 entstandene staatliche Überlieferung im GStA PK betrifft vor allem folgende ältere (vor 1700 gegründete) Universitäten: Frankfurt an der Oder (gegründet 1504), Königsberg in Preußen (1544), Duisburg (1654) und Halle an der Saale (1694). Sie alle bildeten Objekte ministerieller Aufsicht und staatsraisonabler Regulierung im Rahmen der brandenburg-preußischen Behördenorganisation, die ihrerseits vom 16. zum 18. Jahrhundert einen historischen Entwicklungsprozess durchlief. Seine großen Wendepunkte in der allgemeinen Landesverwaltung und Justizausübung markierten die Gründung des Geheimen Rats 1604, die Entwicklung des Königlichen Kabinetts ab 1713 und die Einrichtung des Generaldirektoriums 1723. Für die staatliche Gestaltung der preußischen Universitätspolitik waren darüber hinaus die Berufung von Kuratoren und deren Institutionalisierung im 1747 gegründeten Oberkuratorium der Universitäten wichtig. Diese Instanzenzüge waren im Fall der 1654 gegründeten, 1655 eröffneten und 1804/18 aufgelösten Universität zu Duisburg insoweit zu differenzieren, als diese der Zentralbehördenaufsicht nicht direkt unterstellt war, sondern zunächst einem von der Regie3 Zu den Rahmenbedingungen vgl. Schwinges, Rainer Christoph (Hg.), Universität im öffentlichen Raum (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 10), Basel 2008; Krug-Richter, Barbara/Mohrmann, Ruth-E. (Hgg.), Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, H. 65), Köln/Weimar/Wien 2009; sowie Stickler, Matthias, Universität als Lebensform? Überlegungen zur Selbststeuerung studentischer Sozialisation im langen 19. Jahrhundert, in: Bruch, Rüdiger vom/Müller-­ Luckner, Elisabeth (Hgg.), Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1900 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 76), München 2010, S. 149–186; sowie Bauer, Joachim, Universitätsgeschichte und Mythos. Erinnerung, Selbstvergewisserung und Selbstverständnis Jenaer Akademiker 1548–1858 (Pallas Athene, Bd. 41), Stuttgart 2012. 4 Bericht Regierung zu Kleve, an Kuratorenkolleg des Geheimen Rats zu Berlin, dat. Kleve, 24.6.1771, mit angelegter Conduitenliste ausgezeichneter Studenten (neun Namen); GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep 34, Nr. 1613. Der Vorgang genügte einer am 3.8.1764 für Halle a. S. (und so auch für die anderen Universitäten in Preußen) verordneten halbjährlichen Berichtspflicht (vgl. NCC, Bd. 3, Berlin 1766, Sp. 459 f.), die auf Zentralaktenebene aber nur in diesem einen Fall dokumentiert wird.

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rung zu Kleve ressortierenden Kuratoren-Kollegium und erst folgend dem Geheimen (Etats-)Rat.5 Für die Duisburger Universitäts- und Studentengeschichte kommen damit auch jene Regierungsakten in Betracht, die sich heute im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, befinden, das seit einigen Jahren bekanntlich seinen Sitz eben in Duisburg hat.6 Grundsätzlich lief die Dialektik zwischen Burschenfreiheit und Staatsräson auch auf eine Auseinandersetzung zwischen dem obrigkeitlichen Policey-Ideal und der Wahrung universitärer Autonomie in einer Zeit hinaus, als bestimmte Einrichtungen und Sachwalter der Universität von ebenden Strafgebühren (mit)finanziert wurden, die über die membra quaelibet im Deliktfall zu verhängen waren. Der politische Scharfsinn Friedrichs des Großen (1712–1786) hat dies 1750 klar erkannt und für das damit verbundene Problem „Geld- oder Karzerstrafe für aufmüpfige Studenten?“ eine salomonische Lösung gefunden: Die fohrnehmen Leute ihre Sotissen werden mit Geldt bestrafet und der geringeren ihre mit dem Kartzer. Sonsten müßen die Vähterbeutels vohr die Kinder ihre Thorheiten büssen, und da frägt die Jugendt nichts nach! 7 Die Studenten haben im universitären, lange Zeit vergleichsweise rechtsmilden Raum zwischen den heimischen Bindungen und der akademischen Freiheit studiert und agiert, gleichsam an den Schnittstellen von Adelsgestus, Bürgerfleiß und Unterschichtenmilieu, zwischen den Hörsälen und Gastwirtschaften, Fechtböden, Schauspielbühnen und Bordellen. Allerdings war vor solchen Hinter- und Abgründen die immatrikulierte Jugend gegen venerische Krankheiten nicht gefeit. Für Duisburg liegen dazu nur verschämte Hinweise8, keine exakten Zahlen vor; in Halle war 1805/06 von den dort immatrikulierten ca. 500 Musensöhnen schätzungsweise ein Viertel geschlechtskrank.9 An diesen kommentdefinierten Schnittstellen, in jenem rechtsmilden Raum konnte die Situation jederzeit eskalieren: in persönlichen Verschuldungen und Verfehlungen, in zufälligen Schlägereien und kontrahierten Duellen, in ruhestörenden Exzessen kleinerer Gruppen und geplanten Tumulten, zu denen diese haufenweise und gewaltbereit 5 Vgl. Ring, Walter, Geschichte der Universität Duisburg, Duisburg 1920, S. 73 ff.; desgl. Roden, Günter von, Die Universität Duisburg (Duisburger Forschungen, Bd. 12), Duisburg 1968, S. 96 ff. 6 Die Akten des hier einschlägigen Bestands LAV NRW, R AA 0058 Kleve-Mark, Akten, betreffen v. a. das Rektorat und die Universitätsverwaltung, die Vermögensbewirtschaftung, die Abnahme von Universitätsrechnungen, Professorenangelegenheiten und Vorlesungskataloge, hauptsächlich von 1728 bis 1811. 7 Randverfügung Friedrichs II., auf Bericht Geh. Etatsrat, dat. Berlin, 4.5.1750; GStA PK, I. HA Rep. 96 Geheimes Kabinett, Nr. 433 E. Der Bericht entstand im Umkreis des Reglements, wie die Studenten auf Königlichen Universitäten sich betragen und verhalten sollen, dat. Potsdam, 9.5.1750, das ein entspr. Reglement vom 30.9.1718 novellierte; vgl. MCC, Teil I Abt. II, Sp. 229–236 bzw. MCC, Contin. IV, Sp. 229–234. Vgl. dazu hier und im Folgenden die faktenreiche Zusammenstellung von Alenfelder, Klaus Michael, Akademische Gerichtsbarkeit (Bonner Schriften zum Wissenschaftsrecht, Bd. 7), Baden-Baden 2002. 8 Vgl. Ring, Geschichte, S. 224. 9 Vgl. entspr. Vorgänge 1805/06 in Akte GStA PK, II. HA Generaldirektorium, Abt. 15 Magdeburg, D Städtesachen, Tit. CXIII Stadt Halle, Sekt. XIII Universität, Nr. 26; zur Problematik noch immer grundlegend Bauer, Max, Sittengeschichte des deutschen Studententums, Dresden o. J.

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zusammenströmten. Im Vergleich zu Halle oder Frankfurt ging es in Duisburg – im Spiegel der Berliner Aktenlage – allerdings harmlos zu.10 Nichtsdestotrotz war nach anderweitigen Augenzeugenberichten wie zum Beispiel den Erinnerungen des nachmaligen Regierungsrats Christoph Wilhelm Heinrich Sethe (1767–1855) 1783 der damalige Geist unter den Duisburger Studenten […] nicht der beste: Es herrschte ein rohes und wüstes Leben, es wurde viel geschwärmt und gesoffen, auf der Straße des Abends gelärmt und getobt! Wüstlinge, welche von anderen Universitäten hingekommen waren, gaben den Ton an. […] Der Pennalismus hatte sich vielleicht auf keine Universität so sehr erhalten, als auf dieser Duodez-Universität und die Neuangekommenen waren vielen Ungezogenheiten und Zudringlichkeiten der Älteren ausgesetzt.11 Zu ernsteren studentischen Krawallen kam es vor allem in den 1730er Jahren gegen unrechtmäßige Anwerbungen des in Wesel stationierten Militärs. Danach waren die Kuratoren-Klagelieder über die Duisburger Musensöhne auf den üblichen harmloseren Ton gestimmt: tagtägliches Schuldenmachen, nächtliches Lärmen, Rauchen auf offener Straße, übermäßiger Besuch von Schauspielen (und Schauspielerinnen), andauerndes Fechten mit wem auch immer.12 Während Carl Arnold Kortums (1745–1824) „Jobsiade“ von 1784/99 bekanntlich die fidele Probe auf dieses Exempel gab,13 reflektierte die Geheime Rats-Überlieferung keine besonders aufregenden Vorkommnisse unter den ca. 30 bis 50 Studenten, die im 18. Jahrhundert durchschnittlich in Duisburg immatrikuliert waren14: Schon 1710 wurden landsmannschaftliche Bruderschaften an der Universität aufgehoben; 1776 die Beteiligung von Professoren an Freimaurerzusammenkünften kritisiert.15 Bemühungen des Universitätsrektors und Dekans der Theologischen Fakultät Professor Johann Peter Berg (1737–1800), die 1784 durch den Französisch-Sprachlehrer Jacques Ebrard du Casquet (geb. 1742) ins Leben gerufene Johannis-Loge „Zur Hoffnung“ als sittengefährdend und universitätsschädlich zu unterdrücken, wurden von Friedrich dem Großen mit Reskript vom 2. August 1784 zurückgewiesen.16 Sechs Jahre später sah sich die Obrigkeit genötigt, auch in Duisburg gegen studentische Ordensverbindungen 10 Vgl. entspr. auch die Erinnerungen eines in Duisburg 1766/69 immatrikulierten Studenten: Selbstbiographie des königl. Preußischen Oberlandesgerichtspräsidenten B. Friedrich Wilhelm von Rappard, hg. v. August von Rappard, Hamm 1837, bes. S. 21 ff. 11 Klein, Adolf/Bockemühl, Justus (Hgg.), Weltgeschichte am Rhein erlebt. Erinnerungen des Rheinländers Christoph Wilhelm Henrich Sethe aus der Zeit des europäischen Umbruchs, Köln 1973, S. 78. 12 Vgl. Ring, Geschichte, S. 214 ff.; Roden, Universität, S. 328 ff. 13 Vgl. Kortum, Carl Arnold, Die Jobsiade. Ein komisches Heldengedicht in drei Teilen. Hg. und mit Nachwort v. Curt Noch, Leipzig 1956; bes. Teil 1, 13. Kap. (S. 44–47), Teil 2, 20. Kap. (S. 237–239); zu Kortum als Duisburger Student Roden, Universität, S. 353 f. 14 Der Höchststand der Duisburger Frequenz war ein Jahr nach der Gründung 1655 mit 90 Immatrikulierten erreicht worden, sank dann aber schnell auf die genannten Zahlen; vgl. Roden, Universität, S. 324 f. 15 Vgl. entspr. Vorgänge 1710 bzw. 1776 in Akte GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 34 Herzogtum Kleve usw., Nr. 1618; zu den studentischen Zusammenschlüssen in Duisburg Roden, Universität, S. 343 ff. 16 Vgl. Gerlach, Karlheinz, Die Freimaurer im Alten Preußen 1738–1806. Die Logen zwischen mittlerer Oder und Niederrhein, Teil 2, Innsbruck/Wien/Bozen 2007, S. 662, 666.

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Abb. 38  Hieronymus Jobs im Examen, Stich nach dem Gemälde von Johann Peter Hasenclever (1810– 1858) aus dem Jahr 1840.

einzuschreiten17 – die dort allerdings schon kurz nach dem Siebenjährigen Krieg am Werke waren.18 Anhand von Stammbucheintragungen lassen sich Duisburger Spuren des aus Halle überkommenen Ordens „Inviolable“ belegen (1765), des Ordens „Amitié perpétuelle“ (1767) sowie des Unschulds-, des Unitisten- und des Amicisten-Ordens (1766, 1784, 1786). Schwer für die damals untersuchenden Instanzen waren (und sind bei der heutigen Aktenauswertung) die hinter solchen Vorgängen womöglich stehenden studentischen Korporationen zu fassen, von denen in den Berichten entweder allgemein als Gesellschaft, Verbindung oder Klub beziehungsweise schon präziser als Landsmannschaft, Orden oder Kränzchen die Rede ist. Ob dies erlaubte gesellige Organisationen oder verbotene Bünde zu irgendwelchen Zwecken waren, hing vor allem am Ende des

17 Vgl. entspr. Vorgang 1792 in Akte GStA PK, I. HA Rep. 76 alt Ältere Oberbehörden für Wissenschaft usw., II. Oberkuratorium der Universitäten, Generalia, Nr. 11. 18 Vgl. Pietzsch, Friedrich August, Das Verbindungswesen an der Universität Duisburg. Versuch einer Darstellung an Hand von Stammbüchern Duisburger Studenten, in: Duisburger Forschungen 4 (1961), S. 1–45.

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18. Jahrhunderts von der Intensität ihrer Geheimniskrämerei ab.19 Dies trennte trotz aller Affinitäten die (verbotene) studentische Ordensverbindung von der (akzeptierten) bürgerlichen Freimaurerloge und dem (geduldeten) studentischen Kränzchen, zwischen denen ein und dieselben Studenten oft genug changierten.20 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts erblickten die preußischen Obrigkeiten in den studentischen Organisationen allemal gefährliche Unruhestifter, gegen die man 1798/99 mit einer vereinheitlichenden Neuregelung der Kompetenzen der akademischen Gerichtsbarkeit und der Vorschriften zur Bestrafung studentischer Exzesse eine Handhabe zu schaffen suchte. Ja, im Edict wegen Verhütung und Bestrafung geheimer Verbindungen, welche der allgemeinen Sicherheit nachtheilig werden könnten, das am 20. Oktober 1798 in Kraft trat, konnte der „weltfremdeste juristische Bürokratismus“ tatsächlich „auf den wahnwitzigen Gedanken verfallen, als Disciplinarstrafen für studentische Ausschreitungen Prügel- und sogar Todesstrafen anzudrohen“.21 Die Universitätsbehörden zu Frankfurt, Königsberg, Duisburg, Halle und Erlangen haben dagegen je einzeln mehr oder weniger entschieden protestiert.22 Freilich blieb es nicht am Niederrhein den damals in Duisburg eingeschriebenen 36 Musensöhnen, sondern am fernen Pregel 190 selbst- und ehrbewussten Studenten (von etwa 300 damals in Königsberg Immatrikulierten) vorbehalten, sich in einer Sammelsupplik gegen die unangemessen drakonische Gesetzgebung würdig zu verwahren.23 Die Musensöhne der Albertina setzten so ein letztes Glanzlicht auf die Burschenfreiheit im alten Preußen, dessen Staatsräson sie auf diese Weise besser dienten als jene Obrigkeiten, die durchaus mit Gespür für den soziopolitischen Wandel um 1800 ihr Heil im Ausbau der Karzerkapazitäten suchten. Gleichzeitig haben sich im „Vorspiel auf dem Duisburger Theater“ Konturen abgezeichnet, die zur weiteren Positionsbestimmung von Bonns „entzückten Musen19 Vgl. Asche, Matthias, Handlungen, welche Geheimnisse vermuthen lassen. Studentische Arkangesellschaften an deutschen Universitäten im 17. und 18. Jahrhundert, in: Huth, Volkhard (Hg.), Geheime Eliten? Bensheimer Gespräche 2010/11, veranstaltet vom Institut für Personengeschichte (Bensheim) in Verbindung mit der Ranke-Gesellschaft (Köln) (Bensheimer Forschungen zur Personengeschichte, Bd. 1), Frankfurt am Main 2014, S. 163–182. 20 So konnten Studenten, die sich zunächst in Duisburg immatrikuliert hatten und dort Ordensbrüder geworden waren, seit 1789 im Zuge eines Universitätswechsels nach Halle problemlos in das dortige Westfalen-Kränzchen eintreten; vgl. Kloosterhuis, Jürgen, Westfalen – Preußen – Guestphalia. Die Beamten und Pfarrerfamilien des preußischen Westfalen als gemeinschaftsbildende Faktoren der ersten GuestphalenKränzchen, in: WestphalenVerein e. V. Halle/Saale (Hg.), 200 Jahre Corps Guestphalia Halle zu Münster. Münster 1989, S. 37–58, bes. S. 57. 21 Vgl. NCC, Bd. 10, Berlin 1801, Sp. 1663–1668; dazu Bornhak, Carl, Geschichte der preußischen Universitätsverwaltung bis 1810, Berlin 1900, zit. S. 188. 22 Vgl. entspr. Berichte von 1798 in Akte GStA PK, I. HA Rep. 76 alt Ältere Oberbehörden für Wissenschaft usw., II. Oberkuratorium der Universitäten, Generalia, Nr. 19. Zum Bericht der Duisburger Provinzialkuratoren, dat. Emmerich, 22.10.1798, vgl. auch Ring, Geschichte, S. 230. 23 Supplik der Königsberger Studentenschaft, an Oberkuratorium zu Berlin, o. D. [etwa September 1798]; GStA PK, I. HA Rep. 76 alt Ältere Oberbehörden für Wissenschaft usw., II. Oberkuratorium der Universitäten, Generalia, Nr. 19.

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söhnen“ relevant sein könnten. Zunächst im 18. Jahrhundert benahmen sich die Studenten am Niederrhein nicht viel anders als ihre Kommilitonen im ostelbischen Preußen, doch schlugen sie in Duisburg wesentlich sanfter über die Stränge, während die Hochburg studentischer Exzesse und Tumulte im Spannungsfeld von Burschenfreiheit und Staatsräson ohne Zweifel „an der Saale hellem Strande“ zu suchen war. Verfassungspolitische, gar revolutionär infizierte Qualität scheint den studentischen Krawallen auch an der westlichsten preußischen Hochschule um 1800 nicht geeignet zu haben – was sich knapp 20 Jahre später ändern sollte. Die 1819 losbrechende „Demagogenverfolgung“ wird in ihrer ganzen Härte am preußischen Exempel aber nur dann verständlich, wenn man sie in der Kontinuität jenes Edikts von 1798 sieht.

II. Studenten zwischen Volk und Staat 1808–1934 Im 19. Jahrhundert entstanden die hier interessierenden Akten nicht mehr in dem aus dem Ancien Régime überkommenen Behördensystem, sondern im Rahmen der Ressortgliederung der seit 1808 in Preußen neu eingerichteten modernen Fachministerien. Von ihnen kam zunächst dem Innenministerium, seit 1817 dem Kultusministerium vorrangige Bedeutung für die Gestaltung der Hochschulpolitik zu. Ebenso beschäftigte sie das Geheime Zivilkabinett, den Staatskanzler und den Staatsrat, den Ministerpräsidenten und das Staatsministerium sowie weitere einschlägige Ressorts. Im Gefolge der im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts von Staats wegen betriebenen Kriminalisierung studentischer Verbindungen kamen als zuständiger Oberster Gerichtshof in erster Instanz ab 1820 das Oberlandesgericht zu Breslau, als Revisionsinstanzen zunächst das Oberlandesgericht zu Frankfurt an der Oder, ab 1826 das Oberlandesgericht zu Naumburg an der Saale zum Zuge. An die Breslauer Stelle rückte 1835 der Kriminalsenat des Kammergerichts zu Berlin, während dessen Oberappellationssenat die Revisionen übernahm. Neben die alten preußischen Universitäten zu Königsberg und Halle (vereint mit Wittenberg) waren nun die Neugründungen 1810/18 zu Berlin, Breslau (samt Frankfurt an der Oder) und Bonn (samt Duisburg) sowie das 1815 mehr oder weniger „freundlich übernommene“ Greifswald getreten.24 Sie und andere, bald auch Technische und andere Fach-Hochschulen nahmen unbestritten als „Preußens Musenstädte“ in der Entwicklung des Kulturstaats im 19. Jahrhundert eine Vorreiterrolle ein. Allerdings wird hinter jene klassische Auffassung mittlerweile ein Fragezeichen gesetzt, nach der die Humboldt’sche Universitätsplanung von 1810 insbesondere bei Gründung der drei Friedrich-Wilhelms-Universitäten eine derart geistig-offensive Rolle spielte, dass diese 24 Vgl. Becker, Thomas/Schaper, Uwe (Hgg.), Die Gründung der drei Friedrich-Wilhelms-Universitäten. Universitäre Bildungsreform in Preußen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 108), Berlin/Boston 2013.

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in Abkehr von den überkommenen Alma-Mater-Konzeptionen einen völlig neuen und bis ans Ende des 20. Jahrhunderts führenden Weg eingeschlagen hätten. Nach neuerer Auffassung ist das in Preußen entwickelte Universitätsmuster mit seinen zwei Säulen von Lehre und Forschung weniger als kopernikanische Wende, sondern eher als kontinuierliche Modernisierung der deutschen Landesuniversität des 17. und 18. Jahrhunderts zu verstehen. Anhand der GStA-Akten zur Universitäts- und Hochschulpolitik insbesondere der preußischen Kultusverwaltung könnte weiter geklärt werden, „wie das genuin deutsche Universitätsmodell entstand, wie sich dessen über die Zeit um 1800 hinaus prägende funktionale, kommunikative und kulturelle Praktiken, dessen soziale und institutionelle Konfigurationen überhaupt herausgebildet haben. Das wissen wir nämlich noch nicht.“25 Wenn es also gilt, Entwicklungslinien der universitären Institutions- und Wissenschaftsgeschichte vom 18. zum 19. Jahrhundert womöglich noch weiter freizulegen, reicht für den Nachweis einer solchen Kontinuität in den obrigkeitlichen Maßnahmen zur studentischen Disziplinierung im Grunde jener Aktenvermerk, der das Edict wegen Verhütung und Bestrafung geheimer Verbindungen vom 20. Oktober 1798 mit dem neuen Strafgesetz über das Verbot von Studentenverbindungen vom 7. Januar 1838 verknüpfte.26 Die Bindeglieder zwischen beiden Daten bildeten ein knappes Dutzend Gesetze, Verordnungen und Kabinettsordres, die in Anknüpfung an das Allgemeine Landrecht schrittweise auf eine verschärfte Handhabung der akademischen Disziplinierung und die strafrechtliche Korporationsbekämpfung hinausliefen.27 Darüber wölbten sich gleichsam die „Karlsbader“ beziehungsweise „Wiener“ Beschlüsse von 1819 beziehungsweise 1834 sowie deren Umsetzung auf Bundes- und Landesebene, wie zum Beispiel das Universitätsgesetz vom 20. September 1819, mit dem die Unterdrückung speziell des studentischen Verbindungswesens in Preußen auf breiter Front in Gang gesetzt wurde. Allerdings hatte dessen Korporationskultur nach dem „Völkerfrühling“ von 1813 eine verstärkt politische Qualität gewonnen. Anders als in alten Zeiten, als sich Burschenfreiheit und Staatsräson gegenseitig abzugrenzen versuchten, ohne einander in Frage zu stellen, stellten insbesondere die neuen Burschenschaften der staatlichen Realität des auf dem Wiener Kongress 1815 neu geordneten Europa in Deutschland ein visionä25 Rasche, Ulrich (Hg.), Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 128), Wiesbaden 2011, zit. S. 19. 26 Der Aktenvermerk von 1833 in Akte GStA PK, I. HA Rep. 96 A Geheimes Kabinett (ab 1797), Tit. 27 Freimaurer und Geheime Gesellschaften, Nr. 27 B; die Ausfertigung des Edikts von 1798 in Akte GStA PK, I. HA Rep. 84a Justizministerium, Nr. 50160. 27 Die einschlägigen Gesetze, Verordnungen und Kabinettsordres, 1798–1838, sind zusammengestellt im Anhang zum Inventar bei Kloosterhuis, Membra II, S. 182–267. Zu ihrer Einordnung in die preußischen Gesetze vgl. Rönne, Ludwig von, Das Unterrichtswesen des Preußischen Staates (Verfassung und Verwaltung des Preußischen Staates, Teil 8: Die kirchlichen und Unterrichtsverhältnisse, Bd. 2: Das Unterrichtswesen), Berlin 1855, bes. S. 537 ff. („Die Verhältnisse der Studenten“), S. 565 ff. („Die Akademische Disziplin“); sowie Hue de Grais, Graf Robert, Handbuch der Verfassung und Verwaltung in Preußen und dem Deutschen Reiche, 20. Aufl., Berlin 1910, S. 469 ff., 25. Aufl., Berlin 1930, S. 571 ff.

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res Idealbild von Volk und Vaterland entgegen. Vor dem Hintergrund eines Zeitgefühls von sozialem Umbruch, Befreiungskrieg und politischem Neubeginn verschmolzen in ihm auf Volkstumsbasis christliche, liberale und nationale Ideen zu einem romantischen Weltbild von umso höherer Brisanz, als der von den Studenten auf Universitätsboden entworfene Grundriss eines einheitlichen deutschen Nationalstaats die politische Wirklichkeit ihrer staatlichen Umwelt kompromisslos durchkreuzte.28 Einerlei, ob die an die Stelle der überkommenen korporativ-staatsloyalen Gesinnung getretene korporativ-volksloyale Vision im verbalen Bereich verblieb oder gelegentlich real revolutionäre Aktionen provozierte, eignete ihr aus obrigkeitlicher Sicht allemal verfassungsgefährdende Qualität. Wie in allen Staaten des Deutschen Bundes lief das auf Österreichs Betreiben bekanntlich auch in Preußen auf eine „Demagogenverfolgung“ in zwei Wellen 1819/27 und 1833/38 hinaus, die „zwischen Königsberg und Kleve“ schon deswegen mit besonderer Wucht verlief, weil dort damals sechs Landesuniversitäten bestanden. Für die Verfolgung wurden in Berlin 1819 und erneut 1833 differenzierte Ministerial- beziehungsweise Untersuchungskommissionen gebildet, denen wiederum auf Verwaltungsebene die örtlichen Polizeibehörden und auf justizieller Seite Untersuchungsgerichte sowie besonders angesetzte Ermittlungskommissare zuarbeiteten. Sie kooperierten insoweit mit den Zentral-Untersuchungskommissionen, die als Organe des Deutschen Bundes 1819/28 in Mainz beziehungsweise abermals 1833/38 in Frankfurt am Main ihre „verfassungsschützende“ Tätigkeit aufgenommen hatten. So bekannt diese Ereignisse im Gefolge des Wartburgfestes 1817 und von Carl Ludwig Sands (1795–1820) Attentat auf Staatsrat August von Kotzebue (geb. 1761) 1819, von Hambacher Fest 1832 und Frankfurter Wachensturm 1833 sind, so wenig scheinen ihre Details im soziopolitischen Kräftefeld von Universitäten und Behörden, Studenten und Korporationen bislang erforscht. Denn die „Demagogenverfolgung“ lief in Preußen auch auf einen Kampf zwischen Ministern und Bürokraten in der prinzipiellen Frage hinaus, ob die zentralen Regierungsbehörden als bloße Sachwalter eines angsttraumatisierten Monarchen oder als verantwortungsbewusste Gestalter eigener politischer Überzeugungen wirken wollten und konnten. Kultusminister Karl vom Stein zum Altenstein (1770–1840) und seine Parteigänger erwiesen sich dabei als liberale Befürworter einer Wiederbelebung der universitären Disziplin nicht durch harte Strafgesetze, sondern mittels größerer Verantwortlichkeit der Lehrenden und angemessener Ausübung der akademischen Gerichts28 Vgl. Kloosterhuis, Jürgen, „Vivat et res publica“. Staats und volksloyale Verhaltensmuster bei waffenstudentischen Korporationstypen, in: Brandt, Harm-Hinrich/Stickler, Matthias (Hgg.), „Der Burschen Herrlichkeit“. Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg, Bd. 8; Historia academica, Bd. 36), Würzburg 1998, S. 249–271; mit anderen Akzenten zuletzt Lönnecker, Harald, … der zu Recht bevorzugte unsichtbare Kreis, der sich nur den unsrigen erschließt. Studentische Korporationen zwischen Elitedenken und den Selbstverständlichkeiten der Zugehörigkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Huth, Eliten, S. 183–203; sowie für das Bonner Beispiel demnächst Becker, Thomas, Die Korporationen an der Universität von der Gründung 1818 bis etwa 1848; Referat auf der 75. deutschen Studentenhistoriker-Tagung in Bonn 2015. [Erscheint 2019].

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barkeit.29 Überzeugt von einer intellektuellen Gefährdung des monarchischen Systems, plädierten deren reaktionäre Widersacher Polizeiminister Wilhelm zu Sayn-Wittgenstein (1770–1851) und Innenminister Friedrich von Schuckmann (1755–1834) dagegen für die Kriminalisierung der studentischen Korporationen, deren Verfolgung und Aufhebung sowie die radikale Bestrafung ihrer Mitglieder, für die sie in nachgeordneten Beamten vom Schlage des Ministerial-(Polizei-)Direktors (ab 1832 Justizministers) Karl von Kamptz (1769–1849) oder dem Ministerialrat Gustav Adolf von Tzschoppe (1794–1842) allzu eifrige Vollstrecker fanden.30 Denn deren Ermittlungen konstatierten, die Universitäten und Gymnasien seien Brutstätten der befürchteten Verschwörung zur Änderung der Verfassung des Deutschen Bundes, zur Einsetzung eines vom Volke legitimierten National-Kaisers oder zur Proklamation demokratisch-republikanischer Staatsformen. Als Gegenmittel sollten Universitätsverweisung oder Inhaftierung, Berufstauglichkeitskontrollen beziehungsweise Berufsverbote wirken. Nervös wurden die Anzeichen überörtlicher Netzwerkbildungen registriert; umso eifriger Reisepässe überprüft und Hochschulwechsel unterbunden. Besonders misstrauisch machten Auslandskontakte, etwa zu den Revolutionären in Frankreich, Belgien, Ungarn, Italien oder Griechenland – und natürlich vor allem zu den polnischen „November“-Aufständischen. Insgesamt dürften nach Anzahl der personenbezogenen polizeilichen Einzelfallakten im GStA-PK-Bestand I. HA Rep. 77 Innenministerium in Preußen zwischen ca. 1819 29 Zur Spezialstudie von Rathgeber, Christina, Demagogenverfolgung im Kultusministerium zwischen 1819 und 1824. Regierungshandeln und personelle Konstellationen, in: Holtz, Bärbel u. a., Preußisches Kultusministerium. Band 3.1: Kulturstaat und Bürgergesellschaft im Spiegel der Tätigkeit des preußischen Kultusministeriums (Acta Borussica N.F., 2. Reihe), Berlin 2012, S. 105–138; jetzt v. a. Hömig, Herbert, Altenstein. Der erste preußische Kultusminister. Eine Biographie, Münster 2015, S. 152 ff., 210 ff. 30 Waren diese „Demagogenverfolger“ zu Studienzeiten selbst korporiert gewesen? Dafür muss Fehlanzeige im Fall Sayn-Wittgensteins (1786–1788 stud. iur. et cam. in Marburg), von Schuckmanns (1775–1778 stud. iur. et cam. in Halle a. S.) und von Kamptz (1788–1790 stud. iur. in Göttingen) gegeben werden – doch war gerade der gnadenlose Burschenjäger von Tzschoppe in seinen Leipziger Semestern 1811/13 seit 1811 Mitglied des Corps Lusatia gewesen. Vgl. Branig, Hans, Fürst Wittgenstein. Ein preußischer Staatsmann der Restaurationszeit (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Bd. 17), Köln/ Wien 1981, S. 2 ff.; für die Studienzeiten von Schuckmanns bzw. von Kamptz’: Lüttwitz, Hans-Ernst von, Biographie des Kgl. Preußischen Staatsministers Freiherrn von Schuckmann, Leipzig 1835, S. 1 f., bzw. Kamptz, C. G. J. von, Die Familie von Kamptz, Schwerin 1871, S. 329–335; für die Überprüfung von Verbindungszugehörigkeiten Gerlach, Otto (Bearb.), Kösener Corpslisten 1930, Frankfurt am Main 1930. Zu von Tzschoppe im 1807 gestifteten Corps Lusatia Leipzig vgl. ebd., Nr. 93/54; dazu Holtz, Bärbel, Gustav Adolph von Tzschoppe – ein Lebensbild, in: Kraus/Kroll, Historiker, S. 117–140, dort S. 127 der treffliche Hinweis auf eine andere Gemeinsamkeit von „Demagogenverfolgern“: „nur geborene Nichtpreußen, nämlich Kamptz und Schuckmann, die beiden humorlosen Starrköpfe aus Mecklenburg, und (mehrere Stufen tiefer) Tzschoppe und Pückler, die beiden eiskalten Streber aus der sächsischen Oberlausitz“. Zur vergleichsweise laschen „Demagogenverfolgung“, der Lusatia im Königreich Sachsen eigentlich nur in den 1820er Jahren ausgesetzt war, vgl. Andree, Richard, Geschichte des Corps Lusatia Leipzig 1807 bis 1898, Leipzig 1898, S. 55 ff.

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Abb. 39  Minister Karl vom Stein zum Altenstein (1770–1840).

und 1839 etwa 1700 adelige oder bürgerliche Intellektuelle „zur Untersuchung gezogen“ worden sein: Studenten und Kandidaten, Auskultatoren und Referendare, Predigeramtsanwärter und Pastore, Lehrer, Dozenten und Professoren, Bürgermeister und Subalternbeamte, Ärzte, Advokaten und Journalisten, Kaufleute und Gutsbesitzer, Verleger und Buchhändler, Militärbeamte und Offiziere. Zu den prominentesten Bonner „Demagogen“ zählten die Professoren Ernst Moritz Arndt (1769–1860) sowie Friedrich Gottlieb ­Welcker sen. (1784–1868) und Carl Theodor Welcker jun. (1790–1869), doch erschien beispielsweise auch der Turnlehrer Joseph Baumeister aus Sinzig als verdächtiger Geselle.31 Von den genannten ca. 1700 Einzelfallakten wurden schon im 19. Jahrhundert ca. 1200 vor Abgabe an das Archiv kassiert, während 500 Akten (30 Prozent) vielleicht deswegen erhalten bleiben sollten, weil zumindest ein Großteil der damit verbundenen Namensträger vor den zuständigen Kriminalsenaten angeklagt worden war. Schätzungsweise dürfte dies in Preußen im Zuge der Ermittlungen der 1820er Jahre weit unter 100 Personen, dagegen zwischen 1835 und 1838 ca. 400 betroffen haben. 31 Vgl. entsprechende Vorgänge 1819–1821 in Akten GStA PK, I. HA Rep. 77 Innenministerium, Tit. 25 O Ermittlungen des Hofrats Pape, Lit. B, Nr. 1–4, Nr. 5 (2 Bände), Nr. 5 adh. (3 Bände) und Nr. 6 (11 Bände); speziell zu Arndt und den Welckers neben der umfangreichen Ministerialakten-Überlieferung v. a. auch GStA PK, VI. HA, Nachlass Wilhelm Ludwig Georg Fürst zu Sayn-Wittgenstein, Abt. V und VII; desgl. VI. HA, Nachlass Karl Siegmund Frhr. von Altenstein, Abt. A; speziell zu Baumeister auch I. HA Rep. 77 Innenministerium, Tit. 21 Geheime Verbindungen Spezialia, Buchst. S, Nr. 4, vol. I–III, Nr. 5 adh. I und II (5 Bände; u. a. wegen Verbreitung des aufrührerischen „Frag- und Antwortbüchlein über Allerley, was im deutschen Vatherlande besonders Noth thut“, 1819/20); I. HA. Rep. 84a Justizministerium, Nr. 50165 (Zulassung des ehemaligen Turnlehrers Johann Adrian Joseph Baumeister aus Sinzig zum Notariat, 1824; mit Leumundszeugnissen des Advokaten Dr. Longard, des Notars Reichard, des Bonner Gymnasialdirektors Biedermann und des Senats der Universität Heidelberg).

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Abb. 40  Der Frankfurter Wachensturm 1833, Reproduktion eines Holzschnittes von François Georgin (1801–1863).

Im Zuge dieser zweiten, nach Hambach und dem Frankfurter Wachensturm also wesentlich härter durchgreifenden Verfolgungsaktion wurden im Kammergericht zu Berlin ca. 1500 General- und Spezialakten angelegt. Davon dokumentierten die personenbezogenen Spezialakten 673 ungebundene und 323 Leitverfahren, die man einerseits Organisationen (Burschenschaften und ihren Mitgliedern) an preußischen und nichtpreußischen Universitäten, und andererseits Personen (Mitgliedern von Burschenschaften) zuzuordnen versuchte. Durch Überschneidungen und Mehrfachnennungen bedingt, ergaben sich aus den 996 Verfahren 1004 Korporationszuweisungen, natürlich vor allem zu Burschenschaften an preußischen Universitäten (80 Prozent), in der Spannbreite von drei Königsberger bis zu 374 Hallenser Fällen. Hinter Greifswald (202 Fälle) und Breslau (114 Fälle) rangierte Bonn mit 108 Fällen in puncto Aktenanzahl erst an vierter Stelle. Anders gesagt, litten besonders die (1835) 682 Hallenser und 181 Greifswalder immatrikulierten Studenten sowie deren ehemalige, mittlerweile berufstätige Kommilitonen unter der „Demagogenverfolgung“, während Breslau und Bonn mit 901 beziehungsweise 733 Immatrikulierten nur je 14 Prozent der Verfolgten stellten.32 Berlin rutschte 32 Zur Auszählung der Verfahrensakten im Bestand GStA PK, I. HA Rep. 97 Kammergericht vgl. die Immatrikulierten-Zahlen nach Titze, Hartmut, Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten

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in den 1830er Jahren ebenso wie Königsberg aus noch näher zu klärenden Gründen fast völlig durch das Fahndungsraster.33 Wenn ein zur Ermittlung gezogener ehemaliger Bonner Burschenschafter um 1836 besonders auffiel, nämlich Karl Ernst von Braun, der bereits als Auskultator am Kammergericht tätig war,34 täuschte das nicht darüber hinweg, dass die preußische „Demagogenverfolgung“ an der Rheinischen Friedrich-­WilhelmsUniversität vergleichsweise wenig Opfer fand. Hinter den vielen Verfahren und Zuweisungen standen konkret 904 Personen, gegen die das Kammergericht, seine Ermittlungskommissare und nicht zuletzt das Hausvogtei-­ Inquisitoriat ermittelten, davon ca. 66 Prozent Studenten und Kandidaten, ca. 18 Prozent Referendare und Auskultatoren sowie ca. 16 Prozent bereits in festen Staatsdiensten stehende oder freiberuflich tätige Personen. Von ihnen wurden zwischen 1835 und 1838 insgesamt 431 kriminalrechtlich angeklagt (47 Prozent) beziehungsweise 370 tatsächlich verurteilt (41 Prozent). Mehr als die Hälfte der 904 „Inquisiten“ kam also mit dem Schrecken davon; 173 wurden „nur“ wegen ihrer Teilnahme an verbotenen Verbindungen bestraft (wovon Bonn aber überhaupt nicht betroffen war). Besonders hart fiel das „Haupt-Urteil“ des Kriminalsenats des Kammergerichts vom 4. August 1836 bekanntlich gegen 204 meist Korporierte wegen zusätzlichen Hochverratversuchs aus, von denen gegen vier die Strafe vorbehalten blieb, fünf straffrei ausgingen, drei vorläufig freigesprochen und drei begnadigt wurden. Die Strafe des Rades von oben traf vier Angeklagte, die des Beils 35, doch wurden (was man ihnen gleichzeitig mit der Urteilsverhängung zu eröffnen hatte35) „Rad“ in lebenslange und „Beil“ in 30-jährige 1830–1945 (Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1, 2. Teil), Göttingen 1995, S. 101, 127, 248, 268; zur weiteren Bonner Analyse ten Haaf, Julia, Die Bonner Studenten zwischen Revolution und Reichsgründung. Eine quantitative Untersuchung, in: Becker, Thomas (Hg.), Bonna Perl am grünen Rheine. Studieren in Bonn von 1818 bis zur Gegenwart (Bonner Schriften zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 5), Göttingen 2013, S. 65–82. 33 Für Königsberg gibt jetzt Stickler, Verbindungswesen, S. 416 f., den Hinweis, dass dort der Burschenschafts-Gedanke erst Ende der 1830er Jahre Fuß zu fassen vermochte. 34 Vgl. entspr. Vorgang ca. 1836 in Akte GStA PK, I. HA Rep. 97 Kammergericht, Nr. 50162. 35 Vgl. Kabinettsordre König Friedrich Wilhelms III., an Ministerialkommission; dat. Berlin, 11.12.1836 (in Abschrift; Urteilseröffnung mit der Maßgabe, das den zur Todesstrafe verurteilten Theilnehmern gleichzeitig mit der Publikation des richterlichen Urtheils die Abänderung desselben eröffnet werde); GStA PK, I. HA Rep. 97 Kammergericht, Nr. 2696. Anders lauteten die Erinnerungen des Bonner Burschenschafters Ferdinand Alexander Wurzer (1808–1875), der bereits in Koblenz als Arzt praktizierte, als er im Frühjahr 1834 arretiert wurde. Er zählte zu den „Hochverrats-Verdächtigen“ und saß erst zwölf Monate in der Berliner Hausvogtei, dann 14 Monate im Magdeburger Inquisitoriat hinter Gittern. Dort wurde ihm und seinen Leidensgefährten im Januar 1837 das Haupturteil verkündet – erst allen hintereinander in der vollen scharfen Form, danach in erneuter Reihenfolge in der Begnadigungsversion; vgl. Lauterbach, Irene R. (Hg.), Drei Generationen Wurzer im 18. und 19. Jahrhundert. Die Autobiographien von Joseph und Ferdinand Alexander Wurzer, Frankfurt am Main 2015, S. 445–447. Das Protokoll über seine Urteilseröffnung, dat. Magdeburg, 18.1.1837, vermerkte, dass er das gegen ihn ergangene, auf Amtsentsetzung, Unfähigkeitserklärung zu allen öffentlichen Aemtern und zur Ausübung der ärztlichen Praxis, sechsjährigen Festungsarrest und vorläufige Freysprechung von der Beschuldigung des Hochverraths lautende Urteil ak-

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Haft umgewandelt.36 Begnadigungen wurden in diesen Fällen nicht gewährt; sie alle – unter denen sich keine Bonner Studenten befanden – mussten ihre Strafe bis zur allgemeinen Amnestie 1840 absitzen.37 Weitere 150 Verurteilte verschwanden mehr oder weniger lange hinter Festungsmauern. Prozentual stellte erneut Halle den Hauptteil dieser Bestraften (ca. 32 Prozent), dann kamen Bonn (ca. 19 Prozent, meist zu „nur“ sechs Haftjahren Verurteilte), Breslau (ca. 12 Prozent), Greifswald (ca. 9 Prozent, überwiegend zu 30 Haftjahren Verurteilte), während unter den außerpreußischen Universitäten Jena (ca. 10 Prozent) und Heidelberg (ca. 6 Prozent) führten. Von den Bonner „Demagogen“-Opfern ist vielleicht Max Duncker (1811–1886)38 hervorzuheben; von ihnen allen am berühmtesten wurde der Jenenser Germane stud. iur. Fritz Reuter (1810–1874) aus Stavenhagen, der seine sieben gesundheitszerrüttenden Haftjahre von 1833 bis 1840 in seinem Roman „Ut mine Festungstid“ 1862 literarisch zu verarbeiten suchte. Reuter bewältigte die selbstgestellte Aufgabe mit Humor, hinter dem die brutale Realität der Akten stand. Von den Pastellporträts, die er in seiner Haftzeit in Graudenz 1837/38 von Leidensgefährten schuf, ist auch das des Bonner Studenten Augustin Messerich (1806– 1876) aus Bitburg erhalten.39 Am Ende blieb ihm und seinen Kommilitonen (nach den

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zeptierte; danach wurde er zusammen mit anderen Bonner Burschenschaftern auf dem Gnadenwege aus der Haft entlassen. GStA PK, I. HA Rep. 97 Kammergericht, Nr. 2696; ebd. unter Nr. 2631 die Akte mit den Wurzer’schen Verhörprotokollen, 1835. Vgl. das „Haupt-Urteil“ vom 4.8.1836; Erstüberlieferungen in Akte GStA PK, I. HA Rep. 97 Kammergericht, Nr. 2696 ff.; Abschriften in I. HA Rep. 77 Innenministerium, Tit. 28 Urteile, Nr. 1, Bände 1–11; dazu eine Zusammenfassung der Freigesprochenen, Begnadigten oder mit „Lebensstrafe“ Belegten; GStA PK, I. HA Rep 94 Kleine Erwerbungen, IV. Brandenburg-Preußen, N. Friedrich Wilhelm III., i. Jahre 1816–1840, Nr. 26. Vgl. eine Auflistung der abgelehnten Gnadengesuche, dat. 4.11.1839 (durch den König 16, aufgrund weiterer Berichte 2 Gnadengesuche abgelehnt; in 13 Fällen noch keine Strafmilderung nachgesucht); GStA PK, I. HA Rep. 77 Innenministerium, Tit. 17 Geheime Verbindungen Generalia, Nr. 84 adh. 6. Zu Erlass und Umsetzung der Amnestie 1840 vgl. entspr. Vorgänge in Akten GStA PK, I. HA Rep. 90 A Staatsministerium, Nr. 1972; I. HA Rep. 77 Innenministerium, Tit. 17 Geheime Verbindungen Generalia, Nr. 89 (vol. I–II); I. HA Rep. 84a Justizministerium, Nr. 50174–50176; I. HA Rep. 97 Kammergericht, Nr. 5214. Sein Urteil lautete: 124) Der Inculpant Dr. Max Wolfgang Duncker [ist] wegen seiner Theilnahme an der Bonner Burschenschaft und an der dortigen Marcomannia seiner Charge als Landwehr-Lieutenant für verlustig und zu allen öffentlichen Aemtern für untüchtig zu erklären, außerdem aber mit sechsjährigem Festungsarrest zu belegen; GStA PK, I. HA Rep. 77 Innenministerium, Tit. 28 Urteile, Nr. 1, Bd 1, fol. 34. Seine Begnadigung erfolgte nach sechs Monaten; danach avancierte er 1859 zum Mitarbeiter im Staatsministerium, 1861 zum Kronprinzen-Berater und 1867 zum Direktor der Preußischen Staatsarchive; vgl. Weiser, Johanna, Geschichte der preußischen Archivverwaltung und ihrer Leiter. Von den Anfängen unter Staatskanzler von Hardenberg bis zur Auflösung im Jahre 1945 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beiheft 7), Köln/Weimar/Wien 2000, S. 46 ff. Sein Urteil lautete: 51) Der Inquisit Candidat der Rechte Augustin Messerich [ist] wegen seiner Theilnahme an der hochverräterischen burschenschaftlichen Verbindung in Heidelberg, Theilnahme an den Burschenschaften in Heidelberg und Bonn, und am Preßverein mit dem Verlust der Nationalcocarde, Unfügigkeit zu allen öffentlichen Aemtern und dreizehnjährigem Festungsarrest theils ordentlich, theils außerordentlich zu bestrafen; GStA PK, I. HA Rep. 77 Innenministerium, Tit. 28 Urteile, Nr. 1, Bd 1, fol. 16v.

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Versen der Annette von Droste-Hülshoff, 1797–1848) nur Resignation – sowie die physischen und vor allem psychischen Überlebenskämpfe nach der Haftentlassung: Und als die Wolke kaum verzog, / Studenten klirrten durch die Straßen, Und: „Vivat Bonna!“ donnert’s hoch / So keck und fröhlich sonder Maßen; Sie scharten sich wie eine Macht, / Die gegen den Koloß sich bäume: „O Hoffnung“ hab ich da gedacht, / „Wie bald zerrinnen Träum’ und Schäume!“ 40

Soweit die Verurteilung und Inhaftierung von „Demagogen“ deren Entlassung aus dem Staatsdienst bedingt hatte, konnten sie nach allfälliger Strafverkürzung oder Entlassung wieder eingestellt werden: Wie zum Beispiel 1837 20 ehemalige Bonner Burschenschafter zur weiteren juristischen Ausbildung – aber vorsichtshalber: in den östlichen Provinzen – begnadigt wurden.41 Friedrich Müller (1811–1893), der 1835 noch als Justizassessor wegen seiner Zugehörigkeit zur Burschenschaft in Bonn und Heidelberg 1829/32 verurteilt worden war, durfte 1837 den Dienst sogar am Landgericht zu Aachen wieder aufnehmen und avancierte in der Folge bis 1848 zum Unterstaatssekretär im Justizministerium.42 In der Tat waren von der „Demagogenverfolgung“ im akademischen Umfeld vor allem die neuen Burschenschaften mit ihrem nationalstaatlichen Idealbild von deutschem Volk und Vaterland unter den Vorzeichen von Einheit und Freiheit so sehr betroffen, dass die staatlichen Unterdrückungsaktionen als spezieller Teil der Burschenschaftsgeschichte erscheinen konnten. Sie richteten sich freilich schrittweise bis 1838 gegen alles, was „geheime“ Verbindung ohne Unterschied der dabei gebrauchten Benennungen (als Orden [!], Landsmannschaften, Burschenschaft u.s.w.) hieß, traditionsbewusst den Schläger schwang und immer wieder gerne Unruhe stiftete.43 Speziell gegen Bonns „verzückte Musensöhne“ stellten ab etwa 1820 die Hofgerichtsräte Karl Falkenberg und Franz Joseph Pape die Untersuchungen an,44 ab 1834 besonders scharf der auch in Halle und andernorts tätige Kammergerichtsreferendar Bitkow, dessen Hilfsgerichtsschreiber Arntz 1835 im Rausche jene Musensöhne beschimpfte und von diesen prompt verprügelt wurde.45 Falkenbergs, Papes und Bitkows Ermittlungen drehten sich vor allem um den „Engeren 40 41 42 43

„Was bleibt“. Droste-Hülshoffs Werke in einem Band, hg. v. I. E. Walter, Salzburg, o. J., S. 367 f. Vgl. entspr. Vorgang 1837 in Akte GStA PK, I. HA Rep 97 Kammergericht, Nr. 50163. Vgl. entspr. Schriftverkehr in seinem Nachlass GStA PK, VI. HA, Nachlass Friedrich Müller. Gesetz über die Bestrafung von Studentenverbindungen, dat. Berlin, 7.1./1.2.1838; Druck in der Preußischen Gesetzessammlung für 1838, Nr. 1863, S. 13–16; vgl. auch Inventar-Anhang bei Kloosterhuis, Membra, Nr. 21. 44 Vgl. die entspr. Vorgänge in Akten GStA PK, I. HA Rep. 77 Innenministerium, Tit. 12 Ermittler-­ Bestallungen, desgl. Tit. 25 O Ermittlungen des Hofrats Pape. 45 Vgl. entspr. Vorgang 1835 in Akten GStA PK, I. HA Rep 77 Innenministerium, Tit. 1422 Polizeisachen Stadt Bonn, Nr. 6; desgl. I. HA Rep. 97 Kammergericht, Nr. 2877; dazu bereits Nolte, Jakob, Demagogen und Denunzianten. Denunziation und Verrat als Methode polizeilicher Informationserhebung bei den politischen Verfolgungen im preußischen Vormärz (Schriften zur Rechtsgeschichte, H. 132), Berlin 2007, S. 133. Zu Bitkows Tätigkeit in Halle vgl. Kloosterhuis, Musensöhne, S. 307 ff.

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Abb. 41  „Studentenbude“ eines Burschenschafters, durch das Fenster erblickt man in der Ferne den Drachenfels, aus der Serie „Bonner Studentenleben“, Lithografie von Peter Deckers (1823–1876), teilkoloriert, Bildmaß: 14,3 × 18,4 cm, 1846.

