Das Naturbild der heutigen Physik 9783499550089, 9783688116898

Werner Heisenberg (1901–1976) war ein deutscher Wissenschaftler und Nobelpreisträger. Er zählt zu den bedeutendsten Phys

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Table of contents :
Inhaltsübersicht
I. Das Naturbild der heutigen Physik
1. Das Problem der Natur
2. Die Technik
3. Naturwissenschaft als Teil des Wechselspieles zwischen Mensch und Natur
II. Atomphysik und Kausalgesetz
1. Der Begriff ‹Kausalität›
2. Die statistische Gesetzmäßigkeit
3. Statistischer Charakter der Quantentheorie
4. Geschichte der neueren Atomphysik
5. Relativitätstheorie und die Auflösung des Determinismus
III. Über das Verhältnis von humanistischer Bildung, Naturwissenschaft und Abendland
1. Die traditionellen Gründe der Verteidigung humanistischer Bildung
2. Die mathematische Beschreibung der Natur
3. Atome und humanistische Bildung
4. Naturwissenschaft und humanistische Bildung
5. Der Glaube an unsere Aufgabe
Historische Quellen (gesammelt von Ernesto Grassi)
I. Die Ansätze der neuzeitlichen Naturwissenschaften
II. Die Entstehung des mechanistischen und materialistischen Weltbildes
III. Die Krisis der mechanistisch-materialistischen Auffassung
Enzyklopädisches Stichwort Natur von Ernesto Grassi
Über den Verfasser
Wichtige Veröffentlichungen von Werner Heisenberg:
Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften:
Literaturhinweise
1. Deutsche Literatur
2. Ausländische Literatur
3. Lehrbücher
Namen- und Sachregister
Namenregister
Sachregister
Fußnoten
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Das Naturbild der heutigen Physik
 9783499550089, 9783688116898

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Werner Heisenberg

Das Naturbild der heutigen Physik

Über Werner Heisenberg Werner Heisenberg (1901–1976) war ein deutscher Wissenschaftler und Nobelpreisträger. Er zählt zu den bedeutendsten Physikern des 20. Jahrhunderts.

Inhaltsübersicht I. Das Naturbild der heutigen Physik 1. Das Problem der Natur 2. Die Technik 3. Naturwissenschaft als Teil des Wechselspieles zwischen Mensch und Natur

II. Atomphysik und Kausalgesetz 1. Der Begriff ‹Kausalität› 2. Die statistische Gesetzmäßigkeit 3. Statistischer Charakter der Quantentheorie 4. Geschichte der neueren Atomphysik 5. Relativitätstheorie und die Auflösung des Determinismus

III. Über das Verhältnis von humanistischer Bildung, Naturwissenschaft und Abendland 1. Die traditionellen Gründe der Verteidigung humanistischer Bildung 2. Die mathematische Beschreibung der Natur 3. Atome und humanistische Bildung 4. Naturwissenschaft und humanistische Bildung 5. Der Glaube an unsere Aufgabe

Historische Quellen (gesammelt von Ernesto Grassi) I. Die Ansätze der neuzeitlichen Naturwissenschaften II. Die Entstehung des mechanistischen und materialistischen Weltbildes III. Die Krisis der mechanistisch-materialistischen Auffassung

Enzyklopädisches Stichwort Natur von Ernesto Grassi

Über den Verfasser Wichtige Veröffentlichungen von Werner Heisenberg: Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften:

Literaturhinweise 1. Deutsche Literatur 2. Ausländische Literatur 3. Lehrbücher

Namen- und Sachregister Namenregister Sachregister

I. Das Naturbild der heutigen Physik Es ist die Frage aufgeworfen worden, ob sich etwa die Stellung des modernen Menschen zur Natur so grundsätzlich von der früherer Zeiten unterscheide, daß schon hierdurch ein völlig verschiedener Ausgangspunkt für jegliche Beziehung zu ihr, beispielsweise für die des Künstlers, gegeben werde. Die Stellung unserer Zeit zur Natur findet dabei kaum wie in früheren Jahrhunderten ihren Ausdruck in einer entwickelten Naturphilosophie, sondern sie wird sicher weitgehend durch die moderne Naturwissenschaft und Technik bestimmt. Daher liegt es nicht nur für den Naturforscher nahe, nach dem Naturbild der heutigen Naturwissenschaft, insbesondere der modernen Physik zu fragen. Freilich muß hier gleich zu Anfang ein Vorbehalt gemacht werden: Es besteht kaum Anlaß zu glauben, daß das Weltbild der heutigen Naturwissenschaft unmittelbar die Auseinandersetzungen – etwa des modernen Künstlers – mit der Natur beeinflußt habe; wohl aber kann angenommen werden, daß die Veränderungen in den Grundlagen der modernen Naturwissenschaft ein Anzeichen sind für tiefgehende Veränderungen in den Fundamenten unseres Daseins, die ihrerseits sicher auch Rückwirkungen in allen anderen Lebensbereichen hervorrufen. Unter diesem Gesichtspunkt kann es auch für den Menschen, der schöpferisch oder deutend in das Wesen der Natur

einzudringen versucht, wichtig sein zu fragen, welche Veränderungen sich in den letzten Jahrzehnten im Naturbild der Naturwissenschaften vollzogen haben.

1. Das Problem der Natur

Veränderungen in der Stellung des Forschers zur Natur Wenden wir zunächst den Blick zurück zu den geschichtlichen Wurzeln der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Als diese Wissenschaft im 17. Jahrhundert durch KEPLER, GALILEI und NEWTON begründet wurde, stand am Anfang noch das mittelalterliche Naturbild, das in der Natur zunächst das von Gott Erschaffene erblickt. Die Natur wurde als das Werk Gottes gedacht, und es wäre den Menschen jener Zeit sinnlos erschienen, nach der materiellen Welt unabhängig von Gott zu fragen. Als ein Dokument jener Zeit möchte ich die Worte zitieren, mit denen KEPLER den letzten Band seiner ‹kosmischen Harmonie› abgeschlossen hat: ‹Dir sage ich Dank, Herrgott, unser Schöpfer, daß Du mich die Schönheit schauen läßt in Deinem Schöpfungswerk, und mit den Werken Deiner Hände frohlocke ich. Siehe, hier habe ich das Werk vollendet, zu dem ich mich berufen fühlte; ich habe mit dem Talent gewuchert, das Du mir gegeben hast; ich habe die Herrlichkeit Deiner Werke den Menschen verkündet, welche diese Beweisgänge lesen werden, soviel ich in der Beschränktheit meines Geistes davon fassen konnte.›

Aber schon in dem Lauf weniger Jahrzehnte hat sich dann die Stellung der Menschen zur Natur grundsätzlich geändert. In dem Maß, in dem der Forscher sich in die Einzelheiten der Naturvorgänge vertiefte, erkannte er, daß man in der Tat, wie GALILEI es begonnen hatte, einzelne Naturvorgänge aus dem Zusammenhang herauslösen, mathematisch beschreiben und damit ‹erklären› kann. Dabei wurde ihm allerdings auch deutlich, welche unendliche Aufgabe der beginnenden Naturwissenschaft hierdurch gestellt wird. Schon für NEWTON war daher die Welt nicht mehr einfach das nur im Ganzen zu verstehende Werk Gottes. Seine Stellung zur Natur wird am deutlichsten umschrieben durch seinen bekannten Ausspruch, daß er sich vorkomme wie ein Kind, das am Meeresstrand spielt und sich freut, wenn es dann und wann einen glatteren Kiesel oder eine schönere Muschel als gewöhnlich findet, während der große Ozean der Wahrheit unerforscht vor ihm liegt. Man kann diese Veränderung in der Stellung des Forschers zur Natur vielleicht dadurch verständlich machen, daß in der Entwicklung des christlichen Denkens in jener Epoche Gott so hoch über die Erde in den Himmel entrückt schien, daß es sinnvoll wurde, die Erde auch unabhängig von Gott zu betrachten. Insofern mag es sogar berechtigt sein, bei der neuzeitlichen Naturwissenschaft – wie es bei KAMLAH anklingt – von einer spezifisch christlichen Form der Gottlosigkeit zu sprechen und damit verständlich zu machen, warum sich eine entsprechende Entwicklung in anderen Kulturkreisen nicht vollzogen hat. Es ist daher wohl auch kein Zufall, daß eben um jene Zeit in der bildenden Kunst die Natur für

sich Gegenstand der Darstellung wird, unabhängig vom religiösen Thema. Für die Naturwissenschaft entspricht es auch ganz dieser Tendenz, wenn die Natur nicht nur unabhängig von Gott, sondern auch unabhängig vom Menschen betrachtet wird, so daß sich das Ideal einer ‹objektiven› Naturbeschreibung oder Naturerklärung bildet. Immerhin muß hervorgehoben werden, daß auch für NEWTON die Muschel deswegen wichtig ist, weil sie aus dem großen Ozean der Wahrheit stammt, ihre Betrachtung ist noch nicht Selbstzweck, sondern ihr Studium erhält seinen Sinn durch den Zusammenhang des Ganzen. Die Folgezeit hat die Methode der Newtonschen Mechanik auf immer weitere Bereiche der Natur erfolgreich angewandt. Sie hat versucht, Einzelheiten im Naturgeschehen durch Experimente herauszuschälen, objektiv zu beobachten und in ihrer Gesetzmäßigkeit zu verstehen; sie hat danach gestrebt, die Zusammenhänge mathematisch zu formulieren und damit zu ‹Gesetzen› zu kommen, die im ganzen Kosmos uneingeschränkt gelten, und es ist ihr schließlich dadurch möglich geworden, die Kräfte der Natur in der Technik unseren Zwecken dienstbar zu machen. Die großartige Entwicklung der Mechanik im 18., der Optik, der Wärmetechnik und Wärmelehre im beginnenden 19. Jahrhundert legt Zeugnis ab von der Kraft dieses Ansatzes.

Wandlungen in der Bedeutung des Wortes ‹Natur›

In dem Maße, in dem solche Art der Naturwissenschaft erfolgreich war, erweiterte sie sich auch über den Bereich der täglichen Erfahrung hinaus in entlegene Gebiete der Natur, die erst durch die im Zusammenhang mit der Naturwissenschaft sich entwickelnde Technik erschlossen werden konnten. Auch bei NEWTON war der entscheidende Schritt die Erkenntnis gewesen, daß die Gesetze der Mechanik, die das Fallen eines Steins beherrschen, auch die Bewegungen des Mondes um die Erde bestimmen, daß sie also auch in kosmischen Dimensionen angewendet werden können. In der Folgezeit trat die Naturwissenschaft dann in breiter Form ihren Siegeszug an in diese entlegenen Bereiche der Natur, von denen wir nur auf dem Umweg über die Technik, d.h. über mehr oder weniger komplizierte Apparate, Kunde erlangen können. Die Astronomie bemächtigte sich durch die verbesserten Fernrohre immer weiterer kosmischer Räume, die Chemie versuchte aus dem Verhalten der Stoffe bei chemischen Umsetzungen die Vorgänge in atomaren Dimensionen zu erschließen, Experimente mit der Induktionsmaschine und der Voltaschen Säule gaben den ersten Einblick in die dem täglichen Leben jener Zeit noch verborgenen elektrischen Erscheinungen. So verwandelte sich allmählich die Bedeutung des Wortes ‹Natur› als Forschungsgegenstand der Naturwissenschaft; es wurde zu einem Sammelbegriff für alle jene Erfahrungsbereiche, in die der Mensch mit den Mitteln der Naturwissenschaft und Technik eindringen kann, unabhängig davon, ob sie ihm in der unmittelbaren Erfahrung als ‹Natur› gegeben sind. Auch das Wort Natur-‹Beschreibung› verlor mehr und

mehr seine ursprüngliche Bedeutung als Darstellung, die ein möglichst lebendiges, sinnfälliges Bild der Natur vermitteln sollte; vielmehr wurde in steigendem Maße die mathematische Beschreibung der Natur gemeint, d.h. eine möglichst präzise, kurze, aber umfassende Sammlung von Informationen über die gesetzmäßigen Zusammenhänge in der Natur. Die Erweiterung des Naturbegriffs, die mit dieser Entwicklung halb unbewußt vollzogen wurde, brauchte auch noch nicht als ein grundsätzliches Abgehen von den ursprünglichen Zielen der Naturwissenschaft aufgefaßt zu werden; denn die entscheidenden Grundbegriffe waren für die erweiterte Erfahrung noch die gleichen wie für die natürliche Erfahrung, die Natur erschien dem 19. Jahrhundert als ein gesetzmäßiger Ablauf in Raum und Zeit, bei dessen Beschreibung vom Menschen und seinem Eingriff in die Natur wenn nicht praktisch, so doch grundsätzlich abgesehen werden kann. Als das Bleibende im Wandel der Erscheinungen wurde dabei die in ihrer Masse unveränderliche Materie betrachtet, die durch Kräfte bewegt werden kann. Da die chemischen Erfahrungen seit dem 18. Jahrhundert durch die aus dem Altertum übernommene Atomhypothese erfolgreich geordnet und gedeutet wurden, lag es nahe, im Sinne der antiken Naturphilosophie die Atome als das eigentlich Seiende, als die unveränderlichen Bausteine der Materie anzusehen. Wie schon in der Philosophie des DEMOKRIT erschienen damit die sinnlichen Qualitäten der Materie als Schein; Geruch oder Farbe, Temperatur oder Zähigkeit waren nicht

eigentlich Eigenschaften der Materie, sondern entstanden als Wechselwirkungen zwischen der Materie und unseren Sinnen und mußten durch die Anordnung und Bewegung der Atome und durch die Wirkung dieser Anordnung auf unsere Sinne erklärt werden. So ergab sich das allzu einfache Weltbild des Materialismus des 19. Jahrhunderts: Die Atome als das eigentlich unveränderlich Seiende bewegen sich im Raum in der Zeit, und durch ihre gegenseitige Anordnung und Bewegung rufen sie die bunten Erscheinungen unserer Sinnenwelt hervor.

Die Krisis der materialistischen Auffassung Ein erster, wenn auch noch nicht allzu gefährlicher Einbruch in dieses Weltbild geschah in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts durch die Entwicklung der Elektrizitätslehre, in der nicht die Materie, sondern das Kraftfeld als das eigentlich Wirkliche gelten mußte. Ein Wechselspiel zwischen Kraftfeldern ohne eine Substanz als Träger der Kräfte war weniger leicht verständlich als die materialistische Realitätsvorstellung der Atomphysik und brachte ein Element von Abstraktheit und Unanschaulichkeit in das sonst scheinbar so einleuchtende Weltbild. Daher hat es nicht an Versuchen gefehlt, auf dem Umweg über einen materiellen Äther, der diese Kraftfelder als elastische Verspannung tragen sollte, wieder zu dem einfachen Materiebegriff der materialistischen Philosophie zurückzukehren; jedoch hatten solche Versuche keinen

rechten Erfolg. Immerhin konnte man sich damit trösten, daß auch die Veränderungen der Kraftfelder als Vorgänge in Raum und Zeit gelten konnten, die sich ganz objektiv, d.h. ohne Bezugnahme auf die Art ihrer Beobachtung, beschreiben lassen und die daher dem allgemein akzeptierten Idealbild eines gesetzmäßigen Ablaufs in Raum und Zeit entsprachen. Man konnte ferner die Kraftfelder, die ja nur in ihrer Wechselwirkung mit den Atomen beobachtet werden konnten, als von den Atomen hervorgerufen auffassen und sie gewissermaßen nur zur Erklärung der Bewegung der Atome benutzen. Insofern blieben dann also doch die Atome das eigentlich Seiende, zwischen ihnen der leere Raum, der höchstens als Träger der Kraftfelder und der Geometrie eine gewisse Art von Wirklichkeit besitzt. Für dieses Weltbild war es auch nicht allzu bedeutsam, daß nach der Entdeckung der Radioaktivität gegen Ende des letzten Jahrhunderts die Atome der Chemie nicht mehr als die letzten unteilbaren Bausteine der Materie aufgefaßt werden konnten, daß diese vielmehr wieder aus drei Sorten von Grundbausteinen zusammengesetzt sind, die wir heute Protonen, Neutronen und Elektronen nennen. Diese Erkenntnis hat in ihren praktischen Konsequenzen zur Umwandlung der Elemente und zur Atomtechnik geführt und ist insofern ungeheuer wichtig geworden. Für die prinzipiellen Fragen aber ändert sich nichts, wenn wir nun Protonen, Neutronen und Elektronen als die kleinsten Bausteine der Materie erkannt haben und als das eigentlich Seiende interpretieren. Wichtig für das materialistische Weltbild ist nur die Möglichkeit,

diese kleinsten Bausteine der Elementarteilchen als die letzte objektive Realität zu betrachten. Auf dieser Grundlage also ruhte das festgefügte Weltbild des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, und es hat dank seiner Einfachheit eine Reihe von Jahrzehnten seine volle Überzeugungskraft bewahrt. Aber eben an dieser Stelle haben sich dann in unserem Jahrhundert tiefgreifende Veränderungen in den Grundlagen der Atomphysik vollzogen, die von der Wirklichkeitsauffassung der antiken Atomphilosophie wegführen. Es hat sich herausgestellt, daß jene erhoffte objektive Realität der Elementarteilchen eine zu grobe Vereinfachung des wirklichen Sachverhalts darstellt und viel abstrakteren Vorstellungen weichen muß. Wenn wir uns ein Bild von der Art der Elementarteilchen machen wollen, können wir nämlich grundsätzlich nicht mehr von den physikalischen Prozessen absehen, durch die wir von ihnen Kunde erlangen. Wenn wir Gegenstände unserer täglichen Erfahrung beobachten, spielt ja der physikalische Prozeß, der die Beobachtung vermittelt, nur eine untergeordnete Rolle. Bei den kleinsten Bausteinen der Materie aber bewirkt jeder Beobachtungsvorgang eine grobe Störung; man kann gar nicht mehr vom Verhalten des Teilchens losgelöst vom Beobachtungsvorgang sprechen. Dies hat schließlich zur Folge, daß die Naturgesetze, die wir in der Quantentheorie mathematisch formulieren, nicht mehr von den Elementarteilchen an sich handeln, sondern von unserer Kenntnis der Elementarteilchen. Die Frage, ob diese Teilchen ‹an sich› in Raum und Zeit existieren, kann in dieser Form also nicht mehr gestellt werden, da wir stets nur über die

Vorgänge sprechen können, die sich abspielen, wenn durch die Wechselwirkung des Elementarteilchens mit irgendwelchen anderen physikalischen Systemen, z.B. den Meßapparaten, das Verhalten des Teilchens erschlossen werden soll. Die Vorstellung von der objektiven Realität der Elementarteilchen hat sich also in einer merkwürdigen Weise verflüchtigt, nicht in den Nebel irgendeiner neuen, unklaren oder noch unverstandenen Wirklichkeitsvorstellung, sondern in die durchsichtige Klarheit einer Mathematik, die nicht mehr das Verhalten des Elementarteilchens, sondern unsere Kenntnis dieses Verhaltens darstellt. Der Atomphysiker hat sich damit abfinden müssen, daß seine Wissenschaft nur ein Glied ist in der endlosen Kette der Auseinandersetzungen des Menschen mit der Natur, daß sie aber nicht einfach von der Natur ‹an sich› sprechen kann. Die Naturwissenschaft setzt den Menschen immer schon voraus, und wir müssen uns, wie BOHR es ausgedrückt hat, dessen bewußt werden, daß wir nicht nur Zuschauer, sondern stets auch Mitspielende im Schauspiel des Lebens sind.

2. Die Technik

Wechselwirkung zwischen Technik und Naturwissenschaft Bevor nun über allgemeine Folgerungen aus dieser neuen Situation in der modernen Physik gesprochen werden kann, soll noch die für das praktische Leben auf der Erde wichtigere und mit der Entwicklung der Naturwissenschaft Hand in Hand gehende Ausbreitung der Technik erörtert werden; erst diese Technik hat ja die Naturwissenschaft, vom Abendland ausgehend, über die ganze Erde verbreitet und ihr zu einer zentralen Stelle im Denken unserer Zeit verholfen. In diesem Entwicklungsprozeß der letzten 200 Jahre ist die Technik immer wieder Voraussetzung und Folge der Naturwissenschaft gewesen. Sie ist die Voraussetzung, da eine Erweiterung und Vertiefung der Naturwissenschaft oft nur durch eine Verfeinerung der Beobachtungsmittel zustande kommen kann; es sei an die Erfindung des Fernrohrs und des Mikroskops oder an die Entdeckung der Röntgenstrahlen erinnert. Technik ist andererseits die Folge der Naturwissenschaft, da die technische Ausnutzung der Naturkräfte im allgemeinen erst auf Grund einer eingehenden Kenntnis des betreffenden Erfahrungsbereichs möglich wird.

So hat sich zunächst im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert eine Technik entwickelt, die auf der Ausnutzung mechanischer Vorgänge beruht. Hier ahmt die Maschine oft nur die Tätigkeit der Hand des Menschen nach, ob es sich etwa um das Spinnen und Weben, um das Heben von Lasten oder um das Schmieden großer Eisenstücke handelt. Daher ist diese Form der Technik zunächst als Fortsetzung und Erweiterung des alten Handwerks empfunden worden; sie erschien dem Außenstehenden in der gleichen Weise verständlich und einleuchtend wie das alte Handwerk selbst, dessen Grundlagen jeder kannte, auch wenn er die Handgriffe im einzelnen nicht nachmachen konnte. Dieser Charakter der Technik wurde auch durch die Einführung der Dampfmaschine noch nicht grundsätzlich geändert; wohl aber nahm von diesem Zeitpunkt an die Ausdehnung der Technik in einem früher nicht gekannten Maße zu, denn nun konnten die in der Kohle aufgespeicherten Naturkräfte in den Dienst des Menschen gestellt werden und seine bisherige Handarbeit verrichten. Eine entscheidende Veränderung im Charakter der Technik aber hat sich wohl erst mit der Entwicklung der Elektrotechnik in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts vollzogen. Hier war von einer unmittelbaren Verbindung mit dem alten Handwerk kaum mehr die Rede. Es handelte sich vielmehr nur noch um die Ausnutzung von Naturkräften, die dem Menschen aus unmittelbarer Erfahrung in der Natur kaum bekannt waren. Daher hat die Elektrotechnik für viele Menschen selbst heute noch etwas Unheimliches; zum mindesten empfindet man sie häufig als

unverständlich, obwohl sie uns überall umgibt. Die Hochspannungsleitung, der man sich nicht nähern darf, gibt uns zwar einen gewissen Anschauungsunterricht über den Begriff des Kraftfeldes, den die Naturwissenschaft hier verwendet, aber im Grund bleibt uns dieser Bereich der Natur fremd. Der Blick in das Innere eines komplizierten elektrischen Apparates ist uns manchmal in ähnlicher Weise unangenehm wie das Zusehen bei einem chirurgischen Eingriff. Die chemische Technik könnte wieder als Fortsetzung alter Handwerkszweige angesehen werden; man denke etwa an Färberei, Gerberei und Apotheke. Aber auch hier läßt das Ausmaß der etwa seit der Jahrhundertwende neu entwickelten chemischen Technik keinen Vergleich mit den früheren Zuständen mehr zu. In der Atomtechnik schließlich handelt es sich ganz um die Ausnutzung von Naturkräften, zu denen jeder Zugang aus der Welt der natürlichen Erfahrung fehlt. Zwar wird uns vielleicht auch diese Technik schließlich ebenso geläufig werden wie dem modernen Menschen die Elektrotechnik, die aus seiner unmittelbaren Umwelt gar nicht mehr weggedacht werden kann. Aber auch die Dinge, die uns täglich umgeben, werden dadurch noch nicht zu einem Stück der Natur im ursprünglichen Sinne des Wortes. Vielleicht werden später die vielen technischen Apparate ebenso unvermeidlich zum Menschen gehören wie das Schneckenhaus zur Schnecke oder das Netz zur Spinne. Aber auch dann wären die Apparate eher Teile unseres menschlichen Organismus als Teile der uns umgebenden Natur.

Eingriff der Technik in das Verhältnis der Natur zum Menschen Dabei greift die Technik tief in das Verhältnis der Natur zum Menschen dadurch ein, daß sie seine Umwelt im großen Maßstab verwandelt und ihm damit den naturwissenschaftlichen Aspekt der Welt unablässig und unentrinnbar vor Augen führt. Der Anspruch der Naturwissenschaft, in den ganzen Kosmos mit einer Methode hinausgreifen zu können, die jeweils das Einzelne aussondert und durchleuchtet und so von Zusammenhang zu Zusammenhang fortschreitet, spiegelt sich in der Technik, die Schritt für Schritt in immer neue Gebiete vordringt, unsere Umwelt vor unseren Augen verwandelt und ihr damit unser Bild aufprägt. So wie sich in der Naturwissenschaft jede Einzelfrage der großen Aufgabe unterordnet, die Natur im Ganzen zu verstehen, so dient auch jeder kleinste technische Fortschritt dem allgemeinen Ziel, die materielle Macht des Menschen zu erweitern. Der Wert dieses Zieles wird ebensowenig in Frage gestellt wie in der Naturwissenschaft der Wert der Naturerkenntnis, und beide Ziele fließen in eines zusammen in dem banalen Schlagwort ‹Wissen ist Macht›. Obwohl die Unterordnung unter das gemeinsame Ziel wohl für jeden einzelnen technischen Vorgang nachgewiesen werden kann, so ist es doch auch wieder charakteristisch für die ganze Entwicklung, daß der technische Einzelprozeß oft nur so indirekt mit dem Gesamtziel verbunden ist, daß man ihn kaum mehr als Teil eines bewußten Planes zur Erreichung dieses Zieles ansehen kann. An solchen Stellen erscheint dann die Technik fast nicht mehr als das Produkt bewußter menschlicher Bemühung um die Ausbreitung der

materiellen Macht, sondern eher als ein biologischer Vorgang im Großen, bei dem die im menschlichen Organismus angelegten Strukturen in immer weiterem Maße auf die Umwelt des Menschen übertragen werden; ein biologischer Vorgang also, der eben als solcher der Kontrolle durch den Menschen entzogen ist; denn ‹der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will›.

3. Naturwissenschaft als Teil des Wechselspieles zwischen Mensch und Natur

Technik und Veränderungen der Lebensweisen In diesem Zusammenhang ist oft gesagt worden, daß die tiefgreifende Veränderung unserer Umwelt und unserer Lebensweise im technischen Zeitalter auch unser Denken in einer gefährlichen Weise umgestaltet habe und daß hier die Wurzel der Krisen zu suchen sei, von denen unsere Zeit erschüttert werde und die sich z.B. auch in der modernen Kunst äußern. Dieser Einwand ist nun freilich viel älter als Technik und Naturwissenschaft der Neuzeit; denn Technik und Maschinen hat es in primitiver Form schon viel früher gegeben, so daß die Menschen schon längst vergangener Zeiten gezwungen waren, über solche Fragen nachzudenken. Vor zweieinhalb Jahrtausenden hat z.B. der chinesische Weise DSCHUANG DSI schon von den Gefahren des Maschinengebrauchs für den Menschen gesprochen, und ich möchte hier eine Stelle aus seinen Schriften anführen, die für unser Thema wichtig ist: ‹Als Dsi Gung durch die Gegend nördlich des Han-Flusses kam, sah er einen alten Mann, der in seinem Gemüsegarten beschäftigt war. Er hatte Gräben gezogen zur Bewässerung. Er stieg selbst in

den Brunnen hinunter und brachte in seinen Armen ein Gefäß voll Wasser herauf, das er ausgoß. Er mühte sich aufs äußerste ab und brachte doch wenig zustande. Dsi Gung sprach: Da gibt es eine Einrichtung, mit der man an einem Tag hundert Gräben bewässern kann. Mit wenig Mühe wird viel erreicht. Möchtet Ihr die nicht anwenden? Der Gärtner richtete sich auf, sah ihn an und sprach: Und was wäre das? Dsi Gung sprach: Man nimmt einen hölzernen Hebelarm, der hinten beschwert und vorne leicht ist. Auf diese Weise kann man das Wasser schöpfen, daß es nur so sprudelt. Man nennt das einen Ziehbrunnen. Da stieg dem Alten der Ärger ins Gesicht, und er sagte lachend: Ich habe meinen Lehrer sagen hören: Wenn einer Maschinen benutzt, so betreibt er alle seine Geschäfte maschinenmäßig; wer seine Geschäfte maschinenmäßig betreibt, der bekommt ein Maschinenherz. Wenn einer aber ein Maschinenherz in der Brust hat, dem geht die reine Einfalt verloren. Bei wem die reine Einfalt hin ist, der wird ungewiß in den Regungen seines Geistes. Ungewißheit in den Regungen des Geistes ist etwas, das sich mit dem wahren Sinn nicht verträgt. Nicht daß ich solche Dinge nicht kennte, ich schäme mich, sie anzuwenden.› Daß diese alte Erzählung einen erheblichen Teil der Wahrheit enthält, wird jeder von uns empfinden; denn ‹Ungewißheit in den Regungen des Geistes› ist vielleicht eine der treffendsten Beschreibungen, die wir dem Zustand der Menschen in unserer heutigen Krise geben können: Die Technik, die Maschine hat sich in

einem Ausmaß über die Welt ausgebreitet, von der jener chinesische Weise nichts ahnen konnte, und doch sind auch zweitausend Jahre später noch die schönsten Kunstwerke auf der Erde entstanden, und die Einfalt der Seele, von der der Philosoph spricht, ist nie ganz verlorengegangen, sondern im Laufe der Jahrhunderte bald schwächer, bald stärker in Erscheinung getreten und immer wieder fruchtbar geworden. Schließlich hat sich der Aufstieg des Menschengeschlechts ja doch durch die Entwicklung der Werkzeuge vollzogen; es kann also die Technik jedenfalls nicht an sich schon die Ursache dafür sein, daß in unserer Zeit das Bewußtsein des Zusammenhanges an vielen Stellen verlorengegangen ist. Man wird der Wahrheit vielleicht näherkommen, wenn man die plötzliche und – gemessen an früheren Veränderungen – ungewöhnlich schnelle Ausbreitung der Technik in den letzten fünfzig Jahren für viele Schwierigkeiten verantwortlich macht, da diese Schnelligkeit der Veränderung im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten der Menschheit einfach nicht die Zeit gelassen hat, sich auf die neuen Lebensbedingungen umzustellen. Aber auch damit ist wohl noch nicht richtig oder noch nicht vollständig erklärt, warum unsere Zeit offensichtlich vor einer ganz neuen Situation zu stehen scheint, zu der es in der Geschichte kaum ein Analogon gibt.

Der Mensch steht nur noch sich selbst gegenüber

Schon am Anfang war davon die Rede, daß die Wandlungen in den Grundlagen der modernen Naturwissenschaft vielleicht als Symptom angesehen werden können für Verschiebungen in den Fundamenten unseres Daseins, die sich dann an vielen Stellen gleichzeitig äußern, sei es in Veränderungen unserer Lebensweise und unserer Denkgewohnheiten, sei es in äußeren Katastrophen, Kriegen oder Revolutionen. Wenn man versucht, von der Situation in der modernen Naturwissenschaft ausgehend, sich zu den in Bewegung geratenen Fundamenten vorzutasten, so hat man den Eindruck, daß man die Verhältnisse vielleicht nicht allzu grob vereinfacht, wenn man sagt, daß zum erstenmal im Laufe der Geschichte der Mensch auf dieser Erde nur noch sich selbst gegenübersteht, daß er keine anderen Partner oder Gegner mehr findet. Das gilt zunächst in einer ganz banalen Weise im Kampf des Menschen mit äußeren Gefahren. Früher war der Mensch durch wilde Tiere, durch Krankheiten, Hunger, Kälte und andere Naturgewalten bedroht, und in diesem Streit bedeutete jede Ausweitung der Technik eine Stärkung der Stellung des Menschen, also einen Fortschritt. In unserer Zeit, in der die Erde immer dichter besiedelt wird, kommt die Einschränkung der Lebensmöglichkeit und damit die Bedrohung in erster Linie von den anderen Menschen, die auch ihr Recht auf die Güter der Erde geltend machen. In dieser Auseinandersetzung braucht die Erweiterung der Technik aber kein Fortschritt mehr zu sein. Der Satz, daß der Mensch nur noch sich selbst gegenüberstehe, gilt aber im Zeitalter der Technik noch in einem viel weiteren Sinne. In früheren Epochen sah sich der Mensch der Natur gegenüber; die

von Lebewesen aller Art bewohnte Natur war ein Reich, das nach seinen eigenen Gesetzen lebte und in das er sich mit seinem Leben irgendwie einzuordnen hatte. In unserer Zeit aber leben wir in einer vom Menschen so völlig verwandelten Welt, daß wir überall, ob wir nun mit den Apparaten des täglichen Lebens umgehen, ob wir eine mit Maschinen zubereitete Nahrung zu uns nehmen oder die vom Menschen verwandelte Landschaft durchschreiten, immer wieder auf die vom Menschen hervorgerufenen Strukturen stoßen, daß wir gewissermaßen immer nur uns selbst begegnen. Sicher gibt es Teile der Erde, wo dieser Prozeß noch lange nicht zum Abschluß gekommen ist, aber früher oder später dürfte in dieser Hinsicht die Herrschaft des Menschen vollständig sein. Am schärfsten aber tritt uns diese neue Situation eben in der modernen Naturwissenschaft vor Augen, in der sich, wie ich vorhin geschildert habe, herausstellt, daß wir die Bausteine der Materie, die ursprünglich als die letzte objektive Realität gedacht waren, überhaupt nicht mehr ‹an sich› betrachten können, daß sie sich irgendeiner objektiven Festlegung in Raum und Zeit entziehen und daß wir im Grunde immer nur unsere Kenntnis dieser Teilchen zum Gegenstand der Wissenschaft machen können. Das Ziel der Forschung ist also nicht mehr die Erkenntnis der Atome und ihrer Bewegung ‹an sich›, d.h. abgelöst von unserer experimentellen Fragestellung; vielmehr stehen wir von Anfang an in der Mitte der Auseinandersetzung zwischen Natur und Mensch, von der die Naturwissenschaft ja nur ein Teil ist, so daß die landläufigen Einteilungen der Welt in Subjekt und Objekt, Innenwelt und

Außenwelt, Körper und Seele nicht mehr passen wollen und zu Schwierigkeiten führen. Auch in der Naturwissenschaft ist also der Gegenstand der Forschung nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur, und insofern begegnet der Mensch auch hier wieder sich selbst. Unserer Zeit ist nun offenbar die Aufgabe gestellt, sich mit dieser neuen Situation in allen Bereichen des Lebens abzufinden, und erst wenn das gelungen ist, kann die ‹Sicherheit in den Regungen des Geistes›, von der der chinesische Weise spricht, von den Menschen wiedergefunden werden. Der Weg zu diesem Ziel wird lang und mühevoll sein, und wir wissen nicht, welche Leidensstationen noch auf ihm liegen. Aber wenn man nach Anzeichen dafür sucht, wie dieser Weg aussehen wird, mag es erlaubt sein, sich noch einmal an das Beispiel der exakten Naturwissenschaft zu erinnern.

Neuer Begriff der wissenschaftlichen Wahrheit In der Quantentheorie hat man sich mit der geschilderten Situation abgefunden, als es gelungen war, sie mathematisch darzustellen und damit in jedem Fall klar und ohne Gefahr logischer Widersprüche zu sagen, wie das Ergebnis eines Experiments ausfallen werde. Man hat sich also mit der neuen Situation abgefunden in dem Augenblick, in dem die Unklarheiten beseitigt waren. Die mathematischen Formeln bilden dabei allerdings nicht mehr die Natur, sondern unsere Kenntnis von der Natur ab, und insofern hat man auf eine seit

Jahrhunderten übliche Art der Naturbeschreibung verzichtet, die noch vor wenigen Jahrzehnten als das selbstverständliche Ziel aller exakten Naturwissenschaft gegolten hätte. Man kann auch einstweilen nur sagen, daß man sich im Bereich der modernen Atomphysik selbst abgefunden hat, weil man die Erfahrung richtig darstellen kann. Schon wenn es sich um die philosophische Interpretation der Quantentheorie handelt, gehen die Meinungen noch auseinander, und man hört gelegentlich die Ansicht, daß diese neue Form der Naturbeschreibung noch unbefriedigend sei, da sie dem früheren Ideal der wissenschaftlichen Wahrheit nicht entspräche und daher selbst nur als Symptom für die Krise unserer Zeit aufzufassen und jedenfalls nicht endgültig sei. Es wird zweckmäßig sein, in diesem Zusammenhang den Begriff der wissenschaftlichen Wahrheit etwas allgemeiner zu erörtern und nach Kriterien dafür zu fragen, wann eine wissenschaftliche Erkenntnis konsequent und endgültig genannt werden kann. Zunächst ein mehr äußerliches Kriterium: Solange sich irgendein Bereich des geistigen Lebens stetig und ohne inneren Bruch fortentwickelt, sind dem einzelnen Menschen, der in diesem Bereich arbeitet, Einzelfragen gestellt, gewissermaßen handwerkliche Probleme, deren Lösung zwar nicht Selbstzweck ist, aber im Interesse des allein wichtigen großen Zusammenhanges wertvoll scheint. Diese Einzelprobleme sind gestellt, sie brauchen nicht erst gesucht zu werden, und ihre Bearbeitung ist die Voraussetzung für die Mitarbeit am großen Zusammenhang. So haben etwa mittelalterliche Bildhauer sich bemüht, die Falten an den

Gewändern möglichst gut wiederzugeben, und die Lösung dieses Einzelproblems war notwendig, weil auch die Falten in den Gewändern der Heiligen in dem großen religiösen Zusammenhang standen, der eigentlich gemeint war. In ähnlicher Weise waren und sind in der modernen Naturwissenschaft stets Einzelfragen gestellt, deren Bearbeitung die Voraussetzung bildet zum Verständnis des großen Zusammenhanges. Diese Fragen waren auch in der Entwicklung der letzten fünfzig Jahre stets von selbst gestellt, sie mußten nicht gesucht werden, und das Ziel war stets der gleiche große Zusammenhang der Naturgesetze. Insofern ist rein äußerlich kein Grund zu sehen für irgendeinen Bruch in der Kontinuität der exakten Naturwissenschaft. Hinsichtlich der Endgültigkeit der Ergebnisse aber ist daran zu erinnern, daß es im Bereich der exakten Naturwissenschaft immer wieder endgültige Lösungen gegeben hat für bestimmte umgrenzte Erfahrungsbereiche. Die Fragen z.B., die mit den Begriffen der Newtonschen Mechanik gestellt werden können, fanden auch ihre für alle Zeiten gültige Beantwortung durch die Newtonschen Gesetze und die aus ihnen gezogenen mathematischen Folgerungen. Diese Lösungen reichen allerdings nicht weiter als die Begriffe der Newtonschen Mechanik und ihre Fragestellung. Daher war z.B. schon die Elektrizitätslehre einer Analyse mit diesen Begriffen nicht mehr zugänglich, und so haben sich bei der Durchforschung dieses neuen Erfahrungsbereiches wieder neue Begriffssysteme ergeben, mit deren Hilfe die Naturgesetze der Elektrizitätslehre endgültig mathematisch formuliert werden konnten. Das Wort ‹endgültig›

bedeutet also im Zusammenhang der exakten Naturwissenschaft offenbar, daß es immer wieder in sich geschlossene, mathematisch darstellbare Systeme von Begriffen und Gesetzen gibt, die auf bestimmte Erfahrungsbereiche passen, in ihnen überall im Kosmos gelten und keiner Änderung oder Verbesserung fähig sind; daß aber natürlich nicht erwartet werden kann, daß diese Begriffe und Gesetze auch geeignet sein werden, später neue Erfahrungsbereiche darzustellen. Nur in diesem eingeschränkten Sinne also können auch die quantentheoretischen Begriffe und Gesetze als endgültig bezeichnet werden, und nur^in diesem eingeschränkten Sinne kann es überhaupt vorkommen, daß wissenschaftliche Erkenntnis ihre endgültige Fixierung in der mathematischen oder irgendeiner anderen Sprache findet. Ähnlich wird ja etwa auch in manchen Rechtsphilosophien angenommen, daß es immer Recht gebe, daß aber im allgemeinen in einem neuen Rechtsfall das Recht neu gefunden werden müsse, daß jedenfalls das schriftlich festgelegte Recht immer nur begrenzte Bereiche des Lebens umfassen und insofern nicht immer verbindlich sein könne. So geht auch die exakte Naturwissenschaft davon aus, daß es schließlich immer, auch in jedem neuen Erfahrungsbereich, möglich sein werde, die Natur zu verstehen; daß aber dabei gar nicht von vornherein ausgemacht sei, was das Wort ‹verstehen› bedeutet, und daß die in mathematischen Formeln fixierte Naturerkenntnis früherer Epochen zwar ‹endgültig› aber keineswegs immer anwendbar sei. Es ist dieser Sachverhalt, der es auch unmöglich macht, Glaubensbekenntnisse, die für die Haltung

im Leben verbindlich sein sollen, allein auf wissenschaftliche Erkenntnis zu begründen. Denn die Begründung könnte ja nur durch die fixierte wissenschaftliche Erkenntnis erfolgen, und die ist nur auf beschränkte Bereiche der Erfahrung anwendbar. Die Behauptung, die häufig am Anfang der in unserer Zeit entstandenen Glaubensbekenntnisse steht, daß es sich bei ihnen nicht um Glauben, sondern um wissenschaftlich fundiertes Wissen handele, enthält daher einen inneren Widerspruch und beruht auf einer Selbsttäuschung. Trotzdem darf diese Erkenntnis nicht dazu verführen, die Festigkeit des Grundes zu unterschätzen, auf dem das Gebäude der exakten Naturwissenschaft errichtet ist. Der Begriff der wissenschaftlichen Wahrheit, der der Naturwissenschaft zugrunde liegt, kann sehr verschiedene Arten von Naturverständnis tragen. So ruht außer der Naturwissenschaft der vergangenen Jahrhunderte auch die moderne Atomphysik in ihm, und daraus geht hervor, daß man sich auch mit der Erkenntnissituation, in der eine Objektivierung des Naturvorganges nicht mehr möglich ist, abfinden und in ihr unsere Beziehung zur Natur ordnen kann. Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaft in unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich also eigentlich nicht mehr um ein Bild der Natur, sondern um ein Bild unserer Beziehungen zur Natur. Die alte Einteilung der Welt in einen objektiven Ablauf in Raum und Zeit auf der einen Seite und die Seele, in der sich dieser Ablauf spiegelt, auf der anderen, also die Descartes’sche Unterscheidung von res cogitans und res extensa,

eignet sich nicht mehr als Ausgangspunkt zum Verständnis der modernen Naturwissenschaft. Im Blickfeld dieser Wissenschaft steht vielmehr vor allem das Netz der Beziehungen zwischen Mensch und Natur, der Zusammenhänge, durch die wir als körperliche Lebewesen abhängige Teile der Natur sind und sie gleichzeitig als Menschen zum Gegenstand unseres Denkens und Handelns machen. Die Naturwissenschaft steht nicht mehr als Beschauer vor der Natur, sondern erkennt sich selbst als Teil dieses Wechselspiels zwischen Mensch und Natur. Die wissenschaftliche Methode des Aussonderns, Erklärens und Ordnens wird sich der Grenzen bewußt, die ihr dadurch gesetzt sind, daß der Zugriff der Methode ihren Gegenstand verändert und umgestaltet, daß sich die Methode also nicht mehr vom Gegenstand distanzieren kann. Das naturwissenschaftliche Weltbild hört damit auf, ein eigentlich naturwissenschaftliches zu sein.

Das Bewußtsein der Gefahr unserer Situation Mit der Klärung dieser Paradoxien in einem engen wissenschaftlichen Bereich ist freilich noch wenig gewonnen für die allgemeine Situation unserer Zeit, in der wir, um eine vorhin gebrauchte Vereinfachung zu wiederholen, plötzlich in erster Linie uns selbst gegenüberstehen. Die Hoffnung, daß die Ausbreitung der materiellen und geistigen Macht des Menschen immer ein Fortschritt sei, findet ja durch diese Situation eine wenn auch erst undeutlich

sichtbare Grenze, und die Gefahren werden umso größer, je stärker die Welle des vom Fortschrittglauben getragenen Optimismus gegen diese Grenze brandet. Vielleicht kann man die Art der Gefahr, um die es sich hier handelt, noch durch ein anderes Bild deutlicher machen. Mit der scheinbar unbegrenzten Ausbreitung ihrer materiellen Macht kommt die Menschheit in die Lage eines Kapitäns, dessen Schiff so stark aus Stahl und Eisen gebaut ist, daß die Magnetnadel seines Kompasses nur noch auf die Eisenmasse des Schiffes zeigt, nicht mehr nach Norden. Mit einem solchen Schiff kann man kein Ziel mehr erreichen; es wird nur noch im Kreis fahren und daneben dem Wind und der Strömung ausgeliefert sein. Aber um wieder an die Situation in der modernen Physik zu erinnern: Die Gefahr besteht eigentlich nur, solange der Kapitän nicht weiß, daß sein Kompaß nicht mehr auf die magnetischen Kräfte der Erde reagiert. In dem Augenblick, in dem Klarheit geschaffen ist, kann die Gefahr schon halb als beseitigt gelten. Denn der Kapitän, der nicht im Kreise fahren, sondern ein bekanntes oder unbekanntes Ziel erreichen will, wird Mittel und Wege finden, die Richtung seines Schiffes zu bestimmen. Er mag neue, moderne Kompaßarten in Gebrauch nehmen, die nicht auf die Eisenmasse des Schiffes reagieren, oder er mag sich, wie in alten Zeiten, an den Sternen orientieren. Freilich können wir nicht darüber verfügen, ob die Sterne sichtbar sind oder nicht, und in unserer Zeit sind sie vielleicht nur selten zu sehen. Aber jedenfalls schließt schon das Bewußtsein, daß die Hoffnung des Fortschrittglaubens eine Grenze findet, den Wunsch ein, nicht im Kreise zu fahren, sondern ein Ziel

zu erreichen. In dem Maße, in dem Klarheit über diese Grenze erreicht wird, kann sie selbst als der erste Halt gelten, an dem wir uns neu orientieren können. Vielleicht kann man also aus dem Vergleich mit der modernen Naturwissenschaft die Hoffnung schöpfen, daß es sich hier wohl um eine Grenze für bestimmte Formen der Ausbreitung des menschlichen Lebensbereiches handeln mag, nicht aber um eine Grenze für diesen Lebensbereich schlechthin. Der Raum, in dem der Mensch als geistiges Wesen sich entwickelt, hat mehr Dimensionen als nur die eine, in der er sich in den letzten Jahrhunderten ausgebreitet hat. Daraus würde folgen, daß in längeren Zeiträumen die bewußte Hinnahme dieser Grenze zu einer gewissen Stabilisierung führen wird, in der sich die Erkenntnisse und schöpferischen Kräfte der Menschen wieder von selbst um eine gemeinsame Mitte ordnen.

