Das Leben der Lebendigen: Hegels politisch-religiöse Begründung der Philosophie freier Verbundenheit in seinen frühen Manuskripten 9783787329250, 9783787329151

Einführung. Das politische Motiv von Hegels Religionssuche Erster Teil. DISSOZIIERTE KRÄFTE. Hegels Grunderfahrung vom T

126 17 10MB

German Pages 320 Year 1987

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Das Leben der Lebendigen: Hegels politisch-religiöse Begründung der Philosophie freier Verbundenheit in seinen frühen Manuskripten
 9783787329250, 9783787329151

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HEGEL-STUDIEN herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler Beiheft 31

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

DAS LEBEN DER LEBENDIGEN HEGELS POLITISCH-RELIGIÖSE BEGRÜNDUNG DER PHILOSOPHIE FREIER VERBUNDENHEIT IN SEINEN FRÜHEN MANUSKRIPTEN von Hubertus Busche

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Inhaltlich unveränderter Print-on-Demand-Nachdruck der ersten Auflage von 1987, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2915-1 ISBN eBook: 978-3-7873-2925-0 ISSN 0440-5927

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien

Meinen Eltern in Dankbarkeit

VORBEMERKUNG

Hegels frühe Manuskripte sind philologisch noch nicht zufriedenstellend ediert. Die Bände 1 bis 3 der Historisch-Kritischen Ausgabe der Gesammelten Werke, die diese Texte enthalten, liegen noch nicht vor. Beim FelixMeiner-Verlag, Hamburg, möchte ich mich daher für die freundliche Überlassung der Umbruch-Abzüge des ersten Bandes dieser Edition bedanken, nach dem nun Hegels Stuttgarter, Tübinger und Berner Schriften zitiert werden können. Insbesondere dem Herausgeber dieses Bandes, Herrn Prof. Dr. Friedhelm Nicolin, sei für seine hilfsbereite Vermittlung und seine zahlreichen Beratungsgespräche freundlich gedankt. Da die Bearbeitung des zweiten Bandes der Gesammelten Werke noch nicht hinreichend fortgeschritten ist, müssen Hegels Frankfurter Texte noch zitiert werden nach der Ausgabe der Theologischen fugendschriften durch Herman Nohl. Der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin, danke ich für die Genehmigung, Photographien von Hegels Frankfurter Manuskripten (Hegel-Nachlaß Bd 11) beim Bochumer Hegel-Archiv benutzen und zitieren zu dürfen. Die Kopien ermöglichten es mir, den von Nohl präsentierten Text zu überprüfen und gegebenenfalls Korrekturen und Ergänzungen (insbesondere die Kennzeichnung der ersten und zweiten Fassung vom Geist des Christentums) vorzunehmen, die in Fußnoten bzw. in der Zitierklammer vermerkt sind. Für die Vermittlung fruchtbar unterschiedlicher Methoden, Hegel zu lesen, danke ich meinen Lehrern, Herrn Prof. Dr. Peter Baumanns und Herrn Prof. Dr. Gerhart Schmidt, der diese Arbeit mit sachkritischer Geduld gefördert und betreut hat. Sie wurde im Wintersemester 1984/85 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn, als Dissertation angenommen und für den Druck geringfügig verändert. Für die Aufnahme der Arbeit in die Beihefte der Hegel-Studien danke ich schließlich den Herausgebern, Herrn Prof. Dr. Friedhelm Nicolin und Herrn Prof. Dr. Otto Pöggeler.

INHALTSVERZEICHNIS

Einführung Das politische Motiv von Hegels Religionssuche

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Erster Teil DISSOZIIERTE KRÄFTE Hegels Grunderfahrung vom Tod des öffentlichen Lebens und die Suche nach dem lebendigmachenden Geist

19

A. Bilder unmittelbarer Lebendigkeit — Die Einheit von Selbsttätigkeit und Hingabe, Freiheit und Verbundenheit in der wohlorganisierten Bedürfniswelt der Griechen

19

B. Der Lebendigkeitsverlust der gealterten Welt — Abspaltung der Theorie vom Handlungszusammenhang

30

1. Die „toten Zeichen kalter Buchgelehrsamkeit" und das „tote Meer moralischen Geschwätzes" — Zur Fetischisierung von Aufklärung und Moral 2. Die „Scheidewand zwischen Leben und Lehre" — Von der Religions- und Lebensfeindlichkeit der Theologie

37

C. Hegels Programm einer Volksreligion zwischen nationaler Popular-Propädeutik des Vernunftglaubens und experimentellem Fragen nach den Bedingungen einer vernünftigen, politischen Religion der Moderne

44

1. Religiöser Gemeingeist als belebendes Prinzip sittlichen Handelns 2. Die Vernunftlosigkeit religiöser Belebung und die Leblosigkeit reiner Vernunft

31

45 64

Zweiter Teil HISTORIOGRAPHIE DES ENTEIGNETEN LEBENS Hegels Studium des geschichtlichen Funktionswandels der Religion

77

A. Das Schicksal der sich dissoziierenden Allgemeinheit

78

1. Sozialität und Individualität - Die Entzweiung des ursprünglich einmütigen Volksgeistes 2. Die Unvereinbarkeit christlicher Religion mit dem Geist öffentlicher Verlebendigung a) Die Entwertung freier Selbsttätigkeit in der christlichen Lehre b) Die öffentliche Tugend des Sokrates und die Privatmoral Jesu 3. Der Verfall des republikanischen Lebenskreises — Hingabe an die republikanische Idee als Befriedigung in wahrer Arbeit, positive Religion und Privatismus als Ersatzbefriedigung politisch-moralischer Ohnmacht B. Das Paradigma gescheiterter Verlebendigung

78 82 84 88

94 101

1. Das „Leben Jesu" als Geschichte von der exemplarischen Verabschiedung des positiven Glaubens und der Wiederbringung des Lebens durch den heiligen Geist liebender Freiheit — Hegels unvollendete Entdeckung der lebendigen Allvernunft 101 2. Die Tötung des Geistes im kirchlichen System der Enteignung des Menschen 119 3. Die Religion als Spiegel des Zeitgeistes: Positivität und Transzendenz als Symptome des Freiheitsverlustes 129 C. Religiöse Vernunft - Rückblick auf Hegels Problemstellung im Übergang nach Frankfurt

143

Dritter Teil WIEDERBELEBUNG DER ZEIT Hegels spekulative Reintegration geschichtlicher Entzweiungsformen in die regenerable Ganzheit des geistigen All-Lebens

160

A. Natur und Ideal — Hegels Frankfurter Religionstypologie und die Kritik der sozialen Beziehungsformen

164

1. Die Götter des einigen Menschen als seine durch Einbildungskraft beseelten Naturbeziehungen - Hegels Rezeption des Hölderlinschen Naturevangeliums 164 2. Der Eine göttliche Herr als Symptom und Lebensdeterminante des entzweiten Menschen — Von der Realitätserzeugung eines religiösen Ideals 175 a) Abraham (Prototyp der natur- und gemeinschaftsentfremdeten Egoität) und sein göttliches Spiegelbild (Jahwe — der Eine, der nicht das Ganze ist) 176 b) Die reproduzierte Entzweiung im Ideal der Einheit — Kritik des verabsolutierten Herrschafts- und Gleichgültigkeitsverhältnisses 184 B. Hegels Weg von der Kritik bis zur Schwelle des Systemprinzips 193 1. Auf der Suche nach einem theoretisch-praktischen Einheitsprinzip a) Moralische Selbstbehauptung und theoretische Fremdheit — Abraham und das transzendentale Subjekt b) Verbindung und Verbundenheitsbewußtsein — Zur Verwandtschaft von Liebe und Religion 2. „Gott ist die Liebe, die Liebe ist Gott, es gibt keine andere Gottheit" a) Die organische Einheit von Freiheit und Verbundenheit in der Liebesbeziehung b) Die Religion des Seins als Glaube an die Macht der Vereinigung

221

C. Die Entwicklung des geistigen „Lebens" vom sphärisch begrenzten Begriff sittlicher Ganzheit zum universalen Einheitsprinzip

230

194 194 207 217 217

1. Das Gesetz und das Leben — Hegels Kritik an Kants Vermengung von ethischer Reflexion und sittlichem Selbstverständnis 237 a) Desorganisation und legalistische Verkehrung der sittlichen Intention durch den Plagegeist der Reflexion 238 b) Leben als gegensatzintegrierendes Handeln aus dem Geist freier Verbundenheit 245

2. Freiheit und Schicksal - Vom tragischen Leben des Geistes a) Die lebenden Justizfälle der moralischen Weltregierung . b) Der Verbrecher und die schöne Seele — Prototypen der Selbstsetzung des Schicksals 3. Das Christentum des Buchstabens und das Evangelium des Geistes - Hegels behinderte Annäherung an das Absolute . a) Pieroma pleromaton — Die Legitimierung des religiösen Bedürfnisses als Forderung nach ganzheitlicher, praxisleitender Weltdeutung b) Eine leblose Liebe — Kritik der unpolitischen KonventikelSolidarität der christlichen Urgemeinde und ihres Bedürfnisses nach einem verdinglichten Gott c) Die Gestalt des Göttlichen — Schwierigkeiten bei der Suche nach einem adäquaten Modus der religiösen Selbsterkenntnis des Geistes d) Die Beziehung selbst als der belebende Geist des Lebens — Hegels uneingestandener Übergang zur Philosophie . . . Literaturverzeichnis

254 254 257 268

270

277

286 301 313

Aber was ist denn Lebendiges auf der Welt, wenn der Geist des Menschen ihm nicht lebendigen Othem einhaucht; was ist denn stumm, als das, dem der Mensch seine Sprache nicht leiht. (Hegel an Nanette Endel, 2. Juli 1797) EINFÜHRUNG

Das politische Motiv von Hegels R e 1 i g i o n s s u c h e

Daß, „wer Hegel verstehen will", „noch immer mit sich allein" ist^, hat außer dem hohen Reflexionsniveau dieses Philosophen, der von seinem Leser hingebungsvollste Interpretationsarbeit verlangt, einen Grund auch in der Rezeptionsgeschichte des Corpus Hegelianum. Hegel selbst und seine unmittelbaren Schüler haben die Nachwelt dazu verdammt, einen Mann ohne Vorgeschichte zu explizieren, dessen Denken trotz einiger Wandlungen vollendet wie Athene aus dem Haupte des Zeus entsprungen sein sollte. Der Lehrer hat seine Jugendmanuskripte „bis an sein Lebensende sorgfältig" in der Schublade aufbewahrt.^ Die Schüler hielten in ihrer vollendungsästhetischen Befangenheit diese Texte für nur minderwertige Vorübungen zum eigentlichen, reifen System. Inzwischen ist es jedoch in der Hegel-Forschung zu einem Konsens darüber gekommen, daß eine Deutung des Spätwerks ohne die gründliche Kenntnis der frühen, fragmentarisch überlieferten Manuskripte^ aussichtslos bleiben muß. Sie nämlich lassen „Art, Inhalt und Struktur der Probleme erkennen . . ., um deren Bewältigung es im Ganzen seines Philosophierens geht".'* Nachdem Georg Lukäcs 1948 als erster überzeugend nachgewiesen hatte, daß die Titulierung der erstmals 1907 von Nohl edierten frühen Manuskripte als „theologischer Jugendschriften" eine Fehletikettierung darstellt, die das politisch-emanzipatorische Engagement dieser Texte gerade unterschlägt, ging es fast allen folgenden Gesamtdarstellungen des „jungen Hegel" um das Problem der Beziehung von

’ Henrich: Hegel im Kontext. 7. ^ Schüler: Zur Chronologie von Hegels Jugendschriften. 112. ^ Zur Nachlaßgeschichte vgl. neuerdings Henrich: Auf der Suche nach dem verlorenen Hegel. * Rohrmoser: Subjektivität und Verdinglichung. 21. Ähnlich aber hat schon Haym: Hegel und seine Zeit. 86, bemerkt: „Die Motive ... begreifen, heißt den allgemeinen Sinn und Charakter des Systems begreifen."

Einführung

14

Religion und Politik, von Theorie und Praxis, um das Hegels frühe Aufzeichnungen ringen. Weil Lukäcs' eigener ideologischer Ansatz das gesellschaftliche Bewußtsein auf eine Abspiegelung ökonomischer Verhältnisse verkürzt, mußte ihm der Zugang zu Hegels Intentionen noch verstellt bleiben und Hegels Religionsfindung als resignative Flucht in die betäubenden „Nebel" der Illusion erscheinen.® Erst Günter Rohrmoser hat dagegen aufgezeigt, daß „die Alternative einer theologischen oder politisch gesellschaftlich bestimmten Deutung" von Hegels Jugendschriften „nicht aufrechterhalten werden kann", weil sie auf einer unzulässigen Dichotomie beruht.® Rohrmosers Darstellung jedoch bleibt wiederum v. a. aus zwei Gründen unbefriedigend. Zum einen läßt seine Gleichgültigkeit gegen die Chronologie der Hegelschen Texte den entwicklungslogischen Fortschritt der sinntragenden Begriffe Hegels, die sich schließlich zum Einheitskonzept des „geistigen Lebens" verdichten, überhaupt nicht erkennen. Zum anderen führt die damit verbundene Loslösung jener Begriffe (z. B. Positivität, Entzweiung, subjektiv-objektiv) aus ihrem jeweiligen Phänomenbereich doch wieder zu einem pauschal quietistischen und darüber hinaus diffusen Verständnis von Hegels Religion. Ohne Beachtung bleibt die auffallende Tatsache, daß Hegel sich niemals einem gegebenen Vorverständnis von Christentum überlassen, sondern sich dessen möglichen Sinn unter den Bedingungen der Moderne in einem jahrelangen inneren Kampf allererst erarbeitet hat. Und im unhegelisch objektivistischen Gedanken einer „Versöhnung mit der gesellschaftlichen Realität" bzw. einer „real und vorhanden" gegebenen „Erlösung" wird der sozialethisch-religiöse Sinn der Hegelschen Versöhnung ausgeblendet und diese ihrer tragischen Spannung beraubt. ^ Inwiefern Hegels gedankliches Fortschreiten zur Erhebung in die absolute Einheit des geistigen „Lebens" — dessen geschichtliche Ganzheit durch Gewalt und Entfremdung der Individuen gegeneinander verletzt, aber durch den zur Praxis sittlichen Selbstseins belebenden Geist freier Beziehung regeneriert werden kann — zugleich die Findung von Hegels politischem Christentum bedeutet, ist in der Forschungsliteratur bislang noch nicht entwickelt worden.® Eine differenzierte Darstellung und Beur-

5 ^ ^ ®

Lukäcs: Der junge Hegel. Bd 1. 160-214. Rohrmoser: Subjektivität und Verdinglichung. 25.

Ebd. 44, 79, 86. Eine hervorragende Skizze hierzu bildet allerdings die luzide Darstellung von Büchner:

Hegel im Übergang von Religion zu Philosophie.

Einführung

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teilung dieses ursprünglichen Denkweges ist vielmehr — sieht man von der unzureichenden Textedition ab — durch die zwei nachteiligen Tendenzen der Forschung behindert worden, als deren Stellvertreter Lukäcs und Rohrmoser gelten können. Zunächst scheint es bereits als eine Zumutung empfunden zu werden, Hegels eigenes Interesse ernst zu nehmen, das seine schriftliche Selbstverständigung unaufhaltsam vorantreibt: die Suche nach einer politischen Religiosität der Moderne. Ob man dieses Ringen nach einem umfassenden Geist der Politie wie Lukäcs mit jener inzwischen zur Phrase verkommenen These Friedrich Engels' aus der ökonomisch-politischen „Zurückgebliebenheit" des deutschen Dornröschens erklären wilP, oder ob man wie Robert Schneider den „Rausch und die Verwegenheit der spekulativen Gnosis Schellings und Hegels . . . nur aus der theosophischen Leidenschaft ihrer schwäbischen Väter", aus der „geistigen Substanz Württembergs" „verständlich .. . machen" zu können glaubt^o - es zeigt jedesmal denselben Mangel an Bereitschaft, Hegels fundamentale Erkenntnisintention anzuerkennen. Daß die zahlreichen Arbeiten überflüssig sind, die zwischen diesen beiden Extremen Hegels Systementstehung aus mehr oder weniger verborgenen historischen Einflüssen und Ursachen abzuleiten bemüht sind, soll hier keinesfalls behauptet werden. Es macht nur einen großen Unterschied, ob man Gründe aufzeigt, weshalb Hegel etwa bestimmte literarische Einflüsse denkerisch assimilieren konnte, oder ob man seine Entwicklung gleichsam kausalmechanisch aus ihnen zusammensetzen will. Sowenig das Verstehen eines Philosophen ersetzt werden kann durch den Nachweis seiner historischen Bedingtheit, so wenig wird es gefördert durch vogelperspektivische Gesamtbetrachtungen, die sich zu einer detaillierten und weitgehend chronologischen Textinterpretation nicht herablassen. Es gibt bekanntlich nicht nur den Buchstaben, der den Geist, sondern auch einen Geist, der den Buchstaben tötet, in dem der Geist allein sich offenbart. Dem Ikarusschicksal, mit dem das Überfliegen der Manuskripte immer endet, kann nur entgehen, wer darauf verzichtet, Hegel in vorgegebenen Münzen (Dialektik, Ontologie, Abendland, hellenisch-deutsches Weltbild, Entfremdung usw.) einstreichen zu wollen. Vielmehr sind die Interpretationsbegriffe allererst am Text zu erarbeiten und zu überprüfen. Ein solches enges Zusammenspiel von Schrift und

’ Lukäcs: Der junge Hegel. Bd 1. 87, 112 u. ö. Schneider: Schellings und Hegels schwäbische Geistesahnen. 46, 23.

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Einführung

Deutung ist unerläßlich bei einem Denker, dessen frühe Aufzeichnungen die verschiedensten Gebiete umfassen und in einer spezifischen Weise verknüpfen. Ihren Zusammenhang ohne verwässernde Paraphrasen darzustellen erfordert bereits höchste Geschicklichkeit. Die vorliegende Arbeit möchte Hegels Entwicklung bis nach Jena aus nichts anderem zu verstehen versuchen als aus der Entwicklung seines anfänglichen Problems: Schon mit Rousseaus und Schillers Kulturkritik artikulierte sich die Moderne als eine erste Selbstwahmehmung der pathogenen Veränderungen neuzeitlichen Lebens. In Hegels frühen Manuskripten dokumentiert sich bereits der Versuch sowohl einer Anamnese als auch eines therapeutischen Eingriffs in den geschichtlichen Prozeß der Selbstzerstörung, in den sich das Individuum bei seiner neuzeitlichen Emanzipation von der Gehorsamspflicht gegenüber unglaubwürdig gewordenen Autoritäten verstrickt hatte. Was mit der Aufklärungsbewegung freigesetzt wurde, war der von allen inneren Beziehungen zu seinem Anderen losgelöste, einsame Souverän — die „verknöcherte Individualität" eines ängstlich kontrollbedürftigen Eigentümer-Subjekts, die sich „durch die Mannichfaltigkeit dessen, was sie hat, den Schein desjenigen zu verschaffen" sucht, „was sie nicht ist"iL Hegels Texte handeln von dieser reziproken Proportion von Haben und Sein, und sie schreiben jenes Eintauschen verlorenen Lebens gegen den Gewinn an Gewalt über Totes nieder als eine Geschichte der Verengung des Freiheitsbewußtseins auf das ungehemmte Verfügenkönnen über eine zu gleichgültigem Stoff zusammengesunkene Welt eintauschbarer Natur- und Menschenobjekte. Sie antizipieren also bereits mit seismographischer Sensibilität den gegenläufigen Zusammenhang zwischen der vom Wirtschaftsegoismus zweckrational optimierten Verplanung der Gesellschaft und der sittlich-politischen Dissoziation ihrer Glieder. Als das Hegelsche Grundproblem stellt sich daher die Vermittlung von Freiheit und Verbundenheit, Autonomie und Religion in Gestalt einer Reorganisation der nekrophil zugerichteten Freiheitsidee durch den Geist einer öffentlichen Religiosität. Das nicht genuin theologische, sondern zunächst politische Interesse Hegels gilt anfänglich der Wiederherstellung jener idealen Gemeinschaft freier und zugleich verbundener Bürger, die er geschichtlich im öffentlichen Leben der griechischen Polis vorbildlich realisiert sieht. Dieses Zusammenleben, das Hegel mit den Attributen „frei" und „offen" kennzeichnet, ist aber nichts objektiv Gegebenes, das durch staatliche Sozialtechnik hinreichend hergestellt und verwaltet werDifferenz des Fichieschen und Schellingschen Systems der Philosophie. GW 4. 9.