Verein“ der Allgemeinen Burschenschaft in Bonn (33 Verfahren) sowie die um 1832 von der „Poppelsdorfer Partei“ abgespaltene Burschenschaft Marcomannia (13 Verfahren),46 wobei eine bis 1829 beziehungsweise eine von 1829 bis 1831 gültige burschenschaftliche Konstitution und ein Protokollbuch ad actas kamen.47 Ebenso hatten die Ermittler die (landsmannschaftlichen) Corps im Visier.48 Ein besonders umfangreiches Leitverfahren richtete sich gegen den berüchtigten, einst von Heidelberg kurz nach Bonn gewechselten stud. cam. Karl Heinrich Brüggemann (1810–1887) aus Hopsten und Mitbeschuldigte 46 Für Ermittlungen bzw. Strafverfahren gegen Bonner Verbindungsstudenten, insbesondere Burschenschafter, vgl. entspr. Vorgänge 1822–1846 in Akten GStA PK, I. HA Rep. 77 Innenministerium, Tit 13 Universitäten, Nr. 2 ad 2A; desgl. Tit. 17 Geheime Verbindungen Generalia, Nr. 7, vol. I–VIII; sowie I. HA Rep. 84a Justizministerium, Nr. 50160 (Berufsverbote für neun gen. Bonner Burschenschafter, 1832–1833); desgl. Nr. 50161 (Untersuchungen 1832); desgl. Nr. 50163 (Niederschlagung der zwischen 1835/36 angestrengten Untersuchungen gegen Mitglieder von Bonner Verbindungen bzw. Burschenschaften, 1839). 47 Die verbindungsinternen Unterlagen jetzt in Akte GStA PK, I. HA Rep. 97 Kammergericht, Nr. 2758. 48 Vgl. entspr. Vorgänge 1834–1842 in Akten GStA PK, I. HA Rep. 77 Innenministerium, Tit. 19 Landsmannschaften, Nr. 3, vol. I–II und Nr. 3 adh.

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(62 Verfahren), meist wegen burschenschaftlicher Zugehörigkeiten sowie wegen Teilnahme am Hambacher Fest, am „Fest der freien Presse“ in Weinheim, am Fest „für Freiheit und nationale Einheit“ in Wilhelmsbad und am Fest zur Feier der Julirevolution in Limburg 1832, zusätzlich wegen Brüggemanns publizistischer Tätigkeiten im Umkreis des „Deutschen Press- und Vaterlandsvereins“, vor allem in Franz Schlunds (Pseudonym von Franz Stromeyer, 1805–1848) Volksblatt „Wächter am Rhein“. Auf der anderen Seite verfing sich mit stud. iur. Karl Eduard von Normann 1836 ein eher harmloser Angehöriger der 1832 gegründeten landsmannschaftlichen Verbindung Saxo-Pomerania, des späteren Corps Saxonia, im Netz der „Demagagogenverfolgung“.49 Der Student kam aus Greifswald, wo er erst der Schülerverbindung Concordia, dann einem landsmannschaftlichen Corps angehört hatte – und so einen flagranten Beweis für jene Befürchtungen gab, die den „demagogischen Geist“ nicht nur auf den Universitäten, sondern auch in den Gymnasien witterten.50 Weiterhin wurden bei von Normann Lithografien seiner Corps­brüder beschlagnahmt, die eine Spur in das verbindungs- und sogar die civitas universitatis übergreifende Bonner „Bierreich“ in der Gastwirtschaft Ruhland legten, das bereits 1834 ins Visier des Kommissars Bitkow geraten war. Der Zweck dieses vom ehemaligen Hallenser Theologiestudenten Heinrich Baldenecker (geb. 1814) gegründeten „staatsgefährdenden“ Unternehmens bestand hauptsächlich im heftigen Bierverzehr unter lustigen Begleitumständen, die von wechselnden Kaisern des Namens Gambrinus, sieben Kurfürsten, zwei Zeitungsredakteuren und anderen Würdenträgern nach einem schriftlich niedergelegten Bierkomment geleitet wurden, der das Vor- und Nachtrinken, die Bierskandale und den Bierverschiss regelte und zum Gegenstand komisch-biergerichtlicher Auseinandersetzungen werden konnte.51 Dazu schmetterten die Angehörigen des in drei „Stände“ gegliederten Bierreiches Lieder aus dem Leipziger oder Tübinger Kommersbuch, wie zum Beispiel Uhlands „Es zogen drei Bursche wohl über den Rhein“ oder „Das Jahr ist gut, braun Bier ist geraten“52, aber manchmal eben auch – und hier war für einen Bitkow der Spaß vorbei – das Polenlied „Nehmt die Sensen in die Hand, Brüder, 49 Vgl. entspr. Vorgänge 1837–1840 in Akten GStA PK, I. HA Rep. 97 Kammergericht, Nr. 3670–3671 (Ermittlungen), Nr. 3665–3669 (Tagebuch von Normann, 1834–1836), Nr. 3664 (Untersuchungskosten), sowie Nr. 5582 (Couleurartikel) und Nr. 3674 (Lithografien). Von Letzteren dürfte das Konterfei des stud. Johann Förstige die Hinweise bei Schorn, Karl, Lebenserinnerungen. Ein Beitrag zur Geschichte des Rheinlands im neunzehnten Jahrhundert. Erster Band (1818–1848), Bonn 1898, S. 55 f., auf das verdeckte Zeigen von Verbindungsfarben in Form von bändergeschmückten Strohhüten und auf den Gebrauch von großkalibrigen Birkenholz-Pokalen, den „Birkenheimern“, anschaulich illustrieren. 50 Vgl. für einen entspr. Befund Kloosterhuis, Jürgen, Burschikose Gymnasiasten. Quellen zu Schuldisziplin und Schülerverbindung am Coburger Gymnasium Casimirianum im 19. Jahrhundert, Coburg 2005. 51 Vgl. entsprechend die Protokolle der Vernehmungen der stud. iur. Jösting und Max Vogt, dat. Bonn, 15. bzw. 19.3.1834; GStA PK, I. HA Rep. 97 Kammergericht, Nr. 2871. 52 Der Wirtin Töchterlein („Es zogen drei Bursche wohl über den Rhein“), von Ludwig Uhland, 1808; Bierlied („Das Jahr ist gut, braun Bier ist geraten“), Volksweise, 1824; vgl. Schauenburgs Allgemeines Deutsches Kommersbuch, unter musikalischer Redaktion von Fr. Silcher und Fr. Erk, 34. Aufl., Lahr 1889, S. 348 f., S. 470 f.

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lasst uns streiten [sic]“.53 Dagegen gab keiner zu, auch „Schwarz-Rot-Gold“ besungen zu haben.54 So bekam der Kommissar nicht heraus, ob das Treiben im Gasthaus Ruhland die politische Brutstätte einer neuen Burschenschaft oder nur ein harmloser, in Bonn wie andernorts beliebter Studentenulk war.55 Besonders nach 1834 kulminierten die Untersuchungen gegen die nicht burschenschaftlich-politischen, sondern akademisch-geselligen und ihren studentischen Ehrenstandpunkt mit Waffen verfechtenden, aber insoweit geheimen beziehungsweise verbotenen Verbindungen. Am Ende standen inkorporierte und freie („wilde“) Studenten zwischen 1819 und 1848 allesamt, wie die Studienzeit-Erinnerungen etwa von Heinrich Hoffmann (1798–1874) oder Karl Schorn (1800–1850) plastisch markierten, jederzeit an den Schnittpunkten von herkömmlichen Exzessen und politischen Demonstrationen, von überkommenen Tumulten und aktuellen Protesten – oder doch nur im Aktionsradius jener eher banalen Bürgerschreck-Delikte, die da Mensur, öffentliches Tabakrauchen, Sperrstundenüberschreitung oder nächtliche Ruhestörung samt Laternenzerstörung lauteten.56 Wenn Bonner Studenten am 18. Oktober 1819 auf dem Kreuzberg eine Erinnerungsfeier an die Leipziger Völkerschlacht 1813 (und das Wartburgfest 1817?) feiern wollten, machten sie sich natürlich „demagogischer“ Umtriebe verdächtig.57 Wenn sie, wie in Breslau, an „Karnevals-Lustbarkeiten“ und (zuvor genehmigten) öffentlichen Maskenaufzügen teilnehmen wollten, war ihnen das nicht minder natürlich im Zuge der Gleich53 Nach freundlicher und eingehender Auskunft des Zentrums für Populäre Kultur und Musik der AlbertLudwigs-Universität Freiburg i. Brsg. (Dr. Eckhard John, 15. und 27.10.2015) handelte es sich dabei sicher um das ab 1832 belegte „Krakusenlied“; vgl. Auswahl von Polenliedern, Erste Sammlung, Altenburg 1835, S. 7 f. („Nehmt die Sense in die Hände, Brüder, laßt uns singen! [sic] / Polens Unglück hat ein Ende: unsre Waffen klingen. / Weint nicht in der Trennungsstunde; Mädchen, laßt uns eilen! / Weil des Vaterlandes Wunden unser Blut soll heilen. / Unser Feind erbebe! Unsre Freiheit lebe!“). 54 Vgl. entsprechend das Protokoll der Vernehmung des stud. theol. Heinrich Baldenecker, dat. Bonn, 17.3.1834; GStA PK, I. HA Rep. 97 Kammergericht, Nr. 2871. Weiter nach Auskunft von Dr. John (wie Anm. 53) war mit „Schwarz-Rot-Gold“ wahrscheinlich das Lied „Ihr Völkerhasser, was ficht euch an“ gemeint, das unter dem Titel „Die Fahne der Freiheit. Schwarz-Roth-Gold“ kursierte; vgl. z. B. Festlieder. Wilhelmsbad, am 22. Juni 1832, Hanau 1832, Rückseite [Nr. 6]. 55 Eine ähnliche (für studentisches Brauchtum sehr ergiebige) Untersuchung fand bereits 1829/30 gegen das Greifswalder „Bierkönigreich Eldorado“ statt; vgl. entspr. Vorgänge in Akten GStA PK, I. HA Rep. 97 Kammergericht, Nr. 2914, 2917–2918. Am bekanntesten waren wohl die Jenenser „Bierstaaten“ in Lichtenoder Ziegenhain; vgl. Esche, Frank/Glaw, Rüdiger, Auf dem Karzer lebt sich’s frei. Studentengeschichten aus dem alten Jena, Rudolstadt 1992, S. 54 ff. 56 Vgl. Hoffmann von Fallersleben, Heinrich, Aus meinem Leben. Band 1, Hannover 1868, S. 159 ff., S. 236 ff. (stud. phil. in Bonn 1819–1821; Mitbegründer der studentischen „Allgemeinheit“; deren Selbstauflösung unter dem Druck der beginnenden „Demagogenverfolgung“); ebenso Schorn, Lebenserinnerungen, S. 103 ff. (stud. iur. in Bonn 1836–1837; Mitglied des Corps Guestphalia; intimer Kenner der Bonner Couleur-, Trink- und Fechtcomments); dazu Müller, Jens-Peter, Ritualisierte Geselligkeit. Bonner Studenten im Vormärz, in: Becker, Bonna Perl, S. 23–39. 57 Vgl. entspr. Vorgänge 1819–1820 in Akte GStA PK, I. HA Rep. 77 Innenministerium, Tit. 17 Geheime Verbindungen Generalia, Nr. 12.

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Abb. 42  „Nachtskandal an der Pyramide“, Verbindungsstudenten auf dem Bonner Marktplatz, 1855, aus: Riemer, Ilse, Altbonner Bilderbuch, Bonn 1963, S. 44.

behandlung mit den Bürgern und in der Hoffnung zu erlauben, dass sie dabei nicht über die Stränge schlugen.58 Ebenso schützten der Universitätskurator, der Oberpräsident und der Kultusminister im fernen Berlin gegen die feuerpolizeilichen Bedenken der Bonner Stadtverwaltung den studentischen Brauch, bei Beerdigungsfeiern für Kommilitonen einen Fackelzug zu veranstalten, wobei sie allerdings die anschließenden Trinkgelage über die Sperrstunde hinaus abgeschafft wissen wollten.59 Es kam zu Schlägereien der verschiedenen Verbindungstypen untereinander (zum Beispiel in der „Schlacht von Endenich“ 1821, die Burschenschafter gegen landmannschaftliche Corpsstudenten austrugen60), ebenso aber auch mit Bürgern und Arbeitern, von denen sich die Musensöhne immer noch zu distinguieren suchten, auch wenn ihr universitär umhegter Freiraum

58 Vgl. entspr. Vorgang 1842 in Akte GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Universitäten, Sekt. 3 Bonn, Tit. XII Disziplinarang., Nr. 10. 59 Vgl. entspr. Vorgang 1844 in Akte GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Universitäten, Sekt. 3 Bonn, Tit. XII Disziplinarang., Nr. 7. 60 Vgl. Schott, Heinz, Gründungsgeneration und Studentenideal, in: Becker, Bonna Perl, S. 11–22, hier S. 15.

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stetig weiter schrumpfte (zum Beispiel in der 1843 ausgetragenen Schlägerei zwischen Mitgliedern der Borussia, Guestphalia und Palatia und Bürgern von Königswinter61). Wie schon im 18. Jahrhundert, hatte dagegen die Akademische Gerichtsbarkeit einzuschreiten, wobei die Kompetenz der meist jovial gestimmten Universitätsrichter immer mehr an die örtlichen Polizeibehörden überging, bis sie 1877 schließlich ganz aufgehoben wurde.62 Auch auf dieser Ebene korrespondierte die „Demagogenverfolgung“ des frühen 19. Jahrhunderts erneut mit dem (Un-)Geist der Strafedikte von 1798. Dadurch eröffneten sich aber auch Spielräume zwischen überkommener akademischer beziehungsweise polizeilicher Disziplinarmaßnahme und neuer kriminalrechtlicher Bestrafung. Es wurde möglich, in der „Rechts-Erkenntnis“ zwischen Schwärmern und Tätern, Randalierern und Revolutionären (bei fließenden Übergängen) womöglich zu differenzieren sowie zwischen gesittet-gefährlichen Burschenschaftern und rauh-harmlosen Corpsstudenten zu unterscheiden. Im Ernstfall lief die Disziplinarbestrafung auf die unterschiedlich abgestufte, gelegentlich massenhaft verhängte Universitätsverweisung hinaus, die allerdings ebenso differenziert den „Rekurs“ an eine Alma Mater meist offenhielt – wenn anders sich Rektor und Senat nicht selbst die Quellen ihrer Vorlesungseinkünfte abgraben wollten. Bei den Universitätsverweisungsformen waren in aufsteigender Reihung die Exklusion, das Consilium Abeundi und die Relegation zu unterscheiden. Den drei Varianten ging als Warnstufe die Unterschrift unter das (insoweit nur angedrohte) Consilium Abeundi voraus, was wiederum meist mit einer Karzerstrafe kombiniert war,63 die wiederum an der Spitze der leichteren akademischen Disziplinarpönalien stand.64 In Halle ist es nach Auskunft der GStA-PK-Akten zwischen 1820 und 1824 nach „normalen“ Tumulten oder im Zug der „Demagogenverfolgung“ zu ca. 450 Universitätsverweisungen gekommen; vor allem 1824, als ca. 13 Prozent der Immatrikulierten ihr Studium in Saalathen unterbrechen beziehungsweise die Universität verlassen mussten. In den folgenden Jahrzehnten dürfte die jährliche Verweisungsquote im Durchschnitt um ca. 1,5 bis 2,5 Prozent der Studierenden gependelt haben. Für Bonn können die Quoten aus der Zentralüberlieferung anhand der Monatsberichte des Außerordentlichen 61 Vgl. entspr. Vorgänge 1843/44 in Akte GStA PK, I. HA Rep 77 Innenministerium, Tit. 1422 Stadt Bonn Polizeisachen, Nr. 6; dazu Schorn, Lebenserinnerungen, S. 75 f. (Fackelzug zur Beerdigung eines bei einem Pistolenduell umgekommenen Studenten, unter Beteiligung der Prinzen Ernst und Albert von Sachsen-Coburg und Gotha). 62 Vgl. Alenfelder, Gerichtsbarkeit, bes. S. 260 ff, S. 285 ff. 63 Zu Einrichtung und Betrieb des Bonner Universitätskarzers vgl. entspr. Vorgänge 1819–1887 in Akte GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Universitäten, Sekt. 3 Bonn, Tit. XII Disziplinarang., Nr. 9 (mit Karzerwärter-Instruktion, 1819; neuer Karzerordnung, 1836; Tages-Nachweisung der von 1856 bis 1858 im Karzer arretierten Bonner Studenten; Auszügen aus den Verordnungen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn 1860, mit neuer Karzerordnung 1859). Bei Lützeler, Heinrich, Die Bonner Universität. Bauten und Bildwerke, Bonn 1968, wird ein Karzer im Universitätsgebäude nicht erwähnt. 64 Dazu gehörten: Erteilung einer Verwarnung, Erteilung eines Verweises durch den Rektor bzw. den Senat, Ausschluss von den Vorlesungen bzw. Nichtanrechnung des Semesters sowie die Karzerinhaftierung.

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Regierungsbevollmächtigten Philipp Joseph von Rehfues (1779–1843) für die Jahre 1824 bis 183065 sowie für die Jahre ab 1843 aus einer Aktenserie Disziplinarangelegenheiten und Schuldensachen berechnet werden.66 Demnach fiel in den 1820er Jahren nur das Wintersemester 1829/30 mit 1,5 Prozent Universitätsverweisungen (von 951 Immatrikulierten) auf; danach wurden in den 1840er Jahren durchschnittlich ca. 20 Prozent der Studierenden mit den leichteren Disziplinarstrafen belegt, aber dabei nur 0,7 Prozent von der Universität verwiesen. Mit den steigenden Bonner Immatrikulationszahlen sanken diese Ziffern bis zur Reichsgründung auf 6,6 beziehungsweise 0,2 Prozent sowie bis zur Jahrhundertwende auf 3,5 beziehungsweise 0,1 Prozent. So hörte man an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität im April 1830 den Privat-Fleiß der Studierenden, wie ihre Regelmäßigkeit im Collegien-Besuch, von allen Seiten loben; wer von anderen Universitäten kommt, findet sogar die hier herrschende Ruhe und Stille bemerklich.67 Das erinnerte an die weiland Duisburger Verhältnisse und mag Bonn in der Folge als Studienort für Prinzen empfohlen haben.68 Politisch motivierte, im Umkreis von 1830 oder 1848 gar revolutionär angehauchte Aktionen waren von den Musensöhnen am Rhein – im Unterschied zu umso spektakuläreren Sonderfällen ihrer Professoren69 – eben nicht zu berichten, sodass sich auch die Meldung von einer Feier der Bonner Studenten zur Erinnerung an die Französische Revolution 1849 wohl als Zeitungsente erwies.70 Erst 1913 wurde „zu guter Letzt“ doch einmal eine mit „Entfernung von der Universität“ geahndete verfassungs65 Der Außerordentliche Regierungsbevollmächtigte für die Universität Bonn berichtete direkt an den Kultusminister; Abschriften davon erhielt der Innenminister. Sporadische Monatsberichte aus den Jahren 1824–1830 finden sich daher in Akte GStA PK, I. HA Rep. 77 Innenministerium, Tit. 14 Universitätsberichte, Nr. 2. 66 Vgl. entspr. Nachweisungen in Akten GStA PK, I. HA Rep. 76, Va Universitäten, Sekt. 3 Bonn, Tit. XII Disziplinarang., Nr. 3, Bände 10–14. Aus der ehemals 15-bändigen Aktenserie blieben also lediglich sechs Bände mit den Laufzeiten 1844–1934 erhalten. 67 Vgl. Bericht Außerordentlicher Regierungsbevollmächtigter für die Universität Bonn, von Rehfues, an Kultusminister von Altenstein; dat. Bonn, 15.4.1830 (Abschrift für Innenminister von Schuckmann); GStA PK, I. HA Rep. 77 Innenministerium, Tit. 14 Universitätsberichte, Nr. 2. Dennoch schienen dem Berichterstatter die Bonner Zustände bedenklich, weil er von den „Massen-Universitäten“ Berlin, Breslau oder Halle angeblich noch weniger „bedeutende Disziplinarfälle“ vernahm – worüber er sich vom Minister Belehrung erbat. 68 Vgl. dazu den Beitrag von Thomas Becker in diesem Band. 69 Namentlich 1848 repräsentiert durch Professor Gottfried Kinkel und seinen Studenten bzw. späteren Fluchthelfer Karl Schurz; zu beiden Vorgänge nur in Akte GStA PK, I. HA Rep. 77 Innenministerium, Tit. 6 Politische Verdächtige, Buchst. K Nr. 245, Buchst. Sch Nr. 115 (jeweils Personalermittlungen, 1849– 1893, 1851–1861); sowie VI. HA, Nachlass Otto Frhr. von Manteuffel, Tit. III, Nr. 68 (Strafvollzug Kinkels in Naugard und Spandau, 1849–1851). 70 Vgl. entspr. Immediatbericht Staatsminister von Ladenberg, vom 4.3.1849 (Auszug aus einem Vorgang betr. die Ritterakademie zu Brandenburg a. Havel); GStA PK, I. HA Rep. 89 Geheimes Zivilkabinett, Nr. 15126. Vgl. dagegen zu Auswirkungen der französischen Revolutionen von 1830 und 1848 in der Rheinprovinz entspr. Vorgänge in Akte GStA PK, I. HA Rep. 77 Innenministerium, Tit. 17 Geheime Verbindungen Generalia, Nr. 54, Nr. 55 (2 Bände), Nr. 80; dazu I. A Rep. 84a Justizministerium, Nr. 50171 und Nr. 50201.

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feindliche Straftat eines Delinquenten aktenkundig: Saccharinschmuggel zum Zwecke der Förderung anarchischer Bestrebungen, verübt während seiner Münchener Studienzeit.71 Alles in allem wird man das Wissen von der preußischen „Demagogenverfolgung“ also auf Quellenbasis und jenseits der hier lediglich nach Aktentitel-Auszählung immer nur salvo meliore errechneten Zahlen sicher weiter vertiefen können. Vielleicht erhärtet es sich, dass in ihrer ersten Phase in den 1820er Jahren weniger kriminalrechtlich und eher disziplinarisch mit Universitätsverweisung gearbeitet wurde, während sich in der zweiten Phase in den 1830er Jahren die umgekehrte harte Verfahrensweise durchsetzte – bis die von König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) bei seinem Regierungsantritt 1840 angeordnete Amnestie dem „rechtstaatlichen“ Spuk insgesamt ein Ende machte. In Bonn befand man sich bei alledem prozentual gesehen nicht im Zentrum, sondern lediglich an der Peripherie des Hurrikans – ganz so, wie das unter den anderen Umständen des 18. Jahrhunderts bereits für Duisburg zu beobachten gewesen war. Bekanntlich versöhnten sich in der Folge der studentische Nationalstaat-Enthusiasmus und die preußisch-deutsche Reichseinigungs-Politik, da sich – wie die neuere Forschung betont72 – die Krone über den Parlamentarismus (mit Hindernissen) dem Nationalismus näherte. Der damit verbundene gesellschaftliche Modernisierungsprozess im Rahmen des monarchischen Systems lief auch auf eine akademische Elitenanpassung hinaus, die den nun volks- und staatsloyal gepolten Korporationen zwischen 1848 und 1914 eine Blütezeit unter den Vorzeichen einer studentenkulturellen Pluralisierung bescherte.73 Gleichzeitig signalisierte das Verebben von Exzessen und Tumulten ab 1850, dass die Gesamtheit der Musensöhne im sozialen Wandel ihrer Musenstädte nicht mehr tonangebend war. Gleichwohl gelang im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Marsch der Corps- und Bundesbrüder durch die Institutionen, zum Beispiel bis auf die Spitzenposten des Berliner Kultusministeriums, wo zu Zeiten Kaiser Wilhelms II. (1859–1941; Corps Borussia zu Bonn) insbesondere Ministerialdirektor Friedrich Althoff (1839–1908; Corps Saxonia Bonn) zwischen 1892 und 1908 vielfältig wirksam war.74 Dies kaschierte, dass 71 Nachweisung der vom akademischen Senat der Universität Bonn im Jahre 1913 gefällten Strafurteile, dat. Bonn, 3.1.1914; GStA PK, I. HA Rep. 76, Va Universitäten, Nr. 10489 [ursprünglich Sekt. 3 Bonn, Tit. XII Disziplinarang., Nr. 3, Bd. 15]. 72 Vgl. Kroll, Frank-Lothar, Zwischen europäischem Bewußtsein und nationaler Identität. Legitimationsstrategien monarchischer Eliten im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Kraus, Hans-Christof/Nicklas, Thomas (Hgg.), Geschichte der Politik. Alte und Neue Wege (Historische Zeitschrift, Beiheft 44), München 2007, S. 353–374, bes. S. 363 ff. 73 Der Pluralisierungsbegriff trefflich formuliert von Stickler, Verbindungswesen, S. 418. 74 Zu Althoffs Zugehörigkeit zum Corps Saxonia zu Bonn vgl. Althoff, Marie (Bearb.), Aus Friedrich Althoffs Jugendzeit, Jena 1910, bes. S. 17 ff.; sein ansonsten sehr ergiebiger Nachlass im GStA PK, VI. HA, bietet allerdings keine Unterlagen aus seiner Studentenzeit. Zum „Korporierten-Marsch durch die Institutionen“ insbesondere im Archiv- und Bibliotheksbereich vgl. eindrucksvoll Lönnecker, Harald, „Dem deutschen Vaterland und der Deutschen Burschenschaft zu dienen sind Selbstverständlichkeiten, die keiner besonderen Erwähnung bedürfen!“ Archivare, Bibliothekare und eine Standesorganisation, in: Kraus/Kroll, Historiker, S. 427–457.

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zuerst die Waffenstudenten im universitären Expandieren zahlenmäßig in die Minderheit gerieten, während sich ihre Kommilitonen und (in Preußen erst seit 1908) Kommilitoninnen immer neue Geselligkeitsformen mit oder ohne Couleur schufen, in denen zur Traditions- und Freundschaftspflege nun auch kulturelle Zielsetzungen wie zum Beispiel Turnen oder Singen traten. Den rechtlichen Rahmen setzten dafür in Bonn zunächst Reglements zur Verwaltung der akademischen Disziplin und Handhabung der akademischen Gerichtsbarkeit von 1819 beziehungsweise 1824 sowie später die „Verordnungen für die Rheinische Friedrich Wilhelm-Universität zum Gebrauche der Studierenden“ von 1855, die endlich in die allgemeinen „Vorschriften für die Studierenden der Landesuniversitäten“ vom 1. Oktober 1879 einmündeten.75 Die weitere Entwicklung führte im Couleurkosmos bis 1914 ebenso zur Ausbildung des Lebensbundprinzips wie zur Einbindung in Korporationsverbände, zu neuen Varianten der freistudentischen Interessenvertretung und nicht zuletzt in die höheren Sphären der Zeremonialkunde, wenn es galt, Fragen der Abgrenzung und Rangwahrung in der so farben- und formenreichen Verbindungswelt zu klären, in welcher zumindest unter den Waffenstudenten die Corps die erste Geige beanspruchten. So bestanden in Bonn um 1905 sieben Corps im Kösener S.C., drei A.D.C.- und zwei A.D.B.-Burschenschaften, eine Turnerschaft im V.C. und eine im A.T.B., eine farbentragende Sängerschaft im C.C. und eine nicht farbentragende im S.V., vier verbandsfreie Farbenverbindungen, der Verein Deutscher Studenten (VDSt), zwei schwarze Verbindungen, der Wingolf, sechs christliche nichtfarbentragende und zwölf katholische farbentragende Verbindungen, zwei jüdische Verbindungen und zwölf „sonstige“.76 Der Couleurreigen wurde durch den bereits 1899 (!) gegründeten Club der Namenlosen (doch wohl Gasthörerinnen), den späteren Verein Studierender Frauen Hilaritas im Verein der Studentinnenvereine Deutschlands (VStD) komplettiert. Bei alledem blieben „die Schlagenden“ lange Zeit im Zentrum der Aufmerksamkeit der Aufsichtsbehörden, da ihr vom 19. bis ins 20. Jahrhundert differenziert motiviertes Mensurenfechten und erst recht die Duelle mit Säbeln oder gar Pistolen zwar mit dem gesellschaftlich akzeptierten Ehrenkodex verklammert erschienen, aber bis hin zu Reichsgerichtsentscheidungen von 1882 beziehungsweise 1926 auch in Preußen strafbare Handlungen blieben. Wer dabei von den Pedellen abgefasst war, kam aber vergleichsweise glimpflich davon. Auch im wohl prominentesten Bonner Fall, den im November 1869 75 Vgl. entspr. Vorgänge und Amtsdrucksachen 1820–1932 in Akte GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, V a Universitäten, Sekt. 3 Universität Bonn, Tit. XII Disziplinarang., Nr. 10490; dazu Möller, Silke, Zwischen Wissenschaft und „Burschenherrlichkeit“. Studentische Sozialisation im Deutschen Kaiserreich 1871–1914 (Pallas Athene, Bd. 4), Stuttgart 2001; sowie Rosin, Philipp, Disziplin und Exzesse der Bonner Studenten im späten Kaiserreich; Referat auf der 75. deutschen Studentenhistoriker-Tagung in Bonn 2015. 76 Aufzählung nach dem „Verzeichnis der akademischen Vereinigungen an den deutschen Universitäten“, dat. Berlin, 2.4.1905; I. HA Rep. 76 Kultusministerium, V a Universitäten, Sekt. 3 Universität Bonn, Tit. XII Disziplinarang., Nr. 24, vol. II. Das Verzeichnis führt für Bonn zum Berichtsdatum also keine Landsmannschaften auf.

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der Reichskanzlersohn Wilhelm von Bismarck-Schönhausen (1852–1901; Corps Borussia zu Bonn) zusammen mit seinem Gegenpaukanten Wilhelm Nieberding (1850–1907; Corps Palatia zu Bonn) ausgefochten hatte, kam es trotz gefährlicher Folgen aufgrund mangelhafter Wundversorgung auf Bismarcks Seite zu keinen gravierenden Konsequenzen für die Kontrahenten.77 Man war damals eben in den preußischen Gerichten bis hin zum Berliner Justizministerium von der Nichtstrafwürdigkeit der Bestimmungsmensur so überzeugt, dass deren Verfolgung dilatorisch behandelt und erst 1934, allerdings mit verhängnisvollen Vorzeichen, aufgehoben wurde.78 Andererseits zeigten sich die Bonner Universitätsbehörden immer weniger bereit, das gelegentlich ungehörige Benehmen besonders „feudaler“ Corpsstudenten in der Öffentlichkeit ohne Weiteres zu akzeptieren. So wurden Borussia und Palatia mit Blick auf verschiedene Exzesse 1909 beziehungsweise 1910 mit je einsemestriger Zwangssuspendierung bestraft, was ebenso den örtlichen wie überregionalen Blätterwald selbstredend gewaltig aufrauschen ließ.79 Unter den vielfach aufstrebenden Verbindungsarten weckte die a priori überörtliche Organisation des VDSt noch nach 1871 (in Bonn ab 1882) uralte obrigkeitliche Besorgnisse. In den Kulturkampf-Jahren wurden unter den konfessionell gebundenen die schon seit langem selbstbewusst bestehenden katholischen Verbindungen als womögliche „Reichsfeinde“ diskriminiert. Bestimmt gehörte zu den typischen Erscheinungen unter Bonns „entzückten Musensöhnen“ der kräftige Aufstieg des christlichen beziehungsweise katholischen, natürlich nichtschlagenden Verbindungswesens.80 Er begann schon 1830 – etwa zeitgleich mit jüdischen Vereinsbildungen81 – mit der Gründung eines geselligen „Vereins“ durch Studierende der Katholisch-Theologischen Fakultät und nahm 77 Vgl. entspr. Vorgänge 1869/70 in Akten GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Universitäten, Sekt. 1 Generalia, Tit. XII Disziplinarang., Nr. 11, Bd. 1; desgl. ebd., Sekt. 3 Bonn, Tit. XII Disziplinarang., Nr. 3, Bd. 12. Die Paukanten hatten eine Mensur unter verschärften Bedingungen („ohne Mützen“) ausgetragen; Nieberding wurde zur Unterschrift unter das Consilium Abeundi und drei Wochen Karzer verurteilt. 78 Vgl. Hug, Stefan Karl, Straftat ohne Strafe. Zur Rechtsgeschichte der Mensur, in: Einst und Jetzt 50 (2005), S. 31–59; in weiterer Perspektive Ludwig, Ulrike/Krug-Richter, Barbara/Schwerhoff, Gerd (Hgg.), Das Duell. Ehrenkämpfe vom Mittelalter bis zur Moderne (Konflikte und Kultur, Bd. 23), Konstanz 2012. 79 Vgl. entspr. Vorgänge 1909/10 in Akte GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Universitäten, Sekt. 1 Generalia, Tit. XII Disziplinarang., Nr. 3, Bd. 14 (mit Zeitungsausschnittsammlung); dazu Winkel, G. G. (Verf.)/Hahn, Arved von (Bearb.), Corpsgeschichte der Bonner Borussia, Bonn 1938, S. 126 f.; Traphagen, Friedrich, Das Ortskartell mit Apollo, in: Beiträge zur Geschichte des Corps Borussia zu Bonn, hg. v. Vorstand des Vereins der Alten Herren des Corps Borussia e. V., Bonn 2007, S. 322–324; sowie Eyll, Klara van (Red.), 150 Jahre Corps Palatia Bonn 1838–1988, hg. v. Altherrenverband des Corps Palatia 1988, S. 39. 80 Vgl. Rüther, Anne-Sophie, Die katholischen Korporationen in Bonn im Deutschen Kaiserreich; Referat auf der 75. deutschen Studentenhistoriker-Tagung in Bonn 2015. 81 Vgl. entspr. Vorgang über die 1829 gegründete und in der Billardwirtschaft Baum verkehrende (Lese-) Gesellschaft jüngerer Mitglieder der Israelitischen Kultus-Gemeinde zu Bonn, 1832; GStA PK, I. HA Rep. 77, Tit. 17 Geheime Verbindungen Generalia, Nr. 79; dazu Aly, Götz, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933, Frankfurt am Main 2011; sowie Rürup, Miriam,

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ab 1844 und 1863 immer mehr Fahrt auf. Unter jesuitischer Ägide trat 1864 die „Marianisch-Akademische Studenten-Kongregation“ in die Öffentlichkeit, die aber 1872 zwangsaufgelöst wurde.82 Drei Jahre später bestanden in Bonn folgende katholische, von der Obrigkeit misstrauisch beäugte Verbindungen oder Vereine: Akademische Solidarität (die Auffangorganisation der Kongregation, 105 Mitglieder), Arminia (21), Bavaria (20), St.-Bonifazius-Verein (90), St.-Michaels-Verein (12), Unitas (11), Salia (7) und Walhalla (14) – die sich alsbald wie ihre Kommilitonen insbesondere im westfälischen Münster mehr oder weniger in einen „akademischen Kulturkampf “ verfangen sahen.83 Es erübrigt sich, den einschlägigen Vorkommnissen hier weiter nachzugehen, da sich in den Zentralakten im Wesentlichen die Ereignisse spiegeln, die bereits anhand der Bonner Universitätsarchivüberlieferung im Umkreis von „Kaiser-Kommers und Bismarck-Kult“ eingehend untersucht worden sind.84 Weiterhin erregte die um 1880 einsetzende Entfaltung akademisch-wissenschaftlicher Clubs neue Beamtenängste, wenn es sich dabei (wie in Bonn 189585) um sozialwissenschaftliche Vereine handelte. Gleichzeitig kam es zur Bekämpfung sozialdemokratischer Bestrebungen auf den preußischen Universitäten, die vor 1914 ebenso erfolglos blieb, wie nach 1918 die ideelle und finanzielle Unterstützung der republikorientierten Studentenverbände, die von allzu zaghaften Maßnahmen gegen die radikalen kommunistischen oder nationalsozialistischen Hochschulgruppen flankiert wurde. Die damit verbundene neue Politisierung der Musensöhne, die sicher nicht mehr mit den überkommenen Kategorien von Tumult oder „normaler“ Unruhestiftung, sondern allenfalls mit nun wirklicher Demagogie zu analysieren sind, stehen aber jenseits der hier vorgenommenen Befunduntersuchung. Vielmehr ist am Schluss wie am Anfang nochmals zu betonen, dass die in diesem Beitrag referierten Archivalien aus der preußischen Zentralüberlieferung sicher nicht den normalen studentischen Alltag an den preußischen Universitäten und Hochschulen spiegelten. Es handelte sich allzu

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Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886–1937 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. 33), Göttingen 2008. Vgl. entspr. Vorgänge 1864–1872 in Akte GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Universitäten, Sekt. 1 Generalia, Tit. XII Disziplinarang., Nr. 24, Bd. 1. Ebd. Für den Stand 1905 vgl. den folgenden Akten-Band 2, mit Auflistung von konfessionell (christlich oder jüdisch) gebundenen Studentenverbindungen (Materialsammlung für parlamentarische Verhandlungen, mit Geschichtserzählungen, Organisationsbeschreibungen und Mitgliederstatistiken, jeweils in Abfolge evangelischer bzw. gemischt-konfessioneller, katholischer und jüdischer Organisationen), und zwar für Bonn: Evangelisch-Theologischer Verein, Theologischer Studentenverein, Katholische Verbindung/Verein Bavaria, Arminia, Unitas-Salia, Novesia, Ripuaria, Rheno-Borussia, Ascania, Frisia, Vereinigung der katholischen Theologen, Vandalia, Altkatholischer Studentenverein Cheruskia, Verbindung Rheno-Silesia [zur Abwehr antisemitischer Angriffe]. Vgl. Geppert, Dominik, Kaiser-Kommers und Bismarck-Kult. Bonner Studierende im Kaiserreich, 1871 bis 1914, in: Becker, Bonna Perl, S. 83–103. Vgl. entspr. Vorgang zur Gründung und Tätigkeit des Sozialwissenschaftlichen Studentenvereins zu Bonn 1895 (mit Satzungen) in Akte GStA PK, I. HA Rep. 77 Innenministerium, Tit. 46 Universitäten, Nr. 46, vol. I.

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oft „nur“ um die wirklichen oder vermeintlichen Missstände, die ihren Niederschlag in den amtlichen Papieren gefunden haben. Umso mehr gibt es zu denken, wenn zwei dubiose Gepflogenheiten zumindest des kaiserzeitlichen Studentenlebens in den Quellen nur ganz vereinzelt zum Vorschein kamen86: die Pump-Bereitschaft der Gastwirte und Couleurhändler, die oft genug zur Schuldenfalle für junge Korporierte wurde, und die „Sitte“ älterer Semester, sich für den zweiten Teil ihrer Ausbildungsjahre eine Lebensabschnittsgefährtin zuzulegen. Nein, auch in den Akten steht nicht alles!

86 Dagegen beide deutlich genug beschrieben durch stud. iur. Herbert du Mesnil, B! Teutonia zu Jena; vgl. Kloosterhuis, Jürgen (Bearb.), Preußisch Dienen und Genießen. Die Lebenszeiterzählung des Ministerialrats Dr. Herbert du Mesnil (1875–1848) (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Bd. 21), Köln/Weimar/Wien 1998.

Entwicklungen zur Landwirtschaftlichen Hochschule Bonn-Poppelsdorf im agrarstrukturellen Wandel der preußischen Rheinprovinz1 Erich Weiß

1 Einige Gesichtspunkte zur Ausgangslage Die ideengeschichtliche, territoriale, agrarrechtliche und agrarwirtschaftliche Ausgangslage zu Beginn des 19. Jahrhunderts war von wesentlicher Bedeutung für die Haltung der betroffenen Bevölkerung in den neuen preußischen Rheinlanden. Den historischen Entwicklungen wird daher an dieser Stelle eine detaillierte Beschreibung vorangestellt. 1.1 Zur ideengeschichtlichen Ausgangslage Beginnend mit der sogenannten Hausväterliteratur, in der die landwirtschaftlichen Verhältnisse jener Zeit des 16. bis 18. Jahrhunderts möglichst systematisch geordnet, aber weitgehend kritiklos dargestellt wurden, setzte sich im Zeitalter des Merkantilismus, und dabei insbesondere in dessen spezifisch deutscher Form, dem Kameralismus, zunehmend die Erkenntnis durch, dass eine wesentlich verbesserte Agrarverfassung in der deutschen Landwirtschaft von entscheidender Bedeutung für die gesamte Volkswirtschaft sei. Der Wohlstand des Gewerbes war abhängig von der Bevölkerungszahl und diese von der Menge der zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel. Entsprechende Zusammenhänge galten auch auf militärischem Sektor; wer eine große Armee rekrutieren und unterhalten konnte, galt als bedeutende Staatsmacht. Hervorzuheben sind im Zusammenhang der grundlegenden Ideenentwicklung Simon Peter Gasser2, der auf die Notwendigkeit einer Änderung der seinerzeit bestehenden

1 Geringfügig veränderte Fassung eines am 22.9.2015 in Bonn gehaltenen Vortrages. Grundlagen waren folgende Veröffentlichungen des Verfassers: Weiß, Erich, Zur Einrichtung der Flurbereinigungsbehörden im Rheinland vor 100 Jahren, in: Vermessungswesen und Raumordnung 84 (1986), S. 81–90 sowie S. 188– 199; ders., Ländliche Bodenordnung 1821 bis 1990 (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande Beiheft VII/4), Köln 1992, sowie ders., 200 Jahre Entwicklungen zur heutigen Landwirtschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn (Alma Mater – Beiträge zur Geschichte der Universität Bonn, Bd. 107), Bonn 2013. Übernahmen wurden nicht gesondert hervorgehoben. Aufgrund der Vielzahl der genannten Persönlichkeiten werden diese in den Fußnoten in aller Kürze dargestellt. 2 Simon Peter Gasser, geb. 13.5.1676 in Kolberg/gest. 22.11.1745 in Halle/S.; Rechtswissenschaftler und Ökonom.

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Agrarverfassung hinwies, Justus Christoph Dithmar3, der eine Zusammenlegung der zerrissenen Bauerngüter forderte, sowie Johann Heinrich Gottlieb von Justi4. Letzterer zeigte die Missstände in der deutschen Landwirtschaft auf, die eine individuelle Bewirtschaftung der landwirtschaftlichen Betriebe erheblich erschwerten oder fast unmöglich machten. Dabei handelte es sich um das fehlende freie Eigentum der Bauern an Grund und Boden sowie die stark zersplittert und schlecht geformt in den Feldfluren liegenden landwirtschaftlichen Betriebsstandorte. Hinzu kamen der Flurzwang und die gemeinschaftlichen Weideberechtigungen. Von Justi empfahl: Man muß auf das genaueste ausmessen, was ein jeder Einwohner an Äckern und Wiesen besitzt; man muß von den Besitzungen eines jeden drei Klassen, nämlich der guten, der mittelmäßigen und der schlechten Äcker und Wiesen machen; hiernach alle Gegenden der Flur gleichfalls in diese drei Klassen bringen, beieinander und in der Nähe seines Hauses soviel wieder zuteilen, als er vorher besessen hatte. Zugleich können die gemeinen Weiden, die bei dieser neuen Art der Landwirtschaft nicht mehr nötig sind, gleichfalls unter die Einwohner verteilt werden.5 Johann Friedrich von Pfeiffer6 erhob die gleichen Forderungen nach der Aufhebung der Gemeinheiten. Ein Übel waren für ihn die vermengten Grundstückslagen, denen mit der Aufhebung der Gemeinheiten der Hals gebrochen, und sogar ihr Andenken ausgerottet werden7 müsse. Auch die Vertreter der beginnenden Landwirtschaftslehre, später auch Experimentalökonomen genannt, forderten bereits im 18. Jahrhundert die Beseitigung der alten Flur- und Agrarverfassung. Zu nennen sind Johann Christian Schubart8 mit seiner Schrift „Hutung, Trift und Brache, die größten Gebrechen und die Pest der Landwirtschaft“ (erschienen 1782 in Leipzig) und Johann Friedrich Mayer, der in seiner 1784 erschienenen Schrift „Von der Gemeinheitsaufhebung und Verkoppelung in den Oberbraunschweig-Lüneburgischen Ländern“ auf die starke Flurzersplitterung im süddeutschen Raum hinwies. Weiterhin zu nennen sind auch deutsche Vertreter der Physiokratie wie Johann August Schlettwein.9 Nach deren ökonomischer Lehre lag in Grund und Boden die einzige Quelle des Reichtums eines Landes. Auch Vertreter der Naturrechtslehre in Deutschland, 3 Justus Christoph Dithmar, geb. 16.6.1678 in Rotenburg a. d. F./gest. 13.3.1737 in Frankfurt/Oder; Kameralistik-Professor. 4 Johann Heinrich Gottlieb von Justi, geb. 25.12.1720 in Brücken, Lichharz/gest. 21.7.1771 in Küstrin; Kameralist. 5 Justi, Johann H. G. v., Abhandlung von den Hindernissen einer blühenden Landwirtschaft, Kassel 1760, passim. 6 Johann Friedrich von Pfeiffer, geb. 7.10.1718 in Berlin/gest. 5.3.1787 in Mainz; Merkantilist, gilt als Praktiker des Landbaus, Theoretiker der Wirtschaftswissenschaften. 7 Pfeiffer, Johann F. v., Lehrbegriff sämtlicher oeconomischer und Cameralwissenschaften. Des ersten Theils, erster Band, Mannheim 1773, S. 184. 8 Johann Christian Schubart, geb. 24.2.1734 in Zeitz/gest. 23.4.1787 in Würchwitz bei Zeitz; Agrarreformer. 9 Johann August Schlettwein, geb. 8.8.1731 in Großobringen bei Weimar/gest. 24.4.1802 in Dahlen (Mecklenburg); Professor für Politik, Kameral- u. Finanzwissenschaften in Gießen und Greifswald.

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wie Samuel Pufendorf10 und Christian Wolff11, reihten sich ein. Sie sahen die Wahrung der Grundrechte des Menschen als eine gottgewollte Rechtsordnung im Staate an und unterstrichen damit eine der wichtigsten Voraussetzungen für die späteren ländlichen Bodenordnungsreformen der staatlichen Verwaltungen. Die ansteigenden Bevölkerungszahlen und die damit verbundene Verknappung der Nahrungsmittel seit der Mitte des 18. Jahrhunderts lenkten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in begünstigender Weise zunehmend auf die Möglichkeiten zur Verbesserung des allgemeinen Landbaues. Aus dem Gedankengut der Rationalisten entstand gleichzeitig das Bedürfnis, entsprechende Erkenntnisse durch Versuchsanordnungen zu gewinnen, zu veröffentlichen und damit die Entwicklung des Landbaues zu fördern. Als wichtige Schritte auf diesem Wege sind zu nennen: Erstens die Gründung einer Ackerakademie in Glücksburg im Jahre 1762 unter maßgeblicher Beteiligung von Propst Philipp Ernst Lüders.12 Die Mitglieder der Akademie sahen neben der Einführung neuer Feldfrüchte und besseren Düngungsmethoden für den Boden die Aufhebung der Feldgemeinschaften als die größte Wohltat an, die dem Lande widerfahren könne, weil diese der Rationalisierung der Landwirtschaft im Wege stünden und damit der Förderung des Gemeinwohls hinderlich seien. Die Dispositionsfreiheit des Einzelnen erschien noch nicht im Vordergrund der Erwägungen. Zweitens die Gründung der „Hannoverschen Landwirtschaftsgesellschaft“ in Celle im Jahre 1764 mit dem außerordentlich bedeutenden Mitglied Albrecht Thaer13, dem eigentlichen Begründer der „Rationellen Landwirtschaft“. Thaer hielt Fortschritte in der Entwicklung zu einer modernen Landbautechnik ohne Gemeinheitsteilungen und Flächenarrondierungen nicht für möglich. In diesem Zusammenhang stellte er fest, dass ohne diese Maßnahmen nichts anderes als die aushungernde Dreifelderwirtschaft 14 stattfinden könne. Starke Impulse erhielt das deutsche Geistesleben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch durch den von England ausgehenden und durch den Schotten Adam Smith15 nachhaltig geprägten Wirtschaftsliberalismus. In Deutschland fand er seine größten Förderer in Albrecht Thaer, der das preußische Bauernbefreiungsedikt vom 10 Samuel Pufendorf, geb. 8.1.1632 in Dorfchemnitz bei Freiberg (Sachsen)/gest. 26.10.1694 in Berlin; Historiker sowie Natur- und Völkerrechtler, ab 1661 einige Jahre Professor für Natur- und Völkerrecht in Heidelberg. 11 Christian Wolff, geb. 24.1.1679 in Breslau/gest. 9.4.1754 in Halle/S.; Philosoph, Jurist und Mathematiker, ab 1702 Dozent in Leipzig, ab 1706 Professor für Mathematik und Philosophie in Halle, ab 1723 in Marburg, ab 1740 wieder in Halle. 12 Philipp Ernst Lüders, geb. 6.10.1702 in Langballig bei Flensburg/gest. 20.12.1786 in Glücksburg; Theologe, Pädagoge, gilt als Reformer des ländlichen Bildungswesens. 13 Albrecht Daniel Thaer, geb. 14.5.1752 in Celle/gest. 26.10.1828 auf Gut Möglin, Prov. Brandenburg, gilt als Begründer der Agrarwissenschaft. 14 Zit. n. Weiß, Bodenordnung, S. 6. 15 Adam Smith, getauft 16.6.1723 in Kirkcaldy, Schottland/gest. 17.7.1790 in Edinburgh; schottischer Philosoph, gilt als Begründer der klassischen Nationalökonomie sowie der Freien Marktwirtschaft.

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9. Oktober  1807 maßgeblich mitbeeinflusste, sowie im Königsberger Professor für Kameralwissenschaften Christian Jakob Kraus16. Für Adam Smith bildete die menschliche Arbeitskraft die eigentliche Quelle des Nationaleinkommens. Daraus folgerte er die Notwendigkeit, dass jeder Mensch frei über seine Kräfte verfügen können müsse. Damit wurde die Freiheit des Individuums für ihn zur Grundlage des nationalen Wohlstandes. Das Ziel der Smith’schen Lehren war somit, den einzelnen Individuen ohne ordnungspolitische Eingriffe von außen freien Lauf zu lassen. Die staatliche Intervention hatte zwangsläufig auch die Ablehnung des durch feudale und genossenschaftliche Formen gebundenen Grund und Bodens zur Folge. Damit wurden erste bedeutsame Komponenten eines agrarstrukturellen Wandels als Voraussetzungen zur Verbesserung der damals herrschenden Lebensverhältnisse aufgerufen.17 1.2 Zur territorialen Ausgangslage Durch den Wiener Kongress vom 18. September 1814 bis zum 9. Juni 1815 sind unter der Leitung des österreichischen Außenministers Fürst Metternich18 in weiten Teilen Europas die Landesgrenzen neu festgelegt oder gar neue Länder geschaffen worden.19 Dabei kamen die Gebiete links und rechts des Mittel- und Niederrheins an das Königreich Preußen.20 Durch die Verordnung über die verbesserte Einrichtung der Provinzialbehörden vom 30. April 181521 und ergänzt durch die Instruktion zur Geschäftsführung der Regierungen in den Königlich-Preußischen Staaten vom 23. Oktober 181722 entstanden daraus, mit einigen nachträglichen Modifikationen, die beiden Provinzen Jülich-KleveBerg mit dem Oberpräsidium in Köln sowie das Großherzogtum Niederrhein mit dem Oberpräsidium in Koblenz. Durch Kabinettsorder vom 22. Juni 182223 wurden nach dem 16 Christian Jakob Kraus, geb. 27.7.1753 in Osterode, Ostpreußen/gest. 25.8.1807 in Königsberg, Ostpreußen; Philosoph und Kameralwissenschaftler. 17 Vgl. dazu das Gesetz über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ i. d. F. vom 21.7.1988 (BGBl. I, S. 1055), zuletzt geändert durch Gesetz vom 9.12.2010 (BGBl. I, S. 1934). 18 Vgl. den Beitrag von Wolfram Siemann in diesem Band. 19 Vgl. die Beiträge von Dominik Geppert und Stephan Laux in diesem Band. 20 Patent wegen Besitznahme der Herzogtümer Kleve, Berg, Geldern, des Fürstentums Moers und der Grafschaften Essen und Werden vom 5.4.1815 (PrGS., 1815, S. 21 f.); Patent wegen Besitznahme des Großherzogtums Niederrhein vom 5.4.1815 (PrGS., 1815, S. 23–25); Patent wegen Besitznahme der mit der Preußischen Monarchie wieder vereinigten westfälischen Länder mit Einschluss der dazwischen liegenden Enklaven vom 21.6.1815 (PrGS., 1815, S. 195 f.). Die von der Bayerischen Staatsbibliothek digitalisierte Gesetzsammlung für die Königlich-Preußischen Staaten ist abrufbar unter: https://opacplus.bsb-muenchen.de/metaopac/search?View=default&db=100&id=BV002568851 (abgerufen am 21.11.2018). 21 Vgl. PrGS., 1815, S. 85–92. 22 Vgl. PrGS., 1817, S. 248–282. 23 Vgl. Amtsblatt der Regierung Düsseldorf Nr. 56 vom 23.9.1822 (Nr. 247) sowie Hubatsch, Walter (Hg.), Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815–1945, Marburg 1978, S. 10–13.