II. Atomphysik und Kausalgesetz Zu den interessantesten allgemeinen Wirkungen der modernen Atomphysik gehören die Veränderungen, die sich unter ihrem Einfluß am Begriff der Naturgesetzlichkeit vollzogen haben. Es ist in den letzten Jahren oft davon gesprochen worden, daß die moderne Atomphysik das Gesetz von Ursache und Wirkung aufhebe oder wenigstens teilweise außer Kraft setze, daß man also nicht mehr von einer naturgesetzlichen Bestimmtheit der Vorgänge im eigentlichen Sinne reden könne. Gelegentlich wird auch einfach gesagt, das Prinzip der Kausalität sei mit der modernen Atomlehre nicht vereinbar. Nun sind solche Formulierungen stets unklar, solange die Begriffe Kausalität oder Gesetzlichkeit nicht genügend geklärt sind. Ich möchte daher im folgenden zunächst kurz über die historische Entwicklung dieser Begriffe sprechen. Dann will ich auf die Beziehungen eingehen, die sich zwischen der Atomphysik und dem Prinzip der Kausalität schon lange vor der Quantentheorie ergeben haben. Anschließend will ich die Folgen der Quantentheorie erörtern und von der Entwicklung der Atomphysik in den allerletzten Jahren sprechen. Von dieser Entwicklung ist bisher wenig in die Öffentlichkeit gedrungen, aber es sieht doch so aus, als ob auch von ihr Rückwirkungen ins philosophische Gebiet zu erwarten wären.

1. Der Begriff ‹Kausalität› Die Verwendung des Begriffs Kausalität für die Regel von Ursache und Wirkung ist historisch noch relativ jung. In der früheren Philosophie hatte das Wort causa eine viel allgemeinere Bedeutung als jetzt. Zum Beispiel wurde in der Scholastik im Anschluß an ARISTOTELES von vier Formen der ‹Ursache› gesprochen. Dort wird die causa formalis genannt, die man etwa heute als die Struktur oder den geistigen Gehalt einer Sache bezeichnen würde; die causa materialis, d.h. der Stoff, aus dem eine Sache besteht; die causa finalis, der Zweck, zu dem eine Sache geschaffen ist, und schließlich die causa efficiens. Nur die causa efficiens entspricht etwa dem, was wir heute mit dem Wort Ursache meinen. Die Veränderung des Begriffs causa zu dem heutigen Begriff Ursache hat sich im Laufe der Jahrhunderte vollzogen, im inneren Zusammenhang mit der Veränderung der ganzen von den Menschen erfaßten Wirklichkeit und mit der Entstehung der Naturwissenschaft beim Beginn der Neuzeit. In demselben Maße, in dem der materielle Vorgang an Wirklichkeit gewann, bezog sich auch das Wort causa auf dasjenige materielle Geschehen, das dem zu erklärenden Geschehen vorherging und dies irgendwie bewirkt hat. Daher wird auch bei KANT, der ja im Grunde doch an vielen Stellen einfach die philosophischen Konsequenzen aus der Entwicklung der Naturwissenschaften seit NEWTON zieht, das Wort Kausalität

schon so formuliert, wie wir es aus dem 19. Jahrhundert gewohnt sind: ‹Wenn wir erfahren, daß etwas geschieht, so setzen wir dabei jederzeit voraus, daß etwas vorhergehe, woraus es nach einer Regel folgt.› So wurde allmählich der Satz von der Kausalität eingeengt und schließlich gleichbedeutend mit der Erwartung, daß das Geschehen in der Natur eindeutig bestimmt sei, daß also die genaue Kenntnis der Natur oder eines bestimmten Ausschnitts aus ihr wenigstens im Prinzip genügt, die Zukunft vorauszubestimmen. So war eben die Newtonsche Physik geartet, daß man aus dem Zustand eines Systems zu einer bestimmten Zeit die zukünftige Bewegung des Systems vorausberechnen konnte. Die Anschauung, daß dies in der Natur grundsätzlich so sei, wurde vielleicht am allgemeinsten und verständlichsten von LAPLACE ausgesprochen in der Fiktion eines Dämons, der zu einer gegebenen Zeit die Lage und Bewegung aller Atome kennt und dann in der Lage sein müßte, die gesamte Zukunft der Welt vorauszuberechnen. Wenn man das Wort Kausalität so eng interpretiert, spricht man auch von ‹Determinismus› und meint damit, daß es feste Naturgesetze gibt, die den zukünftigen Zustand eines Systems aus dem gegenwärtigen eindeutig festlegen.

2. Die statistische Gesetzmäßigkeit Die Atomphysik hat von Anfang an Vorstellungen entwickelt, die eigentlich nicht zu diesem Bild passen. Sie widersprechen ihm zwar nicht grundsätzlich, aber die Denkweise der Atomlehre mußte sich von Anfang an von der des Determinismus unterscheiden. Schon in der antiken Atomlehre von DEMOKRIT und LEUKIPP wird ja angenommen, daß die Vorgänge im Großen dadurch zustande kommen, daß viele unregelmäßige Vorgänge im Kleinen geschehen. Dafür, daß dies grundsätzlich so sein kann, gibt es unzählige Beispiele aus dem täglichen Leben. Es genügt etwa für den Landwirt, festzustellen, daß eine Wolke sich niederschlägt und den Boden bewässert, und niemand braucht dabei zu wissen, wie die Wassertropfen im einzelnen gefallen sind. Oder ein anderes Beispiel: Wir wissen genau, was wir mit dem Wort Granit meinen, auch wenn die Form und die chemische Zusammensetzung der einzelnen kleinen Kristalle, ihr Mischungsverhältnis und ihre Farbe nicht genau bekannt sind. Wir benutzen also immer wieder Begriffe, die sich auf das Verhalten im Großen beziehen, ohne uns dabei für die Einzelvorgänge im Kleinen zu interessieren. Dieser Gedanke des statistischen Zusammenwirkens vieler kleiner Einzelereignisse ist schon in der antiken Atomlehre die Grundlage ihrer Erklärung der Welt gewesen und zu der Vorstellung verallgemeinert worden, daß alle sinnlichen Qualitäten der Stoffe

indirekt hervorgerufen würden durch die Lagerung und Bewegung der Atome. Schon bei DEMOKRIT steht der Satz: ‹Nur scheinbar ist ein Ding süß oder bitter, nur scheinbar hat es eine Farbe, in Wirklichkeit gibt es nur Atome und den leeren Raum.› Wenn man die sinnlich wahrnehmbaren Vorgänge in dieser Weise durch das Zusammenwirken sehr vieler Einzelvorgänge im Kleinen erklärt, so folgt fast zwangsläufig, daß man die Gesetzmäßigkeiten in der Natur auch nur als statistische Gesetzmäßigkeiten betrachtet. Zwar können auch statistische Gesetzmäßigkeiten zu Aussagen führen, deren Grad von Wahrscheinlichkeit so hoch ist, daß er an Sicherheit grenzt. Aber im Prinzip kann es stets Ausnahmen geben. Der Begriff der statistischen Gesetzmäßigkeit wird häufig als widerspruchsvoll empfunden. Man sagt etwa, man könne sich vorstellen, daß die Vorgänge in der Natur gesetzmäßig bestimmt seien, oder auch, daß sie völlig ungeordnet abliefen, aber unter statistischer Gesetzmäßigkeit könne man sich nichts vorstellen. Demgegenüber muß man daran erinnern, daß wir im täglichen Leben auf Schritt und Tritt mit statistischen Gesetzmäßigkeiten zu tun haben, die wir zur Grundlage unseres praktischen Handelns machen. Wenn etwa der Techniker ein Wasserkraftwerk baut, so rechnet er mit einer mittleren jährlichen Niederschlagsmenge, obwohl er keine Ahnung davon haben kann, wann es regnen wird und wieviel. Statistische Gesetzmäßigkeiten bedeuten in der Regel, daß man das betreffende physikalische System nur unvollständig kennt. Das bekannteste Beispiel ist das Würfelspiel. Da keine Seite des Würfels vor einer anderen ausgezeichnet ist und wir daher in keiner Weise

vorhersagen können, auf welche Seite er fallen wird, kann man annehmen, daß unter einer sehr großen Zahl von Würfen gerade der sechste Teil etwa 5 Augen zeigt. Mit dem Beginn der Neuzeit hat man schon früh versucht, das Verhalten der Stoffe durch das statistische Verhalten ihrer Atome nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ zu erklären. Schon ROBERTBOYLE hat gezeigt, daß die Beziehungen zwischen Druck und Volumen in einem Gas verstanden werden können, wenn man den Druck durch die vielen Stöße der einzelnen Atome auf die Wand des Gefäßes erklärt. In ähnlicher Weise hat man die thermodynamischen Erscheinungen erklärt, indem man annahm, daß die Atome sich in einem heißen Körper heftiger bewegen als in einem kalten. Es ist gelungen, dieser Aussage eine mathematisch quantitative Form zu geben und damit die Gesetze der Wärmelehre verständlich zu machen. Ihre endgültige Form hat diese Verwendung statistischer Gesetzmäßigkeiten in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts durch die sogenannte statistische Mechanik erhalten. In dieser Theorie, die ja in den Grundgesetzen einfach von der Newtonschen Mechanik ausgeht, untersuchte man die Folgerungen, die sich aus einer unvollständigen Kenntnis eines komplizierten mechanischen Systems ergeben. Man gab also prinzipiell den reinen Determinismus nicht auf und stellte sich vor, daß im einzelnen das Geschehen nach der Newtonschen Mechanik vollständig bestimmt sei. Aber man fügte den Gedanken hinzu, daß die mechanischen Eigenschaften des Systems nicht vollständig bekannt seien. Es ist

GIBBS und BOLTZMANN gelungen, die Art der unvollständigen Kenntnis sachgemäß in mathematische Formeln zu fassen, und insbesondere konnte GIBBS zeigen, daß der Temperaturbegriff gerade mit der Unvollständigkeit der Kenntnis eng verknüpft ist. Wenn wir von einem System die Temperatur kennen, so bedeutet dies, daß das System eines ist aus einer Gruppe von gleichberechtigten Systemen. Diese Gruppe von Systemen kann man mathematisch genau beschreiben, nicht aber das spezielle System, um das es sich handelt. Damit hatte GIBBS eigentlich schon halb unbewußt einen Schritt getan, der später die wichtigsten Konsequenzen nach sich gezogen hat. GIBBS hat zum erstenmal einen physikalischen Begriff eingeführt, der nur dann auf einen Gegenstand in der Natur angewendet werden kann, wenn unsere Kenntnis des Gegenstands unvollständig ist. Wenn z.B. die Bewegung und Lage aller Moleküle in einem Gas bekannt wären, so hätte es keinen Sinn mehr, von der Temperatur des Gases zu sprechen. Der Temperaturbegriff kann nur verwendet werden, wenn das System unvollständig bekannt ist und man aus dieser unvollständigen Kenntnis statistische Schlüsse zu ziehen wünscht.

3. Statistischer Charakter der Quantentheorie Obwohl man in dieser Weise seit den Entdeckungen von GIBBS und BOLTZMANN die unvollständige Kenntnis eines Systems in die Formulierung der physikalischen Gesetze einbezog, hat man doch grundsätzlich am Determinismus festgehalten bis zur berühmten Entdeckung von MAX PLANCK, mit der die Quantentheorie begonnen hat. PLANCK hatte zunächst in seiner Arbeit über die Strahlungstheorie nur ein Element von Unstetigkeit in den Strahlungserscheinungen gefunden. Er hatte gezeigt, daß ein strahlendes Atom seine Energie nicht kontinuierlich, sondern unstetig, in Stößen, abgibt. Diese unstetige und stoßweise Energieabgabe führt wieder, wie die ganzen Vorstellungen der Atomtheorie, zu der Annahme, daß die Aussendung von Strahlung ein statistisches Phänomen sei. Aber erst im Laufe von zweieinhalb Jahrzehnten hat sich herausgestellt, daß die Quantentheorie tatsächlich sogar dazu zwingt, die Gesetze eben als statistische Gesetze zu formulieren und vom Determinismus auch grundsätzlich abzugehen. Die Plancksche Theorie hatte sich seit den Arbeiten von EINSTEIN, BOHR und SOMMERFELD als der Schlüssel erwiesen, mit dem man das Tor zu dem Gesamtgebiet der Atomphysik öffnen kann. Mit Hilfe des Rutherford-Bohrschen Atommodells hat man die chemischen Vorgänge erklären können, und seit dieser Zeit sind Chemie, Physik und Astrophysik zu einer Einheit verschmolzen. Bei

der mathematischen Formulierung der quantentheoretischen Gesetze hat man sich aber gezwungen gesehen, vom reinen Determinismus abzugehen. Da ich von diesen mathematischen Ansätzen hier nicht sprechen kann, will ich nur verschiedene Formulierungen angeben, in denen man die merkwürdige Situation ausgedrückt hat, vor die der Physiker sich in der Atomphysik gestellt sah. Einmal kann man die Abweichung von der früheren Physik in den sogenannten Unbestimmtheitsrelationen ausdrücken. Man stellte fest, daß es nicht möglich ist, den Ort und die Geschwindigkeit eines atomaren Teilchens gleichzeitig mit beliebiger Genauigkeit anzugeben. Man kann entweder den Ort sehr genau messen, dann verwischt sich dabei durch den Eingriff des Beobachtungsinstruments die Kenntnis der Geschwindigkeit bis zu einem gewissen Grad; umgekehrt verwischt sich die Ortskenntnis durch eine genaue Geschwindigkeitsmessung, so daß für das Produkt der beiden Ungenauigkeiten durch die Plancksche Konstante eine untere Grenze gegeben wird. Diese Formulierung macht jedenfalls klar, daß man mit den Begriffen der Newtonschen Mechanik nicht sehr viel weiter kommen kann; denn für die Berechnung eines mechanischen Ablaufs muß man gerade Ort und Geschwindigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt gleichzeitig genau kennen; aber eben dies soll nach der Quantentheorie unmöglich sein. Eine andere Formulierung ist von NIELS BOHR geprägt worden, der den Begriff der Komplementarität eingeführt hat. Er meint damit, daß verschiedene anschauliche Bilder, mit denen wir atomare Systeme beschreiben, zwar für bestimmte Experimente durchaus

angemessen sind, aber sich doch gegenseitig ausschließen. So kann man z.B. das Bohrsche Atom als ein Planetensystem im Kleinen beschreiben: in der Mitte ein Atomkern und außen Elektronen, die diesen Kern umkreisen. Für andere Experimente aber mag es zweckmäßig sein, sich vorzustellen, daß der Atomkern von einem System stehender Wellen umgeben ist, wobei die Frequenz der Wellen maßgebend ist für die vom Atom ausgesandte Strahlung. Schließlich kann man das Atom auch ansehen als einen Gegenstand der Chemie, man kann seine Reaktionswärmen beim Zusammenschluß mit anderen Atomen berechnen, aber dann nicht gleichzeitig etwas über die Bewegung der Elektronen aussagen. Diese verschiedenen Bilder sind also richtig, wenn man sie an der richtigen Stelle verwendet, aber sie widersprechen einander, und man bezeichnet sie daher als komplementär zueinander. Die Unbestimmtheit, mit der jedes einzelne dieser Bilder behaftet ist und die durch die Unbestimmtheitsrelation ausgedrückt wird, genügt eben, um logische Widersprüche zwischen den verschiedenen Bildern zu vermeiden. Es ist aus diesen Andeutungen wohl auch ohne Eingehen auf die Mathematik der Quantentheorie verständlich, daß die unvollständige Kenntnis eines Systems ein wesentlicher Bestandteil jeder Formulierung der Quantentheorie sein muß. Die quantentheoretischen Gesetze müssen statistischer Art sein. Um ein Beispiel zu nennen: Wir wissen, daß ein Radiumatom a-Strahlen aussenden kann. Die Quantentheorie kann angeben, mit welcher Wahrscheinlichkeit pro Zeiteinheit das α-Teilchen den Kern verläßt; aber den genauen Zeitpunkt kann sie nicht vorhersagen, der ist

prinzipiell unbestimmt. Man kann auch nicht etwa annehmen, daß später noch einmal neue Gesetzmäßigkeiten gefunden werden, die uns dann erlauben, diesen genauen Zeitpunkt zu bestimmen; denn wenn das der Fall wäre, so könnte man nicht verstehen, wieso das αTeilchen auch noch aufgefaßt werden kann als eine Welle, die den Atomkern verläßt; es kann ja auch als solche experimentell nachgewiesen werden. Die verschiedenen Experimente, die sowohl die Wellennatur als auch die Teilchennatur der atomaren Materie beweisen, zwingen uns durch ihre Paradoxie zur Formulierung von statistischen Gesetzmäßigkeiten. Bei Vorgängen im Großen spielt dieses statistische Element der Atomphysik im allgemeinen keine Rolle, weil aus den statistischen Gesetzen für den Vorgang im Großen eine so große Wahrscheinlichkeit folgt, daß man sagen kann, praktisch sei der Vorgang determiniert. Es gibt allerdings auch immer wieder Fälle, in denen das Geschehen im Großen abhängt vom Verhalten eines oder einiger weniger Atome; dann kann man auch den Vorgang im Großen nur statistisch vorhersagen. Ich möchte das an einem bekannten, aber unerfreulichen Beispiel erläutern, nämlich am Beispiel der Atombombe. Bei einer gewöhnlichen Bombe kann aus dem Gewicht des Explosionsstoffes und seiner chemischen Zusammensetzung die Stärke der Explosion vorherberechnet werden. Bei der Atombombe kann man zwar auch noch eine obere und eine untere Grenze für die Stärke der Explosion angeben, aber eine genaue Vorausberechnung dieser Stärke ist prinzipiell unmöglich, da sie von dem Verhalten einiger weniger Atome beim Zündungsvorgang abhängt. In ähnlicher Weise gibt es

wahrscheinlich auch in der Biologie – worauf JORDAN besonders hingewiesen hat – Vorgänge, bei denen Entwicklungen im Großen durch Prozesse an einzelnen Atomen gesteuert werden; insbesondere scheint dies bei den Mutationen der Gene im Vererbungsvorgang der Fall zu sein. Diese beiden Beispiele sollten die praktischen Konsequenzen des statistischen Charakters der Quantentheorie erläutern; auch diese Entwicklung ist seit über zwei Jahrzehnten abgeschlossen, und man wird nicht annehmen können, daß sich in Zukunft an dieser Stelle noch grundsätzlich etwas ändern kann.

4. Geschichte der neueren Atomphysik Trotzdem ist in den allerletzten Jahren zum Problemkreis der Kausalität noch ein neuer Gesichtspunkt hinzugekommen, der, wie ich schon zu Anfang sagte, aus der jüngsten Entwicklung der Atomphysik stammt. Die Fragen, die jetzt im Mittelpunkt des Interesses stehen, haben sich in logischer Folge aus ihrem Fortschritt in den letzten 200 Jahren ergeben, und ich muß daher noch einmal kurz auf die Geschichte der neueren Atomphysik eingehen. Beim Beginn der Neuzeit hatte sich der Atombegriff verbunden mit dem des chemischen Elements. Ein Grundstoff wurde dadurch charakterisiert, daß er sich chemisch nicht weiter zerlegen läßt. Zu jedem Element gehört daher eine bestimmte Atomsorte. Ein Stück des Elements Kohlenstoff besteht etwa aus lauter Kohlenstoffatomen, ein Stück des Elements Eisen aus lauter Eisenatomen. Man war daher gezwungen, genau so viele Atomsorten anzunehmen, als es chemische Elemente gibt. Da man schließlich 92 verschiedene chemische Elemente kannte, mußte man auch 92 Atomsorten annehmen. Eine solche Vorstellung ist aber von den Grundvoraussetzungen der Atomlehre her sehr unbefriedigend. Ursprünglich sollten doch die Atome durch ihre Lagerung und Bewegung die Qualitäten der Stoffe erklären. Diese Vorstellung hat nur dann einen wirklichen Erklärungswert, wenn die Atome alle gleich sind oder es nur ganz wenige Sorten von Atomen gibt, wenn

also die Atome selbst keine Qualitäten besitzen. Wenn man aber gezwungen ist, 92 qualitativ verschiedene Atome anzunehmen, so hat man nicht allzuviel gewonnen gegenüber der Aussage, daß es eben qualitativ verschiedene Dinge gibt. Die Annahme von 92 grundsätzlich verschiedenen kleinsten Teilchen ist daher seit langer Zeit als unbefriedigend empfunden worden, und man hat vermutet, es müsse möglich sein, von diesen 92 Atomsorten zu einer kleineren Anzahl elementarer Bestandteile zu kommen. Man hat also früh versucht, die chemischen Atome selbst als zusammengesetzt aus wenigen Grundbausteinen aufzufassen. Die ältesten Versuche, die chemischen Stoffe in andere zu verwandeln, gingen ja immer von der Voraussetzung aus, daß letzten Endes die Materie einheitlich sei. Tatsächlich hat sich in den vergangenen 50 Jahren herausgestellt, daß die chemischen Atome zusammengesetzt sind, und zwar aus nur drei Grundbausteinen, die wir Protonen, Neutronen und Elektronen nennen. Der Atomkern besteht aus Protonen und Neutronen, und dieser Atomkern wird von einer Anzahl von Elektronen umkreist. So besteht etwa der Kern des Kohlenstoffatoms aus 6 Protonen und 6 Neutronen, und er wird in relativ weitem Abstand von 6 Elektronen umkreist. An die Stelle der 92 verschiedenen Atomsorten sind also seit der Entwicklung der Kernphysik in den dreißiger Jahren nur drei verschiedene kleinste Teilchen getreten; insofern hat die Atomlehre genau den Weg genommen, der ihr durch ihre Grundvoraussetzungen vorgezeichnet war. Nachdem die Zusammensetzung aller chemischen Atome aus den drei Grundbausteinen klargestellt war, mußte es auch möglich sein, die

chemischen Elemente praktisch ineinander umzuwandeln. Bekanntlich ist der physikalischen Aufklärung auch bald die technische Verwirklichung gefolgt. Seit der Entdeckung der Uranspaltung durch OTTO HAHN im Jahre 1938 und der an sie anschließenden technischen Entwicklung können ElementUmwandlungen auch im Großen vollzogen werden. Nun hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten das Bild wieder etwas verwirrt. Neben den genannten drei Elementarteilchen: Proton, Neutron und Elektron hat man schon in den dreißiger Jahren noch weitere entdeckt, und in den allerletzten Jahren ist die Anzahl dieser neuen Teilchen erschreckend angewachsen. Es handelt sich dabei stets um Elementarteilchen, die im Gegensatz zu den drei Grundbausteinen unstabil, d.h. nur ganz kurze Zeit existenzfähig sind. Von diesen Teilchen, die wir Mesonen nennen, hat eine Sorte eine Lebensdauer von etwa dem millionstel Teil einer Sekunde, eine andere lebt nur den hundertsten Teil dieser Zeit, eine dritte, elektrisch ungeladene Sorte sogar nur den hundertbillionsten Teil einer Sekunde lang. Bis auf diese Unstabilität verhalten sich die neuen Elementarteilchen aber ganz ähnlich wie die drei stabilen Grundbausteine der Materie. Im ersten Augenblick sieht es so aus, als sei man nun wieder gezwungen, eine große Anzahl qualitativ verschiedener Elementarteilchen anzunehmen, und das wäre im Hinblick auf die Grundvoraussetzungen der Atomphysik sehr unbefriedigend. Es hat sich aber in den Experimenten der letzten Jahre herausgestellt, daß die Elementarteilchen sich bei Zusammenstößen mit großer Energieumsetzung ineinander

verwandeln können. Wenn zwei Elementarteilchen mit großer Bewegungsenergie aufeinander treffen, so entstehen beim Stoß neue Elementarteilchen, die ursprünglichen Teilchen und ihre Energie verwandeln sich in neue Materie. Diesen Sachverhalt kann man am einfachsten beschreiben, wenn man sagt, alle Teilchen bestehen im Grunde aus dem gleichen Stoff, sie sind nur verschiedene stationäre Zustände ein und derselben Materie. Auch die Zahl 3 der Grundbausteine wird daher noch einmal reduziert auf die Zahl 1. Es gibt nur eine einheitliche Materie, aber sie kann in verschiedenen diskreten stationären Zuständen existieren. Einige dieser Zustände sind stabil, das sind Proton, Neutron und Elektron, und viele andere sind unstabil.

5. Relativitätstheorie und die Auflösung des Determinismus Obwohl man auf Grund der experimentellen Ergebnisse der vergangenen Jahre kaum mehr daran zweifeln kann, daß die Atomphysik sich in dieser Richtung entwickeln wird, ist es bisher noch nicht gelungen, die Gesetzmäßigkeiten mathematisch zu erfassen, nach denen die Elementarteilchen gebildet sind. Das ist eben das Problem, an dem die Atomphysiker im Augenblick arbeiten, sowohl experimentell, indem sie neue Teilchen entdecken und deren Eigenschaften untersuchen, als auch theoretisch, indem sie sich bemühen, die Eigenschaften der Elementarteilchen gesetzmäßig zu verknüpfen und sie in mathematischen Formeln niederzuschreiben. Bei diesen Bemühungen sind Schwierigkeiten mit dem Zeitbegriff aufgetaucht. Wenn man sich mit den Zusammenstößen der Elementarteilchen höchster Energien beschäftigt, muß man auf die Raum-Zeit-Struktur der speziellen Relativitätstheorie Rücksicht nehmen. In der Quantentheorie der Atomhülle spielte diese RaumZeit-Struktur keine sehr wichtige Rolle, da sich die Elektronen der Atomhülle verhältnismäßig langsam bewegen. Jetzt aber hat man es mit Elementarteilchen zu tun, die sich nahezu mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, deren Verhalten also nur mit Hilfe der Relativitätstheorie beschrieben werden kann. EINSTEIN hat vor

50 Jahren gefunden, daß die Struktur von Raum und Zeit nicht ganz so einfach ist, wie wir sie uns zunächst im täglichen Leben vorstellen. Wenn wir als vergangen alle jene Ereignisse bezeichnen, von denen wir, wenigstens im Prinzip, etwas erfahren können, und als zukünftig alle Ereignisse, auf die wir, wenigstens im Prinzip, noch einwirken können, so entspricht es unserer naiven Vorstellung, zu glauben, daß zwischen diesen beiden Gruppen von Ereignissen nur ein unendlich kurzer Moment liegt, den wir den gegenwärtigen Zeitpunkt nennen können. Das war auch die Vorstellung, die NEWTON seiner Mechanik zugrunde gelegt hatte. Seit EINSTEINS Entdeckung im Jahre 1905 aber weiß man, daß zwischen dem, was ich eben zukünftig, und dem, was ich vergangen genannt habe, ein endlicher Zeitabstand liegt, dessen zeitliche Ausdehnung abhängt von dem räumlichen Abstand zwischen dem Ereignis und dem Beobachter. Der Bereich der Gegenwart ist also nicht auf einen unendlich kurzen Zeitmoment beschränkt. Die Relativitätstheorie nimmt an, daß Wirkungen sich grundsätzlich nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten können. Dieser Zug der Relativitätstheorie führt nun im Zusammenhang mit den Unbestimmtheitsrelationen der Quantentheorie zu Schwierigkeiten. Nach der Relativitätstheorie können Wirkungen sich nur erstrecken auf das Raum-Zeit-Gebiet, das scharf begrenzt ist durch den sogenannten Lichtkegel, d.h. durch die Raum-Zeit-Punkte, die von einer von dem wirkenden Punkt ausgehenden Lichtwelle erreicht werden. Dieses Raum-Zeit-Gebiet ist also, das muß besonders betont werden, scharf begrenzt. Andererseits hat sich in der Quantentheorie

herausgestellt, daß eine scharfe Festlegung des Ortes, also auch eine scharfe räumliche Begrenzung, eine unendliche Unbestimmtheit der Geschwindigkeit und damit auch des Impulses und der Energie zur Folge hat. Dieser Sachverhalt wirkt sich praktisch in der Weise aus, daß bei dem Versuch einer mathematischen Formulierung der Wechselwirkung der Elementarteilchen stets unendliche Werte für Energie und Impuls auftreten, die eine befriedigende mathematische Formulierung verhindern. Über diese Schwierigkeiten sind in den letzten Jahren viele Untersuchungen angestellt worden. Es ist aber noch nicht gelungen, eine ganz befriedigende Lösung anzugeben. Als einzige Abhilfe scheint sich einstweilen die Annahme darzubieten, daß in ganz kleinen Raum-Zeit-Bereichen von der Größenordnung der Elementarteilchen Raum und Zeit in einer eigentümlichen Weise verwischt sind, nämlich derart, daß man in so kleinen Zeiten selbst die Begriffe früher oder später nicht mehr richtig definieren kann. Im Großen würde sich an der Raum-ZeitStruktur natürlich nichts ändern können, aber man müßte mit der Möglichkeit rechnen, daß Experimente über die Vorgänge in ganz kleinen Raum-Zeit-Bereichen zeigen werden, daß gewisse Prozesse scheinbar zeitlich umgekehrt ablaufen, als es ihrer kausalen Reihenfolge entspricht. An dieser Stelle hängen also die neuesten Entwicklungen der Atomphysik wieder mit der Frage des Kausalgesetzes zusammen. Ob freilich hier noch einmal neue Paradoxien, neue Abweichungen vom Kausalgesetz auftreten, ist im Augenblick noch nicht zu entscheiden. Es mag sein, daß sich bei dem Versuch zur mathematischen Formulierung der Gesetze der

Elementarteilchen doch noch neue Möglichkeiten ergeben werden, um die genannten Schwierigkeiten zu umgehen. Aber man kann doch schon jetzt kaum daran zweifeln, daß die Entwicklung der neuesten Atomphysik an dieser Stelle noch einmal in den philosophischen Bereich übergreifen wird. Die endgültige Antwort auf die eben gestellten Fragen wird man erst geben können, wenn es gelungen ist, die Naturgesetze im Bereich der Elementarteilchen mathematisch festzulegen; wenn wir also z.B. wissen, warum etwa das Proton gerade 1836 mal schwerer ist als das Elektron. Man erkennt daraus, daß die Atomphysik sich von den Vorstellungen des Determinismus immer weiter entfernt hat. Zunächst schon seit den Anfängen der Atomlehre dadurch, daß man die für die Vorgänge im Großen maßgebenden Gesetze als statistische Gesetze aufgefaßt hat. Man hat damals zwar prinzipiell den Determinismus aufrechterhalten, aber praktisch mit unserer unvollständigen Kenntnis der physikalischen Systeme gerechnet. Dann in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts dadurch, daß die unvollständige Kenntnis atomarer Systeme als ein prinzipieller Bestandteil der Theorie erkannt worden ist. Schließlich in den allerletzten Jahren noch dadurch, daß in den kleinsten Räumen und Zeiten der Begriff der zeitlichen Reihenfolge problematisch zu werden scheint, obwohl wir noch nicht sagen können, wie sich hier die Rätsel einmal lösen werden.

III. Über das Verhältnis von humanistischer Bildung, Naturwissenschaft und Abendland 1. Die traditionellen Gründe der Verteidigung humanistischer Bildung Es wird oft darüber gesprochen, ob es nicht ein allzu theoretisches und weltfremdes Wissen sei, das wir uns an einem Gymnasium aneignen, und ob uns nicht in unserer von Technik und Naturwissenschaften bestimmten Zeit eine mehr aufs Praktische gerichtete Ausbildung sehr viel zweckmäßiger auf das Leben vorbereiten könnte. Damit wird die oft gestellte Frage nach dem Verhältnis der humanistischen Bildung zur heutigen Naturwissenschaft angeschnitten. Ich kann diese Frage nicht in einer grundsätzlichen Weise behandeln; denn ich bin kein Pädagoge und habe über solche Fragen der Erziehung zu wenig nachgedacht. Aber ich kann versuchen, mich an meine eigenen Erfahrungen zu erinnern; denn ich bin ja selbst in einem Gymnasium zur Schule gegangen und habe dann später den größten Teil meiner Arbeit der Naturwissenschaft gewidmet. Welche Gründe sind es, die von den Vertretern des humanistischen Gedankens immer wieder für die Beschäftigung mit

den alten Sprachen und der alten Geschichte angeführt werden? Da wird zunächst mit Recht darauf hingewiesen, daß ja unser ganzes kulturelles Leben, unser Handeln, Denken und Fühlen in der geistigen Substanz des Abendlandes wurzelt, also in dem geistigen Wesen, das in der Antike begonnen hat, an dessen Anfang griechische Kunst, griechische Dichtung und griechische Philosophie stehen, das dann im Christentum mit der Bildung der Kirche seine große Wendung erfahren und schließlich beim Ausgang des Mittelalters in einer großartigen Vereinigung von christlicher Frömmigkeit mit der geistigen Freiheit der Antike die Welt als die Welt Gottes ergriffen und durch Entdeckungsfahrten, Naturwissenschaft und Technik von Grund aus umgestaltet hat. Wir werden also in jedem Bereich des modernen Lebens immer dann, wenn wir den Dingen auf den Grund gehen, sei es systematisch oder historisch oder philosophisch, auf die geistigen Strukturen stoßen, die in der Antike und im Christentum entstanden sind. Daher kann man für das humanistische Gymnasium anführen, daß es gut sei, diese Strukturen zu kennen, auch wenn es für das praktische Leben an vielen Stellen gar nicht so nötig sein mag. Dann wird etwa als zweites betont, daß die ganze Kraft unserer abendländischen Kultur herrührt und immer hergerührt hat von der engen Verbindung zwischen prinzipieller Fragestellung und praktischem Handeln. Im praktischen Handeln sind andere Völker und andere Kulturkreise ebenso erfahren gewesen wie die Griechen. Das aber, was das griechische Denken vom ersten Augenblick an unterschieden hat vom Denken anderer Völker, war die Fähigkeit,

eine gestellte Frage ins Prinzipielle zu wenden und damit zu Gesichtspunkten zu kommen, die das bunte Vielerlei von Erfahrung ordnen und dem menschlichen Denken zugänglich machen können. Diese Verbindung von prinzipieller Fragestellung und praktischem Handeln hat das Griechentum vor allem ausgezeichnet, und sie hat dann noch einmal beim Aufbruch des Abendlandes in der Renaissance im Mittelpunkt unserer Geschichte gestanden und die moderne Naturwissenschaft und Technik hervorgebracht. Wer sich mit der Philosophie der Griechen beschäftigt, der stößt also auf Schritt und Tritt auf diese Fähigkeit zur prinzipiellen Fragestellung, und er kann sich so beim Lesen der Griechen im Gebrauch des stärksten geistigen Werkzeuges üben, das abendländisches Denken hervorgebracht hat. Insofern kann man also sagen, daß wir auch im humanistischen Gymnasium etwas sehr Nützliches lernen. Schließlich wird mit Recht als drittes gesagt, daß die Beschäftigung mit der Antike im Menschen einen Wertmaßstab erzeuge, bei dem die geistigen Werte höher gelten als die materiellen. Denn gerade bei den Griechen ist der Primat des Geistigen in allen Spuren, die sie hinterlassen haben, unmittelbar sichtbar. Freilich ist gerade das ein Punkt, bei dem Menschen unserer Zeit einwenden können, unsere heutige Zeit zeige ja eben, daß es auf die materielle Macht, auf Rohstoffe und Industrie ankomme und daß materielle Macht stärker sei als alle geistige Macht. Es entspreche also wahrhaftig nicht unserer Zeit, wenn man den Kindern eine Überschätzung der geistigen Werte gegenüber den materiellen beibringen wollte.

Aber ich muß dabei an ein Gespräch denken, das ich vor dreißig Jahren in einem Hofe des Universitätsgebäudes geführt habe. Damals spielten sich in München Revolutionskämpfe ab, die Innenstadt war noch von Kommunisten besetzt, und ich war mit anderen Schulkameraden als siebzehnjähriger Bursche einer Truppe als Hilfspersonal zugeteilt, die gegenüber der Universität im Priesterseminar ihr Quartier hatte. Der Grund ist mir nicht mehr ganz klar; wahrscheinlich empfanden wir diese Wochen des Soldatenspielens als ganz angenehme Unterbrechung unserer Schulzeit im Max-Gymnasium. Auf der Ludwigstraße wurde gelegentlich, wenn auch nicht allzu heftig, geschossen. Jeden Mittag holten wir unser Essen aus einer Feldküche im Hof der Universität. Dabei kamen wir einmal mit einem Theologiestudenten ins Gespräch über die Frage, ob dieser Kampf um München eigentlich eine sinnvolle Angelegenheit sei, und einer von uns Jungen betonte energisch, man könne eben mit den geistigen Mitteln, mit Reden und Papier keine Machtfragen entscheiden; die wirkliche Entscheidung zwischen uns und den anderen könne nur durch Gewalt erzwungen werden. Da erwiderte der Theologiestudent, daß doch schon die Frage, wer als ‹wir› und ‹die anderen› unterschieden werde, offenbar auf eine rein geistige Entscheidung führe und daß doch wahrscheinlich schon viel gewonnen wäre, wenn diese Entscheidung etwas vernünftiger getroffen würde, als es gewöhnlich üblich sei. Dagegen konnten wir eigentlich nichts mehr einwenden. Wenn der Pfeil die Sehne des Bogens verlassen hat, so fliegt er seine Bahn, und nur

durch noch stärkere Gewalt könnte er von seinem Weg abgelenkt werden; aber vorher wird ja seine Richtung nur durch den bestimmt, der zielt, und ohne ein geistiges Wesen, das zielt, könnte er überhaupt nicht fliegen. Insofern ist es also vielleicht nicht so schlecht, wenn wir der Jugend beibringen, die geistigen Werte nicht zu gering zu schätzen.

2. Die mathematische Beschreibung der Natur Nun bin ich aber doch zu weit von meinem eigentlichen Thema abgekommen, und ich muß an die Stelle zurückkehren, an der im Rahmen des Münchener Maximilian-Gymnasiums mir die Naturwissenschaft zum erstenmal wirklich begegnet ist; denn ich will ja über das Verhältnis von Naturwissenschaft und humanistischer Bildung sprechen. – Die meisten Schuljungen geraten dadurch in den Bereich von Technik und Naturwissenschaft, daß sie anfangen, mit Apparaten zu spielen. Durch das Beispiel der Kameraden oder durch irgendwelche Weihnachtsgeschenke oder auch gelegentlich durch den Schulunterricht wird der Wunsch wachgerufen, mit kleinen Maschinen umzugehen und sie selbst zu bauen. Das habe auch ich in den ersten fünf Jahren meiner Schulzeit mit großem Eifer getrieben. Auch solche Tätigkeit wäre wohl nur Spiel geblieben und hätte mich gar nicht zur richtigen Naturwissenschaft geführt, wenn nicht ein anderes Erlebnis dazugekommen wäre. Im Schulunterricht wurden uns damals die Anfangsgründe der Geometrie beigebracht. Das schien mir zunächst ein reichlich trockener Stoff: Dreiecke und Vierecke regen die Phantasie weniger an als Blumen und Gedichte. Aber da tauchte auf einmal aus den Worten unseres ausgezeichneten Mathematiklehrers Wolff der Gedanke auf, daß man über diese Gebilde allgemeingültige Sätze aufstellen könne, daß man bestimmte

Ergebnisse nicht nur an den Figuren erkennen und ablesen, sondern auch mathematisch beweisen könne. Diesen Gedanken, daß die Mathematik in irgendeiner Weise auf Gebilde unserer Erfahrung paßt, empfand ich als außerordentlich merkwürdig und aufregend, und es ging mir damit so, wie es eben in einigen seltenen Fällen mit dem Gedankengut geht, das uns die Schule vermittelt: Gewöhnlich läßt der Schulunterricht die verschiedenen Landschaften der geistigen Welt an unseren Augen vorbeiziehen, ohne daß wir in ihnen recht heimisch werden. Er beleuchtet sie je nach den Fähigkeiten des Lehrers mit einem mehr oder weniger hellen Licht, und die Bilder haften kürzere oder längere Zeit in unserer Erinnerung. Aber in einigen seltenen Fällen fängt ein Gegenstand, der so ins Blickfeld getreten ist, plötzlich an, im eigenen Licht zu leuchten, zunächst nur dunkel und undeutlich, dann immer heller, und schließlich füllt das von ihm ausgestrahlte Licht einen immer größeren Raum in unserem Denken, greift auf andere Gegenstände über und wird schließlich zu einem wichtigen Teil unseres eigenen Lebens. So ging es mir damals mit der Erkenntnis, daß die Mathematik auf die Dinge unserer Erfahrung paßt; eine Erkenntnis, die, wie ich in der Schule erfuhr, schon von den Griechen, von PYTHAGORAS und EUKLID, gewonnen worden war. Ich probierte, zunächst angeregt durch die Stunden bei Herrn Wolff, die Anwendung der Mathematik selbst aus, und ich empfand dieses Spielen zwischen Mathematik und unmittelbarer Anschauung als mindestens ebenso amüsant wie die meisten anderen Spiele. Später genügte mir das Feld der

Geometrie nicht mehr als Bereich für das mathematische Spiel, an dem ich so viel Freude hatte. Ich erfuhr durch irgendwelche Bücher, daß man in der Physik auch dem Verhalten meiner zusammengebastelten Apparate mit Mathematik nachgehen könnte, und ich fing nun an, aus Göschen-Bändchen und ähnlichen, etwas primitiven Lehrbüchern die Mathematik zu lernen, die man zur Beschreibung der physikalischen Gesetze braucht, also vor allem Differential- und Integralrechnung. Die Leistungen der neueren Zeit, NEWTONS und seiner Nachfolger, empfand ich dabei als die unmittelbare Fortsetzung dessen, was die griechischen Mathematiker und Philosophen erstrebt hatten, eigentlich als ein und dasselbe, und es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, die Naturwissenschaft und Technik unserer Zeit als eine grundsätzlich andere Welt als die Philosophie des PYTHAGORAS oder EUKLID anzusehen. Im Grunde war ich mit meiner Freude an der mathematischen Beschreibung der Natur, ohne es recht zu wissen und in aller schülerhaften Unkenntnis, auf den einen Grundzug des abendländischen Denkens überhaupt gestoßen, nämlich eben auf die vorher besprochene Verbindung der prinzipiellen Fragestellung mit dem praktischen Handeln. Die Mathematik ist sozusagen die Sprache, in der die Frage gestellt und beantwortet werden kann, aber die Frage selbst zielt auf einen Vorgang in der praktischen materiellen Welt; die Geometrie zum Beispiel diente der Vermessung von Ackerland. Durch dieses Erlebnis ist dann für mehrere Schuljahre mein Interesse viel mehr bei der Mathematik als bei der

Naturwissenschaft oder meinen Apparaten geblieben, und erst in den beiden oberen Klassen hat sich das Verhältnis wieder mehr zugunsten der Physik verschoben, merkwürdigerweise durch die etwas zufällige Begegnung mit einem Stück der modernen Physik.

3. Atome und humanistische Bildung Wir benützten damals ein sonst recht gutes Physikbuch, in dem aber begreiflicherweise die modernste Physik noch etwas stiefmütterlich behandelt war. Trotzdem war in dem Buch auf den letzten Seiten auch einiges über die Atome zu lesen, und ich erinnere mich deutlich an ein Bild, auf dem eine größere Anzahl von Atomen zu sehen war. Das Bild sollte offenbar den Zustand eines Gases im Kleinen wiedergeben. Einige Atome hingen jeweils in Gruppen zusammen, und zwar waren sie durch Haken und Ösen, die wahrscheinlich die chemische Bindung darstellen sollten, miteinander verknüpft. Außerdem war im Text zu lesen, daß die Atome nach der Ansicht der griechischen Philosophen die kleinsten unteilbaren Bausteine der Materie seien. Dieses Bild hat mich immer zu heftigem Widerspruch gereizt, und ich war empört darüber, daß so etwas Dummes in einem Physiklehrbuch stehen konnte. Denn ich dachte: Wenn die Atome so grob anschauliche Gebilde sind, wie das Buch uns glauben machen wollte, wenn sie eine so komplizierte Gestalt haben, daß sie sogar Haken und Ösen besitzen, dann können sie unmöglich die kleinsten, unteilbaren Bausteine der Materie sein. In dieser Kritik wurde ich von einem Freund bestärkt, mit dem ich in der Jugendbewegung viele Wanderungen gemeinsam unternommen hatte und der sich in viel höherem Maße für Philosophie interessierte als ich. Dieser Kamerad, der einige

Aufsätze über die Atomlehre der alten Philosophen gelesen hatte, war auch einmal auf ein Lehrbuch der modernen Atomphysik gestoßen (ich glaube, es ist SOMMERFELDS Buch über ‹Atombau und Spektrallinien› gewesen) und hatte dort anschauliche Zeichnungen von Atomen gesehen. Er war daraus zu der festen Überzeugung gekommen, daß die ganze moderne Atomphysik falsch sein müßte, und versuchte mich davon zu überzeugen. Unsere Urteile waren damals offenbar sehr viel schneller und sicherer als heute. Ich mußte meinem Freund auch darin recht geben, daß anschauliche Bilder von Atomen wohl notwendig falsch sein müßten; aber ich behielt mir vor, die Fehler bei den Bilderzeichnern zu suchen. Immerhin blieb also der Wunsch übrig, die eigentlichen Gründe für die Atomphysik näher kennenzulernen, und da kam mir ein anderer Zufall zu Hilfe. Wir hatten um diese Zeit eben mit der Lektüre eines Platonischen Dialogs begonnen. Aber der Schulunterricht war unregelmäßig. Ich habe schon erzählt, daß wir als junge Burschen einmal eine Zeitlang in den Münchener Revolutionskämpfen bei einer Truppe Dienst taten, die gegenüber der Universität im Priesterseminar stationiert war. Dort hatten wir keine strenge Arbeit; es war im Gegenteil die Gefahr des Herumlungerns sehr viel größer als die der Überanstrengung. Dazu kam, daß wir auch nachts dort zur Verfügung stehen mußten, also eigentlich ohne jede Kontrolle durch Eltern oder Lehrer vergnügt in den Tag hineinlebten.

Es war damals, im Juli 1919, ein warmer Sommer, und besonders am frühen Morgen gab es so gut wie keinen Dienst. So kam es, daß ich mich häufig kurz nach Sonnenaufgang auf das Dach des Priesterseminars zurückzog und mit irgendeinem Buch in die Dachrinne legte, um mich von der Sonne wärmen zu lassen, oder mich auf den Rand der Dachrinne setzte, um dem beginnenden Leben auf der Ludwigstraße zuzusehen. Bei einer solchen Gelegenheit kam ich auch einmal auf den Gedanken, mir einen Band PLATO mit auf die Dachrinne zu nehmen, und ich geriet bei dem Wunsch, etwas anderes zu lesen als das, was im Schulunterricht drankam, mit meinen relativ bescheidenen griechischen Kenntnissen an den Dialog Timaios in dem ich zum erstenmal wirklich etwas aus erster Quelle von der griechischen Atomphilosophie erfuhr. Aus dieser Lektüre wurden mir die Grundgedanken der Atomlehre viel klarer als früher. Ich glaubte wenigstens so halb die Gründe zu verstehen, die die griechischen Philosophen veranlaßt hatten, an kleinste, unteilbare Bausteine der Materie zu denken. Die These, die PLATO im Timaios vertritt, daß die Atome reguläre Körper seien, wollte mir zwar auch noch nicht recht einleuchten, aber es befriedigte mich immerhin, daß sie wenigstens keine Haken und Ösen hatten. Jedenfalls entstand schon damals in mir die Überzeugung, daß man kaum moderne Atomphysik treiben könne, ohne die griechische Naturphilosophie zu kennen, und ich dachte, der Zeichner jenes Atombildes hätte ruhig seinen PLATO anständig studieren können, bevor er an die Herstellung seiner Bilder ging.