Einführung

17

den könnte, sondern das kontinuierliche kollektive Erzeugnis eines sittlichen „Gemeingeistes". Die „idealistische Grundkonzeption" Hegels, über die man, wie Lukäcs bereits wissen wollte, „kein Wort zu verlieren" braucht, ist keine „Schranke" seines Denkens^^, sondern vielmehr die Konsequenz aus einer frühen Einsicht in die Borniertheit eines TheorieAnsatzes, der politische Fakten isoliert vom Selbstverständnis der Handelnden und öffentliches Bewußtsein objektivistisch verkürzt auf einen Abdruck ökonomischer Verhältnisse. Hegel ist niemals blind dafür gewesen, daß etwa das Privateigentum eine Macht darstellt, die die Bürger gegeneinander isolieren und ihre öffentliche Freiheit und Verbundenheit beeinträchtigen kann. Er geht jedoch zurück auf den subjektiven Grund des Eigentums, auf den Eigen-Sinn des Bourgeois, der seine ganze Kraft für die Behauptung seines exklusiven Privatlebens aufwendet. Hegels Ansatz beim Subjekt ist von Anfang an begründet in der praktischen Überzeugung von der Macht des Geistes über die Wirklichkeit, nicht in einem theoretischen Zweifel an der Erkennbarkeit oder gar Realität der Außenwelt. Sein Idealismus ist der des „mens agitat molem", nicht der des „esse est percipi". Die subjektive Leistung, die für den Zusammenhalt einer freien Sozialität aufkommen muß, nennt Hegel in Tübingen „Lebendigkeit", in Bern „praktische Vernunft" oder „öffentliche Tugend" und in Frankfurt „Leben". Dieses freie, ichvergessene Handeln für ein politisches Ganzes ist als Äußerung nicht abtrennbar vom praxisleitenden Bewußtsein. Die Lebendigkeit verweist auf einen belebenden, lebendigmachenden Geist. Hegels frühe Manuskripte zeigen nun die unaufhaltsame Suche nach einem religiösen Gemeingeist, d. h. nach dem letzten ganzheitlichen Selbstverständnis einer freien und geeinten Volksgemeinschaft, das das soziale Handeln motiviert und die Individuen zu einem politischen Organismus vergemeinschaftet, der durch die Arbeit seiner Glieder unterhalten und ihren Bedürfnissen gemäß verändert wird. In dem methodischen Fragen nach Form und Inhalt dieser „Volksreligion", die den Partikularwillen und damit die Gegensätze der sozialen Klassen verflüssigt, zeigt sich Hegels politisches Interesse, nicht in bloßen biographischen Einzelheiten wie etwa dem legendären Tanz der Tübinger Studenten um einen „Freiheitsbaum". Sie können daher vernachlässigt werden. In Bern wird Hegel zunehmend deutlich, welche Bürde er sich mit seiner Suche nach dem Gott der Lebendigen auferlegt hat. Mit der Bewußtwerdung der Vermittlungsaporie von menschlicher Autonomie und göttliLukäcs: Der junge Hegel. Bd 1. 171, 271.

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Einführung

eher Autorität verschwört sich der zunehmend irritierte Blick auf die gesellschaftsflüchtige, politische Ohnmacht nur kompensierende Funktionsmöglichkeit der Religion sowie auf eine historische Allianz zwischen Theologie und Despotismus. Nach einer Phase radikaler Religionskritik, mit der Feuerbachs und Marxens Argumentation vorweggenommen wird, begreift Fiegel schließlich im Frankfurt seiner Zeit die Religion des transzendenten göttlichen Herrn als ideologischen Reflex und Stabilisierungsfaktor eines durch soziale Beziehungslosigkeit und Herrschaftswillen geprägten Bewußtseins.^^ Nach dem unbefriedigenden Berner Versuch, die unter kantischer Terminologie als Autonomie-Evangelium gedeutete reine Lehre Jesu von ihrem historischen Fehlverständnis zu befreien, unternimmt Hegel in der Nähe Hölderlins einen zweiten Anlauf zur großangelegten Rekonstruktion der christlichen Religion. Doch zuvor werden die von der Gegenwartsphilosophie bereitgestellten möglichen Prinzipien dieser Erarbeitung auf ihre Tauglichkeit geprüft. In einem am vierten Evangelium gewonnenen, visionären geschichtlichen Bezugssystem identifiziert sich Hegel mit seiner historischen Leitfigur Jesus und grenzt sich gegen die deutschen Philosophen des Alten Testaments, Kant und Fichte ab. Im Subsumtions- bzw. Expansionsmodell der moralischen Subjektivität erblickt er ebenso wie im Erkenntnis-Ansatz beim isolierten Ich die zeitgenössischen Masken des beziehungslosen Wanderhirten Abraham und seines herr-lichen Überich Jahwe. Den Grundriß seines politischen Christentums entwickelt Hegel aus dem trinitarischen Gedanken der wechselseitigen Immanenz des Vaters und der Söhne, des Ganzen und seiner Momente im absoluten „Leben" des Geistes. Im Begriff dieses höheren geistigen Lebens, dessen übersummative und regenerable Ganzheit durch die Spontaneität der interpersonalen Beziehung freier Verbundenheit gestiftet und unterhalten wird, ist die Denkanstrengung des frühen Hegel konzentriert und aufbewahrt. Daß ein so gedeutetes „Reich Gottes" sich vor der Wirklichkeit von Gewalt und Isolation nicht verschließen darf, daß die Rose der Liebe sich wahrhaftig nur darstellen kann im Kreuz der Gegenwart, ist dabei eine der spätesten Erfahrungen des „jungen" Hegel.

Die Bedeutsamkeit dieser Kritik eines Denkens in verabsolutierten Gleichgültigkeitsund Herrschaftskategorien noch für Hegels Wissenschaft der Logik haben überzeugend nachgewiesen Theunissen: Sein und Schein, und Fink-Eitel: Dialektik und Sozialethik.

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ERSTER TEIL

DISSOZIIERTE KRÄFTE Hegels Grunderfahrung vom Tod des öffentlichen Lebens und die Suche nach dem lebendigmachenden Geist

Erste Funken von Griechenlandbegeisterung, die seit jener „Erfindung der Antike"^ durch Winckelmann die Gemüter von gegenwartsverdrossenen Deutschen erfüllt hatte, waren bereits auf den Gymnasiasten Hegel übergesprungen.2 Am Stuttgarter Gymnasium „Illustre", das seinen Schülern die Werke der „Alten" im Geist des Humanismus und der Aufklärung nahebrachte, konnte man nicht ahnen, welche utopische Sprengkraft solche Lektüre mit der Zeit freizusetzen in der Lage war.^ In Stuttgart und Tübingen hat Hegel vor allem die hellenische Geistesart fasziniert, die ihm als historisch einmalig geglückte Mitte, als ein Nicht-Mehr an frühgeschichtlichem Aberglauben, aber auch als Noch-Nicht an Geistesheterogeneität, verstandesmäßiger Wirklichkeitszergliederung und Zerklüftung von Gesellschaft und Kultur erschien. In Bern wurden ihm dann die Griechen zusammen mit den Römern zum heroischen Vorbild republikanischer Lebensführung, die keinen Freiheitsgenuß jenseits der Hingabe für das politische Ganze kennt.

A. Bilder unmittelbarer Lebendigkeit — Die Einheit von Selbsttätigkeit und Hingabe, Freiheit und Verbundenheit in der w o h 1 o r g a n i s i e r t e n Bedürfniswelt der Griechen Eine erste Betrachtung Über die Religion der Griechen und Römer findet sich in einem Schulaufsatz dieses Titels von 1787, den man jedoch nicht fraglos als Ausdruck selbständiger Einsichten des Sechzehnjährigen interpretie' Friedeil: Kulturgeschichte der Neuzeit. 786 ff. ^ Zu Hegels Griechenland-Bild vgl. vor allem Gray: Hegel's Hellenic Ideal; Sichirollo: Hegel e i Greci; Taminiaux: Le jeune Hegel et l'hellenisme Schillerien.

ä Zum geistigen „Milieu" des frühen Hegel vgl. die ausholende Studie von Lacorte: II primo die sich als ausführliche Erinnerung der kulturellen Welt des Gymnasiasten und Studenten versteht.

Hegel,

20

I. Dissoziierte Kräfte

ren darf. Wahrscheinlich ist, daß Hegel hierfür — wie in benachbarten Texten — eine „literarische Vorlage als Anregung benutzt oder im einzelnen verarbeitet hat"^. In diesem Aufsatz werden die „Weisen Griechenlands" und ihre Schüler als Männer von „aufgeheiterter Vernunft" gewürdigt und gegen den „Pöbel aller Völker" abgehoben (GW 1.44 = Dok 46 f). Die Bedingung ihres Auftretens und literarischen Wirkens war allerdings an eine „gewisse Stufe" der nationalen Gesamtbildung geknüpft. Hatten sie sich in ihren „Speculationen über das Unwesen der Gottheit" und andere „unbegreifliche Dinge" auch „sehr verschiedene Systeme ausgedacht", so betonten ihre Schriften doch einstimmig den Gedanken der menschlichen Fähigkeit zur Eudaimonie durch sittliches Handeln. Insofern hatten sie „viel aufgeklärtere und erhabnere Begriffe von der Gottheit" und dem Menschenschicksal als diejenigen Völker, die ihre Taten durch die Macht eines unberechenbaren und fürchterlichen Gottes eingeschränkt glaubten. Ihr höheres Aufklärungsniveau zeigte sich in der Lehre, daß die Gottheit „jedem hinlängliche Mittel und Kräfte zu seiner Glückseligkeit gebe und die Natur der Dinge so angelegt habe, daß durch Weisheit und moralische Güt^ wahre Glückseligkeit erlangt werde" (ebd.). Ein anderer Aufsatz, kurz vor dem Ende von Hegels Schulzeit entstanden, ergänzt diese Überzeugung vom Autonomiebewußtsein griechischen Geistes durch die Betrachtung der eigentümlichen Mentalität, die sich in der griechischen Dichtung ausdrückt. In den ersten Abschnitten dieser Arbeit Über einige charakteristische Unterschiede der alten Dichter paraphrasiert Hegel ohne große Selbständigkeit eine Abhandlung des Popularaufklärers Christian Garve.® Haupteigentümlichkeit der „Werke der Alten" sei ihre „Simplicität“, die man jedoch mehr fühlen als „deutlich unterscheiden" könne. Garves Abgrenzung einer Unmittelbarkeits- gegen eine Analyse-Sprache wird für Hegels spätere Auffassung des griechischen Geistes bedeutsam. „Eine jede, auch zusammengesetzte Empfindung" drückten die Dichter der Alten „nur einfach aus, ohne das Mannigfaltige darin von einander abzusondern, das der Verstand unterscheiden kann, und ohne das Dunkle zu zergliedern" (GW 1.46 = Dok 49). Diesem Darstellungsmodus naturgetreuer Schilderung, die noch an der „Sache selbst", nicht an den auf effektvolle Kunstgriffe gespannten Leserwünschen interessiert war, entspricht aber eine ebenso unmittelbare Geistesbildung und Wirk^ Nicolin: Hegel in Stuttgart. 143. 5 Es ist Hoffmeisters Verdienst, diese Vorlage entdeckt und Hegels Aufsatz gegenübergestellt zu haben (vgl. Dok 407-414).

A. Bilder unmittelbarer Lebendigkeit

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lichkeitserfahrung. Weil im Bildungssystem der Alten - und Hegel hat hier vornehmlich die Hellenen vor Auge - „jeder seine Ideen aus der Erfahrung selbst erworben hatte", war ihnen die „kalte Buchgelehrsamkeit" der modernen Kultur noch fremd (ebd.). Frei von einer Erziehung, die den Heranwachsenden durch das Eintrichtem von unverstandenen, also „todten Zeichen" und Wörtern mit einem fremden Vorentwurf von Wirklichkeit umstellt, konnte jeder eine „eigene", d. h. durch Eigentätigkeit vermittelte „Form seines Geistes" haben und „Original" sein (GW 1.46 f = Dok 49 f). Nach Hegel hatten die alten Schriftsteller trotz ihrer publikumsvergessenen Hingabe an die sinnfälligen Naturerscheinungen einen großen, ja in ihrer Nation unbegrenzten „Wirkungskreis", weil der ungebrochene Wirklichkeitsbezug, die Selbsterfahrungskultur und das damit zusammenhängende geringere Maß an Bewußtseinsdifferenz auch die politisch-kulturelle Einheit begünstigte. Für diese Einheit macht Hegel jedoch in einem Vergleich mit der deutschen Gegenwart auch noch weitere Ursachen verantwortlich. Bei uns sind nämlich „Begriffe und Cultur der Stände zu sehr verschieden, als daß ein Dichter unserer Zeit sich versprechen könnte, allgemein verstanden und gelesen zu werden" (GW 1.46 = Dok 48 f). Bei den Alten dagegen lernte jeder „die Verrichtungen anderer Stände von selbst kennen, ohne übrigens die Absicht gehabt zu haben, sie zu erlernen" (GW 1.47 = Dok 50). Was aber bei den Griechen vor allem die politische Bewußtseinseinheit und die Gemeinverständlichkeit der Dichter für alle Volksschichten verbürgte, ist für Hegel ähnlich wie für Garve die Omnipräsenz einer monumentalischen Nationalgeschichte im öffentlichen Leben; in der „Verfassung" ebenso wie im lebendigen Mythos. Und diese Vergemeinschaftungsmacht eines regional kolorierten Geistes wird Hegel bis in die späte Berner Hauslehrerzeit hinein als Politikum ersten Ranges interessieren. Nachdem Hegel im Oktober 1788 ans Tübinger Stift übergewechselt war®, wurde ihm dann vollends unter dem Einfluß des in der Nähe Hölderlins beschworenen Griechenlandbildes^ das antike Hellas zum „Inbegriff lebendigen Lebens in jedem Sinne . . ., frei noch von aller späteren Erstarrung in Staat, Religion, Kunst und überhaupt allen Gebieten menschlicher Kultur"®. In überalterten Verhältnissen sich vorfindend. * Zu Hegels und Hölderlins Studium am Tübinger Stift vgl. Jamme: Ein ungelehrtes Buch. 27—69; dort auch weitere Literaturangaben. ^ Zu den Autoren, die auf Hegels und Hölderlins Anthropologie einen entscheidenden Einfluß gehabt haben - wie Rousseau, Herder, Schiller und lacobi - vgl. die ausführliche Darstellung von Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. 117—217. * Haering: Hegel. Bd 1. 40.

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I. Dissoziierte Kräfte

suchte ein Heranwachsender, den seine Kommilitonen damals den „alten Mann" nannten, das Land einer freien, durch Religion und jugendliche Daseinsfreude verbundenen Menschengemeinschaft. Im ersten überlieferten Tübinger Text, vermutlich einem Pflichtaufsatz, reformuliert Hegel 1788 noch seine von Garve übernommenen Thesen. Die Schilderungen der alten Schriftsteller seien „sinnlicher also [!] lebhafter und leichter zu fassen" (GW 1.52 = Dok 170), weil die Vorstellungen ihrer selbst gesammelten Erfahrungen „aus der Natur selbst geschöpft" (GW 1.51 = Dok 169), nicht von außen aufgepfropft seien. Die Sprache besonders der Griechen sei durch ihren „erstaunlichen Reichtum" zur Ausdrucksfähigkeit feinster Schattierungen geeignet, weshalb auch die Lektüre der Alten ein vorzügliches Medium zur Bildung des Geschmacks als einem dunklen „Gefühl fürs Schöne" darstellten (GW 1.52 f = Dok 171).9 Und dann folgt ein Passus, der den direkten Übergang bildet zu den eigentlichen Tübinger Manuskripten, die Hegel dann ohne äußere Veranlassung und Zensurbefürchtung niederschreiben konnte. Beim Lesen klassisch antiker Dichtung sei schon dies „Gewinn genug, daß die empfindende Kraft unserer Seele dadurch entwikelt und gestärkt" werde. „Wahrer Ausdruk der Empfindung trift immer das Herz, und wekt das Mitgefühl, das bei unsern Verhältnissen nur zu oft unterdrükt wird! Und wo können wir bessere Muster des Schönen erwarten, als von einer Nation, bei der alles das Gepräge der Schönheit hatte, wo die ästhetischen Seelenkräfte alle mögliche Veranlassung hatten sich zu entwikeln, wo die Weisen und Helden den Grazien opferten." (GW 1.53 = Dok 171) Empfindung, Herz, Mitgefühl, die ästhetischen Seelenkräfte werden jetzt zu wichtigen anthropologischen wie politischen Bestimmungen. Zunächst wird die „Querelle" der Alten und Neuen am Beispiel der Kunst weitergeführt. Der „verschiedene Genius der Griechen und Deutschen", von denen die letzten hier exemplarisch für die Postantike stehen, zeigt sich für Hegel schon in der Architektur. Die deutsche Art drücke sich durch „enge stinkende Strassen", schmale dunkle Zimmer und niedrig bedrückende Säle aus, die man noch durch Säulen unterteilt hat, um „ja nichts freyes zu haben", ln dieser Bauweise habe sich der verschlossene, auf Solidität bedachte altdeutsche Hausvätergeist dargestellt, dessen Unfähigkeit zu „leichtsinniger" und doch „mässiger" Freude auch das Ausarten des Trinkens in „schrekliches Saufen" und Grübeln verrate. Die * Vgl. auch Hegels Garve-Exzerpt von 1787. Dok 125. 1« Zum folgenden: GW 1.81 f = N 358 f.