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Tode des ersten Kölner Oberpräsidenten Graf zu Solms-Laubach24 beide Provinzen zur Rheinprovinz mit dem Oberpräsidium in Koblenz zusammengeführt. Es umfasste die Regierungsbezirke Aachen, Düsseldorf, Koblenz, Köln und Trier. 1.3 Zur agrarrechtlichen Ausgangslage Die allgemeinen gesellschaftspolitischen Entwicklungen jener Zeit im Königreich Preußen waren im Wesentlichen geprägt durch die vielfältigen tiefgreifenden Stein-Hardenberg’schen Reformen. Dazu zählten die Staats- und Verwaltungsreformen, die Agrarund Gewerbereformen sowie die Militär- und Bildungsreformen. Die Darstellungen über die Aufhebung der Leibeigenschaft begannen dabei sehr häufig mit dem nachfolgenden, für die Rheinlande aber unzutreffenden Hinweis auf § 12 des berühmten preußischen Oktoberediktes „den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbewohner betreffend“ vom 9. Oktober 1807: Mit dem Martinitage 1810 hört alle Gutsuntertänigkeit in unseren fürstlichen Staaten auf. Nach dem Martinitage gibt es nur freie Leute, sowie solches auf Domänen in all unseren Provinzen der Fall ist.25 Jedoch umfasste der preußische Staat nach den Siegen der Franzosen bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806,26 bei Friedland am 14. Juli 1807 und nach dem Frieden von Tilsit vom 9. Juli 180727 nur noch die östlich der Elbe gelegenen Gebiete von Brandenburg, Pommern, Schlesien sowie West- und Ostpreußen. Das Edikt erlangte für die Rheinlande keine unmittelbare Bedeutung mehr. Als Preußen diese Gebiete 1814/15 größtenteils übernahm, war hier die Leibeigenschaft bereits durch die französische Agrarreformgesetzgebung aufgehoben worden. Diese wurde von folgenden allgemeinen Grundideen bestimmt: ȤȤ Die Hörigkeit oder Leibeigenschaft mit allen aus ihr resultierenden Beschränkungen der Person und des Grundbesitzes sollte ohne jegliche Entschädigung abgeschafft werden. ȤȤ Alle Abgaben, die entweder einen steuerlichen Charakter hatten oder nicht grundherrlicher Natur waren, sollten ohne Weiteres erlassen werden. ȤȤ Die übrigen grundherrlichen Lasten und Abgaben sollten bestehen bleiben, aber gegen ein nach bestimmten Grundsätzen berechnetes Lösegeld ablösbar sein.

24 Friedrich Ludwig Christian Graf zu Solms-Laubach, geb. 29.8.1769 in Laubach/gest. 24.2.1822 in Köln, u. a. von 1816 bis 1822 Oberpräsident der Provinz Kleve-Jülich-Berg. 25 PrGS., 1807, S. 170–173. 26 Demel, Walter/Puschner, Uwe (Hgg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Band 6: Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß 1789–1815, S. 52–56. 27 Ebd.

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Speziell sind diesbezüglich folgende Regelungen der französischen Agrarreformgesetzgebung zu nennen: Im Jahre 1794 wurden die linksrheinischen Gebiete von den französischen Revolutionsarmeen besetzt und nach den Friedensschlüssen von Basel am 5. April 179528 und von Lunéville am 9. Februar 180129 Frankreich angegliedert. Die französischen Revolutionsbeschlüsse vom 4./5. August 1789 wurden geltendes Recht. Damit waren alle Beschränkungen der persönlichen Freiheit, das Obereigentum, alle steuerartigen Rechte sowie die Jagdrechte auf fremdem Grund und Boden unentgeltlich aufgehoben.30 Dennoch wurden in zahlreichen Fällen weiter Abgaben, sei es freiwillig oder aus Unkenntnis der Rechtslage, entrichtet. Die nachfolgende Gesetzgebung knüpfte deshalb ausdrücklich daran an und bestimmte nochmals, dass alle Grundzinsen und Reallasten unentgeltlich ablösbar seien, die nachweislich vom Régime féodal herrührten. Ausgenommen blieben nur diejenigen Leistungen, die aufgrund von Beleihungs-, Zinsund Erbpachturkunden als Grundzinsen fällig wurden, sowie Zinsleistungen an Kirchen, Schulen und Geistliche. Sie konnten jedoch nach dem Dekret vom 18./20. Dezember 1790 abgelöst werden. Die Befugnis, die Ablösung dieser verbliebenen Leistungen gegen Geld zu beantragen, stand nur dem Verpflichteten zu. Er hatte zunächst die Ablösesumme zu ermitteln (bei Geldleistungen das 20-Fache, bei Naturalabgaben das 25-Fache der Jahresleistung) und sie dem Berechtigten in bar anzubieten. Nahm der Berechtigte dieses Angebot an, so folgte die Ablösung durch Privatvertrag. Verweigerte der Berechtigte die Annahme der Ablösesumme, so wurde sie vom zuständigen Zivilgericht festgesetzt. Daraus erklärt sich, dass die spätere preußische Ablösungsgesetzgebung für die linksrheinischen Gebiete keine Bedeutung mehr erlangen konnte. Gestützt auf einen Bericht des bergischen Innen- und Justizministers Graf Nesselrode31, verfügte Napoleon von Madrid aus das Dekret vom 12. Dezember 1808 „die Ablösung der Leibeigenschaft betreffend“32. Es umfasste 22 Artikel. In Artikel 1 heißt es: Von dem Tage der Verkündung des gegenwärtigen Dekretes an zu rechnen, ist die Leibeigenschaft, welcher Art sie auch sein mag, so wie alle darauf gegründeten Rechte und Verbindlichkeiten in allen das Großherzogtum Berg und Kleve ausmachenden Staaten abgeschafft. Die ehemals Leibeigenen und Kolonen sollen alle bürgerlichen Rechte in ihrer ganzen Ausdehnung genießen, so wie alle anderen Bewohner des gesamten Großherzogtums. Die nachfolgenden Vorschriften regelten die verschiedenen Entschädigungs- und Ablösungsverfahren. Dabei wurde in Artikel 3 bestimmt, dass ohne jegliche Entschädigung abgeschafft 28 Vgl. ebd., S. 27–31. 29 Vgl. ebd., S. 40–43. 30 Mitsdörffer, Karl, Reallastenablösungen in der Rheinprovinz, in: Landeskulturamt Düsseldorf (Hg.), Die staatlichen Landeskulturbehörden für die Rheinprovinz und die Hohenzollernschen Lande, Düsseldorf 1925/26, S. 32–36, S. 33. 31 Johann Franz Joseph von Nesselrode-Reichenstein, geb. 21.9.1755 in Burg Vondern/gest. 24.10.1824 in Herten; u. a. von 1806 bis 1812 Innen- u. Justizminister des Großherzogtums Berg. 32 Großherzoglich-Bergisches Gesetz vom 12.12.1808, in: Gesetz-Bülletin des Großherzogtums Berg, Abteilung I, Nr. 6, S. 182–195 (hier besonders S. 182).

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sind: 1. der Gesinde- und Dienstzwang, 2. das Recht der Freilassung und die Freikäufe, 3. der Sterbefall, der nicht auf einem Kolonat haftet, 4. die Frohndienste, Hand- oder Spanndienste, und alle anderen persönlichen Dienstleistungen. Dieses Dekret brachte für alle damals rechtsrheinisch-bergischen Bauern die Abschaffung der Leibeigenschaft. In den Jahren 1820 und 1825 wurden zur Klarstellung der herrschenden Rechtsverhältnisse noch weitere beachtliche Weisungen erlassen. Am 25. September 1820 folgte das „Gesetz, die gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse in den vormals zum Königreich Westfalen, dem Großherzogtum Berg oder zu den französisch-hanseatischen Departements gehörenden Landesteilen betreffend“, in dem es einleitend heißt: Da die in denjenigen Theilen Unserer Monarchie, welche vormals zum Königreich Westphalen, dem Großherzogtum Berg, oder den französisch-hanseatischen Departements gehört haben, über die gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse unter der fremden Herrschaft erlassenen Gesetze theils zu Beschwerden gegen ihren Inhalt, teils zu Zweifeln über ihren wahren Sinn häufige Veranlassung gegeben haben, und nach Einführung Unserer allgemeinen Gesetzgebung das neue Bedenken entstanden ist, ob auch Unsere Gesetze über diesen besonderen Gegenstand mit eingeführt seien, so verordnen Wir in der Absicht, sowohl alle diese Zweifel zu entfernen, als auch jenen Beschwerden in soweit abzuhelfen, als sie gegründet befunden worden, und es, ohne bereits vollständig erworbene Rechte zu verletzen, möglich gewesen, nach vernommenem Gutachten Unseres Staatsraths, wie folgt: § 1. In Bezug auf diejenigen Theile der oben bezeichneten Provinzen, worin Unsere allgemeine Gesetzgebung bereits eingeführt ist, erklären Wir hierdurch, dass es keinesweges Unsere Absicht war, auch in Ansehung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse die vorgerufenen fremden Gesetze abzuschaffen und Unsere Gesetze einzuführen, dass Wir uns vielmehr eine genauere Prüfung dieses Gegenstandes noch zur Zeit vorbehalten hatten.33 Aufgrund einer „Allerhöchsten Kabinettsorder vom 21. April 1825, in Bezug auf die unter desselben Dato erlassenen Gesetze über die gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse im vormaligen Königreich Westfalen, Großherzogtum Berg und französisch-hanseatischen oder Lippe-Departement“34 erging am gleichen Tage das „Gesetz über die den Grundbesitz betreffenden Rechtsverhältnisse, welche zu dem ehemaligen Großherzogtum Berg eine Zeit lang gehört haben“. Nach dessen erstem Paragrafen wurden folgende Gesetze aufgehoben: (1) das Dekret vom 12. Dezember 1808 wegen Aufhebung der Lehen, (2) das Dekret vom 13. September 1811 wegen der abgeschafften Rechte und Abgaben, (3) das Dekret vom 19. März 1813 wegen Ablösbarkeit der Zehnten sowie (4) das am 19. März 1813 bestätigte, die Mairie-Löhne betreffende, Staatsratsgutachten vom 22. Juli 1811. In den Paragrafen vier und fünf des preußischen Gesetzes wurde jedoch nochmals ausdrücklich festgestellt, dass die Leibeigenschaft sowie bestimmte damit verbundene Dienste und Abgaben aufgehoben blieben. Des Weiteren wurde auf die Möglichkeit der 33 PrGS., 1820, S. 169–184, hier S. 169. 34 Vgl. PrGS., 1825, S. 73.

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preußischen Ablösungsordnung vom 7. Juni 182135 und die preußische Gemeinheitsteilungsordnung vom gleichen Tage36 verwiesen (zuständige staatliche Behörde war die Generalkommission in Münster). Ein Hauptanliegen der rheinischen Bevölkerung bestand nach 1815 im Erhalt der unter französischer Herrschaft erlangten Grundstrukturen persönlicher Freiheitsrechte. Viele Rheinländer betrachteten jede Änderungsbestrebung der neuen preußischen Herrschaft daher mit Skepsis. Hinzu traten folgende bürgerlich-rechtliche Grundlagen für das Gebiet der damals neu konstituierten Preußischen Rheinprovinz:37 ȤȤ Für das linksrheinische Gebiet sowie für rechtsrheinische Gebiete der Regierungsbezirke Düsseldorf und Köln (soweit sie nicht nachfolgend genannt werden) der Code civil, ȤȤ für das rechtsrheinische Gebiet der damaligen Kreise Rees, Essen und Duisburg das Preußische Landrecht, ȤȤ für den Bezirk des ehemaligen Justizsenats Ehrenbreitstein (also die damaligen Kreise Wetzlar, Neuwied, Altenkirchen mit Ausschluss der Grafschaft Wildenburg sowie das rechtsrheinische Gebiet des damaligen Kreises Koblenz) das Gemeine Recht. 1.4 Zur agrarwirtschaftlichen Ausgangslage In den gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen jener Zeit begann in Deutschland die Wandlung von einer Agrargesellschaft mit etwa 80 Prozent aller Erwerbspersonen hin zu einer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft mit anfangs je etwa 10 Prozent aller Erwerbspersonen in Gewerbe, Industrie und Dienstleistungsbereich. Eine zeitnahe umfängliche Bestandsaufnahme der agrarwirtschaftlichen Verhältnisse jener Zeit wurde für die neuen Rheinprovinzen in den Jahren 1816 bis 1818 erstellt. Dies erfolgte im Auftrage des Preußischen Innenministers – er war auch für die Landund Forstwirtschaft zuständig – Kaspar Friedrich von Schuckmann38 durch den preußischen Regierungsrat (beim westfälischen Oberpräsidenten in Münster Ludwig von Vincke39) Johann Nepomuk von Schwerz40 mittels eigener Bereisungen und schriftlicher 35 Vgl. PrGS., 1821, S. 77–83. Man beachte auch die Ablösungsordnungen vom 13.7.1829 (PrGS., 1829, S. 65) sowie vom 4.7.1840 (PrGS., 1840, S. 195). 36 Vgl. PrGS., 1821, S. 53–77. 37 Vgl. Weiß, Bodenordnung, S. 3 f. 38 Kaspar Friedrich von Schuckmann, geb. 25.12.1755 in Mölln/gest. 17.9.1834 in Berlin; u. a. preußischer Minister und Mitglied des Preußischen Staatsrates. 39 Friedrich Ludwig Wilhelm Freiherr von Vincke, geb. 23.12.1774 in Minden/gest. 2.12.1844 in Münster; preußischer Reformer im Zusammenwirken mit Freiherr vom Stein; erster Oberpräsident der Provinz Westfalen. 40 Johann Nepomuk Hubert von Schwerz, geb. 11.6.1759 in Koblenz/gest. 11.12.1844 in Koblenz; Agrarwissenschaftler der empirisch-rationellen Schule; Gründer der Landwirtschaftlichen Lehranstalt in Stuttgart-Hohenheim.

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Befragungen. Das Ergebnis wurde in Auszügen in den „Möglinischen Annalen der Landwirtschaft“ durch Albrecht Thaer veröffentlicht. Dieser hatte auch den Agrarexperten von Schwerz für diese Aufgabe vorgeschlagen. Dieser Bericht über die Landwirtschaft in Rheinpreußen ist gegliedert nach alten territorial-herrschaftlichen Strukturen im nördlichen sowie nach Landschaftsräumen im südlichen Gebietsteil.41 Er muss ergänzt werden durch sein westfälisches Pendant (unter anderem für den Westerwald) sowie durch Einzelveröffentlichungen (unter anderem für die Gebietsteile südlich der Mosel) in den „Möglinischen Annalen“ von 1831. Insgesamt enthält der Bericht detailgenaue Beschreibungen der wesentlichen agrarwirtschaftlichen Verhältnisse mit ihren unterschiedlichen Betriebsformen, jeweils resultierend aus den verschiedenartigen Fruchtwechselsystemen, die im Verbund mit mehrfeldrigen Umläufen praktiziert wurden. Zu möglichen Entwicklungszielen optimaler Bewirtschaftungssysteme oder Betriebsgrößen äußerte sich der Berichterstatter jedoch kaum; wenn doch, dann mit äußerster Zurückhaltung beziehungsweise Vorsicht. Deutlich wird dabei sein naturräumlicher Bezug (obwohl es diese Begriffssystematik seinerzeit noch nicht gab) zu den stark differenzierenden Faktoren der Bodenqualität und des Klimas. Gleichwohl getragen wird seine agrarwirtschaftliche Entwicklungsstrategie von einer nachhaltigen Sicherung der Bodenfruchtbarkeit und damit der Verbesserung der Ernährungslage angesichts des anstehenden gesamtwirtschaftlichen Wandels. Von besonderer Bedeutung für die agrarwirtschaftliche Situation in Rheinpreußen waren weiterhin die unterschiedlichen Siedlungsformen (im Wesentlichen im Niederrheinischen Tiefland die Einzelhoflagen, im Bergischen Land die Weilerstrukturen und im übrigen Rheinland die Dörfer unterschiedlicher Gestaltung) sowie die verschiedenartigen Besitzstrukturen (resultierend aus dem Anerbenrecht im Niederrheinischen Tiefland sowie aus dem Realteilungsrecht südlich davon in der Niederrheinischen Bucht, in den östlich angrenzenden Ausläufern des Süderberglandes, in der Eifel, im Westerwald sowie im Mittelrhein-, Mosel- und Lahntal). Diesbezügliche Beschreibungen sind ebenfalls im Bericht von Schwerz vorhanden. Auch seine äußerst zurückhaltende Kritik an den Formen der rheinischen Allmendwirtschaft, die gleichwohl zum Angebot der preußischen Gemeinheitsteilungsordnung vom 7. Juni 1821 führte, fand in Rheinpreußen keine Akzeptanz. Man teilte lieber nach dem Code civil, wenn auch viel umständlicher und kostenintensiver.

41 Schwerz, Johann Nepomuk, Beschreibung der Landwirtschaft in Westfalen und Rheinpreußen. Mit einem Anhang über den Weinbau in Preußen, bearbeitet von Karl Göriz, 2 Bände, Stuttgart/Tübingen 1836. Faksimiledruck dieser Ausgabe in zwei Bänden. Bd. 1: Beschreibung der Landwirtschaft in Westfalen, Münster-Hiltrup o. J. (um 1980); Bd. 2: Beschreibung der Landwirtschaft in Rheinpreußen, Bonn o. J. (um 1980) sowie Krings, Wilfried, J. N. Schwerz und die Agrarenquete von 1816/18 in den Preußischen Rheinprovinzen, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 42 (1978), S. 258–297.

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Schlussendlich mögen noch einige statistische Details über die damaligen Besitzbeziehungsweise Eigentumsverhältnisse weiteren Aufschluss über Reformbedürftigkeit der Agrarstruktur in Rheinpreußen geben: Im Jahre 1854 zeigen die fünf Regierungsbezirke folgende durchschnittliche Besitzbeziehungsweise Grundstücksverhältnisse42: Aachen: 1.458.449 Mrg. mit 1.384.729 Parzellen, im Durchschnitt also 1,05 Mrg. Düsseldorf: 1.955.316 Mrg. mit 1.033.449 Parzellen, im Durchschnitt also 1,89 Mrg. Koblenz: 2.126.185 Mrg. mit 4.322.358 Parzellen, im Durchschnitt also 0,49 Mrg. Köln: 1.431.499 Mrg. mit 1.979.749 Parzellen, im Durchschnitt also 0,72 Mrg. Trier: 2.477.598 Mrg. mit 3.873.222 Parzellen, im Durchschnitt also 0,64 Mrg. Daraus folgt als durchschnittliche Parzellengröße für die Rheinprovinz etwa ein Dreiviertelmorgen. Die Wald- und Allmendflächen sind dabei noch miterfasst worden. Folgende Stichproben aus dem Realteilungsgebiet der Rheinprovinz mögen diese Gesamtübersicht ergänzen (1./2. für das Jahr 1854,43 3. für das Jahr 186044): 1. In der Gemarkung Münstereifel mit 44.628 Mrg. in 102.556 Parzellen ergibt sich eine durchschnittliche Parzellengröße von etwa zwei fünftel Morgen (0,44 Mrg. = 1100 m2). 2. In der Gemarkung Nümbrecht mit 39.423 Mrg. in 115.307 Parzellen ergibt sich eine durchschnittliche Parzellengröße von etwa ein drittel Morgen (0,34 Mrg. = 850 m2). 3. Die fünf meistbegüterten Grundbesitzer in Kenfus, Kreis Cochem, besaßen Ackerland: A. 82 Mrg. in 713 Parzellen; B. 56 Mrg. in 498 Parzellen; C. 42 Mrg. in 409 Parzellen; D. 42 Mrg. in 388 Parzellen; sowie E. 44 Mrg. in 372 Parzellen. Also durchschnittlich einen Morgen Land in acht bis zehn Stücken. Es waren dort auch Wiesenflächen im Umfang von 24 Morgen in 1032 Parzellen vorhanden. Die einzelne Wiesenparzelle war demnach durchschnittlich etwa 60 Quadratmeter groß. Die durchschnittlichen Ackerparzellen in folgenden Gemarkungen umfassten in Altenahr (Kreis Ahrweiler) 3,6 Ar (= 360 m2), in Hohensolms (Kreis Wetzlar) 4,3 Ar, in Daaden (Kreis Altenkirchen) 7,1 Ar, in Neuwied 7,2 Ar. Die durchschnittlichen Wiesenparzellen umfassten in Lutzerath (Kreis Cochem) 2,0 Ar, in Sinzig (Kreis Ahrweiler) 2,3 Ar, in Puderbach (Kreis Neuwied) 2,3 Ar, in Altenahr 2,7 Ar sowie in Kastellaun (Kreis Simmern) 3,6 Ar. Daraus resultierten unzählige Flurzwänge sowie vielfältige Wege- beziehungsweise Überfahrtsrechte mit ihren vielgestaltigen Bewirtschaftungshindernissen und Rechtsstreitigkeiten. 42 Vgl. Wilhelmy, Theodor, Über die Zusammenlegung der Grundstücke in der Preußischen Rheinprovinz, Berlin 1856. 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. Göbel, Ernst, Der ländliche Grundbesitz und die Bodenzersplitterung in der Preußischen Rheinprovinz und ihre Reformen durch die Agrargesetzgebung, Diss., Kiel 1915.

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2 Die Gründung der Königlich Preußischen Rhein-Universität Bonn im Jahre 1818 und das Landwirtschaftliche Institut der Philosophischen Fakultät Am 5. April 1815 beschloss der preußische König Friedrich Wilhelm III.45 die Gründung einer Universität in Bonn.46 Diese wurde durch eine Kabinettsorder vom 26. Mai 1818 bestätigt.47 Am 18. Oktober 1818 wurde die Königlich Preußische Rhein-Universität Bonn mit den Räumen des ehemaligen kurfürstlichen Schlosses als Hauptgebäude eröffnet. Auch das Schloss Clemensruh in Poppelsdorf bei Bonn mit etwa 40 Morgen umliegendem Ackerland sowie einige landwirtschaftliche Betriebsgebäude gehörten zur Erstausstattung der Universität. Bereits im September 1818 wurde der Naturwissenschaftler und Arzt Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck48, seit dem 18. August 1818 neuer Präsident der Kaiserlich Leopoldinisch-Carolinischen Akademie der Naturforscher, auf den Lehrstuhl für Allgemeine Naturgeschichte und Botanik der Philosophischen Fakultät der neuen Universität Bonn berufen. Am 19. Februar 1819 überreichte Nees von Esenbeck dem damaligen Oberpräsidenten Solms-Laubach eine Denkschrift „Über die praktische Darstellung der Natur-Wissenschaft mit besonderer Hinsicht auf die Königlich Preußische Rhein-Universität“.49 Danach sollten insbesondere naturwissenschaftliche Institute gegründet werden; unter anderem ein technisches Institut und ein ökonomisches Institut. Das ökonomische Institut sollte als Schwerpunkte Bergbau und Hüttenwesen, Forsten und Landwirtschaft sowie Jagd und Viehzucht umfassen. Das vorgeschlagene technische Institut wurde nicht geschaffen, wohl aber das ökonomische Institut mittels besonderer Förderung durch den Oberpräsidenten und bei besonderer fachlicher und persönlicher Wertschätzung durch Kultusminister Karl vom Stein zum Altenstein50. Dieser ordnete durch Erlass vom 2. Juli 1819 die Errichtung eines Landwirtschaftlichen Institutes in der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn an.51 Danach durfte der erste Institutsleiter, wohl weitestgehend auf eigene Kosten, ein Landwirtschaftliches Institut einrichten. Der Versuch Altensteins, zulasten der Universität ein solches Institut zu gründen, war gescheitert. 45 Friedrich Wilhelm III., geb. 3.8.1770 in Potsdam/gest. 7.6.1840 in Berlin; König von Preußen vom 16.11.1797 bis zu seinem Tode. 46 Proklamation: „An die Einwohner der mit der Preußischen Monarchie vereinigten Rheinländer“ vom 5.4.1815 (PrGS., 1815, S. 25–27). 47 GStA PK: Rep. 74 LV Niederrhein, Bd. I fol. 203 f., Abschrift in Rep. 76 Kultusministerium Va, Sekt. 3, Tit. I, Nr. 14, Bd. I, fol. 13 f. 48 Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck, geb. 14.2.1776 auf Schloss Reichenberg (Odenwald)/gest. 16.3.1858 in Breslau; u. a. von 1818 bis 1829 Professor in Bonn. Vgl. auch Wenig, Otto (Hg.), Verzeichnis der Professoren und Dozenten der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1818–1968, Bonn 1968, S. 208. 49 GStA PK, Rep. 76 Kultusministerium Va, Sekt. 3, Tit. X, Nr. 18, Bd. 1, fol. 46–74. 50 Karl Sigmund Franz Freiherr vom Stein zum Altenstein, geb. 1.10.1770 in Schalkhausen/gest.14.5.1840 in Berlin; preußischer Politiker. 51 Vgl. GStA PK, Rep. 76 Kultusministerium Va, Sekt. 3, Tit. IV., Nr. 1, Bd. VI, fol. 161.

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Abb. 43  Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck (1776–1858), Lithografie von C. Beyer, mit eigenhändiger Unterschrift und Refrainzeile aus Theodor Hofferichters Gedicht „Des Menschen Majestät“, ca. 1830.

Auf Empfehlung Nees von Esenbecks berief Altenstein noch im gleichen Jahr den Professor für Landwirtschaft und Kameralwissenschaft Karl Christian Gottlieb Sturm52 von der Universität Jena als ersten Leiter des neuen Landwirtschaftlichen Instituts. Bereits am 18. November 1819 legte Sturm dem Kurator der Universität Bonn Philipp Joseph von Rehfues53 den Entwurf eines Organisationsplanes des zu errichtenden Landwirtschaftlichen Instituts vor. Hinsichtlich theoretischer und praktischer Lehr- und Forschungsaktivitäten sah dieser, entsprechend den neuzeitlichen Ideen von Albrecht Thaer, auch die Einrichtung eines etwa 100 Morgen großen Musterbetriebes aus Ländereien der ehemaligen Schweizerei in Poppelsdorf (etwa 40 Mrg. gepachtet von der Universität Bonn) sowie des Fronhofes in Endenich (etwa 60 Mrg. im Oktober 1822 für die Universität Bonn käuflich erworben und sodann ebenfalls an die Gutswirtschaft verpachtet) mit einem aus Staatsgeldern neu erbauten Wirtschaftshof, dem Gut Poppelsdorf, vor. Sowohl der Universitätskurator Rehfues als auch Staatsminister Altenstein billigten den Entwurf.54 Im Jahre 1823 konnte Sturm die neue Gutswirtschaft zu damaligen markt52 Karl Christian Gottlieb Sturm, geb. 30.4.1780 in Hohenleuben (Vogtland)/gest. 18.5.1826 in Bonn; ab 1807 Professor in Jena, ab 1819 in Bonn. Vgl. auch Wenig, Verzeichnis, S. 307. 53 Philipp Joseph Rehfues, geb. 2.10.1779 in Tübingen/gest. 21.10.1843 in Königswinter; u. a. von 1819 bis 1842 Kurator in Bonn. 54 Vgl. Goltz, Theodor von der/Koll, Otto/Künzel, Franz, Festschrift zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens der Königlich Preußischen Landwirtschaftlichen Akademie Poppelsdorf, Bonn 1897, S. 1–5. Der Band ist auch online abrufbar unter: http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/titleinfo/7995963 (abgerufen am 21.11.2018).

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wirtschaftlichen Bedingungen beziehen und die akademische Lehre aufnehmen. Einen besonderen Bonus für die Gutswirtschaft als Lehr- und Forschungseinrichtung des Institutes gab es dabei nicht. Überraschend verstarb Sturm jedoch bereits am 18. Mai 1826. Das gerade erst begonnene akademische Werk wurde nicht fortgesetzt, obwohl der Lehrbetrieb zahlreiche interessierte Studenten angezogen hatte und gut angelaufen war, wenn auch unter widrigen wirtschaftlichen Umständen, die vor allem daraus resultierten, dass die Gutswirtschaft als Lehrbetrieb geführt wurde. Es kann nur vermutet werden, dass Sturm die landwirtschaftliche Lehre als eigenständige Wissenschaftsdisziplin an der Rhein-Universität zu Bonn mit entsprechender Bedeutung auf- und ausgebaut hätte. Ähnliches leistete sein berühmter Schüler Friedrich Gottlob Schulze55 in den Jahren von 1821 bis 1832 in Jena (mit externen Ausbildungsstätten in Tiefurt und Lützendorf bei Weimar) sowie in den Jahren von 1833 bis 1838 in Greifswald (mit der externen Lehranstalt/Akademie Eldena). Im Jahre 1836 wurde, wohl auf besondere Initiative des Bonner Universitätskurators von Rehfues, ein neuer Anlauf zur Lehre und Forschung in einem Landwirtschaftlichen Institut an der Universität Bonn gestartet. Mit der Institutsleitung wurde der seit dem Jahre 1831 an der Universität Bonn als außerordentlicher Professor für Staatswissenschaft und für Landwirtschaft tätige Kameralwissenschaftler Peter Kaufmann56 betraut. Er hatte sich unter anderem durch die Gründung des „Niederrheinischen Vereins für Landwirtschaft“ im Jahre 1833, seine Vorarbeiten zur Gründung eines „Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen“57 im Jahre 1839 und durch anderweitige gesellschaftliche Aktivitäten vielfältige Anerkennung in der rheinischen Landwirtschaft erworben. Dieser Versuch eines Neustarts scheiterte bereits nach wenigen Jahren an der mangelhaften finanziellen Ausstattung sowie an der fehlenden praktischen Erfahrung des Institutsleiters in landwirtschaftlicher Betriebsführung. Gleichwohl konnte Kaufmann in seinen späteren Bonner Jahren noch vielfältige Anerkennung bei der Weiterentwicklung der Kameralwissenschaften erlangen. Die Poppelsdorfer Gutsverwaltung blieb noch bis Ende September 1846 in seiner Hand.58

55 Friedrich Gottlob Schulze, geb. 28.1.1795 in Obergävernitz bei Meißen/gest. 3.7.1860 in Jena; u. a. ab 1821 Professor für Kameralwissenschaften in Jena, ab 1832 in Greifswald, ab 1836 wieder in Jena. 56 Peter Kaufmann, geb. 10.6.1803 in Vierneburg (Vordereifel)/gest. 19.2.1872 in Bonn. Vgl. auch Wenig, Verzeichnis, S. 143. 57 Am 14.12.1833 wurde der „Niederrheinische Landwirtschaftliche Verein“ in Bad Godesberg gegründet. Auf seiner achten Generalversammlung am 19.10.1839 in Bonn erfolgte durch Beschluss die Erweiterung zum „Landwirtschaftlichen Verein für Rheinpreußen“. 58 Vgl. Goltz/Koll/Künzel, Festschrift, S. 5.

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3 Die Gründung der Königlich Höheren Landwirtschaftlichen Lehranstalt zu Poppelsdorf und ihre Entwicklung zur Königlich Preußischen Landwirtschaftlichen Akademie zu Poppelsdorf (1847–1860) Eine neue Initiative ging am 17. März 1837 vom designierten Präsidenten des Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen aus. Im Auftrag der Ständeversammlung forderte Johann Gerhard von Carnap-Bornheim59 die Gründung einer höheren landwirtschaftlichen Lehranstalt außerhalb der Universität Bonn, jedoch in enger Verbindung mit ihr. Das Vorhaben wurde jedoch durch Kabinettsbeschluss unter Verweis auf den erforderlichen Zeitvorlauf, die ungeklärte Kostenfrage sowie das Wirken Kaufmanns in die fernere Zukunft verwiesen.60 Erst in einer neuen, inhaltlich wesentlich verbesserten, Beschlussvorlage vom 12. Juli 1843 wurde der preußische König gebeten, die Gründung einer landwirtschaftlichen Lehranstalt für Rheinpreußen in die Wege zu leiten. Dabei wurde ausdrücklich Hohenheim wegen der vergleichbaren Realteilungsstrukturen des dortigen Grundeigentums genannt. Am 30. Dezember 1843 fand der Antrag die grundsätzliche Zustimmung des Provinziallandtages.61 Durch Kabinettsorder vom 9. Februar 1844 wurde die Gründung einer höheren landwirtschaftlichen Lehranstalt in den westlichen Provinzen ausdrücklich in Aussicht gestellt.62 Der strukturelle Unterschied in der Landwirtschaft der östlichen und der westlichen Provinzen Preußens wurde wahrgenommen, der Unterschied zwischen der Provinz Westfalen sowie der Rheinprovinz blieb entscheidungsrelevant. Noch im Jahre 1844 wurde in einem Gutachten des Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen geraten, die neu zu gründende landwirtschaftliche Lehranstalt in Verbindung mit der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn zu errichten. Erst ein Immediatsbericht des Preußischen Innenministeriums, des Preußischen Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten sowie des Preußischen Finanzministeriums vom 24. Juni 1846 bildete schlussendlich die wesentliche Grundlage der Kabinettsorder vom 10. Juli 1846 zur Schaffung einer höheren landwirtschaftlichen Lehranstalt in Poppelsdorf.63 Sie bestimmte als eigentlichen Gründungsakt den Gründungsort Poppelsdorf mit seiner Gutswirtschaft, den Einsatz der ersten Etatmittel für die Lehranstalt sowie Details zur ersten Besetzung der Direktorenstelle.64

59 60 61 62 63 64

Johann Gerhard von Carnap, geb. 23.7.1795 in Elberfeld/gest. 28.6.1865 in Botzdorf, heute Bornheim. Vgl. ALVR 278, Sitzungsprotokolle des 5. Rheinischen Provinziallandtages, 1837. Vgl. ALVR 282, Sitzungsprotokolle des 7. Rheinischen Provinziallandtages, 1843. Vgl. GStA PK, HA Rep. 87 B, Nr. 20308. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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Danach handelte der preußische Staat sehr zielstrebig: Mit Erlass vom 12. August 1846 verfügte der preußische Kultusminister Johann Albrecht Friedrich von Eichhorn65, dass die Gutswirtschaft Poppelsdorf der neuen Lehranstalt verpachtet werde.66 Zusammen mit dem preußischen Innenminister Ernst Albert Karl Wilhelm Ludwig von Bodelschwingh67 veröffentlichte er am 11. April 1847 den „Plan zur Errichtung einer landwirtschaftlichen Lehranstalt in Poppelsdorf bei Bonn“.68 Damit galt die Lehranstalt ausdrücklich „in Verbindung mit der Universität Bonn“ als errichtet und zugleich eröffnet. Am 17. Mai 1847 wurde der Lehrbetrieb wegen zeitnaher Erfahrungen mit einer Hungersnot in den westlichen Provinzen Preußens unter erheblichem politischen Druck aufgenommen. Erste Grundordnung der Lehranstalt wurde der vorstehend genannte Einrichtungsplan mit einer Direktoratsverfassung. Schließlich wurde durch Allerhöchste Kabinettsorder vom 4. Februar 1848 bestätigt, dass die „Königlich Höhere Landwirtschaftliche Lehranstalt“ in engster Verbindung mit der Universität Bonn, aber gleichwohl selbstständig, einzurichten sei.69 Aufgabe der neu gegründeten Lehranstalt war, ȤȤ den mit einer hinreichenden wissenschaftlichen Vorbildung versehenen und mit den Handgriffen ihres Gewerbes vertrauten jungen Landwirten Gelegenheit zu geben, sich mit der eigentlichen Wissenschaft der Landwirtschaft sowie mit den sogenannten Grundund Hilfswissenschaften derselben soweit bekannt zu machen, wie es zu der rationellen und in allen Lagen und Verhältnissen erfolgreichen Bewirtschaftung eines Landgutes in der gegenwärtigen Zeit erforderlich ist. ȤȤ die Staats- und Rechtswissenschaften Studierenden sowie allen, für welche in ihrem künftigen Beruf einige Bekanntschaft mit den Grundsätzen eines rationellen Landwirtschaftsbetriebes von Nutzen sein kann, ohne dass sie deshalb selbst praktische Landwirte sein wollen, die Gelegenheit zu bieten, diese Grundsätze kennen zu lernen und von der praktischen Ausübung des Gewerbes sowie von der Ordnung und Leitung einer Wirtschaft eine anschauliche Vorstellung zu bekommen. Sie soll demnach sowohl tüchtige Bewirtschafter größerer und kleinerer Güter, gleichviel ob Besitzer oder Pächter oder bloß Verwalter, als auch künftigen Verwaltungsbeamten, denen in ihrer Stellung eine mehr als oberflächliche Kenntnis des landwirtschaftlichen Gewerbes 65 Johann Albrecht Friedrich von Eichhorn, geb. 2.3.1779 in Northeim/gest. 16.1.1856 in Berlin; u. a. von 1840 bis 1848 Preußischer Minister für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten. 66 Vgl. Goltz/Koll/Künzel, Festschrift, S. 4. 67 Ernst Albert Karl Wilhelm Ludwig von Bodelschwingh, geb. 26.11.1794 auf Gut Vilmede bei Unna/gest. 18.5.1854 in Medebach; u. a. Regierungspräsident in Trier und Oberpräsident der Rheinprovinz von 1832 bis 1842, Preußischer Minister des Innern von 1845 bis 1848, Regierungspräsident in Arnsberg ab 1852. 68 Vgl. Pr. Min.Blatt, 1847, S. 54–58. 69 Vgl. UA Bonn, Landwirtschaftliche Fakultät, Nr. 1001.

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nötig ist, zu derselben verhelfen. Ein eigentlich praktischer Unterricht in dem Gewerbe und eine Unterweisung in den zu seiner Ausübung notwendigen Handgriffen wird dagegen auf der Anstalt nicht erteilt werden.70 Art und Gegenstand des Unterrichts waren dabei wie folgt umrissen: Der zu erteilende Unterricht besteht teils aus wissenschaftlichen Vorträgen […], teils in […] praktischen Erläuterungen […]. Die wissenschaftlichen Vorträge verbreiten sich nicht nur über das Fachwissen, sondern auch über mit denselben in Verbindung stehenden Grund-, Hilfs- und Nebenwissenschaften; sie betreffen daher: 1. die Landwirtschaft in ihrem ganzen Umfange als Hauptwissenschaft, und zwar 1.1. die Lehre vom Ackerbau, gestützt auf Bodenkunde und Pflanzensoziologie; sie zerfällt in einen allgemeinen und einen speziellen Teil. In jenem werden die Bodenkunde, die Düngung und die Bearbeitung des Bodens, die Saat, Pflege und Ernte der landwirtschaftlichen Gewächse im allgemeinen gelehrt; in diesem wird eine genaue Anweisung zum zweckmäßigen Anbau jedes dieser Gewächse erteilt. 1.2. die Lehre von der Tierzucht oder der Tierproduktion, die ebenfalls einen allgemeinen und einen speziellen Teil enthält. Im ersten wird von den verschiedenen Tierarten, von der Paarung, Züchtung, Ernährung, Pflege und Mästung des Viehs im allgemeinen, im zweiten von der Rind-, Schaaf-, Pferde-, Schweine- etc. Zucht im besonderen gehandelt. 1.3. die landwirtschaftliche Gewerbs- und Betriebslehre, auch allgemeine Landwirtschaft genannt, welche allgemeine Regeln für die landwirtschaftlichen Geschäfte gibt, und sich über den Zweck der Landwirtschaft, über Arbeit, Land und Kapital, über Kauf und Pacht der Landgüter, über die Wirtschaftssysteme, über die Einrichtung und Leitung der Wirtschaft, über Taxation und Buchhaltung verbreitet. An diese Vorträge über die Landwirtschaft schließen sich diejenigen über Garten-, Obst- und Weinbau an. 2. die Grundwissenschaften, 2.1. die Naturwissenschaften, namentlich Chemie und Physik, Tier-, Pflanzen- und Steinkunde, immer in Beziehung auf die Landwirtschaft oder soweit sie dem Landwirt zu einem umsichtsvollen zweckmäßigen Betriebe seines Gewerbes von Wichtigkeit sind. 2.2. die mathematischen Wissenschaften, insbesondere angewandte Geometrie, Stereometrie, Statistik, Hydrostatik und Maschinenlehre, verbunden mit Übungen im Feldmessen, Nivellieren, Planzeichen etc. 2.3. die Volkswirtschaftslehre, insoweit sie der landwirtschaftlichen Gewerbelehre zur sicheren Begründung dient. 3. die Hilfswissenschaften, 3.1. die landwirtschaftliche Technologie, 3.2. die Tierheilkunde, 3.3. landwirtschaftliche Baukunst, 70 Pr. Min.Blatt, 1847, S. 54–58.

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3.4. Landwirtschaftsrecht, 3.5. Geschichte und Statistik der Landwirtschaft […]. Bereits im Wintersemester 1848/49 kamen Lehrveranstaltungen zur Forstwirtschaft hinzu. Die für die Agrarstruktur in Rheinpreußen bedeutsame Landeskulturgesetzgebung wurde erst im Sommersemester 1866 dem Landwirtschaftsrecht zugeordnet. Diese wissenschaftlichen und organisatorischen Grundstrukturen blieben viele Jahrzehnte für das Studium der Landwirtschaft in Poppelsdorf prägend. Für den Auf- und Ausbau der Lehranstalt war bei vorgegebener Direktoratsverfassung die Besetzung der Schlüsselstelle des Direktors von besonderer Bedeutung. Die preußische Landwirtschaftsverwaltung hatte jedoch bei den diesbezüglichen Personalberufungen zunächst keine glückliche Hand: Als Gründungsdirektor und zugleich Professor an der Universität Bonn wurde August Gottfried Schweitzer71 von der Königlich Sächsischen Akademie für Forst- und Landwirtschaft zu Tharandt zum 1. April 1847 berufen. Er war jedoch nicht der erwartete energische, durchsetzungsfreudige und charakterlich gefestigte Organisator. Da er bereits bei seinem Amtsantritt an psychischen und physischen Problemen litt, zeigte sich der 60-jährige Schweitzer den dienstlichen (und wohl auch privaten) Anforderungen nicht gewachsen. Auf Veranlassung des Preußischen Ministeriums für Landwirtschaft, Domänen und Forsten legte er sein Amt zum 30. April 1851 nieder. Bereits zum 1. Juli 1851 wurde der 56-jährige Landesökonomierat Ferdinand Weyhe72 vom Preußischen Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, bei deutlicher öffentlicher Kritik an der bisherigen Berufungspolitik, zum neuen Leiter der Lehranstalt berufen. Weyhe war ebenfalls kein Rheinländer, protestantischen Glaubens und litt ebenfalls unter gesundheitlichen Problemen. Ihm gelang es jedoch binnen weniger Jahre, die neue Königlich Höhere Landwirtschaftliche Lehranstalt nach innen und außen zu konsolidieren. Er widerstand anderweitigen Maßgaben verschiedenster Aufsichtsorgane und -gremien mit Umsicht und Gelassenheit. Aus gesundheitlichen Gründen musste er bereits zum 31. März 1856 seine Versetzung in den Ruhestand beantragen.73 Sein Nachfolger wurde der bisherige Gutsadministrator und zweite Dozent für Landwirtschaft an der Lehranstalt, der erst 33-jährige Eduard Hartstein74. Er übernahm die Aufgabe, die Landwirtschaftliche Lehranstalt zu Poppelsdorf umsichtig auszubauen, 71 August Gottfried Schweitzer, geb. 4.11.1788 in Naumburg/gest. 17.7.1854 in Bonn; u. a. Ausbildung auf Gut Möglin bei A. D. Thaer, 1829 Berufung als Professor nach Tharandt. Vgl. auch Wenig, Verzeichnis, S. 287. 72 Ferdinand Weyhe, geb. 6.11.1795 in Magdeburg/gest. 31.10.1878 in Bonn. Vgl. auch ebd., S. 335. 73 Krampitz, Gottfried, 150 Jahre Lehre und Forschung in Poppelsdorf. Festschrift zum Jubiläum am 20./21. Juni 1997, Bonn 1997, S. 40–42. 74 Eduard Hartstein, geb. 29.7.1823 in Pretzsch bei Wittenberg, Elbe/gest. 14.12.1869 in Bonn; u. a. am 20.4.1854 zum Professor für Landwirtschaft ernannt, dabei wurde ihm bereits das Direktorat der Poppelsdorfer Lehranstalt in Aussicht gestellt, obwohl auch der Bonner Kameralwissenschaftler Peter Kaufmann stets Interesse an diesem Amt bekundet hatte. Vgl. auch Wenig, Verzeichnis, S. 107.

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Abb. 44  Landwirtschaftliche Akademie zu Poppelsdorf, Abzug eines Ölgemäldes einer Lithografie der Akademie, umgrenzt u. a. von Laubranken und Darstellungen des Poppelsdorfer Schlosses, des Siebengebirges und von landwirtschaftlichen Geräten, Druck und Verlag Lith. Inst. d. Friedr. Wilh. Universität v. Henry & Cohen in Bonn, Mitte des 19. Jahrhunderts.

damit sie den neuen wissenschaftlichen Anforderungen gerecht werden konnte. Diese gingen vor allem von den öffentlichkeitswirksamen Forschungsarbeiten Justus von Liebigs75 auf den Gebieten der Chemie, insbesondere der organischen Chemie, der Agrikulturchemie sowie der Ernährungsphysiologie, aus. Die Entwicklungsziele der Höheren Landwirtschaftlichen Lehranstalt zu Poppelsdorf unter Direktor Hartstein waren zweigeteilt. Einerseits waren sie auf eine größere administrative Selbstständigkeit gegenüber der Universität Bonn gerichtet. Dies führte unter anderem zur Gründung der „Königlich Preußischen Landwirtschaftlichen Aka-

75 Justus Liebig, seit 1845 Freiherr von Liebig, geb. 12.5.1803 in Darmstadt/gest. 18.4.1873 in München; u. a. seit 1824 a. o. Professor für Chemie und Pharmazie in Gießen, ab 1852 in München, ab 1859 Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

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demie“ im Oktober 1860.76 Andererseits galt die besondere Aufmerksamkeit Hartsteins der nachhaltigen Verbesserung der akademischen Lehre, insbesondere in den naturwissenschaftlichen Grundlagen. Dies bewerkstelligte er mit der Berufung überwiegend junger und hochqualifizierter Naturwissenschaftler als Dozenten für Physik, Chemie, Geologie, Mineralogie, Botanik, Zoologie, aber auch für Technologie und Physiologie. Beispielhaft seien genannt: ȤȤ Johannes Lachmann (ab April 1857) für Geologie, Mineralogie, Botanik und Zoologie. ȤȤ Carl Hermann Alexander Eichhorn (ab Januar 1860) für Physik und Chemie, er wurde 1862 nach Berlin berufen. ȤȤ Ferdinand Gustav Julius Sachs (ab April 1861) für Naturwissenschaften, er wurde im April 1867 nach Freiburg, später nach Würzburg berufen. ȤȤ Carl Justus Andrae (ab dem Wintersemester 1860/61) für Geologie und Mineralogie. ȤȤ Adolf Wüllner (ab Oktober 1862) für Physik und Meteorologie, er wurde im Oktober 1869 nach Aachen berufen. ȤȤ Moritz Freytag (ab April 1864) für Physik, Chemie, Technologie. ȤȤ Hugo Thiel (ab April 1866) für Landwirtschaft, Tierproduktion, er wurde im September 1869 nach Darmstadt berufen, später nach Berlin. ȤȤ Friedrich August Körnicke (ab April 1867) für Botanik. ȤȤ Wilhelm Schumacher (ab September 1869) für Landwirtschaft. ȤȤ Konrad Oehmichen (ab Oktober 1870) für Speziellen Pflanzenbau, er wurde im Oktober 1872 nach Jena berufen.77 Für ältere erfahrene Dozenten waren die Dotationen zu knapp bemessen, was zu häufigen Personalwechseln führte. Dies hatte jedoch den Vorteil, dass von Poppelsdorf aus ein Netzwerk zu landwirtschaftlichen Ausbildungs- und Forschungsstätten auf- und ausgebaut werden konnte. Auch der ausgezeichnete Menschenkenner Hartstein gelangte, von den politischen Exekutiven häufig als Gutachter zu bedeutenden Ernennungen und Berufungen gefragt, zu höchstem Ansehen. Genannt seien in diesem Zusammenhang die damaligen Gutsadministratoren in Poppelsdorf, die sich später zu bedeutenden Agrarwissenschaftlern entwickelten: Gustav Wentz (Amtszeit 1857–1863) ging als Professor und Direktor an die Landwirtschaftliche Lehranstalt nach Weihenstephan; Adolf Kraemer (Amtszeit 1863–1865) ging als Professor für Landwirtschaft an das Polytechnikum in Zürich; Karl Freytag (Amtszeit 1865–1871) ging als Professor für Tierzuchtwissenschaften an die Universität Halle/Saale.78 In eine existenziell kritische Entwicklungsphase gerieten in den Jahren nach 1861 nahezu alle landwirtschaftlichen Lehranstalten beziehungsweise Akademien durch zwei 76 Vgl. Weiß, Entwicklungen, S. 28. 77 Vgl. Goltz/Koll/Künzel, Festschrift, S. 107–115. 78 Vgl. ebd.