So war ich, wieder ohne recht zu wissen wie, mit einem großen Gedanken der griechischen Naturphilosophie bekannt geworden, der die Brücke vom Altertum zur Neuzeit schlägt und der seine große Kraft erst seit der Zeit der Renaissance entfaltet hat. Man pflegt diese Richtung der griechischen Philosophie, die Atomlehre des LEUKIPP und DEMOKRIT, als Materialismus zu bezeichnen. Das ist eine zwar historisch richtige Bezeichnung, aber sie kann heute doch leicht mißverstanden werden, weil das Wort Materialismus durch das neunzehnte Jahrhundert eine sehr einseitige Färbung erhalten hat, die auf die Entwicklung der griechischen Naturphilosophie keineswegs paßt. Man kann diese falsche Deutung der alten Atomlehre vermeiden, wenn man sich daran erinnert, daß der erste Forscher der Neuzeit, der die Atomlehre wieder aufgenommen hat, im siebzehnten Jahrhundert der Theologe und Philosoph GASSENDI gewesen ist, der damit sicher nicht die Lehren der christlichen Religion bekämpfen wollte, und daß für DEMOKRIT die Atome die Buchstaben waren, mit denen das Geschehen der Welt aufgezeichnet wird, aber nicht ihr Inhalt. Demgegenüber hat sich der Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts aus Gedanken anderer Art entwickelt, die für die Neuzeit charakteristisch sind und ihre Wurzel in der erst seit CARTESIUS vorgenommenen Spaltung der Welt in materielle und geistige Wirklichkeit haben.

4. Naturwissenschaft und humanistische Bildung Der große Strom von Naturwissenschaft und Technik, der unsere Zeit erfüllt, entspringt also zwei Quellen, die im Gebiet der antiken Philosophie liegen, und wenn auch inzwischen manche andere Einflüsse in diesen Strom münden und seine fruchtbaren Wassermassen vergrößern helfen, so ist der Ursprung doch immer wieder deutlich genug zu spüren. Insofern kann also auch die Naturwissenschaft aus der humanistischen Bildung Nutzen ziehen. Freilich werden die Menschen, denen an einer mehr praktischen Ausbildung der Jugend für den Lebenskampf gelegen ist, immer einwenden können, daß die Kenntnis jener geistigen Grundlagen trotzdem für das praktische Leben nicht allzuviel bedeute. Man muß eben, so sagen sie, die praktischen Fertigkeiten des modernen Lebens: neue Sprachen, technische Methoden, Geschicklichkeit im Handel und Rechnen erwerben, um im Leben bestehen zu können; und die humanistische Bildung sei gewissermaßen nur ein Schmuck, ein Luxus, den sich nur wenige leisten können, denen das Schicksal den Lebenskampf mehr als anderen erleichtert hat. Das mag vielleicht richtig sein für viele Menschen, die später im Leben eine rein praktische Tätigkeit ausüben und die nicht selbst an der geistigen Gestaltung unserer Zeit mitwirken wollen. Wer sich aber damit nicht begnügen will, wer in irgendeinem Fach, sei es Technik oder Medizin, den Dingen auf den Grund gehen will, der

wird früher oder später auf diese Quellen in der Antike stoßen, und er wird für seine eigene Arbeit viele Vorteile daraus ziehen, wenn er von den Griechen das prinzipielle Denken, die prinzipielle Fragestellung gelernt hat. Ich glaube, daß man zum Beispiel am Werk von MAX PLANCK deutlich erkennen kann, daß sein Denken durch die humanistische Schule beeinflußt und befruchtet worden ist. Vielleicht darf ich auch hier noch eine eigene Erfahrung anführen, die nun schon in die Zeit drei Jahre nach dem Abschluß meiner Schulzeit fällt. Damals war ich Student in Göttingen und sprach mit einem Mitstudenten über die Frage nach der Anschaulichkeit der Atome, die mich ja schon auf der Schule beunruhigt hatte und die offenbar auch als ein ungelöstes Rätsel hinter den damals noch nicht deutbaren Erscheinungen der Spektroskopie stand. Dieser Freund verteidigte die anschaulichen Bilder und meinte, man müsse einfach mit Hilfe der modernen Technik ein Mikroskop sehr großen Auflösungsvermögens konstruieren, zum Beispiel eins, das mit Gamma-Strahlen statt mit gewöhnlichem Licht arbeite; dann würde man die Gestalt eines Atoms schließlich einfach sehen können, und dann wären meine Bedenken gegen die anschaulichen Bilder wohl endgültig zerstreut. Dieser Einwand beunruhigte mich tief. Ich hatte Angst, in diesem gedachten Mikroskop würden dann doch wieder die Haken und Ösen meines Physiklehrbuches zu sehen sein, und ich wurde so dazu gezwungen, an dem scheinbaren Widerspruch dieses Gedankenexperiments mit den Grundvorstellungen der griechischen Philosophie herumzudenken. In dieser Lage hat mir die Ausbildung

im prinzipiellen Denken, die wir auf der Schule erhalten hatten, außerordentlich viel geholfen, mich jedenfalls veranlaßt, nicht mit halben Scheinlösungen zufrieden zu sein, und auch eine gewisse Kenntnis der griechischen Naturphilosophie, die ich mir damals angeeignet hatte, war mir von großem Nutzen. Wenn man in der heutigen Zeit über den Wert der humanistischen Bildung spricht, so kann man wohl auch kaum mehr einwenden, daß die Beziehung zur Naturphilosophie in der modernen Atomphysik ein einmaliger Fall sei und daß man sonst in Naturwissenschaft, Technik oder Medizin mit solchen prinzipiellen Fragen kaum in Berührung komme. Das wäre schon deshalb falsch, weil viele naturwissenschaftliche Disziplinen in ihren Grundlagen mit der Atomphysik eng verbunden sind, also schließlich auf ähnliche grundsätzliche Fragen führen wie die Atomphysik selbst. Das Gebäude der Chemie erhebt sich auf dem Fundament der Atomphysik, die moderne Astronomie hängt mit ihr aufs engste zusammen und kann ohne Atomphysik kaum gefördert werden, und selbst von der Biologie werden schon Brücken zur Atomphysik geschlagen. In den letzten Jahrzehnten sind in viel höherem Maße als früher die Verbindungen zwischen den verschiedenen Naturwissenschaften sichtbar geworden. An vielen Stellen erkennt man die Zeichen des gemeinsamen Ursprungs, und der gemeinsame Ursprung ist schließlich irgendwo das antike Denken.

5. Der Glaube an unsere Aufgabe Mit dieser Feststellung bin ich nun beinahe wieder zum Ausgangspunkt zurückgekommen. Am Anfang der abendländischen Kultur steht die enge Verbindung von prinzipieller Fragestellung und praktischem Handeln, die von den Griechen geleistet worden ist. Auf dieser Verbindung beruht die ganze Kraft unserer Kultur auch heute noch. Fast alle Fortschritte leiten sich noch heute aus ihr her, und in diesem Sinne ist ein Bekenntnis zur humanistischen Bildung auch einfach ein Bekenntnis zum Abendland und seiner kulturbildenden Kraft. Aber: Haben wir dazu noch das Recht, nachdem in den letzten Jahrzehnten das Abendland an Macht und Ansehen so entsetzlich verloren hat? – Dazu ist zunächst zu sagen, daß es sich gar nicht um Recht oder dergleichen handelt, sondern darum, was wir wollen. Die ganze Aktivität des Abendlandes rührt ja nicht von einer theoretischen Einsicht her, auf Grund deren unsere Vorfahren sich berechtigt gefühlt hätten zu handeln, sondern es war ganz anders. Am Anfang stand und steht in solchen Fällen immer der Glaube. Ich meine damit nicht nur den christlichen Glauben an den von Gott gegebenen sinnvollen Zusammenhang der Welt, sondern auch einfach den Glauben an unsere Aufgabe in dieser Welt. Glauben heißt dabei natürlich nicht, dies oder jenes für wahr halten, sondern glauben heißt immer: Dazu entschließe ich mich, darauf stelle ich

meine Existenz! Als KOLUMBUS ZU seiner ersten Reise nach dem Westen aufbrach, glaubte er, daß die Erde rund sei und klein genug, sie zu umfahren. Dies hielt er nicht nur theoretisch für richtig, sondern darauf stellte er seine Existenz. In der Weltgeschichte Europas, wie sie FREYER jüngst dargestellt hat und in der er von diesen Dingen spricht, ist mit Recht auch hierauf die alte Formel angewendet worden: ‹Credo, ut intellegam – ich glaube, um einzusehen›, und FREYER hat sie bei dieser Anwendung auf die Entdeckungsfahrten erweitert, indem er ein Zwischenglied einfügte: ‹Credo, ut agam; ago, ut intellegam – ich glaube, um zu handeln; ich handle, um einzusehen.› Diese Formel paßt nicht nur auf die ersten Weltumseglungen, sie paßt auch auf die ganze Naturwissenschaft des Abendlandes, wohl auf die ganze Sendung des Abendlandes. Sie umgreift humanistische Bildung und Naturwissenschaft. Und an anderer Stelle wollen wir nicht allzu bescheiden sein: Die eine Hälfte der heutigen Welt, der Westen, hat unvergleichliche Macht gewonnen, indem er einen Gedanken des Abendlandes, die Beherrschung und Ausnutzung der Naturkräfte durch Wissenschaft, in einer bisher nicht gekannten Weise in die Tat umgesetzt hat. Die andere Hälfte der Welt, der Osten, wird zusammengehalten durch das Vertrauen auf die wissenschaftlichen Thesen eines europäischen Philosophen und Nationalökonomen. Niemand weiß, was die Zukunft bringen wird und von welchen geistigen Mächten die Welt regiert werden wird, aber wir können nur damit anfangen, daß wir etwas glauben und etwas wollen.

Wir wollen, daß hier wieder geistiges Leben blüht, daß hier in Europa auch weiterhin die Gedanken wachsen, die das Gesicht der Welt bestimmen. Wir stellen unsere Existenz darauf, daß im gleichen Maße, in dem wir uns auf unseren Ursprung besinnen und wieder den Weg zu einem harmonischen Zusammenspiel der Kräfte unseres Erdteils finden, auch die äußeren Bedingungen des europäischen Lebens glücklicher sein werden als in den letzten fünfzig Jahren. Wir wollen, daß unsere Jugend aller äußeren Wirrnis zum Trotz in der geistigen Luft des Abendlandes aufwächst, um an die Kraftquellen zu gelangen, von denen unser Erdteil durch über zwei Jahrtausende gelebt hat. Wie das im einzelnen geschieht, sei erst in zweiter Linie unsere Sorge! Ob wir uns nun zum humanistischen Gymnasium bekennen oder zu einer anderen Schulart, das ist nicht das Entscheidende. Aber zum Abendland wollen wir uns auf jeden Fall und vor allem anderen bekennen!

Historische Quellen I. Die Ansätze der neuzeitlichen Naturwissenschaften Die vorliegende Schrift versucht in großen Zügen die Problematik zu veranschaulichen, der sich der Mensch unserer Zeit durch den Wandel des Weltbildes der Physik und der Naturwissenschaften gegenübersieht und von der aus betrachtet die historischen Zusammenhänge ihre besondere Bedeutung erhalten. Dem Leser soll die Möglichkeit gegeben werden, an Hand einiger Quellen diesen Wandel in der Auffassung der Naturwissenschaften selbst mitzuverfolgen. Bei der Zusammenstellung dieses kurzen Lesebuches konnten wir begreiflicherweise nicht auf eine auch nur annähernde Vollständigkeit in der Angabe der Quellen, sondern nur darauf bedacht sein, einige wesentliche Wendepunkte deutlich zu machen, die zum Verständnis der vorangehenden Ausführungen beitragen können.

1. Johannes Kepler (27.12.1571–15.11.1630)

Die Naturwissenschaften standen am Ende des XVI. und am Anfang des XVII. Jahrhunderts noch weitgehend unter dem Einfluß des mittelalterlichen Weltbildes, das in der Natur vorwiegend das von Gott Erschaffene erblickte. ‹Drei Dinge waren es vor allem, deren Ursachen, warum sie so und nicht anders sind, ich unablässig erforschte, nämlich die Anzahl, Größe und Bewegung der Bahnen. Dies zu wagen bestimmte mich jene schöne Harmonie der ruhenden Dinge, nämlich der Sonne, der Fixsterne und des Zwischenraumes mit Gott dem Vater, dem Sohne und dem Heiligen Geist.› So heißt es in der ‹Vorrede an den Leser›, im ‹Mysterium Cosmographicum› von JOHANNES KEPLER. Man muß im Buch der Natur lesen, um Gott zu feiern. Er ist an die Grundlegung der Welt der Ordnung und Regel gemäß herangetreten und hat dem Menschen zu den Sinnen den Geist verliehen, auf daß er vom Sein der Dinge, die er mit Augen sieht, zu den Ursachen ihres Seins und Werdens vorzudringen vermag. Zwischen den Fähigkeiten des Menschen und der Wirklichkeit der Schöpfung besteht eine vollkommene Entsprechung, welche die allumfassende Harmonie widerspiegelt. ‹Ich glaube, daß die Ursachen für die meisten Dinge in der Welt aus der Liebe Gottes zu den Menschen hergeleitet werden könnten. Sicherlich wird es niemand bestreiten wollen, daß Gott bei der Ausschmückung der Wohnstätte der Welt immer wieder an ihren künftigen Bewohner gedacht hat. Denn Zweck der Welt und jeglichen Geschöpfs ist der Mensch (Finis enim et mundi et omnis creationis homo est). Darum glaube ich, daß Gott die Erde, die das

wahre Ebenbild des Schöpfers tragen und ernähren soll, für wert befunden hat, so mitten unter den Planeten zu kreisen, daß sich ebenso viele innerhalb wie außerhalb des Bereichs ihrer Bahnen befinden.› (Mysterium Cosmographicum, Kap. IV.) Widmung der ersten Auflage des ‹Mysterium Cosmographicum› ‹Den Erlauchten, Hochgeborenen, Edlen und Gestrengen Herren Herrn Sigismund Friedrich, Freiherrn von Herberstein, Neuberg, Guttenhag, Herrn Lankowitz, Erbkämmerer und Erbtruchseß von Kärnten, Rat Seiner Kaiserlichen Majestät und des Durchlauchtigsten Erzherzogs von Oesterreich; Hauptmann der Provinz Steiermark   und   den Herren N.N. der Erlauchten Stände von Steiermark, den hohen Fünfmännern, meinen milden und wohlwollenden Herren   Gruß und Huldigung.   Was ich vor sieben Monaten versprochen habe, ein Werk, das nach dem Zeugnis der Gelehrten schön und ansprechend und den jährlichen Kalendern weit überlegen ist, das bringe ich nun endlich vor Euren hohen Kreis, Erlauchte Herren; ein Werk, das zwar gering an Umfang und mit mäßiger Mühe verfertigt, doch einen ganz wunderbaren Gegenstand behandelt. Denn schaut man auf das

Alter – schon vor 2000 Jahren hat sich Pythagoras an ihm versucht. Wünscht man etwas Neues – zum ersten Mal wird jetzt von mir dieser Gegenstand unter den Menschen allgemein bekanntgemacht. Wünscht man Gewichtigkeit? Nichts ist größer und weiter als das Weltall. Verlangt man Würde? Nichts ist köstlicher, nichts schöner als unser hellichter Gottestempel. Will man Geheimnisvolles erkennen? Nichts in der Natur ist oder war mehr verborgen. Nur dadurch wird mein Gegenstand nicht alle befriedigen, weil sein Nutzen der Gedankenlosigkeit nicht einleuchtet. Es handelt sich hier um das Buch der Natur, das von den Hl. Schriften so hoch gefeiert wird. Paulus hält es den Heiden vor, auf daß sie in ihm Gott wie die Sonne im Wasser oder im Spiegel betrachten möchten. Warum sollen nun wir Christen uns weniger an dieser Betrachtung ergötzen, da es doch unsere Aufgabe ist, Gott auf die wahre Weise zu feiern, zu verehren und zu bewundern? Unsere Andacht dabei ist um so tiefer, je besser wir die Schöpfung und ihre Größe erkennen. Wahrlich, wie viele Loblieder auf den Schöpfer, den wahren Gott, hat David, der wahre Diener Gottes, gesungen! Die Gedanken dazu hat er aus der bewundernden Betrachtung des Himmels geschöpft. Die Himmel verkünden die Herrlichkeit Gottes, sagt er. Ich werde schauen deine Himmel, das Werk deiner Hände, den Mond und die Sterne, die du begründet hast. Groß ist unser Herr, und groß ist seine Macht; er zählt die Menge der Sterne und nennt sie alle beim Namen. An einer anderen Stelle ruft er voll des Hl. Geistes, voll heiliger Freude dem Weltall zu: ‹Lobt, ihr Himmel, den Herrn, lobt ihn, Sonne und Mond, usw.› Hat der Himmel, haben die Sterne eine Stimme? Können sie

Gott loben wie die Menschen? Ja, wir sagen eben, sie selber loben Gott, indem sie den Menschen Gedanken zum Lob Gottes darbieten. So lösen wir dem Himmel und der Natur in den folgenden Seiten die Zunge und lassen ihre Stimme lauter erschallen; und wenn wir das tun, so zeihe uns niemand vergeblicher, unnützer Mühe. Ich will nicht davon reden, daß mein Gegenstand ein gewichtiges Zeugnis für die Tatsache der Schöpfung ist, die von Philosophen geleugnet worden ist. Denn wir sehen hier, wie Gott gleich einem menschlichen Baumeister, der Ordnung und Regel gemäß, an die Grundlegung der Welt herangetreten ist und jegliches so ausgemessen hat, daß man meinen könnte, nicht die Kunst nehme sich die Natur zum Vorbild, sondern Gott selber habe bei der Schöpfung auf die Bauweise des kommenden Menschen geschaut. Ja, muß man denn den Wert der göttlichen Dinge wie eine Zuspeise nach Groschen bemessen? Aber bitte, wird man mir sagen, was nützt einem hungrigen Magen die Kenntnis der Natur, was die ganze Astronomie? Nun, die verständigen Menschen hören nicht auf die Unbildung, die da schreit, man müsse deswegen jene Studien unterlassen. Man duldet die Maler, weil sie die Augen, die Musiker, weil sie die Ohren ergötzen, obwohl sie uns sonst keinen Nutzen bringen. Ja, der Genuß, den wir aus ihren Werken schöpfen, gilt nicht nur als angemessen für den Menschen, er gereicht ihm auch zur Ehre. Welche Unbildung, welche Dummheit daher, dem Geist eine ihm zukommende ehrbare Freude zu neiden, sie aber den Augen und Ohren zu gönnen! Der streitet gegen die Natur, wer gegen diese Ergötzungen streitet! Denn der allgütige Schöpfer, der

die Natur aus dem Nichts ins Dasein gerufen, hat er nicht jedem Geschöpf das, was notwendig ist, dazu aber noch Schmuck und Lust in überreicher Fülle bereitet? Sollte er den Geist des Menschen, den Herrn der ganzen Schöpfung, sein eigenes Ebenbild, allein ohne beseligende Wonne lassen? Ja, wir fragen nicht, welchen Nutzen erhofft das Vöglein, wenn es singt; denn wir wissen, Singen ist ihm eben eine Lust, weil es zum Singen geschaffen ist. Ebenso dürfen wir nicht fragen, warum der menschliche Geist soviel Mühe aufwendet, um die Geheimnisse des Himmels zu erforschen. Unser Bildner hat zu den Sinnen den Geist gefügt, nicht bloß, damit sich der Mensch seinen Lebensunterhalt erwerbe – das können viele Arten von Lebewesen mit ihrer unvernünftigen Seele viel geschickter –, sondern auch dazu, daß wir vom Sein der Dinge, die wir mit Augen betrachten, zu den Ursachen ihres Seins und Werdens vordringen, wenn auch weiter kein Nutzen damit verbunden ist. Und wie die anderen Lebewesen sowie der Leib des Menschen durch Speise und Trank erhalten werden, so wird die Seele des Menschen, die etwas vom ganzen Menschen Verschiedenes ist, durch jene Nahrung in der Erkenntnis am Leben erhalten, bereichert, gewissermaßen im Wachstum gefördert. Wer darum nach diesen Dingen kein Verlangen in sich trägt, der gleicht mehr einem Toten als einem Lebenden. Wie nun die Natur dafür sorgt, daß es den Lebewesen nie an Speise gebricht, so können wir mit gutem Grund sagen, die Mannigfaltigkeit in den Naturerscheinungen sei deswegen so groß, die im Himmelsgebäude verborgenen Schätze so reich, damit dem menschlichen Geist nie die frische Nahrung ausgehe, daß er nicht

Überdruß empfinde am Alten, noch zur Ruhe komme, daß ihm vielmehr stets in dieser Welt eine Werkstätte zur Übung seines Geistes offenstehe. Was ich mir nun in meinem Buche gleichsam von der überaus reich besetzten Tafel des Schöpfers herablangte, verliert dadurch an Wert mitnichten, daß es dem größten Teil der Menge nicht schmeckt, von ihm vielmehr verschmäht wird. Die Gans wird von mehr Leuten gepriesen als der Fasan; denn jene kennen alle, dieser ist seltener, und doch wird kein Feinschmecker den Fasan geringer schätzen als die Gans. So wird der Wert meines Gegenstandes um so größer sein, je weniger Lobredner er findet, wenn diese nur Kenner sind. Dem großen Haufen und den Fürsten steht nicht dasselbe an; die Himmelskunde bietet nicht unterschiedslos allen Nahrung dar, sondern nur dem hochstrebenden Geist, und zwar nicht durch meine Schuld, weil ich es so wünschte, nicht der Natur der Sache nach, nicht weil Gott neidisch wäre, sondern weil die meisten Menschen dumm und feige sind. Die Fürsten lassen beim Mahle zwischenhinein einen besonders köstlichen Gang auftragen, den sie erst genießen, wenn sie satt sind, um den Überdruß zu vertreiben. So wird der edelmütigste und weiseste Mensch an diesen und ähnlichen Forschungen dann erst Geschmack finden, wenn er seine Hütte verläßt, die Dörfer, Städte, Landschaften und Reiche durchstreifend seinen Blick emporwendet zum großen Reich der ganzen Erde, um alles genau kennenzulernen. Wenn er dann nirgends, da alles Menschenwerk ist, etwas findet, das ihn beseligen könnte, das dauernden Bestand hätte, etwas, was seinen Hunger zu

stillen und ihn zu sättigen vermöchte, dann wird er sich aufmachen, um Besseres zu suchen, dann wird er von dieser Erde aufsteigen zum Himmel, dann wird er den von leeren Sorgen erschöpften Geist in jene große Ruhe hineintauchen, dann wird er sagen:

Glücklich der Geist, dessen Sorge es war, all das zu erforschen, Der zuerst sich erhob, auf zu den himmlischen Höh’n. (Lucr.)

Er wird anfangen zu verachten, was ihm ehedem bedeutsam erschien, er wird nunmehr diese Werke von Gottes Hand hochschätzen und bei ihrer Betrachtung endlich zum Genuß einer ungetrübten, reinen Wonne gelangen. Mag solches Streben noch so viel, noch so gründlich verachtet werden, mögen sich die Menschen Glück, Reichtümer und Schätze suchen, wo sie wollen – den Astronomen genügt der eine Ruhm, daß sie ihre Werke für die Weisen, nicht für die Schreier, für die Könige, nicht für die Schafhirten schreiben. Ich verkünde ohne Zaudern, es wird noch Menschen geben, die hieraus Trost in ihrem Alter schöpfen, Menschen nämlich, die ihre öffentliche Tätigkeit in einer Weise ausüben, daß sie hernach frei von Gewissensbissen jene Wonnen zu kosten imstande sein werden. Ja, es wird wieder einmal ein Karl auftreten, der als Herr von Europa das nicht zu finden vermag, was er müde vom Herrschen in der engen Zelle von S. Yuste findet, dem unter allen Festlichkeiten, Titeln, Triumphen, Reichtümern, Städten, Königreichen die

Turrianische oder vielmehr die nach Pythagoras und Kopernikus verfertigte Planetensphäre so großes Gefallen bereitet, daß er die ganze Welt mit ihr vertauscht und lieber mit dem Meßinstrument die Himmelsbahnen als mit dem Szepter die Völker regiert … Geschrieben am 15. Mai, an dem ich vor einem Jahr mit der Arbeit begonnen habe.

Ew. Hochgeboren untertänigster M. Joannes Keplerus aus Württemberg, Mathematiker an Eurer Schule zu Graz.›

(J. KEPLER, Mysterium cosmographicum, deutsch: Das Weltgeheimnis, übersetzt und eingeleitet von MAX CASPAR, Augsburg 1923.)   KEPLER betrachtet nicht allein die Natur als Werk Gottes, sondern er hält es auch für sinnlos, nach der materiellen Welt zu fragen, ohne Gott mit einzubeziehen. Mittels der Quantität wird die Natur vom Geist des Menschen erfaßt und wird dadurch in ihrem geistigen Wesen erkannt. In einem Brief an HERWART VON HOHENBURG vom 14. Sept. 1599 heißt es: ‹Nicht jede Ahnung ist falsch. Denn der Mensch ist ein Ebenbild Gottes, und es ist leicht möglich, daß er in gewissen Dingen, die den Schmuck der Welt ausmachen, dasselbe meint wie Gott. Denn die Welt hat an der Quantität teil, und der Geist des Menschen (etwas Überweltliches in der Welt) erfaßt nichts

so gut, wie eben die Quantitäten, für deren Erkenntnis er offenbar geschaffen ist.› Im zweiten Kapitel des ‹Mysterium Cosmographicum›, das wir hier wiedergeben, wird hervorgehoben, daß das Körperliche durch das Quantitative erfaßbar ist; das Quantitative bildet so den Ausgangspunkt einer begrifflichen Bestimmung, durch die dem menschlichen Geist das Werk Gottes zugänglich wird. Daher bemüht sich KEPLER, Wirkungen, die a posteriori, – durch Erfahrungen – festgestellt werden (‹wie wenn ein Blinder seinen Schritt mit seinem Stabe stützt›), aus Gründen, die a priori – aus den Ursachen stammend – sind, herzuleiten. Skizzierung meines Hauptbeweises ‹Um nun zu meinem Gegenstand zu gelangen und die soeben dargelegten Lehren des KOPERNIKUS über die neue Welt durch einen neuen Beweis zu erhärten, will ich die Sache ganz von Anfang an in aller Kürze durchnehmen. Der Körper war das, was Gott im Anfang erschaffen hat. Haben wir diesen Begriff, so wird es wohl einigermaßen klar sein, warum Gott am Anfang den Körper und nicht etwas anderes geschaffen hat. Ich sage, die Quantität lag Gott vor; um sie zu realisieren, bedurfte es alles dessen, was zum Wesen des Körpers gehört, damit so die Quantität des Körpers, insofern er Körper ist, gewissermaßen Form sei und Ausgangspunkt der Begriffsbestimmung werde. Daß die Quantität vor allem anderen ins Dasein trete, wollte Gott deswegen,

damit eine Vergleichung von Krummem [*]und Geradem stattfinden könne. Der CUSANER und andere erscheinen mir gerade aus dem einen Grund so göttlich groß, weil sie das Verhalten des Geraden und Krummen zueinander so hoch eingeschätzt und gewagt haben, das Krumme Gott, das Gerade den geschaffenen Dingen zuzuordnen. Daher leisten jene, die den Schöpfer durch die Geschöpfe, Gott durch den Menschen, die göttlichen Gedanken durch menschliche Gedanken zu erfassen suchen, kaum viel nützlichere Arbeit als jene, die dem Krummen durch das Gerade, dem Kreis durch das Quadrat beizukommen suchen. Doch warum legte sich Gott bei der Ausschmückung der Welt die Unterschiede zwischen Krummem und Geradem und den edlen Sinn des Krummen vor? Warum denn? Nun deswegen, weil der vollkommenste Baumeister notwendig ein Werk von höchster Schönheit bilden mußte. Denn es ist nicht und war nie möglich (wie CICERO nach dem Timäus des PLATO in seinem Buch ‹Über das All› sagt), daß der, welcher der Beste ist, irgend etwas anderes als das Schönste mache. Da nun der Schöpfer die Idee der Welt im Geiste faßte (wir reden nach Menschenart, damit es wir Menschen verstehen) und die Idee etwas bereits Vorhandenes und, wie ich eben sagte, etwas Vollkommenes zum Inhalt hat, auf daß die Form des zu schaffenden Werkes ebenfalls vollkommen werde, erhellt, daß nach diesen Gesetzen, die sich Gott selber in seiner Güte vorschreibt, Gott die Idee zur Grundlegung der Welt keinem anderen Ding entnehmen konnte als seinem eigenen Wesen. Wie vortrefflich und göttlich dieses ist, kann in zweifacher Hinsicht erwogen werden,

einmal in sich, insofern Gott eins im Wesen und dreifach in der Person ist, sodann im Vergleich mit den Geschöpfen. Dieses Bild, diese Idee wollte Gott der Welt aufprägen. Damit die Welt eine beste und schönste Welt werde, damit sie jene Idee aufnehmen könne, hat der allweise Schöpfer die Größe geschaffen und die Quantitäten ausgedacht, deren ganzes Wesen gewissermaßen in der Unterscheidung der zwei Begriffe des Geraden und Krummen beschlossen ist; und zwar soll uns auf die eben angeführte doppelte Art das Krumme Gott vergegenwärtigen. Man darf auch nicht glauben, eine so zweckmäßige Unterscheidung zur Versinnbildlichung Gottes habe sich von ungefähr eingestellt, so daß Gott gar nicht darüber nachgedacht, sondern die Größe als Körper aus anderen Gründen und aus einem anderen Ratschluß erschaffen und hintennach die Vergleichung von Geradem und Krummem und dessen Ähnlichkeit mit Gott sich von selbst, gewissermaßen zufällig, ergeben hätte. Vielmehr ist es wahrscheinlich, daß Gott im ersten Anbeginn nach seinem bestimmten Ratschluß das Krumme und Gerade ausgewählt hat, um in die Welt die Göttlichkeit des Schöpfers einzuzeichnen; um die Existenz dieser beiden zu ermöglichen, waren die Quantitäten da, und damit die Quantität erfaßt werden könne, schuf er vor allem anderen den Körper. Sehen wir nun zu, wie der vollkommene Schöpfer diese Quantitäten bei dem Bau der Welt angewandt hat und was sich nach unseren Überlegungen für sein Vorgehen als wahrscheinlich erweist.

Das wollen wir dann in den alten und neuen Hypothesen aufsuchen und dem die Palme reichen, bei dem es sich findet. Daß die ganze Welt von einer Kugelgestalt umschlossen ist, das hat schon in völlig hinreichender Ausführlichkeit ARISTOTELES erörtert (im 2. Buch ‹Über den Himmel›), wobei er seinen Beweis unter anderem auf die ausgezeichnete Bedeutung der Kugeloberfläche stützte. Aus denselben Gründen behält auch jetzt noch die äußerste Fixsternsphäre diese Gestalt, wenn ihr auch keine Bewegung zukommt; sie trägt die Sonne als Mittelpunkt gleichsam im innersten Schoß. Daß die übrigen Bahnen rund sind, ergibt sich aus der Kreisbewegung der Sterne. Daß also das Krumme zur Ausschmückung der Welt Verwendung gefunden hat, bedarf keines weiteren Beweises. Während wir aber drei Arten von Quantitäten in der Welt sehen, nämlich Gestalt, Zahl und Inhalt der Körper, finden wir das Krumme nur in der Gestalt. Auf den Inhalt kommt es dabei nicht an, und zwar deswegen, weil ein Gebilde, das einem ähnlichen aus demselben Mittelpunkt einbeschrieben wird (z.B. die Kugel der Kugel, der Kreis dem Kreis), entweder überall oder nirgends berührt. Das Sphärische selber kann, da es eine durchaus einzigartige Quantität darstellt, nur der Dreizahl zugeordnet werden. Wenn also Gott bei der Schöpfung nur auf das Krumme Bedacht genommen hätte, so gäbe es in unserem Weltgebäude nichts als Sonne im Mittelpunkt, das Bild des Vaters, die Fixsternsphäre oder die Wasser des mosaischen Berichts auf der Oberfläche, das Bild des Sohnes, und den alles erfüllenden Himmelsäther, d.h. die Ausdehnung und jenes Firmament, das Bild des Hl. Geistes. Da nun

aber die Fixsterne in unzählbarer Menge, die Wandelsterne in ganz bestimmter Anzahl vorhanden und die Größen der einzelnen Himmelsbahnen verschieden sind, müssen wir notwendig die Ursachen für all das in dem Begriff des Geraden suchen. Wir müßten denn annehmen, Gott habe in der Welt etwa aufs Geratewohl gemacht, während doch die besten und vernünftigsten Pläne zur Verfügung stehen, und davon wird mich niemand überzeugen, daß ich es auch nur für die Fixsterne gelten ließe, deren Lage uns doch am allerunregelmäßigsten, wie durch den Zufall eines Saatwurfs bestimmt, vorkommt. Gehen wir also zu den geraden Quantitäten über. Wie wir vorhin die Kugelfläche deswegen gewählt haben, weil sie die vollkommenste Quantität ist, so begeben wir uns mit einem Sprung zu den Körpern, da sie unter den geraden Quantitäten die vollkommensten sind und aus drei Dimensionen bestehen. Daß die Idee der Welt vollkommen ist, steht ja fest. Die geraden Linien und Flächen aber wollen wir, da sie unendlich an Zahl und daher für eine Ordnung völlig untauglich sind, aus der endlichen, bestgeordneten und vollkommen schönen Welt draußen lassen. Die Körper, von denen es unendlichmal viele Arten gibt, wollen wir nun durchmustern und einige durch bestimmte Merkmale aussondern; ich denke an solche, die Kanten oder Winkel oder Seitenflächen, einzeln oder zu je zweien oder nach irgendeiner bestimmten Gesetzmäßigkeit, unter sich gleich haben, so daß man mit gutem Grund zu etwas Endlichem kommen mag. Wenn nun eine Gattung von Körpern, die durch bestimmte Bedingungen definiert ist, zwar

aus einer endlichen Anzahl von Arten besteht, jedoch in eine ungeheure Mannigfaltigkeit von einzelnen Körpern zerfällt, so wollen wir Ecken und Mittelpunkte der Seitenflächen dieser Körper zur Darstellung der Mannigfaltigkeit, Größe und Lage der Fixsterne verwenden, wenn es möglich ist. Wenn dies aber die Kraft eines Menschen übersteigt, so wollen wir es so lange aufschieben, Zahl und Lage der Fixsterne zu begründen, bis uns jemand alle ohne Ausnahme der Zahl und Größe nach angeben kann. Lassen wir darum die Fixsterne und überlassen wir sie dem allweisen Baumeister, der allein die Anzahl der Sterne kennt und jeden mit Namen benennt, und wenden wir unseren Blick zu den näheren, in geringerer Zahl auftretenden, beweglichen Gestirnen. Wenn wir nun schließlich eine Auswahl unter den Körpern treffen, den ganzen Haufen der unregelmäßigen beiseite schieben und nur jene zurückbehalten, deren Seitenflächen sämtlich gleichzeitig und gleichwinklig sind, so bleiben uns jene fünf regulären Körper, denen die Griechen folgende Namen gegeben haben: der Würfel oder das Hexaeder, die Pyramide oder das Tetraeder, das Dodekaeder, das Ikosaeder und das Oktaeder. Daß es nicht mehr als diese fünf geben kann, dafür siehe EUKLID, Buch XIII, Anm. nach Satz 18. Wie nun die Anzahl dieser Körper wohl bestimmt und sehr klein ist, die Arten der übrigen aber unzählbar oder unendlich sind, so mußten auch in der Welt zwei Gattungen von Sternen auftreten, die sich durch ein evidentes Merkmal unterscheiden (wie es Ruhe und Bewegung ist); die eine Gattung muß ans Unendliche grenzen, wie die Zahl der Fixsterne, die andere muß eng begrenzt sein, wie die

Zahl der Planeten. Es ist hier nicht der Ort, die Gründe zu erörtern, warum sich diese bewegen, jene aber nicht. Aber gesetzt, die Planeten bedürften der Bewegung, so folgt, daß sie, um diese zu erhalten, runde Bahnen bekommen mußten. Wir kommen also zur Kreisbahn durch die Bewegung, und zu den Körpern durch die Zahl und Größe. Was bleibt uns übrig, als mit PLATO zu sagen, Gott treibe immer Geometrie und er habe bei dem Bau der Wandelsterne Körper den Kreisen und Kreise den Körpern so lange einbeschrieben, bis kein Körper mehr da war, der nicht innerhalb und außerhalb mit beweglichen Kreisen ausgestattet war. Aus Satz 13, 14, 15, 16, 17 des XIII. Buches von EUKLID ist zu ersehen, in welch hohem Maß diese Körper von Natur aus zu diesem Prozeß des Ein- und Umschreibens geeignet sind. Wenn nun die fünf Körper ineinandergefügt und sowohl zwischen ihnen als auch außerhalb zum Abschluß Kreise angebracht werden, so erhalten wir gerade die Zahl von sechs Kreisen. Wenn nun irgendein Zeitalter die Ordnung der Welt auf der Grundlage erörtert hat, daß es sechs bewegliche Bahnen um die unbewegliche Sonne annimmt, so hat dieses unter allen Umständen die wahre Astronomie hinterlassen. Nun hat aberKOPERNIKUSgerade sechs Bahnen dieser Art, die zu je zweien in solchen Verhältnissen zueinander stehen, daß jene fünf Körper aufs trefflichste zwischenhinein passen; das ist der Inbegriff der folgenden Ausführungen. Daher muß man so lange auf KOPERNIKUS hören, bis jemand Hypothesen aufbringt, die noch besser mit unseren philosophischen Feststellungen zusammenstimmen, oder bis einer

lehrt, es könne sich so ganz von ungefähr in die Zahlen, sowie in den menschlichen Geist hineinschleichen, was durch das beste Schlußverfahren aus den Prinzipien der Natur direkt erschlossen worden ist. Denn was könnte staunenswerter sein, was könnte Beweiskräftigeres erdacht werden als die Tatsache, daß das, wasKOPERNIKUSaus den Erscheinungen, aus den Wirkungen, a posteriori, wie wenn ein Blinder seinen Schritt mit seinem Stabe stützt (wie er gern zuRHÄTIKUSsagte), mehr durch glücklichen Einfall als durch zuverlässiges Schlußverfahren festgestellt und sich zurechtgelegt hat, daß das alles, sage ich, durch Gründe, die a priori, aus den Ursachen, aus der Idee der Schöpfung hergeleitet sind, aufs sicherste festgestellt und erfaßt wird?› (J. KEPLER, Mysterium cosmographicum, a.a.O., Kap. II, S. 45–49)   Zwei Dinge springen dem heutigen Leser, der mit den modernen Naturwissenschaften ganz bestimmte Vorstellungen verbindet, in die Augen: 1. Die Naturwissenschaften sind für KEPLERganz und gar nicht Mittel, die dem materiellen Nutzen des Menschen dienen, die ihm die Technik ermöglichen, mit deren Hilfe er sich besser in der unvollkommenen Welt einrichten kann, und die ihm den Weg des Fortschritts eröffnen. Die Naturwissenschaften sind ihm im Gegenteil ein Mittel zur Erhebung des Geistes, ein Weg Ruhe und Trost zu finden im Anschauen der ewigen Vollkommenheit der Schöpfung.

2. Eng in Zusammenhang damit steht die erstaunliche Verachtung des Empirischen. Die Erfahrung ist nur das zufällige Finden von Zusammenhängen, die auf Grund der Einsicht in die apriorischen Gründe viel zuverlässiger erfaßt werden können. Die vollkommene Übereinstimmung zwischen der Ordnung der ‹Sinnesdinge› – die Werke Gottes sind – und den mathematischen und intelligiblen Gesetzen – den ‹Gedanken› Gottes – wird zum Grundgedanken der ‹Harmonices Mundi›. Platonische und neoplatonische Motive führenKEPLERzu der Auffassung, daß das Lesen des Werkes Gottes – der Natur – nichts anderes sei als das Verhältnis der Quantitäten zu den geometrischen Gestalten zu erkennen. ‹Die Geometrie, ewig wie Gott und aus dem göttlichen Geist hervorleuchtend, hat Gott die Bilder zur Ausgestaltung der Welt geliefert, auf daß diese die beste und schönste, dem Schöpfer ähnlichste würde.› (Harmonices mundi, deutsch Weltharmonik, übers, u. eingel. v.M. Caspar, MünchenBerlin 1939.)   Werke: Kepleri opera omnia, hg. v. Chr. Frisch, 8 Bde. (1858–1871) / J.K., Gesammelte Werke, hg. v. W.v.Dyck u. M. Caspar (Bd. I, 1937) / Mysterium Cosmographicum (1596) – Das Weltgeheimnis, dt. v. M. Caspar, 1923 / Ad Vitellionem paralipomena (1604) – Zusätze zur Optik des Witelo, im Auszuge dt. v. F. Plehn, Ostwalds Klassiker der Naturw., Nr. 198/Astronomia nova (1609) – Neue Astronomie, dt. v. M. Caspar, 1929 / Dissertatio cum nuncio sidereo (1610), dt. v. O. Bryk in: Johann K.’s Zusammenklänge der Welten, (1918) / Dioptrice (1611) – dt. v. F. Plehn, Ostwalds Klassiker Nr. 144 /

Harmonices mundi (1619) – Weltharmonik, dt. v. M. Caspar, 1939 / Epitome Astronomiae Copernicanae (Abriß der kopernikanischen Astronomie) (Buch 1–3:1618, 4:1620) / J.K. in s. Briefen, hg. v.M. Caspar und W.v.Dyck. Bd. 1 u. 2, München 1930.   Schriften über J.K.: M. CASPAR: Bibliographia Kepleriana (1936) / K. STÖCKL: Kepler-Festschrift, 1. Tl. (1930) / M. CASPAR: J.K. 2. Aufl. 1950; Ders.: J.K.’s wissenschaftliche u. philos. Stellung, 1935; Ders.: Kopernikus u.K. 1943; Ders.: J.K., in ‹Das Deutsche in d. dt. Philos.› 1941 / E.F. APELT: J.K.’s astronomische Weltansicht 1849 / L. GÜNTHER: K.u. die Theologie, 1905 / H. ZAISER: K. als Philosoph, 1932 / K. HILDEBRANDT: Kopernikus u.K. 1944.

2. Galileo Galilei (15.2.1564–8.1.1642) GALILEI lebt zwar ungefähr zur gleichen Zeit wie KEPLER; doch weht in seinen Werken schon eine ganz andere Luft. Hier spüren wir unmittelbar den Aufbruch des modernen naturwissenschaftlichen Denkens. Vertieft sich der Wissenschaftler in die Betrachtung bestimmter Naturerscheinungen, so erkennt er, daß einzelne Naturvorgänge aus dem Zusammenhang des Ganzen herauslösbar und mathematisch zu bestimmen und zu erkennen sind. In den Naturwissenschaften, deren Schlüsse notwendig und allgemeingültig sind, ist menschliche

Willkür nicht am Platz. So heißt es im ‹Dialogo dei massimi sistemi› (Bd. I, S. 288, Florenz 1824): die Natur schafft nicht erst die menschlichen Geister und dann die Dinge, damit diese den ersten sich anpassen, sondern umgekehrt. Jeglicher Rede soll die Beobachtung, die Erfahrung vorangehen: die Sinne erhalten dabei – als Werkzeug – den Vorrang. Daraus ergibt sich, daß wir die Natur nur innerhalb bestimmter Abschnitte erkennen können. Die Menschen, die sich nicht zu einer solchen Bescheidenheit der Beobachtung und Beschreibung innerhalb vorausgesetzter Grenzen bereitfinden, sind verurteilt, überhaupt nichts zu erkennen. Die Erfahrung muß die Eigenschaften der Körper bestätigen, damit Definition und Phänomene sich decken. In einem Brief an CARCARILLE vom 5. Juni 1637 (Bd. VII, S. 156, Florenz 1855) heißt es: ‹Zeigt die Erfahrung nunmehr, daß solche Eigenschaften, wie wir sie abgeleitet, im freien Fall der Naturkörper ihre Bestätigung finden, so können wir ohne Gefahr des Irrtums behaupten, daß die konkrete Fallbewegung mit derjenigen, die wir definiert und vorausgesetzt haben, identisch ist: ist dies nicht der Fall, so verlieren doch unsere Beweise, da sie einzig und allein für unsere Voraussetzung gelten wollten, nichts von ihrer Kraft und Schlüssigkeit, so wenig es den Sätzen des ARCHIMEDES über die Spirale Abbruch tut, daß sich in der Natur kein Körper findet, dem eine spiralförmige Bewegung zukommt.› Hier wird ein Grundprinzip des modernen naturwissenschaftlichen Denkens mit erstaunlicher Klarheit und Kürze ausgesprochen: das Grundprinzip, das die Wechselbeziehung

zwischen Hypothesen und Erfahrung festlegt. Der menschliche Geist entwickelt für die Beobachtung der Natur Voraussetzungen, die in sich mathematisch, logisch schlüssig sein müssen. Diesen Voraussetzungen gelten die mathematischen Beweise. Mit deren Schlüssigkeit ist aber noch nichts über das wirkliche Vorhandensein solcher Beziehungen in der Natur ausgesagt, wie sie in den Voraussetzungen gedacht werden. Erst wenn die Voraussetzungen als Hypothese in der empirischen Erfahrung verwendet und dort bestätigt werden, gewinnen sie den Charakter der Naturgesetze. Voraussetzungen, die in sich logisch, mathematisch sind, in der Natur aber keine Entsprechung finden, verlieren dadurch zwar nichts von dieser Schlüssigkeit, bilden aber kein Naturgesetz. Schon LEONARDO DA VINCI (1452–1519) lehnte jedes Denken ab, das nicht vom Kriterium der Beobachtung ausgeht: die reine Beobachtung genügt allerdings nicht, denn sie wird erst dann fruchtbar, wenn sie auf Grund des Entwurfes von Hypothesen durchgeführt wird, Hypothesen, die das Experiment bestätigen muß. Daher behauptet er, wo experimentelle Feststellungen sind, da sind auch Vernunftgründe (ragioni), d.h. die Ausgangspunkte unserer Fragen an die Natur. Was sich im Experiment zeigt, ist daher immer eine begrenzte Antwort der Natur. Wo Vernunftgründe sind, da ist auch deren mathematische Präzisierung möglich. So wird schon bei ihm die Mathematik das entscheidende Bindeglied zwischen dem Geist des Menschen und der Wirklichkeit der Natur. Das Neue, das hier auftaucht: es handelt sich nicht mehr um die Beobachtung der Natur schlechthin, sondern um eine Beobachtung, die

von bestimmten Prinzipien ausgeht und sich in ihrem Verlauf an ganz bestimmten Denkregeln orientiert. Das ist aber nichts anderes als die experimentelle Beobachtung, welche feststellt, ob und wie weit bestimmte theoretische Auffassungen mit der Beobachtung übereinstimmen. GALILEI unterscheidet extensives und intensives Verstehen der Phänomene, wobei er mit intensivem Verstehen das schrittweise Vorgehen der modernen Naturwissenschaften meint, während das extensive Verstehen das unmittelbare Erfassen des Ganzen aus seinem Urgrund bedeutet, also ein Verstehen, das letzten Endes nur Gott vorbehalten ist. a) Galileis Selbstverteidigung gegen die Tradition Um diese Gedanken und Methodenideale durchzuführen, muß GALILEI sich vor allem gegenüber den möglichen Einwänden der christlichen Tradition und der Vertreter der pseudo-aristotelischen Naturwissenschaft sichern. Aus seinem berühmten Brief an ELIA DIODATI ebenso wie aus mehreren Stellen des ‹Dialogo dei massimi sistemi› klingt das Pathos seiner Bemühung, sich von der versteinerten Überlieferung zu befreien:   Florenz, 15. Januar 1633. ‹Wenn ich frage, wessen Werk die Sonne, der Mond, die Erde, die Sterne, ihre Bewegungen und Anlagen seien, so wird man mir vermutlich antworten: Werke Gottes. Wenn ich weiter frage, von

wem die Heilige Schrift sei, wird man mir bestimmt antworten, sie sei ein Werk des Heiligen Geistes, d.h. gleichfalls Gottes Werk. Wenn ich nun frage, ob der Heilige Geist Worte gebrauche, die deutlich im Widerspruch zur Wahrheit stehen, um sich dem Verständnis der –  meistens ungebildeten – Menge anzupassen, so bin ich gewiß, daß man mir, unter Berufung auf sämtliche heiligen Schriftsteller, antworten wird, dies sei die Gepflogenheit der Heiligen Schrift, die an hundert Stellen Sätze enthält, die wörtlich genommen reine Häresie und Lästerung darstellen, da in ihnen Gott als Wesen voller Haß, Reue, Vergeßlichkeit erscheine. Wenn ich aber fragen werde, ob Gott, um sich dem Verstand der Menge anzupassen, jemals seine Werke verändert hätte, oder ob die an sich unveränderliche und menschlichen Wünschen unerreichbare Natur immer die gleiche Art Bewegungen, Gestalten und Aufteilungen des Universums beibehalten habe, so bin ich gewiß, daß man mir antworten wird, der Mond werde immer rund sein, auch wenn man ihn für lange Zeit flach gehalten habe. Um dies alles in einem Satz zusammenzufassen: Man wird niemals behaupten, die Natur habe sich verändert, um ihre Werke der Meinung der Menschen anzupassen. Wenn das so ist, so frage ich, warum sollen wir, um zur Erkenntnis der verschiedenen Teile der Welt zu gelangen, mit unseren Untersuchungen an den Worten statt an den Werken Gottes ansetzen? Ist vielleicht das Werk weniger erhaben als das Wort? Wenn irgend jemand behauptet hätte, es sei Ketzerei zu sagen, die Erde bewege sich, und wenn dann der Beweis und die Beobachtung uns zeigen, daß sie sich tatsächlich bewegt, in welche Schwierigkeit würde die Kirche geraten!