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Griechen dagegen „wohnten frei, in weiten Strassen, in ihren Haüsem waren offene unbedekte Höfe - in ihren Städten haüfige Große Pläze — ihre Tempel in einem schönen edeln Stil gebaut — einfach wie der Geist der Griechen — erhaben wie der Gott, dem sie geweiht waren." Einen ähnlichen Geisteskontrast offenbare auch die sakrale Kunst. Während die Gemälde des europäischen Mittelalters düstere „Bilder der Verwesung" bieten und die „scheusliche Larve des Todes" präsentieren, stellen die griechischen Götterstatuen gerade die „höchsten Ideale des schönen", „alles in der höchsten Kraft seines Daseyns und Lebens", vor Augen. Was sie nämlich „belebte", war eine „heitere, frohe Phantasie". Als entscheidende Oppositionsbestimmungen führt Hegel hier die Offenheit, Freiheit und Weite der Lebensverhältnisse sowie die plastisch gestaltete Kraft und Lebensfreude auf der griechischen Seite an, die Verschlossenheit, Bedrücktheit und Enge einer vom Phänomen des Todes besessenen Kultur auf der anderen Seite. Diese mehr suggestiven denn distinkten Merkmale kehren auch im sogenannten Tübinger Fragment, dem umfangreichsten Manuskript (GW 1.83—114 = N 3-29) dieser Periode wieder. Auch dort stellt sich für Hegel der „jugendliche Genius eines Volks" als „frey", „offen", „mit heiterer schöner Freude" dar, die andere zur „Simpathie" einlädt. Dieser Geist „fühlt sich und jauchzt in seiner Kraft, fliegt mit Heishunger auf etwas Neues, interessirt sich aufs lebhafteste" dafür, doch niemals läßt er seinem „stolzen freyen Naken Fesseln auflegen" (GW 1.87 = N 6). Daß es hier um die Charakterisierung des griechischen Geistes geht, beweisen die im Text folgenden Darlegungen. Dennoch muß man sich klarmachen, daß der Ferguson-Herderschen Geschichtsmetaphorik der Lebensalter, wie Hegel sie hier übernimmt, eine Doppeldeutigkeit innewohnt. „Der jugendliche Genius eines Volks" — der „alternde": dies kann einmal nur eine begrenzte Zeitperiode, zum anderen aber auch einen unverlierbaren Geistescharakter einer Kultur oder Nation bedeuten. Wenn auch aus dem Schluß des Fragments hervorgeht, daß hier nicht die Jugend eines Volkes, sondern ein untergegangenes jugendliches Volk, in gewisser Weise auch die Jugendlichkeit der Welt sehnsuchtsvoll beschworen wird, so wird Hegel in Bern doch die erste Bedeutungskomponente ebenfalls fruchtbar machen können. In Tübingen entwirft er nun seinen Traum griechischen Geistes in einer verklärenden Bildersprache, wie sie einzig dem Imaginationstrieb einer als dürftig erfahrenen Gegenwart entspringen kann. Wegen seiner konstitutiven Bedeutung soll dieser elegische „Hymnus"ii hier ausführlicher wiedergegeben werden. " Schon Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels. 64, nennt diesen Passus einen „Hymnus".

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„Ach! aus den fernen Tagen der Vergangenheit strahlt der Seele, die Gefühl für menschliche Schönheit, Grösse, im Grossen hat — ein Bild entgegen — das Bild eines Genius der Völker - eines Sohn des Glüks, der Freiheit, eines Zöglings der schönen Phantasie, auch ihn fesselte das eherne Band der Bedürfnisse an die Muttererde, aber er hat es durch seine Empfindungen durch seine Phantasie so bearbeitet, verfeinert, verschönert, mit Hülfe der Grazien mit Rosen umwunden, daß er sich in disen Fesseln, als in seinem Werk, als einem Theil seiner selbst gefällt." „Seine Diener waren die Freude, die Fröhlichkeit, die Anmuth, seine Seele erfüllt von dem Bewußtseyn ihrer Kraft, und ihrer Freiheit, seine ernsthaftem Gespielen, Freundschaft und Liebe, nicht der Waldfaun, sondern der feinempfindende, seelenvolle, mit allen Reizen des Herzens, und der lieblichen Traüme geschmükte Amor." (GW 1.114 = N 28)^^ Hegel stellt dann näher in einer Allegorie die für jeden „Volksgeist" — auch dieser Begriff verrät die Spuren Herders — wesentlichen Faktoren speziell für die Hellenen dar.^^ Der „Vater" des griechischen Genius, Chronos oder die „ZeitUmstände", war vom Glück begünstigt und hatte selbst krafterzeugendes Glücksvertrauen und Tatenstolz geerbt. Die „Mutter", die „JioXixeia" oder Verfassung, überließ — ganz nach der Pädagogik des Rousseauschen Emile — „ihren Sohn der Erziehung der Natur" und folgte tolerant seinen Launen, ohne ihn in die engen Windeln von Bevormundungen zu zwängen. Auch seine „Saügamme die Religion" brauchte in Harmonie mit den Eltern ihr Naturkind nicht mit der „Furcht vor der Ruthe, oder einem Gespenst der Finsternis, nicht mit dem sauersüssen Zukerbrod der Mystik, das den Magen erschlaft - noch an dem Gängelbande der Worte, das ihn in ewiger Unmündigkeit erhalten hätte", großzuziehen. (Hegels Worte sind deutlich bezogen: dieser Zuchtmethode bedurfte erst die Kirche!) Vielmehr tränkte die griechische Religion den Griechen „mit lauterer gesunder Milch reiner Empfindungen - an der Hand der schönen freien Phantasie schmükte sie mit ihren Blumen [den Mythen] den undurchdringlichen Schleier, der die Gottheit unsern Bliken entzieht, bevölkerte und zauberte sich hinter demselben lebendige Bilder, auf die er die grossen Ideen seines eigenen Herzens mit der ganzen Fülle

Nachdem Schwarz: Hegels philosophische Entwicklung. 11-30, erstmals Herders großen Einfluß auf den jungen Hegel überzeugend nachgewiesen hat, ergänzt ihn Ripalda: Poesie und Politik beim frühen Hegel, 110 f, durch die Auflistung von Wendungen, die Hegel offensichtlich von Herder übernommen hat. Diese Ausführungen existieren in zwei Fassungen, von denen Nohl (N 27 f) nur einen Teil der letzten präsentiert.

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hoher und schöner Empfindung übertrug".Die griechische Religion begleitete ihre Kinder „ihr ganzes Leben hindurch" und blieb eine „gesellige Freundin", weil sie ihnen — anders als die christliche Religion - ihre Lebensfreude nicht benahm. Sie beherrschte nicht durch lebensfeindliche Dogmen, sondern war „auf Liebe, auf Dankbarkeit, auf die edelsten Gefühle ihres Zöglings gebaut", weshalb dieser ihr wiederum seinen „freien. Dank, freie Liebe" entgegenbrachte. Trotz dieser Freiheit seiner Phantasie, nach der der Grieche selbst seine Religion gestaltete, übersah er nicht die Grenzen seiner Freiheit. Vielmehr lehrte ihn auch seine Religion die „eiserne Nothwendigkeit ehren, sie lehrte ihn disem unabänderlichen Schiksal ohne Murren folgen" (GW 1.112 = N 29). Hegel beschließt seinen elegischen Hymnus mit dem Hinweis, daß wir diesen Genius „nur vom Hörensagen" und aus „hinterlassenen Kopieen seiner Gestalt" kennen. „Er ist, der schöne Jüngling, den wir auch in seinem Leichtsinne lieben, mit dem Ganzen Gefolge der Grazien, mit ihnen der balsamische Athem der Natur, die Seele, die von ihnen eingehaucht, er aus jeder Blume sog, er ist von der Erde entflohen." Was der gealterten Nachwelt einzig bleibt, ist „ein schmerzliches Sehnen nach dem Original" (GW 1.111 - 114 = N 27-29). Diese Ausführungen sind in ihrer Geschlossenheit so bedeutsam für Hegels Tübinger Griechenland-Bild, daß sich andere Textstellen mühelos einfügen lassen. Der griechische Geist ist nach dieser Deutung ein Sohn glücklicher Zeitverhältnisse. Wenn Hegel aber dessen Vater wiederum einen „Günstling des Glüks" und „Sohn der Kraft" nennt, so weicht er offenbar einer Konkretion dieses geschichtlichen Kairos aus. Bestimmter äußert er sich dagegen über die Mutter, die politische Verfassung. Sie brauchte keine Zwangsmaßnahmen, weil die Bürger von selbst „Freundschaft und Liebe" kultivierten. Condicio sine qua non der athenischen Demokratie war also die sittliche Qualifikation, das veredelte Empfindungsleben ihres Volkes. Diese innere Bildung wurde noch gefördert durch die Volksreligion. Insofern sie „grosse Gesinnungen erzeugt" und „nährt", geht sie nach Hegel stets „Hand in Hand mit der Freyheit" (GW 1.110 = N 27). So hat Hegel

Leuze: Die außerchristlichen Religionen bei Hegel, 182, belegt seine These, daß neben Schiller vor allem Georg Förster mit seiner Abhandlung Die Kunst und das Zeitalter auf Hegels Griechenland-Bild einen großen Einfluß gehabt hat, durch hinreichende Zitate. Zu Hegels und Hölderlins Tübinger Griechenland-Bild vgl. auch Hölderlins durch Winckelmanns Kunstgeschichte angeregten Aufsatz Geschichte der schönen Künste unter den Griechen. StA 4. 189—206.

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auch die griechische Polisreligion vor Augen, wenn er allgemein von einer öffentlichen Religion fordert, indem sie „mächtig auf Einbildungskraft und Herz wirkt, der Seele überhaupt die Kraft und den Enthusiasmus — den Geist einzuhauchen, der zur grossen zur erhabenen Tugend unentbehrlich ist" (GW 1.102 = N 19). Und in diesem Sinne ist es auch zu verstehen, daß die hellenische Religion wie eine Säugamme ihre Kinder mit „gesunder Milch reiner Empfindungen" getränkt habe. Das konnte sie um so besser, als sie eine Religion der freien „schönen Phantasie" war. In den Raum des Unerforschlichen projizierte diese ihre Göttergestalten, „lebendige Bilder". Und auf diese Phantasieprodukte „übertrug" dann der Grieche die „großen Ideen seines eigenen Herzens mit der ganzen Fülle hoher und schöner Empfindung". Welche Ideen er hier vor Augen hat, sagt Hegel auch. Zum „Glauben der Griechen" gehörte nämlich der Gedanke, daß „die Götter den Guten hold seyen und das Böse der furchtbaren Nemesis anheimstellen"; ein Glaube, der seinerseits gegründet war auf „das tiefe moralische Bedürfnis der Vernunft, lieblich belebt durch den warmen Hauch der Empfindungen" (GW 1.106 = N 23). Für den Tübinger Kant-Leser Hegel ist dieses „Bedürfnis der praktischen Vernunft" (GW 1.89, 90 = N 8, 9), dem auf seiten des empirischen Charakters das „moralische Gefühl" (d. h. das „Gewissen" in eins mit dem „Gefühl, daß auf Unrecht Strafe, auf Rechtthun Glükseeligkeit folgen müsse") entspricht, sogar prinzipiell der „Keim, aus dem Religion entspringt" (GW 1.91, 101 = N 9, 18). Mag die Idee eines „mächtigen unsichtbaren Wesens" historisch etwa in der Begegnung des Menschen mit elementaren Naturgewalten entstanden sein — so argumentiert Hegel in dieser freilich recht primitiven „Deduktion der Religion" — jedenfalls traf sie „auf jenes moralische Gefühl, das seinem Bedürfnisse jene Idee ganz angemessen fand" (GW 1.91 = N 9). Mit der Sittlichkeit seiner Phantasie erfüllt der griechische Geist Hegels politisches Postulat nach einer idealen Volksreligion, in der die Phantasie der Bürger „mit grossen, reinen Bildern erfüllt" ist und in ihren Herzen „die wohlthätigern Gefühle gewekt werden" (GW 1.101 = N 19). Staatliche Zwangsmaßnahmen waren unnötig, wo Freundschaft, Liebe und Freude das gesellschaftliche Leben organisierten. Bevor im folgenden Hegels Auffassung der mythologischen Religion weiter betrachtet wird, muß die Tauglichkeit der Genien-Allegorie zur Veranschaulichung der Entstehungsbedingungen des griechischen Volksgeistes geprüft werden. Daß die Zeitverhältnisse, im Vater symbolisiert, wie auch der Mutterboden politischer Freiheit solche Ursprungsbedingungen bilden können, scheint nicht weiter problematisch. Aus dem Rahmen

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fällt jedoch die Religion selbst. Als Säugamme hat sie das ihr anvertraute Kind ohne Dogmen und Sanktionen großgezogen und die phantasieentsprungenen Göttergestalten bereitgestellt. Ideen und Empfindungen auf diese Gestalten zu übertragen blieb aber der spontanen Phantasie des Einzelnen Vorbehalten. Offenbar hält Hegel die Vorgabe, die unhinterfragte Überzeugung von der Wirklichkeit göttlicher Wesen für denkbar geeignet zu einer freien religiösen Selbstbestimmung, wie man es nennen könnte. Die Anwesenheit göttlicher Gestalten im öffentlichen Leben war die Möglichkeitsbedingung dafür, daß der Grieche seine veredelte Natur objektivieren konnte, um dann in der Verehrung dieser Götter — ohne freilich diesen Entäußerungsvorgang zu „verstehen" - im Grunde sein eigenes Wesen zu verherrlichen. Weil er im Kultus sein sittliches Selbstideal anbetete, konnte die Religion auch nicht im Wege stehen. Sie blieb seine „gesellige Freundin", ohne dadurch ihre „Würde" zu verlieren. Von ihr gilt also auch, was Hegel im „Hymnus" vom kultivierten „Band der Bedürfnisse" sagt, daß der griechische Geist sich „in diesen Fesseln als in seinem Werke, als einem Teil seiner selbst [!] gefällt". Der Einzelne stand aus diesem Grunde zu seinen Göttern in einem Verhältnis der „Liebe" und „Dankbarkeit". Diese Grundgefühle drücken sich auch im Kultus aus. Die griechischen Opfer sind für Hegel keine der Sühne und berechnenden Einschmeichelung, sondern Gaben der dankbaren Freude. Weil die Hellenen nicht so weit „von der Natur entfernt" wie die Heutigen waren, konnten sie in den lebensdienlichen Naturprodukten immer „die Hand der Geberin" erblicken, nicht nur ihre eigene Mühe. Ihr „freiwilliges Darbringen" von Opfern setzt also einen „kindlichen Geist" der „Froheit, des Wohlseyns" voraus (GW 1.75 = N 355). Weil dieser Geist bei aller Hingabe sich niemals an wesensfremde Götter verlor, nennt Hegel das Grundverhältnis zur gegenwärtigen Göttin Natur auch „freien Dank, freie Liebe". Diese Termini sind bewußt gewählt, weil sie sowohl die Eigenständigkeit wie auch die religiöse Verwurzelung betonen. Der weitere Text zeigt nun aber auch, daß sie nicht nur die Relation des Einzelnen zu seinem in Göttern objektivierten Wesen bzw. zur göttlich belebten Natur kennzeichnen, sondern auch die zu den Mitmenschen. Eine zukunftsweisende Stelle des Fragments nennt die „Liebe" das „Grundprincip des empirischen Charakters". Sie habe „etwas analoges mit der Vernunft", insofern sie „in andern Menschen sich selbst findet, oder vielmehr sich selbst vergessend - sich ausser seiner [des Menschen] Existenz heraussezt, gleichsam in andern lebt, empfindet und thätig ist so wie Vernunft als Princip allgemeingeltender Geseze sich selbst wieder in jedem vernünftigen Wesen erkennt" (GW 1.101 = N 18). Der zweidi-

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mensionale, nämlich soziale wie religiöse Bedeutungssinn dieses Zitats ist bisher noch nicht hinreichend gewürdigt worden. Wie Hegels Darstellung des projektiven Charakters der Phantasiereligion zeigt, besteht auch das religiöse Verhältnis in einem über das „Andere" vermittelten Selbstbezug, in einer Selbstfindung durch Liebe zur phantasiemäßig beseelten Natur. Gleichzeitig gilt dieses vermittelte Selbstverhältnis aber auch für das soziale Ineinander, das Hegel bei seiner Deutung hellenischer Geistesart zu betonen nicht müde wird. Er nennt es „frey" und „offen" (GW 1.87 = N 6).*^ (Und diese ideale Figur religiös-sittlicher Beziehung wird Hegel später in der dialektischen Einheit des Im-Anderen-bei-sich-selbst-Seins zur Struktur des Absoluten selbst erklären.) Die dankbare Verbundenheit der Griechen mit der personifizierten Natur und den Mitmenschen, die Überzeugung, daß hier die Religion „um alle Geschäfte des Lebens freundlich weilen" konnte (GW 1.110 = N 26), wird Hegel zum untrüglichen Indiz ihrer Natürlichkeit, ihrer Angemessenheit zur Natur des Menschen (GW 1.91, 106 = N 9,23). Der Kultus konnte daher alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens durchdringen. „Die VolksFeste der Griechen waren wohl alle ReligionsFeste einem Gott oder einem um ihren Staat wohlverdienten und deswegen vergötterten Menschen zu Ehren". Bei ihnen stand noch die „Form der Religion" im Einklang mit den „natürlichen Bedürfnissen - den Trieben einer wohlgeordneten Sinnlichkeit — TT)5 ocoqjpoouvTig" (GW 1.109 f = N 26 f). Diese harmonische Sinnlichkeit und natürliche Bedürfniswelt der Griechen führt Hegel wiederum in einer Allegorie vor Augen. Der griechische Volksgenius werde als „ätherisches Wesen . . . von einem leichten Band an die Erde gezogen, das aber durch einen magischen Zauber allen Versuchen es zu zerreissen widersteht, denn es ist ganz in sein Wesen verschlungen"; „dises Band, dessen grobe Grundlage die Bedürfnisse sind, ist aus tausendfachen Fäden der Natur zusammengewebt; darin, daß er durch jeden neuen Faden sich fester an die Natur anknüpft, fühlt er so wenig etwas drükendes, daß er vielmehr, da er Werk seiner Selbstthätigkeit ist, Erweiterung seines Genusses, Ausdehnung seines Lebens in dieser freiwilligen Vergrösserung, Vervielfältigung der Fäden findet." (GW 1.111 = N 27f) Die Sittlichkeit des griechischen Geistes beruht also auf Veredlung der Bedürfnisnatur, nicht auf rationaler Selbstkontrolle — dies will Hegels

Vgl. auch GW 1.89, 90, 110, 81 = N 7, 9, 11, 358.

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Ausmalung des stark abgewandelten, aber noch erkennbaren AntäusMotivs offensichtlich besagen. Die Verbundenheit mit der „Natur" i. w. S. bedeutet für diesen Geist keine Einschränkung, sondern die „Ausdehnung" des „Lebens", d. h. der freien Selbsttätigkeit. Was in Hegels Griechenland-BUd auffällig fehlt, ist eine vernunftbegriffliche Terminologie. Obwohl sich das Leben der Griechen hier alles andere als unvernünftig darstellt, handelte es doch, ohne Vermittlung eines Imperativs, sponte sua aus dem „empirischen Charakter", dessen Prinzip nach Hegel Liebe ist. Was außer dem schon erwähnten Nemesis-Gedanken noch an Inhalten der griechischen Religion erwähnt wird, ist vor allem die Schicksals-Vorstellung. Der zentrale Text nannte bereits die „eiserne Nothwendigkeit", der die Religion den Einzelnen „ohne Murren" zu folgen lehrte. Damit kommt in die rousseauisch schwärmende Schilderung ein tragisch-düsteres Motiv, das aber gleich wieder harmonisiert wird. Es war die Anerkennung auch der leidvollen Seite der Existenz, die die Hellenen trotz ihres „moralischen Gefühl[s]", ihres ,,innere[n] Sinn[s] für Recht und Unrecht" (GW 1.91 = N 9), und trotz ihres Glaubens an eine ausgleichende göttliche Gerechtigkeit zu ertragen die Kraft hatten. Sie mußten nicht - wie nach Hegel die Kirche — den Übeln der Wirklichkeit einen verborgenen Sinn im Heilsplan unterschieben. Unglück war „bei ihnen Unglük — Schmerz war Schmerz - Was geschehen war, und sich nicht ändern lies - über dessen Absicht konnten sie nicht grübeln, denn ihre lioipa, ihre ötvayxaia TUXT) war blind — aber diser Nothwendigkeit unterwarfen sie sich dann auch willig mit aller möglichen Resignation, und hatten wenigstens den Vortheil, daß man das leichter erträgt, was man von Jugend auf als nothwendig anzusehen gewohnt worden ist." (GW 1.106 = N 23). Insgesamt scheint Hegel der Glaube der Griechen sowohl der „Erhabenheit der Gottheit" als auch der menschlichen „Schwäche, der Abhängigkeit von der Natur und dem eingeschränkten Gesichtskrais des Menschen angemessen", weil er „Achtung vor dem Strome der Naturnothwendigkeit einerseits" enthält, andererseits aber auch die „Überzeugung daß die Menschen von den Göttern nach moralischen Gesetzen beherrscht werden" (ebd.). Für Hegel war die griechische Religion deshalb eine sittlichkeitsmotivierende und selbsterhöhende, keine selbstentfremdende, weil in ihr ein illusionsferner Realismus (Anerkennung der Natur und des Schicksals) und ein gewissermaßen instinktiver sittlicher Idealismus (Glaube an eine moralische Vorsehung) in einem harmonischen Ausgleich standen. So stellt sich im Rückblick das von Hegel imaginierte Griechentum von

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Anfang an als „politisch-utopisches Kontrastbild zur Gegenwart"^^ dar. In ihm erblickt er eine Kultur der Selbsterfahrung und Selbstentfaltung; eine ideale Einheit von politischer Freiheit und Verbundenheit, von lebendiger Selbsttätigkeit und Hingabe, und zwar auf der sittlichen Grundlage einer veredelten Sinnlichkeit, die sich in Freundschaft, Sympathie und Liebe offenbarte; sowie eine schöne Phantasiereligion, die dem gesamten öffentlichen Zusammenleben einen festlichen Glanz verlieh. Diese Charakterzüge machten dem, der freudlos die Theologie studierte, das antike Griechenland zu einer „Urheimat der Lebensfreude"^®.