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bedeutsame akademische Reden des damaligen Präsidenten der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften Justus von Liebig. Er forderte die Schließung dieser Lehranstalten und die Verlegung von Lehre und Forschung an die Universitäten, da nur so eine befriedigende Wahrnehmung des wissenschaftlichen Fortschritts, insbesondere in den naturwissenschaftlichen Grundlagen, zu gewährleisten sei.79 Die daraus resultierenden mehrjährigen Auseinandersetzungen führten unter anderem zur Aufhebung der landwirtschaftlichen Lehranstalten beziehungsweise Akademien in Regenwalde (Hinterpommern, gegr. 1842/aufgeh. 1859), Möglin (Brandenburg, gegr. 1806/1819/aufgeh. 1862), Waldau (Ostpreußen, gegr. 1858/aufgeh. 1868), Proskau (Schlesien, gegr. 1847/aufgeh. 1868/1880), Weende (bei Göttingen, gegr. 1851/aufgeh. 1872) und Eldena (Vorpommern, gegr. 1835/aufgeh. 1877). Bestehen blieben unter anderem Hohenheim (gegr. 1818), Jena (gegr. 1826), Poppelsdorf (gegr. 1847) sowie Weihenstephan (gegr. 1822/1852). Neu entstanden landwirtschaftliche Lehr- und Forschungseinrichtungen unter anderem an den Universitäten Halle/Saale (1863), Leipzig (1869), Gießen (1871), Rostock (1872), Göttingen (1872), Königsberg (1876), Kiel (1881), Breslau (1881) und Berlin (1881). In Preußen unterstanden die landwirtschaftlichen Akademien und Hochschulen dem Landwirtschaftsministerium und die landwirtschaftlichen Universitätsinstitute dem Kultusministerium mit allen daraus unmittelbar resultierenden Interessenunterschieden. Die Kritik des namhaften Wissenschaftlers Justus von Liebig hatte, obwohl selbst offensichtlich korrekturbedürftig, weitreichende Folgen für die Landwirtschaft als Wissenschaftsdisziplin.80 Hartstein fand für den notwendigen Ausbau der Lehr- und Forschungseinrichtungen in Poppelsdorf jedoch wohlwollende materielle Unterstützung im Preußischen Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, insbesondere bei den Ministern Graf Pückler-Limpurg und von Selchow81. Beispielhaft zu nennen sind die Errichtung der Landwirtschaftlichen Versuchsstation in Poppelsdorf im Jahre 1857, der Erwerb des Annaberger Hofes mit etwa 200 Hektar als landwirtschaftliches Versuchsgut im Jahre 1860 oder der Neubau eines Landwirtschaftlichen Lehrgebäudes an der Meckenheimer Allee (heute Nr. 176) in den Jahren 1863 bis 1867. Als ausgezeichneter Pädagoge warb Eduard Hartstein auch erfolgreich für das Studium der Landwirtschaft. Die Zahl der Studenten an der Poppelsdorfer Akademie lag durchschnittlich etwa zwischen 70 und 80. Davon stammten rund 80 Prozent aus dem 79 Liebig, Justus von, Rede zur Vorfeier des 102. Stiftungstages der Königlichen Akademie der Wissenschaften am 26. März 1861, Braunschweig 1862; ders., Die moderne Landwirtschaft am Beispiel der Gemeinnützigkeit der Wissenschaften, Rede gehalten zu München am 28. November 1861, Braunschweig 1862. 80 Goltz, Theodor von der, Geschichte der deutschen Landwirtschaft, Band 2: Das neunzehnte Jahrhundert, Stuttgart/Berlin 1903 sowie Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 12, Leipzig 1908, S. 145–147. 81 Werner Ludolf Erdmann von Selchow, geb. 1.2.1806 in Danzig/gest. 23.2.1884 in Brandenburg a. d. Havel; u. a. erster Preußischer Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten unter Otto von Bismarck vom 9.12.1862 bis 13.1.1873.

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Königreich Preußen, weitere 10 Prozent aus den übrigen deutschen Ländern und 10 Prozent aus dem Ausland. Etwa 30 Prozent der preußischen Studenten waren Rheinländer.82 Jährlich absolvierten damit im Durchschnitt etwa zwölf beziehungsweise zehn Studenten aus der Rheinprovinz die vier- beziehungsweise sechssemestrige wissenschaftliche Ausbildung in Poppelsdorf. Damit waren kaum unmittelbare Entwicklungsimpulse für die Landwirtschaft in Rheinpreußen zu setzen. Bedeutsam waren diese Absolventen jedoch als Wissensmultiplikatoren an den entstehenden Landwirtschaftsschulen der unteren und mittleren Bildungsebene in der Rheinprovinz – ein bislang nicht hinreichend erforschter Aspekt. Schließlich verstarb Hartstein überraschend mit bereits 46 Jahren am 14. Dezember 1869 in Bonn an Typhus. Die plötzliche Vakanz im Direktorat war überaus problematisch, denn die Folgen der wissenschaftlich-organisatorischen Thesen Justus von Liebigs waren noch nicht völlig aufgearbeitet. In dieser Situation richteten Senat und Rektor der Universität am 1. Februar 1870 ein Schreiben an den Kurator Wilhelm Hartwig Beseler83. Dieser richtete wenige Tage später, ohne Wissen der Dozentenschaft in Poppelsdorf, ein Schreiben wegen der Einverleibung der Landwirtschaftlichen Akademie in Poppelsdorf 84 an Kultusminister Heinrich von Mühler85. Der Versuch des Rektors blieb letztlich erfolglos. Gleichwohl dauerte die Vakanz formal bis zum 8. April 1872. Rund ein Jahr zuvor war ein neuer Direktor kommissarisch mit den Aufgaben betraut worden.

4 Ansätze zu agrarstrukturellen Reformen in Rheinpreußen Auf Veranlassung der preußischen Staatsregierung reisten im Jahre 1853 Landrat Hermann Simons (Köln-Land) und der Altenkirchener Regierungsrat Theodor Wilhelmy in das Herzogtum Nassau und in die preußische Provinz Sachsen, um Möglichkeiten zur Förderung der Landes- und Agrarstruktur in Rheinpreußen anhand abgeschlossener Grundstückszusammenlegungen zu studieren. Wilhelmy sollte wenig später zum Mitglied der preußischen Generalkommission in Münster ernannt werden. Anschließend berichteten sie dem Landwirtschaftlichen Verein für Rheinpreußen von den gesammelten Erfahrungen. Landrat Simons äußerte sich im Jahre 1854 in der Zeitschrift des Landwirtschaftlichen Vereins „Zur Konsolidationsfrage mit besonderer Rücksicht auf die Agri82 Nach den Grundlagen dieser statistischen Angaben zählten in jener Zeit als Rheinländer offensichtlich die Studenten, deren Eltern in der Rheinprovinz wohnhaft waren. 83 Wilhelm Hartwig Beseler, geb. 2.3.1806 in Schloss Marienhausen (Jever)/gest. 2.9.1884 in Bonn; u. a. Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung für Itzehoe, ab 1860 bis 1884 Kurator der Universität Bonn. 84 GStA PK, HA Rep. 76 Kultusministerium, Va, Sekt. 3, Tit. X, Nr. 64, Akte betr. Die Organisation und Verwaltung der höheren landwirtschaftlichen Lehranstalt in Poppelsdorf (1855–1919). 85 Heinrich von Mühler, geb. 4.11.1813 in Brieg/gest. 2.4.1874 in Potsdam; Jurist, u. a. Preußischer Minister für Geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten von 1862 bis 1872, Abg. des Norddeutschen Bundes von 1867 bis 1871.

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kulturverhältnisse in der Rheinprovinz“. Regierungsrat Wilhelmy verfasste zwei Jahre später eine Monografie „Über die Zusammenlegung der Grundstücke in der preußischen Rheinprovinz“. Weiter genannt werden muss die Initiative des Regierungsrates Otto Beck, Dezernent für die Landeskulturangelegenheiten bei der Bezirksregierung Aachen, mit seiner Veröffentlichung „Die Güterkonsolidation in der Rheinprovinz“ in der Zeitschrift des Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen im Jahre 1859. Dadurch wurde eine Exkursion von Delegierten der Ortsvereine des Landwirtschaftlichen Vereins (Konsolidationskommission) im Jahre 1860 in das Herzogtum Nassau und in die preußischen Provinzen Sachsen und Westfalen veranlasst. Der daraus hervorgegangene wichtige Bericht erschien 1861 ebenfalls in der Zeitschrift des Vereins. In seiner Publikation listete Landrat Simons folgende besonders vorteilhafte Wirkungen der Neuordnungsmaßnahmen auf: ȤȤ Der Übergang von der Dreifelderwirtschaft zu modernen individuellen Wirtschaftsformen in der Landwirtschaft wird in umfassender Weise gefördert. ȤȤ Die sehr hinderlichen beziehungsweise schädlichen Servitutsrechte in der Feldflur werden durch die Anlage eines Wirtschaftswegenetzes beseitigt und die individuelle Bewirtschaftung der Betriebe auf den arrondierten Besitzstücken wird ermöglicht. ȤȤ Die Arbeits- und Produktionsverhältnisse werden in der durch Wege zweckmäßig erschlossenen Feldflur nachhaltig verbessert. Insbesondere werden die Feld-FeldEntfernungen erheblich verringert. ȤȤ Der Arbeitsaufwand und die übrigen Bewirtschaftungskosten werden auf den arrondierten Ackerflächen mit zweckmäßigeren Formen und Lagen in bewegtem Gelände gesenkt. ȤȤ Weiterhin wird die Wald-Feld-Grenze sinnvoll neu gestaltet. Saatgut, das auf den früher zu schmalen Ackerflächen verloren ging, wird nach der Zusammenlegung eingespart. Die Ertragsverhältnisse auf den Ackerflächen werden durch Drainmaßnahmen nachhaltig verbessert und gesichert. ȤȤ Die Grünlandbewirtschaftung wird durch wasserwirtschaftliche Meliorationsmaßnahmen der Be- und Entwässerung mit Hilfe von Stauwerken, größeren Rückhaltebecken und anderen gewässerbaulichen Maßnahmen wesentlich verbessert. ȤȤ Der Wertzuwachs von Grund und Boden wird auf 25 bis 50 Prozent eingeschätzt, die Erhöhung der Pachterlöse auf etwa 20 Prozent. ȤȤ Die neu zugeteilten landwirtschaftlichen Nutzflächen sind mit Grenzsteinen abgemarkt; sie verhindern Grenzstreitigkeiten größeren Umfanges durch das Abpflügen und Ähnliches. ȤȤ Die Flächenausweisungen für Friedhöfe, Bauplätze, Lehm-, Sand- und Kiesgruben sowie für andere gemeinschaftliche Zwecke fördern die allgemeine Entwicklung einer ländlichen Gemeinde. Die privatwirtschaftliche Wettbewerbssituation unter den landwirtschaftlichen Betrieben führt zu vielseitigen Verbesserungen in der Landwirtschaft. Die Feld- und Viehdiebstähle nehmen ab, da sich die Not verringert.

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Formell ordnete Simons diese Bodenneuordnungsmaßnahmen noch dem Enteignungsrecht zu. Das Surrogationsprinzip unserer heutigen Inhalts- und Schrankenbestimmung für das Grundeigentum kannte er noch nicht. Auch sprach er keine konkrete Empfehlung aus, ob das etwas zurückhaltende nassauische oder das stringentere preußische Bodenneuordnungsrecht für die Rheinprovinz übernommen werden sollte. Gleichwohl bildete sein Erfahrungsbericht die Grundlage für konkrete Vorschriften des späteren „Gesetzes, betreffend die Zusammenlegung der Grundstücke im Geltungsgebiete des Rheinischen Rechts“ vom 24. Mai 1885.86 Regierungsrat Wilhelmy erörterte nach seiner Reise folgende Fragenkomplexe: ȤȤ Ist ein Zusammenlegungsgesetz für die Landwirtschaft in der Rheinprovinz erforderlich? Dazu stellte er umfängliches statistisches Material jener Zeit zur Zersplitterung des Grundeigentums für die Rheinprovinz in die allgemeinen Erörterungen ein. Daraus folgerte er unter anderem, dass ein mittlerer bäuerlicher Betrieb mit etwa 30 bis 40 Morgen etwa 100 in der Gemarkung zerstreut liegende Bewirtschaftungsstücke oder mehr zu bearbeiten hatte. Ergänzend hinzu kam der Hinweis auf die weitestgehend fehlenden Wirtschaftswege und die unbefriedigenden wasserwirtschaftlichen Verhältnisse. Dies galt insbesondere für die schweren und nassen Ackerböden in den Hochlagen von Eifel, Hunsrück, Westerwald und Bergischem Land. Wegen der veränderten allgemeinwirtschaftlichen Rahmenbedingungen kam hinzu, dass die erforderliche Umstellung von der Dreifelderwirtschaft (mit ihrer weitgehend gleichartigen Wirtschaftsweise) für alle Betriebe in der Gemarkung87 zur rationellen Landwirtschaft/Schlagwirtschaft auch im Sommer nach den Erkenntnissen des Berichterstatters ohne weitreichende landeskulturelle beziehungsweise agrarstrukturelle Verbesserungsmaßnahmen praktisch nicht möglich war. Das galt insbesondere für alle Betriebe mit zusätzlichem Hackfrucht- und Futteranbau sowie mit der Stallfütterung. ȤȤ Welche Einwendungen gegen die Einführung eines Zusammenlegungsgesetzes gibt es in der Rheinprovinz? Während der in der Generalversammlung des Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen 1853 stattfindenden Erörterung der landeskulturellen Aufgaben wurden zwei prinzipielle Vorbehalte vorgetragen. In der zwangsweisen Zusammenlegung der Grundstücke läge ein Eingriff in das Eigentum, der das Rechtsgefühl der Rheinländer auf eine unerträgliche Weise verletzen würde. Weiterhin würde die Zusammenlegung der Grund86 Vgl. PrGS., 1885, S. 156. Man beachte die §§ 5 und 8. 87 Einen Gemarkungsteil als Winterfeld mit Roggen und Weizen, einen als Sommerfeld mit Gerste und Hafer sowie den Brachflächenanteil, verbunden mit der gemeinsamen Beweidung abgeernteter Felder, für die insgesamt nur wenig Wirtschaftswege benötigt wurden.

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stücke die Aufhebung der lange in den Rheinlanden geltenden Teilbarkeit des Grundbesitzes und des freien Verfügungsrechts darüber nach sich ziehen. Hinsichtlich des ersten Einwandes wurde darauf verwiesen, dass viele Staaten neben der garantierten Unverletzlichkeit des Eigentums die Enteignung aus Gründen des allgemeinen Wohls zuließen (so auch der Code civil in Artikel 545). Die zwangsweise Zusammenlegung der Grundstücke sei zwar eine umfangreiche enteignende Maßnahme. Sie unterscheide sich jedoch von allen anderen dadurch, dass nur sie eine vollständige Entschädigung in Land vorschreibe. Wegen der verschiedenen landeskulturellen beziehungsweise agrarstrukturellen Verbesserungsmaßnahmen erbringe sie einen wesentlichen Wertzuwachs. Beim zweiten Einwand verwies Wilhelmy darauf, dass die wirtschaftliche Zusammenlegung der Grundstücke nach seiner Wahrnehmung zwar gegen die faktische Aufteilung des Grundbesitzes, nicht aber gegen die rechtliche Freiteilbarkeit des Grundeigentums gerichtet sei. ȤȤ Welche Vorbilder für die Gesetzgebung über die Zusammenlegung des Grundeigentums in der Rheinprovinz sind vorhanden? Als besonders geeignete Grundlagen für die weiteren Erörterungen eines Zusammenlegungsgesetzes empfahl Wilhelmy folgende acht Gesetze: 1. Die Preußische Gemeinheitsteilungsordnung vom 7. Juni 1821 und das Ergänzungsgesetz vom 2. März 1850. 2. Die Nassauische Ministerialverordnung vom 12. September 1829, betreffend die Güterkonsolidation in Verbindung mit der Instruktion für die Vollziehung der Güterkonsolidation im Herzogtum Nassau vom 2. Januar 1830. 3. Das Gesetz über die Zusammenlegung der Grundstücke im Königreich Sachsen vom 14. Juni 1834. 4. Das Gesetz, die Verkoppelung der Grundstücke im Kurfürstentum Hessen betreffend, vom 28. August 1834. 5. Die Instruktion für die Zusammenlegung und die neue Verteilung der Grundstücke im Großherzogtum Hessen-Darmstadt vom 5. Dezember 1834. 6. Das Gesetz über die Zusammenlegung der Grundstücke im Königreich Hannover vom 30. Juni 1842 und das Ergänzungsgesetz vom 12. Oktober 1853. 7. Das Großherzoglich-Weimarsche Gesetz über die Zusammenlegung der Grundstücke vom 25. August 1848. 8. Das Großherzlich-Gothasche Gesetz über die Zusammenlegung der Grundstücke vom 5. November 1853. Alle diese Gesetze hatten den Zweck, die überkommenen landeskulturellen beziehungsweise agrarstrukturellen Verhältnisse in der Land- und Forstwirtschaft aufzuheben und sie den neuzeitlichen wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen anzupassen. In einem Teil der gesetzlichen Vorlagen dominierte das nassauische Konsolidationssystem, im anderen das preußische Spezialseparationssystem. Wilhelmy neigte wegen der günstigeren Kosten-Nutzen-Relation dem preußischen System zu. Beck hatte bereits ab Herbst 1848 als Direktor der Eichsfeldischen Renten- und Tilgungskasse zur Amortisation der Reallasten und als Spezialkommissar für die Generalkommission der preußischen Provinz Sachsen in Heiligenstadt umfängliche praktische Erfahrungen auf diesen Gebieten gemacht. Im Jahre 1859 regte er an, die Zentral-

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direktion des Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen möge auf der Grundlage der vorstehend erläuterten Schriften von Simons und Wilhelmy eine kurze, leicht faßliche Beschreibung bereits ausgeführter Consolidationen, des dabei eingeschlagenen Verfahrens, der glücklich überwundenen Schwierigkeiten, der entstandenen Kosten, der allgemeinen Zufriedenheit über die erreichten Vortheile usw88 fertigen lassen. Sie solle als Informationsmaterial für die weiteren Erörterungen der Konsolidationsfrage allen Ortsvorständen des Vereins zur Verfügung gestellt werden. Eine weitere Initiative Becks zielte direkt auf die Zentraldirektion: Sie sollte aus erfahrenen Landwirten und namhaften Sachverständigen eine Konsolidationskommission bilden. Diese sollte, finanziell entsprechend ausgestattet, zur Erweiterung und Vervollständigung des speziellen Fachwissens in die nassauischen und thüringischen Neuordnungsgebiete entsandt werden, um für eine grundlegende und abschließende Beratung aller landeskulturellen und agrarstrukturellen Problemstellungen in einer weiteren Generalversammlung des Vereins entsprechend vorbereitet zu sein. Die Zentraldirektion des Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen entsprach den Initiativen Becks auf ihrer Vollsitzung am 5. Oktober 1859 in Bonn einstimmig. Bereits im Jahre 1856 hatten die Rheinischen Provinzialstände eine Petition an den König gesandt und den Erlass eines Zusammenlegungsgesetzes für die Rheinprovinz erbeten; der erste Entwurf eines solchen Gesetzes hatte bereits im Jahre 1850 vorgelegen. Mitglieder der für die weitere Entwicklung der ländlichen Bodenreform so bedeutenden Konsolidationskommission wurden: 1. Der Initiator Beck als persönlicher Beauftragter des Präsidenten des Vereins Hermann Kaspar vom Rath89. 2. Der Oberbürgermeister von Köln Stupp90, der Landrat von Siegburg Wülffing, der Landrat von Euskirchen Schröder (zugleich als Gutsbesitzer von Haus Wachendorf), der Bürgermeister von Wegberg Beckers für Erkelenz sowie die Gutsbesitzer Jungbluth von Haus Laach für Bergheim, Moll für Bonn, Münster von Wesel für Rees, Reinhard von Kalkofen für Neuwied, Schmitz von Hübsch bei Rees für Moers und Geldern, Trapp von Waldböckelheim für Kreuznach, Wenders vom Schüttenhof bei Rath für Düsseldorf, Zurhelle von Kalkofen für Aachen und der Gerber Götz für Simmern. 3. Auf eigene Initiative hatten sich der Kommissionsarbeit zur Verfügung gestellt die Gutsbesitzer Eberhard von Hymmen aus Bonn-Endenich, Renner von Haus Broich im Siegkreis, Rey von Kelz bei Düren und Thelen von Binzfeld bei Düren sowie der Regierungsreferendar Reinhard von Hymmen aus Bonn-Endenich. 88 Beck, Otto, Die Güter-Consolidation in der preußischen Rheinprovinz, Koblenz 1859, S. 33. 89 Hermann Kaspar vom Rath, geb. 9.4.1818 in Elberfeld/gest. 23.4.1890 auf Gut Lauersfort bei Moers; u. a. von 1867 bis 1870 Mitglied des Reichstages des Norddeutschen Bundes (für Moers u. Rees), ab 1872 Mitglied des Preußischen Herrenhauses. 90 Hermann Joseph Stupp, geb. 12.2.1793 in Golzheim/gest. 10.6.1870 in Köln; u. a. von 1851 bis 1863 Oberbürgermeister von Köln, von 1855 bis 1863 Mitglied des rheinischen Provinziallandtages, von 1855 bis 1863 Mitglied des Preußischen Herrenhauses.

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Die Mitglieder wählten Landrat Wülffing zu ihrem Vorsitzenden und Reinhard von Hymmen zum Berichterstatter. Regierungsrat Beck und Oberbürgermeister Stupp wurden Korreferenten. Kein Vertreter des Lehrkörpers der Landwirtschaftlichen Lehranstalt, alsbald der Landwirtschaftlichen Akademie Poppelsdorf, war Teil des richtungsweisenden Gremiums, obwohl eine Mitgliedschaft weitestgehend freigestellt war. Am 1. Juli 1860 traf sich schließlich die 19 Mitglieder zählende Kommission zu ihrer konstituierenden Sitzung in Wiesbaden, um am darauf folgenden Tage die von Regierungsrat Beck vorbereitete Exkursion in nassauische, thüringische und westfälische Landschaften zu starten. Die Exkursion führte am 2. Juli in die konsolidierten Gemarkungen Weißkirchen und Bommersheim, unmittelbar nordwestlich von Frankfurt am Main. Die fachlichen Informationen wurden vom Referenten für Konsolidationsangelegenheiten der nassauischen Regierung Wiesbaden, Künkler, sowie vom Präsidenten des Vereins der nassauischen Land- und Forstwirte, Magdeburg, und seinem Sekretär Friedrich Wilhelm Dünkelberg91 vorgetragen. Vom 4. bis 7. Juli wurden in der preußischen Provinz Sachsen die mittels Spezialseparationen neugeordneten Gemarkungen Alten- und Großengottern im Kreis Langensalza, Berlingerode und Hundeshagen im Kreis Worbis sowie die Gemarkungen Westhausen, Birkenfelde, Rengelrode mit der Leineregulierung, Marth, Bornhagen und Fretterode im Kreis Heiligenstadt begutachtet; hier wurden die fachlichen Informationen vom Präsidenten der Generalkommission Merseburg, von Reibnitz, vom Ökonomen der Kommission, Oesten, sowie von Regierungsrat Schuhmann aus dem preußischen Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten in Berlin vorgetragen. Nach den bis dahin gewonnenen Erfahrungen wurde am 8. Juli in Kassel ein erstes Fazit gezogen: Ein großer Teil der Kommission neigte sich bereits der Ansicht zu, dass ein ähnliches Verfahren auch in der Rheinprovinz anwendbar sein werde.92 Den Abschluss der Exkursion bildete ein Erfahrungsaustausch mit Beteiligten der Spezialseparationen im Stadtgebiet von Warburg und in den Gemarkungen Salzkotten, Upspunge und Ahden im Kreise Büren vom 9. bis 11. Juli. Hier wurde die Kommission vom Präsidenten der Generalkommission Münster, Jonas, und den Spezialkommissaren Beck und Grohnert begleitet und fachlich informiert. Am 17. Februar 1861 wurde der abschließende Bericht der Konsolidationskommission verabschiedet und vom Präsidenten des Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen vom Rath der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Kommission empfahl einmütig den Erlass 91 Friedrich Wilhelm Dünkelberg, geb. 4.5.1819 auf Schloss Schaumberg a. d. Lahn/gest. 11.8.1912 in Wiesbaden; von 1841 bis 1843 besuchte er das Nassauische Landwirtschaftliche Institut Geisberg bei Wiesbaden unter der Leitung von K. Albrecht (Schüler A. D. Thaer), danach die Universität Gießen (bei Fresenius/ Chemie u. Naturwissenschaften). 1887 war Dünkelberg etwa neun Jahre Abgeordneter des Wahlkreises Neuwied-Altenkirchen im Preußischen Abgeordnetenhaus. 92 Zit. n. Weiß, Bodenordnung, S. 31.

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Abb. 45a/45b  Zusammenlegung „Kirres“, Gemeindebezirk Remagen, Kreis Ahrweiler (Ausschnitt), Zustand vor und nach der Zusammenlegung, 1887, aus: Landwirtschaftliche Jahrbücher, Band 8, Berlin 1889, Sonderdruck, S. 1 ff.

eines Gesetzes für die Zusammenlegung von Grundstücken in der gesamten Rheinprovinz. Man hatte die Wirkungen der landeskulturellen und agrarstrukturellen Förderungsmaßnahmen, wie sie Simons bereits 1853/54 in der Zeitschrift des Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen geschildert hatte, bestätigt gefunden, aber auch die Überwindung unvermeidlicher Schwierigkeiten bei der Ausführung solcher Förderungsmaßnahmen detailliert geschildert. Der Landwirtschaftliche Verein für Rheinpreußen bezeichnete jedoch erst nach mehrjährigen Diskussionen des Berichts und anderweitiger Materialen auf seiner Generalversammlung am 20. September 1875 ein Zusammenlegungsgesetz für die Rheinprovinz als wünschenswerte Agrarreformmaßnahme. Am 24. Mai 1885 wurde schlussendlich vom preußischen König mit Zustimmung der beiden Häuser des Landtages das „Gesetz, betreffend die Zusammenlegung der Grundstücke im Geltungsbereich des Rheinischen Rechts“ erlassen.93 Für den gemeinrechtlichen Gebietsteil der Rheinprovinz war bereits aufgrund der höchst vorteilhaften Modellwirkungen im benachbarten Herzogtum Nassau am 5. April 1869 ein „Gesetz, betreffend die wirtschaftliche Zusammenlegung der Grundstücke

93 Vgl. PrGS., 1885, S. 156.

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in dem Bezirk des Justizsenats zu Ehrenbreitstein“ erlassen worden.94 Die zuständige Behörde für die Leitung und Aufsicht war bis 1875 die Bezirksregierung in Koblenz und danach bis 1886 die Generalkommission Münster. Erst mit der Einrichtung der Generalkommission Düsseldorf gingen diese Funktionen von Münster nach Düsseldorf über. Für den landrechtlichen Gebietsteil der Rheinprovinz war am 2. April 1872 das „Gesetz, betreffend die Ausdehnung der Gemeinheitsordnung vom 7. Juni 1821 auf die Zusammenlegung von Grundstücken, welche einer gemeinschaftlichen Benutzung nicht unterliegen“ erlassen worden.95 Die zuständige Behörde für die Leitung und Aufsicht der daraus resultierenden Zusammenlegungsverfahren war von 1872 bis 1913 die Generalkommission Münster. Erst mit dem Gesetz vom 28. Mai 1913 „betreffend die Abänderung von Zusammenlegungs- und Gemeinheitsteilungsgesetzen“ gingen diese Aufgaben auf die Generalkommission Düsseldorf über.96 Bemerkenswert für die weitere Entwicklung der Landwirtschaftlichen Akademie blieben zwei Aspekte: 1. Die persönliche Begegnung der Mitglieder der Konsolidationskommission des Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen mit Friedrich Wilhelm Dünkelberg, der im Jahre 1850 die Landwirtschaftliche Lehranstalt Poppelsdorf als Dozent für Landwirtschaft in Unfrieden verlassen hatte. Er hatte bei der Begegnung offensichtlich eindrucksvolle Ergebnisse seines theoretischen und praktischen Wirkens durch Konsolidationsmaßnahmen im Herzogtum Nassau vorstellen können. 2. Die Forderung der Mitglieder, der preußische Staat möge für die empfohlenen neuen landeskulturellen und agrarstrukturellen Förderungsmaßnahmen in der Rheinprovinz entsprechend geeignete und wissenschaftlich vorgebildete rheinische Beamte heranbilden. Dabei wurde der Begriff „rheinische Beamte“ nicht näher bestimmt. Damit war bereits in den 1860er Jahren ein fachlich-wissenschaftlich plausibler Ausweg aus dem unvorhersehbaren Direktoren-Interregnum der Jahre 1869/70 vorgezeichnet.

5 Der Aufstieg der Landwirtschaftlichen Akademie in Poppelsdorf zur Landwirtschaftlichen Hochschule Bonn-Poppelsdorf Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland war zur Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt vom Abstieg der Agrargesellschaft sowie vom Aufstieg zur Industriegesellschaft. Nur etwa 50 Prozent aller Erwerbstätigen arbeiteten in der Land- und Forstwirtschaft (im Jahre 1800 waren es noch etwa 80 Prozent), etwa 28 Prozent arbeiteten bereits in der Industrie (im Jahre 1800 waren es etwa 10 Prozent) und etwa 12 Prozent im Dienst94 Vgl. PrGS., 1869, S. 514. 95 Vgl. PrGS., 1872, S. 329. 96 Vgl. PrGS., 1913, S. 285.

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leistungssektor (im Jahre 1800 waren es etwa 10 Prozent). Damit verbunden war eine zunehmende Landflucht. Hinzu kamen erste Anzeichen einer internationalen Agrarkrise, insbesondere auf den Getreidemärkten, sowie die Wirkungen des Deutschen Krieges von 1866 und des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71. Auch die wissenschaftlich-organisatorischen Thesen Justus von Liebigs aus dem Jahre 1861 waren noch nicht völlig aufgearbeitet. Während dieser Entwicklungen wurde Friedrich Wilhelm Dünkelberg zum 1. April 1871 die kommissarische Leitung der Königlich Preußischen Landwirtschaftlichen Akademie in Poppelsdorf übertragen. Am 8. April 1872 wurde er zum Direktor der Akademie ernannt. Zuvor war er als Lehrer für Landwirtschaft und Kulturtechnik am Königlich Preußischen Landwirtschaftlichen Institut Hof Geisberg bei Wiesbaden und zugleich als Generalsekretär des Vereins Nassauischer Land- und Forstwirte tätig gewesen. Schon zuvor hatte er als Dozent in Merchingen bei Merzig und in Poppelsdorf gelehrt. Am 4. Mai 1850 hatte er seine Promotion in Jena abgeschlossen. Im gleichen Jahr erfolgte auch seine Habilitation in Poppelsdorf durch ministerielle Einzelentscheidung. Für seine diesbezüglichen Verdienste erhielt er im Jahre 1861 von Herzog Adolf von Nassau den Professorentitel.97 Über die Hintergründe der Berufung Dünkelbergs nach Poppelsdorf gibt es in der Geschichtsschreibung einige Mutmaßungen: So habe seine Veröffentlichung „Die Landwirtschaft und das Kapital“ aus dem Jahre 1860 zweifelsfrei öffentliche Aufmerksamkeit erweckt. In polemischer Art und Weise hatte er darin über die Wirkungen der „mit Kapital gesättigten englischen Landwirtschaft“ berichtet. Dies habe auch die Aufmerksamkeit des damaligen Preußischen Ministers für Landwirtschaft, Domänen und Forsten auf ihn gelenkt und schlussendlich zu seiner Berufung geführt. Ebenfalls angeführt wurde, Dünkelberg sei über den Einsatz des damaligen sehr umtriebigen preußischen Abgeordneten Ernst Senfft von Pilsach98 beim zuständigen Fachminister berufen worden. Bisher unbeachtet blieb jedoch Dünkelbergs Rolle bei der Erörterung der staatlichen Förderung zur Verbesserung der landeskulturellen und agrarstrukturellen Verhältnisse, insbesondere der überkommenen Grundstücksstrukturen. Die bereits vorstehend erwähnte Exkursion der Konsolidationskommission im Juli 1860 führte unter anderem in Oberursel (Herzogtum Nassau) zur Begegnung mit Dünkelberg. Sie hinterließ offensichtlich nachhaltigen und fachlich großen Eindruck, wie dem Exkursionsbericht zu ent97 Vgl. Müller, Curtius, Friedrich Wilhelm Dünkelberg, gestorben am 11. August 1912. Nachruf, in: Zeitschrift für Vermessungswesen 41 (1912), S. 746–752. 98 Ernst von Senfft-Pilsach, geb. 24.5.1795 auf Schloss Reck bei Harnm/gest. 13.11.1862 in Gramenz, Krs. Neustettin in Pommern; u. a. ab 1829 persönliche Freundschaft mit Kronprinz Friedrich Wilhelm, ab 1840 persönlicher Berater des Königs Friedrich Wilhelm IV., ab 1845 Geheimer Oberfinanzrat und Initiator umfänglicher landeskultureller/kulturbautechnischer Meliorationsprojekte in Hinterpommern und Westpreußen, von 1852 bis 1866 Regierungspräsident in Stettin und zugleich Oberpräsident für Pommern, ab 1855 Mitglied des Preußischen Herrenhauses.

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nehmen ist. Dies führte zu der Forderung des Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen, anstehende landeskulturelle und agrarstrukturelle Förderungsmaßnahmen in Rheinpreußen nur mittels rheinischer Fachbeamter auszuführen. Diese mussten jedoch akademisch noch entsprechend ausgebildet werden. Es ist anzunehmen, dass hier gleichgerichtete Interessen zueinander geführt haben, was durchaus im Interesse des auch im Kulturbau Hinterpommerns erfahrenen Ernst von Senfft-Pilsach gelegen haben dürfte.99 Am 16. und 17. Mai 1872 beging die Königlich Preußische Landwirtschaftliche Akademie zu Poppelsdorf unter dem neu berufenen Direktor Dünkelberg ohne Berliner Repräsentanz ihr 25-jähriges Bestehen – mit Lehrkräften und Lehrmöglichkeiten gut ausgestattet, aber wegen fehlender Studenten in ihrer Existenz bedroht. Ein nahender Aufschwung war wegen der anhaltenden internationalen Agrarkrise nicht zu erwarten. Gleichwohl wandte Dünkelberg seine Aufmerksamkeit zunächst einer weiteren inneren Strukturverbesserung von Lehre und Forschung zu. Die Ausbildung der Studenten in der Landwirtschaftswissenschaft wurde qualitativ stringent den neuzeitlichen Bedürfnissen angepasst. Das Kollegium der Professoren und Dozenten wurde dabei umsichtig neu strukturiert. Auch die Möglichkeiten in Lehre und Forschung wurden maßvoll ausgebaut. Die ersten Institute entstanden an der Akademie. Außerdem eröffnete Dünkelberg alsbald mit Zustimmung des Preußischen Ministers für Landwirtschaft, Domänen und Forsten Karl Rudolf Friedenthal100 auch zusätzliche neue Möglichkeiten für Lehre und Forschung: In der Landeskultur und Kulturtechnik mit entsprechenden Studienund Prüfungsordnungen ab dem Jahre 1876 sowie in der Geodäsie mit entsprechenden Studien- und Prüfungsordnungen ab dem Jahre 1880. Der neu eingerichtete Studiengang für Kulturtechnik ging zum Leidwesen Dünkelbergs alsbald im neuen Studiengang für Geodäsie auf. Die Anzahl der Professoren und Dozenten stieg von zehn im Jahre 1860 auf 15 im Jahre 1870, 17 im Jahre 1880, 21 im Jahre 1890 sowie 23 im Jahre 1897. Die Anzahl der Studenten für die Wissenschaftsbereiche Landwirtschaft, Kulturtechnik und Geodäsie stieg innerhalb von 25 Jahren von 22 im Sommersemester 1872 auf 440 Studenten im

 99 Dieser spezielle personale Zusammenhang wäre jedoch anhand entsprechender Quellen/Archivalien noch näher zu erforschen und zu belegen. Kein Verständnis kann jedoch die wiederholt in der Literatur geäußerte, ehrverletzende, Vermutung finden, für Dünkelberg existiere kein abgeschlossenes Promotionsverfahren. Vgl. dazu Wenig, Verzeichnis, S. 60 sowie Krampitz, Lehre, S. 50. Noch im Nachruf zu Dünkelberg, verfasst vom damaligen Kollegen Curtius Müller, ist der Promotionsvorgang hinreichend dokumentiert. Vgl. Müller, Dünkelberg, S. 746–752. Eine entsprechende Anfrage beim Archiv der Universität Jena könnte Gewissheit verschaffen, denn die Promotionsakten sind dort noch vorhanden. 100 Karl Rudolf Friedenthal, geb. 15.9.1827 in Breslau (jüdischer Abstammung, ev. getauft)/gest. 7.3.1890 in Giesmannsdorf bei Neiße; u. a. Großgrundbesitzer und Jurist (Studium in Breslau, Heidelberg, Berlin), 1870–1879 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, 1871–1881 Mitglied des Deutschen Reichstages, von September 1874 bis Juli 1879 Preußischer Staatsminister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten. Lehnte 1879 eine Erhebung in den Adelstand ab.

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Abb. 46  Landwirtschaftliche Akademie zu Poppelsdorf, Reprografie eines Stiches von der landwirtschaftlichen Akademie in Poppelsdorf, Druck und Verlag des Lith. Inst. d. Friedr. Wilh. Universität v. Henry & Cohen in Bonn, um 1900.

Sommersemester 1897.101 Damit hatte Dünkelberg die Poppelsdorfer Akademie aus ihrer existenzgefährdenden Entwicklung geführt und zugleich den Auftrag des Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen aus den Jahren 1860/70 hinreichend erfüllt. Die Königlich Preußische Generalkommission zu Düsseldorf konnte mit Beamten der Rheinprovinz das „Gesetz, betreffend die Zusammenlegung der Grundstücke im Geltungsbereich des Rheinischen Rechts“ vom 24. Mai 1885 ausführen.102 Die Landwirtschaftliche Akademie Poppelsdorf hat in den 50 Jahren ihres Bestehens insgesamt 3598 Studenten ausgebildet, davon 1840 im Bereich der Landwirtschaft, 387 im Bereich der Kulturtechnik und 880 im Bereich der Geodäsie.103 Lohnend für eine weitere wissenschaftliche Untersuchung erscheinen verschiedenartige Hinweise auf soziale Spannungen unter den Professoren/Dozenten und Studierenden der unterschiedlichen Lehrund Forschungsbereiche. Die Landwirtschaft wurde dabei häufig höheren gesellschaft101 Vgl. Goltz/Koll/Künzel, Festschrift, S. 27. 102 Vgl. PrGS., 1885, S. 156. 103 Vgl. Goltz/Koll/Künzel, Festschrift, S. 27.

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lichen Schichten zugeordnet, Kulturtechnik und Geodäsie dagegen eher mittleren und niedrigeren gesellschaftlichen Schichten. Verbunden mit dem Wiederanstieg der Studentenzahlen unter Dünkelbergs Direktorat ist auch der Neubau eines großen Lehrgebäudes in den Jahren 1888/90 an der Meckenheimer Allee/Ecke Nussallee.104 Ebenfalls zu nennen ist der Erwerb erforderlicher Übungsflächen für die praktischen Vermessungsübungen im Jahre 1895 in den Gemarkungen Endenich und Ippendorf mit etwa 5,5 Hektar sowie in der Gemarkung Röttgen mit etwa 9,1 Hektar. Zuvor hatte Dünkelberg das große und sehr teure Experiment einer Flächenkultivierung auf dem Annaberger Hof, im Jahre 1860 von seinem Vorgänger Hartstein initiiert, wegen Erfolgs- und Aussichtslosigkeit abgebrochen. Das Anwesen wurde im Jahre 1875 veräußert. Damit war zugleich eine dort eingerichtete Ackerbauschule verloren. Zur akademischen Neugestaltung unter Dünkelberg zählen weiterhin: ȤȤ Die „Vorschriften, betreffend die Habilitation als Privatdozent der Landwirtschaft an einer höheren landwirtschaftlichen Lehranstalt“ vom 18. Mai 1877, die in Poppelsdorf erstmalig wohl im Wintersemester 1901/02 angewandt worden sind.105 ȤȤ Die „Vorschriften, betreffend die Ausbildung und das Examen für die Lehrer der Landwirtschaft an den Landwirtschaftsschulen“ vom 9. Mai/17. November 1877, die eine gymnasiale Reifeprüfung und ein sechssemestriges wissenschaftliches Studium forderten.106 ȤȤ Die „Allerhöchste Kabinettsorder vom 20. April 1892“107, durch die allen bisherigen etatmäßigen Dozenturen in etatmäßigen Professuren mit der Bezeichnung ihrer Stelle der Rang der Räte-IV-Klasse beigelegt wurde, sofern sie nicht bereits einen höheren Rang besaßen. Sie wurden nunmehr vom König ernannt und den ordentlichen Universitätsprofessoren gleichgestellt. Damit konnte Friedrich Wilhelm Dünkelberg die Landwirtschaftliche Akademie in Poppelsdorf in eine geordnete und gesicherte Zukunft lenken. Am 1. April 1896, also genau 25 Jahre nach Antritt seines (damals kommissarischen) Direktorats, ging Dünkelberg aus Altersgründen in den selbst erbetenen Ruhestand. Er gilt heute als Begründer der Kulturtechnik als Wissenschaftsdisziplin. Bereits am 28. April 1896 konnte der bereits renommierte Agrarwissenschaftler Theodor von der Goltz108, bis dahin ordentlicher Professor 104 Hierbei wird Dünkelberg wiederholt die städtebaulich zumindest unglückliche Gestaltung der Straßenflucht (Meckenheimer Allee 172 bis 176) zugeschrieben. Er hat aber nur die alte, bereits seit Jahrzehnten vorhandene, Straßenflucht beim Bau des Lehrgebäudes für die Geodäsie (Meckenheimer Allee 172) angehalten. Vgl. Goltz/Koll/Künzel, Festschrift, S. 27, Abb. 1–3. 105 Vgl. Pr. Min.Blatt, 1877, S. 150 f. 106 Vgl. UA Bonn, Landwirtschaftliche Fakultät, Nr. 3259. 107 Vgl. UA Bonn, Landwirtschaftliche Fakultät, Nr. 1002. 108 Theodor Alexander Georg Ludwig von der Goltz, geb. 10.7.1836 in Koblenz/gest. 6.11.1905 in Bonn; u. a. von 1862 bis 1869 Dozent, in den letzten beiden Jahren bis zur Auflösung zugleich Leiter der Königlich

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für Landwirtschaft an der Universität Jena und zugleich Direktor der damit verbundenen Landwirtschaftlichen Lehranstalt, als neuer Direktor und ordentlicher Professor für Landwirtschaft und Agrarpolitik an die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn berufen werden. Er nahm damit unmittelbar alte, bewusst aufgegebene oder auch nur verlorene, Verbindungen zur Universität in Bonn wieder auf. Unter dem neuen Direktorat gewann die Landwirtschaftliche Akademie in Poppelsdorf insbesondere an innerer Stabilität. In Ansätzen konnten die naturwissenschaftlichen Schwerpunkte in der landwirtschaftlichen Lehre und Forschung, die durch das Wirken Justus von Liebigs gefordert worden waren, zurückgeführt und dafür die landwirtschaftlich-betriebswirtschaftlichen Aspekte in Lehre und Forschung stärker gefördert werden. Von der Goltz war dabei in der Lage, die unterschiedlichen Kräfte der Akademie zu bündeln und zu deren Vorteil einzusetzen. Die im Jahr 1892 noch unter dem Direktorat von Dünkelberg erreichte Gleichstellung von Akademieprofessoren und Universitätsprofessoren erleichterte diesen Ausgleich. Sein besonderes Interesse galt vollumfänglich der Erneuerung der fachlichen und persönlichen Verbindungen zur Universität Bonn sowie zum Direktorium des Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen. Dabei erreichte die Landwirtschaftliche Akademie auch erhebliche Etataufstockungen für bedeutsame Baumaßnahmen: ȤȤ Ein neues Institutsgebäude für Bodenlehre und Pflanzenbau entstand in den Jahren 1899/00 am heutigen Katzenburgweg 5; ȤȤ ein neues Institutsgebäude für die Tierphysiologie entstand zur gleichen Zeit am heutigen Katzenburgweg 7–9; ȤȤ ein neues Institutsgebäude für Tierzucht und Molkereiwesen entstand in den Jahren 1904/06 an der heutigen Nussallee 5; ȤȤ ein neues Hauptlehrgebäude für die Landwirtschaft entstand in den Jahren 1906/08 an der heutigen Nussallee 1. Die alte Poppelsdorfer Gutswirtschaft war in den Jahren 1903/05 geschlossen worden. All dies ermöglichte eine hervorragende Berufungsstrategie für die Akademie. Zugleich wurde offensichtlich, dass die seit Jahrzehnten andauernde weltweite Agrarkrise langsam ausklang. Neue Hoffnungen zeigten sich. Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt vom Aufstieg zur Industriegesellschaft. Nur noch etwa 40 Prozent aller Erwerbstätigen arbeiteten im Jahre 1900 in der Land- und Forstwirtschaft (im Jahre 1850 waren es etwa 60 Prozent). Etwa 40 Prozent arbeiteten zu dieser Zeit bereits in der Industrie (im Jahre 1850 Preußischen Landwirtschaftlichen Akademie in Waldau bei Königsberg. Danach bis 1885 Professor für Landwirtschaft an der Philosophischen Fakultät der Universität Königsberg. Anschließend in gleicher Stellung an der Universität Jena, zugleich Direktor der Großherzoglich Sächsischen Lehranstalt für Landwirtschaft in Jena bis zum Ruf nach Bonn 1895. Vgl. auch Wenig, Verzeichnis, S. 93.

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waren es etwa 28 Prozent), weitere 20 Prozent im Dienstleistungssektor (im Jahre 1850 waren es etwa 12 Prozent). Hier bietet sich erneut ein Blick auf die landeskulturellen und agrarstrukturellen Entwicklungen der vergangenen zwei Jahrzehnte an. Das Zusammenlegungsgesetz war im Jahre 1885 erlassen worden. Im Regierungsbezirk

war die durchschnittliche Parzellengröße im Jahre 1870

war die durchschnittliche Parzellengröße im Jahre 1906

Aachen

31,8 a

24,8 a also – 7,0 a = −22%

Düsseldorf

59,9 a

50,3 a also – 9,6 a = −16%

Koblenz

13,5 a

8,6 a also – 4,9 a = −36%

Köln

20,8 a

18,3 a also – 2,5 a = −12%

Trier

18,2 a

13,2 a also – 5,0 a = −27%

Tab. 4  Durchschnittliche Parzellengröße in den rheinischen Regierungsbezirken 1870 und 1906.

Trotz intensiver Zusammenlegungstätigkeiten der Preußischen Generalkommission zu Düsseldorf wurden die land- und forstwirtschaftlich genutzten Parzellen in der Rheinprovinz durchschnittlich deutlich kleiner. Die Ursachen vermutete man in unterschiedlichen Realteilungssitten, noch laufenden Gemeinheitsteilungen, vor allem aber in den deutlich steigenden Bevölkerungszahlen bei zurückgehender Kindersterblichkeit. Stringente Nachweise für diese Zusammenhänge liegen nur vereinzelt für örtliche Gegebenheiten vor. Nachhaltige Wirkung der Lehrtätigkeit der Landwirtschaftlichen Akademie Poppelsdorf mit ihren Schwerpunkten Kulturtechnik und Geodäsie wird jedoch nicht offenbar. Etwa zeitgleich zeigten sich neue bildungspolitische Entwicklungsmöglichkeiten, um die Strukturprobleme der Land- und Forstwirtschaft im Königreich Preußen zu beseitigen: Ein leistungsfähiges landwirtschaftliches Unterrichtswesen sollte auf- und ausgebaut werden – dafür waren die erforderlichen Landwirtschaftslehrer wissenschaftlich auszubilden.109 Den niederen landwirtschaftlichen Bildungseinrichtungen, wie Ackerbauschulen, Winterschulen, Spezialschulen für den Weinbau, den Obstbau etc., oblag dabei vor allem die fachliche Ausbildung des angehenden Berufsstandes. Ihre Trägerschaft war in kommunalen Verbänden oder landwirtschaftlichen Korporationen organisiert. Den mittleren landwirtschaftlichen Bildungseinrichtungen, in der Regel den Landwirtschaftsschulen, oblag dabei die Verbesserung der Allgemeinbildung sowie eine gehobene theoretisch-landwirtschaftliche Fachausbildung. Ihre Trägerschaft war regelmäßig bei den Landwirtschaftskammern oder größeren Kommunen mit staatlicher Finanzhilfe

109 Vgl. Oldenburg, Gustav, Das landwirtschaftliche Unterrichtswesen im Königreich Preußen, zugleich landwirtschaftliche Schulstatistik für die Jahre 1909 und 1911, Berlin 1913.

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organisiert.110 Die Ausbildung der benötigten Landwirtschaftslehrer wurde den Universitäten, Landwirtschaftlichen Hochschulen und Akademien übertragen. Den politischen Willen, sie für diese neuen Aufgaben entsprechend auszubauen, dokumentieren unter anderem die vorstehend erwähnten Etataufstockungen für das Personal sowie die Institutsneubauten der Poppelsdorfer Akademie. Die Anzahl der Studienanfänger für die Landwirtschaftswissenschaft stieg langsam wieder an, die Zahl überschritt im Falle der Geodäsie gar einen ersten Höhepunkt. In dieser Umbruchphase verstarb der damalige Akademiedirektor Theodor von der Goltz am 6. November 1905. Die Berufung eines Nachfolgers als Direktor der Königlich Preußischen Landwirtschaftlichen Akademie in Bonn-Poppelsdorf gestaltete sich offensichtlich schwierig. Zunächst fiel die Leitung der Akademie dem dienstältesten Dozenten Ulrich Kreusler111 zu; er hatte Direktor von der Goltz schon während dessen mehrjähriger Krankheit häufig vertreten. Im zuständigen Preußischen Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten standen weiterhin unter anderem der Nationalökonom und Agrarwissenschaftler Max Sering112 sowie der Agrarwissenschaftler Karl von Rümker113 zur engeren Diskussion. Gleichwohl wurde zum 1. April 1906 der bisherige geschäftsführende Akademiedirektor Kreusler, zugleich Professor der Chemie an der Akademie, zum Direktor bestellt. Damit stand erstmals ein Nichtlandwirt der Akademie vor. Kreusler führte die Amtsgeschäfte mit großer Sorgfalt und Zurückhaltung. Er achtete vor allem darauf, die von seinem Amtsvorgänger von der Goltz initiierten Entwicklungen der Akademie fortzuführen und zu vollenden. Von besonderer administrativer Bedeutung waren dabei die stringente Einführung einer speziellen „Ordnung für Abgangsprüfungen an der Landwirtschaftlichen Akademie in Poppelsdorf “ vom 24. Juli 1897 sowie die allgemeine „Ordnung der Diplomprüfung für studierende Landwirte an höheren landwirtschaftlichen Lehranstalten in Preußen“ vom 20. März 1909. Sie ersetzten das bisherige Abschlussexamen, woraus letztlich mittels Neufassung vom 24. Juli 1922 der akademische Grad „Diplomlandwirt“ hervorging. Die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges stetig wachsende Zahl an Studenten bedingte zwingend weitere bauliche Ergänzungsmaßnahmen. So wurde im Herbst 1912 110 Hagemann, Oskar, Die Landwirtschaftliche Hochschule Bonn-Poppelsdorf, Sonderabdruck aus der Kölnischen Zeitung vom 30.8.1924, Nr. 614a. 111 Ulrich Kreusler, geb. 4.11.1844 in Arolsen/gest. 18.10.1921 in Bonn; u. a. ab Mai 1873 Dozent für Agrikulturchemie an der Akademie in Poppelsdorf, ab Dezember 1880 Professor für Agrikulturchemie an der Akademie in Poppelsdorf. 112 Max Sering, geb. 18.1.1857 in Barby/gest. 12.11.1939 in Berlin; u. a. ab November 1885 Professor für Nationalökonomie an der Universität Bonn und zugleich der Akademie in Poppelsdorf, ab Oktober 1889 Professor an der Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin, ab Juli 1893 Professor an der Universität Berlin. Vgl. auch Wenig, Verzeichnis, S. 291. 113 Karl von Rümker, geb. 23.7.1859 in Heiligenbrunn bei Danzig/gest. 4.2.1940 in Berlin; u. a. ab 1895 Professor für Pflanzenbau an der Universität Breslau, ab 1912 an der Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin. Er gilt als Begründer der wissenschaftlichen Pflanzenzüchtung in Deutschland.