Betrachtet man dagegen umgekehrt, wo die Werke sich notwendig als mit den Worten nicht übereinstimmend zeigen, die Heilige Schrift als sekundär, so wird ihr dies nicht schaden; sie hat sich oft der Meinung der Menge angepaßt und hat sehr oft Gott ganz falsche Eigenschaften zugesprochen. Daher frage ich, warum wünschen wir, daß sie sich, wenn sie von der Sonne, von der Erde spricht, so zutreffend geäußert habe?› ‹Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme› ‹Erster Tag SAGREDO:

Mir ist stets als höchsteVermessenheit erschienen, wenn man menschliche Fassungsgabe zum Maßstab dessen machen will, was die Natur zu wirken vermag, während im Gegenteil kein Vorgang in der Natur sich abspielt, sei er noch so unbedeutend, zu dessen voller Erkenntnis auch das tiefste Nachdenken durchdringen könnte. Die eitle Anmaßung, alles verstehen zu wollen, entspringt nur aus dem gänzlichen Mangel irgendwelcher Erkenntnis. Hätte jemand auch nur einmal versucht, eine Sache vollkommen zu verstehen, und hätte wirklich geschmeckt, was Wissen ist, so würde er erkennen, daß er keine der unendlich vielen anderen Wahrheiten begreift. SALVIATI:

Unwiderleglich ist, was Ihr da sagt. Zum Beweise dient uns das Beispiel derer, die etwas verstehen oder verstanden haben: je weiser sie sind, um so mehr erkennen sie und um so freimütiger gestehen

sie, daß sie wenig wissen. Der weiseste Mann Griechenlands, der vom Orakel als solcher bezeichnet wurde, sagte offen, er sehe ein, daß er nichts wisse. SIMPLICIO:

Es muß also das Orakel oder SOKRATES selbst gelogen haben, da jenes ihn preist als den Weisesten, dieser sagt, er kenne sich als völlig unwissend. SALVIATI:

Weder das eine noch das andere braucht der Fall zu sein, da beide Aussprüche wahr sein können. Das Orakel nennt SOKRATES den weisesten von allen Menschen, deren Weisheit eine beschränkte ist. SOKRATES erkennt sich für unwissend im Vergleich zur absoluten Weisheit, welche unendlich ist. Da aber von dem Unendlichen das Viele kein größerer Teil ist als das Wenige oder das Nichts – um z.B. eine unendlich große Zahl zu erhalten, tut es die gleichen Dienste, Tausende zu summieren, oder Hunderte, oder Nullen –, darum war sich SOKRATES wohl bewußt, seine begrenzte Weisheit sei nichts gegen die unendliche, die ihm fehlte. Da aber auch bei den Menschen eine gewisse Erkenntnis sich findet, und zwar ungleich unter sie verteilt, so mochte SOKRATES ein größeres Teil als andere besitzen und so die Antwort des Orakels zu Recht bestehen. SAGREDO:

Ich glaube diesen Punkt sehr wohl zu verstehen. Die Menschen, Signore Simplicio, besitzen die Macht, zu handeln, aber nicht alle

gleichmäßig. Sicherlich ist der Einfluß eines Kaisers sehr viel größer als der eines einfachen Bürgers; aber dieser wie jener ist nichts im Vergleich zur göttlichen Allmacht. Es gibt Leute, die vom Landbau mehr verstehen als andere: was aber hat die Kunst, ein Rebreis zu pflanzen, gemein mit der Kunst, es Wurzel schlagen zu lassen, ihm Nahrung zuzuführen, von dieser einen Teil zum Aufbau der Blätter auszuwählen, einen anderen zur Bildung der Ranken, wieder einen anderen für die der Trauben, des Fleisches und der Haut der Beeren; alles dies aber wirkt die allweise Natur. Nun, das ist ein einziges von unzähligen Werken, die sie zustande bringt, und in ihm allein offenbart sich eine unendliche Weisheit; daraus läßt sich ermessen, wie das göttliche Wissen unendlich mal unendlich ist. SALVIATI:

Noch ein anderes Beispiel. Die Kunst, in einem Marmorblock eine herrliche Statue zu entdecken, hat das Genie BUONARROTIS hoch über die gemeinen Geister anderer Menschen gestellt, nicht wahr? Und doch ist ein solches Werk nichts anderes als eine äußerliche, oberflächliche Nachahmung einer einzigen Körperhaltung und Gliederstellung eines unbewegten Menschen. Was ist eine solche, verglichen mit dem Menschen, wie ihn die Natur geschaffen, an dem so viele äußere und innere Organe sich befinden, eine solche Menge von Muskeln, Sehnen, Nerven, Knochen, welche so viele mannigfaltige Bewegungen ermöglichen? Und nun gar die Sinne, die Seelenvermögen und endlich der Verstand? Können wir nicht mit Recht sagen, die Anfertigung einer Statue stehe unendlich weit

zurück hinter der Gestaltung eines lebendigen Menschen, ja des verachtetsten Wurmes? SAGREDO:

Und welch ein Unterschied mag wohl zwischen der Taube des ARCHYTAS [*] und einer natürlichen gewesen sein? SIMPLICIO:

Wenn ich anders zu den Menschen gehöre, die Verstand besitzen, so liegt in dem, was Ihr sagt, ein offenbarer Widerspruch. Als einen der großen Vorzüge, ja als den größten von allen betrachtet Ihr an dem von der Natur geschaffenen Menschen den Verstand; und doch sagtet Ihr noch eben mit SOKRATES, daß sein Verstand ein Nichts sei. Man muß also sagen, auch die Natur habe nicht verstanden, einen Geist hervorzubringen, der versteht. SALVIATI:

Euer Einwand ist sehr scharfsinnig; um darauf zu erwidern, muß man sich auf eine philosophische Unterscheidung berufen und feststellen, daß der Begriff des Verstehens in zweierlei Weise gebraucht werden kann, nämlich intensive oder extensive. Extensive, d.h. bezüglich der Menge der zu begreifenden Dinge, deren Zahl unendlich ist, ist der menschliche Verstand gleich Nichts, hätte er auch tausend Wahrheiten erkannt; denn Tausend ist im Vergleich zur Unendlichkeit nicht mehr als Null. Nimmt man aber das Verstehen intensive, insofern dieser Ausdruck die Intensität d.h. die Vollkommenheit in der Erkenntnis irgendeiner einzelnen

Wahrheit bedeutet, so behaupte ich, daß der menschliche Intellekt einige Wahrheiten so vollkommen begreift und ihrer so unbedingt gewiß ist, wie es nur die Natur selbst sein kann. Dahin gehören die rein mathematischen Erkenntnisse, nämlich die Geometrie und die Arithmetik. Freilich erkennt der göttliche Geist unendlich viel mehr mathematische Wahrheiten, denn er erkennt sie alle. Die Erkenntnis der wenigen aber, welche der menschliche Geist begriffen, kommt meiner Meinung an objektiver Gewißheit der göttlichen Erkenntnis gleich; denn sie gelangt bis zur Einsicht ihrer Notwendigkeit, und eine höhere Stufe der Gewißheit kann es wohl nicht geben. SIMPLICIO:

Das heiße ich entschieden und kühn gesprochen. SALVIATI:

Diese Sätze sind allgemein anerkannt und weit erhaben über den Verdacht der Vermessenheit oder Kühnheit. Sie tun der Majestät der göttlichen Allwissenheit keinen Eintrag, so wenig es die göttliche Allmacht beeinträchtigt, wenn man sagt, Gott vermöge nicht das Geschehene ungeschehen zu machen. Aber ich vermute, Signore Simplicio, daß Ihr Verdacht schöpft, weil Ihr meine Worte teilweise mißverstanden habt. Um mich also besser auszudrücken, so erkläre ich, daß zwar die Wahrheit, deren Erkenntnis durch die mathematischen Beweise vermittelt wird, dieselbe ist, welche die göttliche Weisheit erkennt; allerdings aber will ich Euch zugeben, daß die Art und Weise, wie Gott die zahllosen Wahrheiten erkennt, von denen wir nur einige wenige kennen, hoch erhaben über unsere

Weise ist. Wir gehen mittels schrittweiser Erörterung weiter von Schluß zu Schluß, während er durch bloße Anschauung begreift. So beginnen wir z.B., um die Kenntnis einiger Eigenschaften des Kreises zu gewinnen, deren er unendlich viele besitzt, bei einer der einfachsten, stellen diese als seine Definition hin und gehen von ihr aus durch Schlüsse zu einer zweiten über, von dieser zu einer dritten, sodann zu einer vierten usw. Der göttliche Intellekt hingegen begreift durch bloße Erfassung seines Wesens ohne zeitliches Erwägen die unendliche Fülle seiner Eigenschaften. In Wirklichkeit sind diese denn auch schon in den Definitionen aller Dinge virtuell enthalten und bilden schließlich, wiewohl an Zahl unendlich, vielleicht doch in ihrem Wesen und im göttlichen Geiste eine Einheit. Dies ist selbst dem menschlichen Intellekt nicht völlig fremd, wohl aber ihm durch tiefen dichten Nebelschleier verdunkelt; er wird einigermaßen heller und durchsichtiger, wenn wir gewisse Folgerungen beherrschen, welche streng bewiesen und dermaßen zu unserem geistigen Eigentum geworden sind, daß wir rasch von der einen zu einer anderen übergehen können. Denn ist nicht z.B. im Grunde der Satz, daß das Hypotenusenquadrat gleich der Summe der Kathetenquadrate sei, dasselbe, als daß Parallelogramme mit gemeinsamer Basis zwischen Parallelen einander gleichen? Und ist schließlich dies nicht identisch damit, daß zwei Flächen gleich sein müssen, wenn sie aufeinander gelegt sich decken, ohne daß die eine über die andere hinausragt? Diese Übergänge, zu welchen unser Geist Zeit gebraucht, die er schrittweise vollführt, durchläuft der göttliche Intellekt dem Lichte gleich in einem Augenblicke, oder, was

auf dasselbe hinauskommt, sie sind ihm stets alle gegenwärtig. Daraus ergiebt sich mir, daß unser Erkennen sowohl hinsichtlich der Art als hinsichtlich der Menge des Erkannten unendlich weit gegen das göttliche zurücksteht. Doch aber verachte ich jenes nicht so sehr, daß ich es für absolut Nichts hielte. Wenn ich vielmehr betrachte, wie viele und wie wunderbare Dinge die Menschen verstanden, erforscht und ausgeführt haben, so erkenne und begreife ich nur zu klar, daß der menschliche Geist ein Werk Gottes ist, und zwar eines der ausgezeichnetsten. SAGREDO:

Schon oft habe ich bei mir Betrachtungen angestellt über das, wovon ihr eben sprecht, über den Scharfsinn des menschlichen Geistes. Und wenn ich die vielen wunderbaren Entdeckungen der Menschheit in Künsten und Wissenschaften durchgehe und dann an mein Wissen denke, das mich so ganz und gar nicht befähigt eine neue ausfindig zu machen, ja auch nur das Gefundene zu begreifen, dann bin ich verwirrt vor Staunen, niedergeschlagen vor Verzweiflung und halte mich fast für unglücklich. Wenn ich eine vortreffliche Statue betrachte, sage ich bei mir: wann wirst du lernen, aus einem Marmorblock einen solchen Kern herausschälen, die herrliche Form entdecken, die er verbarg? oder verschiedene Farben mischen und sie auf einer Leinwand, einer Mauerfläche ausbreiten, daß sie das ganze Reich des Sichtbaren darstellen, wie ein MICHELANGELO, ein RAFFAEL, ein TIZIAN? Wenn ich erwäge, wie der Mensch die musikalischen Intervalle abzuteilen gelernt, Vorschriften und Regeln

aufgestellt hat, um sie zum wunderbaren Ergötzen des Ohres zu verwenden, wann soll ich da aufhören zu staunen? Und die vielen verschiedenen Instrumente? Wie erfüllt die Lektüre der vorzüglichen Dichter den mit Verwunderung, der aufmerksam die Erfindung und Erklärung ihrer Gedanken verfolgt? Was sollen wir von der Baukunst sagen, von der Schifffahrtskunde? Aber wie ragt über alle staunenswerten Erfindungen die Geisteshöhe dessen hervor, der das Mittel ersann, die Gedanken jedwedem Anderen mitzuteilen, wie weit entfernt durch Raum und Zeit er auch sein mag? zu dem zu reden, der in Indien weilt? zu denen zu reden, die noch nicht geboren sind, die erst nach tausend und zehntausend Jahren geboren sein werden? Und mit welcher Leichtigkeit? Durch verschiedene Verbindung einiger zwanzig Zeichen auf einem Blatt Papier. Das mag uns als Krone aller bewundernswerten Erfindungen der Menschen gelten und den Beschluß unserer heutigen Gespräche bilden. Die heißeste Tageszeit ist vorüber, und Signor Salviati wird gerne, glaube ich, sich unserer Kühle bei einer Gondelfahrt erfreuen wollen. Morgen werde ich Euch beide erwarten, um die begonnenen Unterredungen fortzusetzen. Zweiter Tag SALVIATI:

Wir sind gestern vom geraden Wege unserer Erörterungen so oft und so weit abgekommen, daß ich schwerlich ohne Euere Hilfe wieder ins rechte Geleise kommen und fortfahren kann.

SAGREDO:

Ich finde es sehr begreiflich, daß ihr Euch einigermaßen in Verwirrung befindet, wo ihr den Kopf über und über voll habt mit dem bereits Vorgetragenen, wie mit dem noch Vorzutragenden. Ich hingegen, der ich als bloßer Zuhörer nur das Vernommene im Gedächtnis zu behalten brauche, werde hoffentlich durch kurze Zusammenfassung des Bisherigen den Faden unserer Untersuchung entwirren können. Sofern mich also mein Gedächtnis nicht täuscht, war der Hauptgegenstand unserer gestrigen Gespräche der, daß wir von Grund aus prüften, welche der beiden Meinungen wahrscheinlicher und begründeter sei: diejenige, nach welcher die Substanz der Himmelskörper unerzeugbar, unzerstörbar, unveränderlich, unempfindlich, kurz abgesehen von der Ortsveränderung jedem Wechsel entrückt ist, und darum ein fünftes Element darstellt, welches durchaus verschieden ist von unseren elementaren, erzeugbaren, zerstörbaren, veränderlichen Körpern; oder die andere Ansicht, nach welcher ein solches Mißverhältnis zwischen den Teilen des Weltalls in Wegfall kommt, die Erde vielmehr sich derselben Vorzüge erfreut, wie die übrigen das Weltall zusammensetzenden Körper, mit einem Worte ein freibewegter Ball ist, so gut wie der Mond, Jupiter, Venus oder ein anderer Planet. Wir hoben zuletzt viele Übereinstimmungen im einzelnen zwischen der Erde und dem Monde hervor, und zwar mehr mit dem Monde als mit einem anderen Planeten, wohl wegen der genaueren und sinnlich greifbareren Kenntnis, die wir infolge seiner geringeren Entfernung über ihn besitzen. Nachdem wir schließlich zu dem

Ergebnis gekommen sind, diese zweite Meinung habe die größere Wahrscheinlichkeit für sich, verlangt es, wie mir scheint, die Folgerichtigkeit, daß wir die Frage prüfen, ob die Erde für unbeweglich zu halten, wie bisher von den meisten geglaubt wurde, oder für beweglich, wie einige Philosophen des Altertums glaubten und einige neuerdings meinen; und wenn für beweglich, wie beschaffen ihre Bewegung sein mag. SALVIATI:

Nun weiß ich wieder genau, welchen Weg wir einzuschlagen haben. Ehe wir aber weiter zu gehen beginnen, möchte ich mir eine Bemerkung betreffs Euerer letzten Worte erlauben. Ihr sagtet, wir seien zu dem Ergebnis gekommen: die Meinung, nach welcher die Erde für gleichartig mit den Himmelskörpern gehalten wird, sei wahrscheinlicher als die entgegengesetzte. Dies habe ich jedoch nicht behauptet, ebensowenig, wie ich irgendeine andere der streitigen Lehren als erwiesen betrachten werde. Ich habe nur die Absicht gehabt, für und gegen beide Ansichten die Gründe und Gegengründe, die Einwände und deren Beseitigung zur Sprache zu bringen, welche andere bis jetzt vorgebracht haben, sowie einiges Neue, auf das ich durch langes Nachdenken gestoßen bin. Die Entscheidung aber stelle ich dem Urteil anderer anheim. SAGREDO:

Ich habe mich von meiner eigenen Empfindung fortreißen lassen. In dem Glauben, andere müßten ebenso denken wie ich, habe ich verallgemeinert, was ich beschränkter hätte ausdrücken sollen. Ich

habe mir wirklich einen Irrtum zu schulden kommen lassen, namentlich da ich die Ansicht des hier anwesenden Signore Simplicio nicht kenne. SIMPLICIO:

Ich gestehe, die ganze letzte Nacht überdachte ich nochmals unsere gestrigen Erörterungen und finde, sie enthalten in der That viel Schönes, Neues und Treffendes. Bei alledem fühle ich mich doch weit mehr durch das Ansehen so großer Schriftsteller bewogen, und insbesondere – Ihr schüttelt den Kopf, Signore Sagredo, und lächelt, als ob ich ganz etwas Ungeheuerliches sagte. SAGREDO:

Ich lächle nur, aber glaubt mir, ich ersticke fast, um nicht laut vor Lachen herauszuplatzen; denn Ihr habt mich an eine prächtige Geschichte erinnert, bei welcher ich vor einigen Jahren Zeuge war, gleichzeitig mit einigen anderen befreundeten Edelleuten, deren Namen ich Euch noch nennen könnte. SALVIATI:

Es wird gut sein, wenn Ihr uns die Sache erzählt, sonst möchte Signore Simplicio vielleicht bei der Meinung beharren, er sei es, der Euch lachen gemacht. SAGREDO:

Es sei. Ich befand mich eines Tages im Hause eines in Venedig sehr angesehenen Arztes, wohin öfters Leute kamen, teils ihrer Studien wegen, teils aus Neugier, um eine Leichensektion von der Hand

eines ebenso wahrhaft gelehrten, wie sorgfältigen und geschickten Anatomen ausführen zu sehen. Diesen Tag nun geschah es, daß man den Ursprung und den Ausgangspunkt des Nerven aufsuchte, welches eine berühmte Streitfrage zwischen den Ärzten aus der Schule des GALEN und den Peripatetikern ist. Als nun der Anatom zeigte, wie der Hauptstamm der Nerven, vom Gehirn ausgehend, den Nacken entlangzieht, sich durch das Rückgrat erstreckt und durch den ganzen Körper verzweigt, und wie nur ein ganz feiner Faden von Zwirndicke zum Herzen gelangt, wendete er sich an einen Edelmann, der ihm als Peripatetiker bekannt war, und um dessentwillen er mit außerordentlicher Sorgfalt alles bloßgelegt und gezeigt hatte, mit der Frage, ob er nun zufrieden sei und sich überzeugt habe, daß die Nerven im Gehirn ihren Ursprung nehmen und nicht im Herzen. Worauf unser Philosoph, nachdem er ein Weilchen in Gedanken dagestanden, erwiderte: Ihr habt mir das alles so klar, so augenfällig gezeigt – stünde nicht der Text des ARISTOTELES entgegen, der deutlich besagt, der Nervenursprung liege im Herzen, man sähe sich zu dem Zugeständnis gezwungen, daß Ihr Recht habt. SIMPLICIO:

Ich möchte die Herren doch darauf aufmerksam machen, daß dieser Streit über den Ursprung der Nerven keineswegs so ausgemacht und entschieden ist, wie sich mancher vielleicht einbildet. SAGREDO:

Er wird es auch zuverlässig niemals werden; denn es wird nie an solchen Widersachern fehlen. Indessen benimmt das, was Ihr sagt, der Antwort des Peripatetikers nichts von ihrer Wunderlichkeit; denn er brachte gegen eine so augenscheinliche Erfahrung nicht etwa andere Erfahrungen oder Gründe aus dem ARISTOTELES vor, sondern nichts als seine Autorität, das bloße ipse dixit. SIMPLICIO:

ARISTOTELES hat so großes Ansehen nur durch seine schlagenden Beweise, seine tiefsinnigen Untersuchungen erlangt. Nur muß man ihn verstehen, und nicht nur verstehen, sondern in seinen Schriften auch so bewandert sein, daß man eine vollkommene Übersicht über sie hat, daß einem jedes seiner Worte stets vor der Seele schwebt. Denn er hat nicht für den großen Haufen geschrieben und sich nicht den Zwang angetan, seine Schlüsse nach elementarer Weise geordnet an den Fingern herzuzählen. Er bedient sich vielmehr bisweilen einer verworrenen Reihenfolge und bringt den Beweis einer Behauptung in einem Kapitel, das scheinbar von ganz etwas anderem handelt. Darum bedarf es jenes großen Einblicks in das Ganze; darum muß man diese Stelle mit jener kombinieren, diesen Paragraphen mit jenem ganz entlegenen vergleichen. Es ist kein Zweifel, daß, wer diese Kunst versteht, aus seinen Büchern die Beweise für alles Erkennbare schöpfen kann; denn in ihnen ist alles enthalten. SAGREDO:

Aber, lieber Signore Simplicio, wenn Euch das Durcheinanderwürfeln des Stoffes nicht verdrießt und Ihr durch Vergleich und Kombination einzelner Splitterchen die Quintessenz zu erlangen vermeint, so will ich die Prozedur, die Ihr und Euere wackeren Kollegen mit dem Texte des ARISTOTELES vornehmt, mit den Versen VIRGILS oder OVIDS anstellen, will einen Flicken daraus auf den anderen setzen und damit alle menschlichen Angelegenheiten und Geheimnisse der Natur erklären. Doch wozu brauche ich VIRGIL oder einen anderen Dichter? Ich besitze ein weit kürzeres Büchlein als den ARISTOTELES und den OVID, worin alle Wissenschaften enthalten sind und wovon man mit geringster Mühe die vollkommenste Übersicht erlangen kann; es ist das Alphabet. Kein Zweifel, durch richtige Anordnung und Verbindung dieses und jenes Vokals mit dem und jenen Konsonanten kann man die zuverlässigste Auskunft über jeden Zweifel erhalten, kann die Lehren aller Wissenschaften, die Regeln aller Künste gewinnen; gerade wie der Maler bloß verschiedene Farben mischt, die getrennt auf der Palette liegen, von dieser ein bißchen und von jener ein wenig, und daraus Menschen, Pflanzen, Bauten, Vögel, Fische bildet, kurz alles Sichtbare nachahmt, ohne daß er auf seiner Palette Augen, Federn, Schuppen, Blätter, oder Steine hätte. Ja es darf sogar keines der nachzuahmenden Dinge, noch auch Teile eines solchen sich wirklich bei den Farben befinden, wenn man damit alles soll darstellen können. Wären z.B. Federn dabei, so könnte man sie nur gebrauchen, um Vögel oder Federbüsche abzumalen.

SALVIATI:

Ich kenne einige Edelleute, noch heute frisch und gesund, welche zugegen waren, wie ein Doktor an einer berühmten Hochschule, als er das von ihm noch nicht gesehene Fernrohr beschreiben hörte, sagte, die Erfindung sei dem ARISTOTELES entnommen. Als er sich einen Text hatte bringen lassen, suchte er eine gewisse Stelle auf, wo die Gründe abgehandelt werden, infolge deren vom Boden eines sehr tiefen Brunnens die Sterne bei Tag am Himmel gesehen werden können. Er sagte zu den Umstehenden: Hier habt Ihr den Brunnen, er ist das Rohr; hier die dichten Dämpfe, ihnen ist die Erfindung der Linsen nachgebildet; hier habt Ihr endlich die Verstärkung der Sehkraft beim Durchgang der Strahlen durch ein dichteres, dunkeles und durchsichtiges Mittel. SAGREDO:

Diese Manier, alles Erkennbare zu umfassen, ist ähnlich der, wonach ein Marmorblock eine oder tausend der herrlichsten Statuen enthält; die Schwierigkeit ist nur, sie ausfindig zu machen. Wir dürfen auch sagen, es gehe damit wie mit den Weissagungen JOACHIMS oder den Orakelsprüchen der Alten, die man erst nach dem Ausgang der vorhergesagten Dinge versteht. SALVIATI:

Denkt Ihr nicht auch an die Voraussagungen der Astrologen, die aus dem Horoskop, d.h. aus der Stellung der Gestirne, nachträglich so klar herauszulesen sind? SAGREDO:

Ebenso steht es mit der Entdeckung der Alchymisten, die, geleitet von dem humor melancholicus, finden, daß in Wahrheit alle die erhabensten Geister der Menschheit über nichts geschrieben haben, als über die Kunst, Gold zu machen. Um nun aber diese zu lehren, ohne sie allem Volke zu verraten, habe einer diese, der andere jene Weise ausgeheckt, um unter mancherlei Einkleidung das Geheimnis anzudeuten. Nichts ist lustiger, als ihre Kommentare zu den alten Dichtern zu hören, in welchen sie die wichtigsten Mysterien, versteckt im Gewande der Fabeln, aufspüren: was die Liebeshändel der Mondgöttin bedeuten, ihr Herniedersteigen zur Erde um Endymions willen, ihr Zorn gegen Aktäon; wann Jupiter sich in einen Goldregen, wann in glühende Flammen verwandelt, welche tiefen Kunstgeheimnisse in jenem Mercurius Interpres stecken, in jenen Entführungen durch Pluto, in jenen goldenen Zweigen. SIMPLICIO:

Ich glaube und bin in manchen Fällen gewiß, daß es nicht an recht wunderlichen Köpfen fehlt; aber deren Albernheiten dürfen nicht zu Ungunsten des ARISTOTELES ausgebeutet werden, von dem Ihr, wie mich dünkt, bisweilen mit zu wenig Achtung sprecht. Das bloße Alter und der große Ruf, den er sich nach dem Urteile so vieler ausgezeichneter Männer erworben hat, sollten genügen, um ihn achtungswert in den Augen aller Gelehrten erscheinen zu lassen. SALVIATI:

So liegt die Sache nicht, Signore Simplicio. Gerade einige seiner gar zu engherzigen Anhänger sind schuld daran oder würden vielmehr

schuld daran sein, daß man ihn minder hoch schätzt, wenn wir ihren seichten Erörterungen beipflichten wollten. Ihr aber, sagt mir mit Vergunst, seid Ihr wirklich so einfältig, um nicht einzusehen, daß, wenn ARISTOTELES zugegen gewesen wäre, wie er von dem Doktor zum Erfinder des Fernrohrs gemacht wurde, er weit mehr über diesen aufgebracht gewesen wäre, als über die, welche den Doktor und seine Auslegungsweise verlachten? Zweifelt Ihr etwa, daß ARISTOTELES seine Meinung ändern und seine Bücher verbessern würde, wenn er von den neuen astronomischen Entdeckungen erführe; daß er sich zu so sinnenfälligen Lehren bekennen und alle die kleinen Geister von sich verbannen würde, die engherzig genug es über sich gewinnen, jedes seiner Worte aufrecht zu erhalten, die nicht einsehen, daß, wenn ARISTOTELES so wäre, wie sie ihn sich vorstellen, er ein Dummkopf, ein Eigensinniger, eine Barbarenseele, voll tyrannischer Willkür wäre, der alle anderen als blödes Vieh betrachtet und den Kundgebungen seines Willens den Vorrang zuspricht vor der Sinneswahrnehmung, der Erfahrung, der Natur selber? Seine Anhänger haben dem ARISTOTELES die Autorität verliehen, nicht er hat sie sich angemaßt oder genommen. Weil es leichter ist, unter dem Schilde eines anderen Schutz zu suchen, als offenen Anlitzes in die Schranken zu treten, fürchten sie und wagen nicht, einen Schritt von ihm sich zu entfernen. Ehe sie am Himmel des ARISTOTELES etwas ändern lassen, leugnen sie dreist, was sie am Himmel der Natur erblicken.

SAGREDO:

Leute solchen Schlags erinnern mich an jenen Bildhauer, der aus einem großen Marmorblock, ich weiß nicht, ob das Bild eines Herkules oder eines donnernden Jupiters geformt hatte. Mit wunderbarer Kunst hatte er ihm solches Leben, so große Majestät zu verleihen gewußt, daß jeden Beschauer Furcht anwandelte und schließlich der Künstler selbst sich davor zu fürchten begann, wiewohl Ausdruck und Bewegung das Werk seiner Hände war. So groß war sein Grauen, daß er sich nicht erkühnt hätte, ihm fürder mit Hammer und Meißel zu nahen. SALVIATI:

Ich habe mich oft gewundert, wie es möglich ist, daß die buchstabengläubigen Anhänger des ARISTOTELES nicht herausfühlen, welchen Abtrag sie dem Ansehen und dem Rufe desselben thun, wie sie, bestrebt seine Autorität zu vergrößern, umgekehrt sie herabziehen. Denn wenn ich sie halsstarrig Sätze verteidigen sehe, die handgreiflich irrig sind, wenn sie mir einreden wollen, so zieme es sich für den wahren Philosophen und so würde ARISTOTELES selbst verfahren, dann komme ich von der Meinung zurück, daß seine Schlüsse auf anderen mir weniger zugänglichen Gebieten ihr Richtigkeit haben. Sähe ich sie hingegen auf Grund offenbarer Wahrheiten nachgeben und ihre Meinung ändern, so würde ich glauben, daß da, wo sie auf ihrer Meinung beharren, ihre mir unverständlichen oder unbekannten Beweise zuverlässig richtig seien.

SAGREDO:

Oder wenn ihr eigener Ruf und der des ARISTOTELES in ihren Augen zu sehr gefährdet schiene, sobald sie zugestehen, er habe dieses oder jenes, von einem anderen gefundene Ergebnis nicht gekannt, thäten sie dann nicht besser, es dennoch in seinen Schriften ausfindig zu machen, durch Verbindung verschiedener Stellen, nach dem von Signore Simplicio angedeuteten Rezepte? Denn wenn alles Erkennbare sich in ihm findet, muß auch wohl dieses darin enthalten sein. SALVIATI:

Signore Sagredo, zieht dieses scharfsinnige Auskunftsmittel nicht ins Lächerliche, denn Ihr scheint mir Eueren Vorschlag im Scherze zu machen. Es ist aber noch nicht lange her, daß ein Philosoph von bedeutendem Rufe ein Buch über die Seele verfaßt hatte, worin er bei Wiedergabe der aristotelischen Ansicht über die Frage der Unsterblichkeit viele Citate aus ihm anführte – nicht die Citate ALEXANDERS, welche, wie er sagte, überhaupt diesen Gegenstand nicht behandelten, geschweige denn etwas damit Zusammenhängendes zur Entscheidung brächten – sondern andere von ihm an ganz verborgenen Stellen gefundene, die einen gefährlichen Beigeschmack hatten. Darauf aufmerksam gemacht, daß er Schwierigkeiten haben werde, die Druckerlaubnis zu erlangen, schrieb er dem Freunde zurück, er möge deswegen nicht unterlassen, die Erledigung der Sache zu befürworten; denn wenn sonst nichts im Wege stünde, sei es ihm ein Leichtes, die Lehre des

ARISTOTELES abzuändern und durch andere Erklärung und mittels anderer Stellen die entgegengesetzte Ansicht als dem Sinne des ARISTOTELES gemäß nachzuweisen. SAGREDO:

Alle Achtung vor diesem Gelehrten! Er läßt sich von ARISTOTELES kein X für ein U machen, er führt ihn an der Nase herum und läßt ihn nach seiner Pfeife tanzen. Ihr seht, wieviel darauf ankommt, den günstigen Zeitpunkt abzupassen. Man muß mit Herkules sich nicht einlassen, wenn er wütet und rast, sondern wenn er mit den mäonischen Mägden schwatzt. Oh der unerhörten Niederträchtigkeit knechtischer Geister! Freiwillig sich zum Sklaven zu machen, an fremde Willensmeinungen sich unauflöslich zu ketten, sich überzeugt und überführt nennen zu müssen durch Gründe, die so schlagend, so klar beweisend sind, daß eben diese Leute nicht recht wissen, ob sie auch auf den Gegenstand sich beziehen und ob sie die betreffende Behauptung zu erhärten bestimmt sind! Das Tollste aber ist, daß sie untereinander uneins sind, ob der Autor selbst für oder gegen die Behauptung Partei ergriffen habe. Heißt dies nicht einen Götzen von Holz zu seinem Orakel machen? Von ihm soll man Auskunft erwarten, ihn fürchten, ihn verehren, ihn anbeten? SIMPLICIO:

Wenn man sich aber von ARISTOTELES lossagt, wer soll Führer in der Wissenschaft sein? Nennt Ihr irgendwelchen Autor!

SALVIATI:

Des Führers bedarf man in unbekannten wilden Ländern, in offener ebener Gegend brauchen nur Blinde einen Schutz. Wer zu diesen gehört, bleibe besser daheim. Wer aber Augen hat, körperliche und geistige, der nehme diese zum Führer! Darum sage ich nicht, daß man ARISTOTELES nicht hören soll, ja, ich lobe es, ihn einzusehen und ihn fleißig zu studieren. Ich tadele nur, wenn man auf Gnade oder Ungnade sich ihm ergibt, derart, daß man blindlings jedes seiner Worte unterschreibt, und ohne nach anderen Gründen zu forschen, diese als ein unumstößliches Machtgebot anerkennen soll. Es ist das ein Mißbrauch, der ein anderes schweres Übel im Gefolge hat: man bemüht sich nicht mehr, sich von der Strenge seiner Beweise zu überzeugen. Was kann es Schmählicheres geben als zu sehen, wie bei öffentlichen Disputationen, wo es sich um beweisbare Behauptungen handelt, urplötzlich jemand ein Citat vorbringt, das gar oft auf einen ganz anderen Gegenstand sich bezieht, und mit diesem dem Gegner den Mund verstopft? Wenn Ihr aber durchaus fortfahren wollt, auf diese Weise zu studieren, nennt Euch fernerhin nicht Philosophen, nennt Euch Historiker oder Doktoren der Auswendiglernerei; denn wer niemals philosophiert, der darf den Ehrentitel eines Philosophen nicht beanspruchen. – Doch wir thun gut, dem Ufer wieder zuzusteuern, um nicht in ein unendliches Meer zu geraten, aus dem wir den ganzen heutigen Tag über nicht wieder herausfänden. Darum, Signore Simplicio, bringt uns Euere Beweise oder des ARISTOTELES Gründe und Beweise, nicht aber

Citate und bloße Autoritäten; denn unsere Untersuchungen haben die Welt der Sinne zum Gegenstand, nicht eine Welt von Papier.› (G. GALILEI, Dialogo dei massimi sistemi. Giornata prima e seconda, Florenz 1890–1909.) b) Galileis Entwurf der modernen Naturwissenschaften Die zunächst wiedergegebenen Auszüge aus GALILEIS Schriften haben für seine Auseinandersetzung mit der Tradition historische Bedeutung. Aus dem nun folgenden kurzen Abschnitt seiner ‹Gespräche und mathematische Beweise über zwei neue Wissenschaften› wird seine neue Methode ersichtlich. Ihr Gegenstand ist nicht die Beschreibung neuer Phänomene: die Bewegung eines fallenden Körpers ist zu allen Zeiten beobachtet worden; sie wurde aber noch nie in ihrer genau begrenzten Gesetzmäßigkeit untersucht. Gesetzmäßig ist ein Phänomen, wenn es aus den mannigfaltigen Bewegungen der Naturkörper isoliert, mit Hilfe bestimmter Maßstäbe, Prinzipien oder Axiome genau identifiziert und in seinen Eigenschaften bewiesen werden kann. Beweisen bedeutet das beobachtete Phänomen in Hinblick auf einen vorausgesetzten Ausgangspunkt zu bestimmen und zu begründen: erst hieraus entsteht Wissenschaft, die sich nicht mit zufälligen, sich verändernden, relativen Feststellungen begnügt. Die Definition des Phänomens muß daher dem ‹Verhalten› der Natur innerhalb des durch die Voraussetzungen gezogenen Rahmens entsprechen:

‹Natur› ist hier also ein bescheidener, genau abgegrenzter Abschnitt und Ausschnitt aus den mannigfaltigen Phänomenen, die unsere Sinne feststellen, Abschnitte innerhalb deren – wie GALILEI sagt – wir uns von ihr ‹an der Hand führen lassen›. Fragen und Antworten, Beobachtungen und Bestimmungen sind nicht mehr auf allgemeine metaphysische, theologische Erkenntnisse gerichtet, sondern werden mit Bescheidenheit abgegrenzt. Während KEPLER den Phänomenen – unabhängig von der Beobachtung – einen ewigen, metaphysischen, theologischen Charakter zusprach, hat sich bei GALILEI eine völlige Umkehrung vollzogen. Bei KEPLER ist die Naturwissenschaft noch ganz ungeschichtlich: mitGALILEIwird sie geschichtlich, indem die Phänomene, die bestimmt werden sollen, nur innerhalb der von Menschen festgelegten Voraussetzungen nach ihren Eigenschaften befragt werden. Ändern sich diese Ausgangspunkte, so muß sich auch die Beschreibung des so in Grenzen betrachteten Phänomens entsprechend ändern. Innerhalb der einzelnen, vom Menschen von Fall zu Fall gesetzten Grenzen gibt die Natur allerdings immer die gleiche Antwort, und diese ‹ewige›, eiserne Gesetzmäßigkeit wird nun Gegenstand der wissenschaftlichen Erbauung und ihre Erkenntnis bildet den Stolz des Naturwissenschaftlers. ‹Gespräche über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme›

‹Dritter Tag Über einen sehr alten Gegenstand entwickeln wir eine ganz neue Wissenschaft. Nichts ist vielleicht älter in der Natur als die

Bewegung, und über sie sind zahlreiche und stattliche Bände von den Forschern geschrieben worden. Trotzdem finde ich so manche wissenswerte Eigenschaften derselben, die bisher nicht beobachtet, geschweige bewiesen sind. Einige näherliegende pflegt man zu erwähnen, z.B. daß die natürliche Bewegung fallender schwerer Körper sich stetig beschleunigt. Aber nach welchem Gesetz ihre Beschleunigung zustande kommt, ist bis jetzt nicht bekannt gemacht worden. Denn niemand hat meines Wissens bewiesen, daß die von einem aus dem Ruhestand fallenden Körper in gleichen Zeiten zurückgelegten Strecken sich verhalten wie die aufeinanderfolgenden ungeraden Zahlen, von eins angefangen. Man hat beobachtet, daß Geschosse oder geworfene Körper irgendeine krumme Linie beschreiben; aber daß diese eine Parabel ist, hat niemand ausgesprochen. Daß sich dies so verhält, und vieles andere ebenso Wissenswerte, werde ich beweisen und, was ich für wichtiger halte, den Zugang zu einer sehr ausgedehnten und hervorragenden Wissenschaft erschließen, deren Anfangsgründe unsere vorliegenden Arbeiten bilden werden. Scharfsinnigere Geister als ich werden in ihre entlegeneren Gegenden vordringen. In drei Teile gliedern wir unsere Abhandlung. Im ersten betrachten wir alles, was die gleichmäßige oder gleichförmige Bewegung betrifft; im zweiten handeln wir von der natürlich beschleunigten Bewegung, im dritten von der gewaltsamen Bewegung oder vom Wurfe.› Über die natürlich beschleunigte Bewegung

‹Die Eigentümlichkeiten der gleichförmigen Bewegung sind im vorhergehenden Buch betrachtet worden, wir haben nun die beschleunigte Bewegung zu behandeln. Vor allem muß man eine dem wirklichen Verhalten der Natur genau entsprechende Definition suchen und erläutern. Denn obwohl man irgendeine Bewegungsart willkürlich ersinnen und die daraus folgenden Vorgänge betrachten kann (so haben nämlich die Erfinder der Schraubenlinien und Conchoiden, die aus gewissen freilich in der Natur nicht vorkommenden Bewegungen entstehen, deren Eigenschaften aus den Voraussetzungen in vorzüglicher Weise bewiesen), so haben wir, da die Natur in ihren Bewegungen, nämlich beim Falle schwerer Körper, eine gewisse Art der Beschleunigung einhält, es doch vorgezogen, die Eigenschaften dieser Bewegungen zu betrachten, da ja unsere folgende Definition der beschleunigten Bewegung mit dem Wesen der natürlich beschleunigten Bewegung gerade übereinstimmt. Zu dieser Überzeugung sind wir endlich nach langem Nachdenken gekommen, besonders durch den Grund bestimmt, daß den später zu beweisenden Eigenschaften dasjenige genau entspricht und sich mit ihnen deckt, was die Experimente den Sinnen vorführen. Schließlich hat uns zur Erforschung der natürlich beschleunigten Bewegung die Beobachtung der Gewohnheit und Einrichtung der Natur bei allen ihren anderen Verrichtungen gleichsam selbst an der Hand geführt; sie pflegt sich bei deren Ausübung der nächstliegenden, einfachsten und leichtesten Hilfsmittel zu bedienen. Denn nach meiner Meinung wird niemand

glauben, das Schwimmen oder Fliegen könne auf einfachere oder leichtere Art bewirkt werden, als es die Fische und Vögel aus natürlichem Instinkt bewerkstelligen. Wenn ich also bemerke, daß ein Stein, der aus der Höhe von der Ruhelage aus fällt, später neue Geschwindigkeitszuwüchse erfährt, warum soll ich nicht glauben, daß solche Zuwüchse auf die einfachste und nächstliegende Art geschehen? Wenn wir aufmerksam zusehen, werden wir keine Vermehrung, keinen Zuwachs finden, der einfacher wäre, als ein solcher, der immer in gleicher Weise hinzukommt. Wir werden dies leicht einsehen, wenn wir den innigen Zusammenhang zwischen Zeit und Bewegung berücksichtigen; sowie nämlich die Gleichmäßigkeit und Einförmigkeit einer Bewegung durch die Gleichheit der Zeiträume und der Strecken definiert und aufgefaßt wird (denn eine Bewegung nennen wir dann gleichförmig, wenn in gleichen Zeiten gleiche Strecken zurückgelegt werden), so können wir durch eine ebensolche gleichmäßige Einteilung der Zeit auch die Geschwindigkeitszuwüchse als auf einfache Art zustande gekommen auffassen; dabei erkennen wir im Geiste jene Bewegung als eine gleichmäßig und immer in derselben Weise stetig beschleunigte, weil ihr in irgendwelchen gleichen Zeiten gleiche Geschwindigkeitszunahmen zuwachsen. Wenn also vom ersten Augenblick ab, in dem der Körper die Ruhelage verläßt und zu fallen beginnt, beliebig viele gleiche Zeitteilchen genommen werden, so wird der Geschwindigkeitsgrad, der im ersten und zweiten Zeitteilchen zusammen erlangt wurde, doppelt so groß sein als derjenige, den der Körper im ersten Zeitteilchen erlangte. Der

Geschwindigkeitsgrad aber, den er in drei Zeitteilchen erreicht, wird dreimal, in vier viermal so groß sein als der Grad nach dem ersten Zeitteilchen. Wenn also (um uns besser verständlich zu machen) der Körper seine Bewegung nach dem Grade oder der Wucht der im ersten Zeitteilchen erlangten Geschwindigkeit fortsetzen und dann gleichmäßig in diesem Grade beibehalten würde, so wäre diese Bewegung doppelt so langsam als diejenige, die er nach dem in zwei Zeitteilchen erreichten Geschwindigkeitsgrad erlangt hätte; so scheint es mit der Wahrheit keineswegs im Widerspruch zu sein, wenn wir annehmen, daß sich die Intensität der Geschwindigkeit nach der Ausdehnung der Zeit richte. Daher kann man folgende Definition der Bewegung, die wir behandeln wollen, annehmen: Gleichmäßig oder gleichförmig beschleunigt nenne ich eine Bewegung, die von der Ruhelage aus in gleichen Zeiten gleiche Geschwindigkeitszunahmen erfährt.› Über die Wurfbewegung

‹Vierter Tag Die Eigenschaften der gleichförmigen Bewegung, ebenso der natürlich beschleunigten längs irgendwie geneigter Ebenen haben wir oben erörtert. In der nunmehr beginnenden Betrachtung werde ich einige wichtige und wissenswerte Erscheinungen vorzuführen und mit sichern Beweisen zu stützen versuchen – Erscheinungen, die an einem Körper auftreten, wenn er sich in einer Bewegung befindet, die aus zweien zusammengesetzt ist, nämlich aus einer gleichförmigen und einer natürlich beschleunigten. So scheint die

Bewegung beschaffen zu sein, die wir Wurfbewegung nennen; ihre Erzeugung denke ich mir so: Ich nehme einen Körper an, der über eine horizontale Ebene ohne jedes Hindernis hingeschleudert wird; aus dem, was anderweitig ausführlich erörtert wurde, steht dann fest, daß jene Bewegung gleichförmig und immerwährend auf dieser Ebene vor sich gehen würde, wenn sich die Ebene unbegrenzt ausdehnte. Wenn wir sie aber begrenzt und hochgelegen denken, wird der als schwer vorausgesetzte Körper, ans Ende der Ebene gelangt, während er weiter fortschreitet, zur gleichförmigen und unzerstörbaren bisherigen Verschiebung jenes Streben nach abwärts hinzubekommen, das ihm vermöge seiner Schwere eigen ist; so wird eine gewisse Bewegung entstehen, die aus einer gleichförmigen horizontalen und aus einer nach abwärts gerichteten natürlich beschleunigten zusammengesetzt ist; ich nenne sie Wurfbewegung. Einige ihrer Eigenschaften werden wir nunmehr beweisen …› (G. GALILEI, Gespräche und mathematische Beweise über zwei neue Wissenschaften, Florenz 1890–1909.)   Werke: Le opere di G.G., Edizione Nazionale, hg. v.A. Favaro und J. del Lungo, 20 Bde., Florenz 1890–1909/Werke hg. in deutscher Sprache v.E. Strauß, Leipzig 1892.   Schriften über G.G.:A. CARLI u.A. FAVARO: Bibliografia Galileiana, Rom 1896 / K.v. GEBLER: G.G. und die Römische Curie, 2 Bde., 1876–1877 / E. WOHLWILL: G. und sein Kampf für die copern.