B.

Der L e b e n d i g k e i t s v e r 1 u s t der gealterten Welt — Abspaltung der Theorie vom Handlungszusammenhang

Vor der verklärten Vergangenheit erscheint die Gegenwart nun besonders trüb. Die Zeitkritik des jungen Hegel hat eine Hauptstoßrichtung. Sie protestiert leidenschaftlich gegen die Mißachtung des freien Individuums, das seinen Lebenskreis theoretisch wie praktisch aus eigener Kraft zu durchdringen vermag. Alles, was solcher organischen Entfaltung und Wirklichkeitsassimilation entgegenwirkt, wird von Hegel zu entlarven versucht und einer oft beißenden Polemik überantwortet, die bisweilen mehr suggestiv wirkt als argumentativ überzeugt. Hegel betitelt das Gesamt des Subjektsfremden, das nicht in die Eigenbewegung des Individuums integriert werden kann, gleichwohl aber das Subjekt zu bestimmen beansprucht, bis in die Frankfurter Zeit hinein mit jener der Aufklärungstradition entstammenden Kategorie als „Positives". Er mußte sich diesen zentralen Begriff seiner Frühphilosophie jedoch erst entwickeln. Während der Begriff „positiv" in Tübingen noch das Gesamt des historisch Vorgegebenen überhaupt bezeichnet, wird er in Bern eine Bedeutungsverengung von höchster Wichtigkeit durchmachen und dem Geiste radikaler Autonomie den omnipräsenten Feind verraten; das Historische, insofern es einen autoritären Verbindlichkeitsanspruch erhebt. Vor und im Verlauf dieser begrifflichen Zuspitzung nennt Hegel das Positive auch das „Tote". Weil es der Feind des selbsttätigen Subjekts, des Lebendi-

Lukdcs: Der junge Hegel. Bd 1. 92. 18 Aspelin: Hegels Tübinger Fragment. 61.

B. Der Lebendigkeitsvertust

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gen ist, das durch den freien Geist belebt wird und aus diesem heraus handelt, bringt Hegel es auch mit dem Mechanischen überhaupt in Verbindung. Bereits in seiner an Shakespeare angelehnten Stuttgarter Schülerarbeit zum römischen Triumvirat hatte er den Antonius verächtlich über Lepidus bemerken lassen: „wie eine todte Maschine muß er durch Andere in Bewegung gesetzt werden" (GW 1.39 = Dok 5). In der Tübinger Gegenwartskritik taucht das Tote, das sich der freien Selbstentfaltung in den Weg stellt, immer zugleich mit dem abstrahierenden Verstand auf. Dieser ist die eigentliche Macht des geistigen Todes, die das Subjekt als Fall einem allgemeinen Gesetz unterwirft und so verdinglicht. Das Fehlen einer Verstandeskultur bei den Hegelschen „Griechen" erklärt daher, weshalb sie dieses Tote nicht kennen konnten. Im folgenden soll nun die Bildungs-, Moralitäts-, und Religionskritik des frühen Hegel dargestellt werden, sofern sie den Lebendigkeitsverlust durch die Vorgegebenheit von assimilationsunfähigen Lehrgehalten, moralischen Normen und theologischen Dogmen zum Inhalt hat.

1. Die „toten Zeichen kalter Buchgelehrsamkeit'' und das „tote Meer moralischen Geschwätzes" — Zur Fetischisierung von Aufklärung und Moral Hegel kritisiert üi Tübingen eine Menschenbildnerei, die - sei sie nun bloß faktenvermittelnd, moralisch oder theologisch — dem Menschen eine ihm wesensfremde Welt aufzwingt, in der er sich nicht selbst wiederfindet, und die er sich nicht aneignen kann. Diese Zurückweisung intellektueller Alloplastik ist jedoch schon in den Stuttgarter Textzeugnissen vorbereitet. So lobt der Vierzehnjährige einmal ein Lehrbuch der allgemeinen Weltgeschichte von Johann Matthias Schröckh, weil er die „Hauptbegebenheiten" erzähle, die Last der Kleinigkeiten weglasse und so den „Ekel der vilen Namen" vermeide. Dagegen verbinde er das Lehrreiche mit der Geschichte und führe „den Zustand der Gelehrten und der Wissenschaft überall sorgfältig an" (GW 1.3 = Dok 7). Man sieht sofort, was den Schüler hier interessiert: nicht die unverbundene Menge geschichtlicher Begebenheiten, sondern der Geist, der sich im Gegebenen ausspricht. Auch Hegels damals noch vage Idee einer „pragmatische [n] Geschichte" will „nicht blos Facta" zusammengerafft wissen, sondern geht auf eine Charakterologie geschichtlicher Größen (GW 1.5 = Dok 9f). „Geist"-los ist ihm daher die oberflächliche „Art, wie man die vortreflichste[n] Schriften der Alten ließt"; indem man nämlich „ganz allein und blos auf die Wörter

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und Phrases Rüksicht" nimmt, „gar nicht einmal auf den Geist, Natur u.s.w. derselben" (GW 1.25 = Dok 32). Diesen Mangel an innerem Zusammenhang erkennt Hegel mit Garve als Folge der neuzeitlichen Bildung. In der originären Geisteskultur der Griechen hatte „jeder seine Ideen aus der Erfahrung selbst erworben". Sie konnten „bei Allem, was sie wußten, noch sagen . ..: Wie? Wo? Warum? sie es gelernt" (GW 1.46 = Dok 49). Wir Heutigen dagegen lernen nach Garve-Hegel „von unserer Jugend auf die gangbare Menge Wörter und Zeichen von Ideen und sie ruhen in unserm Kopfe ohne Thätigkeit und ohne Gebrauch". Diese Zeichen, bei denen wir uns erst im Laufe des Lebens etwas zu denken lernen, werden zu „Formen . .., nach denen wir unsere Ideen modeln", und schließlich zu „Beziehungen . . ., nach den wir Alles zu sehen gewohnt sind". Hegel drückt sich also ungeschickt aus, wenn er von der „Art" spricht, „sich in unsern Zeiten zu bilden" (GW 1.47 = Dok 50). Vielmehr war es das Privileg der Griechen, durch organische Eigenerfahrung sich selbst zu bilden. Charakteristikum der neueren Bildung ist dagegen das passive Gebildetwerden des Heranwachsenden durch einen fremdursprünglich vorgegebenen Horizont von Zeichen, der ihm zum apriorisch determinierenden Vorentwurf der Welt wird. Die Heterogeneität von Selbsterfahrenem und Fremdgegebenem kann hierbei bis zur inneren Bewußtseinsdivergenz führen, so daß „bei manchen Menschen die Reihen selbst gesammelter Ideen und erlernter Worte neben einander hinlaufen, ohne in Ein System sich verbunden zu haben, oft ohne sich nur zu berühren". Frei von einer solchen abstrakten Bildung, die Hegel mit Lessing als „kalte Buchgelehrsamkeit, die sich mit todten Zeichen ins Gehirn nur drückt"^^, charakterisiert, konnte jeder Grieche noch seine „eigene" Geistesform haben und „Original" sein (GW 1.46 f = Dok 49 f). In Tübingen bestimmt jene frühe Stiftsarbeit, die den Schüleraufsatz modifiziert, die „kalte Buchgelehrsamkeit" erneut als die „Summe der Begriffslosen Worte . . ., womit unsere Köpfe von Jugend auf angefüllt werden". Die Sprache ist für uns eine enge Begriffssammlung, nach deren Maßgabe wir „alles modeln, was wir sehen oder bemerken". Diese „todten Zeichen" unseres kopfgelehrsamen Wirklichkeitsbezuges stehen in grellem Kontrast zu den sinnlichen und erfahrungsunmittelbaren Naturschilderungen der Alten (GW 1.51 f = Dok 169 f). Im Hauptfragment der Tübinger Epoche karikiert Hegel nun eindrucksvoll die zeittypische Verstiegenheit und Wirklichkeitsferne einer angeleseVgl. Lessing: Nathan der Weise. V, 6. WW 3.161. 20 Ebd.

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nen „Afterweisheit", wenn er den Dünkel und die Eitelkeit derer hervorhebt, die sich nach der Lektüre aufklärerischer Schriften von ihren „schwachen Brüdern" distanzieren, in denen sie ihre vormalige Naivität verkörpert sehen. Wer daraufhin mit seinen gelehrten Abstrakta wie „Aufklärung, Menschen-Kenntnis, Geschichte der Menschheit, Glükseeligkeit, Vollkommenheit" usw. gegen die „unbegreifliche . . . Dummheit der Menschen" predigt, ist nach Hegel „weiter nichts als ein Schwäzer der Aufklärung, ein Marktschreier der schaale UniversalMedicinen feilbietet" und das „heilige, das zarte Gewebe der menschlichen Empfindungen" mit seinen „kahlen Worten" überfliegt. Eine solche traurige Geistesentwicklung sei in „unsern vollgeschriebenen Zeiten" häufig anzutreffen (GW 1.98 = N 16). Der Passus, der dann folgt, greift mit seiner Antithese von Leben und Lehre weit voraus: „wenn einer oder der andre durch das Leben selbst [!] das auch mehr verstehen lernt was vorher nur als todtes Kapital in seiner Seele lag, so bleibt doch noch in jedem Magen ein Wust von Buchgelehrsamkeit unverdaut liegen ..." (ebd.). Diese Antizipation nietzscheanischer Kulturkritik verbindet sich in Hegels pädagogischer Utopie mit der Kritik an der Unverbindlichkeit eines aufklärenwollenden „Geschwätzes" und am Gewaltcharakter einer den Menschen reglementierenden Rationalität in Moral und Religion. Die Argumente dieser Kritik hat er schon in den Romanen Friedrich Heinrich Jacobis^^ vorgefunden, deren Wirkung hier kaum überschätzt werden kann. Zunächst muß der Aufklärungsbetrieb einer hypertrophen Verstandeskultur, die Hegel ständig mit den Epitheta „kalt" und „tot" glossiert, über die Grenzen seiner eigenen Leistungsfähigkeit aufgeklärt werden. Aufklärung mache „zwar klüger aber nicht besser".„Daß schlimme Neigungen gar nicht aufsteigen, daß sie nicht zu einer gewissen Höhe gelangen, diß kan keine gedrukte Moral — keine Aufklärung des Verstandes leisten." (GW 1.94 = N 12) Hegel hegt ein dreifaches Mißtrauen gegen die Macht des Verstandes, insofern dieser den Menschen zu verdinglichen droht, der sittlichen Willensbestimmung äußerlich bleibt und überdies noch — was kein Widerspruch ist — häufig im Dienst des egoistischen Interesses steht.

Vgl. hierzu Rosenkranz: Hegels Leben. 40. Kondylis: Die Entstehung der Dialektik, 129—138, stellt Parallelen bei Hegel und Jacobi zusammen. ^ Von einer starken „antiaufklärerischen Tendenz" (Schmidt-Japing: Die Bedeutung der Person Jesu. 9) läßt sich an dieser Stelle nur insofern sprechen, als Hegel die Wirksamkeit aufgeklärten Bewußtseins für die Handlungsmotivation bezweifelt.

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Zum toten Herrschaftsobjekt kollektiven Verstandes wird das Individuum, wenn ihm dieser einen normativen Verhaltenskodex diktiert, dem es sich dann ohne adäquate Gesinnung unterwirft. Aber „der Mensch soll selbst handeln, selbst wirken, sich selbst entschliessen, nicht andre für sich handeln lassen", sonst wäre er „nichts weiter als blosse Maschine" (GW 1.94 = N 12f). Äußerlich bleibt der normierende Verstand der Willensbestimmung insofern, weil seine „Berechnung viel [zu] spizfindig, und zu kalt" ist, als daß sie „im Moment des Handelns wirksam seyn, als daß sie überhaupt Einfluß aufs Leben [!] haben könnte" (GW 1.94 = N 12). Auch die theologischen Vemunftanstrengungen etwa, bestimmte Pflichten aus der Verbindlichkeit gegen Gott abzuleiten, laufen nicht nur Gefahr, wegen der Künstlichkeit ihrer Deduktion unglaubwürdig zu werden, sondern drohen auch die Willensfreiheit des Menschen zu beleidigen. „Es ist gewöhnlich, je mehr Beweggründe man für eine Pflicht anführt, desto kälter wird man gegen sie". Unverbindlich und unwirksam bleiben Verstandesmaßregeln aber gerade in einer Zivilisation, deren moralinsaure und selbstgerechte „Tiraden über Aufklärung u. drgl." offensichtlich den Charakter von „FetischGlauben" angenommen haben (GW 1.103 = N 20f). In dem oben erwähnten Passus über die Allerweltsabstrakta aufklärerischer Räsoneure wollte Hegel nicht etwa nur den Gemeinplatz formulieren, daß der bloße Wille die Taten noch nicht herbeilockt. Vielmehr entlarvt er das selbstgenügsame Anpreisen von edlen Maximen als bequemen Ersatz für die mühevolle moralische SelbsttäHgkeit. Das von der Gesinnung isolierte Wort überfliegt überheblich den Handlungszusammenhang und wird zum Substitut konkreter Praxis. In dieser Diskrepanz zwischen zugesprochener Heilkraft und faktischer Untauglichkeit liegt der Fetischcharakter des Wortes. Hegel durchschaut also den wahren Charakter, den Warencharakter der trivialaufklärerischen Propaganda, wenn er diese metaphorisch dem „Markt" zuordnet.Die „Wortkrämerei" (GW 1.109 = N 26) der moralisierenden „Marktschreier" bliebe jedoch ein harmloses Treiben von Spiritushändlern auf einem Flohmarkt der Eitelkeiten und der Heuchelei, wenn ihre feilgebotenen Waren nicht in einem doppelten Sinne gefährlich wären. Der Verstand, der auf der Bewußtseinsbörse seine „vielen idealische[n] Ideen, die im Cours sind" (GW 1.105 = N 22), verkauft, stellt nämlich für Hegel nicht nur den Ideologen des amour-propre dar, sondern auch einen um so verderblicheren Pädagogen, je mehr er die

23 Vgl. GW 1.97, 98 = N 15, 16; aber auch noch Eleusis, GW 1.401 = Dok 383.

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Individuen, die „die Natur so verschieden wollte, über Einen Leist schlagen" und mit einem vorgegebenen „Lineal"^^ in „Ein Modell zwingen" will (GW 1.76 = N 356). Ideologisch ist der Verstand nach Hegel als Rationalisierungsvermögen für egoistische Interessen. „Der Verstand ist ein Hofmann, der sich nach den Launen seines Herrn gefällig richtet - er weis zu jeder Leidenschaft, zu jeder Unternehmung Rechtfertigungsgründe aufzutreiben - er ist vorzüglich ein Diener der Eigenliebe, die immer sehr scharfsinnig ist, den begangenen oder zu begehenden Fehlern eine schöne Farbe zu geben, sie lobt sich oft selber darüber - daß sie so einen guten Vorwand für sich gefunden hat." (GW 1.94 = N 12)25 pag Handeln aus Verstandeserwägungen steht in einem antinomischen Verhältnis zur ungebrochenen „Einfalt des Geistes und der Empfindung" (GW 1.92 = N 11), zur ohne Berechnung sich verschenkenden Liebe, die Hegel in seinem Gemälde edlen Griechentums als freies Offensein für die Anderen so gepriesen hatte. Er denkt hier ganz radikal. „Wo das Herz ... nicht lauter spricht als [der] Verstand25, wenn es verschlossen bleibt, und diesem Zeit läst, über eine Handlung zu räsonniren - dessen Herz taugt schon nicht viel, die Liebe wohnt nicht in ihm" (GW 1.93 = N 11). Als eindrucksvolles Beispiel für die Kollision von Herzenswärme und einer Verstandeskälte, die sich dazu noch den Anschein des Moralischen gibt, wird die Erzählung im Neuen Testament angeführt, wo die bei Lukas als Sünderin bezeichnete Maria von Bethanien Jesus mit wertvollem Nardewasser salbt.22 Das Argument einiger Jünger, daß dieses Wasser doch besser an die Armen hätte verteilt werden sollen, will Hegel als „kalte mit dem Vorwand eines Interesses der Mildthätigkeit verbrämte Randglosse" entlarven, mit der die Jünger doch nur ihren pharisäerhaften Dünkel gegen die anstößige Vorgeschichte der edlen Sünderin zu verbergen suchen. In Maria dagegen hat sich die „Stimme der unverdorbenen Empfindung, des lautern Herzens" geäußert. Ihr Werk war der „offne", unbeirrte „Erguß einer schönen von Reue, Zutrauen und Liebe durchdrungenen Seele" (GW 1.93 = N 11). Aber nicht die „Rechthaberei" (GW 1.93 = N 11), die „Sophistereien des Verstandes" (GW 1.97 = N 15), der seine Absichten kaschiert, indem er

« Vgl. GW 1.98, 135 = N 15, 45. 25 Der im Tübinger Fragment allgegenwärtige Rousseau hatte im zweiten Discours geschrieben: „C'est la raison qui engendre l'amour-propre, et c'est la r^flexion qui le fortifie ..." (Rousseau: Schriften zur Kulturkritik. 174). 25 Vgl. Herders Aufsatz: Verstand und Herz. WW 15. 145—160. 22 Vgl. Lk. 7, 36 ff. 2

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sie für Einsichten ausgibt, bildet das Hauptangriffsziel der Kritik. Vielmehr wird die Unnatürlichkeit und Schädlichkeit einer völligen Überwachung des heranwachsenden Lebens durch einen diktatorischen Verstand zu illustrieren versucht. In seinen pädagogisch-anthropologischen Exzerpten der Gymnasialzeit hatte Hegel auch den Gedanken festgehalten, daß ein entwicklungsbedürftiges „Gefühl der Sympathie in zarten Herzen" wohne; ja daß Gott „in alle Herzen ein klopfendes Gefühl der Menschheit und des Guten gelegt", einen „Keim" dort gepflanzt habe, für dessen „Entwicklung und Wachstum zu sorgen" Aufgabe der Erziehung sei.^» Diesen Keim der Liebe, durch die der Einzelne im Anderen sich selbst lebt, hatte Hegel auch bei den Griechen als Hauptmotiv ihres schönen Empfindens kultiviert gefunden. In seiner pädagogischen Auffassung setzt er daher so sehr auf die behutsame Förderung dieser „guten" Natur, daß ihm die mangelnde Ausbildung eines solchen sittlichen Grundtriebes weitaus weniger schädlich erscheint als das Unterdrückungsverhältnis, zu dem das Subordinationsverhältnis fremdnormierter Verstandeskontrolle geraten muß. „Wenn die Tugend kein Produkt der Lehre und des Geschwäzes ist, sondern eine Pflanze, die — obzwar mit gehöriger Pflege — doch aus eigenem Trieb und eigener Kraft gebildet wird - so verderben die vielerlei Künste, die man erfunden haben will, um Tugend wie in einem Treibhaus hervorzubringen . . ., mehr am Menschen, als wenn man ihn verwildern läst" (GW 1.102 f =N 20). Der absurde Anspruch der „Moralkompendien", wie Hegel sie etwa in Campes Theophron vorfand^^, besteht darin, daß man durch das Auswendiglernen von Verhaltensimperativen seine Neigungen und Handlungen ständig kontrollieren und sich auf diese Weise Moralität verschaffen soll. Ein solches Auswendiglernen von ,,gedrukte[r] Moral" (GW 1.94 = N 12)^0 ist nicht nur der ethischen Autonomie zuwider, sondern zerstört auch jene freie Offenheit, die Hegel nach Maßgabe des griechischen Ideals für die notwendige Bedingung zur „Aüsserung menschlicher Kräfte, es sei des Muths, der Menschlichkeit, wie zum Frohseyn zum Lebensgenus" (GW 1.90 = N 9) hält. Die rationale Selbstkontrolle durch vorgegebene abstrakte Moralprinzipien erzeugt vielmehr eine „verzwikte Handlungsart... — die ewig ängstlich und mit sich

Vgl. Dok 65, 91, 93. Hegel hat hier Garve und Wünsch exzerpiert. ® Johann Heinrich Campe: Theophron oder der erfahrene Ratgeber für die unerfahrene Jugend. Hamburg 1783. Vgl. auch Ros 463. ^ Schon Jacobi polemisiert in seinem Roman Eduard Allwill gegen eine „auswendig gelernte Moral". WW 1. 197.