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entschieden, das Lehrgebäude für die Naturwissenschaften (heute Meckenheimer Allee 176) um eine Etage aufzustocken sowie um einen neuen Hörsaaltrakt nach Südwesten hin zu erweitern. Das Lehrgebäude für die Geodäsie wurde im zweiten Obergeschoss wesentlich umgestaltet, um die Hörsaalkapazität zu erhöhen. Die gesamten Baumaßnahmen konnten im Wintersemester 1914/15 weitestgehend abgeschlossen werden. Eine Vielzahl von Studenten (etwa 330) und Dozenten (etwa zehn) waren bereits zu Beginn des Ersten Weltkrieges einberufen worden; ausländische Studenten und Dozenten gingen der Akademie teilweise durch Verhaftung oder Internierung verloren. Dennoch musste die Akademie ihre Pforten während der Kriegsjahre nicht schließen. Zum 1. August 1919 ging Ulrich Kreusler nach Krieg und Revolution in den Ruhestand. Er war amtsmüde und sah sich den neuen Herausforderungen, die auf die Akademie zukamen, nicht mehr gewachsen. Er war deren sechster und zugleich letzter Direktor. Die Zeit der Königlich Preußischen Landwirtschaftlichen Akademie in Bonn-Poppelsdorf ging zu Ende. Mit Beschluss der preußischen Staatsregierung unter Ministerpräsident Paul Hirsch114 wurde die Poppelsdorfer Akademie am 2. April 1920 in den Rang einer Landwirtschaftlichen Hochschule mit Rektoratsverfassung und Promotionsrecht erhoben.115

114 Paul Hirsch, geb. 17.11.1868 in Prenzlau/gest. 1.8.1940 in Berlin; er war u. a. als SPD-Politiker Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, vom 12.11.1918 bis 24.3.1920 Ministerpräsident in Preußen. 115 Bekanntmachung des Preußischen Ministers für Landwirtschaft, Domänen und Forsten vom 1.11.1919 betr. Umwandlung der Landwirtschaftlichen Akademie Bonn-Poppelsdorf in eine Landwirtschaftliche Hochschule mit Rektoratsverfassung und Promotionsrecht, Min.Blatt, 1919, S. 379 f.

Wirtschaft und Finanzen im Wandel

Schmuggel am Rhein während der Napoleonischen Kriege Margrit Schulte Beerbühl

I. Einleitung Die zahlreichen Kriege im 18. Jahrhundert riefen wiederholt Handelsrestriktionen und -unterbrechungen hervor, denn England und Frankreich lagen, wenn auch nicht fortwährend, über insgesamt 68 Jahre im Krieg. François Crouzet sprach aus diesem Grund vom „Zweiten Hundertjährigen Krieg”1 zwischen beiden Ländern. Diese Nationen waren nicht die einzigen kriegführenden Staaten. Neben den beiden Rivalen waren mehr oder weniger alle europäischen Staaten zeitweise im Kriegszustand, etwa im Spanischen Erbfolgekrieg, in den Schlesischen Kriegen oder im Siebenjährigen Krieg. Die kriegerischen Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft zur See und zu Land gipfelten in den Koalitionskriegen zwischen 1792 und 1815. Sie waren von Beginn an nicht allein militärischer oder politischer Natur, sondern vor allem Wirtschaftskriege, die den Zugang zu neuen und begehrten Ressourcen sichern beziehungsweise blockieren sollten. Als die Koalitionskriege begannen und die französischen Revolutionäre 1794 das linke Rheinufer und 1795 die Niederlande besetzten, blickten die Kaufleute auf eine lange Tradition zurück, Handelsbeschränkungen und -unterbrechungen zu umgehen. Sie hatten sich mehr oder weniger daran gewöhnt, in der Grauzone am Rande der Legalität und sogar in der Illegalität zu arbeiten. Dies veranlasste Gustav Schmoller zu der Bemerkung, dass die Geschichte des Handels im 18. Jahrhundert eigentlich eine Geschichte des Schmuggels sei.2 Trotz dieser Schwierigkeiten hatten Kaufleute und Unternehmer auch aus dem Alten Deutschen Reich ihre Handelsbeziehungen bis in die entferntesten Winkel der Welt ausgedehnt. Napoleon Bonapartes (1769–1821) Wirtschafts- und Blockadepolitik zielte zwar primär auf eine Schädigung Großbritanniens hin, doch vor dem Hintergrund der weltweiten Handelsbeziehungen sowie der interregionalen Arbeitsteilung im westdeutschen Raum unterbrach er nicht allein etablierte Handelsbeziehungen, sondern trennte auch transnationale Familien- und Verwandtschafts- sowie Landsmannschaftsbande international 1 Crouzet, François, The Second Hundred Years War: Some Reflections, in: French History 10 (1996), S. 432–450. 2 Schmoller, Gustav, Das preußische Handels- und Zollgesetz vom 26. Mai 1818 im Zusammenhang mit der Geschichte ihrer Zeit, der Kämpfe und Ideen, Berlin 1898, S. 18.

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operierender Handelsfamilien. Seine Wirtschaftssanktionen gegen Großbritannien und seine rigide Protektionspolitik zugunsten der jungen französischen Industrie brachten die merkantilen und gewerblichen Kreise Europas, nicht nur in den okkupierten Landstrichen, gegen ihn auf. Vincent Nolte (1770–1856), ein deutscher Kaufmann, der die Besetzung Livornos 1796 durch die napoleonischen Truppen und später die Auswirkungen auf Hamburg erlebte, bemerkte in seiner Autobiografie, dass Napoleon überall als der „Todfeind allen Kommerzes“ betrachtet wurde.3 Mehr oder weniger alle Gesellschaftsschichten suchten deshalb Mittel und Wege zu finden sowie Auswege und Schlupflöcher zu entdecken beziehungsweise offenzuhalten. Der folgende Beitrag wird sich zwar schwerpunktmäßig mit dem heimlichen Handel im Rheinland und im Bergischen Land nach der Besetzung der linken Rheinseite und der Verhängung der Zollgrenze durch die französischen Revolutionäre und Napoleon befassen, doch ist festzuhalten, dass der regionale Handel und Schmuggel unmittelbar mit dem maritimen verbunden war. Während der Koalitionskriege entstanden um das europäische Festland herum auf den vorgelagerten Inseln wie Helgoland, den Kanaren oder Malta sowie an den Küsten Schmuggelnester. Schlupflöcher und heimliche Depots entwickelten sich mehr oder weniger auch auf der gesamten Rheinlänge und auf den Inseln im Fluss. Natürliche geologische Gegebenheiten begünstigten ihr Entstehen, so das Wattenmeer an der norddeutschen Küste und am Niederrhein, vor der Begradigung des Rheins, die Nebenarme und angrenzenden Feucht- und Sumpfgebiete. Diese natürlichen Verhältnisse bargen Gefahren, die von der lokalen Bevölkerung eingeschätzt und umgangen werden konnten, für Ortsfremde jedoch Schwierigkeiten und schwer kalkulierbare Risiken mit sich brachten. Die wissenschaftliche Erforschung der informellen Ökonomie des Schmuggels stellt den Forscher vor erhebliche Schwierigkeiten, da Schmuggler es so weit wie möglich vermieden, Spuren zu hinterlassen. Sofern Informationen überliefert sind, stammen sie vorwiegend aus lokalen Polizeiakten. Sie erfassen zum einen hauptsächlich nur die kleinen Akteure am Ende der Schmuggelkette und zum anderen vermerken sie lediglich einen lokalen, allenfalls regionalen Ausschnitt eines Schmugglerrings. Gerade während der Koalitionskriege waren die kleinen Schmuggler nur das Endglied internationaler Schmugglernetze. Aufgrund der quellenmäßigen Schwierigkeiten ist die Forschung weitgehend getrennte Wege gegangen, indem sie sich entweder nur mit den lokalen und regionalen Schmuggelaktivitäten auf dem Festland oder nur mit den maritimen befasst. Im Rahmen dieses Beitrags liegt zwar der Schwerpunkt auf dem Schmuggel entlang des Rheins, doch sollen, soweit möglich, Verbindungen zwischen dem regionalen und lokalen Schmuggel und dem maritimen aufgedeckt werden. Aus diesem Grunde wird zunächst ein kursorischer Überblick über die Handelsmärkte rheinischer und bergischer 3 Nolte, Vincent, The Memoirs of Vincent Nolte, reprint New York 1934, S. 40.

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Gewerbezweige gegeben werden, bevor auf den Schmuggel während der Napoleonischen Kriege entlang der Rheingrenze und die Akteure eingegangen wird.

II. Weltweite Märkte Das Bergische Land, die Grafschaft Mark bis hoch nach Hannover sowie der Niederrhein waren in der Frühen Neuzeit Zentren des Leinen-, Garn- und Seidengewerbes, das Bergische Land war darüber hinaus bekannt für seine Eisen- und Metallwarenproduktion. Diese protoindustrialisierten Gebiete waren nicht allein von Importen abhängig, sondern produzierten vor allem auch für den Export. Die Absatzgebiete der bergischen textilerzeugenden und -verarbeitenden Gewerbe sowie der Eisen-und Stahlindustrie lagen in ganz Europa. Über holländische und norddeutsche Häfen gelangten die Waren in die afrikanischen und amerikanischen Kolonien. In umgekehrter Richtung belieferten holländische und deutsche, im Ausland lebende Kaufleute die westdeutschen Produzenten mit Rohstoffen und Halbfertigwaren wie Wolle aus Spanien, Rohseide aus Italien und der Schweiz, Rohbaumwolle und die notwendigen Zusatzstoffe wie Seife, Öle und Naturfarbstoffe aus der Neuen Welt und aus Asien. Aus der Karibik kamen auch die begehrten Kolonialwaren, Zucker, Kaffee und Kakao. Deutsche Händler und Unternehmer hatten im Laufe des 18. Jahrhunderts ein weltweites Handelsnetz aufgebaut, das im Wesentlichen auf familiären, freundschaftlichen oder landsmännischen Verbindungen beruhte. Sie saßen in den führenden Handelsund Hafenstädten Europas, die die Tore zum außereuropäischen Handel bildeten. Kaufleute beispielsweise aus dem Bergischen Land, aus Wuppertal, Remscheid oder Solingen besaßen Handelsniederlassungen in London, Cádiz oder Amsterdam. Besonders beliebt war eine Niederlassung in London, dem führenden Finanz- und Handelszentrum der Welt. In der britischen Hauptstadt fanden deutsche Immigranten die notwendige Infrastruktur für einen weltweiten Handel, die ihnen in der Heimat fehlte. Hier standen ihnen nicht allein der führende Kapitalmarkt, die großen Versicherungen und der britische Kolonialmarkt offen, sondern Waren, die sie in der Heimat bestellt hatten, wurden unter dem Schutze der britischen Marine auf den Meeren transportiert. Bedingt durch die zahlreichen Kriege und die verbreitete Piraterie war ein solcher Schutz nicht unwesentlich. In London konnten zudem aufgrund des Preisgefälles zwischen dem Alten Reich und Großbritannien deutliche Gewinne erzielt werden. Seit der Unabhängigkeit der USA entwickelte sich außerdem ein starker Direktverkehr zwischen den norddeutschen Hafenstädten und Amerika, der zuvor durch die britische Navigationsakte verhindert worden war. Die Zahl der deutschen Jungkaufleute, die Niederlassungen an der amerikanischen Ostküste eröffneten, nahm seit 1790 sprunghaft zu. Nach Großbritannien stieg Deutschland zum zweitwichtigsten Handelspartner der USA während der Koalitionskriege auf. Die Bedeutung der Neuen Welt für das Textil-

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gewerbe veranlasste Herbert Kisch zu der Feststellung, das rheinische Textilgewerbe sei zu einem „integralen Bestandteil der ‚atlantischen Wirtschaft‘“ geworden.4 Bedingt durch die politische Zersplitterung – gerade im Westen des Reiches – waren die deutschen Kleinstaaten auf der rechten Seite des Rheins selbst auf den Import lebensnotwendiger Güter angewiesen. So bestanden ein reger Austausch und eine weit entwickelte Arbeitsteilung zwischen den rechtsrheinischen und den linksrheinischen Gebieten. Beispielsweise orderten Händler aus dem Herzogtum Berg Baumwolle in Amsterdam oder London und Leinengarn in Braunschweig oder Hessen, um es am linken Niederrhein oder im Bergischen zu Leinenstoffen zu verarbeiten. Im Wuppertal, das wegen seiner Bleiche berühmt war, wurden Garne und Stoffe gebleicht. Gefärbt wurden sie aber auf der linken Rheinseite. Tabakfabrikanten in Köln bezogen vor den französischen Revolutionskriegen amerikanischen Rohtabak üblicherweise von der rechten Rheinseite und verkauften ihn nach der Verarbeitung wieder auf rechtsrheinischen Märkten. Das Bergische Land erhielt das für die Ernährung seiner Bevölkerung notwendige Getreide vom linken Niederrhein. Neuss war der zentrale Getreideumschlagplatz.5

III. Heimlicher Handel während der Koalitionskriege Nachdem die französischen Truppen die linke Rheinseite besetzt und 1798 den Rhein zur Zollgrenze erklärt hatten, wurde der Fluss nicht nur eine politische, sondern auch eine ökonomische Grenze. Rechtsrheinische Holzhändler, Textilproduzenten und Gerber verloren ihre Märkte in den Niederlanden, die Territorien von Berg und Mark wurden von ihrer linksrheinischen Getreidezufuhr abgeschnitten, das rechtsrheinische Leinengewerbe verlor seine weiterverarbeiteten Industrien, wie die Färbereien, und auf beiden Seiten litten große Teile der Bevölkerung unter Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit. Aus der Not geboren wurde in dieser Periode das Schmuggeln, wie Roger Dufraisse bemerkte, ein lukratives „métier secondaire“.6 4 Kisch, Herbert, Die Textilgewerbe in Schlesien und im Rheinland. Eine vergleichende Studie zur Industrialisierung, in: Kriedte, Peter/Medick, Hans/Schlumbohm, Jürgen (Hgg.), Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Lande in der Transformationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1978, S. 350–386, hier S. 367. 5 Wisplinghoff, Erich, Geschichte der Stadt Neuss, Teil 2: Neuss unter französischer Herrschaft 1794–1813 (Schriftenreihe des Stadtarchivs Neuss, Bd. 10, 2), Neuss 1987, S. 58; zu Handel und Wirtschaft im Rheinland vgl. ausführlich Schnurmann, Claudia, Der Handel in den Rheinlanden im 18. Jahrhundert, in: Ebeling, Dietrich (Hg.), Aufbruch in eine neue Zeit. Gewerbe, Staat und Unternehmen in den Rheinlanden des 18. Jahrhunderts (Der Riss im Himmel. Clemens August und seine Epoche, Bd. 8), Köln 2000, S. 33– 53; Gorißen, Stefan, Gewerbe, Staat und Unternehmer auf dem rechten Rheinufer, in: Ebeling, Aufbruch, S. 59–85; ders., Gewerbe im Herzogtum Berg vom Spätmittelalter bis 1806, in: ders. (Hg.), Geschichte des Bergischen Landes, Bd. 1: Bis zum Ende des alten Herzogtums 1806, Bielefeld 2014, S. 407–468. 6 Dufraisse, Roger, La Contrebande dans les départements réunis de la rive gauche du Rhin à l’époque napoléonienne, in: Francia 1 (1973), S. 508–536, hier S. 515.

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Der Schmuggel oder Schleichhandel ist Teil einer informellen Ökonomie, deren Akteure sich rechtlichen Vorschriften und Beschränkungen widersetzen oder diese unterlaufen und damit den Staat herausfordern. Der Schmuggel kann sehr verschiedene Formen annehmen. Während der Koalitionskriege dominierten zwei Arten von informellen Praktiken, zum einen fraude, eine illegale Praxis, um hohe Zolltarife auf Export- und Importgüter zu umgehen, und zum anderen contrebande, der illegale Import oder Export verbotener Güter.7 Fraude ist eine informelle Praktik, die überall dort existiert, wo Grenzen den Transfer von Waren und Menschen erschweren oder zu verhindern suchen. Sie gehört zum Alltag von Grenzregionen.8 Diese Schatten- beziehungsweise informellen Ökonomien stellen zwar einerseits staatliche Ordnungen in Frage und werden mit Sanktionen beantwortet, doch sind sie andererseits für die kleinen Akteure oft ein wichtiger Nebenerwerb und Antwort auf Unterbeschäftigung, Arbeitslosigkeit und Not. Diese Akteure operieren meist nur im kleinen Raum, zum einen, weil sie nur über begrenzte Mittel verfügen, und zum anderen, weil sie auf lokales Wissen und vertrauenswürdige lokale Sozialbeziehungen angewiesen sind, um erfolgreich agieren zu können.9 Fraude wurde nicht nur am Rhein während der Koalitionskriege ausgeübt, sondern auch vorher schon. Dufraisse hat darauf hingewiesen, dass beide Arten der informellen Ökonomie während der französischen Zeit ganz unterschiedliche Strafmaße nach sich zogen: Fraude wurde maximal mit sechs Monate Gefängnis, contrebande dagegen konnte mit fünf Jahren Gefängnis, Zwangsarbeit und sogar Tod bestraft werden.10 Eine Begleiterscheinung der informellen Ökonomie stellen bei der Einfuhr und Ausfuhr von Waren die Fälschung von Papieren sowie Scheinlieferungen dar. Während diese Praxis sich im illegalen Raum bewegt, sind in vielen Fällen die Grenzen zwischen legalem und illegalem Handeln fließend und lassen sich nicht immer eindeutig bestimmen. Recht und Unrecht sind zudem abhängig von den jeweiligen Gesetzeslagen. Der Transport der Waren, ihr Umfang oder auch die Route können sowohl legale wie illegale Elemente enthalten. Bei grenzüberscheitendem Warenverkehr kann der Transport im einen Land legal sein, jedoch beim Übertreten der Grenze illegal werden, sei es, weil der Import verboten ist, sei es, weil die Warenmenge den erlaubten Umfang überschreitet. Da während der Koalitionskriege Gebote und Verbote in rascher Folge je nach Kriegslage wechselten, waren auch hier die Grenzen zwischen legaler und illegaler Praxis fließend.   7 Finzsch, Norbert, Obrigkeit und Unterschichten. Zur Geschichte der rheinischen Unterschichten gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1990, S. 200; Dufraisse, Contrebande, S. 518– 520.   8 Zur Einbettung der informellen Ökonomien in das Alltagsleben s. die neueren Arbeiten von Wagner, Mathias, Die Schmugglergesellschaft. Informelle Ökonomien an der Ostgrenze der Europäischen Union. Eine Ethnographie, Bielefeld 2011; Bruns, Bettina/Miggelbrink, Judith (Hgg.), Subverting Borders. Doing Research on Smuggling and Small-Scale Trade, Wiesbaden 2012.   9 Bruns/Miggelbrink, Borders, S. 11. 10 Dufraisse, Contrebande, S. 508.

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Norbert Finzsch und Dufraisse unterscheiden verschiedene Schmugglergruppen, die Gelegenheitsschmuggler und die professionellen Schmuggler, die zum Teil bandenmäßig organisiert waren.11 Während diese beiden Gruppen die unmittelbare regionale oder lokale Organisation und den Transport übernahmen, standen den großen Akteuren, das heißt den Kaufleuten und Unternehmern, vielseitigere Instrumente zur Verfügung. Letztere organisierten die Unterwanderung der Grenzen und Blockaden im großen internationalen Stil, zum Teil in Kollaboration mit den kriegführenden Parteien, durch Bestechung, Lobbying oder Ausnutzung von Lücken. Sie waren dabei abhängig von denjenigen, die den Transport übernahmen. Beide Gruppen waren in ein wechselseitiges Netz von Abhängigkeiten eingebunden, das über Erfolg beziehungsweise Misserfolg entschied. Lange vor dem Ausbruch der Koalitionskriege hatten Geschäftsleute Mittel und Wege gefunden, Zölle wie den Kölner Stapel zu umgehen. Schon im 17. Jahrhundert brachten Händler aus Mark und Berg ihre Waren nach Wesel, um sie von dort aus preiswerter zu verschiffen. Duisburg, Düsseldorf, Ruhrort und kleinere Städte wie Mülheim und Hitdorf profitierten von der weit verbreiteten Praxis, den Kölner Stapel zu umgehen.12 Nach dem Siebenjährigen Krieg verschob sich der Handel deswegen mehr und mehr nach Duisburg. Die Zunahme des Handels führte zur Einrichtung regelmäßiger Verkehrsverbindungen zwischen Duisburg, Nimwegen und Amsterdam. Nach dem Einbau von Schleusen 1780 wurde die Ruhr schiffbar gemacht und so der Transport von Steinkohle aus der Grafschaft Mark und von Erzen aus dem Herzogtum Berg zum Rhein erleichtert. Hierdurch verschob sich auf Kosten von Duisburg der Handel nach Ruhrort, das zum erstrangigen Umschlagplatz für den Transport von Kohle, Eisen und anderen Massengütern auf dem Rhein wurde.13 Trotz wachsender Schwierigkeiten und Risiken nach der Verhängung der Zolllinie 1798 fand weiterhin ein umfangreicher Metallhandel zwischen Iserlohn und Amsterdam via Duisburg oder Ruhrort statt. Ruhrort entwickelte sich in dieser Zeit zu einer bedeutenden Zwischenstation für das Vorhaben, Güter illegal von der einen auf die andere Rheinseite zu bringen oder zu den holländischen Häfen und von dort nach Großbritannien und auch nach Übersee. Den gesamten Rhein entlang bis nach Basel entstanden heimliche Warendepots für den illegalen Transport über den Fluss. Solche Lager gab es in Neuss, Deutz, Rheindorf oder Homberg. Deutz wurde ein beliebter Lagerplatz der Kölner Kaufleute.14 11 Finzsch, Obrigkeit, S. 204–206; Dufraisse, Contrebande, S. 519 f. 12 Vgl. hierzu auch Schnurmann, Handel, S. 35. 13 Gorißen, Stefan, Vom Handelshaus zum Unternehmen. Sozialgeschichte der Firma Harkort im Zeitalter der Protoindustrie (1720–1820) (Bürgertum, Bd. 21), Göttingen 2002, S. 72; Lehmann, Herbert, Ruhrort im 18. Jahrhundert (Duisburger Forschungen, Beiheft 8), Duisburg 1966; Schawacht, Jürgen Heinz, Schiffahrt und Güterverkehr zwischen den Häfen des Deutschen Niederrheins (insbesondere Köln) und Rotterdam vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (1794–1850/51) (Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte, Bd. 26), Köln 1973, S. 14. 14 Finzsch, Obrigkeit, S. 207.

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Abb. 47  Der Duisburger Innenhafen, um 1850.

Sobald die Waren die Zollsperre überwunden hatten, wurden Herkunftspapiere oder auch Zollsiegel geändert, um eine Konfiszierung der Waren zu vermeiden, bevor sie den endgültigen Empfänger erreichten. Professionelle Fälscherwerkstätten, die die notwendigen Papiere herstellten, entstanden an vielen Orten entlang der Nordseeküste und des Rheins. Die Änderung von Papieren fand auch in lokalen Behörden statt. Erleichtert wurden solche Praktiken auch dadurch, dass die französischen Besatzer ortsansässige Kaufleute – zum Beispiel nach der Gründung des Großherzogtums Berg – mit dem Ausstellen von Zertifikaten, Lizenzen und Transportgenehmigungen für bestimmte Güter betrauten.15 Die Verschleierung der Herkunft von Textilien aus England erfolgte zum Teil noch vor der Verladung. Nathan Mayer Rothschild (1777–1836), der sich zwischen 1798 und 1800 in Manchester niedergelassen hatte und der Begründer des Londoner Bankhauses war, musste sich beispielsweise die Vorwürfe seines Vaters in Frankfurt am Main gefallen lassen, nicht sorgfältig genug die Herkunftszeichen aus Textilien entfernt zu haben, weshalb diese auf dem Weg von Holland nach Frankfurt von französischen Kontrolleuren konfisziert wurden.16

15 Engels, Wilhelm/Legers, Paul, Aus der Geschichte der Remscheider und Bergischen Werkzeug- und Eisen-Industrie, 2 Bände, Remscheid 1928, Band 1, S. 230; vgl. z. B. Gottlieb Diederichs in Remscheid. 16 Rothschild Archiv London, XI/86/0A; Briefe von Mayer Amschel an seinen Sohn vom 29.10., 10., 12. 19.11.1809 sowie Abschrift Aschendorff, 3.11.1809.

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Abb. 48  Nathan Mayer Rothschild (1777–1836), Gemälde des Künstlers Moritz Daniel Oppenheim (1800–1882), 1853.

Mehr als zuvor umgingen nach Einrichtung der Zollgrenzen 1798 Kaufleute den Kölner Stapel. Davon profitierte auch der Düsseldorfer Hafen. Er entwickelte sich neben Ruhrort und Duisburg zu einem großen Umschlagplatz für Schmuggelware auf dem Weg über den Fluss und flussabwärts nach Holland. Güter aus dem Norden wurden in Düsseldorf ausgeladen, über Land nach Zündorf gebracht und dort wieder eingeschifft.17 Unter dem Eindruck des Aufschwungs unterzeichneten am 15. Juli 1798 40 Düsseldorfer Kaufleute mit Schiffern aus Uerdingen und Rees einen Vertrag zur Einrichtung einer regelmäßigen Schiffsverbindung nach Holland. Es wird geschätzt, dass Duisburg hierdurch etwa ein Drittel seines Warenumschlags an Düsseldorf verlor.18 Via Düsseldorf und Neuss wurden Textilien, Eisen und Metallwaren aus dem Bergischen Land und dem Siegerland sowie Wein nach Holland gebracht, und von dort wurden Manufaktur- und Kolonialwaren wie Zucker oder Sämereien flussaufwärts verschifft, um auf beiden Seiten des Rheins Abnehmer zu finden. Durch seine Grenzlage am Rhein und die Nähe zu Düsseldorf entwickelte sich Neuss nach der Eingliederung in den französischen Staat zu einem Schmuggelnest. Sowohl nördlich als auch südlich von Neuss wurde vor allem Getreide heimlich vom linken Rheinufer über den Fluss ins rechtsrheinische Bergische Land gebracht. Zons, Nievenheim, Grimlinghausen und Hackenbroich bei Dormagen waren neben Worringen immer

17 Finzsch, Obrigkeit, S. 201. 18 Müller, Klaus, Köln von der französischen zur preußischen Herrschaft 1794–1815 (Geschichte der Stadt Köln, Bd. 8), Köln 2005, S. 196.

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wieder Ausgangsorte für den Schmuggel.19 Das Getreide wurde in Karren zu geheimen Lagern gebracht, bevor es vor allem Rheinschiffer nachts über den Fluss transportierten.20 Die Franzosen hatten zwei Linien entlang des Rheins mit Zollposten besetzt. Eine führte unmittelbar den Fluss entlang, eine zweite landeinwärts in einer Entfernung von etwa fünf Kilometern, sodass ein Zollgrenzbezirk entstand, in dem mobile Zollstreifen patroullierten, um den Schmuggel zu unterbinden.21 Für diesen Zollbereich gab es strenge Vorschriften. Ohne Passagierschein der Zollbeamten und Bescheinigung der Maires beziehungsweise der Agenten durften dort keine Waren transportiert werden. Selbst der alltägliche Bedarf für Bewohner in diesem Gebiet wurde registriert und es galt ein nächtliches Fahrverbot. Dennoch entwickelte sich in diesem Gebiet zeitweise ein blühender Schmuggel. Es entstanden heimliche Warendepots, da die Zollstationen nur unzureichend besetzt waren. Der Dormagener Landwirt Joan Peter Delhoven berichtet in seiner Chronik, dass es oft Frauen aus Delven, Straberg und Dormagen waren, die kleine Mengen Getreide zu diesen Depots brachten.22 Das blieb allerdings nicht ganz unbemerkt, sodass die Franzosen eine Verstärkung der Grenzüberwachung forderten. Wir haben, so vermerkt Delhoven in seiner Chronik im November 1800, einige Zeit 10 Soldaten hier, welche verhindern sollen, dass keine Frucht [Getreide] über den Rhein geht; allein, da diese sich bestechen lassen, und selbst den Schleichhandel schützen, so geht izt sehr viele Frucht über den Rhein.23 Als Folge der Verstärkung der Kontrollen hatten die Schmuggler, nach einem unbestätigten Bericht an den Präfekten des Roerdepartements, im Spätherbst 1800, um den Transport von Getreide und englischen Waren zu erleichtern, mit großem Aufwand eine zweite Route unmittelbar am Rhein eingerichtet und hierdurch den Transport nach Köln umgeleitet.24 Während vor allem Getreide ins Bergische Land gebracht wurde, erreichten von dort trotz des Verbots Kolonialwaren, Metallwaren und Textilien die linke Rheinseite. Neuss beherbergte eine kleine verarbeitende Textilindustrie. Diese bleichte, walkte oder färbte vorwiegend halbfertige und ungefärbte Tuche, Leinen oder Garne von der rechten Rheinseite, anschließend wurden die Waren wieder dorthin exportiert. Die Zollgrenze am Rhein traf deshalb die Neusser Textilindustrie hart. Ihr stand zwar nach der Eingliederung in das französische Reich der große innerfranzösische Markt offen, doch war 19 Zu Worringen als Knotenpunkt des Getreideschmuggels vgl. Finzsch, Obrigkeit, S. 218; zu Dormagen vgl. Jarren, Volker, Schmuggel um Dormagen und Zons. Beobachtungen aus der Sicht des Dorfchronisten Joan Peter Delhoven, in: Jahrbuch für den Kreis Neuss 2001, S. 78–93, hier S. 87; die anderen oben genannten Orte tauchen wiederholt in den noch erhaltenen Polizeiakten auf. 20 Finzsch, Obrigkeit, ebd. 21 Mohr, Reinhold, Büttgen in der französischen Zeit von 1794–1814, Teil 2 (Büttgen. Heimatkundliche Schriftenreihe, Heft 23), Büttgen 2001, S. 172. 22 Die Rheinische Dorfchronik des Joan Peter Delhoven aus Dormagen (1783–1823), hg. v. Hermann Cardauns und Reiner Müller, Neuss 1966, S. 170. 23 Ebd., S. 172. 24 Stadtarchiv (StA) Neuss B.0202.396.

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die Versorgung mit Rohstoffen weder ausreichend noch günstig. Rohstoffe wie Baumwolle und Farbstoffe konnten nur mit hohen Kosten von den französischen Häfen über den Landweg importiert werden. Die zeitweise geradezu prohibitiven Zölle verhinderten eine ausreichende Versorgung mit Farbstoffen, denn diese kamen aus Übersee, Indien beziehungsweise dem Osmanischen Reich. Wie beim Zucker förderte Napoleon zwar die Herstellung von Farbstoffen aus einheimischen Pflanzen, indem er Versuchsanstalten einrichtete, Konzessionen für die Herstellung vergab und Preise aussetzte, doch waren diese Versuche wenig erfolgreich. Die Färber und diejenigen unter den Textilfabrikanten, die selber färbten, blieben auf Schmuggel angewiesen.25 Vor allem Neusser Spinnereien wurden von französischen Zollbeamten des illegalen Imports von Stoffen aus England und der Fälschung der Herkunftsbescheinigungen verdächtigt, da jene offensichtlich englisches Tuch als aus ihrer eigenen Herstellung stammend ausgaben. Fabrikgründungen wurden aus diesem Grund im Grenzgebiet verweigert, so auch Johann Gottfried Brügelmann (1750–1802) aus Elberfeld. Ihm wurde im Mai 1804 eine Konzession zur Errichtung einer Spinnerei in Neuss verweigert.26 Unter der Zollgrenze und den hohen Zöllen litt ebenfalls das vor der Okkupation florierende Tabakgewerbe in Köln. Aufgrund der restriktiven Zollbestimmungen verlor es seine Bedeutung, denn der Import von Fertigtabak war ganz verboten, der Import von Tabakblättern streng reguliert. Die Kölner Fabrikanten hatten Rohtabak üblicherweise von der rechten Seite bezogen. Er stammte sowohl aus den deutschen Anbaugebieten als auch aus Holland und Amerika. Abgesetzt wurde der in Köln produzierte Rauch- und Schnupftabak wiederum vorwiegend auf auswärtigen Märkten. Angesichts der hohen Zölle, die Produktion und Verkauf unrentabel machten, versuchten die Fabrikanten und Händler, ihre Waren unverzollt ins Ausland zu bringen.27 Unter dem Eindruck des nicht kontrollierbaren Schmuggels stellten die Franzosen 1810 die Tabakproduktion unter die Regie, die ein Herstellungs- und Vertriebsmonopol erhielt. Der Umfang des illegalen Handels ist nur schwer abzuschätzen, denn alle Bevölkerungsgruppen, die mit dem Schmuggel in Berührung kamen, zielten darauf ab, dabei keine Spuren zu hinterlassen. Obwohl alle gesellschaftlichen Gruppen, vom großen Unternehmer und Kaufmann über den Schiffsführer, den kleinen Matrosen oder Handwerker bis zum Arbeitslosen, in große oder kleinere Schmuggelsysteme involviert waren, finden sich, wie oben schon erwähnt, in den überlieferten Polizeiberichten nur die Unglücklichen, die entdeckt wurden. Sie gehörten überwiegend zu den unteren Gesellschaftsschichten, aber nicht ausschließlich.

25 Schultheis-Friebe, Marieluise, Die französische Wirtschaftspolitik im Roer-Departement 1792–1814, Diss., Bonn 1969, S. 58, 131. 26 Ebd., S. 196, sowie Wisplinghoff, Geschichte, S. 58. 27 Schultheis-Friebe, Wirtschaftspolitik, S. 241.

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Die Polizeiberichte gewähren einen sehr aufschluss- und facettenreichen Einblick in die lokale beziehungsweise regionale Organisation des Schmuggels, die soziale Herkunft der Schmuggler, die Schmuggelwaren und auch die Informationsschwierigkeiten, denen die Franzosen wegen der Sprachbarriere, aber mehr vermutlich noch wegen des Zusammenhalts der Bevölkerung, gegenüberstanden. Unter den Schmugglern befanden sich auch immer wieder Franzosen, die aus der Kollaboration ein einträgliches Geschäft machten. So kooperierten offensichtlich französische Zöllner mit einigen Düsseldorfer Schmugglern und den Gebrüdern Ferdinand und Gottfried Weisser aus Lülsdorf bei der illegalen Einfuhr von englischen Waren nach der Verhängung der Kontinentalsperre.28 In einem anderen Fall wurde ein ehemaliger französischer Gendarm, der sich als Tabakfabrikant in Düsseldorf oder Umgebung niedergelassen hatte, der illegalen Einfuhr von Kolonialwaren über den Rhein verdächtigt. Er soll sogar der Kopf einer Bande gewesen sein. Begünstigt wurde die Kollaboration durch die Unterbringung französischer Zollbeamter bei Familien, die selbst schmuggelten. Es kam sogar wiederholt zu Heiraten zwischen einheimischen Frauen und Franzosen.29 Delhoven berichtet ebenfalls von einem Gendarmen, der lange Zeit bei einer Familie untergebracht war: Er [Bennois] ist sehr brav, und hat sich mit der jüngsten Tochter Agnes Langel so gut gehalten, dass selbige solches länger nicht mehr verbergen konnte. Sie wurden also heut morgen 4 Uhr in der Kirch getrauet, und werden einstweilen beym Schwiegervater wohnen bleiben. Er spricht kein Deutsch, und sie ist mit einem Fusse lahm.30 Da die Zöllner unterbezahlt waren und selbst oft der gleichen Schicht entstammten wie die Familien, bei denen sie wohnten, fehlte die soziale Distanz, die die Entwicklung privater Beziehungen erschwert hätte. Diese Faktoren trugen, so Finzsch, dazu bei, dass die Zöllner gerne die Seite wechselten.31 Die Schmuggler kamen auch nicht ausschließlich aus der Region. So stellte sich heraus, dass der contrebandier Loeb Geisenheim nicht aus Neuss stammte, sondern aus Bingen und sich erst vier Monate zuvor in Düsseldorf angemeldet hatte.32 Delhoven berichtet ebenfalls im Dezember 1800, dass 16 Franzosen in Roggendorf in der Nähe von Worringen seit einem halben Jahr verbotene Waren über den Rhein brachten.33 Nach den Polizeiberichten waren mehrere Schmugglerbanden in der Umgebung von Düsseldorf tätig. In Emmerich hielt sich offensichtlich eine Bande aus Lüttich und Brabant auf, die in Uniformen des Großherzogtums Berg und zu Pferde ihr Unwesen trieb.34 28 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland (LAV NRW R), AA 0637 Nr. 178. 29 Pohl, Hans, Die Stadt Zons in der Zeit der französischen Herrschaft (1794–1814), Teil 2, in: Blätter zur Geschichte von Zons und Stürzelberg V (1987), S. 41–60, hier S. 44. 30 Delhoven, Dorfchronik, S. 170. 31 Finzsch, Obrigkeit, S. 238; Jarren, Schmuggel um Dormagen, S. 86. 32 StA Neuss B.0202.0398. 33 Delhoven, Dorfchronik, S. 172. 34 LAV NRW R AA 0637, Nr. 181.

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Mehrere Personen in der Umgebung von Düsseldorf, unter anderem in Kaiserswerth, wurden gleichfalls des bandenmäßigen Schmuggels verdächtigt. So wurde etwa ein Mann namens Gater aus Orsay verhaftet, der nach einer unbestätigten Nachrichtenquelle Kopf einer Bande war. Einer anderen Quelle zufolge gehörte zum Kopf der Bande um Gater auch der Düsseldorfer Hein Antonetti. Beide wurden verhaftet, doch gelang den französischen Behörden der Nachweis des bandenmäßigen Schmuggels nicht. Aus den Quellen wird ersichtlich, dass die lokalen einheimischen Behörden den verdächtigen Personen immer wieder das Untertauchen erleichterten. So wurde auch Johann Muntenbroich aus Ratingen von den französischen Behörden der contrebande verdächtigt und gesucht. Man stellte zwar fest, dass er in Urdenbach in einem kleinen Betrieb arbeitete, doch fand man ihn dort nicht vor. Er war offensichtlich untergetaucht. Die Franzosen vermuteten ihn dann in Ratingen, doch der Maire von Ratingen antwortete auf Anfrage, dass Muntenbroich nicht aufzufinden sei. Wiederholt hieß es aus den Bürgermeisterämtern von Düsseldorf, Essen und anderen Orten, der Gesuchte sei nicht zu finden oder er sei verschwunden oder habe die Stadt verlassen und man wisse nicht, wo er sich aufhalte. Im Falle Muntenbroich bot schließlich sein Arbeitgeber den Franzosen eine Kaution von 300 Franc an, wenn sie die Suche nach ihm einstellten, da er auf ihn in seinem Betrieb nicht verzichten könne. Von Muntenbroich selber ist in den Polizeiakten ein Brief erhalten, in dem er seine Unschuld beteuerte und bemerkte, er sei zu arm, um als contrebandier zu arbeiten. Nachdem sein Arbeitgeber die Kaution auf 900 Franc erhöht hatte, gaben sich die französischen Behörden offensichtlich damit zufrieden.35 Ein Pförtner am Kölner Tor in Neuss wurde gleichfalls der unerlaubten Unterstützung des Schleichhandels angeklagt. Nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Schmugglern und Gendarmen soll er die Franzosen an der Verfolgung gehindert haben, indem er das Tor nicht öffnete und ihnen erklärte, er könne es vor elf Uhr nicht öffnen, da der Schlüssel beim Maréchal liege. Währenddessen waren die Schmuggler unter Zurücklassung ihrer Waren geflohen.36 Der Pförtner wurde daraufhin vom Dienst suspendiert. Da der Bürgermeister von Neuss in mehreren Schreiben an den Präfekten des Roerdepartements betonte, dass der Pförtner nur seine Pflicht getan habe, er eine ausgesprochen gewissenhafte Person und unschuldig sei, erhielt dieser seine Stelle zurück. Eine Verurteilung der Schmuggler wurde zudem, so Norbert Finzsch, durch die französische Rechtsprechung erschwert. Bei einer Verhaftung mussten die Zöllner eine Reihe von Vorschriften beachten, unter anderem die Beschaffung von Beweismitteln und die Aussagen zweier Zeugen zur Überführung des Angeklagten. Dieses Verfahren erschwerte offensichtlich immer wieder die wirksame Bekämpfung des Schmuggels. Nach Finzschs Untersuchung waren zudem die Urteile der Friedensrichter, anders als

35 LAV NRW R AA 0637, Nr. 181. 36 StA Neuss B.0202.0406.

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die des Tribunal Correctionel in Köln, recht milde und wenig abschreckend.37 Erst nach 1806 und dann erneut 1810 mit der Einrichtung des Zollgendarmeriegerichts in Nancy wurde die Bestrafung von Schmuggel deutlich verschärft. Als fameux fraudeur ist Werner Broich aus Mülheim am Rhein in die Polizeiakten von 1810/11 eingegangen. Die Polizei griff ihn mehrfach auf, weil er Tabak, Getreide und Tuche über den Rhein geschmuggelt hatte. Er galt als Mitglied einer großen Schmugglerbande in Emmerich und wurde in Stammheim zum Tode verurteilt. Er konnte jedoch fliehen und wurde vermutlich nie bestraft.38 Ein wichtiges Bindeglied in der regionalen und lokalen Schattenökonomie stellten die Gasthäuser dar. Sie waren Informations- und Warenumschlagplätze des Schmuggels. So wurden zwei Gastwirte in Neuss und Grimlinghausen der Unterstützung des Schmuggels verdächtigt. Nach Aussagen eines Informanten unterhielt der Gastwirt Schmitt aus Neuss nicht nur ein geheimes Lager, sondern, so heißt es im Bericht, der Informant sei auch sicher, dass in Schmitts Auftrag in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember 1810 eine Barke unterhalb Düsseldorfs bei dem Dorf Cassel heimlich zwischen der rechten und der linken Seite hin- und hergefahren sei. Der Informant habe auch ein Laternensignal gesehen. Er vermutete zudem eine Kollaboration der französischen Zöllner mit den Schmugglern, doch konnte er keinen Nachweis erbringen.39

IV. Kaufleute und Unternehmer Verschiedentlich wurden auch Kaufleute mit weitreichenderen Handelsbeziehungen des Schmuggels angeklagt. Sie wurden durch Informanten verraten, die sich eine finanzielle Belohnung von französischer Seite erhofften. So verlangte ein Denunziant für seine Informationen über die Gebrüder Neef aus Solingen und Köln von Jacques Claude Beugnot (1761–1835) 300 Franc.40 Die Gebrüder wurden 1810 beschuldigt, in Solingen hergestellte Waffen und Stahlfedern nach England verschifft zu haben. Die Korrespondenz enthält interessante Informationen über das Schmuggelnetz und die Transportrouten der Brüder Neef. Konfisziert wurden die Waren in Varel, einem kleinen, unbedeutenden Hafen am Jadebusen, der während der Napoleonischen Kriege ein Einfallstor für britische Waren war. Diese Ware war für Johann Runkel bestimmt, einen Verwandten der Neefs, und dessen Neffen, A. Neef, den Ersterer nach London geholt hatte. Die Güter waren von Köln nach Varel zu einem Händler namens Krukenberg transportiert worden. Der Kölner Daniel Neef, der einen Stoffhandel betrieb, beteuerte im Verhör, er wisse nichts 37 Finzsch, Obrigkeit, S. 220–222; Jarren, Schmuggel um Dormagen, S. 82. 38 LAV NRW R AA 0637, Nr. 185. 39 Ebd. 40 Ebd.; vgl. auch hierzu und zum Folgenden Nr. 186.

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vom Waffenhandel. Im Bericht der Zolladministration vom Dezember 1810 wird jedoch vermerkt, dass Neef von Köln nach Solingen gereist sei, um die Waffen selbst auf geheimen Wegen an die Küste zu bringen. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war angesichts der Blockade an der Küste besonders hoch, und Kaufleute im Innern des Landes konnten die sich ständig verändernde Kriegssituation und die wechselnden Maßnahmen der Franzosen besonders schwer überblicken. Zur Erkundigung, welches der sicherste Versandweg war, ob über Kopenhagen oder über Hamburg, hatte Isaac Neef sowohl mit Kopenhagen als auch mit einem Mann namens Schmilinski in Riga korrespondiert. Aus den Aussagen der Neefs geht hervor, dass sie seit 1799 Waffen und andere Metallwaren nach England verschickten. Sie verwiesen darauf, dass zu diesem Zeitpunkt der Export noch erlaubt gewesen sei und sie von den gesetzlichen Änderungen nichts gewusst hätten, eine Aussage, die zu glauben selbst den französischen Beamten schwerfiel. Hinsichtlich des Waffenhandels konnten die Franzosen jedoch keine Beweise bei einer Durchsuchung der Kölner Handlung von Daniel Neef finden. In den Akten befindet sich unter anderem eine Aufstellung von drei weiteren Warensendungen nach England, die allerdings keine Jahresangaben enthält. Der Versand ging jeweils von verschiedenen Häfen – Hamburg, Emden und Rotterdam – aus nach England. Empfänger waren ein deutsches und ein englisches Handelshaus in London sowie das in London ansässige Schweizer Handels- und Bankhaus von Iselin & Co, das eng mit der englischen Regierung im illegalen Handel mit dem Festland kooperierte. Aus Sicherheitsgründen nahmen manche Waren große und verschlungene Umwege. So wurde 1812 eine große Menge englisches Baumwollgarn, die für einen Elberfelder Kaufmann bestimmt war, über Russland und von dort nach Sachsen bis nach Frankfurt geschickt, ein anderer Teil der Lieferung war in Aurich konfisziert worden.41 Englische Schmuggelwaren, darunter Baumwolle und Tabak, fanden, wie Roger Dufraisse am Beispiel des Kaufmanns Gaudoit aus der Normandie beschrieb, den Weg von der holländischen Küste, Rotterdam oder Amsterdam, den Rhein hinauf an Düsseldorf vorbei bis nach Caen.42 Neben Frankfurter, Düsseldorfer und Koblenzer Kaufleuten kollaborierte offensichtlich auch die Witwe Arletta Haniel mit Gaudoit. Sie stellte ihm ihre Schiffe zur Verfügung.43 Wichtige Geschäftspartner der Witwe saßen in Rotterdam, sodass die Kollaboration mit Gaudoit vermutlich kein Einzelfall war.44 Verstreute Hinweise auf erfolgreiche Schmuggelaktivitäten der großen Unternehmer und Kaufleute sind in Memoiren und privaten Korrespondenzen zu finden. Sie verfügten 41 LAV NRW R AA 0637, Nr. 182. 42 Dufraisse, Contrebande, S. 517. 43 Ebd., S. 518; bei Dufraisse heißt es „veuve Hamel de Ruhrort“. Es kann sich jedoch nur um Arletta Haniel handeln. Ihr Mann Jakob Wilhelm Haniel war 1782 verstorben. 44 Haniel 1756–2006. Eine Chronik in Daten und Fakten, hg. v. Franz Haniel & Cie GmbH, Duisburg-Ruhrort 2006, S. 49.

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sowohl über legale als auch illegale Wege zur Umgehung der Restriktionen oder nutzten Grauzonen der Legalität. Nach Dufraisse’ und Finzschs Darstellung war das finanzielle Risiko der Kaufleute, sollten ihre Waren beschlagnahmt werden, auch deshalb geringer, weil sie diese versichert hatten. Es wurde 1808 in Köln sogar eine Versicherung gegründet, deren Zweck nicht, wie offiziell angegeben, die Versicherung von Arbeitsunfällen war, sondern die der Versicherung von Schmuggelwaren diente. Nach der Untersuchung von Dufraisse arbeitete diese Versicherung in den fünf Jahren ihrer Existenz sehr erfolgreich, denn sie dehnte ihre Aktivitäten nach Süden hin bis Koblenz aus und nach Norden hin bis zur holländischen Grenze.45 Hinzuzufügen ist jedoch, dass viele Kaufleute ihre Waren nicht versichern konnten oder wollten, weil die Tarife zu hoch waren, die Versicherungen Verträge ablehnten oder sie lieber das Risiko des Verlusts in Kauf nahmen, denn dieses war zwar hoch, doch waren die Gewinne enorm, wenn die Waren den Empfänger erreichten. So versicherte auch Nathan Mayer Rothschild in England seine Warensendungen an Familie und Verwandte in Frankfurt nicht immer. Bedingt durch die wechselseitigen Blockaden der Briten und Franzosen sowie schließlich die Kontinentalsperre im Herbst 1806 wurde Nathan Mayer Rothschild, so Niall Ferguson, der Biograf des Hauses Rothschild, notgedrungen zum Schmuggler.46 Im Rothschild-Archiv befinden sich einige aufschlussreiche Briefe mit Hinweisen auf Schmuggelrouten von der deutschen Nordseeküste nach Frankfurt. Frühzeitige Informationen sowie ein verlässliches und vertrauenswürdiges Netz von Korrespondenten und Kollaborateuren waren deswegen essenziell, weil kriegführende Parteien ihre Einfuhr- und Ausfuhrgesetze während der Koalitionskriege häufig änderten. Das beeinflusste auch die Schleichwege, alte Schlupflöcher wurden geschlossen und neue entstanden an anderer Stelle. Zu den wichtigsten Informanten der Rothschilds, die auch den Überlandtransport nach Frankfurt organisierten, gehörten die beiden Emder Handelshäuser Altmann & Winkelmann sowie Johann Peter Abegg. In einem Brief an Nathan Mayer in Manchester im Mai 1806 vermerkt Altmann & Winkelmann, dass die Weser blockiert und der Transport von dort nach Frankfurt zu riskant sei, obwohl Preußen sich bislang noch ruhig verhalten habe. Die Route von Varel durch das Fürstentum Ahrensberg, Bentheim und Hessen sei dagegen sicherer. Er vermerkte fernerhin, dass Waren, auf kleine Schiffe umgeladen, innerhalb der Blockadelinie durch das Wattenmeer über Delfsiehl nach Holland und Brabant geschickt werden könnten, wie es schon

45 Dufraisse, Roger, Commerce, contrebande et formation du capital dans les pays de la rive gauche du Rhin à l’époque napoléonienne, in: Berding, Helmut (Hg.), Privatkapital, Staatsfinanzen und Reformpolitik im Deutschland der napoleonischen Zeit, Ostfildern 1981, S. 10–26, hier S. 18 f. 46 Ferguson, Niall, Die Geschichte der Rothschilds. Propheten des Geldes, 2 Bände, Stuttgart/München 2002, Band I, S. 78. In den ersten Jahren nach seiner Ankunft in Manchester war er noch keineswegs der wohlhabende und erfolgreiche Kaufmann und Bankier. Das änderte sich erst ab ca. 1808/9 nach seiner Übersiedlung nach London.

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Abb. 49  Johann Gottfried Brügelmann (1750–1802), s/w-Fotografie von einem verschollenen Gemälde, bearbeitet von dem Düsseldorfer Künstler Bernd Lieven, 2010.

zuvor geschehen sei.47 Daneben versorgte auch Mayer Amschel Rothschild (1744–1812) in Frankfurt seinen Sohn in Manchester selbst mit Informationen über die sichersten Transportrouten.48 Er hatte zwei seiner Söhne nach Holland und in den norddeutschen Raum geschickt, die dort während der Kontinentalsperre die Lage sondierten und ihn mit Informationen versorgten.49 Zur Informationsbeschaffung verfolgten einflussreiche Kaufleute, darunter auch Gottfried Brügelmann in Ratingen oder Franz Haniel (1779–1868) in Ruhrort, eine Doppelstrategie, indem sie versuchten, direkte Kontakte sowohl zu politischen Kreisen auf deutscher Seite als auch zu französischen Behörden zu unterhalten.50 Haniel genoss, solange die preußisch-österreichischen Truppen in den 1790er Jahren auf der rechten Rheinseite standen, ihre Protektion für seine Unternehmungen. Brügelmann besaß, wie Jörg Engelbrecht in seiner Untersuchung aufzeigte, enge Kontakte zu dem französischen Kommissar François Joseph Rudler (1757–1837). Kontakte zu 47 Rothschild Archiv London XI/112/5, Mai 1806; ein ähnlicher Brief ging von Johann Peter Abegg an Mayer Amschel Rothschild in Frankfurt (ebd., 26.5.1806). 48 Rothschild Archiv London XI/86/0A, Mayer Amschel an Nathan in Manchester, 24.8.1807: Da Hamburg gesperrt war, sollte Nathan seine Waren über Amsterdam an ihn senden. 49 Ferguson, Geschichte, S. 78; vgl. auch Schulte Beerbühl, Margrit, Trading Networks across the Blockades: Nathan Mayer Rothschild and His Commodity Trade during the Early Years of the Blockades (1803– 1808), in: Aaslestad, Katherine B./Joor, Johan (Hgg.), Revisiting Napoleon’s Continental System. Local, Regional and European Experiences, Basingstoke 2015, S. 135–152. 50 S. hierzu ausführlicher Engelbrecht, Jörg, Außenpolitische Bestrebungen rheinischer Unternehmer im Zeitalter der Französischen Revolution, in: Francia 17 (1990), S. 119–141, hier S. 132.