Lehre, 2. Bde., 1909 und 1926 / L. OLSCHKI: Galileo G. und seine Zeit, 1927 / E.J. DIJKSTERHUIS: De Mechanisering van het Wereldbeeld, Amsterdam 1950 / P. AUBANEL: Le génie sous la tiare … Urbain VIII et G., 1929 / F. SHERWOOD TAYLOR: G. and the Freedom of Thought, London 1938 / A. KOYRC: Études Galiliennes, 3 Hefte, 1939 / A. MAIER: Die Vorläufer G.’s im 14. Jahrh., Rom 1949 / P. NATORP: G. als Philosoph, in Philos. Monatsh., 1882 / E. CASSIRER: ‹Wahrheitsbegriff und Wahrheitsproblem bei G.›, in ‹Scientia› 1937 / A. KOYRC: G. und Plato, in Journal of History of Ideas, Bd. 4, 1943.

3. Isaac Newton (4.1.1643–31.3.1727) Die methodischen Gedanken, die wir bei G. GALILEI verfolgten, sind nun Gemeingut geworden. Die wissenschaftliche Beobachtung der Natur führt zu immer neuen Entdeckungen und Errungenschaften, nachdem in England bereits BACON (1561–1626) die Wichtigkeit der empirischen Methode mit Nachdruck betont hatte. Um nur an einige wenige praktische Auswirkungen der neuen Erkenntnisse zu erinnern: 1628 entdeckt WILLIAM HARVEY (1578– 1658) den Blutkreislauf, 1600 behandelt WILLIAM GILBERT (1540 bis 1603) in seiner Schrift ‹De magnete› zum ersten Mal magnetische Erscheinungen; 1643 erfindet GALILEIS Schüler EVANGELISTA TORRICELLI (1608 bis 1647) das Barometer; 1662 entdecken der

Engländer ROBERT BOYLE (1627–1691) und der Franzose EDME MARIOTTE (1620–1684) das Gesetz des Luftdruckes. Das Phänomen der Bewegung der Körper bleibt in seinen letzten Ursachen unbekannt, man kann aber die Kräfte in ihrer Gesetzmäßigkeit, in ihren Zusammenhängen bestimmen und ausrechnen. Bisher hatte der menschliche Geist naturwissenschaftliche Hypothesen anscheinend ohne Rücksicht auf die natürlichen Gegebenheiten zunächst nur nach Maßgabe ihrer mathematischen und logischen Schlüssigkeiten aufgestellt, um sie dann der Beobachtung zu Grunde zu legen. Jetzt erkannte man, daß dieses Erfinden von Hypothesen keine autarke Schöpfung des menschlichen Geistes aus sich selbst heraus sein darf, sondern in engem Zusammenhang mit der Naturbetrachtung erfolgen muß. Die Genialität des Naturwissenschaftlers zeigt sich beim Aufstellen von Hypothesen gerade darin, daß er in bestimmten Naturerscheinungen einfache Zusammenhänge erfaßt, die sich in mathematische Allgemeinbegriffe umwandeln und der Erklärung der übrigen Naturerscheinungen zu Grunde legen lassen. Der Naturwissenschaftler muß also zu den Hypothesen, mit denen er dann an seine Beobachtungen und Experimente herangeht, durch die Naturerscheinungen selbst angeregt worden sein. NEWTON, dessen Naturauffassung – indem er die Natur nicht nur aus dem allumfassenden Gottesbezug, sondern auch aus der engen Bindung an den Menschen löst – ein entscheidend neues Moment enthält, erscheint zunächst als bloßer Empiriker, weil er

Hypothesen ablehnt: die Erkenntnisse werden aus den Erscheinungen abgeleitet und durch Induktion verallgemeinert. R. COTES, der Herausgeber der 2. Auflage (1713) von NEWTONS ‹Mathematischen Prinzipien der Naturlehre› verdeutlicht die Einstellung NEWTONS vielleicht am klarsten. Er äußert, daß alle, die sich der Forschung der Physik widmeten, in drei Klassen einzuteilen wären. Die einen schreiben einzelnen Arten von Dingen spezifische und verborgene Eigenschaften zu, von denen die Operationen der einzelnen Körper abhängen sollten (also die Vertreter der scholastischen Philosophie). Die anderen behaupteten, daß die allgemeine Materie homogen sei, und daß die den einzelnen Körpern eigentümliche unterschiedliche Funktion gewissen höchst einfachen und leicht zu erkennenden Beziehungen der sie zusammensetzenden Teilchen entspringe. Da sie sich aber erlauben, eine beliebige unbekannte Gestalt und Größe der Teile und eine unbestimmte Lage und Bewegung derselben anzunehmen, so versinken sie ‹in Träumereien›: ‹Diejenigen, welche ihre Spekulationen auf Hypothesen gründen, werden, wenn sie danach auch aufs strengste nach mechanischen Gesetzen fortschreiten, eine Fabel, vielleicht eine elegante und schöne, jedoch nur eine Fabel aufbauen.› Diese Methode der Forschung führt also nicht zu einwandfreien Feststellungen. Endlich beschreibt COTES NEWTONS Methode folgendermaßen: ‹Es bleibt noch eine dritte Art von Naturforschern übrig, welche sich zur Experimental-Physik bekennt. Diese wollen zwar aus möglichst einfachen Prinzipien die Ursachen aller Dinge ableiten, allein als Prinzip nehmen sie etwas

an, was noch nicht durch die Erscheinungen sich gezeigt hat. Sie verfahren daher nach einer zweifachen Methode, der analytischen und der synthetischen. Die Kräfte der Natur und ihre einfachen Gesetze leiten sie aus einigen ausgewählten Erscheinungen mittels der Analysis ab und legen die ersten mittels der Synthesis als Beschaffenheit der übrigen Erscheinungen dar. Diese Art der Forschung ist jene bei weitem beste, welche vor den übrigen anzuwenden unser berühmter Verfasser für würdig und verdienstlich hielt … Er stellte als berühmtes Beispiel derselben die mit Glück aus dem Gesetz der Schwere abgeleitete Erklärung des Weltsystems auf. Daß die Kraft der Schwere allen Körpern innewohnt, hatten die einen vermutet, die anderen gedacht; er aber als der erste und einzige vermochte es, ihr Dasein mittelst der Erscheinungen zu erweisen und ihr durch ausgezeichnete Spekulationen eine feste Grundlage aufzubauen.› Man betont also, daß es zur wahren Forschung gehöre, die Natur der Dinge aus wirklich existierenden Ursachen abzuleiten und die Gesetze aufzusuchen. ‹Wir müssen aber jene Gesetze nicht aus ungewissen Vermutungen ableiten, sondern durch Beobachtung und Versuche erlernen. Wer die Prinzipien der Naturlehre und die Gesetze der Dinge finden zu können glaubt, indem er sich allein auf die Kraft seines Geistes und das innere Licht seiner Vernunft stützt, muß entweder annehmen, die Welt sei aus einer Notwendigkeit hervorgegangen, und er muß die aufgestellten Gesetze aus derselben Notwendigkeit folgen lassen; oder er muß der Meinung sein, daß, wenn die Ordnung der Natur durch den Willen Gottes entstanden

sei, er, ein elendes Menschlein, eingesehen habe, was als das Beste zu tun sei. Eine gesunde und wahre Naturlehre gründet sich auf die Erscheinungen der Dinge, welche uns, selbst wider unsern Willen und widerstrebend, zu derartigen Prinzipien führen, daß man in ihnen deutlich die beste Überlegung und die höchste Herrschaft des weisesten und mächtigsten Wesens wahrnimmt.› (COTES.) Aus den Erscheinungen und durch die Verallgemeinerung der Induktion ist NEWTON zur Erkenntnis der Undurchdringlichkeit, der Beweglichkeit, der Stoßkraft der Körper, der Gesetze der Bewegungen und der Schwere gekommen: die Schwerkraft existiert und wirkt nach den Gesetzen, die er aufstellt; er geht von ihr aus, um die Bewegungen der Himmelskörper zu erklären; die verborgenen Eigenschaften der Körper lehnt er ab. Indem er die Postulate aufstellt, die die Festsetzung von Begriffen wie Masse, Ursache, Kraft, Trägheit, Raum, Zeit und Bewegung ermöglichen, wird NEWTON zum ersten Systematiker der modernen Naturwissenschaft. So heißt es im ‹Vorwort an den Leser› der ersten Auflage (1687) der ‹Mathematischen Prinzipien der Naturlehre›: ‹Alle Schwierigkeit der Physik besteht natürlich dem Anschein nach darin, aus den Erscheinungen der Bewegung die Kräfte der Natur zu erforschen und hierauf durch diese Kräfte die übrigen Erscheinungen zu erklären. Hierzu dienen die allgemeinen Sätze, welche im ersten und zweiten Buch behandelt werden. Im dritten Buch haben wir, zur Anwendung derselben, das Weltsystem erklärt. Dort wird nämlich aus den Erscheinungen am Himmel, vermittelst der in den ersten Büchern mathematisch bewiesenen Sätze, die Kraft

der Schwere abgeleitet, vermöge welcher die Körper sich bestreben, der Sonne und den einzelnen Planeten sich zu nähern. Aus derselben Kraft werden dann, gleichfalls vermittelst mathematischer Sätze, die Bewegungen der Planeten, Kometen, des Mondes und des Meeres abgeleitet. Möchte es gestattet sein, die übrigen Erscheinungen der Natur auf dieselbe Weise aus mathematischen Prinzipien abzuleiten! Viele Beweggründe bringen mich zur Vermutung, daß diese Erscheinungen aber von gewissen Kräften abhängen können. Dank dieser werden die Teilchen der Körper nämlich, aus noch nicht bekannten Ursachen, entweder gegeneinander getrieben und hängen alsdann als reguläre Körper zusammen, oder sie weichen voreinander zurück und fliehen sich gegenseitig. Bis jetzt haben die Physiker es vergebens versucht, die Natur durch diese unbekannten Kräfte zu erklären; ich hoffe jedoch, daß die hier aufgestellten Prinzipien entweder über diese, oder irgendeine richtige Verfahrensweise Licht verbreiten werden.› NEWTON hat eine Physik des Himmels geschaffen, ohne Willkür und ohne Wunder, sich selbst erhaltend und in sich selbst ruhend, ohne damit in die Bahn des Materialismus geraten zu sein. Er hält am Glauben an einen persönlichen Gott fest; der Naturmechanismus ist nur ein Mittel zur Erfüllung seiner Zwecke. Bleibt der ‹große Ozean› der Wirklichkeit auch noch unentdeckt, so fügen sich die Einzelwahrheiten durch ihren Zusammenhang doch allmählich zu einem Ganzen. Daher NEWTONS berühmt gewordene Äußerung: ‹Ich weiß nicht, als was ich der Welt dereinst erscheinen werde; aber

ich selbst komme mir nur wie ein am Meeresstrande spielender Knabe vor, der im Spiel hier und da einen glatteren Kiesel oder eine schönere Muschel als gewöhnlich findet, während der große Ozean der Wahrheit ganz unentdeckt vor meinen Blicken liegt.› Drittes Buch der ‹Mathematischen Prinzipien der Naturlehre› Vom Weltsystem – Regeln zur Erforschung der Natur ‹1. Regel. An Ursachen zur Erklärung natürlicher Dinge nicht mehr zuzulassen, als wahr sind und zur Erklärung jener Erscheinungen ausreichen. Die Physiker sagen: Die Natur tut nichts vergebens, und vergeblich ist dasjenige, was durch vieles geschieht und durch weniger ausgeführt werden kann. Die Natur ist nämlich einfach und schwelgt nicht in überflüssigen Ursachen der Dinge. 2. Regel. Man muß daher, soweit es angeht, gleichartigen Wirkungen dieselben Ursachen zuschreiben. So dem Atem der Menschen und der Tiere, dem Falle der Steine in Europa und Amerika, dem Lichte des Küchenfeuers und der Sonne, der Zurückwerfung des Lichtes auf der Erde und den Planeten. 3. Regel. Diejenigen Eigenschaften der Körper, welche weder verstärkt noch vermindert werden können und welche allen Körpern zukommen, an denen man Versuche anstellen kann, muß man für Eigenschaften aller Körper halten. Die Eigenschaften der Körper werden nämlich nur durch Versuche bekannt, und man muß daher diejenigen für allgemeine halten, welche im allgemeinen mit den Versuchen übereinstimmen, und die

weder vermindert noch aufgehoben werden können. Offenbar kann man weder, dem Verlauf der Versuche zuwider, Träume ersinnen, noch sich von der Analogie der Natur entfernen, da diese einfach und mit sich übereinstimmend zu sein pflegt. Die Ausdehnung der Körper wird nur durch die Sinne erkannt und nicht bei allen wahrgenommen; weil man sie aber bei allen wahrnehmbaren Körpern antrifft, nimmt man sie bei allen an. Daß mehrere Körper hart sind, erfahren wir durch Versuche. Die Härte des Ganzen entspringt aus der Härte der Teile, und hieraus schließen wir mit Recht, daß nicht nur die wahrnehmbaren Teile dieser Körper, sondern auch die unzerlegbaren Teilchen aller Körper hart sind. Daß alle Körper undurchdringlich sind, leiten wir nicht aus der Vernunft, sondern aus Versuchen ab. Alles was wir unter Händen haben, finden wir undurchdringlich, und daraus schließen wir, daß die Undurchdringlichkeit eine Eigenschaft aller Körper ist. Daß alle Körper beweglich sind und vermöge einer gewissen Kraft (welche wir die Kraft der Trägheit nennen) in der Bewegung oder Ruhe verharren, schließen wir daraus, daß wir diese Eigenschaften an allen betrachteten Körpern wahrgenommen haben. Die Ausdehnung, Härte, Undurchdringlichkeit, Beweglichkeit und Kraft der Trägheit des Ganzen entspringt aus denselben Eigenschaften der Teile; hieraus schließen wir, daß die kleinsten Teile der Körper ebenfalls ausgedehnt, hart, undurchdringlich, beweglich und mit der Kraft der Trägheit begabt sind. Hierin besteht die Grundlage der gesamten Naturlehre. Ferner lernen wir aus den Erscheinungen, daß die sich wechselseitig berührenden Teile der Körper voneinander

getrennt werden können. Daß man durch Rechnung die Teile noch in kleinere zerlegen könne, ist aus der Mathematik bekannt; ob man diese so zerlegt gedachten Teile durch Kräfte der Natur darstellen könne, ist ungewiß. Wenn es sich aber durch einen Versuch ergäbe, daß einige unzerlegte Teilchen, durch Zerbrechung eines harten und festen Körpers, eine Teilung vertrügen, so würden wir daraus nach dieser Regel schließen, daß nicht nur zerlegte Teile trennbar seien, sondern daß auch unzerlegte ins Unendliche geteilt werden können. Sind endlich alle Körper in der Umgebung der Erde gegen diese schwer, und zwar im Verhältnis der Menge der Materie in jedem; ist der Mond gegen die Erde nach Verhältnis seiner Masse, und umgekehrt unser Meer gegen den Mond schwer; hat man ferner durch Versuche und astronomische Beobachtungen erkannt, daß alle Planeten wechselseitig gegeneinander und die Kometen gegen die Sonne schwer sind; so muß man nach dieser Regel behaupten, daß alle Körper gegeneinander schwer seien. Stärker ist der Beweis in bezug auf die allgemeine Schwere als auf die Undurchdringlichkeit der Körper, über welche letztere wir keinen Versuch und keine Beobachtung der Himmelskörper haben. Ich behaupte aber doch nicht, daß die Schwere den Körpern wesentlich zukomme. Unter eigentümlicher Kraft begreife ich die Kraft der Trägheit, welche unveränderlich ist, wogegen die Schwere mit der Entfernung von der Erde abnimmt. 4. Regel. In der Experimentalphysik muß man die aus den Erscheinungen durch Induktion geschlossenen Sätze, wenn nicht entgegengesetzte Voraussetzungen vorhanden sind, entweder genau oder

sehr nahe für wahr halten, bis andere Erscheinungen eintreten, durch welche sie entweder größere Genauigkeit erlangen oder Ausnahmen unterworfen werden. Dies muß geschehen, damit nicht das Argument der Induktion durch Hypothesen aufgehoben werde.› (ISAAC NEWTONS Mathematische Prinzipien der Naturlehre, hg. von J. Wolfers, Berlin 1872, III. Buch, S. 380). Drittes Buch der ‹Mathematischen Prinzipien der Naturlehre› Fünfter Abschnitt: Von den Kometen ‹Dies hatte ich von Gott zu sagen, dessen Werke zu untersuchen die Aufgabe der Naturlehre ist. Ich habe bisher die Erscheinungen der Himmelskörper und die Bewegungen des Meeres durch die Kraft der Schwere erklärt, aber ich habe nirgends die Ursache der letzteren angegeben. Diese Kraft rührt von irgendeiner Ursache her, welche bis zum Mittelpunkt der Sonne und der Planeten dringt, ohne irgend etwas von ihrer Wirksamkeit zu verlieren. Sie wirkt nicht nach Verhältnis der Oberfläche derjenigen Teilchen, worauf sie einwirkt (wie die mechanischen Ursachen), sondern nach Verhältnis der Menge fester Materie, und ihre Wirkung erstreckt sich nach allen Seiten hin, bis in ungeheure Entfernungen, indem sie stets im doppelten Verhältnis der letzteren abnimmt. Die Schwere gegen die Sonne ist aus der Schwere gegen jedes ihrer Teilchen zusammengesetzt, und sie nimmt mit der Entfernung von der Sonne genau im doppelten Verhältnis der Abstände ab, und dies geschieht bis zur Bahn des

Saturns, wie die Ruhe der Aphelien der Planeten beweist; sie erstreckt sich ferner bis zu den äußeren Aphelien der Kometen, wenn diese Aphelien in Ruhe sind. Ich habe noch nicht dahin gelangen können, aus den Erscheinungen den Grund dieser Eigenschaften der Schwere abzuleiten, und Hypothesen erdenke ich nicht. Alles nämlich, was nicht aus den Erscheinungen folgt, ist eine Hypothese, und Hypothesen, seien sie nun metaphysische oder physische, mechanische oder diejenigen der verborgenen Eigenschaften, dürfen nicht in die Experimentalphysik aufgenommen werden. In dieser leitet man die Sätze aus den Erscheinungen ab und verallgemeinert sie durch Induktion. Auf diese Weise haben wir die Undurchdringlichkeit, die Beweglichkeit, den Stoß der Körper, die Gesetze der Bewegung und der Schwere kennengelernt. Es genügt, daß die Schwere existiere, daß sie nach den von uns dargelegten Gesetzen wirke und daß sie alle Bewegungen der Himmelskörper und des Meeres zu erklären imstande sei. Es würde hier der Ort sein, etwas über die geistige Substanz hinzuzufügen, welche alle festen Körper durchdringt und in ihnen enthalten ist. Durch die Kraft und Tätigkeit dieser geistigen Substanz ziehen sich die Teilchen der Körper wechselseitig in den kleinsten Entfernungen an und haften aneinander, wenn sie sich berühren. Durch sie wirken die elektrischen Körper in den größten Entfernungen, sowohl um die nächsten Körperchen anzuziehen, als auch sie abzustoßen. Mittels dieses geistigen Wesens strömt das Licht aus, wird zurückgeworfen, gebeugt, gebrochen und erwärmt

die Körper. Alle Gefühle werden erregt und die Glieder der Tiere nach Belieben bewegt, durch die Vibrationen desselben, welche sich von den äußeren Organen der Sinne, mittels der festen Fäden der Nerven bis zum Gehirn und hierauf von diesem zu den Muskeln fortpflanzen. Diese Dinge lassen sich aber nicht mit wenigen Worten erklären, und man hat noch keine hinreichende Anzahl von Versuchen, um genau die Gesetze bestimmen und beweisen zu können, nach welchen diese allgemeine geistige Substanz wirkt.› (ISAAC NEWTONS Mathematische Prinzipien der Naturlehre, hg. v.J. Wolfers, Berlin, 1872, III. Buch, S. 511.)   Werke: Philosophiae naturalis principia mathematica, 1687, dt. 1872 und 1932 / Optics, 1704, dt. in Ostwalds Klassik. d. Naturw. Nr. 96/97 / Arithmetica universalis, 1707 / Analysis, 1711 / Opuscula mathematica, philosophica et philologica, hg. v.J. Castillioneus, Bd. 1–3, Lausanne 1744. Gesamtausgabe 1779–1785 (5 Bde.), hg.v.Samuel Horsley. Schriften über. I.N.: G.J. GRAY: Bibliography of the Works of N., 2. Aufl. 1907 / F. ROSENBERGER: I.N. und seine physikalischen Prinzipien (1895) F. DESSAUER: Weltfahrt der Erkenntnis. Leben u. Werk I. N.’s 1945 / H. G. STEINMANN: Über den Einfluß N.’s auf die Erkenntnistheorie seiner Zeit, 1913 / K. POPP: JAKOB BOEHME und I.N., 1935.

II. Die Entstehung des mechanistischen und materialistischen Weltbildes

1. Anwendung der Methode der Newtonschen Mechanik auf weitere Gebiete (Optik) Christian Huygens (14.4.1629–8.6.1695) Die Methode der Newtonschen Mechanik wurde auf immer weiteren Bereichen der Natur angewandt. Man versuchte, Einzelheiten aus dem Naturgeschehen herauszuschälen und ihre ‹Gesetze› festzulegen. So heißt es in der Vorrede zu HUYGENS’ ‹Abhandlung über das Licht› (1690): ‹Man wird (in dieser Arbeit) Beweise von der Art finden, welche nicht eine ebenso große Gewißheit wie diejenigen der Geometrie gewähren und welche sich sogar sehr davon unterscheiden, weil hier die Prinzipien sich durch Schlüsse bewahrheiten, welche man daraus zieht, während die Geometer ihre Sätze aus sicheren und unanfechtbaren Grundsätzen beweisen: die Natur der behandelten Gegenstände bedingt dies. Es ist dabei gleichwohl möglich, bis zu einem Wahrscheinlichkeitsgrade zu gelangen, der sehr oft einem strengen Beweise nichts nachgibt. Dies ist nämlich der Fall, wenn die Folgerungen, welche man unter Voraussetzung dieser Prinzipien gezogen hat, vollständig mit den

Erscheinungen im Einklang sind, welche man aus der Erfahrung kennt; besonders wenn deren Zahl groß ist, und vorzüglich noch, wenn man neue Erscheinungen sich ausdenkt und voraussieht, welche aus der gemachten Annahme folgen, und findet, daß dabei der Erfolg unserer Erwartung entspricht. Wenn nun alle diese Wahrscheinlichkeitsbeweise bei den Gegenständen, welche zu behandeln ich mir vorgenommen habe, zusammenstimmen, wie sie es nach meinem Dafürhalten wirklich tun, so muß dieser Umstand den Erfolg meiner Forschungsweise in hohem Maße bestätigen, und es ist kaum möglich, daß die Dinge sich nicht nahezu so verhalten, wie ich sie darstelle.› Das Licht wird nun von CH.HUYGENS als die Bewegung einer gewissen Materie erklärt, bzw. seine Wirkungen werden auf mechanische Gründe zurückgeführt. Es sei vorausgeschickt, daß HUYGENS, wenn er von ‹Philosophie› spricht, dieses Wort in seinem ursprünglichen Sinne, dem der Liebe zum Wissen, meint. Als Beispiel dafür, daß die Newtonsche Mechanik auf immer weitere Naturerscheinungen Anwendung findet, bringen wir im folgenden ein Kapitel aus HUYGENS’ ‹Abhandlung über das Licht›. ‹Über die geradlinige Ausbreitung der Strahlen›

‹Die Beweisführungen der Optik gründen sich, wie in allen Wissenschaften, in welchen die Geometrie auf die Materie angewandt wird, auf Wahrheiten, welche aus der Erfahrung abgeleitet sind; wie zum Beispiel, daß die Lichtstrahlen sich

geradlinig ausbreiten, daß Reflexions- und Einfallswinkel gleich sind und daß bei der Brechung der Strahl nach der Sinusregel gebrochen wird, die jetzt so bekannt und nicht weniger sicher ist als die vorhergehenden. Die Mehrzahl derjenigen, welche über die verschiedenen Teile der Optik geschrieben haben, haben sich damit begnügt, diese Wahrheiten vorauszusetzen. Einige mehr Wißbegierige waren bestrebt, ihren Ursprung und ihre Ursachen aufzusuchen, da sie dieselben an und für sich als bewundernswerte Wirkungen der Natur betrachteten. Da aber die hierbei vorgebrachten Ansichten zwar geistreich, jedoch nicht derart sind, daß die Verständigeren nicht Erklärungen wünschen sollten, welche ihnen besser genügen, so will ich hier dasjenige vorlegen, was ich über diesen Gegenstand gedacht habe, um nach meinen Kräften zur Klärung dieses Teiles der Naturwissenschaft beizutragen, welcher nicht ohne Grund für einen der schwierigsten gilt. Ich erkenne an, daß ich denjenigen großen Dank schulde, welche zuerst angefangen haben, die seltsame Dunkelheit zu zerstreuen, in welche diese Dinge gehüllt waren, und die Hoffnung zu erwecken, daß sie sich durch verständliche Gründe erklären lassen. Aber ich bin andererseits auch erstaunt, daß sie sehr häufig wenig einleuchtende Schlußfolgerungen als höchst sicher und beweisend haben gelten lassen; hat ja doch meines Wissens noch niemand auch nur die ersten und wichtigsten Erscheinungen des Lichtes annehmbar erklärt, nämlich warum es sich nur in geraden Linien fortpflanzt und wie die Lichtstrahlen, welche aus unendlich

vielen verschiedenen Richtungen herkommen, sich kreuzen, ohne sich gegenseitig irgendwie zu hindern. Ich werde daher in diesem Buche versuchen, gemäß den in der heutigen Philosophie angenommenen Prinzipien für die Eigenschaften zuerst des geradlinig sich ausbreitenden, sodann des bei der Begegnung mit anderen Körpern zurückgeworfenen Lichtes klarere und wahrscheinlichere Gründe anzugeben. Hierauf werde ich die Erscheinungen der Strahlen erklären, welche beim Durchgang durch verschiedenartige durchsichtige Körper eine sogenannte Brechung erleiden; hierbei werde ich auch die Wirkungen der Brechung in der Luft infolge der verschiedenen Dichtigkeitszustände der Atmosphäre behandeln. Hierauf werde ich die Ursache der seltsamen Lichtbrechung eines gewissen Krystalls untersuchen, welchen man von Island holt. An letzter Stelle werde ich von den verschiedenen Gestalten durchsichtiger und zurückwerfender Körper handeln, durch welche die Strahlen in einem Punkte vereinigt oder in mannigfaltiger Weise abgelenkt werden. Hierbei wird man sehen, mit welcher Leichtigkeit nach unserer neuen Theorie nicht nur die Ellipsen, Hyperbeln und andere Curven gefunden werden, welche DESCARTES für diese Wirkung scharfsinnig erdacht hat, sondern auch noch diejenigen, welche die eine Oberfläche eines Glases bilden müssen, wenn die andere Oberfläche als kugelförmig, eben oder irgendwie gestaltet gegeben ist. Man wird nicht zweifeln können, daß das Licht in der Bewegung einer gewissen Materie besteht. Denn betrachtet man seine

Erzeugung, so findet man, daß hier auf der Erde hauptsächlich das Feuer und die Flamme dasselbe erzeugen, welche ohne Zweifel in rascher Bewegung befindliche Körper enthalten, da sie ja zahlreiche andere sehr feste Körper auflösen und schmelzen; oder betrachtet man seine Wirkungen, so sieht man, daß das, etwa durch Hohlspiegel, gesammelte Licht die Kraft hat, wie das Feuer zu erhitzen, d.h. die Teile der Körper zu trennen; dies deutet sicherlich auf Bewegung hin, wenigstens in der wahren Philosophie, in welcher man die Ursache aller natürlichen Wirkungen auf mechanische Gründe zurückführt. Dies muß man meiner Ansicht nach tun oder völlig auf jede Hoffnung verzichten, jemals in der Physik etwas zu begreifen. Da man nun nach dieser Philosophie für sicher hält, daß der Gesichtssinn nur durch den Eindruck einer gewissen Bewegung eines Stoffes erregt wird, der auf die Nerven im Grunde unserer Augen wirkt, so ist dies ein weiterer Grund zu der Ansicht, daß das Licht in einer Bewegung der zwischen uns und dem leuchtenden Körper befindlichen Materie besteht. Wenn man ferner die außerordentliche Geschwindigkeit, mit welcher das Licht sich nach allen Richtungen hin ausbreitet, beachtet und erwägt, daß, wenn es von verschiedenen, ja selbst von entgegengesetzten Stellen herkommt, die Strahlen sich einander durchdringen, ohne sich zu hindern, so begreift man wohl, daß, wenn wir einen leuchtenden Gegenstand sehen, dies nicht durch die Übertragung einer Materie geschehen kann, welche von diesem Objekte bis zu uns gelangt, wie etwa ein Geschoß oder ein Pfeil die Luft durchfliegt; denn dies

widerstreitet doch zu sehr diesen beiden Eigenschaften des Lichtes und besonders der letzteren. Es muß sich demnach auf eine andere Weise ausbreiten, und gerade die Kenntnisse, welche wir von der Fortpflanzung des Schalles in der Luft besitzen, kann uns dazu führen, sie zu verstehen. Wir wissen, daß vermittels der Luft, die ein unsichtbarer und ungreifbarer Körper ist, der Schall sich im ganzen Umkreis des Ortes, wo er erzeugt wurde, durch eine Bewegung ausbreitet, welche allmählich von einem Luftteilchen zum anderen fortschreitet, und daß, da die Ausbreitung dieser Bewegung nach allen Seiten gleich schnell erfolgt, sich gleichsam Kugelflächen bilden müssen, welche sich immer mehr erweitern und schließlich unser Ohr treffen. Es ist nun zweifellos, daß auch das Licht von den leuchtenden Körpern bis zu uns durch irgendeine Bewegung gelangt, welche der dazwischen befindlichen Materie mitgeteilt wird; denn wir haben ja bereits gesehen, daß dies durch die Fortführung eines Körpers, der etwa von dort hierher gelangt, nicht geschehen kann. Wenn nun, wie wir alsbald untersuchen werden, das Licht zu seinem Wege Zeit gebraucht, so folgt daraus, daß diese dem Stoffe mitgeteilte Bewegung eine allmähliche ist und darum sich ebenso wie diejenige des Schalles in kugelförmigen Flächen oder Wellen ausbreitet; ich nenne sie nämlich Wellen wegen der Ähnlichkeit mit jenen, welche man im Wasser beim Hineinwerfen eines Steines sich bilden sieht, weil diese eine ebensolche allmähliche Ausbreitung in die Runde wahrnehmen lassen, obschon sie aus einer anderen Ursache entspringen und nur in einer ebenen Fläche sich bilden.›

(CHRISTIAN HUYGENS, Abhandlung über das Licht, (1690), hg. v.E. Lommel, 3. Auflage, S. 9, in Ostwalds Klassiker Nr. 20, Leipzig, 1913.)   Werke: Oeuvres complètes, hg.v.Société Hollandaise des Sciences, 22 Bde., 1888–1950 / Traité de la lumière (1690) / Horologium oscillatorium (Die Pendeluhr, 1673), beide dt. in Ostwalds Klassiker Nr. 20 und Nr. 192 (1913) / Cosmotheoros (Himmelskunde), 1698 / Abhandlungen ü.d.Ursache der Schwere, dt. v. R. Mewes, 1893.   Schriften über Ch.H.: J. BOSSCHA: Ch.H., dt. 1895 / PH. LENARD: Große Naturforscher, 1929 / A. B. BELE: Ch.H. and the Development of Science, 1948 / E.J. DIJKSTERHUIS: Ch.H., Haarlem 1951.

2. Entstehung des mechanistischen und materialistischen Weltbildes Mit dem neuen Aufblühen der Naturwissenschaften im 17. Jahrh. entstehen die gelehrten Gesellschaften. (Académie Française in Paris 1635, Royal Society in London 1663). In Zusammenhang mit den Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Forschung beginnen nun auch neue philosophische Strömungen sich zu zeigen. Hierauf einzugehen ist nicht unsere Aufgabe. Lediglich auf drei Philosophen sei hingewiesen: PETRUS GASSENDI(1592–1655), ROBERT BOYLE

(1627–1691) und RENÉ DESCARTES (1596 bis 1650). Ihr Denken wird sich in der Blütezeit des mechanistischen Denkens metaphysisch auswirken. GASSENDI, ursprünglich Lehrer der Rhetorik und Professor der Philosophie, lehrte Mathematik in Paris. Ihm schien der Atomismus EPIKURS geeignet, eine kausalmechanische Erklärung des Naturgeschehens zu liefern. Wenn die Materie sich auch mathematisch unendlich teilen läßt, so stößt man praktisch doch zuletzt auf unzerlegbare Atome, die Härte und Undurchdringlichkeit besitzen. Sämtliche Phänomene, ihr Entstehen und Vergehen beruhen auf der Verbindung und Trennung dieser Atome, die eine immanente Neigung zur Bewegung haben. Wichtig ist wohl, daran zu erinnern, daß GASSENDI die atomistische Ordnung auf Gott zurückführt. DURCH GASSENDI wurde auch der Engländer ROBERT BOYLE (1627–1691) für die atomistische Naturerklärung gewonnen. Es gibt nur eine einzige, ausgedehnte, undurchdringliche, teilbare Materie; durch die Bewegung entstehen kleinste Körperchen von bestimmter Größe, Gestalt und Lage, die sich zu zusammengesetzten Körpern verbinden. Auch bei BOYLE ist Ursache der Bewegung Gott. In seinem ‹Chymista scepticus› (1668) heißt es: ‹Wenn wir Teilchen, aus denen jedes Element besteht, eine bestimmte Größe und Gestalt beilegen, so kann leicht genug dargetan werden, daß solch verschieden gestaltete Teilchen in so verschiedenen Verhältnissen gemischt und auf so vielerlei verschiedene Weise verbunden werden können, daß eine fast unglaubliche Anzahl verschiedengearteter fester Körper aus ihnen zusammengesetzt werden kann; besonders

da die Teilchen eines einzelnen Elements durch bloße Verbindung untereinander kleine Massen bilden können, die sich in bezug auf Größe und Gestalt von den Teilen, aus denen sie sich zusammensetzen, unterscheiden.› Für RENÉ DESCARTES (1596–1650) wird die Mathematik der Weg zur Erforschung der Wahrheit. Ausgehend von einem psychophysischen Dualismus, d.h. von der Unterscheidung einer denkenden und einer lediglich ausgedehnten Substanz, hat er als erster versucht, eine Mechanik nicht bloß des Himmels, sondern auch der Seele, der anorganischen wie der organischen Natur zu entwickeln: Physiologie wie Astronomie gelten ihm als rein mechanische Wissenschaften. Die Natur ist nur durch sie selbst zu erklären, und ihre Gesetze sind mit denen der Mechanik identisch. Schon bei ihm wird der wachsende Einfluß der Naturwissenschaften spürbar, deren Forschungsergebnisse ihm als Bestätigung der Prinzipien seines philosophischen Weltbildes dienen. Der Drang, aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen philosophische Schlüsse zu ziehen, macht sich also immer mehr geltend: die Bescheidenheit, mit der den Naturgesetzen Gültigkeit nur im Rahmen der jeweiligen Fragestellung und für streng begrenzte Gebiete zuerkannt wurde (es war oben S. 60 ausführlich davon die Rede), wird aufgegeben. Das mechanistische Denken gibt daher den Anstoß zu einer sich allmählich durchsetzenden materialistischen Weltanschauung, die sich in der Aufklärung voll entfaltet und in England von JOHN LOCKE (1632–1704) vertreten wird. Die französische Aufklärung, die ihr grundlegendes Dokument in der berühmten ‹Enzyklopädie

der Wissenschaften, Künste und Gewerbe› (1751) erhält, bekommt durch VOLTAIRE und D’ALEMBERT ihre Prägung. Aus dem im folgenden wiedergegebenen Abschnitt aus der ‹Einleitung zur Enzyklopädie› (1751) wird deutlich, daß die vorsichtige Haltung der klassischen Naturwissenschaftler, die den Geltungsbereich der Aussagen ihrer Beobachtungen konsequent beschränkten, verlorenging. Hier wird vielmehr versucht, das gesamte Wissen aus den sinnlichen Wahrnehmungen des Menschen abzuleiten. Aus der Naturwissenschaft entsteht also eine eigene, an sich unkritische Philosophie. Einige Äußerungen weiterer materialistischer Autoren sollen diese Entwicklung verdeutlichen. Jean Lerond d’Alembert (16.1.1717–29.10.1783) Materie und Bewegung sind die Voraussetzung der Statik und der Mechanik. Man ist stolz, darauf hinweisen zu können, daß die erkannten Gesetze des Gleichgewichts und der Bewegung an den Körpern, welche uns umgeben, wirklich beobachtet werden und daher von notwendiger Gültigkeit sind. Man verzichtet nun auf jede metaphysische Erklärung, wie es D’ALEMBERT in der Vorrede zum ‹Traité de dynamique› (Paris 1743) zum Ausdruck bringt, indem er sagt: ‹Aus allen diesen Überlegungen folgt, daß die Gesetze der Statik und der Mechanik, die in diesem Buche auseinandergesetzt sind, diejenigen sind, welche aus der Existenz der Materie und der Bewegung folgen. Nun lehrt uns die Erfahrung, daß diese Gesetze an den Körpern, welche uns umgeben, wirklich beobachtet werden. Die Gesetze des Gleichgewichts und der Bewegung, wie die

Beobachtung sie uns kennen lehrt, sind also von notwendiger Gültigkeit. Ein Metaphysiker würde sich vielleicht mit dem Beweis begnügen, daß er sagt, es wäre in der Weisheit des Schöpfers und in der Einfachheit seiner Gesichtspunkte gelegen, keine anderen Gesetze des Gleichgewichts und der Bewegung aufzustellen als jene, welche aus der Existenz der Körper selbst und aus ihrer gegenseitigen Undurchdringlichkeit folgen; wir aber glaubten, uns dieser Art von Überlegung enthalten zu sollen, da sie uns auf ein zu vages Prinzip zu führen schien; die Natur des Höchsten Wesens ist uns viel zu verborgen, als daß wir erkennen könnten, was mit den Grundsätzen seiner Weisheit übereinstimmt, und was nicht; wir können nur das Wirken dieser Weisheit bei der Beobachtung der Gesetze der Natur ahnen, wenn die mathematische Überlegung uns die Einfachheit dieser Gesetze hat erkennen lassen, und wenn Erfahrung uns die Tragweite und den Gültigkeitsbereich derselben gelehrt hat.› Das materialistische Weltbild, sich gründend auf die Gesetze der Mechanik, ist nun reif geworden: die Natur gestaltet sich zu einem System von Bewegungen, Energien, von meßbaren Größen. ‹Einleitung zur Enzyklopädie› von 1751

‹Alle unsere unmittelbaren Erkenntnisse lassen sich auf sinnliche Wahrnehmungen zurückführen; daraus folgt, daß es die Sinneserfahrungen sind, denen wir alle Vorstellungen verdanken. Bei diesem halb notgedrungenen, halb spielerisch unternommenen Studium der Natur stellen wir an den Dingen sehr viele

Eigenschaften fest, die aber meist in einem einzigen Gegenstand so ineinander übergehen, daß wir sie zur gründlicheren Einzeluntersuchung jede für sich vornehmen müssen. Diese geistige Arbeit läßt uns bald Eigenschaften entdecken, die allen Lebewesen gemeinsam zu sein scheinen, wie etwa das Fortbewegungs- und das Beharrungsvermögen sowie die Fähigkeit, Bewegung fortzupflanzen, der die wesentlichsten Veränderungen entspringen, die wir in der Natur beobachten können. Eine mit Hilfe unserer Sinne vorgenommene Untersuchung insbesondere dieser letzten Eigenschaften läßt uns bald eine weitere entdecken, von der die anderen abhängen: die Dichtigkeit, d.h. jene Qualität, der zufolge ein Körper den anderen von dem Platz ausschließt, den er selbst einnimmt, so daß also zwei einander äußerst nahegebrachte Körper niemals einen kleineren Raum einnehmen können als zwei getrennte Körper. Diese Eigenschaft der Dichtigkeit ist es hauptsächlich, die uns die Körper von jenen Teilen des unendlichen Raumes unterscheiden läßt, in die wir sie hineingestellt denken; so beurteilen es wenigstens unsere Sinne; und wenn sie uns über diesen Punkt täuschen sollten, so trüge der Irrtum so metaphysischen Charakter, daß unsere Existenz und unsere Selbsterhaltung nichts von ihm zu fürchten hätten und wir beständig und ohne es zu wollen einfach durch die gewohnte Art, die Dinge zu sehen, in diesen Irrtum zurückfallen würden. Alles weist uns darauf hin, den Raum als den wirklichen oder doch möglichen Ort der Körper zu betrachten; denn tatsächlich

gelangen wir erst mit Hilfe der als durchlässig und unbeweglich angesehenen Teile des Raumes zu der klarsten Vorstellung, die wir von der Bewegung haben können. Wir sind also gleichsam auf natürliche Weise gezwungen, wenigstens im Denken zwei Arten der Ausdehnung zu unterscheiden, deren eine undurchdringlich ist, während die andere den Ort der Körper ergibt. Weil nun die Dichtigkeit relativ ist, also eine Eigenschaft, von der wir uns nur durch den Vergleich zweier Körper eine Vorstellung machen können, gewöhnen wir uns bald daran, sie als eine von der Ausdehnung abweichende Eigenschaft anzusehen und die eine unabhängig von der anderen zu betrachten, obgleich die Dichtigkeit als notwendige Voraussetzung zu unserer Vorstellung von der Materie gehört. Nach dieser neuen Betrachtungsweise sehen wir die Körper nur noch als Teile des Raumes mit bestimmter Form und Ausdehnung. Damit haben wir den allgemeinsten und abstraktesten Gesichtspunkt, unter dem wir sie ins Auge fassen können, denn ein ausgedehnter Raum, in dem wir keine geformten Teile erkennen könnten, wäre nichts als ein entferntes und undeutliches Gemälde, bei dem alles in Nichts zerrönne, weil wir nichts unterscheiden könnten. Farbe und Form, die ständigen, wenn auch jeweils veränderlichen Eigenschaften des Körpers, dienen gewissermaßen zu dessen Abhebung vom Hintergrund, ja, eine von beiden genügt dazu schon. Wir ziehen daher bei einer möglichst begrifflichen Betrachtung der Körper die Form der Farbe vor, weil sie uns einmal infolge gleichzeitiger Erfassung durch Gesichts- und Tastsinn nähersteht, und weil andrerseits die Form eines Körpers ohne Farbe

leichter vorstellbar ist als die Farbe ohne Form; endlich auch, weil die Form eine leichtere und eindeutigere Festlegung der Raumteile gestattet. Somit gelangen wir also dazu, die Eigenschaften der Ausdehnung einfach von der Form her zu bestimmen. Und das ist das Anliegen der Geometrie, die zur Erleichterung ihrer Aufgabe zunächst den eindimensional begrenzten Raum betrachtet, dann zwei und schließlich alle drei Dimensionen in Erwägung zieht, die das Wesen eines intelligiblen Körpers, d.h. eines in jeder Hinsicht durch begriffliche Grenzen bestimmbaren Raumteiles ausmachen. Auf diese Weise entkleidet unser Geist planvoll durch Abstraktionen die Materie aller sinnfälligen Eigenschaften, um gleichsam nur ihr Schattenbild ins Auge zu fassen. Von vornherein wird man erkennen, daß die im Verlauf unserer Untersuchungen erzielten Entdeckungen jedesmal dann bedeutenden Nutzen bieten werden, wenn eine Berücksichtigung der Dichtigkeit der Körper nicht erforderlich ist, so z.B., wenn es sich um das Studium ihrer Bewegung handelt, wobei sie als geformte, bewegliche und voneinander entfernte Teile des Raumes angesehen werden. Diese Untersuchung des gestalteten Raumes veranlaßt uns zu einer großen Zahl von Kombinationen, und es bedarf der Erfindung irgendeines Mittels, um diese zu erleichtern. Da diese Kombinationen nun hauptsächlich in der Berechnung und im Verhältnis der einzelnen Teile bestehen, nach denen wir uns die geometrischen Körper zusammengesetzt denken, führt uns diese Untersuchung alsbald zur Arithmetik oder Wissenschaft von den