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selbst im Streit" ist (GW 1.94 = N 12). Hegel hat dieses Selbstüberwachungs-Syndrom am Beispiel eines jungen Mannes, den das „Kampische Lineal . . . düstern und ängstlich" gemacht hat, nicht ohne Anteilnahme karikiert. Er ist davon überzeugt, daß abstrakte Sollensforderungen eine „ewige Skrupulosität" erzeugen, die der „zur Tugend erforderlichen Entschlossenheit und Kraft ganz entgegen" ist (GW 1.102 = N 20).Oder — in einem drastischen Bild: „Menschen, frühe in das todte Meer moralischen Geschwätzes getaucht, gehen zwar auch unverwundbar, wie Achilles, heraus, aber die menschliche Kraft ist auch darin ersäuft worden" (GW 1.408 = Ros 467). Diese Rede von „Kraft", mit der nach Hegel der griechische Geist so sehr erfüllt war, hängt eng mit dem Verständnis von Freiheit als Selbständigkeit zusammen.Bezeichnenderweise fehlt beim Tübinger Hegel fast ganz eine reflexive Selbstbestimmungs-Terminologie zur Charakterisierung sittlichen Handelns. Sie indiziert nämlich schon in der Differenz von Bestimmendem und Bestimmtem jene Entzweiung des Menschen mit sich, die für so kraftabträglich gehalten wird. Entsprechend kritisiert Hegel auch die Desorganisation des Bewußtseins durch einen Kanon von „casuistischen Regeln" (GW 1.102 = N 20), und tendiert zur langsamen Ausbildung einer fest im Innern des Menschen verwurzelten Gesinnung, die dem jeweiligen Handeln nicht immer „entgegensteht"^^. Alle diese Einwände gegen eine reflexive Distanz im Bewußtsein des sittlich Handelnden werden später in Hegels Frankfurter Auseinandersetzung mit Kant reaktiviert werden.

2. Die „Scheidewand zwischen Leben und Lehre" — Von der Religions- und Lebensfeindlichkeit der Theologie Auch die Theologie stellt gedruckte Moral vor, nur daß sie den Verbindlichkeitsgrund des Sollens auf die Heiligkeit Gottes zurückführt und damit den Druck auf das Gemüt des vom Imperativ Bestimmten noch verstärkt. Dabei nimmt das oft komplexe „Gebäude" der theologischen Moral 31 Vgl. GW 1.97 f = N 15f. 33 Vgl. bereits Hegels Exzerpt aus Zimmermann, Dok 100. 33 Baumeister: Hegels frühe Kritik an Kants Ethik, 37, sieht als einer der wenigen, daß „Selbständigkeit" bei Hegel „in unklarer Weise" zu einem „Grundbegriff der Moralphilosophie" wird, in dem sich die „durchgängige Allgemeinheit der sittlichen Gesinnung mit dem Bewußtsein der Selbstmacht, dem Selbstgefühl und der Befriedigung durch das eigene Handeln" verbindet. Ähnlich schon Ephraim: Untersuchungen über den Freiheitsbegriff Hegels. 23. 3^ Schwarz: Die anthropologische Metaphysik des jungen Hegel. 4 f.

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und Dogmatik weder auf die Freiheit noch auf den individuellen Erfahrungshorizont des Einzelnen Rücksicht. Der Unterschied zwischen einem Kind, dem man „den theologischen Sauertaig mit dem Catechismus eingeprügelt hat - und dem Papier, auf das [man] Moral gedrukt hat ist im Ganzen nicht sehr groß - eigentlich durch Erfahrung erworbenes Bewustseyn fehlt beiden fast in gleichem Grade" (GW 1.93 = N 11 f). Hegel überträgt damit das Argument seiner Stuttgarter Bildungskritik auch auf die zeitgenössische Theologie. Sie vernachlässige die Eigenerfahrung des religiösen Subjekts und bewerte diejenigen Kenntnisse unverhältnismäßig hoch, die für die gelebte Religiosität kaum bedeutsam sind. In den Tübinger Texten sind es drei kritische Punkte, die Hegel zur kirchlichen Glaubensorthodoxie anmerkt. Zu jener Überschätzung der theologischen Gelehrsamkeit, die der inneren Herzensfrömmigkeit geradezu feindlich entgegenwirkt, kommt nach Hegels Argwohn noch die Lebensfeindlichkeit bestimmter kirchlicher Lehrgehalte selbst hinzu, deren Anerkennung der Einzelne mit dem Verlust seiner Freude bezahlt. Der dritte Punkt schließlich, der in Tübingen nur angedeutet wird, betrifft die öffentliche Erziehung zu einem vorgegebenen Glauben überhaupt, also die Prätentionen einer Obrigkeit, lehren zu können, was Gott und die Wahrheit ist. Auf diese Kritik soll jedoch später im Zusammenhang mit Hegels Berner Kritik an der „Positivität" der christlichen Religion eingegangen werden. Zur Verteidigung der Religiosität gegen die Angriffe der Theologie verwendet der etwa zweiundzwanzigjährige Student dieser Wissenschaft ein religionsphänomenologisches Begriffspaar, das damals am Tübinger Stift wohl durch seinen bedeutendsten Systematiker, Gottlob Christian Storr, im Umlauf war.^^ Diese Antonyme, „subjektive" und „objektive" Religion, sind — wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird — nicht bedeutungsidentisch mit den religionssoziologischen Opposita „öffentliche" und „Privatreligion". Hegels disjunktive Verwendung der Begriffe „subjektiv" und „objektiv" ist symptomatisch. Bildet nämlich im Idealfall die objektive Religion als Inbegriff der theologischen Lehre einen integrierten Bestandteil des subjektiv religiösen Erlebens, so verrät das zeitgenössische Brecht, Sandberger: Hegels Begegnung mit der Theologie im Tübinger Stift, 57, weisen im AnschluiS an frühere Forschungen nach, daß das von Storr zwischen dem WS 1790/91 und dem SS 1792 für seine Dogmatik-Vorlesungen zugrunde gelegte Compendium Theologiae Dogmaticae von Christoph Friedrich Sartorius zeitweilig dazu diente, den Schülern das theologische Grundwissen „einzuhämmern". Düsing: Die Rezeption der Kantischen Postulatenlehre in den frühen philosophischen Entwürfen Schellings und Hegels, 69 Anm. 51, belegt durch ein Zitat, daß sich in diesem Kompendium die Unterscheidung von „subjektiver" und „objektiver" Religion findet.

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religiöse Selbstverständnis bereits mit diesem terminologischen Gegensatz den Zerfall der organischen Einheit von Leben und Lehre. Subjektive Religion, also das Bewegtwerden des Subjekts im Einheitsmedium von „Gefühl" und „Empfindung"^, ist als eine „Sache des Herzens" (GW 1.90, 92, 96 = N 9, 10, 14) für den frühen Hegel das Entscheidende. „Auf subjektive Religion kommt alles an, dise hat einen eigentlich wahren Werth - die Theologen mögen sich über die Dogmen, über das, was zur objektiven Religion gehört, über die nähern Bestimmungen dieser Säze streiten." (GW 1.89 - N 8) Wie Herz und Empfindung zur ursprünglich „unverdorbenen" (GW 1.84, 93 = N 3, 11) Menschennatur gehören, der Verstand dagegen häufig dem Egotismus seine Rechtfertigungsgründe liefert, so hat auch das „vielleicht zuweilen ungerechte Herz eines Friedrich II." letztlich „mehr Werth" als ein Moralkompendium, das für sich immer tot und unwirksam bleibt und auch zur „Emballage eines stinkendes Käses" verwendet werden kann (GW 1.93 = N 11). Wie Hegel überhaupt nur diejenigen Verstandeskenntnisse schätzt, die ins Leben und Handeln übergehen, so auch die theologischen Kenntnisse nur insoweit, wie sie „in die subjektive Religion verflochten" (GW 1.88 = N 7) sind und einen „Bestandtheil der subjektiven" (GW 1.90 = N 8) ausmachen. Aber Hegel geht unterschwellig noch viel weiter, wenn er von der „metaphysischen Erkenntnis Gottes", mit der sich „blos der raisonnierende Verstand" beschäftige, behauptet, daß sie „Theologie, nicht mehr [!] Religion" sei (GW 1.89 = N 8).„Verstand" und „Gedächtnis" (GW 1.87, 90, 92 = N 6, 9, 10) häufen in der Seele nicht nur ein „todtes Kapital" von Kenntnissen an (GW 1.87 = N 6), sondern sie zerstören, töten auch die Spontaneität des Gefühls und die Unmittelbarkeit religiöser Einheitserfahrung. Aus dem Verdacht der empfindungstötenden Macht des Verstandes heraus läßt sich Hegel zu Äußerungen hinreißen, die man als irrationalistisch fehldeuten könnte. Allerdings ist es bemerkenswert, daß hier die Religiosität verteidigt zu werden scheint von jemandem, der selbst keine festen religiösen Überzeugungen mehr hat und sich nach den verlorenen Illusionen einer historischen wie biographischen Kindheit zurücksehnt. ^ Peperzak: Le jeune Hegel et la vision morale du monde, 16, zählt im Tübinger Textmaterial 44 „Empfindung" und „empfinden", 17 x „Gefühl" und „fühlen". Diese Unterscheidung von Theologie und Religion (vgl. auch GW 1.90 = N 9) entspricht der Terminologie Fichtes in seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung (SW 5.43). Hegel hat diese erstmals 1792 erschienene Schrift in Tübingen zumindest teilweise gelesen. Dies bezeugt eine Textstelle, an der er objektive Religion mit Theologie identifiziert und auf Fichte verweist (GW 1.75 = N 355). X

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Hegel drückt die reziproke Proportion von Theologie und Religion, von Verstand und Herz in der atmosphärischen Metaphorik des Erkaltens aus. (In Bern wird er vom „Verfliegen" des religiösen Geistes sprechen.) „Religion gewinnt durch den Verstand . . . sehr wenig, seine Operationen, seine Zweifel können im Gegentheil das Herz mehr erkalten, als wärmen." Es seien nicht immer die ,,verehrungswürdigste[n] Menschen, die ihre „Religion ... in Theologie verwandeln d. h. oft Fülle, Herzlichkeit des Glaubens gegen kalte Erkenntnisse und WortParaden vertauschen" (GW 1.92 = N 10). Die „kalte Vernunft" (GW 1.86 = N 5), die Hegel in dieser Hinsicht nicht vom „kalten Verstand" (GW 1.92 = N 11) unterscheidet, nimmt den religiösen Empfindungen durch die Reflexion ihrer Genesis den „Nimbus der Heiligkeit"; ihr „kaltes Nachdenken" (GW 1.97 = N 14) erklärt das Gefühl weg und zerstört die „schöne Einfalt" des „Geistes und der Empfindung" (GW 1.92 = N 10 f). Sehr bezeichnend für Hegels Erfahrung der Empfindungsgegnerschaft der Abstraktion ist das folgende Gleichnis, das die ganze Dimension entmythologisierter Weltdeutung evoziert. „Subjektive Religion ist Lebendig, Wirksamkeit im innern des Wesen und Thätigkeit nach aussen. Subjektive Religion ist etwas individuelles, objektive die Abstraktion, jene das lebendige Buch der Natur, die Pflanzen Insekten Vögel und Thiere, wie sie untereinander eins vom andern lebt, jedes lebt [!], jedes geniest, sie sind vermischt, überall trift man alle Arten beisammen an — dise das Kabinet des Naturlehrers, der die Insekten getötet, die Pflanzen gedörrt, die Thiere ausgestopft oder in Brantwein aufbehält" (GW 1.88 = N 7). Diese Nänie auf die entgötterte, entseelte Welt, auf den Verlust der belebenden Kraft der Religion durch die neuzeitliche Naturanalyse ergänzt Hegel in einem (früher der Berliner Zeit zugerechneten) Aufsatz Über Lessings Briefwechsel durch den Hinweis auf die historische Ablösung des Schönheitssinns durch den Nutz-Kalkül. Der „reine Geist der Griechen" verhalte sich zum ,,kalte[n], berechnende[n] Verstand" der Neueren wie „ein Knabe, der an eine[r] Rose riecht, zu dem Apotheker, der Rosenwasser daraus macht" (GW 1.407 = WW 17.410). Diesen Affront gegen den Verstand, in dem Hegel den Widersacher der Religion entdeckt, der die Empfindungen heimatlos macht, muß man bei allen Ausführungen zur objektiven Religion berücksichtigen. So etwa, wenn die Gängelung des Heranwachsenden durch Moralvorschriften mit der Glaubensunterweisung parallelisiert wird, durch deren Bürde „oft der noch nicht erstarkte Verstand, die schöne zarte Pflanze des ofnen freien Sinnes . .. niedergedrükt" werde (GW 1.89 = N 7). Auffällig ist im Tübinger Fragment die häufige Verwendung organischer, vor allem vege-

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tativer Metaphern, in denen die selbsttätige Entfaltung des Lebens ins Bild gestellt und gegen das mechanische Treiben des Verstandes gehalten wird. Auch die Religion muß aus dem inneren Leben des Individuums herauswachsen, wenn auch ihre Keime durch die öffentliche Erziehung zu pflegen sind. Religion braucht einen „gebauten Boden", damit sie „im Gemüth Wurzel fassen kan" (GW 1.89 = N 8). Aber die Selbstfindung des Menschen in seiner Religion wird um so schwieriger, je komplexer das vorgegebene „Gebäude" der objektiven Religion ist. Weil die Religiosität „etwas Individuelles" ist, das sich „nicht in eine Dogmatik einzwängen läst" (GW 1.76 = N 356), „modificirt sich" auch die objektive Religion „in jedem Menschen anders". Wenn die religiöse Sensibilität, um deren Rettung es Hegel letztlich geht, in der Fähigkeit besteht, sich „von religiösen Beweggründen bestimmen zu lassen" (GW 1.88 = N 7), so leuchtet ein, daß verschiedene Charaktere auch für unterschiedliche Beweggründe empfänglich sind.^s Eine öffentlich vorgegebene Religion kann daher um so weniger den Einzelnen ansprechen, je „weitschichtichter, je zusammengesezter der [theologische] Bau" ist (GW 1.99 = N 17). Es geht Hegel in seiner Beschreibung des Louis-XIV.-Effekts zeitgenössischer Theologie keineswegs — wie behauptet worden ist — um eine „Biedermeierrevolte", die dasjenige rigoros streichen will, was „ins Interieur der kleinen Biedermeiertotalität nicht paßt"^^; vielmehr fordert er aus einem emanzipatorischen Interesse die produktive Assimilation und Kritik „positiver" Weltinterpretationen. Wie der Sonnenkönig in Versailles sich in seinem unüberschaubaren Eigentum nicht „ganz einheimisch" fühlen konnte'*^, so kann auch der religiös Suchende sich ein differenziertes Credo nicht ohne Mündigkeitsverlust von der Orthodoxie vorgeben lassen. Er muß erst „selbst gelebt und gewebt", also das Gegebene geistig durchdrungen haben, wenn er mit dem Bekenntnis zu einem bestimmten Glauben nicht ein „BuchstabenMensch" werden will (GW 1.99 = N 17). Hegels gesamte bisherige Kritik läßt sich auf den gemeinsamen Nenner bringen, daß die objektiven Vorgaben eines vergesellschafteten Verstandes den Einzelnen verdinglichen, sobald sie sich einerseits vom Subjekt losgelöst und verselbständigt haben, gleichwohl aber in ihrer Beziehungslosigkeit den Anspruch erheben, das Subjekt zu normieren. Die Totalität

^ Vgl. Hegels Zuordnungsbeispiele von Religion und Charakter, GW 1.88 = N 7. Krüger: Theologie und Aufklärung. Vlll, 45. Vgl. hierzu die neuere Gesamtdeutung des Tübinger Fragments durch Luc: Le Statut philosophique du Tübinger Fragment, wo der Gedanke des „etre-chez-soi" zum Zentrum der Analyse gemacht ist.