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den Franzosen ergaben sich auch durch seine Reise 1798 zu den Friedensverhandlungen von Rastatt, die er als Vertreter der bergischen Unternehmerschaft unternahm.51 In Verhandlungen mit den Franzosen ging es ihm und den bergischen Unternehmern vor allem um die freie und ungehinderte Rheinschifffahrt. Brügelmann wirkte auch maßgeblich an der Eröffnung einer regelmäßigen Verbindung zwischen Düsseldorf und Holland mit und stellte dazu auch eigene finanzielle Mittel bereit. 1798 erhielt er die Leitung der neu eingerichteten Börtfahrt, durch die ihm der Weg zu holländischen Häfen offenstand.52 Der Im- und Export von Baumwolltextilien, Getreide und anderen Waren an den Franzosen vorbei wurde auf diese Weise begünstigt.53 Brügelmann hatte ein großes Eigeninteresse an der Einrichtung dieser Schifffahrtslinie, denn die holländischen Häfen, insbesondere Rotterdam, entwickelten sich zeitweise zu wichtigen Einfallstoren für britische Waren.54 Aus Rotterdam bezog auch das Haus der Haniels in Ruhrort Kolonialwaren und versandte im Gegenzug Wein, Granaten und Patronen dorthin.55 Brügelmann verfügte über weitreichende Handelsbeziehungen, die nach Manchester und London gingen. Er soll auch eine Zeitlang in England gelebt haben, allerdings ist das quellenmäßig nicht nachzuweisen.56 Gesichert ist jedoch, dass er eng mit Elberfelder Kaufmannsfamilien verwandt war, von denen Mitglieder Handelshäuser in London und in den neuen Textilgebieten Englands unterhielten.57 Brügelmann, Haniel und viele andere rechtrheinische Unternehmer versuchten, die französischen Restriktionen geschickt durch die Gründung von Filialen auf der linken Rheinseite zu umgehen, denn hatten die Waren einmal den Fluss überquert und neue Herkunftspapiere erhalten, konnten sie an ihren eigentlichen Bestimmungsort versandt werden. Johann Gottfried Brügelmann hatte 1799 zusammen mit Johannes Lenßen eine linksrheinische Zweigstelle in Rheydt, die Baumwollspinnerei und Färberei Brügel­ mann & Lenßen, eröffnet; 1801 errichtete er außerdem einen Betrieb in einem aufgelassenen Kloster in Köln, um dort jene Waren zu verkaufen, die seine Firma auf der 51 52 53 54 55

Ebd., S. 119–141. Müller, Köln, S. 199. Engelbrecht, Bestrebungen, S. 137. Zur Bedeutung des Englandhandels von Rotterdam s. Schawacht, Schiffahrt, S. 41–45. Herzog, Bodo/Mattheier, Klaus J. (Hgg.), Franz Haniel 1779–1868. Materialien, Dokumente und Untersuchungen zu Leben und Werk des Industriepioniers Franz Haniel, Bonn 1979, S. 34. 56 Baum, Marie-Luise, Johann Gottfried Brügelmann (1750–1802), in: Rheinische Lebensbilder, Band 1, Düsseldorf 1961, S. 136–151, hier S. 141,147; zu den Geschäftsbeziehungen nach Großbritannien s. Gemmert, Franz Josef, Die Handelsbeziehungen Johann Gottfried Brügelmanns zu Cromford um 1800, in: Düsseldorfer Jahrbuch 51 (1963), S. 290–298. 57 Seine Mutter war eine geborene Teschemacher aus Elberfeld. Mitglieder dieser Familie saßen seit dem späten 17. Jahrhundert in London; zu den englischen Verbindungen der Elberfelder s. Schulte Beerbühl, Margrit, Deutsche Kaufleute in London. Welthandel und Einbürgerung (1660–1818) (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 61), München 2006.

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anderen Rheinseite produziert hatte.58 Die linksrheinische Filiale der Familie Haniel leiteten Franz Haniels Bruder Gerhard (1774–1834) und die Schwägerin Diederike Noot. Enge Beziehungen unterhielt das Haus Haniel in Ruhrort zu dem Kölner Johann David Herstatt (1740–1809), der eine Seidenbandfabrik und ein Wechselgeschäft hatte, sowie zu dem Bankier Abraham Schaaffhausen (1756–1824). Franz Haniel zufolge hatten die Cölner Freunde […] volles Vertrauen zu unserm Hause und überließen uns die Wahl bei der Rheinsperre zur Sicherung ihrer Güter. Die Niederlassungen auf beiden Seiten des Rheins erleichterten den Schleichhandel und erschwerten die Aufdeckung illegaler Warengeschäfte. Da sich die wirtschaftliche Lage im Großherzogtum Berg nach 1806 deutlich verschlechtere, fand auch eine Abwanderung von Unternehmen auf die linke Rheinseite statt. Allein in dem Zeitraum zwischen 1809 und 1813 sollen nach einem amtlichen Bericht 300 Betriebe ihre Produktion auf die linke Rheinseite verlegt haben.59 Die autobiografischen Skizzen von Franz Haniel vermitteln ein anschauliches Bild der Mittel und Wege, die französischen Maßnahmen zu umgehen. Erste Erfahrungen im Schmuggeln hatte er während seiner kurzen Zeit als Angestellter im Mainzer Handelshaus von J. Hr. Weingärtner Sohn gemacht. Dieses handelte vor allem mit Kolonialwaren. Nach der Verlegung der französischen Zollgrenze im Frühjahr 1798 führte das Haus mehrfach beträchtliche Zuckermengen zollfrei ein, die es mit ansehnlichem Gewinn in Straßburg absetzte.60 Dieses Wissen machte sich Franz Haniel nach seiner Rückkehr nach Ruhrort zunutze. Zwischen 1795 und 1799 entwickelte sich ein blühender Schleichhandel mit Überseewaren, insbesondere Zucker und Getreide, mit dem die Kaufleute große Gewinne erzielten. Spekulationen mit Zucker und Kaffee waren besonders profitabel. Gerade Zucker wurde nach dem Sklavenaufstand auf Saint-Domingue und der Zerstörung der Zuckerplantagen 1791 zu einem Spekulationsobjekt, denn die Insel war der größte Zuckerlieferant gewesen. Ähnlich gewinnbringend entwickelte sich der Getreideverkauf nach England, denn im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte wandelte sich England von einem Exporteur zu einem Importeur von Getreide. Angesichts der schlechten Ernten der späten 1790er Jahre und sozialer Unruhen in den Unterschichten suchten die Engländer verzweifelt nach Getreideeinfuhrmöglichkeiten. Sie wandten sich dafür sogar an das Osmanische Reich und die Barbaresken im südlichen Mittelmeer. Der heimliche Export von Weizen nach England ebenso wie der Versand von linksrheinischem Getreide ins Bergische Land wurden für Haniel zu einem ausgezeichneten Geschäft.61 Teilweise bezog er Getreide auch aus Frankreich. Tausende Tonnen Weizen aus Frank58 Baum, Brügelmann, S. 145, sowie Engelbrecht, Bestrebungen, S. 131 f. 59 Redlich, Otto, Zur Geschichte der Industrie am Niederrhein, in: Düsseldorfer Jahrbuch 31 (1920/24), S. 51–62, hier S. 55–56. 60 Herzog/Mattheier, Haniel, S. 38. 61 Ebd., S. 47.

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reich und vom Oberrhein schmuggelte er nach England. Nach dem Frieden von Campoformio zwischen Preußen und Frankreich 1797 versandte er Weizen von Ruhrort aus mit preußischen Pässen nach England, da der Weizenexport aus Preußen nicht verboten war. Bis 1805 blieb der Weizenhandel für Haniel ein wichtiges Geschäft. Weitzen, so schreibt er, wurde auf den von den Franzosen auf dem rechten Rheinufer von F[rank]furt bis Eichelkamp besetzten Gegenden zu lande bis Eichelkampf transportirt, hier wurden die französischen Offiziere bestochen, der Weitzen eingeladen und in Kohlenachen nach Ruhrort in’s Preussische transportirt.62 General Jean Baptiste Bernadotte (1763–1844), der spätere König Karl XIV. Johann von Schweden und Verwandte Napoleons, hatte trotz des bestehenden Verbots, Getreide aus Frankreich und den linksrheinischen Gebieten zu exportieren, freies Geleit erhalten, so viel auszuführen, wie er wollte.63 Über einen Strohmann gelang es Franz Haniel, einen Pass von Bernadotte zu erhalten, der den Transport über den Rhein, von Uerdingen nach Ruhrort, gestattete. Im Besitz eines solchen Passes wurde der Schmuggel ein einträgliches Unternehmen, denn außer Gr[af] Berndadotte durfte Niemand Weitzen ausführen, wodurch dieser Handel brilliant wurde und mehrere Jahre dauerte. Anstatt den Weizen nach Hannover zu verkaufen, wurde er in die Niederlande und von dort über Emden nach England gebracht.64 Neben Rotterdam, Amsterdam und Varel wurde auch Emden während der Kriegsjahre zum Schmugglernest. Die Hafenstadt profitierte von ihrer Nähe zu den Niederlanden und den benachbarten neutralen Herzogtümern Oldenburg und Papenburg. Nach der Darstellung eines John Brown aus Yarmouth aus dem Jahre 1806 waren Emden und das nahe gelegene Leer Hauptquartiere der Neutralisierung auf dieser Seite der Elbe. Emden allein, so bemerkte er, zählt rund fünfzig neutralisierende Firmen, begründet allein zum Zweck, durch gefälschte Dokumente die Schiffe und Waren zu decken, die einem Bürger einer kriegführenden Nation gehörten.65 Wie umfangreich die illegale Einfuhr zeitweise war, ist einer zeitgenössischen Schätzung für Fribourg in der Schweiz zu entnehmen, nach der allein im August 1810 täglich 300 Wagen mit Zucker, Kaffee und Baumwolle die Stadt passiert haben sollen.66 Zeitweise lassen sich auch bei Franz Haniel Kontakte in die Schweiz nachweisen. Für Schweizer Kaufleute sollte er Waren, die bei ihm nach der Besetzung der linken Rheinseite ankamen, als neutrales Schweizer Gut deklarieren, um

62 Ebd. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Brown, John, The Mysteries of Neutralization, or, The British Navy Vindicated from the Charges of Injustice and Oppression Towards Neutral Flags, London 1806. 66 Ponteil, Félix, La contrebande sur le Rhin au temps du Premier Empire, in: Revue Historique 60 (1935), S. 257–286, hier S. 272.

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sie vor dem Zugriff durch die Franzosen zu schützen.67 Ob und inwieweit hier die Grenze des Legalen überschritten wurde, lässt sich aufgrund der Quellenlage nicht nachweisen. Neben Haniel und Brügelmann beteiligte sich in den 1790er Jahren auch Helene Amalie Krupp (1732–1810) am Schleichhandel über holländische und deutsche Häfen nach England. Sie handelte überwiegend mit Kolonialwaren, insbesondere Zucker und Kaffee, neben anderen Importgütern wie Baumwolle, Getreide, spanische Seife, Pfeffer oder süßem Mais. Ihre Lieferanten kamen aus Hamburg, Bremen, Emden, Rotterdam, Amsterdam und London. Einer von Krupps Handelspartnern in London war Hermann Jakob Garrels (1768–1808), ein Kaufmann aus Leer in Ostfriesland, der vorwiegend Getreidehandel betrieb. Die finanziellen Transaktionen von Garrels und Krupp wurden über die Bank von Johann Christian Schröder (1760–1809) in Hamburg organisiert, Krupp erhielt auch Waren von Schröder aus Hamburg. Wichtige Lieferanten in Rotterdam und Amsterdam versorgten Helene Amalie Krupp mit Kolonialwaren im Wert von mehreren Hunderttausend Gulden. Es ist unbekannt, ob sie nach 1806 weiterhin mit Kolonialwaren und Weizen handelte, dies aber tat ihr Enkel Friedrich Krupp (1787–1826). Ende 1809 errichteten die Franzosen eine neue Zollgrenze zwischen Rees und Bremen. Bis dahin hatte ein lebhafter Handel mit Überseewaren zwischen den Niederlanden und dem Großherzogtum Berg existiert. Friedrich Krupp sowie Kaufleute aus Amsterdam hörten frühzeitig von dem geplanten Erlass und nutzten die Zeit bis zum Inkrafttreten des Edikts, um möglichst viele Waren über die Grenze zu schaffen. Kurzfristig entwickelte sich ein fieberhafter Importhandel. Einwohner nahe gelegener Grenzstädte und Dörfer trugen die Waren über die Grenze nach Westfalen oder ins Großherzogtum Berg. Einer dieser Grenzorte war die Kleinstadt Borken. Friedrich Krupp reiste häufig nach Borken, denn dort saß einer seiner wichtigsten Geschäftspartner, Winters, Mensinck & Co, die den Import holländischer Kolonialprodukte organisierten. In den darauf folgenden Wochen schickten ihm Carp & Söhne aus Amsterdam große Mengen Kaffee, Zucker und Indigo, mit denen er in Düsseldorf und Frankfurt am Main gute Preise erzielte. Indigo und Farbhölzer gehörten zu den wichtigsten Importen aus Holland, mit denen sich hohe Gewinne machen ließen. Besonders Indigo, der aus der Neuen Welt und Asien kam, war sehr begehrt, denn damit ließ sich ein viel leuchtenderes und haltbareres Blau als aus dem einheimischen Färberwaid gewinnen. So verlangte auch Mayer Amschel Rothschild in Frankfurt von seinem Sohn in England, ihm große Mengen Indigo zu senden. Friedrich Krupp belieferte Färbereien unter anderem in Essen-Werden und in Aachen mit den neuen Farbstoffen.68 Er importierte auch Güter auf gemeinsame Rechnung mit der Firma Hecking in Düsseldorf. Den überwiegenden Teil der Waren aus Holland setzte er

67 Herzog/Mattheier, Haniel, S. 27. 68 Kraft, Fritz Gerhard, Essen und die Niederlande. Wirtschaftliche und familiengeschichtliche Beziehungen, Berlin/Prag/Wien 1944, S. 89.

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in Süddeutschland ab.69 Obwohl der Transit von Kolonialwaren im Laufe der Zeit immer schwieriger wurde und die französische Besatzungsmacht immer häufiger Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen – manchmal im Wert in mehreren Tausend Gulden – vornahm, verkauften Friedrich Krupp und Carp & Söhne in Amsterdam bis etwa 1811 erfolgreich Schmuggelwaren.70 Nicht nur Waren, sondern auch Informationen und Nachrichten mussten an den Franzosen vorbei ihre Empfänger erreichen. Briefe und Waren nahmen zeitweise weite Umwege. Franz Haniel erwähnt in seinen autobiografischen Notizen, dass Korrespondenzen, die für die andere Rheinseite bestimmt waren, etwa von Köln nach Deutz, Mülheim oder Düsseldorf, einen Umweg über die neutrale Schweiz machten.71 Briefe an Adressaten im Ausland und in Übersee wurden in drei- und mehrfacher Ausführung über unterschiedliche Wege verschickt und durch verschiedene Adressaten weitergeleitet. Die Gefahr, dass Briefe in die Hände des Feindes gelangten, war groß. So wurde im September 1804 ein Schiff vor Rotterdam aufgebracht, auf dem sich die Korrespondenz von 38 Londoner Handelshäusern befand, die an nicht wenige Adressaten im Rheinland ging.72 Nicht nur die kleinen, sondern auch die großen Schmuggler lagerten illegal eingeführte Waren in ihren Häusern. Der Kaufmann Konrad Lohmann in Ruhrort hatte eine umfangreiche Ladung von Kaffee aus Helgoland erhalten, für die er keine 40 Prozent Zoll zahlen wollte. Franz Haniel kaufte ihm einen Teil ab und riet ihm zugleich, den restlichen Kaffee in einem benachbarten Dorf zu verstecken. Er selber verbarg 1500 Pfund Kaffee unter einer Stubendecke in seinem Haus, der von den französischen Beamten, die sein Haus durchsuchten, nicht entdeckt wurde. Weiteren Kaffee hatte er nachts zu einem Bruder seines Gärtners nach Meiderich gebracht, der diesen auf dem Scheunen-Söller unter Stroh und Heu versteckte.73 Mayer Amschel Rothschild in Frankfurt, den sein Sohn in England mit englischen Textilien und Kolonialwaren versorgte, lagerte diese ebenfalls in seinem Haus. Dank seiner Beziehungen wurde er rechtzeitig vor einer bevorstehenden Hausdurchsuchung gewarnt und konnte einen Teil seiner Waren vor den Franzosen verstecken. Allerdings wurde er immer noch mit Schmuggelwaren im Wert von 6000 Gulden ertappt, etwa die Hälfte der Waren umfasste Indigo.74 Neben überraschenden Gewinnen mussten viele Kaufleute erhebliche Verluste hinnehmen, weil Waren, insbesondere ab 1810, beschädigt, verloren oder konfisziert und öffentlich verbrannt wurden. Brügelmann schrieb im April 1801 eine vergleichsweise kleine Garnsendung in Höhe von 8,78 Reichstaler als durch defraudation beschädigte

69 70 71 72 73 74

Kraft, Essen, S. 90, beschreibt verschiedene Routen, über welche die Güter über die Grenze gelangten. Kraft, Essen, S. 88 f. Herzog/Mattheier, Haniel, S. 30. Dufraisse, Commerce, S. 16. Haniel, S. 57. Ferguson, Geschichte, S. 80.

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Ware ab. Schwerer wog dagegen der Verlust von Baumwollgarn auf dem Rhein in Höhe von 29.923,8 Reichstaler.75 Selbst nach der Proklamation des Berliner Dekrets am 21. November 1806 konnten weder die Seehäfen an der deutschen und holländischen Küste noch der Rhein hermetisch abgeriegelt werden. Metallwaren aus dem Bergischen Land überquerten weiterhin die Rheingrenze und fanden ihren Weg über niederländische Häfen oder Bordeaux bis in die Vereinigten Staaten von Amerika. Johann Bernard Hasenclever & Söhne aus Remscheid unterhielt seit 1806 eine Handelsverbindung über Bordeaux in die USA.76 Auch via Rotterdam und Amsterdam wurden Metallwaren aus Remscheid oder Iserlohn weiterhin in die Vereinigten Staaten verfrachtet. Von den 15 mit Fracht aus Remscheid, unter anderem von P. J. Diederichs & Söhne, beladenen Schiffen, die zwischen 1805 und 1813 von der britischen Marine aufgebracht wurden, waren sieben in Amsterdam gestartet. Zwei waren für Barcelona bestimmt und je eines für Bordeaux, La Coruña, Neapel, Lissabon und New York. Vier der aufgebrachten Schiffe waren in New York beziehungsweise Charleston mit dem Ziel Amsterdam aufgebrochen. Sie waren mit Kolonialwaren beladen, die teilweise zur Bezahlung der Metallwaren dienen sollten.77 Welchen Weg diese Handelswaren von Amsterdam aus genommen hätten, bleibt der Spekulation überlassen. Mit dem Dekret von Trianon vom 5. August 1810 versuchte Napoleon, den ihm verhassten Schleichhandel durch geradezu prohibitive Zölle zu beenden. Seine rigorosen Maßnahmen erstreckten sich auch auf den verbreiteten Schleichhandel mit Salz und Tabak. Beides durfte nur aus Frankreich stammen und unterlag dem Monopol der Regie. Die Salzpreise der Regie waren aber für viele Bewohner des Großherzogtums Berg unerschwinglich, was den Schleichhandel förderte. Durch eine ergänzende Verordnung vom 16. August 1810 sollte daraufhin jeder Bewohner je nach der Größe des Haushalts eine bestimmte Menge an Salz abnehmen. Diese Maßnahme hatte jedoch nicht den gewünschten Erfolg, sodass die Einwohner spätestens 1812 durch einen weiteren Erlass gezwungen wurden, eine bestimmte Menge zu kaufen. Bei Nichtabnahme oder Weiterverkauf drohte eine Strafe. Eine Akte im Duisburger Stadtarchiv aus dieser Zeit enthält detaillierte Angaben über alle Einwohner von Duisburg, Düsseldorf, Essen und anderen Städten des Großherzogtums Berg einschließlich Namen, Beruf und der verordneten Abnahmemengen von Salz sowie über den Gesamtbedarf der Städte.78 Um die Versorgung der Bevölkerung zu sichern, sah sich Napoleon aber gleichzeitig gezwungen, nach dem Vorbild Englands Lizenzen auszugeben, die einen beschränkten 75 Baum, Brügelmann, S. 145 f. 76 Engels/Legers, Geschichte, Bd. 1, S. 237; die Firma hatte bereits in den 1790er Jahren mit einem Haus in New York Handel getrieben (vgl. order book of Abraham Varick New York City, New York Historical Society). 77 Engels/Legers, Geschichte, Bd. 1, S. 235, Bd. 2, S. 155. 78 StA Duisburg, Akte Nr. 2157 „Salzregie“.

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Import und Export bestimmter Waren erlaubten. Dies führte auf englischer Seite zu einem Anschwellen der Anträge auf Lizenzen für den Export aufs Festland. Hierdurch wurde Napoleons Blockadepolitik ausgehöhlt. Unruhe und Aufstände brachen aus. Es setzte zwischen Besatzern und Bevölkerung eine Schraube von Gewalt und Gegengewalt ein. Die Zahl der Verhaftungen nahm deutlich zu. Dufraisse hat in seiner Untersuchung zum Rheinland mehr als 4193 Fälle von fraude in den Polizeiakten gefunden, die zu einem überwiegenden Teil aus den Jahren 1810 bis 1813 stammten. Aufgrund der Quellenlage geht er jedoch davon aus, dass dies bei Weitem nicht alle Fälle sind.79 Gleichwohl konnte Napoleon selbst in diesen drei Jahren den Schmuggel nicht völlig unterbinden.

V. Zusammenfassung Vor dem Hintergrund der enormen geografischen Ausdehnung des napoleonischen Reiches war es kaum möglich, die Grenzen hermetisch zu verriegeln. Schlupflöcher entstanden jederzeit, konnten aber ebenso rasch wieder geschlossen werden. Trotz aller Hindernisse konnten Kaufleute und Unternehmer ihr weitreichendes und umfangreiches Handels- und Informationsnetz während der Kriegszeit zumindest teilweise erhalten. Beeindruckend ist ihre Flexibilität, auf Veränderungen, das heißt auf neue und unvorhergesehene Risikosituationen, zu reagieren und alternative Handelswege zu organisieren. Der Umfang des Schleichhandels nahm während der Kriege neue und bis dahin unbekannte Dimensionen an, denn der Schmuggel besaß die breite Unterstützung der Bevölkerung und war durch alle Schichten hindurch gut organisiert. Der Schleichhandel war auch deshalb so ausgedehnt, weil französische Zöllner und Beamte bereitwillig mitmachten. Vom kleinsten Zöllner bis zum obersten französischen Beamten reichte die Bestechlichkeit. Beide Seiten zogen erhebliche Gewinne aus dem Schleichhandel. Zahlreiche höhere und mittlere Beamte in französischem Dienst gelangten auf diese Weise zu Wohlstand. Nach Ansicht von Franz Haniel war der größte Gewinner General Bernadotte.80 Auf deutscher Seite gehörten Dufraisse zufolge unter anderem Kölner Bankiers und Kaufleute, wie Herstatt und Schaaffhausen, zu den Profiteuren.81 Auch Haniel machte, trotz mancher Verluste und Schwierigkeiten, ein Vermögen in dieser Zeit. Ebenso sollen viele Neusser Geschäftsleute nach Aussage eines preußischen Majors aus dem Jahre 1839 durch bedeutenden Schmuggelhandel [während der napoleonischen Zeit] einen grossen Teil ihres jetzigen Wohlstands erworben haben.82 Nicht nur für die großen, sondern auch für die 79 80 81 82

Dufraisse, Commerce, S. 17. Haniel, S. 47. Dufraisse, Commerce, bes. S. 22–24. Zit. nach Engels, Wilhelm, Geschichte der Stadt Neuss, Teil 3: Die preußische Zeit 1814/15–1945 (Schriftenreihe des Stadtarchivs Neuss, Bd. 10, 3), Neuss 1986, S. 200.

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kleinen Schmuggler wurde der Schleichhandel zu einer einträglichen Nebeneinnahme. Nach Darstellung des Präfekten des Departements Bas-Rhin, Henri Shée, verdiente ein Arbeiter oder Bauer, der für zwölf Franc die Woche arbeitete, in einer Nacht mit dem Schmuggel englischer Waren 500 bis 600 Franc.83 Das Risiko, von den Franzosen ergriffen und verurteilt zu werden, war bei kleinen Schmugglern, die die Waren bei Nacht und Nebel über Schleichwege oder den Rhein transportierten, zwar größer als bei den Hintermännern, den Kaufleuten, die diesen Schmuggel auf internationaler Ebene organisierten. Doch auch sie konnten einer Verhaftung nicht immer entgehen. Ihr existenzielles Risiko war jedoch ein anderes. Die Konfiszierung von Waren oder der plötzliche Verlust wichtiger Märkte bedeuteten für viele Kaufleute und Unternehmer mehr als nur finanzielle Einbußen. Denn wenn diese Umstände in eine Insolvenz oder einen Konkurs führten, drohte nach zeitgenössischem Recht den Betroffenen nicht nur der Verlust des gesamten Privatvermögens, sondern auch die Aberkennung aller bürgerlichen Rechte und Ehren und unter Umständen auch der Schuldturm. So mancher wählte aus diesem Grund den Freitod. Der Schleichhandel nahm während der Koalitionskriege auch deshalb eine neue Dimension an, weil die kriegführenden Staaten ihre rigiden Blockademaßnahmen wiederholt aufgrund von Protesten führender Wirtschaftsvertreter aus den eigenen Reihen oder zur Sicherstellung der Versorgung der eigenen Bevölkerung abmilderten. Dies geschah durch Export- und Importlizenzen, deren Ziel die Unterwanderung der Blockaden und Restriktionen war. Jeder Krieg hat seine Gewinner und Verlierer. Von der Kontinentalblockade profitierten auf dem europäischen Festland zwar die jungen, neuen Gewerbezweige, wie die Baumwoll- oder die Rübenzuckerindustrie, die hierdurch vor der übermächtigen Konkurrenz geschützt wurden, doch litten weite Teile der Bevölkerung in den besetzten Gebieten erheblich unter Repression, Arbeitslosigkeit und Armut. Napoleons Maßnahmen zugunsten der eigenen französischen Wirtschaft brachten auch manchen Gewerbezweig zum Erliegen, so etwa das Kölner Tabakgewerbe, das sich davon auch nach dem Ende des Krieges nicht mehr erholte. Mit dem Ende der napoleonischen Ära fielen die Schranken gegenüber England weg, der contrebande hörte auf und englische Waren überschwemmten den Markt. Jahrzehntelang ausgeübte Praktiken der fraude machten es der preußischen Verwaltung nach der territorialen und verwaltungsmäßigen Neuordnung der Rheinprovinzen und der Einführung der preußischen Zoll- und Verbrauchsteuerregelung vom Mai 1818 schwer, den Rheinländern diese Gewohnheiten selbst in Friedenszeiten abzugewöhnen.84

83 Ponteil, Contrebande, S. 266. 84 Zum Schmuggel nach 1818 vgl. Jarren, Volker, Schmuggel und Schmuggelbekämpfung in den preußischen Westprovinzen 1818–1854 (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 4), Paderborn 1992.

Das Rheinland als institutionelles Laboratorium

Französische, rheinische und preußische Einflüsse auf die Kreditwirtschaft während der „Sattelzeit“ Boris Gehlen

I. Einleitung Die Geschichte der Kreditwirtschaft in der Frühindustrialisierung ist in erster Linie Regionalgeschichte. Die Märkte für Kredit- und Versicherungsdienstleistungen waren aufgrund der territorialen Zersplitterung kaum integriert und entsprechend war die Arbeitsteilung zwischen Wirtschaftsregionen nicht sonderlich ausgeprägt. Verkürzt ausgedrückt, prägte der Finanzbedarf vor Ort die Art und Weise, wie Privatbankiers, Kreditinstitute und andere Finanzintermediäre ihre Geschäfte tätigten, für die sie zudem meist auf Mittel zurückgriffen, die durch sie selbst, aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis oder – in geringerem Umfang – durch Depositen aus der Region mobilisiert wurden.1 Insofern liegt ein regionalgeschichtlicher Zugriff auf die Kreditwirtschaft in den Jahrzehnten vor und nach 1815 fraglos nahe. Wie in vielem, setzte auch im Kreditwesen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein institutioneller Angleichungsprozess ein, in dem bestehende Einrichtungen sukzessive den gewandelten sozioökonomischen Bedürfnissen angepasst wurden2 und der bekanntlich von Reinhart Koselleck zu einer „Sattelzeit“ von 1750 bis 1850 begrifflich verdichtet wurde. Teils schuf dabei der Staat, durchaus noch in kameralistischer Tradition, sowohl den rechtlichen Rahmen als auch öffentliche Versorgungseinrichtungen, das heißt Kreditinstitute und Versicherungen, teils ging deren Gründung aber auch von privaten Akteuren aus, die auf Bedürfnisse in den Märkten reagierten. Mit der Integration des Rheinlands in Preußen war mithin kein „institutioneller Schock“ verbunden, wie ihn Ökonomen um Daron Acemoglu in einem vielbeachteten und vielkritisierten Beitrag für die Franzosenherrschaft im Rheinland beschrieben haben.3 In ihrer Perspektive war vor allem die nachhaltige Beseitigung des bisherigen ständischen Rechtssystems sowie die Übertragung effizienter, eigentumssichernder und libera1 Vgl. am Beispiel Kölns Krüger, Alfred, Das Kölner Bankiergewerbe vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1875, Essen 1925, S. 89–93. 2 Wischermann, Clemens/Nieberding, Anne, Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Grundzüge der modernen Wirtschaftsgeschichte, Bd. 5), Stuttgart 2004. 3 Acemoglu, Daron u. a., The Consequences of Radical Reform. The French Revolution, in: American Economic Review 101 (2011), S. 3286–3307; zur Kritik u. a. Kopsidis, Michael/Bromley, Daniel W., The French Revolution and German Industrialization. The New Institutional Economics Rewrites History (Leibniz Institute of Agricultural Development in Transition Economies, Discussion Paper No. 149), Leipzig 2014.

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ler Rechtsnormen durch die Franzosen entscheidend für die – im Vergleich mit anderen Regionen erfolgreichere – wirtschaftliche Entwicklung des Rheinlands. Historiker haben mit einer solchen Sichtweise alleine deshalb Schwierigkeiten, weil sie Gesetzmäßigkeiten unterstellt, wo sich Adaptionsprozesse, Widersprüchlichkeiten, Zufälle und zusätzliche Entwicklungsfaktoren beschreiben lassen, die das Argument eines einzelnen abstrakten, wirkmächtigen „institutionellen Schocks“ substanziell in Frage stellen können. Freilich geht auch eine solche Kritik nicht so weit, die Bedeutung der französischen Herrschaft für das Rheinland zu negieren, wohl aber mag sie verdeutlichen, dass politische Zäsuren ökonomische Prozesse nur selten unmittelbar beeinflussen, sondern in erster Linie den Handlungsrahmen verändern. In Anlehnung an ein heuristisches Konzept Werner Plumpes wird dabei davon ausgegangen, dass sich Praktiken, Semantiken und Institutionen in den Märkten wechselseitig beeinflussten und keineswegs schockartig, sondern evolutionär institutionellen Wandel hervorbrachten.4 Das Epochenjahr 1815 bildete in diesem Sinne den Auftakt für einen rheinisch-preußischen „Dualismus“, bei dem sich – stark zugespitzt – das Leitbild einer dynamischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung französisch-rheinischer Prägung, wie sie vom rheinischen Wirtschaftsbürgertum verkörpert wurde,5 und das paternalistische Konzept einer behutsamen Fortentwicklung, für das die preußische Bürokratie sinnbildlich stand, nachgerade dichotomisch gegenüberstanden.6 In seinem Standardwerk über die Rolle der Banken im rheinischen Industrialisierungsprozess konturierte Richard Tilly diesen konzeptionellen Konflikt bereits deutlich, als er feststellte, dass die preußische Politik nach 1815 für die rheinische Wirtschaftsentwicklung im Allgemeinen und die Finanzmärkte im Besonderen wenig günstig und sogar ein Hemmnis gewesen sei.7 Mit Blick auf das private Bankwesen, das im Mittelpunkt seiner Arbeit stand, ist Tilly dabei fraglos zuzustimmen, doch fiel dem preußischen Staat in anderen Feldern des Kreditwesens – Grundkredit, Sparkassen, Versicherungen – durchaus eine progressive Rolle zu. Nicht von ungefähr waren öffentliche Finanzinstitutionen zentraler Bestandteil der deutschen Kredit-, Kapital- und Finanzmärkte bis in die jüngste Vergangenheit hinein.8 Im Folgenden wird daher nach den modernisierenden und den hemmenden Effekten der preußischen Wirtschaftspolitik auf die rheinische Kredit4 Plumpe, Werner, Ökonomisches Denken und wirtschaftliche Entwicklung. Zum Zusammenhang von Wirtschaftsgeschichte und historischer Semantik der Ökonomie, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 50 (2009), H. 1, S. 27–52. 5 Boch, Rudolf, Grenzenloses Wachstum? Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814–1857 (Bürgertum, Bd. 3), Göttingen 1991. 6 Wischermann/Nieberding, Revolution, S. 150–153. 7 Tilly, Richard H., Financial Institutions and Industrialization in the Rhineland, 1815–1870, Madison/ London 1966, S. 15. 8 Institut für Bank- und Finanzgeschichte e. V., Frankfurt am Main/Bundesverband Öffentlicher Banken Deutschlands, VÖB, e. V., Berlin (Hg.), 100 Jahre Bundesverband Öffentlicher Banken Deutschlands 1916–2016, Stuttgart 2016.

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wirtschaft gefragt, die pfadprägende Wirkung für die deutschen Finanzmärkte im 19. und 20. Jahrhundert herausgearbeitet und damit auch die Frage nach der epochalen Bedeutung des Jahres 1815 aufgegriffen. Wenn auch im Allgemeinen die Literatur- und Quellenlage für die deutsche Finanzgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach wie vor nicht besonders günstig ist,9 so trifft dieser Befund auf das Rheinland nicht zu. Die Geschichte der privaten Banken und ihrer Rolle in der Industriefinanzierung ist sowohl auf Branchenebene als auch für einzelne Institute vergleichsweise umfangreich erforscht,10 doch auch die öffentlichen Banken11, die Sparkassen12 und jüngst die Genossenschaften13 sind eingehend untersucht worden. Selbst für die – mit Ausnahmen – meist randständige Versicherungsgeschichte liegen inzwischen etliche Publikationen vor.14

II. Konturen und Spezifik der Finanzmärkte im Übergang zur Industrialisierung Wie alle Märkte sind Finanz-, Kredit- und Kapitalmärkte Orte, an denen Anbieter und Nachfrager aufeinandertreffen. Sie dienen dazu, Finanzierungsbedürfnisse zu befriedigen, die ein Wirtschaftssubjekt aus eigener Kraft, das heißt aus laufenden Einnahmen oder aus bestehendem Vermögen, nicht selbst realisieren kann. Insbesondere die Banken nehmen hierbei eine volkswirtschaftliche Transformationsfunktion wahr. Sie nehmen Mittel (Depositen) von Anlegern an und verwalten diese. Auf dieser Grundlage vergeben Ban-

  9 So schon Pohl, Hans, Das deutsche Bankwesen (1806–1848), in: Deutsche Bankengeschichte, Band 2, Frankfurt am Main 1982, S. 13–140, hier S. 15; für einen neueren Überblick über den Forschungsstand siehe Wandel, Eckhard, Banken und Versicherungen im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 45), München 1998. 10 Tilly, Institutions; Thomes, Paul, Sparkassen und Banken im nördlichen Rheinland 1789–1913 (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande, Beiheft 7; 16; Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, N.F. 12,1,b,7,16), Bonn 2007; Bräutigam, Heinrich, Das Bankgewerbe des Regierungsbezirks Aachen vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Jahre 1933, Köln 1950. 11 Pohl, Hans, WestLB. Von der Hülfskasse von 1832 zur Landesbank, Düsseldorf/Münster 1982. 12 Pohl, Hans, Die rheinischen Sparkassen. Entwicklung und Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft von den Anfängen bis 1990, Stuttgart 2001. 13 Schlütz, Frauke, Ländlicher Kredit. Kreditgenossenschaften in der Rheinprovinz (1889–1913) (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung, Bd. 25), Stuttgart 2013; Guinnane, Timothy W., Delegated Monitors, Large and Small. Germany’s Banking System, 1800–1914, in: Journal of Economic Literature 40 (2002), S. 73–124. 14 Borscheid, Peter, Die Entstehung der deutschen Lebensversicherungswirtschaft im 19. Jahrhundert. Zum Durchsetzungsprozeß einer Basisinnovation, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 70 (1983), S. 305–330; ders., Feuerversicherung und Kameralismus, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 30 (1985), S. 96–117; Buchloh, Erich, Vom Werden und Wachsen der Rheinischen Provinzial, Düsseldorf 1965.

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ken Darlehn an Kreditnehmer. Depositen und Kredite unterscheiden sich in der Regel durch Höhe, Fristigkeit und Verwendungszweck.15 Um 1800 existierten moderne Finanzintermediäre erst in Ansätzen. Weite Teile der Bevölkerung besaßen keine überschüssigen Mittel, waren weder sparfähig noch kreditwürdig. Zusätzlichen Mittelbedarf konnten sie, wenn überhaupt, meist nur in (kommunalen) Leihhäusern (gegen Pfand) oder durch familiäre Hilfe decken. Besonders die letztgenannte Form informeller Kreditvergabe genießt in der jüngeren Forschung einige Aufmerksamkeit.16 Ihre Bedeutung für die frühe Industrialisierung ist unstrittig, aber es handelt sich hierbei nicht im engeren Sinne um Finanzmarkttransaktionen; sie wird daher im Folgenden nur dann näher betrachtet, wenn sich – wie bei etlichen Privatbanken – aus solchen Netzwerkstrukturen Kreditinstitute entwickelten. Am Ende des 18. Jahrhunderts existierten somit nur wenige Akteure, die institutionalisierten Kredit nachfragten: der Staat beziehungsweise die Gebietskörperschaften, die großflächig betriebene Landwirtschaft, der regionale und überregionale Handel und das entstehende Großgewerbe beziehungsweise die Industrie. Für diese Kreditbedürfnisse entwickelten sich sukzessive spezialisierte Finanzintermediäre, die auf bestimmte Kundengruppen – Anleger wie Kreditnehmer – zugeschnitten waren. Bis heute gilt das Drei-Säulen-System der Kreditwirtschaft – mit gemeinwohlorientierten öffentlichen beziehungsweise öffentlich-rechtlichen Instituten, mitgliederorientierten Genossenschaftsbanken und gewinnorientierten Privatbanken – als historisches Signum dieser segmentierten Entwicklung im Kreditwesen.17 Diese Evolution war freilich nicht ausschließlich Ergebnis von Marktprozessen, sondern auch von unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen und Rechtsentwicklungen, etwa hinsichtlich der Geld- und Währungsordnung. Bis zur Franzosenzeit hatten die ökonomischen Austauschbeziehungen unter der Vielzahl der Münzwährungen, der Unübersichtlichkeit und den Wertschwankungen erheblich gelitten. Mit der französischen Herrschaft war im Rheinland der Franc eingeführt worden. Dies bereinigte die

15 Tilly, Richard, Geld und Kredit in der Wirtschaftsgeschichte (Grundzüge der modernen Wirtschaftsgeschichte, Bd. 4), Stuttgart 2003, S. 15 f. 16 Vgl. klassisch Kocka, Jürgen, Familie, Unternehmer und Kapitalismus. An Beispielen aus der frühen deutschen Industrialisierung, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 24 (1979), S. 99–135, sowie als Beispiele für neuere Forschungen mit sehr unterschiedlichen Ansätzen Fertig, Georg, Äcker, Wirte, Gaben. Ländlicher Bodenmarkt und liberale Eigentumsordnung im Westfalen des 19. Jahrhunderts (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 11), Berlin 2007; Saldnern, Adelheid von, Netzwerkökonomie im frühen 19. Jahrhundert. Das Beispiel der Schoeller-Häuser (Beiträge zur Unternehmensgeschichte, 29), Stuttgart 2009. 17 Hardach, Gerd, Die Entstehung des Drei-Säulen-Modells in der deutschen Kreditwirtschaft 1871–1934, in: Institut für bankhistorische Forschung e. V. (Hg.), Geschichte und Perspektiven des Drei-Säulen-Modells der deutschen Kreditwirtschaft (Bankhistorisches Archiv, Beiheft 46), Stuttgart 2007, S. 13–39.

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Münz- und Währungsverhältnisse und stimulierte den Austausch mit dem (großen) französischen Wirtschaftsraum.18 Die Integration des Rheinlands in das preußische Herrschaftsgebiet war 1815 in dieser Hinsicht zunächst ein Rückschritt, da Preußen gerade erst begann, die zersplitterten Währungsverhältnisse in seinem Herrschaftsgebiet zu vereinheitlichen. Zudem behinderte sie etablierte Handelsbeziehungen mit Frankreich und dem Beneluxraum. Für zahlreiche Unternehmen blieb der Franc – wie auch der niederländische Gulden – daher neben dem preußischen Taler wichtiges Zahlungsmittel und maßgebliche Rechengröße (in der Buchhaltung). Dies war teils der Gewohnheit, teils den Erfordernissen des Exports geschuldet, teils aber auch Ergebnis eines mehrstufigen und daher langwierigen Standardisierungsprozesses des preußischen Staates.19 Die Bewertung der preußischen Münz- und Währungspolitik ist daher umstritten. Je nach Sichtweise gilt die fortbestehende Münzvielfalt im Rheinland mal als Ausweis fehlerhafter preußischer Politik,20 mal hingegen als Auftakt zur Integration des preußischen Wirtschaftsraums.21 Die ökonomischen Auswirkungen der Währungsproblematik waren – jedenfalls auf lange Sicht – freilich nicht übermäßig gravierend, trotz der skizzierten Ineffizienzen zum Beispiel im Exportgewerbe.22 Der preußische Staat war geld- und währungspolitischen Experimenten wenig zugetan. Oberstes Ziel seiner Währungspolitik war es, den Geldwert stabil zu halten und Inflation zu vermeiden. Er betrachtete daher Finanzinnovationen wie Aktien und Banknoten skeptisch, da sie ebenso wie die Ausweitung von Kreditvolumen zusätzlicher Geldschöpfung dienen konnten. Auch fürchtete er, dass neue, potenziell attraktivere, aber gegebenenfalls weniger sichere Anlagemöglichkeiten das Kreditangebot für die Landwirtschaft – den nach wie vor wichtigsten Wirtschaftssektor in Preußen – verknappen und verteuern könnten.23 Mit einer ähnlichen Argumentation verhinderten Vertreter des (Groß-)Grundbesitzes nach 1815 auch eine Steuerreform, die vorsah, die Grundsteuer zu erhöhen. Preußens Steuerpolitik belastete in der Folge die Stadtbewohner stärker als ländliche Grundbesitzer; sie brachte somit für das verdichtete Rheinland zumindest keine Vorteile. Gleichwohl 18 Reckendrees, Alfred, Institutioneller Wandel und wirtschaftliche Entwicklung – Das westliche Rheinland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Gilgen, David/Kopper, Christopher/Leutzsch, Andreas (Hgg.), Deutschland als Modell. Rheinischer Kapitalismus und Globalisierung seit dem 19. Jahrhundert (Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 88), Bonn 2010, S. 45–87, S. 52 f.; Tilly, Institutions, S. 20 ff. 19 Zu den Schwierigkeiten siehe etwa Martin, Paul C., Monetäre Probleme der Frühindustrialisierung am Beispiel der Rheinprovinz (1816–1848) in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 181 (1967), S. 117–150, S. 124 ff. 20 Hierzu v. a. Tilly, Institutions, S. 25–29. 21 So bei Martin, Paul C., Die Einbeziehung der Rheinlande in den preußischen Währungsraum, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 32 (1968), S. 482–497; ders., Probleme. 22 So auch Wischermann/Nieberding, Revolution, S. 109. 23 Tilly, Institutions, S. 13 f.

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blieb die Steuerlast insgesamt niedrig, sodass der ökonomische Effekt dieser ungleichen Steuerpolitik nicht sonderlich ins Gewicht fiel. Doch die Kehrseite der geringen Steuerbelastung waren geringe Steuereinnahmen für den preußischen Fiskus. Deshalb war er darauf angewiesen, andere Finanzierungsquellen zu erschließen. Seit dem Staatsschuldengesetz 1820 war es der preußischen Regierung freilich kaum möglich, sich etwa über Staatsanleihen zu verschulden, ohne in der stets virulenten Verfassungsfrage Zugeständnisse zu machen. Daher spielten auf der Einnahmeseite des Staatsbudgets besonders Erwerbseinkünfte aus Unternehmen und Domänen eine große Rolle.24 Die schmale Einnahmebasis Preußens begrenzte auch die Möglichkeit, politische Prozesse direkt über finanzielle Mittel zu steuern. Deshalb war Preußen bestrebt, privates Kapital für staatliche Zwecke zu aktivieren. Die Instrumente waren dabei vielfältig – zum Beispiel Konzessionen für Aktiengesellschaften, Anlagevorschriften für Kreditinstitute und Sparkassen, Gesetzgebung beziehungsweise Regulierung privater Anbieter wie beim Eisenbahnbau – und sie prägten (auch) die Entwicklung von Kredit- und Versicherungswirtschaft nachhaltig. Ohne die finanziellen Begrenzungen des preußischen Staates und ohne seine politischen Zwangslagen, die auch, aber keineswegs ausschließlich, aus der heterogenen Wirtschaftsstruktur alter und neuer Landesteile resultierten, lässt sich die Entwicklung der Kreditwirtschaft nicht erklären.25 Hinzu kamen Pfadabhängigkeiten. Gerade weil in den alten preußischen Landesteilen fast ausschließlich Landwirtschaft betrieben wurde, hatten sich die dortigen Kreditinstitutionen vornehmlich an den agrarischen sowie den staatlichen Interessen ausgerichtet, wobei „Staat“ und „Großgrundbesitz“ in Preußen ohnehin nicht klar zu trennen waren: Die preußische Administration und namentlich die ostelbische Gutswirtschaft überschnitten sich personell erheblich. Gleichwohl war es auch ökonomisch rational, dass das „alte“ Preußen vornehmlich großagrarische Kreditbedürfnisse im Blick hatte, wenngleich dadurch die – im „neuen“ Preußen zunehmenden – Interessen von Handel, Gewerbe und Industrie zunächst weniger Berücksichtigung fanden. Ähnlich sah die Kreditversorgung von Kleinbauern aus, die freilich erst im Zuge der Bauernbefreiung zumindest theoretisch zu Kreditnachfragern wurden.26 Doch dies änderte sich mit zunehmender Industrialisierung, vor allem des Rheinlands. Für die preußische Geldpolitik ergab sich daraus ein Dilemma, da dem Anstieg der Investitionsnachfrage mit einer Ausweitung der Geldmenge begegnet werden 24 Ullmann, Hans-Peter, Der deutsche Steuerstaat. Geschichte der öffentlichen Finanzen vom 18. Jahrhundert bis heute (Beck’sche Reihe 1616), München 2005, S. 29–33. 25 Vgl. Ziegler, Dieter, Das deutsche Modell bankorientierter Finanzsysteme (1848–1957), in: Windolf, Paul (Hg.), Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 45), Wiesbaden 2005, S. 276–293, hier S. 276–281. 26 Tilly, Institutions, S. 13 ff., Tilly, Richard, Die politische Ökonomie der Finanzpolitik und die Industrialisierung Preußens, 1815–1866, in: ders., Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung. Gesammelte Aufsätze (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 41), Göttingen 1980, S. 55–66. Vgl. auch Wischermann/Nieberding, Revolution, S. 111.

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musste. Eine weiterhin restriktive Geldpolitik hätte zu Deflation und niedrigem Wirtschaftswachstum geführt. Da die neue Industrie, besonders der Eisenbahnbau, große Investitionssummen benötigte und einen höheren Bedarf an umlaufenden Zahlungsmitteln mit sich brachte und weil zudem der Edelmetallbestand zur Prägung von Münzen endlich war, gewannen Urkunden an Attraktivität, die als Zahlungsmittel dienen konnten und deren Wert durch die (garantierte) Umtauschmöglichkeit in Münzgeld oder Edelmetall gesichert wurde: die Banknoten. Nicht von ungefähr machte sich das rheinische Wirtschaftsbürgertum für die Errichtung einer „Zettelbank“ stark und beantragte 1845 beim preußischen Finanzministerium, mit der Kölnischen Bankgesellschaft eine private Notenbank errichten zu dürfen, wie dies in anderen (deutschen) Staaten eher die Regel als die Ausnahme war. Auch für andere rheinische Städte gab es entsprechende Pläne. Die preußische Regierung entschied sich jedoch gegen die dezentrale Notenausgabe und monopolisierte diese seit 1847 bei der der Preußischen Bank – eher aus allgemein- als aus geldpolitischen Erwägungen.27 Zwar konzessionierte Preußen 1855 die Kölnische Privatbank (als Notenbank) doch noch, beschränkte ihr Wirken aber auf die Rheinprovinz, begrenzte das Stammkapital auf eine Million Taler und untersagte ihr die Annahme von Depositen sowie die (umfassende) Diskontierung von Wechseln – kurzum: Mit der Konzessionierung war ihre Bedeutungslosigkeit bereits vorprogrammiert; folgerichtig erlangte sie kreditwirtschaftlich keine nennenswerte Relevanz.28 Die Versorgung der rheinischen Wirtschaft mit Geldmitteln war letztlich auch unter preußischer Herrschaft angemessen gelöst worden, wenngleich die Vorstellungen des rheinischen Wirtschaftsbürgertums eher abstrakt als konkret berücksichtigt wurden. Für die Zeit unmittelbar nach 1815 wird man der preußischen Geldpolitik wohl eine nachteilige Wirkung bescheinigen müssen, da sie etablierte Handlungsmodi und Marktzugänge in Frage stellte, doch langfristig war sie kein hemmender Faktor im rheinischen Industrialisierungsprozess. Für die preußische Finanz- und Wirtschaftspolitik insgesamt fällt das Urteil gemeinhin – bis zum Beginn der 1840er Jahre – weniger günstig aus.29

27 Umfassend zu den Reformdebatten der 1840er Jahre Lichter, Jörg, Preußische Notenbankpolitik in der Formationsphase des Zentralbanksystems 1844 bis 1847 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 55), Berlin 1999, S. 30–95. Für einen Überblick über die Notenbanken in Deutschland siehe die Dokumentation von Fengler, Heinz, Geschichte der deutschen Notenbanken vor Einführung der Mark-Währung, Regenstauf 1992. 28 Krüger, Bankiergewerbe, S. 180. 29 Tilly, Ökonomie; die Rolle des (preußischen) Staates im Industrialisierungsprozess wurde und wird freilich – nicht zuletzt in Abhängigkeit von Zeitgeist und Forschungskonjunkturen – kontrovers diskutiert. Siehe hierzu die konzisen Überblicke bei Hahn, Hans-Werner, Die Industrielle Revolution in Deutschland (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 49), München 1998, S. 76–88, und Boch, Rudolf, Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 70), München 2004, S. 55–77.