Zahlen, die nichts anderes ist als die Kunst, auf kürzestem Wege die Formel für eine einzige, letzte Gleichung zu finden, die sich aus dem Vergleich mehrerer anderer ergibt. Die verschiedenen Wege zum Vergleich dieser Beziehungen ergeben dann die einzelnen Regeln der Arithmetik. Weiterhin werden uns beim Nachdenken über diese Regeln schwerlich gewisse Prinzipien oder allgemeine Kennzeichen der Beziehungen entgehen, mit deren Hilfe wir, wenn wir sie in einer allgemeinen Formel zum Ausdruck bringen, ihre verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten zu ermitteln vermögen. Auf allgemeine Formeln gebracht, sind die Ergebnisse dieser Kombinationen tatsächlich nur vorschriftsmäßige arithmetische Berechnungen, vorgelegt in der einfachsten und kürzesten Gleichung, die ihr allgemeiner Charakter überhaupt zuläßt. Die Wissenschaft oder Kunst, die Beziehungen auf solche Art aufzuzeigen, führt den Namen Algebra. Obgleich also überhaupt keine Rechnung ohne Zahlen möglich und keine Größe ohne Ausdehnung meßbar ist (denn ohne den Raum könnten wir die Zeit nicht genau messen), gelangen wir durch fortschreitende Verallgemeinerung unserer Vorstellungen zum Grundbestandteil der Mathematik und aller Naturwissenschaften, nämlich zur allgemeinen Größenlehre. Sie bildet die Grundlage aller Entdeckungen, die in bezug auf die Quantität möglich sind, d.h. auf alles, was sich vergrößern oder verkleinern läßt. Deshalb geben wir dem gestalteten Raume, nachdem wir seine Eigenschaften durch mathematische Forschungen gewissermaßen

erschöpft haben, zunächst die Dichtigkeit zurück, die sein körperliches Sein bedingt und diejenige unter seinen feststellbaren Eigenschaften ist, die wir ihm zuletzt entzogen hatten. Diese neue Betrachtungsweise zieht notwendig eine Beobachtung der gegenseitigen Beeinflussung der Körper nach sich, denn die Körper wirken aufeinander eben nur durch ihre Undurchdringlichkeit. Aus dieser Tatsache werden die Gesetze des Gleichgewichts und der Bewegung abgeleitet, die den Gegenstand der Mechanik bilden. Wir dehnen unsere Forschungen sogar auf die Bewegung der Körper aus, die ihren Antrieb von unbekannten Kräften oder Bewegungsursachen erhalten, wenn das Gesetz, dem diese Kräfte gehorchen, als bekannt vorausgesetzt werden kann oder muß. Einen nicht weniger großen Nutzen bieten uns die mathematischen Kenntnisse bei der Untersuchung der uns hier auf der Erde umgebenden Körper. Alle an diesen Körpern beobachteten Eigenschaften weisen untereinander mehr oder weniger ins Auge fallende Zusammenhänge auf. Meist ist die Erkenntnis oder das Aufspüren dieser Beziehungen das letzte Ziel, zu dem wir vordringen können, und es sollte infolgedessen auch unser einziges sein. Nicht auf unbewiesene oder willkürliche Annahmen gründen wir also die Hoffnung auf Erkenntnis der Natur, sondern auf ein durchdachtes Studium der Erscheinungen, auf Vergleiche, die wir mit diesen anstellen, auf die Kunst, eine große Anzahl von ihnen nach Möglichkeit auf eine einzige zurückzuführen und diese eine Eigenschaft dann als Ursprung aller anzusetzen. Je enger man die Grundsätze einer Wissenschaft zahlenmäßig begrenzt, desto größer

wird tatsächlich deren Wirkungsbereich, denn da der Gegenstand einer Wissenschaft notwendig begrenzt ist, müssen die auf ihn bezogenen Grundlehren bei entsprechend geringerer Zahl um so ertragreicher sein. Nur die Algebra, die Geometrie und die Mechanik, also die sich mit der Berechnung der Größen und der allgemeinen räumlichen Eigenschaften befassenden Zweige kann man, genau genommen, als beglaubigt und bewiesen anerkennen.› (D’ALEMBERT: Einleitung zur Enzyklopädie von 1751, hg. v.E. Köhler, Hamburg 1955, Felix Meiner, S. 15, 33–41.)   Werke: Traité de dynamique (1743) / Traité de l’équilibre et du mouvement des fluides (1744) / Réflexions sur la cause générale des vents (1744) Discours préliminaire (Einleitung zur Enzyklopädie von 1751, dt. v. E. Hirschberg 1912 und von E. Köhler, Hamburg 1955) / Mélanges de littérature, d’histoire et de philosophie (1752) / Éléments de musique théorique et pratique (1752) / Recherches sur différents points importants du système du monde (1754) / Essai sur les éléments de philosophie (1759).   Schriften über I.L. D’A.: D. DIDEROT: Le rêve D’Alembert (1769, Erstdruck 1830) / J. BERTRAND: D’Alembert. (Paris 1889) / E. CASSIRER: Die Philosophie der Aufklärung, 1932 / M. MULLER: Essai sur la philosophie de J.D’Alembert 1926. Julien Offray De la Mettrie (25.12.1709–11.11.1751)

‹Der Mensch, eine Maschine›

‹Die Natur der Bewegung ist uns ebenso unbekannt wie die der Materie. Ebensowenig haben wir ein Mittel zum Verständnis dafür, wie Bewegung in der Materie entsteht, wofern man nicht mit dem Verfasser der ‹Geschichte der Seele› die alte, unverständliche Lehre von den ‹substantiellen Formen› neu erwecken will. Ich bin also darüber, daß ich nicht weiß, wie die träge und einfache Materie zur tätigen und zusammengesetzten der Organe wird, ebenso leicht getröstet wie darüber, daß ich ohne rotes Glas nicht in die Sonne sehen kann. In der gleichen glücklichen Gemütsverfassung befinde ich mich gegenüber den andern unbegreiflichen Wundern der Natur, ich meine die Erzeugung der Empfindung und des Gedankens in einem Wesen, welches einst unsern beschränkten Augen nur als ein wenig Schmutz erschien. Gibt man mir nur zu, daß die organisierte Materie mit einem Bewegungsprinzip begabt ist, welches allein sie von der nicht organisierten unterscheidet (und wer könnte sich dessen bei so unwiderleglichen Beobachtungen weigern?), und daß bei den Tieren alles von den Verschiedenheiten dieser Organisation abhängt, was ich ja zur Genüge bewiesen habe, so genügt das, um das Rätsel der Substanzen und das des Menschen zu erraten. Man sieht, daß es überhaupt nur eine Substanz auf der Welt gibt und daß der Mensch ihr vollkommenster Ausdruck ist. Er ist im Vergleich zu den Affen und den klügsten Tieren, was die Planetenuhr von HUYGENS im Vergleich zu einer Uhr des Königs Julianus ist. Wenn man mehr Instrumente, mehr Räder und mehr Federn brauchte, um die

Bewegung der Planeten, als um die Stunden anzuzeigen und zu wiederholen, wenn Vaucanson mehr Kunst anwenden mußte, um seinen Flötenspieler, als um seine Ente zu machen, so hätte er noch mehr Kunst anwenden müssen, um einen ‹Sprecher› herzustellen; eine solche Maschine darf, insbesondere unter den Händen eines solchen neuen Prometheus, nicht mehr als eine Unmöglichkeit angesehen werden. Ebenso war es nötig, daß die Natur mehr Kunst und Technik aufwandte, um eine Maschine herzustellen und zu unterhalten, die ein ganzes Jahrhundert lang alle Bewegungen des Herzens und des Geistes anzeigen sollte; denn wenn man am Puls auch nicht die Stunden abzählen kann, so ist er doch ein Barometer für die Wärme und Lebhaftigkeit, aus der man auf die Natur der Seele schließen kann. Ich täusche mich sicher nicht, der menschliche Körper ist eine Uhr, aber eine erstaunliche und mit soviel Kunst und Geschicklichkeit verfertigte, daß, wenn das Sekundenrad stillsteht, das Minutenrad seinen Gang immer weiter geht, und ebenso das Viertelstundenrad und alle die andern in ihrer Bewegung fortfahren, wenn die ersteren verrostet oder aus irgendeiner Ursache verdorben sind und ihren Gang unterbrochen haben. Denn es ist doch so, daß die Verstopfung einiger Gefäße nicht ausreicht, den Stützpunkt aller Bewegungen zu zerstören oder zu unterbrechen, der im Herzen als in dem treibenden Teil der Maschine liegt; im Gegenteil, es haben dann die Flüssigkeiten, deren Volumen vermindert ist, einen kürzeren Weg zu machen und durchlaufen ihn deshalb desto schneller; außerdem werden sie in dem Verhältnis, in dem die Kraft

des Herzens sich durch den Widerstand am Ende der Gefäße vermehrt, wie durch eine neu hinzutretende Strömung fortgerissen. Wenn durch einen bloßen Druck auf den Sehnerven dieser das Bild der Gegenstände nicht mehr durch sich gehen läßt, weshalb sollte da der Verlust des Gesichts den Gebrauch des Gehörs hindern, oder der Verlust dieses Sinnes durch die Aufhebung der Funktionen der Portio mollis auch den des Gesichts zur Voraussetzung haben? Kommt es nicht vor, daß der eine versteht, ohne nachsprechen zu können, was er versteht (wenigstens wenn erst einige Zeit nach einem Schlaganfall vorüber ist), und daß ein anderer, der nichts auffaßt, dessen Zungennerven im Gehirn aber frei sind, maschinenmäßig alle Träume, die ihm durch den Kopf gehen, erzählt? Solche Erscheinungen können aufgeklärte Ärzte durchaus nicht überraschen. Sie wissen, woran sie sich in bezug auf die Natur des Menschen zu halten haben; von zwei Ärzten ist, nebenbei bemerkt, meiner Ansicht nach immer derjenige der bessere und vertrauenswürdigere, der in der Physik oder Mechanik des menschlichen Körpers bewanderter ist und die Seele und alle die Besorgnisse, die dieses Hirngespinst den Narren und Nichtwissern einflößt, beiseite liegen läßt und sich nur um die reinen Naturwissenschaften bekümmert …› (DE LA METTRIE, Der Mensch eine Maschine, S. 57ff [1748]. Übers., mit einer Vorrede u.Anmerkungen versehen v.Max Brahn, Leipzig 1909.) Wilhelm Ostwald (2.9.1853–4.4.1932)

‹Vorlesungen über Naturphilosophie›

‹Der Name Naturphilosophie, mit dem ich den Inhalt unserer bevorstehenden Besprechungen zu bezeichnen versucht habe, besitzt einen üblen Klang. Er erinnert an eine geistige Bewegung, welche vor hundert Jahren in Deutschland herrschend war; ihren Führer hatte sie in dem Philosophen SCHELLING, der durch die Macht seiner Persönlichkeit bereits in sehr jungen Jahren einen ungeheuren Einfluß gewonnen hatte und die Denkweise seiner Zeitgenossen in weitestem Maße bestimmte. Doch erstreckte sich dieser Einfluß nur auf SCHELLINGS Landesgenossen, die Deutschen, und allenfalls die Skandinavier; England und Frankreich verhielten sich gegen ‹Naturphilosophie› völlig ablehnend. Auch dauerte in Deutschland ihre Herrschaft nicht sehr lange; die unbestrittene im ganzen höchstens zwanzig Jahre. Insbesondere die Naturforscher, für welche in erster Linie die Naturphilosophie gemeint war, wendeten sich bald vollständig von ihr ab, und die Verurtheilung, die sie später erfuhr, war ebenso leidenschaftlich, wie vorher ihre Verhimmelung gewesen war. Um ein Bild von den Empfindungen zu geben, die sie in ihren früheren Anhängern hernach erregte, brauchen wir uns nur LIEBIGS Worte zu vergegenwärtigen, mit denen er seinen Ausflug in das Gebiet der Naturphilosophie gekennzeichnet hat: ‹Auch ich habe diese an Worten und Ideen so reiche, an wahrem Wissen und gediegenen Studien so arme Periode durchlebt, sie hat mich um zwei kostbare Jahre meines Lebens gebracht; ich kann den Schreck und das

Entsetzen nicht schildern, als ich aus diesem Taumel zum Bewußtsein erwachte.› Bei solcher Wirkung, welche die Naturphilosophie auf ihre eigenen früheren Jünger hervorbrachte, kann es nicht Wunder nehmen, daß diese Art des Denkens bald völlig aus den Kreisen der Naturforscher verschwand. Sie wurde durch die mechanischmaterialistische Weltauffassung ersetzt, welche um die gleiche Zeit in England und Frankreich ihre Ausbildung erfahren hatte. Infolge der irrtümlichen Meinung ihrer Anhänger, daß diese Auffassung eine hypothesenfreie Darstellung der Wirklichkeit sei, verband sich mit dieser geistigen Wendung eine ausgeprägte Abneigung gegen andere Betrachtungen allgemeinen Charakters. Man brandmarkte solche als ‹spekulativ›, und noch bis auf den heutigen Tag wird diese Bezeichnung in naturwissenschaftlichen Kreisen als ein Schimpfwort empfunden. Es ist hierbei lehrreich, zu bemerken, daß die Abneigung sich thatsächlich nicht gegen spekulative Betrachtungen im allgemeinen, sondern nur gegen solche richtete, die nicht dem Anschauungskreise der mechanistischen Philosophie angehörten; letztere wurden allerdings nicht als spekulativ angesehen, sondern man verstand sie noch nicht von unmittelbaren wissenschaftlichen Ergebnissen zu unterscheiden. Jene antiphilosophische Denkweise war also wenigstens subjektiv vollkommen ehrlich gemeint und empfunden. Daß die Naturphilosophie bei den Naturforschern dem Materialismus gegenüber so schnell und gründlich unterlag, hatte seine Ursache einfach in den praktischen Ergebnissen. Während die

deutschen Naturphilosophen ganz vorwiegend über die Naturerscheinungen nachdachten und schriftstellerten, rechneten und experimentierten die Vertreter der anderen Richtung und konnten bald eine Fülle thatsächlicher Ergebnisse aufweisen, durch welche die so außerordentlich schnelle Entwicklung der Naturwissenschaften im neunzehnten Jahrhundert der Hauptsache nach bewirkt wurde. Diesen greifbaren Beweisen der Überlegenheit konnten die Naturphilosophen nichts Gleichwertiges gegenüberstellen. Wenn auch bei ihnen die Entdeckungen nicht ausblieben, so war doch, entsprechend LIEBIGS Schilderung, der gleichzeitige Ballast an Worten und ergebnislosen Ideen so groß, daß die thatsächlichen Förderungen der Wissenschaft dagegen verschwanden. So ist denn die Zeit der Naturphilosophie als eine Zeit tiefen Niederganges deutscher Naturwissenschaft bekannt, und es erscheint als ein vermessenes Unternehmen für einen Naturforscher des zwanzigsten Jahrhunderts, unter dieser verrufenen Flagge segeln zu wollen. Nun könnte man allerdings dem Namen Naturphilosoph noch eine andere Bedeutung zubilligen. Man kann in Analogie mit den Bezeichnungen Naturarzt, Natursänger u.s.w. unter einem Naturphilosophen einen Mann verstehen, der Dinge treibt, die er nicht gelernt hat. Auch einer derartigen Deutung würde ich wehrlos gegenüberstehen. Denn ich bin meines Berufs Naturforscher, Chemiker und Physiker und darf die Philosophie nicht als eine Wissenschaft bezeichnen, die ich im üblichen Sinne studiert habe.

Selbst das ‹wilde› Studium der Philosophie, das ich durch vielfaches Lesen philosophischer Schriften betrieben habe, ist so wenig systematisch erfolgt, daß ich es nicht als einen irgendwie ausreichenden Ersatz des geregelten Studiums bezeichnen dürfte. So habe ich als Entschuldigung meines Unterfangens nur die Thatsache, daß auch der Naturforscher beim Betrieb seiner Wissenschaft unwiderstehlich auf die gleichen Fragen geführt wird, welche der Philosoph bearbeitet. Die geistigen Operationen, durch welche eine naturwissenschaftliche Arbeit geregelt und zu erfolgreichem Ende gebracht wird, unterscheiden sich ihrem Wesen nach nicht von denen, deren Ausführung die Philosophie untersucht und lehrt. Das Bewußtsein dieses Verhältnisses ist zwar in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zeitweilig verdunkelt gewesen; es ist aber gerade in unseren Tagen wieder zu lebendigster Wirksamkeit erwacht, und allerorten regen sich im naturwissenschaftlichen Lager die Geister, um ihren Antheil zu dem philosophischen Gesamtwissen beizutragen. So ist denn unsere Zeit bereit, eine neue Entwicklung der Naturphilosophie in beiderlei Sinne zu erleben, und die große Anzahl der Zuhörer, die sich unter diesem Zeichen heute zusammengefunden haben, ist ein Beweis dafür, daß in der Zusammenstellung der beiden Begriffe Natur und Philosophie etwas Anziehendes liegt, daß wir alle hier ein Problem empfinden, dessen Lösung jedem von uns am Herzen liegt. Allerdings wird die Philosophie eines Naturforschers nicht den Anspruch erheben dürfen, als ein geschlossenes und ringsum

abgeglättetes philosophisches System zu gelten. Die Erzeugung solcher Systeme müssen wir den Fachphilosophen überlassen. Wir sind uns dessen bewußt, daß bei unserer Arbeit bestenfalls ein Gebäude zustande kommt, dessen Bauart und innere Einrichtung allerorten den Anschauungskreis und die Denkgewohnheiten erkennen läßt, die von unserer täglichen Beschäftigung mit bestimmten Gruppen von Naturerscheinungen herrühren. Mit steter Rücksicht auf diesen persönlichen und Berufsstil muß ich bitten, das aufnehmen und betrachten zu wollen, was ich Ihnen darbiete, und jeder von Ihnen ist eingeladen, davon abzuziehen oder dazu anzufügen, was ihm wünschenswerth oder nothwendig erscheint.› (Einleitung, S. 1ff) Zeit, Raum, Substanz

‹Es sind also zwei Gruppen verschiedener Gründe vorhanden, von denen die eine das Festhalten an der Wirklichkeit der Dinge, wie sie uns erscheinen, die andere das Abgehen von dieser Ansicht unterstützt. Wenn der hier vorhandene Widerspruch sich soll lösen lassen, so wird dazu der Nachweis erforderlich sein, daß bei beiden Ansichten Unvollständigkeiten vorhanden sind, deren Ausfüllung die Vereinigung bewirken wird. Diese Unvollständigkeiten werden natürlich in der beiderseitigen Abgrenzung des Substanzbegriffes zu suchen sein. Die Substanz der Physik und Chemie des neunzehnten Jahrhunderts führt den besonderen Namen der Materie. Diese ist sozusagen als Verdampfungsrückstand hinterblieben, nachdem viele

von den Substanzen des achtzehnten Jahrhunderts, insbesondere der Wärmestoff, die elektrischen und magnetischen Materien, das Licht und noch manche mehr, im Laufe der Zeit ihres Substanzcharakters verlustig gingen und als ‹Kräfte› ein mehr geistiges Dasein zu führen angewiesen wurden. Was gegenwärtig unter Materie verstanden wird, ist nicht ganz leicht unzweideutig festzustellen; denn versucht man, bestimmte Definitionen zu ermitteln, so findet sich, daß meistens die Kenntnis dieses Begriffes bereits vorausgesetzt wird, und hernach von der Materie als etwas Selbstverständlichem gehandelt wird. Indessen werden doch die in den Lehrbüchern der Physik vorhandenen Angaben über die Eigenschaften der Materie uns die Möglichkeit einer ungefähren Umgrenzung dieses Begriffes gewähren. Nehmen wir solche zur Hand, so finden wir gleichfalls die Spuren einer Entwicklung. Während die älteren Lehrbücher hierüber sehr bestimmt sind, macht sich bei den neueren die Neigung geltend, diese Fragen als bedenklich und unsicher zu umgehen, und sie überhaupt nicht zu erörtern. Folgendes läßt sich indessen zusammenfassend sagen: Alle Materie hat eine bestimmte Menge; die Menge der Materie wird gewöhnlich Masse genannt. Ferner kommen der Materie bestimmte qualitative Verschiedenheiten zu, die sich auf die Existenz von 70 bis 80 Elementen zurückführen lassen, welche nicht ineinander umwandelbar sind. Ferner kommt der Materie eine Ausdehnung im Raume und eine Formbegrenzung zu; die letztere ist aber nur in gewissen Fällen (bei festen Stoffen) von der betrachteten

Materie selbst abhängig, in den anderen wird sie durch die Umgebung bestimmt. Ferner wird der Materie Undurchdringlichkeit zugeschrieben, d.h. es können nicht zwei verschiedene Stücke Materie gleichzeitig in demselben Raume sein. Endlich wird die Materie als unzerstörbar bezeichnet. Von diesen wesentlichen Eigenschaften der Materie werden gelegentlich noch die allgemeinen Eigenschaften unterschieden, welche sich zwar auch an aller Materie finden, aber nicht wesentlich zu ihrem Begriff gehören. Hierher werden die Trägheit oder die Fähigkeit, einen vorhandenen Bewegungszustand beizubehalten, die Schwere, die Teilbarkeit und die Porosität gerechnet. Indessen herrscht wenig Übereinstimmung darüber, welche von diesen Eigenschaften wesentlich, und welche nur allgemein sind; auch wird häufig der Unterschied zwischen beiden Gruppen überhaupt nicht gemacht. Man kann den wissenschaftlichen Zustand, der hier zu Tage tritt, nichts weniger als befriedigend nennen. Wenn Sie sich der ersten Stunden erinnern, in denen Sie mit den Grundbegriffen der Physik vertraut gemacht worden sind, so wird Ihnen auch das dumpfe Gefühl erinnerlich sein, das Ihren Versuchen, sich einigermaßen Bestimmtes bei diesen Erörterungen zu denken, gefolgt ist, und das durch das Bild vom Mühlrad im Kopfe nur zu deutlich gekennzeichnet wird. Wir haben alle aufgeathmet, der Lehrer eingeschlossen, wenn wir uns von diesen Betrachtungen zum Hebel, zur Fallmaschine oder sonst etwas Reellem wenden durften. Was mit diesen Definitionen versucht wird, ist offenbar die Ermittelung und Aussonderung einer Reihe von allgemeinen

Eigentümlichkeiten, die den Dingen der Außenwelt anhaften. Der alte Stoffbegriff suchte alles Physische zu umfassen. Durch die Forderung der bestimmten Abgrenzung und der Tastbarkeit, die man mehr und mehr mit dem Stoffbegriffe verband, besonders aber auch durch die Forderung der Unzerstörbarkeit, ist die oben geschilderte Einschränkung auf die mit Masse (im mechanischen Sinne) und mit Gewicht behafteten Dinge hervorgebracht worden. Dadurch sind aber zahlreiche wichtige Erscheinungen, wie z.B. die des Lichtes und der Elektricität, ausgeschlossen. Sie bethätigen sich anscheinend durch den von Materie freien Raum, von den Sternen und der Sonne zur Erde, ohne inzwischen an etwas Materiellem zu haften. Es ist zwar versucht worden, durch die Annahme einer immateriellen Materie, d.h. einer solchen, welche die oben angegebenen Eigenschaften nicht hat, dagegen als Träger von gewissen anderen Eigenschaften oder Zuständen dienen könnte, des sogenannten Äthers, die vorhandene grobe Lücke auszufüllen, und wir finden in den Lehrbüchern und Jahresberichten die Physik der Materie von der des Äthers getrennt behandelt. Doch handelt es sich ersichtlicherweise hier nur um einen Notbehelf. Denn alle Versuche, die Eigenschaften des Äthers nach Analogie der bekannten Eigenschaften der Materie gesetzmäßig zu formulieren, haben zu unlösbaren Widersprüchen geführt. So schleppt sich die Annahme von der Existenz des Äthers durch die Wissenschaft, nicht weil sie eine befriedigende Darstellung der Thatsachen gewährt, sondern

vielmehr, weil man nichts Besseres an ihre Stelle zu setzen versucht oder weiß. Stellen wir uns nun die Aufgabe, auf dem Wege, der uns bis hierher geführt hatte, auch eine saubere und in sich zusammenhängende Darstellung der Verhältnisse der Außenwelt aufzusuchen, so werden wir vor allen Dingen den Substanzbegriff in möglichst genauem und vorurteilslosem Anschluß an die Erfahrung zu gestalten haben, da er thatsächlich diese Aufgabe ausspricht, dasjenige ausfindig zu machen, was die Eigenschaft der Erhaltung oder des dauernden Bestandes besitzt, und wenn es mehrere solcher Begriffe gibt, unter ihnen den zu bezeichnen, welcher den nie fehlenden Bestandtheil aller äußeren Dinge bildet. Seitdem zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts das Gesetz von der Unveränderlichkeit des Gesamtgewichtes bei chemischen und physikalischen Vorgängen aller Art entdeckt worden ist, hat sich der Sprachgebrauch festgesetzt, nur die wägbaren Dinge Substanz oder Materie zu nennen. Indessen sind die wägbaren Stoffe keineswegs die einzigen Dinge, welche sich unter allen bekannten Umständen erhalten. Es gibt z.B. in der Mechanik eine gewisse Größe, welche man die Bewegungsgröße nennt; sie hängt von den Massen und Geschwindigkeiten ab und hat gleichfalls die Eigenschaft der Erhaltung. Es ist ebenso wenig wie beim Gewicht der wägbaren Stoffe irgendein Vorgang bekannt, durch welchen die Bewegungsgröße eines gegebenen Gebildes geändert werden könnte.

Zwar kann man sie dadurch ändern, daß man andere mit Geschwindigkeiten behaftete Massen zu den bisher betrachteten stoßen läßt. Da aber Massen sich gleichfalls nicht erschaffen oder vernichten lassen, so beruht diese scheinbare Ausnahme nur darauf, daß man die Bewegungsgröße des Gebildes zunächst ohne Rücksicht auf diese später zutretende Masse gebildet hatte. Berücksichtigt man sie von vornherein, so bleibt das Gesetz von der Erhaltung der Bewegungsgröße in aller Strenge bestehen, und Ausnahmen sind nicht bekannt. Die gleiche Eigenschaft der Erhaltung oder der Unerschaffbarkeit und Unvernichtbarkeit kommt noch verschiedenen anderen aus der Physik bekannten nicht wägbaren Größen zu. Ein Beispiel ist die Elektricitätsmenge, die gleichfalls, wenn man die positiven und negativen Mengen unter Berücksichtigung des Zeichens addiert, durch keinen bekannten Vorgang geändert werden kann. Denn es entstehen immer gleiche Mengen positiver und negativer Elektricität, deren Summe Null ist und somit den vorhandenen Gesamtbetrag nicht ändern kann. Endlich gibt es noch eine Größe, welche den Namen Arbeit oder Energie führt, und deren Erhaltung (in einem bestimmten Sinne) seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bekannt und anerkannt ist. Sie schließt sich also gleichfalls den unvernichtbaren und unerschaffbaren Dingen an. Prüfen wir diese und die anderen dem Erhaltungsgesetze unterworfenen Größen, so ergibt sich folgendes: Mit Ausnahme der Energie finden alle die anderen Begriffe, deren Größe dem

Erhaltungsgesetze unterliegt, nur auf begrenzte Gebiete der Naturerscheinungen Anwendung. Einzig die Energie findet sich ohne Ausnahme in allen bekannten Naturerscheinungen wieder, oder mit anderen Worten, alle Naturerscheinungen lassen sich in den Begriff der Energieeinordnen. Somit eignet sich dieser Begriff vor allem dazu, als vollständige Lösung des im Substanzbegriff aufgestellten, aber durch den Begriff der Materie nicht vollkommen gelösten Problems zu gelten. Die Energie ist aber nicht allein bei allen Naturerscheinungen anwesend, sie ist auch für alle bestimmend. Jeder Vorgang ohne Ausnahme läßt sich dadurch exakt und erschöpfend darstellen oder beschreiben, daß man angiebt, welche Energieen zeitliche und räumliche Veränderungen erfahren. Umgekehrt kann man auf die Frage, unter welchen Umständen überhaupt ein Vorgang eintritt, oder etwas geschieht, eine allgemeine Antwort geben, welche auf dem Verhalten der vorhandenen Energieen beruht. Also auch die zweite Seite, die für den allgemeinsten Begriff der Außendinge erfordert wurde, findet sich bei der Energie vor. Man kann thatsächlich sagen: Alles, was wir von der Außenwelt wissen, können wir in der Gestalt von Aussagen über vorhandene Energieen darstellen, und daher erweist sich der Energiebegriff allseitig als der allgemeinste, den die Wissenschaft bisher gebildet hat.› (S. 148ff) Das Bewußtsein

‹An die Vorgänge der durch den Eintritt äußerer Energie bewirkten Eindrücke und Empfindungen, die wir als die Entstehung von

Nervenenergie auf Kosten der äußeren Energie auffassen, können sich zweierlei Wirkungen schließen. Entweder bewirken die Empfindungen unmittelbar eine Reaction in solcher Weise, daß eine Handlung im allgemeinsten Sinne, d.h. eine Energieleistung des Organismus nach außen eintritt, oder es schalten sich noch Umwandlungen der zuerst entwickelten Nervenenergie in andere Formen derselben Energie dazwischen. Da auch die Auslösung einer Handlung meist auf einer dazwischen erfolgenden Umwandlung beruht, so ist diese die allgemeinere Erscheinung und soll zunächst besprochen werden. Die Umwandlung der im Sinnesapparat hervorgebrachten Nervenenergie geschieht sehr wahrscheinlich in den Organen, welche man als Ganglienzellen bezeichnet hat, und die sich stets an einem Ende jedes Nervenfadens befinden. Der hier stattfindende Vorgang darf nicht als eine bloße Energieumwandlung aufgefaßt werden, sondern er hat den Charakter einer verhältnismäßigen Auslösung. Es wird mit anderen Worten die eintretende Nervenenergie dazu verwendet, vorhandene Energievorräthe, wahrscheinlich chemischer Natur, durch Bethätigung eines Auslösevorganges in neue Nervenenergie zu verwandeln, deren Betrag je nach Beschaffenheit des Transformators in sehr verschiedenem Verhältnis zu dem Betrage der eintretenden Energie stehen kann. Insbesondere tritt hier die bereits mehrfach erwähnte Thatsache der Gewöhnung ein, derart, daß um so weniger auslösende Energie für die Entstehung einer gegebenen Menge ausgelöster

erforderlich ist, je häufiger ein gleicher oder ähnlicher Vorgang in dem betreffenden Gebilde abgelaufen ist. Diese neu entstandene Nervenenergie geht nun entweder in das Centralorgan über oder nimmt ihren Weg nach den Apparaten, in welchen der Körper nach außen tretende Energie entwickelt. Im ersten Falle entsteht Bewußtsein, im anderen eine unbewußte Handlung oder ein Reflex. Diese Deutung der Nervenvorgänge ist durch die anatomischen und physiologischen Befunde so vielfältig nahe gelegt worden, daß wir sie als richtig ansehen dürfen. Hiernach schlage ich Ihnen vor, das Bewußtsein als eine Eigenschaft einer besonderen Art der Nervenenergie aufzufassen, nämlich der, welche im Centralorgan bethätigt wird. Daß nicht alle Nervenenergie Bewußtsein bewirkt, scheint unzweifelhaft daraus hervorzugehen, daß nach der Ausschaltung des Bewußtseins im Schlafe, durch Betäubung oder Narkose eine große Anzahl von Nervenapparaten, nämlich alle, welche die unwillkürlichen Vorgänge des Körpers, wie Herzschlag, Athmen, Verdauung, Drüsenausscheidung, ordnen, regelmäßig weiter arbeiten, ohne durch das Fehlen des Bewußtseins gestört zu werden. Ebenso werden in solchen Zuständen oft Handlungen richtig ausgeführt, die gewöhnlich bewußt und willkürlich ausgelöst werden. In welcher Weise sollen wir nun Bewußtsein und Nervenenergie als verbunden ansehen? Mir scheint, daß man diese Verbindung so eng wie möglich auffassen muß, und ich bin geneigt, das Bewußtsein ebenso als ein wesentliches Kennzeichen der Nervenenergie des Centralorgans anzunehmen, wie etwa die

räumliche Beschaffenheit ein wesentliches Kennzeichen der mechanischen Energie und die zeitliche eines der Bewegungsenergie ist. Dies wird klarer, wenn wir uns auf den Ausgangspunkt unserer Betrachtungen besinnen. Nach diesem rührt ja unsere ganze Kenntnis der Außenwelt von Vorgängen her, die in unserem Bewußtsein erfolgen. Aus den gemeinsamen Bestandtheilen dieser Erfahrungen hat sich der Energiebegriff als der allgemeinste herausgestellt, und nach der Beschaffenheit dieser Erfahrungen und ihrer gegenseitigen Beziehungen haben wir verschiedene Arten der Energie unterschieden, die sich ineinander umwandeln. Wir verfahren daher nur consequent, wenn wir die Quelle aller dieser Inhalte, unser Bewußtsein selbst, mit diesem allgemeinsten Begriff in Zusammenhang bringen und mit KANT sagen: Alle unsere Vorstellungen von der Außenwelt sind subjektiv insofern, als nur solche Bethätigungen derselben von uns aufgenommen werden, welche der Beschaffenheit unseres Bewußtseins entsprechen. Daß nun alle äußeren Geschehnisse sich als Vorgänge zwischen Energieen darstellen lassen, erfährt seine einfachste Deutung, wenn eben unsere Bewußtseinsvorgänge selbst energetische sind und diese ihre Beschaffenheit allen äußeren Erfahrungen aufprägen. Ich will von Ihnen für diesen Gedanken kein größeres Entgegenkommen beanspruchen, als daß Sie ihn für einen Versuch nehmen, zu einer einheitlichen Weltauffassung zu gelangen. Er ist als ein vorläufiger Ansatz anzusehen, wie er immer gemacht werden muß, wenn es sich entweder um die gedankliche Bewältigung eines neuen Gebietes oder um einen neuen Weg zur Bewältigung eines

alten handelt. Die experimentelle Prüfung, welcher man einen solchen Gedanken unterzieht, besteht in der Entwicklung aller seiner Consequenzen und in dem Vergleich der bekannten Thatsachen mit diesen. Nun sind alle Psychologen darüber einig, daß energetische Vorgänge alle geistigen, insbesondere die bewußten begleiten, und daß alles Denken, Empfinden und Wollen einen Energieverbrauch bedingt. Doch hat man sich zum Verständnis dieser Thatsache mit der Lehre vom psychophysischen Parallelismus begnügt. Dieser hat in seiner älteren, ihm von SPINOZA gegebenen Gestalt, den Inhalt, daß die geistigen und die physischen Vorgänge verschiedene Seiten desselben thatsächlichen Geschehens seien, und je nachdem man die Substanz nach der Seite der Ausdehnung (der physischen) oder der des Denkens (der psychischen) betrachte, erhalte man die einen oder die anderen Erscheinungen. Die neue Lehre vom psychophysischen Parallelismus verwirft diese Auffassung als unwissenschaftlich und setzt dafür ein Parallelgehen zweier neben einander bestehender, aber vermöge der Unvergleichbarkeit ihrer Glieder niemals direct ineinander greifender Kausalreihen. Es fällt mir schwer, zwischen diesem Prinzip und dem LEIBNIZ’schen der prästabilirten Harmonie einen anderen Unterschied zu entdecken, als er durch das Hinzutreten des hypothetischen Begriffes der Monade bei LEIBNIZ und der Materie bei der Modernen bewirkt wird. Auch geben die Vertreter dieser Anschauung zu, daß in diesem Nebeneinander etwas Unbefriedigendes liegt, was die fortschreitende Arbeit des Menschengeistes beseitigen muß. Daß der einigende Gedanke aber

nur im Gebiete der Metaphysik aufzufinden sei und über das Gebiet der Naturwissenschaft, der sowohl die Physiologie wie die Psychologie angehört, nothwendig hinausgehe, dürfte angesichts des Fortschrittes aller Wissenschaft kaum als eine wahrscheinliche Behauptung angesehen werden. Noch immer hat die Zeit dem Unrecht gegeben, der die Unmöglichkeit irgend eines im Sinne der regelmäßigen Entwicklung liegenden Fortschrittes behauptet hat. Wenn man sich Rechenschaft darüber zu geben versucht, wodurch dieser schwierige Gedanke des unabhängigen Parallelismus entstanden ist, so ergiebt sich als seine Quelle der mechanistische Materialismus. Bereits LEIBNIZ hat diesen Zusammenhang klar gesehen; in unserer Zeit hat Du BOIS-REYMOND durch die Aufstellung seines ‹Ignorabimus› die Sachlage deutlich beleuchtet. LEIBNIZ weist darauf hin, daß wenn wir uns ein menschliches Gehirn unter Wahrung aller Verhältnisse so groß dächten, daß wir hinein sehen und darin herum gehen könnten, ‹wie in einer Mühle›, und alle Mechanismen der Gehirnatome vollständig kennenlernten, wir doch nur bewegte Atome sehen würden, und nichts von den Gedanken, welche diesen Bewegungen entsprechen. Ähnliches entwickelt Du BOIS-REYMOND in seiner Rede über die Grenzen des Naturerkennens. Indem er die Kenntnis der Massen, Geschwindigkeiten, Lagen und Kräfte der Gehirnmolekeln als astronomische Kenntnis derselben bezeichnet, sagt er: ‹Was aber nun die geistigen Vorgänge selbst betrifft, so zeigt sich, daß sie bei astronomischer Kenntnis des Seelenorgans uns ganz ebenso unbegreiflich wären, wie jetzt. Im Besitze dieser Kenntnis ständen

wir vor ihnen wie heute als vor einem völlig Unvermittelten. Die astronomische Kenntnis des Gehirns, die höchste, die wir davon erlangen können, enthüllt uns darin nichts als bewegte Materie. Durch keine zu ersinnende Anordnung oder Bewegung materieller Theilchen aber läßt sich eine Brücke ins Reich des Bewußtseins schlagen.› Ich weiß keinen überzeugenderen Beweis für den philosophischen Werth der energetischen Weltanschauung, als den hier zu Tage tretenden Umstand, daß dieses alte Problem in ihrem Lichte alle seine Schrecken verliert. Denn die Schwierigkeit rührt ja nur daher, daß LEIBNIZ wie Du BOIS-REYMOND mit DESCARTES für die physische Welt die Annahme machen, sie bestehe aus nichts als bewegter Materie. In einer solchen Welt kann freilich der Gedanke keine Stelle haben. Wir, die wir die Energie als letzte Realität ansehen, empfinden von solchen Unmöglichkeiten nichts. Wir haben gesehen, daß sich zunächst die Bethätigung der Nervenleitung ohne Widerspruch auf energetische Vorgänge zurückführen läßt, und wir haben gesehen, daß die mit Bewußtsein verbundenen Nervenvorgänge sich den unbewußten stetig anschließen. Ich habe mir die größte Mühe gegeben, irgend eine Absurdität oder Undenkbarkeit in der Annahme zu finden, daß bestimmte Energiearten Bewußtsein bedingen: ich habe nichts Derartiges zu entdecken vermocht. Wir werden uns alsbald bei der Untersuchung der wichtigsten Bewußtseinserscheinungen überzeugen, daß sie energetisch bedingt sind, und es macht mir nicht mehr Schwierigkeiten, zu denken, daß kinetische Energie Bewegung

bedingt wie daß Energie des centralen Nervensystems Bewußtsein bedingt. Gleichzeitig erkennen wir, daß die mit Bewußtsein verbundene Energie die höchste und seltenste Energieart ist, die uns bekannt ist. Sie entsteht nur in besonders entwickelten Organen, und auch die Gehirne verschiedener Menschen zeigen die größten Verschiedenheiten in der Menge und Wirksamkeit solcher Energie. Es darf uns nicht wundern, daß solche Energie nur unter besonderen Umständen entsteht. Für die Bildung elektrischer Energie durch Druck sind auch unter den zahllosen Krystallen nur verhältnismäßig wenige befähigt, nämlich nur solche, in welchen einseitige Axen vorkommen. Und die in unserer Zeit untersuchten Strahlungen des Urans und einiger anderer Elemente sind Energiebethätigungen, deren Vorkommen noch seltener und deren Entstehungsbedingungen noch eingeschränkter sind. Noch einem anderen schwierigen Gedanken entgehen wir auf gleichem Wege. Wenn im Menschen mit der ‹Materie› seines Gehirnes erfahrungsmäßig Geist verbunden ist, so ist nicht einzusehen, warum nicht mit aller anderen Materie Geist verbunden sein soll. Denn die Elemente Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Phosphor im Gehirn sind keine anderen, als die überall auf der Erde vorkommenden; sie werden vermöge des Stoffwechsels immer wieder durch andere ersetzt, deren Herkunft für ihre Wirkung im Gehirn ganz gleichgültig ist. Ist also der Geist eine Eigenschaft oder Wirkung des Stoffes im Gehirn, so muß diese Eigenschaft gemäß dem Gesetz von der Erhaltung des Stoffes den

von der Mechanistik vorausgesetzten Atomen unter allen Umständen zukommen, und der Stein, der Tisch, die Cigarre sind beseelt, ebenso wie der Baum, das Thier und der Mensch. In der That drängt sich dieser Gedanke, wenn man die Voraussetzung zugiebt, so unwiderstehlich auf, daß man in der neueren philosophischen Literatur ihn entweder als richtig oder doch wenigstens als angemessen empfiehlt, oder aber zu seiner Vermeidung einen entschlossenen und unüberbrückbaren Dualismus zwischen Geist und Materie aufstellt. Auch diese Schwierigkeit verschwindet vor der Energetik. Während die Materie dem Gesetz von der Erhaltung der Elemente folgt, so daß die in einem begrenzten Raume vorhandene Menge von Sauerstoff, Stickstoff u.s.w. im verbundenen und unverbundenen Zustande durch keinen bekannten Vorgang verändert werden kann, so ist es im allgemeinen möglich, eine gegebene Energie-menge in eine andere zu verwandeln, ohne daß von der ersten ein meßbarer Rest übrigbleibt. Die Erfahrung widersetzt sich also in keiner Weise dem Gedanken, daß besondere Energiearten auch Verhältnisse brauchen, um zu entstehen, und daß vorhandene Mengen derselben auch wieder durch Umwandlung in andere Formen vollständig verschwinden können. Mit der geistigen Energie, d.h. der unbewußten und bewußten Nervenenergie ist dies der Fall. Empfiehlt sich auf solche Weise die energetische Auffassung des Geistes durch die Auflösung großer Schwierigkeiten, deren versuchte Beseitigung den Scharfsinn mehrerer Jahrhunderte herausgefordert hatte, so bleibt uns doch noch die wichtige Aufgabe

übrig, zu prüfen, ob auch die Eigenschaften der bewußten Geistesthätigkeit sich ohne Widerspruch in den Rahmen der Energetik einfügen lassen. Ich glaube, daß man auch diese Frage mit ja beantworten kann. Ich schicke voraus, daß es sich hierbei nur um eine vorläufige Meinung handelt; die wissenschaftliche Entscheidung der Sache wird noch eine große Summe eingehender Arbeit schwierigster Art beanspruchen. Aber die folgende Überlegung scheint mir eine hoffnungsvolle Zukunft zu sichern. Die neuere Lehre vom psychophysischen Parallelismus geht von der Annahme aus, daß jedem geistigen Geschehen ein physisches zugeordnet sei oder entspreche, und soweit überhaupt eine Prüfung dieser Annahme hat ausgeführt werden können, hat man sie bestätigt gefunden. Ebenso wird von den Materialisten angenommen, daß der Geist nur eine Wirkung der Materie sei, und zur Stütze dieser sehr verbreiteten Weltanschauung wird eine große Zahl von erfahrungsmäßigen Thatsachen beigebracht. Die Energetik kann beide Armeen zu ihren Gunsten mobil machen, denn ‹physisches Geschehen› und ‹Wirkung der Materie› ist in unserem Sinne ja nichts, als Energieänderung. Der Unterschied besteht nur in der dort vorhandenen unhaltbaren Annahme, daß die Materie ein letzter Realitätsbegriff sei. Entfernt man diese, so wendet sich die Front, und alle in jenen beiden Lagern beigebrachten Beweise dienen dem Interesse der energetischen Auffassung.› (S. 392ff) (WILHELM OSTWALD, Vorlesungen über Naturphilosophie, gehalten im Sommer 1901 an der Universität Leipzig, Leipzig 1902.)  

Werke: Lehrbuch d. allgem. Chemie, 2 Bde., 12. Aufl. 1910/1911 / Die Überwindung des wissenschaftl. Materialismus, 1895 / Vorlesungen über Naturphilosophie, 1902, 5. Aufl. 1923 als ‹Moderne Naturphilosophie› / Die Harmonie der Farben, 5. Aufl. 1923 / Die Harmonie der Formen, 1922 / Lebenslinien, 3 Bde., 2. Aufl. 1932/1933.   Schriften über W.O.:V. DELBOS, W.O. et sa philosophie. 1916 / F. ÜBERWEG in Grundr.d.Geschichte d. Philosophie, Bd. 4, 13. Aufl. 1951 / A. MITTASCH, W.O’s. Auslösungslehre, 1951 / G. OSTWALD, W.O., mein Vater, 1953.