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objektivierter Sollensforderungen hemmt gerade die Lebendigkeit des Menschen, die Hegel bei den Griechen als selbsttätiges sittliches Handeln aus einem kraftspendenden Geist heraus kennengelernt hatte. Der vom Individuum losgelöste Verstand trägt die Entzweiung in den unmittelbaren Lebensvollzug hinein und errichtet eine „Scheidewand zwischen Leben und Lehre" (GW 1.109 = N 26). Hegel verwendet diese von Mendelssohn übernommene Antithese^! allerdings für den zweiten Punkt seiner Theologiekritik, um die Lebensferne, ja die Lebensfeindlichkeit der kirchlichen Dogmen und des Kultus zum Ausdruck zu bringen — so wie sie die Tübinger Stiftsschüler erfahren mußten. In seinem Gemälde der freudelosen Religion versammelt Hegel die Stichwörter zeitgenössischer Trauer über die entflohene „schöne Welt", über die Zerstörung des „holden Blütenalters" durch den Glauben an den „heiligen Barbaren", wie sie sich wohl am eindruckvollsten in der 1788 erschienenen Erstfassung der Götter Griechenlandes von Schiller aussprach.^2 Auch Hegel assoziiert mit Christentum nur die „Bilder der Verwesung" und des Todes, dessen „scheusliche Larve" nach Lessing das beschämende Monopol der Neueren ist. Gegen die „heitere, frohe Phantasie" (GW 1.81 = N 358) des jugendlichen Genius hebt er die alternde Gestalt des abendländischen Geistes hervor, der das „Gefühl seiner selbst", den „Muth" und das „Zutrauen auf seine Kraft" verloren hat, nun kurzsichtig, mit gebeugtem Nacken dasteht (GW 1.113 = N 29) und seine „Fesseln" trägt „wie ein Alter das Podagra, über das er brummt, aber das er nicht von sich schaffen kan". Weil ihm die Lebensfreude und freie Selbsttätigkeit fehlt, läßt er sich „stossen und rütteln, wie sein Herrscher es will — geniest aber nur mit halbem Bewustseyn, nicht frey, nicht offen, mit heiterer schöner Freude, die andere zu Simpathie einladet — seine Feste sind Geschwäze, wie einem Alten nichts über plaudern geht - nicht lauter Ausruf — nicht vollblütiger Genuß" (GW 1.87 = N 6). Das historische Christentum und der Lebendigkeitsverlust gehören nach Hegel zusammen, weil sich jenes gegen die menschliche Bedürfnisnatur selbst kehrt. Die „Scheidewand zwischen Leben und Lehre - oder nur eine Trennung und weite Entfernung beider voneinander" erregt den „Verdacht", daß „die Form der Religion einen Fehler habe — entweder daß sie zuviel mit Wortkrämerei umgeht, oder an die Menschen zu grosse

Mendelssohn: Jerusalem. PAA 2 436, 451, 452, 460. Hegel kannte diese Schrift, wie ein Hinweis (GW 1.75 = N 355) bezeugt. ^ NA 1.190, 194,193. — Zum Einfluß Schillers auf den jungen Hegel, vgl. Leuze: Die außerchristlichen Religionen bei Hegel. 181 ff.

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frömmelnde Foderungen macht - ihren natürlichen Bedürfnissen . . . zuwider ist — oder daß beides zugleich der Fall ist" (GW 1.109 f = N 26). Es ist sehr bezeichnend für Hegels Wahrheitsverständnis, daß er hier lediglich die Unangemessenheit des kirchlich verordneten Lebens für die Menschennatur konstatiert und genau das den „Fehler" dieser Religion nennt. Die Wahrheit kann dort nicht sein, wo der Mensch unfrei ist. Das Christentum, wie Hegel es erfuhr, unterdrückt aber gerade das, was er ebenfalls mit Schiller für die treibende Feder der Geschichte und für das Signum der Freiheit hält. „Wenn die Freuden, die Fröhlichkeit der Menschen sich vor der Religion zu schämen haben ... — so hat die Form der Religion eine zu düstere Aussenseite, als daß sie sich versprechen dürfte, daß man für ihre Foderungen die Freuden des Lebens dahin geben würde" (GW 1.110 = N 26).« Mit seinen beiden mächtigen Anregern Herder und Rousseau hält Hegel die Jenseitsorientiertheit der Kirche für den Grund ihrer Fremdheit gegen Freude und Geselligkeit. „Unsre Religion will die Menschen zu Bürgern des Himmels, deren Blik immer aufwärts gerichtet ist, erziehen, und darüber werden ihnen menschliche Empfindungen fremd." Als krasser Ausdruck dieser Entfremdung gilt ihm die Praxis des Abendmahls, das „das Fest der allgemeinen Verbrüderung seyn sollte", bei dem man sich aber inzwischen „dem Genüsse der heiligen Gabe in der Farbe der Trauer mit gesenktem Blik" nähere. Mit körnigem Witz zeichnet Hegel wieder den griechisch-christlichen Hiatus zwischen dem lebendigen Geist öffentlich freier Verbundenheit und einem mechanischen Getriebe ängstlich kontrollierter Subjekte. Während die Griechen „mit den freundlichen Geschenken der Natur — mit Blumen bekränzt, mit Farben der Freude bekleidet — auf ihren offenen, zur Freundschaft und Liebe einladenden Gesichtern Frohsein verbreitend - sich den Altären ihrer guten Götter nahten", fürchtet mancher Christ „vom brüderlichen Kelch durch einen venerischen, der ihn vor ihm genoß angestekt zu werden, und damit ja sein Gemüth nicht aufmerksam, nicht in heiligen Empfindungen erhalten werde, so muß man während dem Aktus das Opfer aus der Tasche langen, und auf das Teller legen" (GW 1.110 = N 27). Man könnte Hegels Rede von der düsteren „Form der Religion" auf eine begrenzte historische Erscheinung christlicher Mentalität beziehen, wenn er nicht zugleich verallgemeinernd sagte, daß das eigentlich „Liebliche, die schönen aus der ^ Vgl. die 2. und 11. Strophe der ersten Fassung der Götter Griechenlandes von Schiller: „Durch die Schöpfung floß da Lebensfülle"; „näher war der Schöpfer dem Vergnügen, das im Busen des Geschöpfes floß." NA 1.190, 192.

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Sinnlichkeit gehöhlten Farben durch den Geist unserer Religion ausgeschlossen sind" (GW 1.107 = N 24). Bevor Hegel in Bern versuchen wird, die urchristliche Vernunft- und Tugendreligion von ihrer geschichtlichen Verfallsform zu sondern, bleiben für ihn griechische Lebendigkeit und christliche Lehre unvereinbar.

C. Hegels Programm einer Volksreligion zwischen nationaler P o p u 1 a r - P r o p ä d e u t i k des Vernunftglaubens und experimentellem Fragen nach den Bedingungen einer vernünftigen, politischen Religion der Moderne Die eindringlichen Bilder, die uns Hegel bisher vor Augen gestellt hat, zeigen, daß der Anfang seines Philosophierens weniger die Verwunderung als vielmehr die Verwundung ist, das Trauma eines geschichtlichen Verlustes. Das Dilemma aber, in das er sich mit seinen beiden Gemälden kontrastierender geschichtlicher „Genien" gebracht hat, scheint vollkommen. Die schöne, sittliche Phantasiereligion der Griechen ist in der Kälte einer entgötterten Welt nicht restaurierbar. Der Verstand, der die Einfalt entzweite, hat sich andererseits als untauglich für die Bildung eines religiösen Gemeingeistes, vielmehr als „Diener der Eigenliebe" erwiesen, der die höheren Empfindungen des Herzens erkalten läßt. Die bisherigen Ausführungen haben jedoch nur die eine Seite des Tübinger Hegel zu Worte kommen lassen: die elegisch rückwärtsgewandte Schwärmerei für die schöne griechische Phantasiereligion in eins mit der Kritik der gegenwärtigen Verstandes-Kultur. Die andere Seite des frühen Hegel ist seine zukunftsorientierte Beschäftigung mit dem Plan einer politischen „Religion, die allgemein fürs Volk seyn soll" (GW 1.96 = N 14). Diese Volksreligion wird zunächst für eine populäre Vorform zu einer reinen Vernunftreligion ausgegeben, welche Gott „im Geist und in der Wahrheit anbetet" (Joh 4.24), d. h. den Kultus — nach dem Vorbild der Kantischen Religionsphilosophie - allein ins moralische Handeln aus reiner praktischer Vernunft setzt. Eine nähere Betrachtung wird aber zeigen, daß es eigentlich die vernünftige Religion eines freien Volkes ist, deren Bedingungen Hegel erfragt. In dieser öffentlichen Religion freier Verbundenheit sucht er Phantasie und Vernunft, ästhetische Rezeptivität und moralische Spontaneität, Sinnlichkeit und Mündigkeit zu synthetisieren.

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1. Religiöser Gemeingeist als belebendes Prinzip sittlichen Handelns In seinem Gymnasialaufsatz Über die Religion der Griechen und Römer hatte Hegel erklärt, der „Gedanke an eine Gottheit" sei „dem Menschen so natürlich, daß er sich auch bei allen Völkern entwickelt" habe. Die mögliche Radikalität einer solchen Auffassung, nach welcher Gott als bloßer Gedanke zum Menschen gehört und nicht der Mensch als das Geschöpf zum Schöpfer, wird aber durch die affirmative Rede von einer wahren Gottheit abgeschwächt. In ihrer „Kindheit", in dem „Urständ der Natur", stellten sich die Völker ihren Gott ganz anthropomorph nach dem Bilde ihrer jeweiligen Herrscher und Familienoberhäupter als allmächtigen, aber „blos nach Willkür" regierenden Herrn vor (GW 1.42 = Dok 43) und versuchten „physisches oder moralisches Übel", das sie als göttliche Strafe für ihre Vergehen deuten mußten, durch Geschenke an Gott abzuwenden. Sie wußten also noch nicht, daß „jene Uebel keine wirkliche Uebel, daß Glück und Unglück von ihnen selbst abhange, daß die Gottheit nie Unglück sendet zum Schaden ihrer Geschöpfe. Auch überlegten sie nicht, daß das höchste Wesen durch Geschenke von Menschen nicht gewonnen wird" (GW 1.42 = Dok 44). Erst die Schriften des klassischen Altertums riefen nach Hegel (bzw. nach dem unbekannten von Hegel zugrundegelegten Autor) dazu auf, „eine Vorsehung zu verehren und ihre freilich nicht willkürlichen Befehle zu befolgen, wodurch sie weise Alles lenkt und gütig und wohlthätig". In jenen primitiven Vorstellungen, nach denen der „Pöbel aller Völker" (GW 1.44 = Dok 46 f), aber auch noch der Großteil der Menschen „unserer so gerühmten aufgeklärten Zeiten" (GW 1.42 = Dok 44) der Gottheit „sinnliche und menschliche Eigenschaften" zuspricht und an „willkürliche Belohnungen und Bestrafungen" von ihrer Hand glaubt, erkennt Hegel jedoch ein wichtiges disziplinarisches Instrument. Solange nämlich die „Gründe der Vernunft und einer reinem Religion" bei den Menschen „nicht wirksam genug" waren, erwiesen sich jene Motive als der „stärkste Zaum ihrer Leidenschaften" (GW 1.44 = Dok 47). Diese Wirksamkeit der Religion auf die kollektive Willensbestimmung machten sich aber schon die „klügeren und listigeren" Priester zunutze. Sie erkannten, daß „die Völker sich durch nichts so willig leiten lassen, als durch Religion", manipulierten daher die „Einbildungskraft" der Menge nach ihrem Herrschaftsinteresse und immunisierten ihr Handeln durch religiöse Mystifikation „gegen alle Anfälle der Vernunft". Religion muß jedoch nicht klassenideologisch mißbraucht werden, sondern kann auch bewußt für das „allgemeine Wohl" eingesetzt werden. So dienten etwa die griechischen Orakel als „eines von den Banden, wodurch die so eifer-

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süchtigen und uneinigen Staaten zusammengehalten und zu einem gemeinschaftlichen Interesse verbunden wurden" (GW 1.43 f = Dok 46). Von der Gottheit als „Vorsehung", von dem „gütigsten Wesen" und der „alles vergeltenden Ewigkeit" (GW 1.49 f = Dok 52—54) spricht Hegel auch in seiner Abgangsrede vom Gymnasium. Allerdings darf man aus dieser Rede wie auch aus dem Aufsatz schon deshalb nicht einfach Hegels religiöse Überzeugung herauslesen, weil beides ja den Lehrern vor Augen bzw. Ohren kam. Das Tagebuch jedoch verrät, frei vom Zwang solcher Rücksichtnahme, denselben aufklärerischen Geist, der von einem persönlichen Gott nur noch metaphorisch spricht und die Aufgabe der „Gottheit", des abstrakten „Wesens" nur noch in der „Vorsehung", in der Verbürgung der Freiheit und der ausgleichenden Gerechtigkeit, erblickt. Ein Lieblingsthema dieses Tagebuchs ist die Hartnäckigkeit des Aberglaubens in einem Zeitalter der Aufklärung. Hegels Urteil: „durare superstitionem vidi" (GW 1.28 = Dok 36) bezieht sich zunächst auf die mythologischen survivals der Kirche, vor allem des Katholizismus, dann aber auch auf den Volksaberglauben, in den er auch — „pudendum dictu" — Leute zurückfallen sieht, „von denen man mehr Aufklärung erwartet, und die in öffentlichen Ämtern stehen". Mit Genugtuung stellt er fest, wie die gewissermaßen zum Stuttgarter genius loci gehörigen kollektiven Halluzinationen wie „Muthes Heer" oder der reitende „Postknecht OHNE KOPF" sich aus natürlichen Ursachen und einer überspannten Phantasie erklären, und kommentiert das Geschehen mit dem ins Gelächter umgebogenen ciceronischen Stoßseufzer: „Ha! Ha! Ha! O tempora! o mores! geschehen Anno 1785. O! O!" (GW 1.8 f = Dok 13 f). Bezeichnend für den jungen Hegel ist nun, daß er sich angesichts solcher öffentlicher Gespenstergläubigkeit bereits mit fünfzehn Jahren Gedanken über die „Aufklärung des gemeinen Mannes" macht, die zu entwerfen er allerdings für sehr schwierig hält, selbst für die „gelehrtesten Leute" (GW 1.30 = Dok 37). Die fragmentarische Überlieferung des Textes erlaubt jedoch keine wirkliche Gewißheit darüber, ob Hegel hier bereits vom „Normaltyp des Aufklärers" abweicht.'^ Wenn Hegel auch von einer „Aufklärung durch Wissenschaften und Künste" spricht, so ist damit noch nicht entschieden, ob er schon hier wie in Tübingen an der Leistungsfähigkeit einer Volksaufklärung zweifelt oder an ihrer bloßen Möglichkeit. Auch die Überzeugung, „Aufklärung des gemeinen Mannes habe

^ So Schmidt-Japing: Die Bedeutung der Person Jesu. 4 f.

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sich immer nach der Religion seiner Zeit gerichtet" (ebd.), läßt sich nicht eindeutig interpretieren. Bemerkenswert ist immerhin Hegels frühes Interesse an „Volkserziehung"^®, das bei ihm schon damals auf der Ansicht von der Gedrungenheit der Volksvernunft bzw. von der mangelnden Sensibilität des Volkes für die „Gründe der Vernunft" beruht. Die Geschichtlichkeit des religiösen Geistes, die Vielzahl seiner Vorstellungen und „Irrwege" wird Hegel in Stuttgart zum Indiz für die „Schwierigkeit, zu der reinen von Irrthümern nicht entstalteten Wahrheit zu gelangen". Der Zeitläufte allgemeines Fabula-docet liege in der Warnung, ständig unsere Urteile zu überprüfen und aus unserer Gleichgültigkeit gegen die „wichtigsten Wahrheiten" zu erwachen (GW 1.45 = Dok 47 f). Zu diesen wichtigsten Wahrheiten gehört für Hegel aber offenbar der Gedanke der „Weisen Griechenlands" von der Fähigkeit des Menschen zur Eudaimonie und der Garantie Gottes für eine der ,,moralische[n] Güte" angemessene Glückseligkeit. Bezeichnend für den praktisch orientierten Geist Hegels ist die Tatsache, daß er einerseits dieses Theologumenon unter die „viel aufgeklärtere[n] und erhabnere[n] Begriffe von der Gottheit", andererseits zwei Sätze später das „Urwesen der Gottheit" unter die ,,unbegreifliche[n] Dinge" zählt (GW 1.44 = Dok 47). Soweit die Zeugnisse aus der Stuttgarter Zeit wirklich einen Einblick in Hegels eigenes Bewußtsein gestatten, so lassen sie ein leitendes Aufklärungsideal erkennen, zu dem wesentlich der Vernunftglaube an eine moralische Weltordnung gehört, die dem Menschen freies Handeln gewährt und die Proportionalität von „moralischer Güte" und „Glückseligkeit" verbürgt. Die Tübinger Manuskripte bezeugen dann, daß Hegel als Stiftsschüler diesen Vemunftglauben nicht aufgegeben hat, wenn er sich auch hier von seinem anfänglichen Aufklärungsvertrauen distanziert und die Wirksamkeit von allgemeiner Aufklärung bezweifelt. Zunächst einmal hält Hegel es für wichtig, bei allen Überlegungen zur Unbedingtheit der sittlichen Forderung nicht zu vergessen, daß der Mensch „ein aus Sinnlichkeit und Vernunft zusammengesetztes Wesen" ist. Die Sinnlichkeit sei dabei „die Hauptmasse, der Stoff aus dem sich eigentlich alles bildet" (GW 1.78 = N 357), das „Haupt-Element bei allem Handeln und Streben der Menschen". Wer diese „Abhängigkeit von der aüssern und innern Natur — von dem was" den Menschen „umgibt, und in dem er lebt, und von den sinnlichem Neigungen und dem blinden Instinkt" nicht beachte, verwechsle leicht das „schöne Luftbild", das eine

Haering: Hegel. Bd 1. 31 u. ö.

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„reine schöne Phantasie", aber auch die ,,erhabene[n] Foderungen der Vernunft an die Menschheit" entwerfen, mit der „Wirklichkeit" (GW 1.84 f = N 4). Hegel bezweifelt also nicht die Gültigkeit des praktischen Vernunftgesetzes, wie er es in Kants Schriften zur Ethik fand. Vielmehr richtet sich sein Hauptinteresse auf die empirischen Grenzen seiner Wirksamkeit. Gerade die Überzeugung von der unbedingten Geltung, aber relativen Ohnmacht des Sittengesetzes, in eins mit einer unkantischen Anthropologie, verleitet ihn zu einem bedenklichen Schwanken in der Bewertung der Sinnlichkeit, das seinem anfänglichen Denken eine zwielichtige Gestalt verleiht.^ Daß Hegel nicht nur eine „uneigennüzig[e]" Sinnlichkeit unter dem Titel „Liebe" kennt, sondern diese im betörenden Blick auf Griechenland zum „Grundprincip des empirischen Charakters" (GW 1.101 = N 18) erhebt, macht die Verwirrung über sein eigentliches Wollen noch größer. Die Fülle der unterschiedlichen Interpretationen der Tübinger Texte hat daher ihr fundamentum in litteris. Das ethische Ideal einer neigungsbezwingenden „reinen Achtung fürs Gesetz" (ebd.) konkurriert ohne offensichtlichen Zusammenhang mit der undeutlichen Leitvorstellung einer Verschmelzung der Liebesmotive mit dieser Achtung für die „Stimme der Pflicht" (GW 1.88 = N 7).Betrachtet man das griechische Vorbild, in dem sich Sittlichkeit als Handeln aus Liebe und phantasiereligiösen Motiven darstellte, so gewinnt man gar den Eindruck, daß eine Willensbestimmung aus dem Pflichtgedanken unter solchen Bedingungen für überflüssig, wenn nicht empfindungszerstörend gelten muß. Hegels Verlegenheit besteht nicht zuletzt darin, daß er einerseits in Kants Autonomie-Prinzip die vernünftige Einheit von Moralität und Freiheit findet, andererseits durch seine organische Anthropologie am Ideal eines unmittelbaren Handelns aus der Fülle des Herzens festhält. Das Fehlen einer einheitlichen Theorie der Moralität bringt es mit sich, daß auch die Rolle der Religion nicht eindeutig bestimmbar ist. Hegels Kritik der zeitgenössischen Theologie zeigte bereits, daß für ihn die „objektive Religion" nur insoweit Wert hat, als sie „Empfindungen" hervorruft und zu „Handlungen" motiviert (GW 1.87 = N 6). Alle subjektive Religion, also das empfindungsproduktive und sittlichkeitsfördernde Sichbewegenlassen des Gemüts von „religiösen Beweggründen" (GW 1.88 = N 7), bedarf also eines objektiven Moments, eines Inbegriffs von

^ Vgl. Wacker: Das Verhältnis des jungen Hegel zu Kant. 1 — 14. Vgl. hierzu Steinbüchel: Das Grundproblem der Hegelschen Philosophie. 140-162. Görland: Die Kantkritik des jungen Hegel. 4. Düsing: Die Rezeption der Kantischen Postulatenlehre in den frühen philosophischen Entwürfen Schellings und Hegels. 68 - 72.