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III. Der preußische Input: institutionalisierter Grund- und Bodenkredit Der durch Grundeigentum abgesicherte Kredit gehört zu den wichtigsten Finanzierungsquellen der (deutschen) Wirtschaft. In seiner Frühzeit, ausgehend von einer Kabinettsordre Friedrichs des Großen (1712–1786) von 1769, war der organisierte Bodenkredit als Finanzierungsinstrument für den Großgrundbesitz konzipiert. Ziel war es vornehmlich, die landwirtschaftlichen Kreditverhältnisse zu standardisieren und durch erhöhte Rechtssicherheit die Transaktionskosten zu reduzieren. In Schlesien, Pommern, Ostund Westpreußen wurden daraufhin Landschaften und, unter anderem in der Kur- und der Neumark, Ritterschaften beziehungsweise ritterschaftliche Kreditvereine institutionalisiert, die Realkredite vergaben. Um sich zu refinanzieren, gaben sie langfristige Wertpapiere (Pfandbriefe) aus, die auf der kollektiven Haftung der jeweiligen Ständeorganisation gründeten. Dem Prinzip nach handelte sich um eine genossenschaftliche Organisationsform, die rasch Nachahmer in anderen Territorien fand. Vor allem in Norddeutschland, aber auch in Württemberg und Sachsen entstanden im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert hoheitlich gegründete oder genehmigte Realkreditinstitute, die sich auf die Kreditbedürfnisse des dort dominanten kleinen und mittleren Grundbesitzes richteten. Spezialkreditinstitute für den städtischen Grundbesitz entstanden hingegen – meist in Form privatrechtlicher Hypothekenbanken – erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.30 Die Pfandbriefe beruhten wie die Individualhypothek auf dem Wert von Grundstücken und Gebäuden, doch für den Gläubiger hatten sie einen entscheidenden Vorteil: Die kollektive Garantie der Land- und Ritterschaften reduzierte Informationskosten, da der Immobilienwert, anders als bei der Hypothek, nicht mehr individuell taxiert werden musste. Dadurch wurde letztlich aus einem persönlichen ein unpersönliches und im weiteren Zeitablauf immer stärker verrechtlichtes Kreditverhältnis. Da es sich beim Pfandbrief um ein hypothekarisch besichertes und standardisiertes Wertpapier handelte, war er fungibel, das heißt, er konnte auch über weite Entfernungen sowie an Börsen gehandelt werden. Pfandbriefe wurden zum mit Abstand wichtigsten volkswirtschaftlichen Finanzierungsinstrument in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.31 Diese kreditwirtschaftlichen Entwicklungen erfassten das Rheinland freilich nicht, sondern beeinflussten das dortige Kreditgewerbe allenfalls mittelbar. Durch die lange praktizierte – und durch das französische Erbschaftsrecht noch einmal forcierte – Real30 Hecht, Felix, Landschaften, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Band 4, Jena 1892, S. 927– 930. Umfassend ders., Die staatlichen und provinziellen Bodenkreditinstitute in Deutschland, 3 Bände, Leipzig 1891 ff. Vgl. Schiereck, Dirk, Ritterschaftliche Kreditinstitute in Deutschland, in: Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen 21 (1998), S. 360–369. 31 Borchardt, Knut, Realkredit- und Pfandbriefmarkt im Wandel von 100 Jahren, in: Rheinische Hypothekenbank in Mannheim (Hg.), 100 Jahre Rheinische Hypothekenbank, Frankfurt am Main 1971, S. 105–196, S. 109.

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teilung waren im Rheinland die Grundbesitzverhältnisse stark zersplittert. Doch viele kleine Grundbesitzer waren sehr viel schwieriger zu einem Kreditverband zusammenzufassen als wenige große Gutsbesitzer. Alleine aus diesem Grund war das Pfandbriefkonzept nicht ohne Weiteres auf das Rheinland zu übertragen. Ferner existierte im Geltungsbereich des Code civil keine Grundbuchpflicht, das heißt, es fehlte ein amtlicher Nachweis über das Grundstückseigentum. Wenn solche Nachweise fehlten, bemaß sich die Kreditvergabe vornehmlich an der Glaubwürdigkeit des Schuldners. Mit Recht ist daher hervorgehoben worden, dass der Hypothekarkredit im Rheinland eher ein Personal- als ein Realkredit war.32 Beide Faktoren – Rechtsunsicherheit und zersplitterter Grundbesitz – ließen das Realkreditgeschäft im Rheinland lange ein Schattendasein führen. Private Hypothekenbanken wurden nicht zugelassen, stattdessen wurde der preußische Staat (erst) 1847 selbst aktiv. Er initiierte – nach westfälischem Vorbild – die Provinzial-Hülfscasse für die Rheinprovinz. Das öffentliche Kreditinstitut sollte besonders weniger kapitalstarke Bevölkerungsgruppen (Handwerk, Kleingewerbe), Institutionen und Kommunen mit günstigen Krediten versorgen. Seine Gründung zog sich aber aufgrund der Revolution von 1848 noch bis 1854 hin. Anders als die Landschaften im Osten gab die Provinzial-Hülfscasse keine Pfandbriefe aus, sondern erhielt ein Grundkapital, das die Basis für ihre Kreditvergabe bildete. Sie war explizit als gemeinnütziges Instrument der preußischen Wirtschaftspolitik konzipiert und sollte dort Kreditmöglichkeiten auf hypothekarischer Basis schaffen, wo weder private noch staatliche Institute ein hinreichendes Angebot bereitgestellt hatten. Damit war ein öffentliches Kreditinstitut entstanden, das zwar – wie von der rheinischen Wirtschaft gewünscht – Realkredite vergab, aber nahezu ausschließlich die Kreditbedürfnisse der Kommunen bediente: In der ersten Dekade ihres Bestehens vergab die Provinzial-Hülfscasse lediglich 0,5 Prozent ihrer Kreditmittel an das Gewerbe und sogar nur 0,07 Prozent an die Landwirtschaft.33 Diese verschwindend geringe Finanzierungsleistung der Hülfscasse ist freilich insofern erklärbar, als die Urbanisierung insbesondere rheinische Kommunen vor große Herausforderungen stellte. Doch aufgrund der kommunalen Kreditnachfrage blieb der Realkredit im Rheinland vorerst unterentwickelt. Daran war der preußische Staat keineswegs schuldlos, da er die Gründung privater Hypothekenbanken abgelehnt hatte. Die Bankiers wichen daher auf andere Finanzplätze aus, um im Verein mit anderen Banken Pfandbriefe auszugeben, versuchten aber auch weiterhin, die preußische Regierung davon zu überzeugen, nach französischem Vorbild (crédit foncier) Hypothekenbanken zu konzessionieren. Doch erst seit den 1860er Jahren schwanden die preußischen Widerstände allmählich. Die erste preußische Hypothekenbank wurde 1864 auf Antrag der Direction der 32 Poensgen, Helmuth, Die Landesbank der Rheinprovinz (Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen, Heft 153), Leipzig 1911, S. 2 f.; Pohl, WestLB, S. 43. 33 Pohl, WestLB, S. 43 ff., 51 ff.; Poensgen, Landesbank, S. 6 f.

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Disconto-Gesellschaft und des Kölner Privatbankhauses Sal. Oppenheim mit Sitz in Berlin gegründet. Allerdings hatte die preußische Verwaltung den Handlungsspielraum der Bank durch die 1863 implementierten Normativbestimmungen noch stark begrenzt. Andere Staaten hielten es ähnlich: 1870 existierten auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reichs lediglich neun private Hypothekenbanken, nach Aufhebung der Konzessionspflicht für Aktiengesellschaften im selben Jahr verdoppelte sich ihre Zahl. Treibende Kräfte in Preußen und anderen Staaten waren die großen Privatbankhäuser jener Zeit: Sal. Oppenheim (Köln), Rothschild (Frankfurt/Paris), Bleichröder und David Hansemanns (1790–1864) Disconto-Gesellschaft (beide Berlin), die nach dessen Tod 1864 von seinem Sohn Adolph (1827–1903) geleitet wurde. Gemeinsam gründeten sie nach langer Überzeugungsarbeit und mit Otto von Bismarcks (1815–1898) Segen 1870 die Preußische Central-Bodenkredit AG in Berlin. Neben Oppenheim engagierten sich auch weitere Kölner Bankhäuser im Pfandbriefgeschäft, so vor allem J. H. Stein, Deichmann & Co. und Seydlitz und Merkens. Die „Hypothekenbank-Bewegung“ war somit maßgeblich von rheinischen oder ursprünglich aus dem Rheinland stammenden (Hansemann) Akteuren getragen worden, doch ein Institut, das speziell auf die rheinischen Bodenrechtsverhältnisse zugeschnitten war, fehlte weiterhin. Eine entsprechende Gründung (Rheinisch-Westfälische Bodenkredit A.-G.) war zwar 1871 angegangen worden, kam letztlich über den Projektstatus nicht hinaus, da die Signale aus dem preußischen Handelsministerium wenig günstig waren.34 Der Realkredit war seit dem 18. Jahrhundert ein maßgebliches kreditwirtschaftliches Standbein in Preußen – mit Ausnahme des Rheinlands. Dies lag aber nicht ausschließlich an der preußischen Politik, sieht man von der geringen Bereitschaft ab, frühzeitig private Hypothekenbanken zuzulassen. Mit der Hülfscasse wollte Preußen den Realkredit zwar stärken, aber die tatsächliche Geschäftspolitik bevorzugte einseitig, jedoch notwendigerweise die Kommunen. Doch die Schwierigkeiten des Hypothekarkredits waren in erster Linie auf die fehlende Grundbuchpflicht und mithin die fehlende Dokumentation von Eigentumsrechten zurückzuführen. Letztlich war es in diesem Fall also ausnahmsweise einmal das Erbe der ansonsten modernisierenden Franzosenzeit, das die Entwicklung des Hypothekarkredits im Rheinland hemmte, das in dieser kreditwirtschaftlichen Hinsicht tatsächlich gegenüber dem restlichen Preußen abfiel. Erst die Vorarbeiten zum Bürgerlichen Gesetzbuch, genauer die Grundbuchordnung, vereinheitlichten das Liegenschaftsrecht und integrierten auch diesbezüglich das Rheinland in den deutschen Rechtsraum.35 34 Krüger, Bankiergewerbe, S. 186 ff.; Baehring, Bernd, Hundert Jahre Centralboden. Eine Hypothekenbank im Wandel der Zeiten 1870–1970, Frankfurt am Main 1970, S. 54–58; 1886 gab es 30, ein Jahrzehnt später 40 Hypothekenbanken im Deutschen Reich. Zu den obigen Zahlen und zur Entwicklung insgesamt siehe Hecht, Felix, Die Organisation des Bodenkredits in Deutschland, Abt. 2: Die deutschen Hypothekenbanken, Band 1, Leipzig 1903, S. XXI. 35 Grundbuchordnung. Bekanntmachung des Textes der Grundbuchordnung in der vom 1.1.1900 an geltenden Fassung (20.5.1898), in: RGBl. 1898, S. 754–770; vgl. Thomes, Sparkassen, S. 39 f.; Krüger, Bankiergewerbe, S. 121 ff.

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IV. Der rheinische Input: Privatbankiers und Privatbanken Über die große Bedeutung der Privatbankiers und der Privatbanken für die wirtschaftliche, finanzielle und politische Entwicklung des Rheinlands besteht kein Zweifel. Der Übergang von der alten zur neuen Ordnung kam für sie gerade zum richtigen Zeitpunkt. Während etablierte Bankhäuser sich wie die meisten anderen Privatbankiers im Ancien Régime der Finanzierung von Staaten und Fürstenhäusern verschrieben hatten, setzte eine neue Gruppe von Privatbankiers auf Geschäfte mit Handel und Industrie. Dieser langfristig positive Strukturwandel der rheinischen Bankenwelt hatte ökonomische und politische Ursachen, die einander bedingten und verstärkten. Ökonomisch litten namentlich Kölner Bankiers unter der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt und ihres Umlands im 18. Jahrhundert. Dadurch fehlte es an solventen Abnehmern für Staatsschuldverschreibungen, das damals wichtigste Wertpapier. Der Finanzplatz Köln blieb daher für die grenzüberschreitende Staatsfinanzierung uninteressant, zumal mit Amsterdam und Frankfurt am Main zwei kapitalkräftigere Standorte für den Staatskredit in relativer Nähe existierten.36 Folgerichtig beschränkten sich die Kölner Bankhäuser zumeist weiterhin darauf, die Kurfürsten und Landesherren zu finanzieren. Von Bankgeschäften im modernen Sinne kann dabei freilich nicht gesprochen werden, eher schon vom Rückfluss politischer Renten. Die Stammväter der Bankhäuser von Meinertzhagen, von Hack, von Recklinghausen und von Peltzer waren beispielsweise nicht selten mit Bergwerksbesitz belehnt worden – so Johann Meinertzhagen im Mechernicher Bleibergbau – oder hatten sich anderweitig unter hoheitlichem Schutz ein Vermögen erarbeitet wie die Familie Peltzer im Stolberger Zinkgewerbe oder die Familie Recklinghausen im Kupferbergbau des Siebengebirges. Diese Vermögen bildeten dann die Grundlage für Darlehn an die Fürstenhäuser. Diese Strukturen reichten teils bis in 16. Jahrhundert zurück, doch bald nach dem Einmarsch der Franzosen war das Geschäftsmodell obsolet. Einige Kölner Häuser zogen sich freiwillig aus der Finanzierungstätigkeit zurück und konzentrierten sich auf ihre gewerblichen Kerngeschäfte, andere wurden unter der neuen Herrschaft aufgelöst.37 Nur wenige Bankhäuser änderten ihr Geschäftsmodell und verlagerten sich auf die zukunftsorientierte Finanzierung von Handel, Gewerbe und Industrie. Am bekanntesten ist gewiss das 1789 gegründete Bankhaus Sal. Oppenheim, das Ende des 18. Jahrhunderts – seinerzeit noch in Bonn residierend – als kurkölnischer Hoffaktor ein maßgeblicher Finanzier des Kölner Kurfürsten gewesen war und während der ersten Hälfte

36 Krüger, Bankiergewerbe, S. 5 ff. 37 Perlitz, Uwe, Das Geld-, Bank- und Versicherungswesen in Köln 1700–1815 (Untersuchungen über das Spar-, Giro- und Kreditwesen, Abt. A: Wirtschaftswissenschaft, Bd. 84), Berlin 1976, S. 159–168; Thomes, Sparkassen, S. 21.

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des 19. Jahrhunderts einer der bedeutendsten Industriefinanzierer im deutschen Raum wurde; es residierte seit der Wende zum 19. Jahrhundert in Köln.38 Bis 1850 dominierten generell Privatbankhäuser die gewerblichen Kreditmärkte. Sie waren typischerweise aus Handelshäusern hervorgegangen, Teil einer familienbasierten kaufmännischen Netzwerkökonomie und die größeren verfügten in den europäischen Handelszentren über Niederlassungen oder Partnerbanken. Sie finanzierten gewissermaßen als Nebentätigkeit zum eigenen Warenhandel Handelsgeschäfte Dritter vor, indem sie Handelskredite gewährten. Wichtiges Instrument war hierbei der Wechsel, durch den die Barzahlung großer Warenmengen allmählich an Bedeutung verlor. Ferner wickelten sie den interregionalen Zahlungsverkehr ab, verwalteten die Guthaben ihrer (wohlhabenden) Kundschaft als Depositen und legten sie gemeinsam mit den eigenen, aus dem Handelsgeschäft akkumulierten Mitteln wieder an – häufig in Staatsanleihen, im ausgehenden 18. Jahrhundert aber auch in gewerblichen Krediten oder Beteiligungen. Der ursprüngliche Wohlstand der (großen) Privatbanken fußte zumeist auf den Gewinnen aus dem Warenhandel; ihr Reichtum galt nach außen als Signal für kaufmännische Solidität und begründete derart das Vertrauen auch in das Bankgeschäft.39 Typisch für die Frühzeit des modernen Privatbankwesens ist eine gewisse Unschärfe bei der Abgrenzung von Geschäftstätigkeiten. Einige boten umfassende Finanzdienstleistungen an, andere beschränkten sich auf eine Kreditform oder den bloßen Geldbeziehungsweise Sortenhandel, das heißt die Bereitstellung von Münzgeld in unterschiedlichen Währungen gegen Kommission.40 Auch geografisch unterschied sich das Privatbankwesen noch stark. Hamburger Privatbankiers spezialisierten sich auf die Exportfinanzierung; Berlins Privatbanken spielten bis 1850 noch kaum eine Rolle. Die Frankfurter Privatbankhäuser beteiligten sich zwar vereinzelt als Kreditgeber für das rheinische Gewerbe, doch im Allgemeinen fokussierte sich die Frankfurter Hochfinanz (und mit ihr die dortige Börse) auf das Geschäft mit Staatsanleihen. Dadurch machten sie den rheinischen Bankiers im aufstrebenden Kreditgeschäft mit Gewerbe und Indus38 Vgl. Stürmer, Michael/Teichmann, Gabriele/Treue, Wilhelm, Wägen und Wagen. Sal. Oppenheim jr. & Cie. Geschichte einer Bank und einer Familie, München 1989; Teichmann, Gabriele, Das Bankhaus Oppenheim und die industrielle Entwicklung im Aachener Revier von 1836 bis 1855, in: Köhler, Manfred/Ulrich, Keith (Hgg.), Banken, Konjunktur und Politik. Beiträge zur Geschichte deutscher Banken im 19. und 20. Jahrhundert (Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte, Bd. 4), Essen 1995, S. 9–23. 39 Vgl. konzis den einführenden Überblick bei Ulrich, Keith, Aufstieg und Fall der Privatbankiers. Die wirtschaftliche Bedeutung von 1918 bis 1938 (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung, Bd. 20), Frankfurt am Main 1998, S. 10–15. 40 Zum letztgenannten Punkt für die rheinischen Privatbanken z. B. Zerres, Christopher/Zerres, Michael, Die Bedeutung privater Bankhäuser für die Entwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs im 19. Jahrhundert. Eine handelshistorische Analyse im internationalen Kontext unter besonderer Berücksichtigung der Hansestadt Hamburg (Hamburger Schriften zur Marketingforschung, Bd. 39), München/Mering 2006, S. 81–98.

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trie auch keine Konkurrenz, sondern es entwickelte sich zwischen den Finanzplätzen Köln und Frankfurt eine Arbeitsteilung.41 Der Kapitalbedarf im Zuge der Industrialisierung, namentlich in Rheinland-Westfalen selbst, wurde fortan vornehmlich durch rheinische Bankiers gedeckt. Um die Jahrhundertmitte war das Rheinland mit gut 100 Privatbanken und einer Versorgungsdichte von 27.000 beziehungsweise 28.000 Einwohnern pro Privatbank die statistisch bestversorgte Region im deutschen Raum.42 Ob das Fehlen des institutionalisierten Grundkredits im Rheinland diese Entwicklung begünstigt hat, ist nur schwer zu beurteilen, doch es lässt sich mit einer gewissen Berechtigung annehmen, dass es dazu beitrug, Kapital in den Industrialisierungsprozess zu lenken, das andernfalls in Pfandbriefen oder Staatspapieren angelegt worden wäre. Insofern förderte die weitgehende Absenz des tradierten hypothekenbesicherten „preußischen“ Finanzierungsmodells die Bereitstellung von Risikokapital im Rheinland.43 Die Banken waren freilich bestrebt, ihr Risiko zu begrenzen. Zum Ersten kennzeichnet eine hohe Eigenkapitalquote das Privatbankgeschäft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das heißt, die Risiken aus den Kreditgeschäften waren durch das Vermögen der Privatbankiers zu weit höheren Prozentsätzen abgedeckt, als das heutzutage üblich beziehungsweise notwendig ist (wenngleich der intertemporale Vergleich angesichts der erheblichen Veränderung des Bankgeschäfts nur bedingt aussagekräftig ist): Die Eigenkapitalquote der Privatbankiers lag bis in die 1850er Jahre hinein vergleichsweise konstant bei mehr als einem Viertel des Geschäftsvolumens, während die heutigen Eigenkapitalvorschriften selbst in ihrer verschärften Form Quoten von unter zehn Prozent vorsehen.44 Zum Zweiten konnten die meisten Privatbankiers die Risiken von Unternehmensgründungen oder grundsätzlich von gewerblichen Investitionsentscheidungen verlässlich abschätzen, da sie die gewerblichen Märkte, zunächst vor allem für Textilien, aus ihrer eigenen Handelstätigkeit gut kannten. Zum Dritten reduzierten die Privatbankiers bei größeren Geschäften, später vor allem bei der Platzierung von Aktienkapital, ihre Risiken durch Kooperation, indem sie mit befreundeten oder familiär verbundenen Banken innerhalb und außerhalb des Rheinlands Konsortien bildeten.45 Bis dahin war das Fremdkapital, die Finanzierung über Kredite, der übliche Weg der externen Unternehmensfinanzierung. Freilich blieben auch hierbei die Trennlinien zwischen Industrie- und Bankunternehmung bisweilen unscharf. Als 1838 die Metall41 Krüger, Bankiergewerbe, S. 16 f.; Wormser, Otto, Die Frankfurter Börse. Ihre Besonderheiten und ihre Bedeutung. Ein Beitrag zur Frage der Börsenkonzentration (Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Ergänzungsheft XV), Tübingen 1919. 42 Tilly, Institutions, S. 48. 43 Vgl. auch Wischermann/Nieberding, Revolution, S. 113 f. 44 Vgl. die Berechnungen bei Burhop, Carsten, Köln als Finanz- und Bankplatz im 19. und 20. Jahrhundert [www.rheinische-geschichte.lvr.de; im Erscheinen]. 45 Tilly, Institutions, S. 100 f.

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Abb. 50  Abraham Schaaffhausen (1756–1824), Lithografie von Adolf Hohneck, 1845, Original: Kölnisches Stadtmuseum.

urgische Gesellschaft zu Stolberg gegründet wurde, aus der später die AG für Bergbau-, Blei- und Zinkfabrikation zu Stolberg und in Westfalen hervorging, waren neben Industriellen aus Belgien, Köln, Bonn und Aachen auch der gelernte Bankier Friedrich Thyssen (1804–1877), seinerzeit Direktor der (industriellen) Eschweiler Draht-Fabrik-Compagnie, der Aachener Unternehmer Barthold Suermondt (1818–1887) sowie das Bankhaus Sal. Oppenheim beteiligt. Das Kapital wurde mithin nur zu einem kleineren Teil durch Privatbanken aufgebracht, der Rest stammte von vermögenden Unternehmern, die in Person von Suermondt und Thyssen in 1860er Jahren selbst (kleine) Privatbanken gründeten. Suermondt blieb dabei im Wesentlichen privater Eigenkapitalgeber rheinischer Industrieunternehmen, der zuletzt an der Gründung der Rheinischen Stahlwerke 1870 maßgeblich beteiligt war, während Thyssens Sohn August (1842–1926) zwar zeitweise im Bankgeschäft seines Vaters arbeitete, sich aber für einen anderen Weg entschied und auf der Grundlage des familiären Vermögens einen der größten deutschen Stahlkonzerne schuf.46 Diese Episode verdeutlicht letztlich, wie fluid die Beziehungen zwischen Industrie und Privatbanken im 19. Jahrhundert noch waren: Banken gründeten Industrieunternehmen (mit), Industrielle lernten in Bankhäusern, gründeten bisweilen selbst Banken oder nutzten die familiären Bankhäuser als Grundlage für eine eigene industrielle Kar46 Rasch, Manfred, August Thyssen. Der katholische Großindustrielle der Wilhelminischen Epoche, in: ders./ Feldman, Gerald D. (Hgg.), August Thyssen und Hugo Stinnes. Ein Briefwechsel 1898–1922 (Schriftenreihe der Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Bd. 10), München 2003, S. 12–107, hier S. 19, 22; zur Suermondt siehe Preising, Dagmar, Barthold Suermondt (1818–1887). Vom Kunstsammler in Aachen zum Stifter in Aachen, in: Kasties, Bert/Sicking, Manfred (Hgg.): Aachener machen Geschichte. Vierzehn Porträts historischer Persönlichkeiten, Band 2, Aachen 1999, S. 60–69, hier S. 61.

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riere. Daran lässt sich ablesen, dass die Entwicklung der Kreditwirtschaft, namentlich im Rheinland, auch personell kaum vom Industrialisierungsprozess zu trennen war, selbst wenn die Privatbanken, die mehr oder minder als Keimzelle industrieller Unternehmungen fungierten, finanzhistorisch keinerlei Bedeutung hatten. Für die Entwicklung des Kreditwesens waren daher die Privatbanken in ihrer Funktion als Intermediäre wichtiger. Seit Ausgang des 18. Jahrhunderts waren die großen rheinischen Privatbanken moderner Prägung entstanden und in das Geschäft mit Gewerbekrediten eingestiegen. Privatbankiers wie Johann David Herstatt (1740–1809), der ursprünglich aus dem Seidenhandel kommend 1782 seine Bankfirma in Köln gründete, der C.-G.-Trinkhaus-Vorgänger Christian Gottfried Jaeger (1760–1852; Düsseldorf 1785), Salomon Oppenheim jun. (1772–1828; Bonn 1789, Köln 1801), Johann Heinrich Stein (1773–1820; Köln 1790) und Abraham Schaaffhausen (1756–1824; Köln 1791), Seydlitz & Merkens (Köln 1808), Deichmann & Co. (Köln 1858), J. L. Eltzbacher (Köln 1858), A. & L. Camphausen (Köln 1840er Jahre), Gebrüder Kersten (Elberfeld 1754), die seit 1827 als von der Heydt-Kersten und Söhne firmierten, Johann Wichelhaus (Elberfeld, 1790), J. H. Brink & Co. (Elberfeld 1795), J. L. Oeder & Co. (Aachen 1807), W. T. Zurhelle (Aachen 1809), Gebr. Moolenaar (Krefeld 1812) und das Handelshaus von Beckerath-Heilmann (Krefeld), das sich erst 1838 in eine Bank umwandelte, seit 1841 auch Simon Hirschland in Essen gehörten zu den wichtigsten Vertretern. Die meisten Bankhäuser waren jedoch nur lokal bedeutend, das heißt, sie finanzierten vornehmlich Vorhaben an ihrem Standort, während die Kölner Bankiers Herstatt, Oppenheim, Stein und Schaaffhausen im ganzen Rheinland und darüber hinaus erheblichen Einfluss hatten.47 Jahr

Aachen B

SK

Düsseldorf

Koblenz

B

B

SK

SK

Köln B

Trier SK

B

Rheinprovinz SK

B

1822

8

14

5

19

4

50

1833

11

19

4

13

5

52

1839

3

5

1

1

1

1843 1846

11 93

13

42

13

22

8

98

1849

14

1852

13

45

16

29

7

110

1855

14

37

17

28

6

102

1859 1861

SK

3

41

1 11

25

14

60 54

1

25

10 17

2

8

11 47

1

102

10 12

32

92 141

Tab. 5  Anzahl der Privatbanken (B) und Sparkassen (SK) in der Rheinprovinz 1822–1861. Quelle: Tilly, Financial Institutions, S. 47; Pohl, Die rheinischen Sparkassen, S. 53.

47 Tilly, Institutions, S. 48–54; Thomes, Sparkassen, S. 22 f.; zu Köln v. a. Krüger, Bankiergewerbe, S. 44–88.

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Abb. 51  Bankhaus Joh. David Herstatt, Köln, Hohe Pforte/Ecke Schildergasse, zwischen 1782 und 1788 erbaut, 1929 abgebrochen, um 1900.

Mit zunehmender Industrialisierung stieg die Zahl der privaten Banken deutlich an – besonders im Regierungsbezirk Düsseldorf mit den aufstrebenden Industriestädten der niederrheinischen und bergischen Textilindustrie (Mönchengladbach, Krefeld, Remscheid, Elberfeld, Barmen), der bergischen Eisenindustrie (Solingen) und der Eisenund Stahlindustrie in den rheinischen Teilen des Ruhrgebiets mit den werdenden Großstädten Essen, Duisburg, Mülheim an der Ruhr und Oberhausen; Düsseldorf selbst war als Bankenstandort mindestens bis zur Jahrhundertmitte wenig bedeutend.48 Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des Regierungsbezirks Düsseldorf veränderten sich die Machtverhältnisse freilich nicht, da die großen Kölner Bankhäuser an den meisten Industriegründungen im rheinisch-westfälischen Industriegebiet beteiligt waren und (zunächst) entsprechend mitwuchsen.49 Doch die gestiegene Anzahl der Privatbanken zeugt auch von einem Kreditbedürfnis, das offensichtlich allein von Sal. Oppenheim, Schaaffhausen und anderen nicht bedient werden konnte oder wollte. 48 Henning, Friedrich-Wilhelm, Düsseldorf und seine Wirtschaft. Zur Geschichte einer Region, Band 1: Von den Anfängen bis 1860, Düsseldorf 1981, S. 278–284. 49 Vgl. weiter unten.

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Mit dem kapitalintensiven Bau von Eisenbahnen, der Stahlherstellung und dem Kohlenbergbau stieg die Nachfrage nach langfristigen Investitionsmitteln erheblich an – und mit der Aktiengesellschaft geriet eine vergleichsweise neue Unternehmensform in den Blickpunkt, die durch die Ausgabe von Aktien große Mengen Eigenkapital aufbringen konnte. Dies erkannte auch der preußische Staat an, wenngleich keineswegs vorbehaltlos. Im Einklang mit der vorherrschenden Meinung frühindustrieller Bankiers und Unternehmer entsprach eine anonyme, haftungsbeschränkte Organisation wirtschaftlicher Tätigkeit nicht dem kaufmännischen Ideal der (vollständigen) Eigenverantwortung. Wie schon in der Geldpolitik blieb der preußische Staat auch hinsichtlich der Aktiengesellschaft sehr vorsichtig und behielt sich weiterhin die Entscheidung vor, ob eine solche Gesellschaft konzessioniert wurde oder nicht – auch im Rheinland. Der dort gültige Code de commerce kannte die Aktiengesellschaft zwar als Typus, aber die rechtlichen Instrumente waren bei Weitem noch nicht ausgeprägt.50 Vor allem aber band auch das vergleichsweise liberale französische Recht die Gesellschaftsgründung an eine staatliche Genehmigung. Mangels klarer Normen blieben mögliche Gründer daher häufig auf das Wohlwollen der Verwaltung, in der Regel der Abteilung für Handel und Gewerbe im Innenministerium, angewiesen. Bisweilen beschied die preußische Verwaltung Anträge rheinischer Gesellschaftsgründer abschlägig, darunter zum Beispiel 1838 auch eine von Sal. Oppenheim projektierte Zuckersiederei in Köln.51 Aus Sicht der rheinischen Privatbanken mag die preußische Konzessionierungspolitik daher ein Hemmnis dargestellt haben, weil die Bankiers ein wirtschaftliches Bedürfnis erkannt hatten, auf das der preußische Staat nicht eingehen wollte. Doch so holzschnittartig lässt sich dies kaum bewerten, denn zum einen befand sich Preußen mit seiner vorsichtigen Politik häufig im Einvernehmen mit der Nationalökonomie und der regionalen Kaufmannschaft, die von großen Kapitalgesellschaften eine Beschränkung des Wettbewerbs zu Lasten kleinerer Unternehmen erwarteten.52 Zum anderen wurde vor der Einführung des preußischen Aktiengesetzes von 1843 neben der Zuckersiederei offenbar nur einem weiteren Projekt die Zustimmung verweigert. Gleichwohl hatte der Oberpräsident der Rheinprovinz, Ernst von Bodelschwingh (1794–1854), zu erkennen gegeben, dass die liberale Konzessionspraxis der Bezirksregierungen fortan nicht mehr als Maßstab taugen sollte, sondern dass übergeordnete Interessen beziehungsweise das Gemeinwohl Konzessionsentscheidungen leiten müssten. Diese Haltung bestimmte schließlich auch das preußische Aktiengesetz von 1843 und vor allem die 1845 erlassenen Ausführungsbestimmungen. Während das Aktiengesetz zwar durchaus Traditionslinien zum französischen Recht erkennen ließ, hatten die Ausführungsbestimmungen im Wesentlichen 50 Wischermann/Nieberding, Revolution, S. 83–88. 51 Martin, Paul C., Die Entstehung des preußischen Aktiengesetzes von 1843, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 56 (1969), S. 499–542, hier S. 514–524. 52 Wischermann/Nieberding, Revolution, S. 86 f.

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paternalistischen Charakter.53 Die rheinischen Bankiers und Industriellen begrüßten die Rechtsvereinheitlichung und die im Vergleich mit dem Code de commerce präziseren materiellen Regelungen als Fortschritt, brachten aber für die staatliche Bevormundung kein Verständnis auf.54 Rheinprovinz

Preußen

Anteil Rheinprovinz

Vor 1810

k. A.

8

k. A.

1810–1819

4

8

50,0 %

1820–1829

9

15

60,0 %

1830–1839

16

32

50,0 %

1840–1849

40

81

49,3 %

1850–1859

57

146

39,0 %

Tab. 6  Aktiengesellschaften in Preußen und der Rheinprovinz 1800–1859. Quelle: Reckendrees, Aktiengesellschaften, S. 149 (Tabelle 3).

In erster Linie konzessionierte Preußen dort Aktiengesellschaften, wo das erforderliche Betriebskapital so groß war, dass es nicht mit herkömmlichen Instrumenten aufgebracht werden konnte: im Bergbau, im Transport- sowie im Versicherungswesen.55 In der Frühindustrialisierung war etwa die Hälfte aller preußischen Aktiengesellschaften in der Rheinprovinz ansässig. Diese Führungsrolle ist nicht zuletzt auf das Wirken der Privatbankiers zurückzuführen, die als Gründer, Finanziers und Vermittler fungierten, über das nötige rechtliche und wirtschaftliche Know-how verfügten und zudem hinreichend politisches Geschick und Energie besaßen, um die staatlichen Stellen in häufig langwierigen Konzessionsverhandlungen für eine Gesellschaftsgründung zu gewinnen.56 Für den Aufschwung der Aktiengesellschaft seit den 1840er Jahren setzte das Aktiengesetz von 1843 keine nachhaltigen Impulse.57 Die Verbreitung der AG ging letztlich vom Eisenbahnbau aus, für den es seit 1838 ein Spezialgesetz gab, das sich in regulatorischer Hinsicht als sehr flexibel erweisen sollte, da es mal privaten Wettbewerb forcierte, mal staatliche Interessen durchzusetzen half.58 Seine finanzhistorische Bedeutung ist freilich höher einzuschätzen. Die Eisenbahnaktiengesellschaften der Rheinprovinz wurden maß53 Vgl. Reckendrees, Alfred, Zur Funktion der Aktiengesellschaften in der frühen Industrialisierung, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 59 (2012), S. 137–174, hier S. 144 f. 54 Kellenbenz, Hermann/Eyll, Klara van, Die Geschichte der unternehmerischen Selbstverwaltung in Köln 1797–1914, Köln 1972, S. 120. 55 Vgl. Reckendrees, Funktion, S. 151 (Tabelle 5). 56 Kellenbenz/Eyll, Geschichte, S. 120. 57 Reckendrees, Funktion, S. 147. 58 Umfassend hierzu Michalczyk, Roman, Europäische Ursprünge der Regulierung von Wettbewerb. Eine rechtshistorische interdisziplinäre Suche nach einer europäischen Regulierungstradition am Beispiel der Entwicklung der Eisenbahn in England, Preußen und den USA (Rechtsordnung und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1), Tübingen 2010.

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Abb. 52  Wachthaus und Börse in Köln auf dem Heumarkt, aquarellierte Zeichnung von Carl Bolzius, 1850, Original: Kölnisches Stadtmuseum, Graphische Sammlung.

geblich von der rheinischen Hochfinanz – Oppenheim, Herstatt, Stein, Mevissen, Camphausen, Hansemann – initiiert und teils geleitet. Die Angehörigen der Hochfinanz fungierten dabei als Gesellschafter, als Kreditgeber und als Kontrolleure der Unternehmen, agierten häufig gemeinsam und erprobten kooperative Bank-Bank- sowie Industrie-BankBeziehungen. Diese Muster blieben nicht auf die Eisenbahngesellschaften beschränkt, sondern wurden auf die neuen Aktiengesellschaften jener Branchen übertragen, die mit dem Eisenbahnbau aufs Engste verflochten waren: Kohle, Eisen und Stahl. Zwar gründeten sich solche Aktiengesellschaften seit den 1850er Jahren zunehmend in Westfalen, wodurch der Anteil der in der Rheinprovinz beheimateten AGs zurückging, doch blieben die rheinischen Privatbankiers (und Industriellen) die maßgeblichen Akteure für die Finanzierung der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie.59 Die Aktien der Eisenbahn- und zunehmend der Industriegesellschaften wurden indes kaum an den rheinischen Börsen gehandelt. Besonders die Kölner Bankiers erblickten in der örtlichen Börse eine ungeliebte Konkurrenz und hielten sie so klein, dass sie faktisch 59 Vgl. ausgehend von der Rheinischen Eisenbahngesellschaft die treffenden Überlegungen bei Tilly, Richard H., Vom Zollverein zum Industriestaat. Die wirtschaftlich-soziale Entwicklung Deutschlands 1834 bis 1914 (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit, dtv 4506), München 1990, S. 60–66.

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bedeutungslos blieb. Stattdessen nutzten sie, häufig unter Führung Oppenheims, Bankkonsortien und etablierte Geschäftsverbindungen, um die Aktien ihrer Gründungen an den Börsen in Berlin, Paris, Frankfurt und Brüssel zu platzieren.60 Diese Geschäftspolitik trug einerseits zur Integration der Kapital- und Kreditmärkte bei: Während bis dahin häufig rheinisches (und belgisches) Kapital rheinisches Gewerbe finanzierte, erschlossen die führenden Privatbankiers geografisch entlegene, aber sprudelnde Kapitalquellen und leiteten die Mittel in den rheinischen Industrialisierungsprozess um. Andererseits schoben sich dadurch die Banken als Vermittler zwischen die Anbieter und die Nachfrager von Eigenkapital, die sich theoretisch auch direkt an der Börse hätten treffen können. Damit begründeten sie eine langlebige Tradition der bankorientierten Unternehmensfinanzierung in Deutschland, zumal die Privatbanken sich selbst dauerhaft Anteile an den industriellen Gesellschaften sicherten, diese berieten und ihre Geschäftsführung kontrollierten – Muster, die später als „rheinischer Kapitalismus“61 tituliert oder unter dem Begriff „Deutschland AG“ publizistisch verhandelt werden sollten.62 Für die rheinischen Privatbankiers kam mit dem Geld auch Gestaltungsmacht. Mit den Multiunternehmern David Hansemann und Ludolf Camphausen (1803–1890) sowie dem Bankier August van der Heydt (1801–1874) stellte das rheinische Großbürgertum unter anderem einen preußischen Ministerpräsidenten und zwei Finanzminister der 1840er und 1850er Jahre, die in diesen Funktionen freilich nicht durchweg im Interesse ihrer sozialen Gruppe agierten.63 Die (rheinischen) Privatbankiers dominierten den Industriekredit und das Investmentgeschäft bis in die 1850er Jahre und blieben auch danach bedeutend. Dies lag nicht zuletzt daran, dass Preußen keine Aktienbanken konzessionierte. Somit gab es in Preußen kaum Möglichkeiten, Banken auf breiter Kapitalbasis zu errichten, um mit eigenen Mitteln große Projekte zu finanzieren. Trotz imposanter Zuwachsraten beim Eigenkapital besonders bei Oppenheim und Schaaffhausen, war das Wachstumspotenzial privater, inhabergeführter Bankhäuser damit begrenzt. Zwar führte der Eisenbahnboom der 1840er Jahre allmählich zu einem Umdenken, aber noch bis 1870 blieb die Aktiengesellschaft eine ungebräuchliche Rechtsform für Banken. Sie existierte, wenn überhaupt, außerhalb Preußens – so etwa die 1853 gegründete Bank für Handel und Indus60 Tilly, Institutions, S. 100, 118 f.; Kellenbenz/Eyll, Geschichte, S. 77. 61 Albert, Michel, Capitalisme contre capitalisme, Paris 1991. Zur Einordnung vgl. Hockerts, Hans Günter/Schulz, Günther, Einleitung, in: dies. (Hgg.), Der „Rheinische Kapitalismus“ in der Ära Adenauer (Rhöndorfer Gespräche, Bd. 26), S. 9–28. 62 Reckendrees, Alfred, Historische Wurzeln der Deutschland AG, in: Ahrens, Ralf/Gehlen, Boris/Recken­ drees, Alfred (Hgg.), Die „Deutschland AG“. Historische Annäherungen an den bundesdeutschen Kapitalismus (Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte, Bd. 20), Essen 2013, S. 57–84. 63 Vgl. zu Camphausen und Hansemann Boch, Wachstum, S. 248–256, der von einem „völligen Scheitern“ ihrer Politik spricht. Ebd., S. 250.

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Abb. 53  Der Bankier Salomon Oppenheim jun. (1772– 1828), Gründer des gleichnamigen Kölner Bankhauses, nach einem Gemälde von Joseph Weber (1803–1881).

trie in Darmstadt. An ihrer Gründung waren auch rheinische Privatbankiers beteiligt, die so – wie schon in ähnlichen Fällen zuvor – die einengenden preußischen Regelungen umgehen und sie gleichzeitig unter Druck setzen konnten. Doch auch innerhalb Preußens fanden sich Mittel und Wege, die restriktiven Vorgaben des Aktiengesetzes zu umgehen. Kommanditgesellschaften auf Aktien waren nicht haftungsbeschränkt und nur anmelde-, aber nicht konzessionierungspflichtig. In dieser Rechtsform entstanden, dem französischen Beispiel folgend, zum Beispiel 1851 in Berlin die Disconto-Gesellschaft (unter maßgeblicher Beteiligung David Hansemanns) und die Berliner Handelsgesellschaft 1856.64 Zur ersten deutschen Aktienbank war dennoch bereits 1848 ein preußisches beziehungsweise ein rheinisches Institut avanciert, wenn auch höchst unfreiwillig. In der schweren Wirtschaftskrise 1847/48 waren viele Beteiligungen und Kredite Schaaffhausens notleidend geworden. Kunden konnten ihre Kredite nicht zurückzahlen und die Kurse von Beteiligungen waren eingebrochen. Zugleich war Schaaffhausen langfristige, grundsätzliche sichere Beteiligungen eingegangen, die aber nicht kurzfristig liquidierbar waren. Die kurzfristigen Verbindlichkeiten überstiegen die Eigenmittel der Bank. Sie war damit zwar zahlungsunfähig, aber ihre Vermögenswerte waren grundsätzlich intakt. Dennoch fand die Bank angesichts der angespannten Geldmarktsituation keinen Kreditgeber der letzten Hand. Mit der preußischen Regierung verständigten sich 64 Tilly, Institutions, S. 111–117; Pohl, Manfred, Die Entwicklung des deutschen Bankwesens zwischen 1848 und 1870, in: Deutsche Bankengeschichte, Band 2, Frankfurt am Main 1982, S. 143–220, hier S. 171–188.

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die Gläubiger der Bank darauf, Schaaffhausen in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln und aus bestehenden Kreditgebern Aktionäre zu machen. Darunter befanden sich zahlreiche rheinische Bankiers und Industrielle, die mehrfach zuvor vergeblich versucht hatten, Konzessionen für Aktien- oder Hypothekenbanken zu erhalten. Preußen gab nun unter dem Eindruck von Wirtschaftskrise und Revolution nach und stellte kurzfristig auch einen Überbrückungskredit zur Verfügung. Dies geschah nicht aus prinzipiellen Erwägungen, sondern weil A. Schaaffhausen einer der größten Kreditgeber der rheinisch-westfälischen Industrie war. Eine Insolvenz der Privatbank hätte kaum abzuschätzende Folgen für die Realwirtschaft gehabt. Sie war – um sich moderner Terminologie zu bedienen – systemrelevant.65

V. Preußische Nachzügler, rheinische Pioniere: Sparkassen, Genossenschaften und Versicherungen Während das Rheinland für die Entwicklung des modernen privaten Bankwesens fraglos eine Führungsrolle einnahm, erfasste die Sparkassenidee die Region nur zögerlich. Nicht von ungefähr sollte die erwähnte Provinzial-Hülfscasse noch 1854 explizit die Entwicklung des Sparkassenwesens vorantreiben und den kommunalen Sparkassen zum Beispiel Anlagemöglichkeiten für Spargelder bieten.66 Die Sparkassenidee selbst war ein originär bürgerliches, vornehmlich in Mittel- und Nordeuropa verbreitetes Selbsthilfekonzept, das untere und mittlere Bevölkerungsschichten zu Spartätigkeiten anhalten sollte, um für Notlagen vorzusorgen. Seit Ende des 18. Jahrhunderts wurden auf dieser Grundlage zunächst Sparkassen in privater Trägerschaft gegründet – im deutschen Raum vor allem in Norddeutschland; Sparkassen in kommunaler Trägerschaft sind hingegen eine preußische Innovation; die Berliner Sparkasse von 1818 gilt als Prototyp der später dominanten öffentlich-rechtlichen Sparkasse.67 Im Rheinland präferierte das Bürgertum zunächst allerdings andere Formen vorsorgender Sozialpolitik; private Ursparkassen gab es anders als in Norddeutschland nicht. Stattdessen errichteten Fabriken interne Spar- und Unterstützungskassen, und mit dem Aachener Verein zur Beförderung der Arbeitsamkeit beheimatete das Rheinland eine besondere Organisation, die Elemente der Sparkassenidee mit unternehmerischem Paternalismus kombinierte. Der Aachener Verein – eine Gründung David Hansemanns – verband seit 1825 Leistungen für ärmere Bevölkerungsschichten mit erzieherischen Maßnahmen vor allem für Kinder und Jugendliche. Er finanzierte sich zunächst allein 65 Krüger, Bankiergewerbe, S. 55 ff., Pohl, Entwicklung, S. 173–178. 66 Poensgen, Landesbank, S. 4 ff. 67 Pohl, Hans, Die Etablierung von Sparkassen in Mitteleuropa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Pix, Manfred (Hg.), Sparen – Investieren – Finanzieren. Gedenkschrift für Josef Wysocki (Sparkassen in der Geschichte, Abt. 3: Forschung, Bd. 13), München 1997, S. 89–117.

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Abb. 54  David Hansemann, Leiter der Rheinischen Eisenbahngesellschaft, vor 1864.

aus den Überschüssen der Aachener Feuer-Versicherungs-Gesellschaft, ebenfalls von Hansemann gegründet. Dieser hatte zuvor eine Einbindung von Sparkassen noch verworfen, weil gerade die frühen Institute der 1820er Jahre häufig unter finanziellen Problemen litten. Seit 1829 angedacht, errichtete der Verein schließlich seit 1834 aber doch Prämien- und Sparkassen, denen eine sparerzieherische Funktion zugedacht war. Die Kapitalkraft der Aachener Feuerversicherung diente als Sicherheit des Spargeschäfts. Nicht zuletzt deshalb entwickelte sich der Aachener Verein zur rheinischen „Sparkasse“ mit dem höchsten Bestand an Spareinlagen im 19. Jahrhundert; ein Nebeneffekt seiner Stärke war, dass im Regierungsbezirk Aachen kommunale Sparkassen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts relevant wurden.68 Der Aachener Verein war freilich in vielem atypisch, institutionelle Nachahmer von Bedeutung fand er nicht. Einen gewissen Vorbildcharakter innerhalb der rheinischen Sparkassenentwicklung hatte hingegen Koblenz.69 Dort hatte die französische Präfektur ein städtisches Leihhaus errichtet, das gegen Pfand und Zinszahlungen Kredite vergab. 68 Pohl, Hans, Die Sparkasse als liberales Wohlfahrtsinstrument. David Hansemanns „Aachener Verein zur Beförderung der Arbeitsamkeit“, in: Feldenkirchen, Wilfried/Krüger, Ingo (Hgg.), Standortbestimmung Sparkassengeschichte. Festschrift für Manfred Pix (Sparkassen in der Geschichte, Abt. 1: Dokumentation, Bd. 19), München 2000, S. 315–331; Thomes, Paul, Die Spar- und Prämienkasse des Aachener Vereins zur Beförderung der Arbeitsamkeit als alternatives gemeinnütziges Unternehmenskonzept, in: Feldenkirchen/Krüger, Standortbestimung, S. 333–345; vgl. Pohl, WestLB, S. 39 ff. 69 Vgl. etwa Spoo, Hans Hermann, Das Bankgewerbe in Neuwied am Rhein im 19. und 20. Jahrhundert (Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte, Bd. 39), Köln 1999, S. 18, der explizit auf die Koblenzer Vorbildfunktion für (1824 vorerst erfolglose) Versuche hervorhebt, in Neuwied eine Sparkasse zu eröffnen.

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Weil die Kapitaldecke des Leihhauses gering war und ihre Kreditmöglichkeiten einschränkte, wurde 1822 – nach Berliner Vorbild – eine kommunale Sparkasse eingerichtet und mit dem Leihhaus verbunden. Elberfeld (1822), Kleve, Düsseldorf, Trier (1825), Köln (1826), Wesel (1827), Neuss (1828), Aachen (1829) und Düren (1832) folgten kurz darauf. Meist drängten Provinzialverwaltung oder Landräte die Kommunen, Sparkassen einzurichten – auch, um die kommunalen Etats für die Armenfürsorge zu entlasten. Die rege Gründungstätigkeit der späten 1820er Jahre ist aber noch kein Indikator für den Durchbruch des Sparkassenwesens im Rheinland. Die Institute kämpften mit organisatorischen und finanziellen Schwierigkeiten und litten zunächst noch unter einem Mangel an Akzeptanz – bei potenziellen Sparern, deren Sparfähigkeit ohnehin noch recht gering war, und bei den kommunalen Eliten. Während die Sparkassen vornehmlich in kleineren Gewerbestädten als Instrument der Armenfürsorge begrüßt wurden, überwog in den größeren Gewerbestädten wie Köln, Düsseldorf, Solingen, Elberfeld oder Mönchengladbach die Skepsis; in der ländlich geprägten südlichen Rheinprovinz sahen die Kreise und Gemeinden zunächst gar keinen Bedarf dafür, Sparkassen zu gründen.70 Mit dem Sparkassenreglement von 1838 definierte Preußen Standards, die bis ins 20. Jahrhundert gültig bleiben sollten.71 Die Rechtssicherheit, verbunden mit einer materiellen Prüfung durch die Regierungspräsidien, reduzierte auch die Skepsis der Kommunen. Bis 1838 waren in der Rheinprovinz lediglich elf Sparkassen gegründet worden, 1849 existierten bereits 32 und zehn Jahre später 92 (vgl. Tabelle 5). Besonders unter dem Eindruck der schweren Wirtschaftskrise von 1847 und der Revolution von 1848 hatte der preußische Staat die Gründung von Sparkassen nochmals forciert. Fraglos stand hierbei zunächst ihre sozialpolitische Funktion – die Vorsorge für Notlagen – im Vordergrund, doch allmählich und mit wachsenden Einlagenbeständen gewann auch die Funktion der Sparkassen als Kreditgeber an Bedeutung. Die Anlagemöglichkeiten waren indes (weitgehend) auf „mündelsichere“ Anlageformen wie Staatspapiere, Hypotheken und Kommunaldarlehn beschränkt. Derart leisteten die Sparkassen zusehends einen wichtigen Beitrag beim Aufbau und der Erweiterung der kommunalen und regionalen Infrastruktur.72 Angesichts des wirtschaftlichen Potenzials der Rheinprovinz entwickelte sich das dortige Sparkassenwesen im preußischen Vergleich unterdurchschnittlich. Zwar stellte die Rheinprovinz 1849 die größte Sparkasse in Preußen, doch dabei handelte sich gerade nicht um eine „preußische Sparkasse“, sondern um den privaten Aachener Verein, dessen Erfolg in den 1850er Jahren sogar dazu führte, dass die kommunalen Institute in Aachen und Düren wieder geschlossen wurden. Bis auf die Sparkasse in Elberfeld (Platz 6) ran70 Pohl, Die rheinischen Sparkassen, S. 38 ff.; Thomes, Sparkassen, S. 10 ff. 71 Wehber, Thorsten, Das preußische Sparkassenreglement von 1838. Individuelle finanzielle Vorsorge in kommunaler Regie, in: Lindenlaub, Dieter/Burhop, Carsten/Scholtyseck, Joachim (Hgg.), Schlüsselereignisse der deutschen Bankengeschichte, Stuttgart 2013, S. 90–104. 72 Thomes, Sparkassen, S. 11 ff.; Pohl, Die rheinischen Sparkassen, S. 48–57.