III. Die Krisis der mechanistisch-materialistischen Auffassung In den ersten Teilen des Anhanges wurden die Anfänge des modernen naturwissenschaftlichen Denkens und die Entstehung des mechanistisch-materialistischen Weltbildes durch ausführliche Zitate aus Werken klassischer Autoren, die zugleich Urheber und Beförderer dieser Entwicklung waren, deutlich gemacht. Für diesen dritten Teil werden wir uns aus Raumgründen auf einen größeren Auszug aus einer Schrift von LOUIS DE BROGLIE beschränken: er faßt die Ursachen der Krisis des mechanistisch-materialistischen Denkens in musterhafter Weise zusammen. Als Übergang soll die Einleitung zu den ‹Prinzipien der Mechanik› (1876) von HEINRICH HERTZ (1857–1894) dienen. Hier wird nämlich deutlich, wie die Physik sich wieder darauf zu besinnen beginnt, daß sie Naturwissenschaft ist, deren Aussagen über begrenzte Bereiche der Natur auch nur eine entsprechend begrenzte Gültigkeit haben: und daß sie nicht Philosophie ist, die eine Weltanschauung über die Natur im Ganzen und über das Wesen der Dinge entwickelt. HERTZ führt aus, daß physikalische Aussagen weder die Aufgabe noch die Fähigkeit haben, das Wesen der Naturerscheinungen, so wie sie an sich selbst sind, zu enthüllen. Er stellt fest, daß die physikalischen Bestimmungen nur Bilder sind, über deren Übereinstimmung mit den Naturgegenständen wir

lediglich in einem Punkt eine Aussage machen können: nämlich, ob die logisch ableitbaren Folgen unserer Bilder mit den empirisch beobachtbaren Folgen der Phänomene, für die wir die Bilder entwerfen, übereinstimmen. Mit anderen Worten: die hypothetischen Bilder eines ursächlichen Zusammenhanges, mit denen wir an die Naturphänomene herantreten, müssen sich in der empirischen Erfahrung als brauchbar erweisen. Die Kriterien, mit deren Hilfe wir die Brauchbarkeit der Bilder feststellen können, sind die drei folgenden: 1. sie müssen zulässig sein, d.h. den Gesetzen unseres Denkens entsprechen; 2. sie müssen richtig sein, d.h. sie müssen mit der äußeren Erfahrung übereinstimmen; 3. sie müssen zweckmäßig sein, d.h. sie müssen möglichst viele wesentliche und möglichst wenige überflüssige oder leere Beziehungen des Gegenstandes enthalten. Hier klingt bereits die wesentliche Einsicht der modernen Physik an, die EDDINGTON in eindrucksvoller Kürze in folgendem Satz formuliert hat: ‹Wir haben gesehen, daß da, wo die Wissenschaft am weitesten vorgedrungen ist, der Geist aus der Natur nur wieder zurückgewonnen hat, was der Geist in die Natur hineingelegt hat. Wir haben an den Gestaden des Unbekannten eine sonderbare Fußspur entdeckt. Wir haben tiefgründige Theorien, eine nach der anderen, ersonnen, um ihren Ursprung aufzuklären. Schließlich ist es uns gelungen, das Wesen zu rekonstruieren, von dem die Fußspur herrührt. Und siehe! es ist unsere eigene.›

1. Heinrich Hertz (22.2.1857–1.1.1894) Einleitung zu ‹Prinzipien der Mechanik› ‹Es ist die nächste und in gewissem Sinne wichtigste Aufgabe unserer bewußten Naturerkenntnis, daß sie uns befähige, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen, um nach dieser Voraussicht unser gegenwärtiges Handeln einrichten zu können. Als Grundlage für die Lösung jener Aufgabe der Erkenntnis benutzen wir unter allen Umständen vorangegangene Erfahrungen, gewonnen durch zufällige Beobachtungen oder durch absichtlichen Versuch. Das Verfahren aber, dessen wir uns zur Ableitung des Zukünftigen aus dem Vergangenen und damit zur Erlangung der erstrebten Voraussicht stets bedienen, ist dieses: Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände. Damit diese Forderung überhaupt erfüllbar ist, müssen gewisse Übereinstimmungen vorhanden sein zwischen der Natur und unserem Geiste. Die Erfahrung lehrt uns, daß die Forderung erfüllbar ist und daß also solche Übereinstimmungen in der That bestehen. Ist es nun einmal geglückt, aus der angesammelten bisherigen Erfahrung Bilder von der verlangten Beschaffenheit abzuleiten, so können wir an ihnen, wie an Modellen, in kurzer Zeit die Folgen entwickeln, welche in der äußeren Welt erst in längerer Zeit oder als Folgen unseres eigenen

Eingreifens auftreten werden; wir vermögen so den Thatsachen vorauszueilen und können nach der gewonnenen Einsicht unsere gegenwärtigen Entschlüsse richten. – Die Bilder, von welchen wir reden, sind unsere Vorstellungen von den Dingen; sie haben mit den Dingen die eine wesentliche Übereinstimmung, welche in der Erfüllung der genannten Forderung liegt, aber es ist für ihren Zweck nicht nötig, daß sie irgendeine weitere Übereinstimmung mit den Dingen haben. In der That wissen wir auch nicht, und haben auch kein Mittel zu erfahren, ob unsere Vorstellungen von den Dingen mit jenen in irgend etwas anderem übereinstimmen, als allein in eben jener einen fundamentalen Beziehung. Eindeutig sind die Bilder, welche wir uns von den Dingen machen wollen, noch nicht bestimmt durch die Forderung, daß die Folgen der Bilder wieder die Bilder der Folgen seien. Verschiedene Bilder derselben Gegenstände sind möglich, und diese Bilder können sich nach verschiedenen Richtungen unterscheiden. Als unzulässig sollten wir von vornherein solche Bilder bezeichnen, welche schon einen Widerspruch gegen die Gesetze unseres Denkens in sich tragen, und wir fordern also zunächst, daß alle unsere Bilder logisch zulässige oder kurz zulässige seien. Unrichtig nennen wir zulässige Bilder dann, wenn ihre wesentlichen Beziehungen den Beziehungen der äußeren Dinge widersprechen, das heißt, wenn sie jener ersten Grundforderung nicht genügen. Wir verlangen demnach zweitens, daß unsere Bilder richtig seien. Aber zwei zulässige und richtige Bilder derselben äußeren Gegenstände können sich noch unterscheiden nach der Zweckmäßigkeit. Von zwei Bildern

desselben Gegenstandes wird dasjenige das zweckmäßigere sein, welches mehr wesentliche Beziehungen des Gegenstandes widerspiegelt als das andere; welches, wie wir sagen wollen, das deutlichere ist. Bei gleicher Deutlichkeit wird von zwei Bildern dasjenige zweckmäßiger sein, welches neben den wesentlichen Zügen die geringere Zahl überflüssiger oder leerer Beziehungen enthält, welches also das einfachere ist. Ganz werden sich leere Beziehungen nicht vermeiden lassen, denn sie kommen den Bildern schon deshalb zu, weil es eben nur Bilder und zwar Bilder unseres besonderen Geistes sind und also von den Eigenschaften seiner Abbildungsweise mitbestimmt sein müssen. Wir haben bisher die Anforderungen aufgezählt, welche wir an die Bilder selbst stellen; etwas ganz anderes sind die Anforderungen, welche wir an eine wissenschaftliche Darlegung solcher Bilder stellen. Wir verlangen von der letzteren, daß sie uns klar zum Bewußtsein führe, welche Eigenschaften den Bildern zugelegt seien um der Zulässigkeit willen, welche um der Richtigkeit willen, welche um der Zweckmäßigkeit willen. Nur so gewinnen wir die Möglichkeit an unsern Bildern zu ändern, zu bessern. Was den Bildern beigelegt wurde um der Zweckmäßigkeit willen, ist enthalten in den Bezeichnungen, Definitionen, Abkürzungen, kurzum in dem, was wir nach Willkür hinzuthun oder wegnehmen können. Was den Bildern zukommt um ihrer Richtigkeit willen, ist enthalten in den Erfahrungsthatsachen, welche beim Aufbau der Bilder gedient haben. Was den Bildern zukommt, damit sie zulässig seien, ist gegeben durch die Eigenschaften unseres Geistes. Ob ein

Bild zulässig ist oder nicht, können wir eindeutig mit ja und nein entscheiden, und zwar mit Gültigkeit unserer Entscheidung für alle Zeiten. Ob ein Bild richtig ist oder nicht, kann ebenfalls eindeutig mit ja und nein entschieden werden, aber nur nach dem Stande unserer gegenwärtigen Erfahrung und unter Zulassung der Berufung an spätere reifere Erfahrung. Ob ein Bild zweckmäßig sei oder nicht, dafür gibt es überhaupt keine eindeutige Entscheidung, sondern es können Meinungsverschiedenheiten bestehen. Das eine Bild kann nach der einen, das andere nach der andern Richtung Vorteile bieten, und nur durch allmähliches Prüfen vieler Bilder werden im Laufe der Zeit schließlich die zweckmäßigsten gewonnen. Dies sind die Gesichtspunkte, nach welchen man, wie mir scheint, den Wert physikalischer Theorien und den Wert der Darstellung physikalischer Theorien zu beurteilen hat. Jedenfalls sind es die Gesichtspunkte, von welchen aus wir jetzt die Darstellungen betrachten wollen, welche man von den Prinzipien der Mechanik gegeben hat. Dabei ist es freilich zunächst nötig, bestimmt zu erklären, was wir mit diesem Namen bezeichnen. In strengem Sinne verstand man ursprünglich in der Mechanik unter einem Prinzip jede Aussage, welche man nicht wieder auf andere Sätze der Mechanik selbst zurückführte, sondern welche man als unmittelbares Ergebnis anderer Quellen der Erkenntnis angesehen wissen wollte. Es konnte infolge der geschichtlichen Entwicklung nicht ausbleiben, daß Sätze, welche unter besonderen Voraussetzungen einmal mit Recht als Prinzipien bezeichnet

wurden, später diesen Namen, wiewohl mit Unrecht, beibehielten. Seit LAGRANGE ist die Bemerkung häufig wiederholt worden, daß die Prinzipien des Schwerpunktes und der Flächen im Grunde nur Lehrsätze allgemeinen Inhalts seien. Man kann aber mit gleichem Rechte bemerken, daß auch die übrigen sogenannten Prinzipien nicht unabhängig von einander diesen Namen führen können, sondern daß jedes von ihnen auf den Rang einer Folgerung oder eines Lehrsatzes herabsteigen muß, so bald die Darstellung der Mechanik auf eines oder mehrere der übrigen gegründet wird. Der Begriff des mechanischen Prinzipes ist demnach kein scharf festgehaltener. Wir wollen deshalb zwar jenen Sätzen in Einzelaussagen ihre herkömmliche Benennung belassen; wenn wir aber schlechthin und allgemein von den Prinzipien der Mechanik reden, so wollen wir darunter nicht jene einzelnen konkreten Sätze verstanden wissen, sondern jede übrigens beliebige Auswahl unter ihnen und unter ähnlichen Sätzen, welche der Bedingung genügt, daß sich aus ihr ohne weitere Berufung auf die Erfahrung die gesamte Mechanik rein deduktiv entwickeln läßt. Bei dieser Bezeichnungsweise stellen die Grundbegriffe der Mechanik zusammen mit den sie verkettenden Prinzipien das einfache Bild dar, welches die Physik von den Dingen, der sinnlichen Welt und den Vorgängen in ihr herzustellen vermag. Und da wir von den Prinzipien der Mechanik durch verschiedene Auswahl der Sätze, welche wir zu Grunde legen, verschiedene Darstellungen geben können, so erhalten wir verschiedene solche Bilder der Dinge,

welche wir prüfen und mit einander vergleichen können in bezug auf ihre Zulässigkeit, ihre Richtigkeit und ihre Zweckmäßigkeit.› (HEINRICH HERTZ, Prinzipien der Mechanik, 1876.)   Werke: Ges. Werke, 3 Bde. 1894–1895.   Schriften über H.H.:M. PLANCK: H.H. 1894/JOHANNA HERTZ: H.H. Erinnerungen, Briefe, Tagebücher, 1927/J. ZENNECK: H.H. 1929.

2. Louis de Broglie (*1892) Die Entwicklung der zeitgenössischen Physik ‹Wie alle Naturwissenschaften, so schreitet auch die Physik auf zwei verschiedenen Wegen fort: auf dem Wege des Experiments, das uns erlaubt, eine wachsende Anzahl von Phänomenen, von physikalischen Tatsachen zu entdecken und zu analysieren, und ferner auf dem Wege der Theorie, die erforschte Tatsachen in einem zusammenhängenden System sammelt und verbindet, die aber gleichzeitig, indem sie Neues voraussagt, der experimentellen Untersuchung die Richtung angibt. Aus dem Zusammenspiel von Experiment und Theorie entsteht in jeder Epoche die Gesamtheit der Erkenntnisse, welche die Physik dieser Epoche ausmachen.

Als die Entwicklung der modernen Wissenschaft begann, beschäftigten sich die Physiker natürlich zunächst mit dem Studium derjenigen physikalischen Phänomene, die sie unmittelbar beobachten konnten. So entstand zum Beispiel durch das Studium des Gleichgewichts und der Bewegung der Körper jener heute autonome Zweig der Physik, den man Mechanik nennt. Das Studium der Klangphänomene hat zur Akustik geführt, und durch Zusammenfassung und Einordnung aller Erscheinungen, in denen das Licht eine Rolle spielt, wurde die Optik geschaffen. Es entsprach der Aufgabe, und es war der Ruhm der Physik des neunzehnten Jahrhunderts, daß sie die Kenntnis der Erscheinungen, die sich in unserer Umwelt abspielen, in beträchtlichem Grade vertieft und in jeder Richtung erweitert hat. Sie hat aber nicht nur die großen Disziplinen der klassischen Physik – Mechanik, Akustik und Optik – weiter entwickelt, sie hat auch neue Wissensgebiete zuerst entdeckt, die unzählige Ausblicke eröffneten: die Thermodynamik und die Wissenschaft von der Elektrizität. Je mehr Einzelheiten aus diesen Gebieten der Physik die Gelehrten und Techniker beherrschen lernten, desto größer wurde die Zahl praktischer Nutzanwendungen. Zahllos sind die Erfindungen – von der Dampfmaschine bis zur Radiotelephonie –, die sich von dem Fortschritt der Physik des neunzehnten Jahrhunderts herleiten, und aus denen wir heute Nutzen ziehen. Diese Erfindungen nehmen, direkt oder indirekt, im Leben eines jeden einen so großen Platz ein, daß es unnötig ist, sie aufzuzählen.

Es ist also der Physik des letzten Jahrhunderts gelungen, die Erscheinungen, die wir rings um uns wahrnehmen, vollständig zu beherrschen. Zweifellos kann das Studium dieser Phänomene noch zu vielen neuen Erkenntnissen und Nutzanwendungen führen, aber die Hauptarbeit auf diesem Gebiet scheint getan. Daher haben seit dreißig oder vierzig Jahren die Vorkämpfer der Physik ihre Aufmerksamkeit mehr und mehr den subtileren Phänomenen zugewandt, die nur mit Hilfe einer sehr verfeinerten Experimentaltechnik entdeckt und analysiert werden können: den molekularen, atomaren und inneratomaren Phänomenen. Um die Neugierde des menschlichen Geistes zu befriedigen, genügt es eben nicht, daß wir wissen, wie sich die materiellen Körper als Ganzes in ihren sichtbaren Erscheinungsformen verhalten, wie sich die Reaktionen zwischen Licht und Materie abspielen, wenn man sie im großen Maßstab betrachtet. Es gilt, zu den Einzelheiten vorzudringen, es gilt, zu versuchen, die Struktur der Materie und des Lichtes zu analysieren und die Elementarvorgänge zu präzisieren, deren Gesamtheit erst die sichtbaren Erscheinungen hervorruft. Um diese Untersuchung zum Ziele zu führen, bedarf es zunächst einer sehr verfeinerten Experimentaltechnik, die äußerst subtile Wirkungen zu entdecken und aufzuzeichnen erlaubt, mit deren Hilfe man Mengen messen kann, die unendlich viel kleiner sind als die, welche wir aus unserer täglichen Erfahrung kennen. Es bedarf auch kühner Theorien, die sich auf die höhere Mathematik stützen und uns dadurch gestatten, vollständig neue Bilder und Vorstellungen zu benutzen. Man sieht also, wieviel Scharfsinn,

Geduld und Talent nötig waren, um die Atomphysik zu begründen und weiterzuführen. Auf der experimentellen Seite wurde dieser Fortschritt dadurch charakterisiert, daß sich von Tag zu Tag unsere Kenntnisse von den kleinsten Bestandteilen der Materie erweitert haben, und zugleich die Kenntnis der Phänomene, die mit der Existenz dieser kleinsten Bestandteile zusammenhängen. Schon seit langem hatten die Chemiker durch Untersuchungen festgestellt, daß die materiellen Körper aus Atomen gebildet sind. In der Tat können wir die materiellen Körper gemäß ihren Eigenschaften in zwei Kategorien einteilen: in zusammengesetzte Stoffe, die man durch geeignete Verfahren auf einfache Stoffe zurückführen kann, und in einfache Stoffe oder chemische Elemente, die jedem Zerlegungsversuch widerstehen. Das Studium der quantitativen Gesetze, nach denen sich die einfachen Stoffe verbinden, um zusammengesetzte Stoffe zu bilden, hat die Chemiker seit einem Jahrhundert veranlaßt, mit folgender Hypothese zu arbeiten: ‹Ein einfacher Stoff setzt sich aus ganz gleichen kleinen Teilchen zusammen, die man die Atome dieses einfachen Stoffes nennt; die zusammengesetzten Stoffe bestehen aus Molekülen, die sich wiederum durch die Verbindung mehrerer Atome einfacher Stoffe bilden.› Nach dieser Hypothese heißt einen zusammengesetzten Stoff zerlegen, ihn auf die Elemente zurückzuführen, die ihn bilden, also die Moleküle dieses Stoffes zerbrechen, und die Atome, die sie enthalten, frei zu machen. Die Zahl der gegenwärtig bekannten

einfachen Stoffe beträgt 89, und man nimmt an, daß ihre Gesamtzahl 92 (oder vielleicht 93) beträgt. Aus 92 verschiedenen Atomarten setzen sich also alle materiellen Körper zusammen. Es ist aber dieser Atomhypothese nicht nur gelungen, Ordnung in der Chemie zu schaffen, sie ist auch in die Physik eingedrungen. Wenn materielle Körper aus Molekülen und Atomen gebildet werden, dann müssen sich ihre physikalischen Eigenschaften durch ihre atomare Zusammensetzung erklären lassen. Die Eigenschaften der Gase zum Beispiel werden wir durch die Feststellung erklären können, daß ein Gas aus einer ungeheuren Anzahl von Atomen oder Molekülen besteht, die sich in schneller Bewegung befinden. Der Druck, den ein Gas auf die Wände eines Gefäßes ausübt, wird veranlaßt durch den Stoß der Moleküle gegen diese Wände. Die Temperatur dieses Gases wird eine Funktion der mittleren Geschwindigkeit der Moleküle sein, und diese Geschwindigkeit wird wachsen, wenn die Temperatur steigt. Diese Auffassung von der Beschaffenheit der Gase wurde in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts unter dem Namen ‹kinetische Theorie der Gase› entwickelt. Sie erlaubte uns zu erklären, worauf die Gesetze der Gase beruhen, die das Experiment uns offenbart hat. Wenn die Atomhypothese exakt ist, müssen sich die Eigenschaften fester und flüssiger Körper dadurch erklären lassen, daß man annimmt, die Moleküle oder Atome seien einander in diesen physikalischen Zuständen viel stärker genähert als im gasförmigen Zustand. Die bedeutenden Kräfte, die sich zwischen Atomen und Molekülen geltend machen, müssen den Eigenschaften Rechnung

tragen, welche feste und flüssige Körper charakterisieren: der Inkompressibilität, der Kohäsion usw. Die Atomtheorie der Materie ist durch schöne, direkte Experimente, wie die von JEAN PERRIN, bestätigt worden, welche uns ermöglicht haben, das Gewicht der verschiedenen Atomarten zu messen und die Anzahl der Atome, die sich in einem Kubikzentimeter befinden, festzustellen. Ohne weiter auf die Entwicklung der Atomtheorie einzugehen, wollen wir nur daran erinnern, daß sich die Hypothese, nach der alle Körper aus Molekülen zusammengesetzt sind, die wiederum aus verschiedenen Verbindungen elementarer Atome bestehen, in der Physik wie in der Chemie als sehr fruchtbar erwiesen hat und daß sie folglich als eine gute Darstellung der Wirklichkeit angesehen werden muß. Aber die Physiker sind dabei nicht stehengeblieben. Sie wollten auch wissen, woraus die Atome selbst bestehen, und wollten begreifen, wodurch sich die Atome der verschiedenen Elemente voneinander unterscheiden. Sie sind in dieser Aufgabe unterstützt worden durch den Fortschritt, den wir in der Kenntnis der elektrischen Phänomene gemacht haben. Bei dem Studium dieser Phänomene hatte man es von Anfang an für zweckmäßig gehalten, den elektrischen Strom durch einen Metalldraht als Abfluß der ‹elektrischen Ladungen› durch diesen Draht anzusehen. Aber es gibt bekanntlich zwei Arten von Elektrizität, die positive und die negative. Es ist also ganz natürlich, daß man annimmt, es seien zwei Ströme vorhanden, der positive und der negative elektrische Strom. Diese Ströme kann man sich nun auf zwei verschiedene Arten vorstellen: einmal, als seien sie aus einer Substanz gebildet, die den

gesamten Bereich, in welchem sich der Strom befindet, gleichmäßig ausfüllt, oder im Gegensatz hierzu, als beständen sie aus einer Wolke von kleinen Korpuskeln, deren jede eine kleine elektrisch geladene Kugel ist. Das Experiment hat zugunsten der zweiten Auffassung entschieden. Es hat uns vor etwa dreißig Jahren gelehrt, daß die negative Elektrizität aus winzigen völlig gleichartigen Korpuskeln besteht, deren Masse und deren elektrische Ladung außergewöhnlich klein sind. Die Korpuskeln der negativen Elektrizität nennt man Elektronen. Es ist gelungen, Elektronen von der Materie zu trennen und zu erforschen, wie sie sich verhalten, wenn sie sich im leeren Raum fortbewegen. Dabei hat sich bestätigt, daß sie sich genau so verhalten, wie sich nach den Gesetzen der klassischen Mechanik kleine elektrisierte Partikeln verhalten müssen. Und indem man untersuchte, wie sich diese kleinen Partikeln in Gegenwart eines elektrischen oder magnetischen Feldes verhalten, gelang es, ihre Ladung und ihre Masse zu messen, die, ich wiederhole es, beide außergewöhnlich klein sind. Für die positive Elektrizität kann man die korpuskulare Struktur nicht so direkt beweisen. Trotzdem sind die Physiker zu der Überzeugung gelangt, daß auch die positive Elektrizität in völlig gleichartige Korpuskeln unterteilt ist, die man gegenwärtig ‹Protonen› nennt. Das Proton hat eine Masse, die – obwohl noch sehr klein – fast zweitausendmal größer ist als die des Elektrons, eine Tatsache, die aufzeigt, daß zwischen positiver und negativer Elektrizität eine seltsame Dissymmetrie besteht. Dagegen ist die Ladung des Protons

der des Elektrons absolut gleichwertig, aber wohlverstanden mit entgegengesetztem, positivem statt negativem Vorzeichen. Elektronen und Protonen haben eine äußerst geringe Masse. Diese Masse ist jedoch keineswegs gleich null, und eine genügend große Anzahl von Protonen und Elektronen wird eine beträchtliche Gesamtmasse besitzen können. Das verlockt dazu, anzunehmen, daß alle materiellen Körper, die ja hauptsächlich durch die Tatsache, daß sie schwer sind und Trägheit besitzen, d.h. durch ihre Masse charakterisiert werden, letzten Endes aus nichts anderem bestehen als aus einer sehr großen Anzahl von Protonen und Elektronen. Von diesem Standpunkt gesehen, müssen die Atome der Elemente, welche die letzten Bausteine sind, aus denen alle materiellen Stoffe sich zusammensetzen, wiederum aus Elektronen und Protonen gebildet sein, und die 92 verschiedenen Atomarten der 92 verschiedenen Elemente müssen 92 verschiedene Verbindungen von Elektronen und Protonen darstellen. Der Gedanke, daß die Atome aus Protonen und Elektronen bestehen, konnte in der Folge genauer präzisiert werden, vor allem dank der experimentellen Arbeiten des englischen Physikers Lord RUTHERFORD und der theoretischen Arbeiten des dänischen Gelehrten NIELS BOHR. Es zeigte sich, daß das Atom eines einfachen Stoffes aus einem zentralen Kern besteht, der eine positive Ladung trägt, die gleich der Z-fachen Ladung des Protons ist, wobei Z eine ganze Zahl bedeutet, und daß es ferner besteht aus Z Elektronen, die um diesen Kern kreisen. Das Ganze also ist elektrisch neutral. Der Kern selbst wird zweifellos, wie wir später im einzelnen

sehen werden, aus Protonen und Elekronen gebildet. Fast die gesamte Masse des Atoms findet sich im Kern konzentriert, da er ja die Protonen enthält, und da diese viel schwerer sind als die Elektronen. Das einfachste Atom, das des Wasserstoffs, besteht aus einem Kern, der aus einem einzigen Proton gebildet wird, und um den ein einziges Elektron kreist. Die Zahl Z der vom Kern getragenen positiven Elementarladung unterscheidet das Atom des einen Elements vom Atom eines anderen. Man konnte also die einfachen Stoffe in eine Reihenfolge einordnen, die den wachsenden Werten der Zahl Z entspricht, vom Wasserstoff (Z=1) bis zum Uran (Z=92). Dabei wurde man gewahr, daß dieses Verfahren, die einfachen Stoffe zu klassifizieren, übereinstimmt mit dem, das man aus den Unterschieden de Atomgewichte und der chemischen Eigenschaften entwickelt hatte und das bekannt ist unter dem Namen Mendelejeffsches System (nach dem russischen Chemiker, der es zuerst vorgeschlagen hat). Ich kann hier im einzelnen nicht auseinandersetzen, aus welchen Gründen die Vorstellung, daß das Atom eine Art von kleinem Sonnensystem sei, das aus einer Kernsonne und Elektronenplaneten besteht, von den Physikern so lebhaft begrüßt worden ist. Ich will mich darauf beschränken, zu sagen, daß diese Vorstellung uns ermöglicht hat, nicht nur die chemischen Eigenschaften der einfachen Stof fe zu erklären, sondern auch eine Reihe ihrer physikalischen Eigen schaften, wie etwa die Zusammensetzung der Lichtstrahlen, die sie unter gewissen Umständen auszusenden

vermögen, so wenn man, um ein Beispiel zu nennen, sie zum Weißglühen bringt. Aber es gibt einen Punkt, den wir beachten müssen. Um die Theorie, daß das Atom einem Sonnensystem gleicht, auf befriedigende Weise entwickeln zu können, hat BOHR einen merkwürdigen Gedanken einführen müssen; er hat ihn der Quantentheorie entlehnt, die zuerst von PLANCK entwickelt worden ist. Ich habe eben gesagt, daß sich das Elektron in jenen Experimenten, in denen man seine Bewegung verfolgen kann, wie eine kleine Korpuskel von sehr geringer Masse verhält, und daß sich seine Bewegung voraussagen läßt, indem man die Gesetze der klassischen Mechanik anwendet. Aber das wird anders, wenn wir uns mit den Bewegungen eines Elektrons befassen, die sich auf Bahnen von sehr kleinen Dimensionen abspielen, Bewegungen, die wir durch Beobachtung nicht verfolgen können, die aber BOHR sich vorgestellt hat, um die Eigentümlichkeiten seines planetaren Atommodells berechnen zu können. PLANCK hat als erster erkannt, daß solche Bewegungen nicht genau den Gesetzen der klassischen Mechanik folgen müssen. Unter all den Bewegungen, die die klassische Mechanik als möglich anerkennt, können nur einige durch das Elektron wirklich ausgeführt werden: diese bevorzugten Bewegungen hat man ‹gequantelte› Bewegungen genannt. BOHR sah sich veranlaßt, in seiner Theorie des solaren Atomsystems Plancks Gedanken wieder aufzunehmen; er fand, daß die Planetenelektronen nur gequantelte Bewegungen ausführen können,

und dieser Umstand bildet gewissermaßen den Schlüssel zu allen Eigenschaften der Atome. Fassen wir das Gesagte kurz zusammen. Das Studium der Eigenschaften materieller Körper hat die Physiker zu der Annahme geführt, die Materie bestehe aus nichts anderem als aus kleinen Korpuskeln, Elektronen und Protonen. Verschiedene Verbindungen dieser Korpuskeln bilden die Atome der 92 einfachen Stoffe, aus denen die Moleküle der zusammengesetzten Stoffe aufgebaut werden. Das ist die Schlußfolgerung, zu der man vor etwa zwanzig Jahren gelangt war. Wir werden gleich sehen, daß sich die Dinge seither kompliziert haben, aber nun müssen wir für einen Augenblick aufhören, uns mit der Materie zu beschäftigen, und zunächst ein wenig vom Licht sprechen. Das Licht, das von der Sonne oder von den Sternen zu uns gelangt, erreicht unser Auge, nachdem es ungeheure Räume durchmessen hat, in denen es keine Materie gibt. Das Licht durcheilt also den leeren Raum ohne Schwierigkeit und ist, zum Unterschied etwa vom Ton, nicht an eine Bewegung der Materie gebunden. Die Beschreibung der physikalischen Welt würde daher unvollständig sein, wenn man nicht zu der Materie etwas anderes hinzufügt, etwas, das von ihr unabhängig ist: das Licht. Aber was ist das Licht? Woraus besteht es? Die Philosophen des Altertums und viele Gelehrte bis zum Beginn des letzten Jahrhunderts haben behauptet, das Licht bestehe aus kleinen Korpuskeln, die sich in schneller Bewegung befinden. Durch diese Hypothese wird die geradlinige Fortpflanzung, die das Licht

unter gewöhnlichen Umständen hat, und ebenso die Reflexion, die das Licht auf Spiegeln erfährt, unmittelbar erklärt. Diese Korpuskeltheorie des Lichtes aber wurde schon vor einem Jahrhundert vollständig aufgegeben; die Arbeiten des englischen Physikers YOUNG und besonders die Forschungen des Franzosen AUGUSTIN FRESNEL gaben den Anlaß. YOUNG und FRESNEL haben eine Kategorie von Lichtphänomenen entdeckt, die Interferenz- und Beugungserscheinungen, die man durch die Korpuskeltheorie nicht erklären kann. Gleichzeitig hat FRESNEL gezeigt, daß eine andere Vorstellung von der Wellennatur des Lichtes nicht nur den klassischen Erscheinungen – der geradlinigen Fortpflanzung, der Reflexion und der Brechung – sondern ebenso den Interferenz- und Beugungserscheinungen Rechnung trägt. Die Vorstellung von einer Wellennatur des Lichtes, die schon früher von einigen scharfsinnigen Köpfen wie etwa dem Holländer CHRISTIAN HUYGENS behauptet worden war, geht davon aus, daß die Fortpflanzung des Lichtes verglichen werden muß mit der Fortpflanzung einer Welle in einem elastischen Medium, mit den Wellenringen etwa, die ein Steinwurf auf einer Wasserfläche auslöst. Da sich das Licht im leeren Raum fortpflanzt, nahm FRESNEL ein feines Medium an, den ‹Äther›, der alle materiellen Körper durchdringt, die leeren Räume ausfüllt und den Lichtwellen als Träger dient. Was versteht man nun unter einer Welle? Eine Welle ist, wenn sie sich frei fortpflanzt, gleich einer Folge von Wogen, deren Kämme durch eine feststehende Entfernung getrennt sind, die man

‹Wellenlänge› nennt. Die Gesamtheit dieser Wogen bewegt sich in der Fortpflanzungsrichtung mit einer bestimmten Geschwindigkeit, der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Welle, die für die Lichtwellen im leeren Raum 300000 km in der Sekunde beträgt, wie es Experimente gezeigt haben, die nach dem Tode FRESNELS ausgeführt worden sind. Die verschiedenen Wogen mit ihren Kämmen und Tälern durchlaufen einen und denselben Punkt im Raume stetig. Die Größe, die sich durch Wellen fortpflanzt, wechselt dort also periodisch, und die Periode dieses Wechsels ist offenbar gleich der Zeit, die zwischen dem Durchgang zweier aufeinanderfolgender Kämme vergeht. Wir haben bisher nur gesehen, wie eine Welle fortschreitet, wenn nichts ihre Fortpflanzung hemmt. Die Dinge verhalten sich anders, wenn die Welle bei ihrer Fortpflanzung auf Hindernisse stößt, wenn sie zum Beispiel auf Oberflächen trifft, die sie aufhalten oder zurückwerfen, oder auch, wenn sie durch Öffnungen in einem Schirm gehen muß, oder endlich, wenn sie auf materielle Punkte trifft, die sie zerstreuen. Dann wird die Welle derart entstellt und auf sich selbst zurückgeworfen, daß man es nicht mehr mit einer einfachen Welle, sondern mit einer Überlagerung einfacher Wellen zu tun hat. Der Schwingungszustand, der sich an jedem Punkt einstellt, hängt dann davon ab, wie sich die Wirkungen der verschiedenen überlagerten einfachen Wellen summieren oder aufheben. Wenn einfache Wellen ihre Wirkungen summieren, wenn sie, wie man sagt, in Phasenübereinstimmung sind, wird die Schwingung, die sich ergibt, sehr intensiv sein. Wenn die einfachen

Wellen sich hingegen aufheben, wenn sie entgegengesetzte Phasen haben, wird die Schwingung schwach, zuweilen sogar gleich null. Zusammenfassend gesagt: dadurch, daß Hindernisse vorhanden sind, welche die Fortpflanzung einer Welle stören, entsteht eine komplizierte Verteilung der Schwingungsintensitäten, eine Verteilung, die überdies in hohem Grade von der Wellenlänge der einfallenden Welle abhängt. Das sind die Interferenz- und Beugungserscheinungen. Wer die Vorstellung, daß das Licht aus Wellen besteht, anerkennt, wird also von vornherein damit rechnen, daß Interferenz- und Beugungserscheinungen auftreten werden, sobald sich dem freien Fortschreiten eines Lichtbündels Hindernisse entgegenstellen. YOUNG und später auch FRESNEL haben gezeigt, daß das Licht unter diesen Bedingungen tatsächlich Interferenz- und Beugungserscheinungen aufweist, und FRESNEL hat weiter bewiesen, daß die Vorstellung von der wellenförmigen Natur des Lichtes ausreicht, um alle beobachteten Erscheinungen in allen Einzelheiten zu erklären. Von dieser Zeit an und während des ganzen letzten Jahrhunderts ist die wellenförmige Natur des Lichtes widerspruchslos anerkannt worden. Nun gibt es aber bekanntlich verschiedene Arten einfachen Lichtes, von denen jede einer gut bestimmbaren ‹Farbe› entspricht. Das weiße Licht etwa, das durch weißglühende Körper, durch den Draht einer elektrischen Birne zum Beispiel, ausgesandt wird, entsteht durch die Überlagerung einer steten Folge einfacher Lichtarten, deren Farben durch unmerkliche Übergänge vom Violett

zum Rot fortschreitend wechseln und das ‹Spektrum› bilden. Die Wellentheorie des Lichtes hat auf natürliche Weise dazu geführt, jede Lichtart, jede Komponente des Spektrums, durch eine Wellenlänge zu charakterisieren, oder um es anders auszudrücken, sie läßt jede Farbe einer Wellenlänge entsprechen. So konnte man, da die Interferenzerscheinungen von der Wellenlänge abhängen, die Wellenlängen messen, welche den verschiedenen Farben des Spektrums entsprechen, und so hat man auch feststellen können, daß sich die Wellenlänge kontinuierlich verändert, ansteigend vom äußersten Violett des Spektrums, wo sie 4 zehntausendstel Millimeter beträgt, bis zum äußersten Rot, wo sie 8 zehntausendstel Millimeter erreicht. Noch vor etwa dreißig Jahren bestand kein Anlaß, die wellenförmige Natur des Lichtes, ebensowenig wie diejenige anderer Strahlen zu bezweifeln. Aber seitdem hat man durch Strahlen erzeugte und bis dahin unbekannte Phänomene entdeckt, die, wie es scheint, nur durch eine Korpuskelvorstellung erklärt werden können. Von diesen Phänomenen ist das wichtigste der photoelektrische Effekt. Es handelt sich um folgende Erscheinung: wenn man ein Stück Materie, ein Metall zum Beispiel, mit Licht bestrahlt, so beobachtet man häufig, daß dieses Stück Materie schnell bewegte Elektronen ausschleudert. Das Studium dieser Erscheinung hat gezeigt, daß die Geschwindigkeit der ausgeschleuderten Elektronen nur von der Wellenlänge der einfallenden Strahlung und von der Natur des ausstrahlenden Körpers abhängt, aber keineswegs von der Intensität der einfallenden Strahlen. Lediglich

die Anzahl der ausgeschleuderten Elektronen ist von dieser Intensität abhängig. Mehr noch: die Energie der ausgeschleuderten Elektronen verändert sich im umgekehrten Verhältnis zur Wellenlänge der einfallenden Welle. EINSTEIN hat Überlegungen über dieses Phänomen angestellt und hat erkannt, daß man, um es zu erklären, wenigstens in gewissem Maße auf eine korpuskulare Struktur der Strahlen zurückkommen muß. Er hat angenommen, daß die Strahlen aus Korpuskeln bestehen, die eine Energie tragen, die umgekehrt proportional zur Wellenlänge ist, und er hat gezeigt, das sich die Gesetze des photoelektrischen Effekts leicht aus dieser Hypothese ableiten lassen. Die Physiker aber befanden sich plötzlich in einer nicht geringen Verlegenheit: neben der Gesamtheit der Interferenz- und Beugungserscheinungen, die zeigen, daß das Licht aus Wellen besteht, steht jetzt der photoelektrische Effekt und andere kürzlich entdeckte Phänomene, die zeigen, daß das Licht aus Korpuskeln gebildet wird, aus ‹Photonen›, wie man gegenwärtig sagt. Es gibt nur einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit: die Wellenanschauung des Lichtes und seine Korpuskelanschauung werden als zwei komplementäre Anschauungen einer gleichen Wirklichkeit anerkannt. Jedesmal, wenn eine Strahlung Energie mit der Materie austauscht, läßt sich dieser Austausch als Absorbierung oder Emission eines Photons durch die Materie beschreiben. Will man aber das Fortschreiten von Lichtkorpuskeln im Raum beschreiben, so muß man zu einer Wellenfortpflanzung seine Zuflucht nehmen. Wenn man diesen Gedanken ausbaut, gelangt

man folgerichtig zu der Annahme, daß die Dichte der Korpuskelwolke, die mit einer Lichtwelle verbunden ist, in jedem Punkt der Intensität dieser Lichtwelle proportional ist. So ergibt sich eine Art Synthese zweier alter rivalisierender Theorien, und man kann gleichzeitig die Interferenzen und den photoelektrischen Effekt erklären. Der große Vorteil dieser Synthese ist, daß sie uns offenbart, wie innig in der Natur Wellen und Korpuskeln, wenigstens im Falle des Lichtes, miteinander verbunden sind. Wenn dies aber für das Licht der Fall ist, darf man dann nicht annehmen, daß es ebenso für die Materie gilt? Alle Bemühungen der Physiker waren darauf gerichtet, die Materie auf ein ausgedehntes Ganzes von Korpuskeln zurückzuführen. Aber muß man nicht folgern, daß, genau wie ein Photon nicht von der Welle getrennt werden kann, die mit ihm verbunden ist, auch die Materiekorpuskeln stets mit einer Welle verbunden sind? Das ist die Hauptfrage, die wir zu erörtern haben. Wir wollen einmal annehmen, die Materiekorpuskeln, die Elektronen zum Beispiel, seien stets von einer Welle begleitet. Wenn nun Korpuskeln und Welle eng verbunden sind, dann sind die Bewegung der Korpuskel und die Fortpflanzung der Welle nicht mehr unabhängig voneinander, und die mechanischen Größen der Korpuskel (Bewegungsgröße und Energie) muß man mit den charakteristischen Größen der zugehörigen Welle (Wellenlänge und Fortpflanzungsgeschwindigkeit) verbinden können. Tatsächlich ist diese Parallele möglich, indem man von der Verbindung ausgeht, die zwischen dem Photon und seiner zugehörigen Welle besteht. Die Theorie einer Verbindung zwischen materiellen Korpuskeln und

ihren zugehörigen Wellen ist heute unter dem Namen Wellenmechanik bekannt. Solange sich die mit einer Korpuskel verbundene Welle in einer Region frei fortpflanzt, deren Dimension groß ist im Verhältnis zur Wellenlänge, führt die neue Mechanik dazu, der mit einer Welle verbundenen Korpuskel die gleiche Bewegung zuzuerkennen, die durch die Gesetze der klassischen Mechanik vorausgesagt wird. Das gilt insbesondere für die Bewegung von Elektronen, die wir direkt beobachten können, und so erklärt es sich, weshalb das Studium der Elektronenbewegungen im großen Maßstab dazu geführt hatte, die Elektronen als einfache Korpuskeln anzusehen. Es gibt aber Fälle, in denen es den Gesetzen der klassischen Mechanik nicht mehr gelingt, die Bewegung der Korpuskel zu beschreiben. Der erste dieser Fälle ist der, in welchem die Fortpflanzung der zugeordneten Welle auf eine Region des Raumes beschränkt ist, deren Dimensionen denen der Wellenlänge entsprechen. Das gilt für die Elektronen im Innern des Atoms. Die mit dem Elektron verbundene Welle ist dann gezwungen, die Form einer Stationärwelle anzunehmen, analog den elastischen Stationärwellen, die etwa ein an beiden Enden befestigtes Seil aufweisen kann, oder analog den elektrischen Stationärwellen, die sich in einer Radioantenne bilden können. Die Theorie zeigt, daß diese Stationärwellen nur gewisse, genau definierte Wellenlängen haben können, denen eine gewisse, genau definierte Energie des zugeordneten Elektrons entspricht, nämlich jene genau definierten Energiezustände, die den ‹gequantelten› Bewegungszuständen entsprechen, welche BOHR in seine Theorie eingeführt hat. Und so

erklärt sich die Tatsache, die bisher sehr geheimnisvoll gewesen war, daß nämlich diese gequantelten Bewegungen die einzig möglichen sind, die das im Atom eingeschlossene Elektron ausführen kann. Es gibt einen zweiten Fall, in dem die Bewegung des Elektrons nicht den klassischen Gesetzen der Mechanik folgen muß, den Fall nämlich, daß seine zugehörige Welle im Lauf ihrer Fortpflanzung auf Hindernisse stößt. Es bilden sich dann Interferenzen, und die Bewegung der Korpuskeln hat keinerlei Beziehung mehr zu derjenigen Bewegung, welche die klassische Mechanik voraussagen würde. Um zu begreifen, wie die Dinge sich abspielen müssen, wollen wir einen Vergleich mit den Strahlen wählen. Nehmen wir einmal an, wir senden eine Strahlung von bekannter Wellenlänge auf eine Vorrichtung aus, die imstande ist, Interferenzen zu erzeugen. Da wir wissen, daß Strahlungen aus Photonen bestehen, können wir sagen, daß wir einen Photonenschwarm auf die in Frage stehende Vorrichtung aussenden. In der Region, in der Interferenzen entstehen, verteilen sich die Photonen derart, daß sie sich dort konzentriert finden, wo die Intensität der zugeordneten Welle am größten ist. Wenn wir jetzt auf dieselbe Vorrichtung nicht mehr eine Strahlung, sondern ein Elektronenbündel aussenden, dessen zugehörige Welle die gleiche Wellenlänge hat wie die vorher benutzte Strahlung, so wird die Welle wie vorher interferieren, da ja die Interferenzerscheinungen der Wellenlänge entsprechen. Dann ist es nur natürlich, wenn wir annehmen, daß sich auch die Elektronen dort konzentriert finden werden, wo die Intensität der Welle am größten ist. Mit anderen Worten: die Elektronen werden sich bei

diesem zweiten Experiment so im Raum verteilen, wie die Photonen beim ersten. Wenn man diese Tatsache feststellen kann, wird man damit zugleich auch die Existenz der mit den Elektronen verbundenen Welle festgestellt haben, und dann wird man sehen können, ob die Formeln der Wellenmechanik exakt sind. Nun führt die Wellenmechanik dazu, mit den Elektronen, die Geschwindigkeiten besitzen, wie sie bei gewöhnlichen Experimenten erreicht werden, eine Welle zu verbinden, deren Wellenlänge von der Größenordnung der Wellenlänge der Röntgenstrahlen ist (1 zehnmillionstel Millimeter). Man muß also, um die Welle der Elektronen festzustellen, versuchen, mit ihnen Interferenzerscheinungen zu erreichen, die denen analog sind, die man mit Röntgenstrahlen erhält. Erscheinungen dieser Art sind tatsächlich erzielt worden, zuerst im Jahre 1927 durch DAVISSON und GERMER in den Vereinigten Staaten, dann durch eine große Anzahl von Experimentatoren, namentlich durch Professor G.P. THOMSON in England und durch PONTE in Frankreich. Ich werde ihre Experimente nicht beschreiben, sondern nur feststellen, daß durch sie die wellenmechanischen Formeln völlig bestätigt worden sind. Diese großartigen Experimente haben also bewiesen, daß das Elektron keine einfache Korpuskel ist. Es ist gewissermaßen Korpuskel und Welle zugleich. Und dasselbe gilt, wie spätere Experimente gezeigt haben, für das Proton. Wir sehen also, daß die Materie ebenso wie das Licht aus Wellen und Korpuskeln gebildet wird. Materie und Licht scheinen also in ihrer Struktur viel ähnlicher

zu sein, als man früher glaubte. Dadurch wird unsere Auffassung von der Natur klarer und einfacher. Der Kern eines Atoms mit der Atomnummer Z trägt, wie wir oben gesehen haben, eine Ladung, die gleich der Z-fachen Ladung des Protons ist, und stellt nahezu die gesamte Masse des Atoms dar. Man hat seit langem vermutet, daß die Atomkerne aus Protonen und Elektronen bestehen, daß ferner die Anzahl der Protonen die Anzahl der Elektronen um Z übersteigt, so daß die gesamte Masse praktisch den Protonen zukommt. Der Gedanke, daß der Kern zusammengesetzt sei, entstand gewissermaßen zwangsweise durch die Interpretation der Radioaktivität. Die Entdeckung der Radioaktivität – angeregt durch HENRI BECQUEREL – ist das Verdienst von PIERRE CURIE und seiner Mitarbeiterin und Gattin, Madame CURIE, geborene MARIE SKLODOWSKA. Die radioaktiven Stoffe sind schwere Elemente, die in der Reihe der Elemente die höchsten Nummern tragen (von 83 bis 92). Sie werden durch die Tatsache charakterisiert, daß sie spontan instabil sind, das heißt, daß der Kern eines ihrer Atome von Zeit zu Zeit explodiert, indem er sich in den Kern eines leichteren Atoms verwandelt. Dieser Zerfall wird begleitet von der Ausscheidung von Elektronen (betaStrahlen), leichten Heliumatomen (Z = 2) (alpha-Strahlen) und von sehr durchdringender Strahlung mit sehr hohen Frequenzen (gamma-Strahlen). Die Entdeckung dieser radioaktiven Erscheinungen war für die Physiker von überaus großem Interesse, da sie bewies, daß die Atomkerne in der Tat zusammengesetzte Bauwerke sind. Denn ein komplizierter Kern läßt, wenn er sich

spaltet, einen einfacheren Kern entstehen und verwirklicht so spontan die Umwandlung der Elemente, von der die Alchimisten des Mittelalters geträumt haben. Leider aber ist die Radioaktivität ein Phänomen, auf das wir keinerlei Einfluß auszuüben vermögen. Wir können infolgedessen nichts weiter tun, als sie beobachten, ohne eine Möglichkeit, die Modalitäten zu beeinflussen. Etwa zwanzig Jahre jedoch nach der Entdeckung der Radioaktivität ist durch die Entdeckung der künstlichen Atomzertrümmerung, die wir dem englischen Physiker RUTHERFORD verdanken, ein großer Fortschritt erzielt worden. Indem man leichte Atome mit Hilfe von alpha-Teilchen beschoß, die selbst wieder von radioaktiven Stoffen ausgesandt werden, gelang es, diese leichten Atome aufzubrechen. Man erhält einfachere Atome und vollzieht auf diese Weise in der Tat eine künstliche Umwandlung. Zwar ist diese Umwandlung nur für so kleine Materiemengen verwirklicht worden, daß sie zur Zeit keinerlei praktischen Nutzen hat, aber ihr theoretischer Nutzen ist sehr groß, denn sie erweist die Einheit der Materie und gibt uns Aufschluß über den Aufbau der Kerne. In der Erforschung der künstlichen Umwandlung ist man in den letzten Jahren sehr viel weiter gekommen, und zwar zuerst in England, wo, beeinflußt durch Lord RUTHERFORD, die jungen Physiker CHADWICK, COCKCROFT, WALTON und BLACKETT bewundernswerte Ergebnisse erzielten, dann in verschiedenen anderen Ländern und namentlich in den Vereinigten Staaten, dort vor allem durch die Arbeiten von LAWRENCE. In Frankreich, und zwar in Paris, gibt es zwei wichtige Institute, an denen junge,

hervorragend tüchtige Gelehrte sich mit den Kernfragen beschäftigen. Da ist einmal das Radioinstitut, dem Madame CURIE bis zu ihrem Tode vorstand, und in dem in erster Linie ihre Tochter, Madame IRÈNE JOLIOT-CURIE, und deren Gatte F. JOLIOT sowie PIERRE AUGER, ROSENBLUM und andere tätig sind. Da ist ferner das Laboratorium für physikalische Untersuchung der Röntgenstrahlen, das durch den Bruder des Verfassers gegründet worden ist, und das noch heute von ihm geleitet wird. An ihm haben JEAN THIBAUD, J.J. TRILLAT, LEPRINCE-RINGUET und andere Forscher schöne und fruchtbare Versuche gemacht. Ich kann hier nun keineswegs auf die Einzelheiten der Ergebnisse eingehen, die zu einer Art Atomkern-Chemie geführt haben. Die Umwandlungen werden dabei durch Gleichungen dargestellt, die denjenigen völlig analog sind, welche die Chemiker seit langem benutzen, um die gewöhnlichen chemischen Reaktionen darzustellen. Aber ich möchte auf zwei fundamentale Entdeckungen eingehen, die im Laufe der Untersuchungen ganz unerwartet gemacht worden sind. Da ist zuerst die Entdeckung des Neutrons. Im Laufe gewisser Zertrümmerungsexperimente haben sowohl CHADWICX wie auch das Ehepaar JOLIOT in den Zertrümmerungsprodukten die Anwesenheit einer neuen, bisher unbekannten Korpuskelart festgestellt. Diese Korpuskeln, die sehr leicht die Materie durchqueren, scheinen keine elektrische Ladung zu haben und eine Masse zu besitzen, die genau gleich der des Protons ist. Man nennt sie gegenwärtig ‹Neutronen›, und es ist wohl

nicht mehr zu bezweifeln, daß sie im Aufbau der Kerne eine wichtige Rolle spielen. Nicht ganz ein Jahr nach der Entdeckung des Neutrons (1932) hat man eine vierte Korpuskelart entdeckt. Beim Studium von Zertrümmerungswirkungen, die durch kosmische Strahlen hervorgerufen werden, haben sowohl ANDERSON wie auch BLACKETT und OCCHIALINI die Existenz des positiven Elektrons festgestellt, das heißt einer Korpuskel, die gleiche Masse hat wie das Elektron, deren elektrische Ladung aber gleich der des Elektrons mit entgegengesetzten Vorzeichen ist. Diese positiven Elektronen, die viel seltener auftreten, als die negativen Elektronen, spielen offensichtlich in den Atomkern-Phänomenen eine bedeutende Rolle. Infolge dieser sensationellen Entdeckungen, die in den letzten Jahren gemacht worden sind, stellt sich nun die Lage viel komplizierter dar als zuvor. Denn wir kennen jetzt vier Arten von Korpuskeln: Elektronen, Protonen, positive Elektronen und Neutronen. Sind sie aber wirklich alle elementar? Zweifellos nicht. Wahrscheinlich muß eines der vier zusammengesetzt sein. Nimmt man zum Beispiel an, daß das Proton, das Elektron und das positive Elektron elementar sind, dann würde das Neutron aus einem Proton bestehen, das fast für die gesamte Masse verantwortlich ist, und aus einem Elektron, das die Ladung des Protons neutralisiert. Man kann auch – und diese Hypothese scheint uns verführerischer – annehmen, daß das Neutron und beide Arten von Elektronen Elementarkorpuskeln sind; das Proton würde dann aus einem Neutron und einem positiven Elektron bestehen und den Rang einer

einfachen elementaren Korpuskel verlieren. Wie dem auch sei, die Entdeckung des Neutrons und des positiven Elektrons hat unsere Kenntnis von der Atomwelt beträchtlich bereichert. Ich will hier noch ein Wort über die kosmischen Strahlen sagen. Eine Reihe von Arbeiten, die in den letzten Jahren ausgeführt worden sind, in erster Linie die von Professor MILLIKAN, haben die Existenz einer äußerst durchdringenden Strahlung aufgezeigt, die aus dem interplanetaren Raum zu kommen scheint. Man hat entdeckt, daß diese Strahlung außerordentlich kräftige Wirkungen auf die Materie ausübt, indem sie zahlreiche Atomzertrümmerungen hervorruft. Das Studium der kosmischen Strahlen ist schwierig, von ihrer Natur wissen wir noch ziemlich wenig, aber es ist sehr wahrscheinlich, daß in nächster Zeit auch auf diesem Gebiet zahlreiche und interessante Ergebnisse zu erwarten sind. Man sieht aus dieser sehr gedrängten Darlegung, daß die Laboratoriumsversuche uns seit einigen Jahren Tag für Tag Entdeckungen beschert haben, die von unermeßlichem Wert sind. Die theoretische Physik nun, deren Aufgabe es ist, die experimentellen Versuche zu erklären und zu leiten, ist währenddessen auch nicht untätig geblieben. Seit dreißig Jahren ist die Geschichte der theoretischen Physik bestimmt worden durch die Entwicklung zweier großer Lehren, die von ungeheurer Tragweite sind, durch die Entwicklung der Relativitätstheorie und der Quantentheorie. Von ihnen ist die Relativitätstheorie, die weniger direkt mit dem Fortschritt der Atomphysik verbunden ist, wohl diejenige, die dem großen