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religiösen Motiven. Diese Motive können wie in der griechischen Religion durch die Phantasie, aber auch durch den Verstand oder die Vernunft vorgegeben werden. Es ist daher zunächst irritierend, daß Hegel objektive Religion einseitig auf eine Sache des „Verstandes" und des „Gedächtnisses" festlegt. Seine Ausführungen zur objektiven Religion zeigen jedoch, daß er in dieser Hinsicht Verstand und Vernunft nicht immer unterscheidet. So lesen wir etwa, daß sich mit der „wissenschaftlichen oder vielmehr metaphysischen Erkenntnis Gottes, unsers und der ganzen Welt Verhältnisses zu ihm u. s. w." bloß „der raisonnirende Verstand" beschäftigt (GW 1.89 = N 8). Dennoch ist es völlig konsequent, daß Hegel gerade dem Verstand diejenigen Erkenntnisse zuordnet, die für die lebendige Religiosität unwirksam sind. Nicht theoretisch objektive Kenntnisse, sondern die Postulate der praktischen Vernunft machen den Teil des Credos aus, der das religiöse Subjekt am meisten bewegt. Sie bilden gerade nicht die vom Leben abgelöste und verselbständigte „doctrina de Deo et religione", die das am Tübinger Stift zugrundegelegte Dogmatik-Kompendium von Sartorius mit der objektiven Religion identifizierte.^ Vielmehr „beleben die Ideen der Vernunft das ganze Gewebe" der menschlichen „Empfindungen" (GW 1.85 = N 4). Deshalb kann Hegel auch sagen, er zähle nur solche „Kenntnisse von Gott und Unsterblichkeit zur Religion", die „das Bedürfnis der praktischen Vernunft fodert" (GW 1.89 = N 8). Die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, die bei Kant den Kern des Vernunftglaubens ausmachen, hält er sogar mit Einschränkung für das gemeinsame Motiv der historischen Religionen. „Jeder Religion liegen einige wenige FundamentalSäze zum Grunde, die nur in den verschiedenen Religionen mehr minder modificirt, verunstaltet — mehr oder weniger rein dargestellt sind - die den Grund alles Glaubens, aller Hofnungen ausmachen, welche die Religion uns an die Hand gibt." (ebd.) So hatte ja etwa auch der Grieche die „großen Ideen seines eigenen Herzens" auf die Götterwelt projiziert und war vom Glauben durchdrungen, daß die Götter „den Guten hold" sind und die Bösen der „furchtbaren Nemesis" überantworten. Diesen Glauben erkennen wir als auf das „tiefe moralische Bedürfnis der Vernunft" (GW 1.106 = N 23) gegründet, dem auf seiten des empirischen Charakters das „moralische Gefühl" entspricht, d. h. das „Gewissen, der innere Sinn für Recht und Unrecht, und das Gefühl, daß auf Unrecht - Strafe, auf Rechtthun Glükseeligkeit folgen müsse" (GW

^ Vgl. Düsing: Die Rezeption der Kantischen Postulatenlehre in den frühen philosophischen Entwürfen Schellings und Hegels. 69, Anm. 51.

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1.91 = N 9). In seiner lakonischen „Deduktion der Religion" führt Hegel die Idee eines mächtigen Gottes, deren historische Genese zufällig sein mag, gerade auf das instinktive Bedürfnis der Völker nach dem höchsten Gut zurück, das diese Vorstellung für sich „ganz angemessen" findet. Das moralische Gefühl, der „Keim, aus dem Religion entspringt", sei in Kants Postulatenlehre nämlich nur „in seine Bestandtheile, in deutliche Begriffe aufgelöst" (GW 1.91 = N 9).*^ Diese Entsprechung zwischen dem „moralischen Gefühl" und dem von Kant so genannten „Bedürfnis der praktischen Vernunft"^ erlaubt ihm, in den verschiedenen historischen Religionen einen vernunftgemäßen Glauben zu entdecken, der deshalb kein Glaube aus reiner Vernunft sein muß.^^ Wenn Hegel das Vernunftbedürfnis im Herzen gleichsam lokalisiert^^^ go nimmt er diesem damit den Charakter des völlig Irrationalen, des „Breiigen", gegen das er später so heftig polemisiert. Dieses „Herz", dem Hegel in Tübingen allen Wert beimißt, ist Metapher für den Empfindungsaspekt der sittlichen Gesinnung selbst. Alle „wirkliche" Religion „interessiert" daher das Herz, sie hat „Einfluß auf unsre Empfindungen und auf die Bestimmung unsers Willens" (GW 1.85 = N 5). Diese Wirksamkeit der Religion ist es ja gerade, die Hegel „subjektiv" oder „lebendig" nennt (GW 1.88, 90 = N 7, 8). Weil er aber kein kohärentes Konzept vom Wesen der Moralität vorstellt, bleibt auch die „Kraft" (GW 1.69, 90, 101, 78 = Dok 184; N 8, 19, 357), der „Schwung" (GW 1.85 = N 5), der „Einfluß" (GW 1.85, 90 = N 5, 9) oder „Eindruk" (GW 1.87, 88 = N 6, 7), also der spezifische Modus der belebenden Wirksamkeit der Religion mehrdeutig.®^ Die hier folgende Textstelle möge Hegels Unentschiedenheit bei der Bestimmung des Verhältnisses von Moralität, Sinnlichkeit und Religion aufzeigen. Die Notwendigkeit einer abstrakten Trennung von reiner Moralität und Sinnlichkeit in einem „System der Moral", das „diese unter jene erniedrigt", dürfe nicht dazu führen, die „Wirklichkeit" des Menschen, seine „Sinnlichkeit" zu übersehen — so argumentiert Hegel zunächst. Dieser

Bei Hegel fällt also nicht einfach „die Deduktion der Religion mit der Deduktion des Gewissens zusammen", wie Rebstock: Hegels Auffassung des Mythos, 46, annimmt. Vielmehr umgreift das moralische Gefühl außer dem Gewissen auch das Bedürfnis nach göttlicher Gerechtigkeit. Vgl. Kant: Kritik der praktischen Vernunft. 257. AA 5. 142; Die Religion. AA 6. 6, 104, 139. Ähnlich Kant: Die Religion. AA 6. 126, 140 f. 52 Vgl. GW 1.84, 85, 90 = N 4, 5, 9. 55 Zu dieser belebenden Wirkung der Religion vgl. auch Kant: Die Religion. AA 6. 195 f, 198, 201.

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skeptisch realistischen Warnung folgt die Behauptung: „die Natur des Menschen ist mit den Ideen der Vernunft gleichsam nur geschwängert" (GW 1.84 f = N 4). Das „nur" scheint erneut auf das Defizit an Vernunftbeherrschtheit hinzuweisen^, aber die anschließenden Bemerkungen machen deutlich, daß Hegel hier - quer zum Nerv der Argumentation - ein Ideal beschreibt. Die Ideen der praktischen Vernunft „durchdringen" und „erfüllen" wie das Licht den Raum oder das Salz ein gelungenes Gericht das Innere des Menschen, ohne selbst abgesondert vorfindbar zu sein. Durch diese vollständige Assimiliertheit „beleben" sie das Empfindungsgewebe und durchwirken indirekt alle Neigungen und Triebe. Subjektive Religion, so heißt es an anderer Stelle, „verbreitet sich auf alle Zweige der menschlichen Neigungen (ohn daß die Seele gerade es sich bewust ist), und wirkt überall - aber nur mittelbar mit - sie wirkt . . . negativ", läßt die Seele durch ihren „feinem Einfluß" „frei und offen" fortwirken, ohne die „Sehnen ihrer Thätigkeit" zu lähmen (GW 1.90 = N 8 f). Hegel konstatiert also gar nicht einen Mangel an Vernünftigkeit, sondern schwenkt unvermittelt ab auf die Idee einer „Schwängerung", „Durchdringung" und „Erfüllung" des Lebens durch Religion. Diese ist gleichsam der Katalysator der freien Selbsttätigkeit, das belebende Organisationsprinzip des Handelns. Obwohl die „Beweggründe" (GW 1.88 = N 7) des religiösen Geistes nicht empirisch objektiv bestimmbar sind, sind sie nicht immun gegen den geschichtlichen Triumph des erfahrenen Verstandes. Während sich aber der theologische Dünkel - im „PharisäersGefühl: ich bin gescheuter" (GW 1.108 = N 25) - über die Absurditäten fremder Religionen belustigt, muß demjenigen das Lachen vergehen, der schon das Heer der noch Dümmeren aufziehen sieht, das über die Vorstellungen der Spötter spotten und damit nach Hegel die nächste Bastion der Volksmoral verwüsten wird. Eine so „kahle und forcirte Anmerkung" wie die Gellerts, „ein kleines Kind wisse heutzutage mehr von Gott — als der weiseste Heyde" (GW 1.93 = N 11) verrate Blindheit gegen das „Wesen der Religion" (GW 1.92 = N 10).Dies besteht eben nicht in einer Kollektion von Kenntnissen über Gott, sondern in der Verstärkung der Motivation zu sittlichem Handeln, die der Glaube an eine göttliche Gerechtigkeit durch

So verstehen z. B. dieses „nur" defizitär Schmidt-Japing: Die Bedeutung der Person Jesu. 7 f; und Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. 239. Anders dagegen Liebrucks: Sprache und Bewußtsein. Bd 3. 132. 55 Vgl. GW 1.107 = N 24.

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seine Hoffnung und seinen „Trost im Leiden" (GW 1.103 = N 20)^^ bewirkt. Freilich scheint Hegels Sinn für die gemeinsame Basis der Religionen mit einer Blindheit für ihre moralischen Qualitätsunterschiede einherzugehen. Lessings Ringparabel droht verflacht zu werden, wenn sie nicht mehr besagen soll, als daß „subjektive Religion . . . bei guten Menschen ... so zimlich gleich" sei (GW 1.92 = N 10). Hegel wirkt jedoch einem möglichen religiösen Indifferentismus durch die Rede von der reinen Vernunftreligion entgegen, die Gott „im Geist und in der Wahrheit anbetet, und seinen Dienst nur in die Tugend sezt" (GW 1.99 = N 17). Dabei ist offensichtlich, daß Hegel dieses „und" nicht additiv, sondern explikativ verwendet, daß er wie Kant^^ das Zitat Joh 4.24 im Sinne eines Kultus des moralischen Handelns aus reiner Gesinnung und der kraftspendenden Hoffnung des höchsten Guts heraus auslegt. In der reinen Vernunftreligion wird also „Gott als höchster Gesezgeber und Regierer . . . verehrt", dem wir den „angenehmsten Gottesdienst" dadurch erweisen, „daß wir gut und rechtschaffen sind" (GW 1.72 = Dok 181). Der Glaube an die Wirklichkeit des höchsten Guts und seinen Garanten sowie die Überzeugung, daß „Rechttun" Gott „der wohlgefälligste Dienst sey" (GW 1.96 = N 14), sind aber nicht etwa nur Grundlehren dieser Vernunftreligion, auf die dann abgeleitete Dogmen aufbauten. Vielmehr erschöpft sich in ihnen schon die ganze Vernunftreligion. In Hegels frühen Manuskripten findet sich nicht eine affirmative religiöse Überzeugung, die über dieses blasse Glaubensschema hinausginge. Gerade die Reinheit und Wahrheit der Vernunftreligion hat Hegel nur um den hohen Preis konkret sinnlicher Armut und Bestimmungslosigkeit errungen. Die frühe Kritik des religiösen Anthropomorphismus, die Interpretation der griechischen Götter als fiktiver Phantasiegestalten, als „lebendiger Bilder", und schließlich die erkenntnistheoretische Skepsis haben ihm den Glauben an die Existenz eines persönlichen Gottes verwehrt.®® Es fragt sich, ob die Vernunftreligion, von der Hegel so emphatisch spricht, überhaupt mehr ist als das hypothetische Postulat einer moralischen Weltordnung. „Um hoffen zu

5* Vgl. GW 1.83, 90, 97 = N 3, 8, 14 f. 57 Kant: Die Religion. AA 6. 84, 145, 192. 5* Haerings Behauptung, daß Hegel in Tübingen Theist gewesen sei und seinen Glauben an einen persönlichen Gott „niemals ganz preisgegeben" habe (Hegel. Bd 1. 45 f), entbehrt bis auf jene berühmte Stelle im Brief an Schelling (Briefe. Bd 1. 18), die noch zu interpretieren sein wird, jeder Begründung. — Einen „theistischen Standpunkt" glaubt auch feststellen zu können Wacker: Das Verhältnis des jungen Hegel zu Kant. 73. Ähnlich Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. 120, 424.

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können, daß das höchste Gut, dessen einen Bestandtheil wirklich zu machen uns als Pflicht auferlegt, im Ganzen wirklich werde fodert die praktische Vernunft Glauben an eine Gottheit - an Unsterblichkeit." (GW 1.91 = N 9) Hegel argumentiert hier nicht von der Existenzgewißheit Gottes her, sondern vom natürlichen Bedürfnis des Menschen nach ihr. Wer „Fülle, Herzlichkeit des Glaubens" (GW 1.92 = N 10) nur noch in der Vergangenheit finden und beschwören kann wie einen verflogenen Kindertraum, beweist gerade durch seine unerfüllte religiöse Sehnsucht und seine religiöse Heimatlosigkeit seinen religiösen Atheismus.Erstrangige Dokumente einer solchen gegenstandslosen Religiosität sind auch die Predigten, die Hegel in Tübingen öffentlich halten mußte. Allerdings ist bei ihrer Interpretation wiederum Vorsicht geboten. Schon die vielen sinnlichkeitsverachtenden Worte^, die bestimmte Ohren am Stift bei den Predigten nicht entbehren konnten, lassen vermuten, daß zwar kein Wolf, vielleicht aber ein Fuchs im Schafsfell steckt — falls es sich hier nicht um Standardtexte handelt. Doch lassen die Pflichtphrasen der Hegelschen Zwangstartüfferie seinen eigenen Standort erkennen. Bereits in der ersten Predigt vom Januar 1792, in der eine genaue Übereinstimmung der biblisch geoffenbarten „Gesezgebung", vor allem des reineren Neuen Testaments, mit der „jedem Menschen gegebenen Offenbahrung" der Vernunft behauptet wird, gibt Hegel sich als Schüler Kants zu erkennen. Die natürliche Offenbarung versteht er nämlich als ein vom Schöpfer in unsere Seele geschriebenes „unauslöschliches Gesez", das „unabhängig von unserer Sinnlichkeit und den Umständen, die feste Richtschnur unserer Handlungen seyn soll" (GW 1.58, 57 = Dok 175 f).^^ Der historischen Offenbarung habe es deshalb bedurft, weil das Gesetz und das von ihm begleitete „Gefühl von Recht und Unrecht", das Gewis-

So auch Peperzak: Le jeune Hegel et la vision morale du monde. 89 u. ö. “ Wie verträgt sich etwa eine „angeborne Verdorbenheit des menschlichen Herzens" (GW 1.71 = Dok 180), eine „verdorbene Natur" (GW 1.69 = Dok 184) und das „verdorbene Herz des Menschen" (GW 1.68 = Dok 182) mit jenem „unverdorbenen MenschenSinne" (GW 1.84 = N 3), jener „Stimme der unverdorbenen Empfindung" (GW 1.93 = N 11), von denen Hegel im Tübinger Hauptfragment spricht? Wie kann er die schöne Sinnlichkeit rehabilitieren wollen (vgl. GW 1.109 f = N 26f) und zugleich fordern, „das irrdische verachten" zu lernen (GW 1.70 = N 179)? Bezeichnend ist auch z. B. eine Umformulierung, die Hegel nicht ohne Rücksicht auf die Publikumserwartungen vorgenommen haben dürfte. Aus der Bitte: „Der Geist der Liebe und des Friedens erfülle auch unsere Herzen ..." wird später: „Du Gott der Liebe und des Friedens erfülle auch unsere Herzen mit deinem Geiste" (GW 1.60). ** Allerdings dürfte Hegel damit auch auf den „vö(io5 TOü voög" (Röm 7.23; vgl. 2.15) anspielen.

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sen, bei der Übermacht der niederen Sinnlichkeit oft nicht zur Willensbestimmung hinreicht, so daß noch „ein anderer mächtigerer Damm jenem Strome entgegengesezt" werden müsse (GW 1.58 = Dok 175 f). Die anderen drei Predigten handeln vom „wahren Christen", der „im Geist der Lehre Jesu" handeln und dessen Herz von Versöhnlichkeit und Liebe ganz erfüllt sein müsse (GW 1.60—67 = Dok 184-192); vom „wahren Glauben", der „nicht blos Sache des Verstands", aber auch „kein schwärmerischer Wunderglaube" sein dürfe (GW 1.68 f = Dok 182 ff); und schließlich vom „Reich Gottes" als der unsichtbaren Kirche der vom Geist der Bergpredigt Erfüllten (GW 1.70— 72 = Dok 179—182). Diese Predigten lassen sich durchgängig als Kerygma des Vernunftglaubens verstehen, der im Christentum sein offenbarungstheologisches Abbild erkennt. Konsequenterweise deutet Hegel die Wunder Jesu nach der damals durch Johann Salomo Semler begründeten Theorie als eine Akkomodation, um die zeichenbedürftigen Juden zu überzeugen. Aufmerksamen Zuhörern kann es damals nicht entgangen sein, daß Hegel selbst die Auferstehung Christi, diesen „Schlusstein des christlichen Glaubens", ebenfalls unter diese „Zeichen und Wunder" zählt (GW 1.68 f = Dok 182 ff). Was in den Predigten besonders auffällt, ist die immer wiederkehrende Bitte um den beseelenden, lebendigmachenden Geist. Sie ist die ausgesprochene Sehnsucht dessen, der die christliche Botschaft begrüßt, ohne sie glauben zu können. So gesehen hat Hegels Problem der Subjektivierung objektiver Religion eine biographische Wurzel. Es ist eben falsch anzunehmen, daß „der wahre Glaube nur in Wissenschaft bestehe, daß wenn unser Gedächtnis mehr wisse, daß unser Glaube fester, besser, lebendiger sey" (GW 1.68 = Dok 182). Für den Stuttgarter wie für den Tübinger Hegel besteht die Wahrheit der Religion in der moralischen Gesinnung und dem damit verbundenen Glauben an eine moralische Vorsehung. Zwischen der reinen Vernunftreligion, deren Privileg diese ganze Wahrheit ist, und dem bloßen „Aberglauben" gibt es aber Zwischenstufen, denen sich die historischen Religionen zuordnen lassen. Der Aberglaube „bei vielen sinnlichen Völkern" nimmt für göttliche Gebote, was eigentlich Regeln der Klugheit sind, und handelt aus Furcht vor einem sinnlich vorgestellten Gott. Gottesbild und Kultus sind „schon moralischer", d. h. deuten „schon mehr auf Bewußtseyn von einer höhern nach grössern Zweken als sinnlichen Ordnung hin", wenn jener „Aberglaube zwar auch beigemischt ist", die Gottheit aber zugleich als Macht der Weisheit aufgefaßt wird, zu der man beten kann und von der man Glück für den Gerechten, Unglück für den Bösen erwartet (GW 1.91 f = N 9 f). Das historische Vorbild reiner Vernunftreli-

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gion begann Hegel während seiner Studienzeit im Neuen Testament zu entdecken. Auch hierbei konnte er sich u. a. auf Kants Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft stützen, die zur Ostermesse 1973 erstmals vollständig der Öffentlichkeit vorlag. Kant ging es in diesen vier Abhandlungen darum, nach der Zurückweisung der Theologie in ihre Erkenntnisschranken nun im Neuen Testament „denjenigen Sinn zu suchen, der mit dem Heiligsten, was die Vernunft lehrt, in Harmonie steht".Dabei begriff er aber seinen Nachweis, daß die Bibel neben ihren Zeitbedingtheiten „die reinste moralische Religionslehre mit Vollständigkeit enthält"^^, in einem größeren religionsgeschichtlichen Zusammenhang. In den Weltreligionen nämlich lasse sich ein „Volksglaube" und ein mit ihm konkurrierender Glaube unterscheiden, der dem „aufgeklärteren Theil" des Volkes zu eigen ist. Immer versuche dieser, dem „buchstäblichen Sinn des Volksglaubens" einen „mystischen" oder „geistigen Sinn" „unterzulegen" und den Volksglauben so als „symbolische Vorstellung" zu entschlüsseln. Der aufgeklärte Sinn, der „den Symbolen des Volksglaubens oder auch heiligen Büchern" gegeben wird, müsse jedoch nicht die Reproduktion eines ursprünglich immanenten Sinnes sein. Vielmehr genüge die „bloße Möglichkeit, die Verfasser derselben so zu verstehen"^. In einer solchen der Geltungsmodalität nach bloß problematischen Exegese der christlichen Offenbarung will Kant auch „das Buch, was einmal da ist, fernerhin .. . brauchen"®^ und auf dem Wege einer ,,durchgängige[n] Deutung" des Neuen Testaments mit diesem „empirischen Glauben, den uns dem Ansehen nach ein Ungefähr in die Hände gespielt hat, die Grundlage eines moralischen Glaubens . . . vereinigen (er sei nun Zweck oder nur Hülfsmittel)"; mag eine solche Auslegung auch „oft gezwungen scheinen"^. Entscheidend ist nun neben der eigentlichen Exegese Kants starke Betonung der geschichtlichen Bedeutung des Volksglaubens, d. h. in diesem Fall des historischen Kirchenglaubens. Dessen sinnliche Vorstellungsart nämlich sei besonders dafür geeignet gewesen, die reinere Lehre in einer „populären" „Hülle" allererst „öffentlich in Gang zu bringen"^^. Die Mysterien und Wundererzählungen haben ihre Bedeutung allein als solche „Vehikel" der „Introduction", als bloße



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Kant: Die Religion. AA 6. 83. Ebd. 107. Ebd. 111. Ebd. 132. Ebd. HO. Ebd. 83, 85.