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gierten die meisten rheinischen Institute in der Rangliste der größten preußischen Sparkassen unter ferner liefen: Köln (15), Barmen (17), Düsseldorf (23).73 Die Sparkassen ergänzten dennoch das kreditwirtschaftliche Gefüge im Rheinland, indem sie jenseits des wohlhabenden Bürgertums Anlagemöglichkeiten für untere und mittlere Gesellschaftsschichten boten und über ihr Aktivgeschäft dem Gemeinwohl dienten. Im Gegensatz zu vielen anderen preußischen Regionen mussten sie sich aber erst gegen ein etabliertes Privatbankwesen behaupten. Zwar überschnitten sich Einlegerkreise und Geschäftsmodelle eigentlich nicht, aber die Depositen insbesondere von Gewerbebetrieben und deren Eignern, die bei den Privatbanken angelegt wurden, konnten den Sparkassen nicht mehr zufließen.74 Das Kreditangebot war im Rheinland offenbar so hinreichend, dass eine weitere institutionelle Innovation zunächst ebenfalls in anderen Teilen Deutschlands Verbreitung fand: die gewerblichen Kreditgenossenschaften nach dem Schulze-Delitzsch-Prinzip, die als Reaktion auf die 1848er Revolution entstanden und Hilfe durch Selbsthilfe organisierten. Zu Beginn der 1860er Jahre sind für die Rheinprovinz lediglich fünf entsprechende Vorschussvereine aufgeführt, während im gesamten deutschen Raum bereits mehr als 350 Kreditgenossenschaften existierten.75 Hingegen hatten bis zum Ende der 1840er Jahre weder private noch staatliche Initiativen die defizitäre Kreditversorgung der (rheinischen) Landwirtschaft beheben können. Die durch die Realteilung kleinparzellierte rheinische Landwirtschaft besonders in den kargen Mittelgebirgen war für Kreditinstitute keine attraktive Kundschaft. Ihr Kreditbedarf war gering, die Transaktionskosten für die städtischen Banken, die ländliche Kundschaft zu erreichen und auf Kreditwürdigkeit zu prüfen, hingegen hoch.76 Daher blieb die Landwirtschaft lange sich selbst überlassen. Durch die Ideen und Initiativen Friedrich Wilhelm Raiffeisens (1818–1888), der als Verwaltungsbeamter und Bürgermeister im Westerwald die Notlage der ländlichen Bevölkerung in den 1840er Jahre erlebt hatte, ergänzte die ländliche Genossenschaft – lokale Vereinigungen von Landwirten, die Einlagen ihrer Mitglieder annahmen und ihnen bei Bedarf Kredite vergaben – das Institutionengefüge zunächst der rheinischen Kreditwirtschaft, seit den 1860er Jahren zunehmend auch in anderen ländlichen Regionen. 1866 gab es in der Rheinprovinz freilich erst fünf, Ende 1871 immerhin bereits 77 „Raiffeisen-Genossenschaften“. Zwischen73 Thomes, Sparkassen, S. 12. 74 Vgl. Tilly, Institutions, S. 64 f. 75 Angaben nach Crüger, Hans, Die Erwerbs- und Wirthschafts-Genossenschaften in den einzelnen Ländern, Jena 1892, S. 153; Guinnane, Timothy W., Zwischen Selbsthilfe und Staatshilfe. Die Anfänge genossenschaftlicher Zentralbanken in Deutschland 1864–1914, in: Institut für bankhistorische Forschung (Hg.), Die Geschichte der DZ Bank. Das genossenschaftliche Zentralbankwesen vom 19. Jahrhundert bis heute, München 2013, S. 41–144, hier S. 46. 76 Eine gelungene Beschreibung für die kreditwirtschaftlichen Strukturen und Probleme der Peripherie liefert Spoo, Bankgewerbe, S. 9–30.

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zeitlich hatte zudem der Norddeutsche Bund 1868 den gesetzlichen Rahmen für das Genossenschaftswesen definiert.77 In Relation zu anderen Finanzintermediären waren die Genossenschaften allerdings nur von untergeordneter Bedeutung. Gemessen an den Aktiva lag ihr Anteil 1860 bei nur 0,2 Prozent, während die Notenbanken (22,4 Prozent), die Privat- und Kreditbanken (44,5 Prozent), die Grundkreditinstitute (16,9 Prozent) und die Sparkassen (12,0 Prozent) über ein deutlich höheres Kredit- und Anlagevolumen verfügten. Die übrigen vier Prozent entfielen auf Versicherungen.78 Diese – im Wesentlichen zu unterscheiden nach Feuerbeziehungsweise Schadens-, Transport- und Lebensversicherungen – transformierten zwar individuelle Sparleistungen in langfristige Vermögensanlagen, doch aus Sicht des preußischen Staates verfügten Versicherungen über den Vorteil, kein zusätzliches Geld schöpfen zu können. Daher konzessionierte Preußen Versicherungen vergleichsweise häufig als Aktiengesellschaften und eröffnete somit privaten Unternehmern – nach ausländischem Vorbild – den Einstieg in die Versicherungsmärkte.79 Versicherungen minimieren Risiko und erhöhen folglich die Sicherheit von Investitionen. Sie galten daher als gemeinnützig. Doch die preußischen Interessen an einer auch privaten Tätigkeit im Versicherungswesen gingen über die sehr abstrakte mittelbare Investitionsförderung weit hinaus. Seit der Frühen Neuzeit hatten die deutschen Territorien auf staatlicher oder provinzieller Ebene selbst Feuerversicherungen etabliert. Dabei ging es ihnen zum einen darum, individuelle Schäden durch Brände abzusichern, zum anderen aber zugleich darum, den landwirtschaftlichen Kredit zu festigen. In der Regel erhielt man nur einen Hypothekarkredit (einer Landschaft), wenn man die Police einer Schadensversicherung vorlegte, das heißt, der Kreditgeber konnte im Falle eines Kreditausfalls entweder die Immobilie selbst verwerten oder erhielt im Brandfall die entsprechende Versicherungssumme ausbezahlt. Nicht zuletzt wegen der Verknüpfung von Grundkredit und (Feuer-)Versicherung galten Hypotheken als sichere Anlageform.80 Diese Verknüpfung existierte freilich auch umgekehrt, denn die preußischen Aufsichtsbehörden konzessionierten Versicherungen nur dann, wenn diese ihre Mittel auch gemeinnützig anlegten, das heißt wiederum: vor allem in Hypotheken.81 Derart wurden auch die privaten Versicherungen in die staatlichen Zielsetzungen einbezogen, ohne ihre grundsätzliche Bewegungsfreiheit einzugrenzen. Als Unternehmer traten Staat und Privatversicherung lediglich in der Schadenversicherung in den Wett77 Pohl, Entwicklung, S. 209. Zu Raiffeisen statt vieler nun Kopsidis, Michael, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, in: Institut für bankhistorische Forschung (Hg.), Sozialreformer, Modernisierer, Bankmanager. Biografische Skizzen aus der Geschichte des Kreditgenossenschaftswesens, München 2016, S. 59–77. 78 Guinnane, Monitors, S. 81. 79 Tilly, Institutions, S. 120 f. 80 Siehe v. a. Borscheid, Feuerversicherung. 81 Bargen, Malte von, Vermögensanlage in der deutschen Lebensversicherung, Frankfurt am Main 1960, S. 72.

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Abb. 55  Gustav Mevissen (1815–1899), berühmter Kölner Großindustrieller, Lithografie von Adolf Günther und Gustav Reubke, Original: Kölnisches Stadtmuseum, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. G 7684 a.

bewerb. Weil die öffentlichen Versicherungen einen Kontrahierungszwang auferlegt bekommen hatten, wurden sie steuerlich begünstigt. Der preußische Staat hielt zudem an einigen paternalistischen Regelungen fest – jeder Vertragsabschluss wurde von den Polizeibehörden präventiv (und kostenintensiv) kontrolliert –,82 doch selbst in diesem besonders stark regulierten Wettbewerbssegment fassten zahlreiche private Unternehmen Fuß, nicht zuletzt, weil Preußen 1837 den Markt „nationalisierte“ und der bis dahin umfangreichen Tätigkeit ausländischer Versicherungen enge Grenzen setzte.83 Davon profitierte zuvorderst die Colonia Kölnische Feuer-Versicherungs-Gesellschaft, die unter maßgeblicher Beteiligung der größten Kölner Privatbankhäuser eine französische Konzession übernahm und seit 1839 insbesondere Gewerbe und Industrie versicherte. Zuvor waren im Rheinland freilich bereits die Vaterländische Feuer-­ Versicherungs Gesellschaft in Elberfeld (1823) und die erwähnte Aachener Feuer-­ Versicherungsgesellschaft (1825) entstanden, von denen besonders Letztere rasch über die Provinzgrenzen hinaus expandierte, wie in der Umfirmierung in Aachener und Münchener Feuer-Versicherungs-Gesellschaft 1834 deutlich wird.84 Wie andere private Feuerversicherungen auch boten sie ihre Dienstleistung vornehmlich Gewebe und Industrie an, während provinzielle Feuerversicherungen eher Wohngebäude und landwirtschaftliche Bauten versicherten. Seit 1836 war dafür im Rheinland die Provinzial Feuer­versicherung (Koblenz) zuständig, die die bis weit ins 18. Jahrhundert zurückreichenden Vorläuferinstitutionen in einer öffentlichen Versicherung zusammenschloss.85 82 Tigges, Michael, Geschichte und Entwicklung der Versicherungsaufsicht, Diss., Münster 1984, S. 29 ff., 34 f. 83 Perlitz, Geldwesen, S. 241 f. 84 Tilly, Institutions, S. 120–126. 85 Buchloh, Werden, S. 6–23.

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Deutlich weniger politisches Interesse hatte Preußen an der Lebens- und der Transportversicherung; hier beschränkten sich die Eingriffe im Wesentlichen auf die Regelung des Marktzutritts, das heißt auf die Konzessionierung. In Köln hatte zunächst eher das private Geschäft mit Transportversicherungen dominiert. Bereits 1818 war hierfür die Rheinische Assekuranzgesellschaft gegründet worden, aus der 1845 die Agrippina-Versicherung hervorging. Besonders Heinrich Merkens und Gustav Mevissen forcierten die Weiterentwicklung des privaten Versicherungsgewerbes; Mevissen regte auch die Bildung von Rückversicherungen an, also Versicherungen für Versicherungen. Die Kölnische Rückversicherungsgesellschaft wurde ebenfalls mit Kapital von Schaaffhausen und Oppenheim gegründet wie überhaupt sämtliche Kölner Versicherungsunternehmen aufs Engste mit den Geschäftsinteressen der Privatbankiers verbunden waren.86

VI. Fazit Die preußische Wirtschafts- und Finanzpolitik prägte die Entwicklung im Rheinland ohne Zweifel, aber sie bestimmte sie nicht einseitig. Mit der Integration ins preußische Herrschaftsgebiet lässt sich ein langwieriger Such- und Aushandlungsprozess beschreiben, bei dem wie in einem Laboratorium versucht wurde, die Bedürfnisse der Marktakteure und jene des preußischen Staates in Einklang zu bringen. Richard Tillys These, die preußische Politik habe den ökonomischen Modernisierungsprozess im Rheinland gehemmt, bleibt freilich grundsätzlich valide: Wie allein die zahlreichen gescheiterten Projekte der rheinischen Hochfinanz und die teils langwierigen Genehmigungsverfahren realisierter Vorhaben indizieren, beschränkte der preußische Staat individuelles Unternehmertum, Investitionsmöglichkeiten und damit die wirtschaftliche Dynamik. Die preußische Wirtschaftspolitik erschwerte die Vergabe von Risikokapital institutionell, sei es durch restriktive Geldpolitik, sei es durch Absorption von Kapitalmarktmitteln für landwirtschaftliche Zwecke (Pfandbriefe), sei es durch eine restriktive Konzessionierung von Aktiengesellschaften und -banken. Anders ausgedrückt: Sie verwies das private Bankgewerbe auf ein spezielles Segment der Kapital- und Kreditmärkte: die Finanzierung der entstehenden Großindustrie und des Handels. Allerdings reduzierten die preußischen Maßnahmen auch das Risiko in den Märkten und schützten vor Überinvestitionen und Spekulationsblasen, im Versicherungswesen auch vor ausländischer Konkurrenz. Durch die illiberalen Maßnahmen war der (rheinische) Industrialisierungsprozess vermutlich weniger dynamisch als möglich, aber er war stabil und nachhaltig. Gleiches gilt im Übrigen für das Finanzsystem insgesamt, das im 19. Jahrhundert im Vergleich vor allem mit Großbritannien und den USA kaum krisen-

86 Kellenbenz/Eyll, Geschichte, S. 78; Tilly, Institutions, S. 120–126.

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Abb. 56  A. Schaaffhausenscher Bankverein, Köln, Unter Sachsenhausen, 1880.

anfällig war.87 Zudem war die preußische Politik in einigen Segmenten des Finanzmarkts durchaus progressiv, weil sie Angebote schuf, die von privaten Akteuren nicht oder nicht flächendeckend bereitgestellt wurden. Preußen wirkte somit bereits früh Marktversagen in Form unvollständiger Märkte entgegen. Dies war regional und sozial integrativ: Provinzial-Hülfscasse, Sparkassen und Provinzial-Versicherung waren öffentliche Anbieter für spezifische Finanzbedürfnisse jenseits des Großkapitals. Sie erprobten wie die Landschaften Geschäftsmodelle, die Preußen schließlich privaten Anbietern, konkret privaten Feuerversicherungen und Hypothekenbanken, ebenfalls zugestand. Angesichts der Tatsache, dass sich besonders französische Institutionen als vorteilhaft herausstellten, private Anbieter Kreditbedürfnisse besser befriedigen konnten als öffentliche Institute oder private Institute eine komplementäre Funktion besaßen, gab Preußen seine restriktive Haltung (allmählich) auf: etwa bei der Umwandlung des A. Schaaffhausenschen Bankvereins in eine AG oder bei der zunächst stillschweigenden Duldung, im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts dann auch der aktiven Förderung genossenschaftlicher Banken. In einem evolutionären Prozess entstand so aus französischen Rechtstraditionen und Vorbildern, rheinischen Marktpraktiken und rheinischem Kapital sowie preußischer Vorsicht und Rücksichtnahme auf den landwirtschaftlichen Grundkredit ein gemischtes, teils strikt, teils gar nicht reguliertes, insgesamt stark segmentiertes Kreditwesen mit 87 Tilly, Richard H., Banking Crises in Comparative and Historical Perspective: the Nineteenth Century, in: Bankhistorisches Archiv 34 (2008), S. 1–17.

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öffentlichen und privaten Anbietern, das auf lange Sicht Finanzdienstleitungen für alle interessierten Kreise bereitstellte – und eine gewisse staatliche Einhegung kapitalistischer Kräfte bewirkte. Vieles von dem, was hier beschrieben wurde, prägte das deutsche Finanzsystem im Speziellen und die deutsche Wirtschaftsordnung im Allgemeinen. Insofern kann man die Zäsur 1815 aus kreditwirtschaftlicher Perspektive keineswegs als gering einschätzen. Vielleicht endete die damals einsetzende oder forcierte Entwicklung sogar erst in der jüngsten Vergangenheit: Die Zerschlagung der WestLB als Nachfolgerin der öffentlichen Provinzial-Hülfscasse und die Übernahme der letzten verbliebenen Kölner Privatbank, Sal. Oppenheim, infolge der Finanzkrise 2007 könnte in dieser Lesart zu einem stärker angloamerikanischen Finanzwesen führen, mit dem nicht zuletzt Richard Tilly den preußischen beziehungsweise rheinischen Kapitalismus verglichen hatte.

Abbildungsnachweis

akg-images/Erich Lessing: Abb. 6 Archiv der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn: Abb. 33, 34, 35, 36, 44, 46 Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR): Abb. 31 Belvedere, Wien: Inv.-Nr. 6247: Abb. 10 Gleimhaus Halberstadt – Museum der deutschen Aufklärung: Abb. 29, 39 Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Sammlung Dr. Arthur Bechtold, Inv.-Nr. IfH-G111: Abb. 41 Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste Wien: Abb. 12 Landesarchiv NRW R: RW Karten 02029: Abb. 22, BR 2 Nr. 1534 Bl. 21r: Abb. 24 Landeshauptarchiv Koblenz/Fritz Gutmann: Abb. 23 LVR-Industriemuseum Ratingen/Jürgen Hoffmann: Abb. 49 LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte: Abb. 1, 2, 3, 4 LWL-Museum für Kunst und Kultur (Westfälisches Landesmuseum), Münster/ Porträtarchiv Diepenbroick: Inv.-Nr. C-505931 PAD: Abb. 7 Österreichische Nationalbibliothek: Pk 270, 8: Abb. 11 Österreichisches Staatsarchiv/Haus-, Hof- und Staatsarchiv: SB FA De Vaux 30–12: Abb. 9 Rheinisches Bildarchiv: rba_019134: Abb. 50, rba_004209: Abb. 51, rba_089570: Abb. 52, rba_015747: Abb. 53, rba_019388: Abb. 54, rba_205378: Abb. 55 Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden/ Deutsche Fotothek, Talleyrand-Sammlung I,5,5: Abb. 5 Wolfram Siemann: Abb. 16, 17, 18, 19, 20, 21 Stadtarchiv Duisburg: Abb. 38, 47 Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn: Abb. 43 Stadtbibliothek Weberbach/Stadtarchiv Trier: Abb. 27 Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg/ Fotograf Jörg P. Anders: GK I 1856: Abb. 30 Wien Museum: Abb. 8

Autorinnen und Autoren

Dr. Thomas Becker, Leiter des Universitätsarchivs in Bonn und Lehrbeauftragter am ­Institut für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. PD Dr. Boris Gehlen, Privatdozent für Wirtschafts- und Sozialgeschichte am Institut für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin. Prof. Dr. Dominik Geppert, Professor für Geschichte des 19./20.  Jahrhunderts am ­Historischen Institut der Universität Potsdam. Thomas Just, Direktor der Abteilung Haus-, Hof- und Staatsarchiv des Österreichischen Staatsarchivs in Wien. Prof. Dr. Jürgen Kloosterhuis, Direktor des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz i. R. Prof. Dr. Stephan Laux, Professor für Geschichtliche Landeskunde im Fach Geschichte an der Universität Trier. Dr. Helmut Rönz, Wiss. Referent am LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, Leiter des Portals Rheinische Geschichte, Lehrbeauftragter am Institut für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Dr. Walter Rummel, Leiter des Landesarchivs Speyer und Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Universität Mainz, Abt. Zeitgeschichte. Dr. Martin Schlemmer, Oberstaatsarchivrat am Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Fachbereich Grundsätze, und Dozent an der Fortbildungsakademie des Ministeriums des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen. Dr. Margrit Schulte Beerbühl, apl. Professorin am Institut für Geschichtswissenschaften II (Neuere Geschichte) der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und V ­ isiting Research Fellow, University of Hertfordshire, Großbritannien.

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Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Wolfram Siemann, i. R., bis 2011 Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Erich Weiss, i. R., bis 2005 Lehrstuhl für Städtebau und Bodenordnung am Institut für Geodäsie und Geoinformation der Rheinischen Friedrich-­ Wilhelms-Universität Bonn. Prof. Dr. Margret Wensky, Historikerin, Honorarprofessorin am Institut für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Personen- und Ortsregister Yorick Fastenrath, Joséphine Bütefür, Niclas Deutsch

A Aachen 11, 59, 61, 73, 121–125, 128 f., 136, 139, 163, 172, 180–184, 199, 231, 247, 252, 261, 264, 267, 300, 318 f., 327 f. Abegg, Johann Peter 295 f. Adolf, Herzog von Nassau 271 Ahden 268 Ahlbeck 189 Ahrweiler 252, 269 Albert Kasimir, Herzog von Sachsen-Teschen 49 Albert, Prinz von Sachsen-Coburg und Gotha 202, 236 Albrecht, K. 268 Alexander I., Zar von Russland 26, 74, 91, 106 f., 109 Allentsteig, Baron Franz Hager von 49 f., 64, 89 Altenahr 252 Altengottern 268 Altenkirchen 250, 252, 268 Althoff, Friedrich 238 Amsterdam 70, 283 f., 286, 294, 296, 299–302, 315 Andrae, Carl Justus 261 Antonetti, Hein 292 Arndt, Ernst Moritz 33, 67, 183, 198 f., 202, 204, 210, 227 Arnsberg 257 Arntz 231 Aschaffenburg 85 Aspern 42 Auerstedt 176, 247 Auguste Viktoria, Königin von Preußen und Deutsche Kaiserin 212, 214 Aurich 294 B Bacharach 61 Bad Godesberg 255

Baerensprung, Johann Wilhelm George (von) 175 Baldenecker, Heinrich 233 Bamberg, Otto von 190 Barby 277 Barcelona 302 Barmen 320, 329 Basel 73, 103, 248, 286 Baumeister, Johann Adrian Joseph 227 Baumeister, Joseph 227 Beauharnais, Eugène de 77 Becker, Nikolaus 114 Beckers, Johann Hubert 267 Beck, Otto 264, 266–268 Bedorff, Andreas 138 Beilstein 70, 94–96 Benrath 103 Bergheim 267 Berg, Johann Peter 220 Bergmann, Emil 200 Berlin 9, 40, 61, 66, 79, 125, 129, 131, 133, 135 f., 138, 140, 143, 172 f., 175–177, 179 f., 183–185, 189, 199–203, 209, 211, 215, 217–219, 222 f., 225, 228 f., 231, 235–237, 239, 244 f., 250, 253, 257, 261 f., 268 f., 272, 277 f., 314, 324 f. Berlingerode 268 Bernadotte, Jean Baptiste.  Siehe auch Karl XIV. Johann, König von Schweden Beroldingen, Graf 48 Beseler, Wilhelm Hartwig 263 Besnardière 83 Bethmann-Hollweg, Moritz August von 209 Beugnot, Jacques Claude 293 Biedermann 227 Bingen 85, 291 Binzfeld 267 Birkenfeld 85 Birkenfelde 268

340 Bismarck, Otto von 262, 314 Bismarck-Schönhausen, Wilhelm von 240 Bitburg 84, 230 Bitkow 201, 231, 233 Blücher, Gebhard Leberecht von 107 Bluhme, Friedrich 204 Bluntschli, Johann Caspar 23 Bodelschwingh, Ernst von 257, 321 Bommersheim 268 Bonn 7, 18, 61, 75, 92, 94, 106, 137, 146, 183–185, 197–212, 214 f., 217, 223, 225, 228–241, 243, 253–257, 259 f., 263, 267, 270, 274 f., 277 f., 315, 318 f. Boppard 13 Bordeaux 302 Borken 300 Bornhagen 268 Bornheim 256 Botzdorf 256 Boyen, Hermann von 61 Brandenburg a. d. Havel 237, 262 Braun, Baron 68 Braun, Karl Ernst von 229 Braunschweig 284 Bremen 40, 300 Brendel, Franz Anton 100 Breslau 199, 211, 223, 228, 230, 234, 237, 245, 253, 262, 272, 277 Brieg 263 Brinck, Matthias 139 Broich, Werner 293 Brown, John 299 Brücken 244 Brügelmann, Johann Gottfried 290, 296 f., 300 f. Brüggemann, Karl Heinrich 232 f. Brüssel 73, 100, 102, 202, 324 Bürde, Ernst 13 Büren 268 C Cádiz 283 Caen 294 Camphausen, Ludolf 323 f. Campoformio 299 Cannes 89 Carl, Prinz von Preußen 205 Carnap, Johann Gerhard von 256

Yorick Fastenrath, Joséphine Bütefür, Niclas Deutsch Casquet, Jacques Ebrard du 220 Castlereagh.  Siehe auch Stewart, Robert, Viscount Castlereagh and second marquess of Londonderry Cathcart, William Shaw 56 Celle 245 Charell, Erik 14 Charleston 302 Charlotte Augusta, Prinzessin von England 62 Chaumont 64 Clancarty 70, 72 f., 83 Clausius, Rudolf 213 Clemens Wenzeslaus von Sachsen, Erzbischof von Trier 66 Cochem 135, 156, 252 Corvey 75 Curtius, Ernst 208 f. D Daaden 252 Dahlen (Mecklenburg) 244 Dahlmann, Friedrich Christoph 202, 204 Danzig 189, 262, 277 Darmstadt 85 f., 260 f., 325 Daru, Pierre 177 Deckers, Peter 232 Deidesheim 153 Delhoven, Joan Peter 289, 291 Delius, Daniel Heinrich 140 Delven 289 Den Haag 70, 73 Deutsch-Wagram 42 Deutz 286, 301 Diederichs, Gottlieb 287 Diez 70 Dillenburg 70 Dithmar, Justus Christoph 244 Dobschütz, Leopold Wilhelm von 182 f., 185 Dohna-Schlobitten, Friedrich Ferdinand Alexander Graf zu 179 Dormagen 288 f. Dorsch, Anton Joseph 100 Dresden 91, 106 f. Droste-Hülshoff, Annette von 231 Duisburg 218–220, 222 f., 237 f., 250, 286, 288, 302, 320 Dumas, Alexandre 67

Personen- und Ortsregister Duncker, Max 230 Dünkelberg, Friedrich Wilhelm 268, 270–275 Düren 267, 328 Düsseldorf 9, 103, 128 f., 138 f., 158, 172, 183, 204, 247, 250, 252, 267, 270, 273, 276, 286, 288, 291–294, 297, 300–302, 319 f., 328 f. Dzierżoniów 107

341

E Edinburgh 245 Ehrenbreitstein 250, 270 Eichhorn, Carl Hermann Alexander 261 Eichhorn, Johann Albrecht Friedrich von 257 Elberfeld 256, 267, 290, 294, 297, 319 f., 328, 331 Eldena (bei Greifswald) 255, 262 Elten 176, 183 Emden 34, 294, 299 f. Emmerich 291, 293 Endenich (Bonn) 235, 254, 267, 274 Erdmann III., Graf von Pückler 262 Erfurt 176 Erlangen 222 Ernsthausen, Adolph Ernst von 202 Ernst II., Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha.  Siehe auch Ernst, Prinz von Sachsen-­ Coburg und Gotha Ernst, Prinz von Sachsen-Coburg und Gotha (Herzog Ernst II.) 202, 236 Erp 137 Essen 176, 183, 250, 292, 300, 302, 319 f. Eupen 11, 84 Euskirchen 94, 267 Eversmann, Friedrich August 174

Franz I., Kaiser von Österreich 26, 43–46, 48–50, 62–64, 74, 77, 94, 103, 106–109, 112 Fretterode 268 Freytag, Karl 261 Freytag, Moritz 261 Fribourg 299 Friedenthal, Karl Rudolf 272 Friederike Luise von Hessen-Darmstadt, Königin von Preußen 11, 62, 203 Friederike Luise Wilhelmine von Preußen, Königin der Niederlande 62 Friederike Sophie Wilhelmine, Königin von Preußen 62 Friedrich August I., König von Sachsen 63, 66 Friedrich Christian von Sachsen 66 Friedrich III., König von Preußen und Deutscher Kaiser 205, 208–212 Friedrich II., König von Preußen 189, 219 Friedrich I., König von Württemberg 44, 74 Friedrich Josias, Prinz von Sachsen-CoburgSaalfeld 103 Friedrich Karl, Prinz von Preußen 205–208 Friedrich, Prinz von Preußen 203 f. Friedrichsfelde 66 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 16, 26, 74, 76, 90, 126, 133, 173, 176, 181, 186, 191, 197–199, 202, 207, 210, 230, 253 Friedrich Wilhelm II., König von Preußen 62 Friedrich Wilhelm I., König in Preußen 62 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 133, 190, 203, 211, 238, 271 Fritsch, Willy 14 Fuchs, Johann Baptist F 136

F Fagel, Hendrik 70 Falkenberg, Karl 231 Falkenstein 64 Fischer, Friedrich Leopold 209 Flensburg 245 Forell, Johann Matthias von 175 Forell, Maria Christina Godefreda von 175 Förstige, Johann 233 Forstner 48 Frankfurt am Main 33, 68, 86, 136, 200, 225, 244, 268, 287, 294–296, 300 f., 314–317, 324 Frankfurt (Oder) 218, 220, 222 f.

G Gagern, Hans von 53, 69–72, 84 Garrels, Hermann Jakob 300 Gasser, Simon Peter 243 Gater 292 Gaudoit 294 Geisberg 268 Geisenheim, Loeb 291 Geissel, Johannes von 206 Geldern 267 Gentz, Friedrich von 28, 30 f. Georg II., Herzog von Sachsen-Meiningen 205 Georg III., König von England 55

342 Georg IV., König von England 56, 62 Georg, Prinz von Preußen 203–206, 208 Giesmannsdorf 272 Gießen 260, 268 Gildemeister, Johann 206 Gitschin 107, 109 Glücksburg 203, 245 Gneisenau, August Neidhardt von 53, 60 f., 87 f., 107, 170, 182 f., 185–187, 192 Godefroy, Jean 26 f. Goltz, Theodor von der 274 f., 277 Görres, Joseph 132, 185 Goslar 176 Göttingen 31, 173, 202 f., 226, 262 Götz 267 Gramenz 271 Grasel, Johann Georg 49 Graudenz 230 Greifswald 223, 228, 230, 233 f., 244, 255 Grevenbroich 123, 137 f. Grimlinghausen 288, 293 Grimm, Jacob 23 Grohnert 268 Großengottern 268 Großobringen 244 Grote 89 Gruner, Justus 73, 126, 180 f. H Hackenbroich 288 Hadamar 70 Haenlein, Konrad Sigismund Karl von 186 Halle an der Saale 173, 190, 218–223, 226, 228, 230 f., 236 f., 243, 245, 261 f. Haller, Karl Ludwig von 110 Hamburg 40, 282, 294, 296, 300, 316 Hammelstatt 189 Hanau 234 Haniel, Arletta 294 Haniel, Franz 296, 298–301, 303 Haniel, Gerhard 298 Hannover 109, 143, 283, 299 Hansemann, Adolph 314 Hansemann, David 314, 324–327 Hardenberg, Karl August von 28, 30, 53, 58–62, 75–77, 79, 81–84, 108, 130 f., 133, 160, 177–181, 183–187, 192, 198 f., 247

Yorick Fastenrath, Joséphine Bütefür, Niclas Deutsch Harnm 271 Hartstein, Eduard 259–263, 274 Harvey, Lillian 14 Haxthausen, August von 154 Haxthausen, Werner von 185 Hecklingen 172 Heidelberg 202, 227, 230–232, 245, 272 Heiligenstadt 266, 268 Heine, Heinrich 114 Heinitz, Friedrich Anton von 174–176 Heinz, Karl von 209 Hemberg 94 Hemerlein, Carl 113 f. Hemmerich 92 Herford 176 Heringsdorf 189 Herstatt, Johann David 298, 319 f., 323 Herten 248 Hessen-Homburg, Erbprinz von (+ 1848) 207 Heydebreck, Georg Christian Friedrich von 186 Heydt, August van der 324 Hildesheim 176 Hirschland, Simon 319 Hirsch, Paul 278 Hitdorf 286 Hoche, Louis-Lazare 175 Hoechle, Johann Nepomuk 45, 47 Hofferichter, Theodor 254 Hoffmann, Heinrich 234 Hoffmann, Johann Gottfried 61, 79 Hofmann, Andreas Joseph 100 Hohenheim 256, 262 Hohenleuben 254 Hoisten 123 Homberg 286 Hopsten 232 Hubertusburg 30 Hübsch 267 Hudelist 83 Hülchrath 123, 136–138 Hüllmann, Karl Dietrich 198 Humboldt, Alexander von 174 Humboldt, Wilhelm von 30, 53, 58, 61, 63, 76 f., 81, 83, 179 Hundeshagen 268 Hymmen, Eberhard von 267 Hymmen, Reinhard von 267 f.

Personen- und Ortsregister I Ingersleben, Karl Heinrich Ludwig Freiherr von 135, 183 f. Isabey, Jean Baptiste 26 f. Itzehoe 263 Itzenplitz, Graf Peter Ludwig Alexander Johann Friedrich von 193 J Jaeger, Christian Gottfried 319 Jahn, Friedrich Ludwig 198 Jena 176, 202 f., 217, 230, 234, 242, 247, 254 f., 261 f., 271, 275 Jenkinson, Robert, second Earl of Liverpool 71, 75–77, 82 f. Johannisberg 112–115 Johann von Österreich, Erzherzog 95 Jonas 268 Jordan, Johann Ludwig von 79, 83 Jülich 62, 126, 128, 183 Jungbluth 267 Justi, Johann Heinrich Gottlieb von 244 K Kaisersesch 135 Kalisch 77 Kalisch - Kalisz 63 Kalkofen, Reinhard von 267 Kamptz, Karl Albert von 198, 226 Kapodistrias, Ioannis 83 Karlshagen 189 Karl XIV. Johann, König von Schweden (Bernadotte, Jean Baptiste) 299, 303 Karl X., König von Frankreich 66 Kastellaun 135, 252 Kaub 16 Kaufmann, Peter 255 f., 259 Kaunitz, Ernst von 97 Kelz 267 Kinkel, Gottfried 237 Kirkcaldy 245 Kleve 59, 126, 128, 136, 172–175, 183, 218 f., 225, 248, 328 Klewitz, Wilhelm Anton von 186 Klüber, Johann 28, 53, 80 Knesebeck, Karl Friedrich von dem 58, 61, 77

343 Koblenz 9, 11, 16, 61, 73, 94, 97 f., 100, 120, 126, 128–130, 133, 135, 140, 154, 158–160, 165, 181, 183, 199, 211, 229, 246 f., 250, 252, 270, 274, 294 f., 327, 331 Kolberg 188, 243 Köln 11, 61, 91 f., 120, 122–124, 126, 128–131, 133 f., 136, 139, 175, 183, 185, 197, 246 f., 250, 252, 263, 267, 284, 286, 288–290, 293–295, 297, 301, 311, 314–321, 323, 328 f., 331–333 Königsberg 79, 177, 198, 209, 217 f., 222 f., 225, 228 f., 246, 262, 275 Königswart 92, 94–97, 100 f., 113 f. Königswinter 236, 254 Kopenhagen 294 Kopp 137 Körnicke, Friedrich August 261 Kortum, Carl Arnold 220 Kotzebue, August von 99, 225 Kraemer, Adolf 261 Krafft, Johann Peter 44 Kraus, Christian Jakob 246 Krefeld 319 f. Kreusler, Ulrich 277 f. Kreuznach 73, 267 Krupp, Friedrich 300 f. Krupp, Helene Amalie 300 Künkler 268 Küstrin 244 L Lachmann, Johannes 261 La Coruña 302 Ladenberg, Adalbert von 237 Ladoucette, Jean Charles François de 155 f. Landau 77 Langballig 245 Langel, Agnes 291 Langensalza 268 Laplace, Pierre-Simon Marquis de 80 La Roche, Sophie de 98 Laubach 247 Leer 299 f. Leipzig 58, 63, 66, 70, 72, 74, 83, 106 f., 198, 244 f., 262 Lenné (Kaufmann) 134 Lenné, Peter Joseph 189 Lenßen, Dietrich 132 Leonard Chodźko alias „Angeberg“ 53

344 Liebenau, Eduard von 213 Liebig, Justus von 260, 262 f., 271, 275 Liedberg 137 Lieven,Gräfin 99 Ligne, Charles Joseph de 23 f., 26, 46 Limburg 64, 85, 233 Lissabon 302 Liverpool.  Siehe auch Jenkinson, Robert, second Earl of Liverpool Livorno 282 Löbell, Johann Wilhelm 204 Lohmann, Konrad 301 London 26, 62, 70, 82, 283 f., 293–295, 297, 300 Longard 227 Lottum, Karl Friedrich Heinrich von 140 Löw, Johann 153 Lüders, Philipp Ernst 245 Ludwig XVIII., König von Frankreich 57, 65 f., 78, 82 Ludwig XVI., König von Frankreich 66 Lülsdorf 291 Lunéville 248 Lüttich 61, 103, 291 Lützendorf 255 Lutzerath 156, 164 f., 252 Luxemburg 62, 70, 75, 77, 82, 84, 87 M Maastricht 103 Madrid 248 Magdeburg 229, 259, 268 Mainz 34, 61, 65, 68, 77, 86 f., 91 f., 100, 102, 114, 126, 225, 244 Malmedy 64, 84 Manchester 287, 295–297 Marat, Jean-Paul 99 Marburg 70, 226, 245 Märcken, Franz Gottfried von 139 Märcken, Franz Rudolf von 139 Maria Paulowna, Großherzogin von SachsenWeimar-Eisenach 209 Maria Theresia, Erzherzogin von Österreich 42 Marienhausen (Jever) 263 Markkleeberg 107 Marth 268 Maurenbrecher, Wilhelm 213 Maximilian Franz, Kurfürst 136, 199

Yorick Fastenrath, Joséphine Bütefür, Niclas Deutsch Maximilian Joseph, König von Bayern 67 f. Mayer, Johann Friedrich 244 Mazzini, Giuseppe 102 Mechernich 315 Mecklenburg-Strelitz, Erbprinz Friedrich Wilhelm von 203 Mecklenburg-Strelitz, Friederike von 203 Medebach 257 Meiderich 301 Meinertzhagen, Johann 315 Meißen 255 Merchingen 271 Merckel, Friedrich Theodor von 169 Merseburg 120, 268 Merzig 271 Mesnil, Herbert du 242 Messerich, Augustin 230 Metternich, Clemens Lothar Wenzel von 16, 28, 30, 36 f., 46, 49, 53, 62–66, 74 f., 77 f., 81–83, 85–87, 89, 91, 93, 96–100, 102–109, 111–115, 246 Metternich, Franz Georg von 95 f., 102 f. Metternich, Leontine von 112, 114 Metternich, Lothar von, Erzbischof von Trier 94 Metternich, Matthias 100 Metternich (Ort) 92, 94 Metternich, Sibido von 92, 94 Metternich-Winneburg, Paul Alfons von 91 f. Metternich-Winneburg, Tatjana von 91 Mevissen, Gustav von 323, 331 f. Meyer, Jürgen Bona 213 Minden 174, 250 Mirbach-Harff, Johann Wilhelm Graf von 138, 185 Mittermaier, Karl J. A. 197 Moers 59, 267 Möglin 245, 259, 262 Mollien, Nicolas-François 153 Mölln 250 Mönchengladbach 139, 320, 328 Moresnet 84 Motte, Peter de la 68 Mühlbach, Nikolaus Theodor 40 Mühler, Heinrich von 263 Mühlhausen 176 Mükisch 40 Mülheim an der Ruhr 320 Mülheim (bei Köln) 286, 293, 301 Müller, Baron 48

Personen- und Ortsregister Müller, Curtius 272 Müller, Friedrich 231 München 215, 260 Münster 26, 75, 176, 241, 250, 263, 267 f., 270 Münstereifel 252 Münster, Ernst Friedrich Herbert Graf zu 64, 83, 88 f. Muntenbroich, Johann 292 Myllendonck 139 N Nachrod 108 Nagell, Anne Willem Carel Baron von 72 Nancy 293 Napoleon Bonaparte 11, 13, 27, 42, 56, 63, 67, 72, 75, 77 f., 86, 89–91, 100, 104–107, 109–111, 119, 122, 145, 153, 179, 181, 198 f., 248, 281 f., 290, 299, 302–304 Nasse, Erwin 213 Naugard 189, 237 Naumburg an der Saale 223 Neapel 109, 302 Neef, A. 293 Neef, Daniel 293 f. Neef, Isaac 293 f. Nees von Esenbeck, Christian Gottfried Daniel 253 f. Neigebaur, Johann Daniel Friedrich 184 Nesselrode-Ereshoven, Karl Robert Graf von 54 Nesselrode, Karl Robert von 108 Nesselrode-Reichenstein, Johann Franz Joseph von 248 Nettekoven (Person) 137 Neukirchen 123, 138 Neuss 123, 126, 137, 284, 286, 288–293, 303, 328 Neustettin 271 Neuwied 250, 252, 267 f. New York 302 Nieberding, Wilhelm 240 Nievenheim 288 Nimwegen 286 Nolte, Vincent 282 Noot, Diederike 298 Nordhausen 176 Normann, Karl Eduard von 233 Northeim 257 Not(t)mann, Margareta Gertrud 172 Nümbrecht 252

345 O Oberbillig 84 Oberhausen 320 Oberursel 271 Ochsenhausen 95–97 Oehmichen, Konrad 261 Oesten 268 Oldenburg 86, 299 Opotschno 107 Oppenheim, Salomon jun. 319, 323, 325, 332 Orsay 292 Osnabrück 26 Oster, Peter Franz 135 Osterode (Ostpreußen) 246 Otto von Bamberg 190 Ottweiler 133 P Paderborn 75, 176 Palffy, Graf Ferdinand von 45 Pape, Franz Joseph 231 Papenburg 299 Paris 16, 23 f., 45, 61 f., 89, 98 f., 102, 114, 147, 156, 314, 324 Peilau 58 Perl 84 Pestel, Philipp von 159 Peter Friedrich Ludwig, (Groß-)Herzog 86 Petrich, Hermann 170 Pfeiffer, Johann Friedrich von 244 Pilat, Joseph Anton von 29 Pilsach, Ernst Senfft von 271 Pippich, Carl 41 Pitt, William Pitt der Jüngere 55 f., 58, 71 Poppelsdorf 18, 203, 243, 253 f., 256 f., 259–263, 268, 270–278 Potsdam 189, 205, 253, 263 Prag 94, 102, 107 Prenzlau 278 Pressburg 55, 177 Pretzsch 259 Pröpper, Heinrich Joseph von 136 f. Pröpper, Paul Joseph von 137 f. Proskau (Schlesien) 262 Puderbach 252 Pufendorf, Samuel 245 Pyritz 190 f.

346 Q Quedlinburg 176 R Radetzky, Josef Wenzel 107 Raiffeisen, Friedrich Wilhelm 329 Rastatt 77, 297 Rath (bei Düsseldorf) 267 Rath, Hermann Kaspar vom 267 f. Ratiborschitz 107 Ratingen 292, 296 Raumer, Karl Otto von 211 Razumoffsky 82 Rebmann, Georg Friedrich 151 Reck 271 Recum, Andreas van 155 Reden, Friedrich Wilhelm von 174 Rees 250, 267, 288, 300 Regensburg 42 Regenwalde 262 Rehfues, Philipp Joseph von 200 f., 237, 254 f. Reichard 227 Reichenbach 107 Reichenberg 253 Reiman, George Mauritius 175 Reiman, Johann Reinhard Peter (von) 175 Reiman, Marianne von 175 Reiman(n), August von 172, 184 Remscheid 283, 287, 302, 320 Rênal, de 119 Rengelrode 268 Renner 267 Reuter, Fritz 230 Rey 267 Rheindorf (Leverkusen) 286 Rheydt 132, 297 Richard Le Poer Trench, second Earl of Clancarty 72 Ried 67, 112 Riga 294 Robespierre, Maximilien 99 Roedlich, Hieronymus 185 Roggendorf (bei Köln) 291 Romberg, Freiherr Giesbert Christian Friedrich von 139 Roon, Albrecht von 205 Rothschild, Mayer Amschel 296, 300 f. Rothschild, Nathan Mayer von 287 f., 295

Yorick Fastenrath, Joséphine Bütefür, Niclas Deutsch Rotteck, Carl von 31 Rotterdam 294, 297, 299–302 Rudler, François Joseph 150, 152, 155, 296 Ruhrort 286, 288, 294, 296–299, 301 Rümker, Karl von 277 Runkel, Johann 293 Rüsselsheim 61 S Saarbrücken 11, 85, 133, 183 Saarlouis 85, 133, 183 Sachs, Ferdinand Gustav Julius 261 Sack, August Friedrich Wilhelm 173 Sack, Carl August 172 Sack, Ernst Heinrich Eberhard 176 Sack, Friedrich Samuel Gottfried 173 Sack, Henriette Philippine 172 Sack, Johann August 18, 59 f., 73, 84, 87 f., 125, 128, 130, 136, 169–193 Sagan, Wilhelmine von 109 Salomon, Friedrich von 201 Salzburg 86 Salzkotten 268 Sand, Carl Ludwig 100, 225 Sankt Petersburg 56 Savigny, Friedrich Karl von 203 Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Wilhelm Ludwig Georg zu 132, 185 f., 198 f., 226 Schaaffhausen, Abraham 7, 11, 298, 303, 318 f., 326, 332 Schadow, Johann Gottfried 203 Schafgans, Theo 212 Scharnhorst 179 Schaumberg a.d. Lahn 268 Schenkendorf, Max von 11, 13, 185 Schinkel, Karl Friedrich 191 Schlegel, August Wilhelm von 204 Schleiermacher, Friedrich 198 Schleswig 207 Schlettwein, Johann August 244 Schlund, Franz 233 Schmidt, Christian Ludwig 135 Schmilinski 294 Schmitt 293 Schmitz 120, 267 Schmitz-Grollenburg, Franz Edmund Josef von 140 Schmoller, Gustav 19

Personen- und Ortsregister Schönbrunn 42, 68, 104 Schön, Theodor von 169, 186 Schorn, Karl 234 Schröder, Johann Christian 300 Schröder, Johann Peter 267 Schröder, Vinzenz 50 Schubart, Johann Christian 244 Schuckmann, Friedrich von 135, 158, 160, 226, 250 Schuhmann, Leopold von 268 Schulenburg-Kehnert, Friedrich Wilhelm Graf von der 176 Schulze, Friedrich Gottlob 255 Schulze, Johannes 199 Schumacher, Wilhelm 261 Schurz, Karl 237 Schwarzenberg, Karl Philipp zu 107 Schweitzer, August Gottfried 259 Schwerz, Johann Nepomuk Hubert von 250 Selchow, Werner Ludolf Erdmann von 262 Semler, Carl Wilhelm 177 Senfft, Ernst Theodor 209 Senfft-Pilsach, Ernst von 271 f. Sering, Max 277 Sethe, Christoph Wilhelm Heinrich (von) 172, 220 Shée, Henri 304 Siber, Franz 64 Siegburg 267 Siegen 70 Simmern 86, 155, 252, 267 Simon, Johann Friedrich 98 f. Simons, Hermann 263–265, 267, 269 Sinzig 94, 227, 252 Smith, Adam 245 f. Solingen 283, 293 f., 320, 328 Solms-Laubach, Friedrich zu 120, 128, 136, 139, 183, 185, 247, 253 Sommersberg 94 Spaen, Gerrit Karel Spaen van Voorstonden 69, 84 Spandau 237 Speyer 153 Stablo 64 Stadion, Johann Philipp von 105 Stägemann 186 Stägemann, Friedrich August (von) 185 Stammheim 293 Stein, Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum 30, 53, 58–60, 64 f., 68, 72, 75–78,

347 83, 85, 90, 112, 126, 129, 139, 158, 169–171, 174, 176–180, 183, 185–190, 192 f., 247, 250 Stein, Johann Heinrich 319, 323 Stein, Wolfgang Hans 121 Stein zum Altenstein, Karl Freiherr vom 184, 198 f., 225–227, 237, 253 f. Stendhal 119 Stettin 183, 186–190, 271 Stewart, Robert, Viscount Castlereagh and second marquess of Londonderry 28, 36, 53, 56 f., 61–64, 66, 70 f., 73, 75–79, 82 f., 88, 109, 111 Stintzing, Roderich von 213 Stockmar, Baron Christian Friedrich von 202 Stolberg 315, 318 Straberg 289 Stralsund 187 Straßburg 31, 98 f., 202, 298 Stromeyer, Franz 233 Stuart, Charles 70 Stupp 267 f. Sturm, Karl Christian Gottlieb 254 f. Stuttgart-Hohenheim 250 Suermondt, Barthold 318 Swinemünde 188 f. Sybel, Heinrich von 206 Szczepanski, Gustav von 201 T Talleyrand-Périgord, Charles-Maurice de 26, 30, 56 f., 62, 65 f., 78, 80–82, 90 Teschemacher 297 Thaer, Albrecht 245, 251, 254 Tharandt 259 Thelen 267 Thiel, Hugo 261 Thyssen, August 318 Thyssen, Friedrich 318 Tiefurt 255 Tilly, Johann T’Serclaes 92 Tilsit 177, 247 Tocqueville, Alexis de 149 Trapp 267 Trauttmansdorff, Ferdinand von 44 Treitschke, Heinrich von 7, 13, 31 Trier 9, 66, 91 f., 120, 126, 128 f., 140, 158, 183, 206, 247, 252, 257, 328 Troyes 109

348 Tübingen 254 Tzschoppe, Gustav Adolf von 226 U Uerdingen 288, 299 Ulm 77 Unna 257 Upspunge 268 Urdenbach 292 Utrecht 26 V Varel 293, 295, 299 Vettelhoven 94 Vianden 84 Victoria, Königin von Preußen und Deutsche Kaiserin 212 Vierneburg 255 Vilmede 257 Vincke, Ludwig von 169, 171, 179, 250 W Wacken 83 Waldau (Ostpreußen) 262, 275 Waldböckelheim 267 Walter, Ferdinand 206 Warburg 268 Warschau 63, 82, 109 f. Waterloo 13, 89, 198 Weber 132 Weende 262 Wegberg 267 Weihenstephan 261 f. Weimar 244, 255 Weinheim 233 Weisser, Ferdinand 291 Weisser, Gottfried 291 Weißkirchen 268 Welcker jun., Carl Theodor 227 Welcker sen., Friedrich Gottlieb 227 Wellington, Arthur Wellesley, Duke of 55, 57, 61 f., 70, 77 f., 88 Wenders 267 Werden 176, 183, 300 Wesel 60, 174, 220, 267, 286, 328 Wessenberg, Ignaz Heinrich von 81

Yorick Fastenrath, Joséphine Bütefür, Niclas Deutsch Westhausen 268 Wetter 174, 176 Wetzlar 183, 250, 252 Wevelinghoven 138 Weyhe, Ferdinand 259 Wichelhaus, Johann 319 Wien 14, 16, 23–27, 29, 32, 34–36, 39–47, 49 f., 52, 54, 57, 62–64, 66, 68 f., 71 f., 75 f., 80, 82–88, 90, 104, 113 f., 139, 177, 181, 197 Wiesbaden 268, 271 Wilhelm II., König von Preußen und Deutscher Kaiser 212–215, 238 Wilhelm I., König der Niederlande 62, 69–72 Wilhelm I., König von Preußen und Deutscher Kaiser 211 f. Wilhelmine, Herzogin von Sagan 107 Wilhelm, Prinz von Preußen 214 Wilhelmsbad 233 f. Wilhelm V. von Oranien 71 Wilhelmy, Theodor 263–267 Winneburg 94–96 Wittenberg 259 Wittgenstein, Johann Jakob von 134 Wohlleben, Stephan von 42 Wolff, Christian 245 Worringen 288 f., 291 Wrede, Carl Philipp Fürst von 67, 77, 81, 85 Wülffing, Franz 267 f. Wüllner, Adolf 261 Wuppertal 283 Würchwitz 244 Würzburg 85, 261 Wurzer, Ferdinand Alexander 229 Y Yarmouth 299 Z Zamoyski, Adam 109 Zastrow, Rudolf von 209 Zeitz 244 Zievel 94 Zinnowitz 189 Zons 288 Zurhelle von Kalkofen 267 Zürich 261