Publikum am bekanntesten ist. Sie geht von gewissen Experimenten aus, die die Interferenz des Lichtes betreffen, und die man mit Hilfe der alten Theorien nicht erklären konnte. Mit einer geistigen Kraft, die in den Annalen der Wissenschaft denkwürdig bleiben wird, hat ALBERT EINSTEIN diese Schwierigkeiten überwunden, und zwar dadurch, daß er ganz neue Begriffe von der Natur des Raumes und der Zeit und von ihrer gegenseitigen Beziehung eingeführt hat. So wurde jene schöne Relativitätstheorie geboren, die uns später, als man sie verallgemeinerte, eine neuartige Vorstellung von der Schwerkraft geliefert hat. Gewisse experimentelle Bestätigungen hat man bestritten. Man bestreitet sie auch heute noch, aber eines ist sicher, daß wir nämlich der Relativitätstheorie außerordentlich neue und fruchtbare Gesichtspunkte verdanken. Sie hat uns gezeigt, wie man unübersteigbar scheinende Hindernisse überwinden und unerwartete Ausblicke entdecken kann, wenn man nur gewisse vorgefaßte Meinungen aufgibt, die ihre Geltung mehr der Gewohnheit als der Logik verdanken. Den Geist der Physiker zu üben, war die Relativitätstheorie ein herrliches Mittel. Mindestens ebenso bedeutsam, wenn auch der Allgemeinheit weniger bekannt, war die Aufstellung der Quantentheorie und ihr weiterer Ausbau. Mit ihrer Hilfe gelang es, die Feststellungen der Experimentalphysik auszuwerten und eine Wissenschaft der atomaren Phänomene zu begründen. Wenn man nämlich die Phänomene genauer beschreiben wollte, war man dem fundamentalen Zwang unterworfen, völlig neue, der klassischen Physik gänzlich fremde Anschauungen gelten zu lassen. Um die

Atomwelt zu beschreiben, genügt es nicht, Methoden und Bilder, die in unserem oder auch im astronomischen Bereich gültig sind, auf viel kleinere Bereiche zu übertragen. Wir haben bereits gesehen, daß man auf Grund der Arbeiten BOHRS übereingekommen ist, sich die Atome als kleine Miniatursonnensysteme vorzustellen, in denen die Elektronen die Rolle der Planeten spielen, die Bahnen um eine positiv geladene Zentralsonne beschreiben. Aber um mit dieser Vorstellung wirklich interessante Ergebnisse zu erhalten, mußte man voraussetzen, daß das atomare Sonnensystem bestimmten Gesetzen gehorcht, den Quantengesetzen nämlich, die völlig verschieden sind von denen der astronomischen Systeme. Je mehr man über diese Unterschiede nachdachte, desto stärker wurde man sich ihrer großen Tragweite, ihrer grundlegenden Bedeutung bewußt. Die Einschaltung der Quanten hatte zur Folge, daß überall in der Atomphysik das Diskontinuum eingeführt wurde, und diese Einführung ist wesentlich, da ohne sie die Atome instabil wären und die Materie nicht existieren könnte. Wir haben gesehen, daß die Quantentheorie infolge der Entdeckung der doppelten – korpuskularen und wellenmäßigen – Natur des Elektrons seit einigen Jahren eine neue Form angenommen hat, die man ‹Wellenmechanik› nennt. Ihre Erfolge sind zahllos gewesen. Die Wellenmechanik hat uns erlaubt, diejenigen Phänomene, welche von der Existenz gequantelter Stationärzustände für die Atome abhängen, besser zu verstehen und besser vorauszusagen. Auch die Chemie hat aus der Entwicklung der neuen Theorie Nutzen gezogen, denn es ergab sich aus ihr eine

ganz neue und interessante Art, die chemischen Verbindungen aufzufassen. Die Entwicklung der Wellenmechanik hat die Physiker veranlaßt, ihre Vorstellungen mehr und mehr zu erweitern. Die Naturgesetze haben in dieser neuen Lehre nicht mehr den strengen Charakter, den sie in der klassischen Physik hatten. Es gibt keinen unumstößlichen Determinismus der Erscheinungen mehr, sondern nur noch Wahrscheinlichkeitsgesetze. Dies drückt die berühmte, durch WERNER HEISENBERG aufgestellte ‹Unbestimmtheitsrelation› auf präzise Weise aus. Selbst die Begriffe Kausalität und Individualität mußten einer neuen Prüfung unterzogen werden, und aus dieser bedeutsamen Krise der Hauptgrundsätze unserer physikalischen Vorstellungen werden sich zweifellos auf philosophischem Gebiet Konsequenzen ergeben, die wir heute noch nicht übersehen können.› (LOUIS DE BROGLIE, Licht und Materie. Ergebnisse der neuen Physik I. Mit einem Vorwort von Werner Heisenberg. 7. Aufl., Hamburg 1939, Claassen Verlag, S. 16–36.)   Werke: L’Electron magnétique, Paris 1934 / Ondes et corpuscules, Paris 1928 / Matèrie et lumière, Paris 1937, deutsch: Licht und Materie, 7. Aufl. 1949 / Continu et discontinu au physique moderne, Paris 1941, deutsch: Die Elementarteilchen, 1943 / Physique et microphysique, Paris 1947, deutsch 1950. / Théorie générale des particules à spin, Paris 1943 / Herausg.: La cybernétique, théorie du signal et de l’information, Paris 1951.

*** Unser Anhang hatte den Zweck, durch eine notgedrungen knapp gehaltene Auswahl aus den Schriften ihrer hervorragendsten Vertreter die geschichtliche Situation der modernen Naturwissenschaft wenigstens andeutungsweise zu schildern. Wir möchten zusammenfassend folgendes hervorheben: 1. Die moderne Naturwissenschaft zeichnet sich in ihren Anfängen durch eine bewußte Bescheidenheit aus; sie macht über streng begrenzte Zusammenhänge Aussagen, die nur im Rahmen dieser Grenzen Gültigkeit haben. 2. Im 19. Jahrhundert geht diese Bescheidenheit weitgehend verloren. Die Erkenntnisse der Physik werden als Aussagen über die Natur als Ganzes betrachtet. Die Physik will Philosophie sein und verschiedentlich wird gefordert, daß jede wahre Philosophie Naturwissenschaft sein müsse. 3. Heute macht die Physik einen grundsätzlichen Wandel durch, als dessen hervorstechendster Zug die Rückkehr zu ihrer ursprünglichen Selbstbescheidung erscheint. 4. Der philosophische Gehalt einer Wissenschaft bleibt aber nur dann gewahrt, wenn sie sich ihrer Grenzen bewußt wird. Die großartigen Entdeckungen über die Eigenschaften einzelner Naturphänomene sind nur möglich, wenn man noch nicht verallgemeinernd das Wesen solcher Phänomene im voraus bestimmt. Nur dadurch, daß die Physik offenläßt, was Körper, Materie, Energie usw. in ihrem letzten Wesen sind, gelangt sie zu

Erkenntnissen über einzelne Eigenschaften der Erscheinungen, die wir mit diesen Begriffen bezeichnen, zu Erkenntnissen, die dann zu wirklichen philosophischen Einsichten überzuleiten vermögen.

Enzyklopädisches Stichwort

‹Natur› Unser Begriff der ‹Natur› stammt her vom griechischen Terminus physis. Dieses Wort ist abgeleitet vom Stamme phy (lat. fio fui, deutsch bin), der das Wachsen bezeichnet. Physis umschließt alles das, was entsteht und wird, und erfaßt so das Weltall in seiner Gesamtheit. Wir übersetzen es durch ‹Natur›, vom lateinischen Ausdruck natura, dessen Bedeutung der des griechischen Wortes entspricht (nasci geboren werden, wachsen, verwandt mit gignere). Für die ursprüngliche griechische Vorstellung wird also als Wirklichkeit vorzüglich das angesehen, was unmittelbar wird, insofern es wächst; wobei daran zu erinnern ist, daß für die Griechen das natürliche Wachsen immer das innewohnende Gesetz einer jeden Wesenheit verwirklicht. Daher wird auch unter ‹Natur›, als dem Prinzip des Werdens, sehr oft das ‹Wesen› eines Dinges verstanden. Der Begriff der Natur, die Vorstellung also, die sich der menschliche Geist von ihr bildet, macht eine lange und wechselvolle Geschichte durch. Die Kenntnis der natürlichen Phänomene ändert sich und damit auch die Auffassung der Natur. Die frühphilosophische Zeit der KOSMOGONIEN (6. vorchristliches Jahrhundert) – d.h. die Zeit der Erörterungen über den Ursprung des Kosmos, des Alls – ist erfüllt von mythischen

Vorstellungen, in denen schon immer das Verhältnis des Menschen zur Natur eine zentrale Rolle spielt. Eine erste nicht mehr mythische, sondern philosophische Einschränkung des Begriffes der physis, der Natur, beginnt in der Antike durch die SOPHISTIK (PROTAGORAS480–410, GORGIAS483 bis 375, HIPPIAS und PRODIKOS, jüngere Zeitgenossen des PROTAGORAS) und die sokratische Philosophie. Nicht mehr die ganze Wirklichkeit sammelt sich in diesem Begriff, sondern nur noch ein bestimmtes Gebiet. Die Sophisten zuerst haben die physis gegen den nomos (Gesetz) ausgespielt, haben das ‹Natürliche› zu dem bloß ‹Vereinbarten› und vom Menschen Festgelegten in Gegensatz gebracht. SOKRATES (469–399) mit seiner ethischen Fragestellung bekennt seine Mißachtung einer Wissenschaft der Natur und setzt ihr die Idee einer Wissenschaft vom Menschen entgegen. Auf der einen Seite steht jetzt die Natur, auf der andern der Mensch mit seiner Kultur: So steht also schon am Beginn des abendländischen Denkens das Problem, ob es wichtiger sei, die Natur zu erkennen oder das Wesen des Menschen. Nach höchst bedeutenden Vorstufen bei den ATOMISTEN (DEMOKRIT460–371) und PLATON (427–347; Naturphilosophie im ‹Timaios›) finden wir den großen abschließenden Entwurf der griechischen Naturphilosophie bei ARISTOTELES (384–322; Hauptwerke: ‹Physik›, griech. und deutsch mit Anm. v.C. Prantl, Leipzig 1854; Metaphysik, übers, mit Anm. v.E. Rolfes, Leipzig 1921, 2

von A. Lasson , Jena 1924; ‹Über die Seele›, übers, v.A. Busse, 3

Leipzig 1911; ‹Nikomachische Ethik›, übers, v.E. Rolfes , Leipzig 3

3

1920; ‹Politik›, übers, v.E. Rolfes , Leipzig 1922). Den Gehalt dieser Lehre auch nur anzudeuten, kann hier nicht versucht werden; zu erinnern ist nur daran, daß die nacharistotelischen Philosophenschulen, also die EPIKUREER (EPIKUR342–270, Nachfolger HERMACHOS, ZENON VON SIDON, geb. um 150, T. LUCRETIUS CARUS96–55), die STOIKER (ALTE STOA300–150: ZENON VON KITION, etwa 336–264, KLEANTHES331 bis 232, CHRYSIPP281/78–208/05; MITTLERE STOA150–50 v. Chr.: PANAITIOS um 180–110, POSEIDONIOS um 135–51; SPÄTERE STOA50 v. Chr. – 200 n. Chr.: SENECA, um 4 v. Chr. – 65 n. Chr., EPIKTET um 50–138, MARK AUREL121–180), die NEUPYTHAGOREER (NIGIDIUS FIGULUS, erste Hälfte des 1. vorchristlichen Jahrhunderts, APOLLONIOS VON TYANA 1. Jahrhundert n. Chr., NIKOMACHUS aus Cherasa um 140 n. Chr., NUMENIOS aus Apameia zweite Hälfte des 2. Jahrh.) und die NEUPLATONLKER (AMMONIOS SAKKAS175–242, PLOTINOS205–270, LONGINOS213–273, PORPHYRIOS232–304, IAMBLICHOS gest. um 330, PROKLOS410–485, SIMPLIKIOS gest. 549), viele, aber für uns nicht entscheidende Abwandlungen bringen. Die Scheidung der Welt in Natur und Geist und damit die Kluft zwischen der ‹Physik› auf der einen Seite, der ‹Ethik› und ‹Logik› auf der andern blieb in Stoa und Epikureismus erhalten, wenn auch die Stoa den letzten und einzigen Versuch einer universalen Versöhnung der beiden Reiche unternahm: ein gigantisches und doch am Ende vergebliches Ringen. Im

Neuplatonismus endlich sinkt die physis völlig herab und wird als eine irrationale, im Grunde nichtige Wirklichkeit angesehen. Das christliche Denken der ersten KIRCHENVÄTER (TERTULLIANUS160–222, LACTANTIUS250–325, CLEMENS v.Alexandrien 150 bis 215, ORIGENES185–254, EUSEBIOS v.Caesarea 265–340) übernimmt teilweise den ursprünglich platonisch-aristotelischen Begriff der Natur; wobei aber dieser, da ‹Natur› ganz unantik als eine Schöpfung Gottes aus dem Nichts verstanden wird, seine Bedeutung entscheidend ändert und verliert. Wenn es auch im Mittelalter eine eigenständige Naturforschung nicht gibt, so kennt doch dieses Zeitalter eine Naturwissenschaft, die sich in der Pflege antiker Überlieferungen, namentlich der aristotelischen, hervortut. Bewahrer der antiken Überlieferung waren zunächst die Philosophen und Naturwissenschaftler des Islam (ALHAZEN um 965–1039, AVICENNA980–1037). Den Höhepunkt der mittelalterlichen Naturwissenschaft im Abendlande stellt ALBERT DER GROSSE (1193–1280) dar, der ein umfassendes Naturbild auf aristotelischer Grundlage entwirft. Mit dem Zeitalter des Humanismus und der Renaissance (15. und 16. Jahrhundert) entsteht eine neue Auffassung der Natur, die für uns von zentraler Wichtigkeit ist. Der Zugang zur Natur wird jetzt vor allem durch das Experiment gesucht – ein spezifisch moderner Begriff, der wohl zum ersten Male bei LEONARDO DA VINCI (1452 bis 1519) in klarer theoretischer Form auftritt. (Am bekanntesten sein ‹Traktat über die Malerei› und ‹Über die Anatomie des Menschern. Eine Auswahl aus seinen umfänglichen

nachgelassenen Manuskripten bei M. Herzfeld: ‹Leonardo da Vinci, Der Denker, Forscher und Poet›, 3. Auflage, Jena 1910). Experiment ist die Befragung der Natur im Hinblick auf eine im voraus entworfene Theorie, um zu prüfen, ob diese durch das Experiment bestätigt oder widerlegt wird. Der Ausgangspunkt zur Befragung der Natur wird also die vom Menschen an sie herangetragene Theorie. Daher ist es nach LEONARDO DA VINCI auch nicht möglich, die ganze Natur zu erkennen, sondern nur jene Ausschnitte, die sich im Rahmen der von Menschen aufgestellten Theorien und Fragen ergeben. Die Natur ist so das Korrelat zum Menschen und seiner Fähigkeit. LEONARDOS Begriff des auf die Theorie gestützten Experiments entspricht auch die neue Grundeinstellung BACONS (1561 bis 1626; The Two Books on the Proficience and Advancement of Learing1605; De dignitate et augmentis scientiarum1623; Novum Organum scientiarum1620). Bei ihm zeigt sich ein zweiter, für die moderne Naturwissenschaft entscheidender Grundzug. Erkenntnis der Natur bedeutet vor allem ihre Beherrschung. Erkennen ist Können. Damit setzt sich ein wesentlicher Aspekt der modernen Naturwissenschaft durch, den die Antike nicht kannte: die Technik, das Gerichtetsein nicht auf ein theoretisches Erkennen, sondern auf das Wirken. Der Begriff des Experiments wird von GALILEO GALILEI (1564 bis 1642) weiterentwickelt. (Hauptschriften: Nuncius Sidereus1610; Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo1632, übers, v.E. Strauss, Leipzig 1892; Discorsi e dimostrazioni matematiche intornoa due nuove scienze1638, übers, v.A.v.Oettingen in Ostwalds Klassikern, Leipzig

1890, 2. Abdr. 1908), und wir erleben bei ihm und KEPLER (1571– 1630; Astronomia nova1609; Harmonices mundi1619) die Umkehrung des antiken Begriffes vom Weltall. Der große Verfechter dieses neuen Begriffs der Natur und des Weltalls war GIORDANO BRUNO (1548–1600: De umbris idearum1582; Deila causa, principio et uno1584; De l’infinito, universo e mondi1584; Degl’eroici furori1585; De triplici minimo1591; De immenso et inumerabilibus1591. Übers.: Giordano Brunos gesammelte philosophische Werke, verdeutscht und erkl. v.L. Kuhlenbeck 1890– 1909. Auswahl mit Übers, u.Kommentar v.E. Grassi: Heroische Leidenschaf ten und individuelles Leben, 1947). Mit ihm wird ein neuer Schritt über den kopernikanischen Begriff der Welt hinaus vollzogen: es handelt sich nicht nur darum, dem alten geozentrischen System das neue Sonnensystem entgegenzusetzen, sondern zu erkennen, daß es nidit nur eine derartige Welt gibt, sondern unendlich viele. Bei aller gebotenen Kürze ist es doch nötig, hier einen Augenblick zu verweilen. Das bis zum Beginn der Neuzeit geltende Weltsystem rührte her aus ARISTOTELES’ Kosmologie, war vermittelt von alexandrinischen Gelehrten, so von HIPPARCH (etwa 190–120 v. Chr.) und abschließend dargestellt von PTOLEMÄUS (2. Jahrhundert n. Chr.). Dieses aristotelisch-ptolemäische System sah die Welt geozentrisch an, d.h. die Erde lag ruhend im Zentrum des Alls. Universum und Erde haben Kugelgestalt. Die Bewegungen der Himmelskörper erklärte man durch Annahme von zehn festen, durchsichtigen, ineinanderliegenden Kugelschalen, in welche die

Sterne eingelassen sind. Die äußerste dieser ‹Sphären› trägt die Fixsterne, die anderen tragen die Planeten. Jeder Planet gehört einer besonderen Sphäre an: Diese kreisen um die Erde und mit ihnen die zugehörigen Gestirne. Im Gegensatz zu diesem Weltbild hatte KOPERNIKUS (1473– 1543) in seiner Schrift ‹De revolutionibus orbium coelestium libriVI› (1543) gelehrt, daß die Sonne im Mittelpunkt des Weltalls stehe, die Erde zu den Planeten gehöre und diese sämtlich von Westen nach Osten um die ruhende Sonne kreisen. Zu dieser Weltkonstruktion bekannte sich auch G. BRUNO, wobei ihn nicht nur astronomische Erwägungen leiteten, sondern vor allem die philosophische Überzeugung, daß die Welt nicht endlich sein könne. In seiner Schrift ‹Von der Ursache›, die sich mit der traditionellen Philosophie auseinandersetzt, lehrt BRUNO, das All habe weder Grenzen noch einen Mittelpunkt. So wird die Welt, die der Mensch kennt, nur zu einer unter vielen andern. Schließlich erinnern wir noch an den entscheidenden Wandel des Naturbegriffes bei KANT (1724–1804; ‹Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels› 1755; ‹Kritik der reinen Vernunft? 1781, 2. Aufl. 1787; ‹Kritik der praktischen Vernunft› 1788; ‹Kritik der Urteilskraft 1790; ‹Metaphysik der Sitten› 1797). Das Problem der Natur löst sich weitgehend auf in das Problem ihrer Erkenntnis: die sinnlichen Phänomene, in denen wir die Natur erfahren, werden vorab in uns durch dem Menschen eigene Anschauungsformen geordnet (Raum und Zeit; die Kategorien). Auf diese Weise ergibt sich dann ein System der Natur, das den reinen

mathematischphysikalischen Gesetzen mit Notwendigkeit unterliegt: Der Mensch ist Gesetzgeber der Natur. Aber wiederum tritt hier das Problem des Menschen und seiner Freiheit auf. Die Freiheit des Menschen ist ihrer selbst gewiß gerade im Gegensatz zur Natur, insofern sie die kausale Notwendigkeit übersteigt. So steht die Natur hier eingeschränkt durch die Erfahrungsformen des Menschen, und sein eigentlich menschlich-sittliches Leben fällt nicht mehr in ihren Bereich. Die Entwicklung des Naturbegriffs in der nachkantischen Philosophie kann hier nicht eingehender verfolgt werden. Gewiß hat HEGELS (1770–1831) Auffassung der Naturwissenschaft als einer a priori demonstrierbaren Vorstufe der Philosophie dazu beigetragen, im Abendland eine Reaktion des empirischen Naturalismus unter dem Namen des POSITIVISMUS (COMTE1798–1857, MILL1806 bis 1873, FEUERBACH1804–1872, SPENCER1820–1903) und MATERIALISMUS (MOLESCHOTT1822–1893, BÜCHNER1824– 1899, HAECKEL1834–1919) heraufzurufen. Indessen erwiesen sich diese allzu großen Simplifikationen als nicht von langer Dauer. In der Physik seit Beginn des 20. Jahrhunderts geht die Welt in eine Gesamtheit von mathematischen Sachverhalten auf oder kann doch wenigstens nur durch diese zweckentsprechend beschrieben werden. Das ist ein entscheidender Vorgang. Vorwissenschaftlich und unmittelbar liegt die Natur in der Gestalt vor, in der sie der Mensch durch seine Sinnesorgane erfaßt. Nun bleiben zwar immer die Sinne der grundlegende Beobachtungsapparat; aber der Mensch kommt in seiner Forschung nun nicht mehr ohne die Hilfe der

Technik aus. So entfernt sich allmählich die Welt des Physikers notgedrungen immer mehr von der Alltagswelt des Menschen. Noch vor einigen hundert Jahren schaute man im Aufgang der Sonne die Wirklichkeit an, wie sie ist; inzwischen hat sich das als Täuschung erwiesen, und wir können unsern Augen nicht länger trauen. Heute sind wir so weit, daß sich die gesamte wahrgenommene Welt in ein Meer von Täuschung verwandelt hat; Vorhang auf Vorhang wurde beiseitegezogen, bis wir endlich vor einem letzten Vorhang der Wirklichkeit zu stehen glauben, auf dem nur noch Elektronenschatten vorüberhuschen, gespenstisch und kaum zu fassen. Der rechnende Verstand hat hier das letzte Wort; aus dem Vordergrund der Wahrnehmung rückt die Welt in den Hintergrund des Gedankens. HEISENBERGS Schrift weist auf diesen Prozeß hin, auf die Tatsache und auf die Gefahr, in der sich der Mensch befindet, wenn er die Natur in Gebilde seines Denkens auflöst und sie maßlos beherrscht. Wie am Beginn des abendländischen Denkens steht auch heute vor uns die Mahnung, uns auf das Wesen des Menschen zu besinnen.   Ernesto Grassi

Über den Verfasser WERNER CARL HEISENBERG wurde am 5. Dezember 1901 zu Würzburg als Sohn des damaligen Gymnasiallehrers Dr. August Heisenberg geboren. Im Jahre 1909 wurde sein Vater Professor für mittel- und neugriechische Sprachen an der Universität München. Dort besuchte Werner Heisenberg das humanistische MaximiliansGymnasium und legte im Jahre 1920 die Reifeprüfung ab. Dann studierte er in München Physik. Seine Lehrer waren in erster Linie: Sommerfeld, Wien, Pringsheim und Rosenthal. Im Wintersemester 1922/23 studierte er bei Born, Frank und Hilbert in Göttingen und erwarb im Sommer 1923 bei Sommerfeld in München den Grad eines Dr. phil. Anschließend wurde er Assistent bei Born in Göttingen. Im Sommer 1924 erwarb er in Göttingen die venia legendi. Im Winter 1924 bis 1925 arbeitete er als RockefellerStipendiat bei Niels Bohr in Kopenhagen. Im Sommer 1925 arbeitete er wieder in Göttingen. 1926 wurde er zum Lektor für theoretische Physik an die Universität Kopenhagen berufen. Im Herbst 1927 wurde er ordentlicher Professor für theoretische Physik an der Universität Leipzig. Im Jahre 1929 unternahm er eine längere Reise zu Vorlesungen und Vorträgen in den Vereinigten Staaten von Amerika, Japan und Indien. Auch in den Jahren 1932 und 1939 hielt er Vorlesungen in den Vereinigten Staaten. 1933 erhielt er den Nobelpreis für Physik für das Jahr 1932. Im Jahre 1941 wurde er an

die Universität Berlin berufen und wurde zugleich Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik in Berlin-Dahlem. Bei Ende des Krieges wurde er gleichzeitig mit einigen anderen Atom-Physikern von amerikanischen Truppen gefangengenommen und nach England gebracht. Von dort kehrte er im Frühjahr 1946 nach Deutschland zurück und richtete mit einigen früheren Mitarbeitern das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Göttingen neu ein. Das Institut, das seit 1946 im Rahmen der als Nachfolgegesellschaft der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gegründeten Max Planck-Gesellschaft betrieben wurde und seit 1948 den Namen Max-Planck-Institut für Physik führt, konzentriert seine wissenschaftliche Arbeit auf die Untersuchung der kosmischen Strahlung und damit auf die Atomphysik der Elementarteilchen. Im Frühjahr 1948 hielt W. Heisenberg für einige Monate Vorlesungen an der Universität Cambridge, England, im Herbst 1950 und 1954 auf Einladung verschiedener Universitäten in den Vereinigten Staaten. Im Herbst 1955 hielt er in St. Andrews, Schottland, die sogenannten Gifford Lectures, die sich mit den Grenzfragen zwischen der modernen Physik und der Philosophie befassen und die inzwischen in Buchform erschienen sind. Im Sommer 1958 ist er zusammen mit dem Max-Planck-Institut für Physik nach München übergesiedelt, wo seinem Institut durch den Bayerischen Staat ein neues Gebäude zur Verfügung gestellt wurde. Ende 1970 hat er das Amt des Direktors des Max-Planck-Instituts für Physik und Astrophysik abgegeben, dessen Wissenschaftliches Mitglied er weiterhin ist. Er beschäftigt sich heute mit speziellen Problemen aus der Theorie der

Elementarteilchen und hat in den letzten Jahren einige Bücher, zum Teil über philosophische Themen, veröffentlicht.

Wichtige Veröffentlichungen von Werner Heisenberg: Die physikalischen Prinzipien der Quantentheorie, Hirzel, Leipzig 1930, 4. Aufl. 1944 / Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft, Hirzel, Leipzig 1935, 9. Aufl. 1959 / Die Physik der Atomkerne, Vieweg, Braunschweig 1943, 3. Aufl. 1949 / (als Hrsg.) Vorträge über die Kosmische Strahlung, Springer, Berlin 1943, 2. Aufl. 1953 / Physik und Philosophie, Hirzel, Stuttgart 1959; Ullstein Taschenbücher-Verlag, Frankfurt/M. 1959 / Introduction to the Unified Field Theory of Elementary Particles, John Wiley Ltd., New York, London (1966); dt.: Einführung in die einheitliche Feldtheorie der Elementarteilchen, Hirzel, Stuttgart (1967) / Der Teil und das Ganze – Gespräche im Umkreis der Atomphysik, Piper, München 1969; engl.: Physics and Beyond – Encounters and Conversations, Harper & Row, New York, Evanston, London 1971 / Schritte über Grenzen, Piper, München 1971.

Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften: Über Stabilität und Turbulenz von Flüssigkeitsströmen. Ann.d.Phys. (4) 74 (1924) 577–627 / (mit H.K. Kramers): Über die Streuung von Strahlung durch Atome. Zs.f. Phys. 31 (1925) 681–708 / Über quantentheoretische Umdeutung kinematischer und mechanischer Beziehungen. Zs.f. Phys. 33 (1925) 879–983 / (mit M. Born und P. Jordan): Zur Quantenmechanik. II. Zs.f. Phys. 35 (1926) 557–615 / (mit P. Jordan): Anwendung der Quantenmechanik auf das Problem der anomalen Zeemaneffekte. Zs.f. Phys. 37 (1926) 263–277 / Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik. Zs.f. Phys. 43 (1927) 172–198 / Zur Quantentheorie des Ferromagnetismus. Probleme der modernen Physik. (SommerfeldFestschrift) (1928) 114–122 / (mit W. Pauli): Zur Quantendynamik der Wellenfelder. Zs.f. Phys. 56 (1929) 1–61 / Über den Bau der Atomkerne. I.Z. Physik 77 (1932) 1–11; II. Z. Physik 78 (1932) 156– 164; III. Z. Phys. 80 (1933) 587–596 / Die Struktur der leichten Atomkerne. Z. Physik 96 (1935) 473–484 / Über die ‹Schauer› in der kosmischen Strahlung. Forsch.u.Fortschr. 12 (1936) 341–342 / Zur Theorie der explosionsartigen Schauer in der kosmischen Strahlung II. Z. Physik 113 (1939) 61–86 / Die ‹beobachtbaren Größen› in der Theorie der Elementarteilchen. I u. II. Z. Physik 120 (1943) 513–538, 673–702 / Zur statistischen Theorie der Turbulenz. Z. Physik 124 (1948) 628–657 / Mesonenerzeugung als

Stoßwellenproblem. Z. Physik 133 (1952) 65–79 / Zur Quantisierung nichtlinearer Gleichungen. Nachr. Akad. Wiss. Göttingen 1953, S. 111–127 / Zur Quantentheorie nichtrenormierbarer Wellengleichungen. Z. Naturf. 9a (1954) 292–303 / Zur Quantentheorie nichtlinearer Wellengleichungen III u. IV. Z. Naturf. 10a (1955) 425–446; 12a (1957) 177–187 / Erweiterungen des HilbertRaums in der Quantentheorie der Wellenfelder. Z. Phys. 144 (1956) 1–8 / Bemerkungen zur ‹neuen Tamm-Dancoff-Methode› in der Quantentheorie der Wellenfelder. Nachr. Akad. Wiss. Göttingen 1956 lla, S. 27–36 / Hilbert space II and the ‹Ghost›states of Pauli and Källén. NUOVO CIM. (10) 4 (1956) Suppl. 743–747 / Lee Model and Quantisation of non linear Field Equations. Nucl. Physics 4 (1957) 532–563 / (mit H.P. Dürr, H. Mitter, S. Schlieder, K. Yamazaki): Zur Theorie der Elementarteilchen. Z. Naturf. 14a (1959) 441–485 / (mit H.P. Dürr): Zur Theorie der ‹seltsamen› Teilchen. Z. Naturf. 16a (1961) 726–747 / Der derzeitige Stand der nichtlinearen Spinortheorie der Elementarteilchen. Acta Physica Austriaca XIV, 328–339 (1961) / Die Entwicklung der einheitlichen Feldtheorie der Elementarteilchen. Naturwiss. 50, 3–7 (1963) / (mit H.P. Dürr, H. Yamamoto, K. Yamazaki): Quantum electrodynamics in the non linear spinor theory and the value of Sommerfeld’s fine structure constant. NUOVO CIM. X, 38, 1220–1242 (1965) / (mit H.P. Dürr): On the ‹Spurion›-Theory of Strange Particles. NUOVO CIM. X, 37, 4, 1446–1486 (1965) / Particles as Collective Stationary States. Commemoration Issue for the 30th Anniversary of the Meson

Theory by Dr. H. Yukawa, Progress of Theoretical Physics, Supplement (1965)

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3. Lehrbücher FINKELNBURG, W., Einführung in die Atomphysik. 3. Aufl. Berlin 1954 RIEZLER, W., Einführung in die Kernphysik. 4. Aufl. Berlin 1950

rde

Namen- und Sachregister Namenregister Académie Française Aktäon Albert der Große D’Alembert, Jean Lerond Alhazen Ammonios Sakkas Anderson, Carl David Apollonios von Tyana Archimedes Archytas von Tarent Aristoteles Atomisten Auger, Pierre Avicenna Bacon, Francis Becquerel, Henri Blackett, Patrick Maynard Stuart Bohr, Niels Boltzmann, Ludwig

Born, Max Boyle, Robert de Broglie, Louis, Prinz – Maurice, Herzog Bruno, Giordano Büchner, Ludwig Carus, T. Lucretius Chadwick, Sir James Chrysipp Cicero Clemens von Alexandrien Cockcroft, Sir John Douglas Comte, Auguste Cotes, R. Curie, Marie – Pierre Cusanus (Nikolaus von Kues) Davisson, Clinton Joseph Demokrit Descartes, René (Cartesius) Diodati, Elia Dschuang Dsi Du Bois-Reymond, Emil Eddington, Sir Arthur Stanley

Einstein, Albert Endymion Epiktet Epikur Epikureer Euklid Eusebios von Caesarea Feuerbach, Ludwig Franck, Ph. Fresnel, Augustin Freyer, Hans Galen Galilei, Galileo Gassendi, Petrus Germer, Lester Halbert Gibbs, Josiah Willard Gilbert, William Gorgias Haeckel, Ernst Hahn, Otto Harvey, William Hegel, Georg Wilh. Friedr. Heisenberg, Werner, Hermachos

Hertz, Heinrich Hilbert, David Hipparch Hippias Huygens, Christian Iamblichos Joachim von Fiore Joliot, F. – Curie, Irène Jordan, Pascual Kamlah, Wilhelm Kant, Immanuel Karl V., Kaiser Kepler, Johannes Kleanthes Kolumbus, Christoph Kopernikus, Nikolaus Lactantius Lagrange, Joseph Louis de La Mettrie, Julien Offray de Laplace, Pierre Simon, Marquis Lawrence, Ernest Orlando Leibniz, Gottfried Wilh.

Leonardo da Vinci Leprince-Ringuet Leukipp Liebig, Justus von Locke, John Longinos Mark Aurel Mariotte, Edme Max Planck-Institut für Physik Mendelejeff, Dim. Iwan Michelangelo Buonarroti Mill, John Stuart Millikan, Robert Andrews Moleschott, Jacob Neuplatoniker Neupythagoreer Newton, Sir Isaac Nigidius Figulus Nikomachus Numenios Occhialini Origenes Ostwald, Wilhelm Ovid

Panaitios Paulus, Apostel Peripatetiker Perrin, Jean Planck, Max Plato, Plotinos Ponte Porphyrios Poseidonios Pringsheim, Ernst Prodikos Proklos Protagoras Ptolemäus Pythagoras Raffael Rhätikus (Georg Joachim von Lauchen) Rosenblum Rosenthal Royal Society Rutherford, Ernest, Lord of Nelson Seneca Simplikios

Sokrates Sommerfeld, Arnold Sophistik Spencer, Herbert Spinoza, Baruch Schelling, Friedr. Wilh. Stoa Tertullianus Thibaud, Jean Thomson, George P. Tizian Torricelli, Evangelista Trillat, J.J. Virgil Voltaire Walton, Ernest Thomas Simon Wien, Wilhelm Young, Thomas Zenon von Kition – von Sidon

Sachregister Abendland abendländische Kultur Äther als Träger von Lichtwellen usw. Akustik Algebra alpha-Strahlen, -Teilchen alte Geschichte, alte Sprachen, Bildungswert Antike als Urgrund abendländischer Kultur Aphelien (Aphel = Sonnenferne) aristotelisch-ptolemäisches System Arithmetik Astronomie Astrophysik Atom – der Antike – Bohrsches – und chemisches Element – als Gegenstand der Chemie – als Planetensystem im Kleinen Atombombe Atomhypothese, klassische – der Chemie Atomkern

– Chemie – Physik Atomlehre – antike Atomphilosophie s. Atomlehre Atomphysik – Geschichte – und Kausalgesetz Atomsystem Atomtechnik Atomtheorie , s.a.Atomlehre Atomzertrümmerung – künstliche Aufklärung, Philosophie – materialistische Weltanschauung Ausdehnung, Begriff – der Materie Beharrungsvermögen s.a.Trägheit beta-Strahlen Beugung des Lichts Beweglichkeit der Körper Bewegung Bewegungsenergie Bewegungsgesetze Bewegungsgröße

Bewußtsein Biologie und Atomphysik Bohrsches Atommodell Brechung des Lichts Chemie Christentum Determinismus Dichte der Körper Differentialrechnung Diskontinuum Druck, atomphysikalisch Dualismus Welle–Korpuskel (Teilchen) Elektrizität Elektrizitätslehre Elektron – positives Elektronenwelle Elektrotechnik Elementarteilchen – Gesetzmäßigkeit – Unstabilität – als stationäre Zustände Elemente, chemische – Gesetz der Erhaltung der

Element-Umwandlung Energetik Energie – elektrische – kinetische – mechanische – Unbestimmtheit bei atomphysikalischen Experimenten Energieabgabe des Atoms Experiment Experimentalphysik Expeiimentaltechnik Fortbewegungsvermögen Fortpflanzung des Lichts Fortpflanzungsgeschwindigkeit gamma-Strahlen Ganglienzellen Geometrie gequantelte Bewegungen Geschwindigkeit – Unbestimmtheit bei atomphysikalischen Experimenten Gesetzmäßigkeit der Naturvorgänge Gleichgewicht – Gesetz griechische Kultur

– Philosophie griechisches Denken, Besonderheit Größenlehre Humanismus humanistische Bildung humanistischer Gedanke humanistisches Gymnasium Hypothese Impuls, Unbestimmtheit bei atomphysikalischen Experimenten Induktion Inkompressibilität Integralrechnung Interferenz Kausalgesetz und Atomphysik Kausalität Kernphysik s. Atomkernphysik kinetische Theorie der Gase Kirchenväter, Naturbegriff der Kohäsion Komplementarität Korpuskeln Korpuskeltheorie des Lichts kosmische Strahlen Kraftfeld

Licht – Ausbreitung – als Bewegung – Brechung – Korpuskelnatur – Wellennatur Lichtgeschwindigkeit Lichtkegel der Relativitätstheorie Lichtkorpuskeln Lichtwellen Masse, – der Korpuskeln Materialismus, philosophischer materialistische Weltanschauung Materie – Undurchdringhchkeit – Unzerstörbarkeit Mathematik Mechanik – Gesetze – klassische (= Newtonsche) – statistische mechanistisches Denken mechanistischer Materialismus mechanistisch-materialistisches Weltbild

Medizin Mendelejeffsches System Mesone Mikroskop Mittelalter mittelalterliches Weltbild Moleküle Monade Natur als Gegenstand der Naturwissenschaft Naturbegriff, bei Galilei – bei Kepler – bei Newton – Geschichte – seit Newton Naturbeschreibung – mathematische – ‹objektive› Naturbild, rmttelalterliches Naturgesetze – im Bereich der Elementarteilchen – der Quantentheorie Naturgesetzhchkeit und Atomphysik Naturphilosphie – griechische Naturwissenschaft

– des Abendlandes – exakte – und humanistische Bildung Nervenenergie Neutron Newtonsche Gesetze – Physik Optik Phasen, bei Wellen Phasenübereinstimmung photoelektrischer Effekt Photone Physik – Geschichte – klassische Physiologie Plancksche Konstante Planetenbahnen prästabilierte Harmonie Proton Psychologie psychophysischer Dualismus – Parallelismus Quanten

Quantengesetze Quantentheorie – statistischer Charakter Quantitäten (Kepler) Radioaktivität Raumbegriff Raum- und Zeitbegriff bei Einstein Raum-Zeit-Struktur der speziellen Relativitätstheorie Reaktionswärme des Atoms Rechtsphilosophien, Analogie zur exakten Naturwissenschaft Reflexion des Lichtes Relativitätstheorie – spezielle Renaissance Röntgenstrahlen Rutherford-Bohrsches Atommodell solares Atomsystem (Bohr) Spektroskopie Spektrum Sphären Substanzbegriff Schall, Fortpflanzung Scholastik, Kausalitätsbegriff scholastische Philosophie

Schwere, Gesetz der Statik Stationärwelle statistische Gesetzmäßigkeiten – Mechanik Stoßkraft der Körper Strahlungstheorie (Planck) Technik – chemische Temperatur, atomphysikalisch Theorie Thermodynamik Trägheit – der Materie Umwandlung der Elemente Unbestimmtheitsrelation Uranstrahlung Uranspaltung Ursache und Wirkung, Gesetz von Vererbungsvorgang, Analogie zu atomphysikalischen Vorgängen Voltasche Säule Wahrscheinlichkeitsbeweise Wahrscheinlichkeitsgesetze

Wärmelehre – Anwendung statischer Gesetze Wärmetechnik Welle, Begriff – Fortpflanzungsgeschwindigkeit – stehende Wellenfrequenz Wellenlänge Wellenmechanik wissenschaftliche Wahrheit, Begriffswandel Wurfbewegung Zeitbegriff, Problematik des rde

Impressum Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.   Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg Copyright für diese Ausgabe © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg   Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München     Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

    ISBN Printausgabe 978-3-499-55008-9 ISBN E-Book 978-3-688-11689-8 www.rowohlt.de

Fußnoten * Krumm hier gleichzusetzen mit kreis- oder ellipsenförmig (Anm.d.Red.) *

Pythagoreer, Philosoph und Staatsmann ca. 400–365

v. Chr. Konstruierte angeblich automatisch fliegende Taube.