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„Hülfsmittel" zur allgemeinen Verbreitung der verborgenen Vernunftreligion. Sie sind aber nicht, wie die Leiter nach dem erklommenen Ziel, bloß entbehrlich geworden, sondern sie müssen wie die „Hüllen" eines „Embryos" abgestreift werden, sobald die reife Gestalt erkannt ist.^^ In Hegels Entwurf einer „Volksreligion" findet sich dieses historische Emanzipationsmodell in etwa wieder. Auch er kennt — so scheint es jedenfalls zunächst — eine wahre Religion der Vernunft als Zweck der Religionsgeschichte, und eine Volksreligion als bloßes Mittel zu diesem Zweck. Hegel spricht aber nicht nur von „Volksreligion" und „Vernunftreligion", sondern verwendet auch die wahrscheinlich von Semler übernommenen religionssoziologischen Opposita „öffentliche Religion" und „Privatreligion".In der Hegelforschung besteht nicht zuletzt deshalb nahezu einhellige Verwirrung über diese Begriffe, weil Hegel sich über das Verhältnis gerade von Privatreligion und Vernunftreligion ausschweigt. Man kommt Hegels Absicht aber am nächsten, wenn man „öffentliche" und „Privatreligion" als Gattungsbegriffe zu den Artbegriffen „Volksreligion" und „Vernunftreligion" auffaßt. Der Terminus Volksreligion spezifiziert dann nicht nur deutlich die soziale wie nationale Trägerschaft dieser Religion, er hat auch wie „Vernunftreligion" einen normativ-idealen Sinn.^' Privat- und Volksreligion haben nach Hegel verschiedene Aufgaben. Während die Volksreligion „Einflus" auf die „Bildung eines VolksGeistes" (GW 1.104 = N 21) nehmen soll und „nur im grossen auf den Geist des Volks zu wirken" (GW 1.106 = N 23) hat^^, ist der Zweck der Privatreligion die „Ausbildung des einzelnen seinem Charakter gemäs, die Belehrung über Collisionsfälle der Pflichten, die besondern Beföderungsmittel der Tugend" sowie „Trost und Aufrichtung in einzelen Leiden und Unglüksfällen" (GW 1.102 = N 19). Ihre Aufgabe ist die „PrivatBildung" (GW 1.77 = N 356), das Ziel jener die „Volksbildung" (GW 1.106 = N 23). Zur Volksreligion zählt Hegel die „Begriffe von Gott und Unsterblichkeit, und was darunter Beziehung hat sofern sie die Überzeugung eines Volks aus-

** Ebd. 106 f u. ö., 84. Ebd. 121. Diese Begriffe waren damals geläufig. Auch Kant spricht von einem „öffentlichen Religionsglauben" {Die Religion. AA 6. 153; auch 152, 151). Furck: Der Bildungsbegriff des jungen Hegel. 9—13, zeigt die problemgeschichtliche Herkunft dieser Begriffe auf. So kann Hegel später in Bern etwa von der christlichen Religion behaupten, daß sie „öffentliche Religion geworden ist", ohne „Volksreligion" zu sein (GW 1.140, 294, 346 = N 49, 163, 208). Vgl. GW 1.76 = N 355.

C. Hegels Programm einer Volksreligion

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machen, sofern sie Einfluß auf die Handlungen und Denkart desselben haben", aber auch die „Mittel, wodurch diese Ideen dem Volke theils gelehrt, theils eindringlich fürs Herz gemacht werden" (GW 1.86 = N 5). Auffällig ist, daß die Doppelbedeutung des Volksbegriffs als vulgus und natio^^, die sich in diesem Zitat ausspricht, von Hegel nicht eigens herausgestellt wird. Er hat zwar zunächst den „Pöbel" (GW 1.107 = N 24), den „grossen Haufen" (GW 1.105 = N 22) vor Augen, doch zeigt schon die enge Verbindung mit dem „Volksgeist", daß es ihm nicht allein um „das Volk" (GW 1.100 = N 17), sondern auch um „ein Volk" (GW 1.104 = N 21) und dessen Religion zu tun ist. Diese Ambivalenz affiziert jedoch nicht die Bedeutung der Privatreligion. Privatreligion stellt eine Elitereligion für die wenigen Privilegierten von ethischer wie dianoetischer Tugend dar^^, nicht auch — wie es die Symmetrie erforderte — eine zusätzliche individuelle Ausbildung der einzelnen des Volkes. Ein Schlüssel zum Verständnis der Dichotomie findet sich, wenn man Hegels Fixierung auf das griechische Ideal bedenkt. In Stuttgart hatte er das Aufklärungsgefälle zwischen dem „Pöbel aller Völker" mit seiner „Volksreligion" und den „Weisen Griechenlands" konstatiert (GW 1.44 = Dok 46 f). In Tübingen (und den ersten Berner Jahren) spricht er von Privatreligion im Blick auf Sokrates und Jesus, von Volksreligion im Hinsehen auf die griechische Polisreligion. Die Orientierung am griechischen Genius erklärt auch, warum „Privatreligion" und „Volksreligion" sowohl (der Intention nach) deskriptive als auch normative Begriffe sind. Die Volksreligion wird in Tübingen zum zentralen Thema, weil Hegel primär an der Wiedergewinnung einer politisch religiösen Öffentlichkeit unter den Bedingungen der Moderne interessiert ist — einer Öffentlichkeit, die die Aufklärung wegen ihrer Begrenztheit auf eine intellektuelle Oberschicht nicht herzustellen vermag. Damit ist zu der empfindungsveredelnden und sittlichkeitsfördernden Wirkung der Religion eine weitere hinzugekommen: die gemeingeistbildende oder politische. Privat- und Volksreligion müssen sich ihren Bildungsauftrag allerdings mit anderen Faktoren teilen. „Die Moralität einzeler Menschen zu bilden ist Sache einer PrivatReligion, der Eltern, eigener Anstrengung und der Umstände." (GW 1.111 = N 27) Diese Aufgabenteilung bei der Privatbildung hat ihre Entsprechung auf seiten der Volksbildung. Das enge Zusammenspiel von Vater Chronos, Mutter Politeia und der Säugamme Reli-

Vgl. hierzu Rebstock: Hegels Auffassung des Mythos. 51, 54. Vgl. GW 1.77, 96, 104 = N356, 14, 21.

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I. Dissoziierte Kräfte

gion bei der Büdung des griechischen Volksgeistes wird von Hegel verallgemeinernd übertragen auf jeden wahren Volksgeist. „Geist des Volks, [d. h.] Geschichte, Religion, Grad der politischen Freiheit desselben — lassen sich weder nach ihrem Einflüsse aufeinander noch nach ihrer Beschaffenheit abgesondert betrachten — sie sind in ein Band zusammenverflochten". Unter Vernachlässigung des ersten Faktors, der geschichtlichen Umstände, kommt also teils der Volksreligion, teils den „politischen Verhältnisse[n]" die Aufgabe zu, den „Geist des Volks zu bilden" (ebd.). In Tübingen bleibt zwar noch unbestimmt, wie sich Religion und Politik die Bildungsarbeit konkret aufteilen sollen. Doch geht aus den Äußerungen hervor, daß die Religion des Volkes die Funktion haben muß, die Einheit der Nation zu kräftigen und den Bürger zu aktiver Teilnahme am politischen Leben zu motivieren. Sie hat also auch in dieser Hinsicht eine belebende Funktion.^Vie die Schilderung des griechischen Geistes erkennen ließ, ist Religion für Hegel keine bloße Privatangelegenheit, sondern „wesentlich ein soziales Phänomen"^*, eine „geistige Energiequelle", die „das ganze soziale Leben von innen her durchdringt"77 und die Individuen untereinander verbindet. Daß subjektive Religion sich in „Empfindungen" und „Handlungen" (GW 1.87 = N 6) äußert, daß sie überhaupt zur „Wirkung" gelangt, ist immer auch so zu verstehen, daß sie die Privatsphäre transzendiert. Fichte hat in seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung bemerkt; „Theologie ist bloße Wissenschaft, todte Kenntniss ohne praktischen Einfluss; Religion aber soll der Wortbedeutung nach (religio) etwas seyn, das uns verbindet, und zwar stärker verbindet, als wir es ohne dasselbe waren. "78 Hegel als Leser Fichtes interpretiert diese moralische Verbindlichkeit auch politisch. Die griechische Religiosität hatte für ihn im Gegensatz zur christlichen einen vorbildlichen „Gemeingeist" gestiftet, der „für ein Ganzes zu handeln" wußte (GW 1.77 = N 356). Sie hatte den Einzelnen mit der „gesunden Milch reiner Empfindungen" getränkt, die „grobe Sinnlichkeit" verfeinert, die ,,gutartige[n] Neigungen" gefördert (GW 1.170 f = N 18), und dafür gesorgt, daß diese Empfindungen „in der Seele angebaut" werden konnten (GW 1.88 = N 7). Wenn die Volksreligion, auf die sich Hegels Interesse richtet, also nach dem griechischen Muster „An-

Cornehl: Die Zukunft der Versöhnung, 97, spricht von einer „Mobilisierung der gesellschaftlichen Antriebskräfte des Menschen". Haering: Hegel. Bd 1. 67; ähnlich TI. ^ Aspelin: Hegels Tübinger Fragment. 55. ^ Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung. SW 5. 43.

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theil an der Bildung eines VolksGeistes haben" soll, so gilt dies im doppelten Sinne des Bildungsbegriffs: sie muß zunächst überhaupt erst einen gemeinsamen „Volksgeist" ausbilden, bevor sie ihrer weiteren Aufgabe nachkommen kann, nämlich der „Erhebung" und „Veredlung des Geists einer Nation" (GW 1.86 = N 5).^^ Für Hegel ist das Volk so selbstverständlich die fundamentale geschichtliche Lebenseinheit, daß ihm der Kosmopolitismus, später auch der Privatismus, als Verschiebungen des natürlichen Handlungshorizontes, als Indizien des Verlustes der organischen Einheit von Individuum und Gemeinschaft, gelten. „Cato umfaste ganz sein Vaterland und das Vaterland erfüllte seine ganze Seele - Cosmopolitismus nur für einzele, der Staat mus Fehler haben wo er aufkommt, so die Christen der ersten Zeit." (GW 1.76 = N 356) An der Herausbildung eines deutschen Volksgeistes aber ist Hegel so stark interessiert, weil er schon als Gymnasiast die Zerrissenheit der nationalen Kultur beklagen mußte. Da die „berühmten Thaten unserer alten, auch neueren, Deutschen" weder „mit unserer Verfassung verflochten" noch in mündlicher Tradition lebendig seien, lernten allein die „polizierteren Stände" sie „aus den Geschichtsbüchern zum Theil fremder Nationen kennen".®’ Das „gemeine Volk" dagegen lebe in abenteuerlichen „Märchen", die „weder mit unserm Religionssystem, noch mit der wahren Geschichte Zusammenhängen" (GW 1.46 = Dok 48 f). Dieser Mangel eines gemeinsamen, die Nation vereinenden Geistes, bedingt durch das Fehlen der nationalen Vergangenheit in einer öffentlichen Mythologie und die Loslösung ganzer Volksgruppen vom „System" der religiösen Phantasie, zeigt sich für Hegel besonders deutlich an der Rezeptionsgeschichte von Klopstocks „Messias".®’ Er hätte „allgemein verstanden und gelesen" werden können, wenn „unsere öffentlichen Verhältnisse Griechisch", d. h. die „Begriffe und die Cultur der Stände" nicht so entgegengesetzt wären (GW 1.46 = Dok 49). Auch in Tübin-

^ Der aus der historischen Linie von Montesquieu, Rousseau und Herder stammende Terminus „Volksgeist" ist beim frühen Hegel noch kein deutlich bestimmter Begriff. Haering ist daher zuzustimmen, wenn er Spekulationen über das „Wesen des Volksgeistes", seine „Struktur und Rolle" beim Tübinger Hegel als müßig verwirft (Hegel. Bd 1. 94). Während Charakterisierungen wie etwa „lebendige Totalität" (Rosenziveig: Hegel und der Staat. Bd 1. 24) weiüg erhellend sind, trifft Lukäcs mit seiner Bestimmung des Volksgeistes als „kollektives Subjekt" (Der junge Hegel. Bd 1. 41, 57 u. ö.) immerhin die von Hegel intendierte Einheit von Individualität und Sozialität, von freier Selbständigkeit und politischer Gemeinschaft. Hegel denkt hier wahrscheinlich an Tacitus. Über das damalige Zeitbedürfnis nach einer neuen Nationalmythologie, das u. a. mit den Namen Klopstock und Herder verknüpft ist, vgl. Strich: Die Mythologie in der deutschen Literatur. Bd 1. 1-182.

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gen konstatiert Hegel den Mangel der Deutschen an einer „vaterländische [n] Tradition", an einer nationalpolitischen Mythologie. Es gebe keine glorreichen Helden, die - wie die Tyrannenmörder Harmodius und Aristogiton bei den Griechen - „in dem Munde unsers Volkes, in seinen Gesängen lebten". Stattdessen seien „Gedächtnis" und „Phantasie" des Volkes „mit der Urgeschichte der Menschheit — mit der Geschichte eines fremden Volkes - den Thaten und Unthaten ihrer Könige angefüllt, die uns nichts angehen" (GW 1.80 = N 359). Mit dieser nichtassimilierbaren Vorstellungswelt meint Hegel offensichtlich die Bildwelt der Bibel.®^ Er bringt nun auch die Tatsache, daß Klopstocks epische „Gemählde" nicht „zum gemeinen Volk herabgestiegen" sind, mit der Obdachlosigkeit der Volksphantasie im System der orthodoxen Theologie in Zusammenhang. Zwar gewähre die christliche Religion der Phantasie prinzipiell einen „weiten Spielraum"®^, doch seien die erhabenen Motive, die Klopstock aus ihr schöpfte, „nicht öffentlich anerkannt, durch nichts sanktionirt" (GW 1.79 = N 358). Die Kluft zwischen der kultivierten, aber phantasiefernen Oberschicht und der vulgären Phantasie der Menge lasse keine gemeinsame, gleichartige „Empfänglichkeit" für solche Dichtung zu. So habe „die Einbildungskraft des Volks . . . keine Leitung, keine schöne[n] Darstellungen der Bilder vor sich weder durch die Mahlerei noch Bildhauerkunst — noch Poesie hingestellt, — denen sie folgen, an die sie sich hängen könnte, welches auch einer Religion, die Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten lehrt, und ihrem ältern Ursprung nach allen Bildern von göttlichen Wesen den Krieg ankündigte, unschiklich gehalten werden würde" (GW 1.79 = N 358). Dieses Zitat ist nicht nur ein Beleg dafür, wie sehr Hegel das sinnlichkeitsferne protestantische Lehrgebäude der Orthodoxie seiner Zeit zu einem jüdisch determinierten bilderfeindlichen Wesen der christlichen Religion verallgemeinert, nicht nur ein Indiz für die zumindest partielle Identität von Christentum und Vernunftreligion. Auch muß hier die Ausschließlichkeit, mit der die Bildlichkeit gegen den Geist und die Wahrheit der Religion ausgespielt wird, von vornherein das Konzept einer Volksreligion als Übergangsform zur reinen Vernunftreligion in Frage stellen.®^ Für wie zerrissen muß man Hegels anfängliches Wollen halten, wenn er einerseits bedauert, daß „wir überhaupt zu sehr

Vgl. GW 1.126 = N 39 und expressis verbis GW 1.140 = N 49. 83 Vgl. GW 1.107 = N 24. 8^ Absurd wäre Hegels Ansatz allerdings, wenn man bei ihm sogar eine „Ablehnung der Anbetung Gottes ,im Geist und in der Wahrheit'" finden könnte. So Dinkel: Die Aufliebung des subjektiven Idealismus. 93.

C, Hegels Programm einer Volksreligion

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Vernunft- und Wortmänner sind, um schöne Bilder zu lieben" (GW 1.107 = N 24), andererseits aber die bildlose Vernunftreligion, die er gegen die bildbedürftige Volksreligion abgrenzt, als das geschichtliche Nonplusultra versteht? Wenn also neben der empfindungsveredelnden und sittlichkeitsfördernden Wirkung der Religion auch ihre politische, gemeingeiststiftende Funktion ein Motiv für Hegels Interesse an einer zukünftigen nationalen Volksreligion ist; wenn sich Hegel von einer kollektiven Religion des Volkes die Vereinigung der kulturell entzweiten deutschen Nation verspricht — so steht eine solche pragmatische, ja instrumentalistische Religionstheorie in beispiellosem Kontrast zu der einfühlsamen, geradezu sentimentalischen Art, mit der Hegel den verfliegenden religiösen Geist der Völker betrachtet und die einfältige Frömmigkeit gegen die Angriffe des Verstandes verteidigt. Andererseits ist es aber gerade diese Distanz des elegischen Bewußtseins, die die religiösen Sinngebilde zu objektivieren und ihre im weitesten Sinne politische Zweckmäßigkeit zu untersuchen ermöglicht. Eine solche außenperspektivische Analyse des politischen Nutzens der Religion war im 18. Jahrhundert nichts Außergewöhnliches. Im berühmten 8. Kapitel des 4. Buches von Rousseaus Du contrat social konnte Hegel die allgemeine Debatte um den gesellschaftlichen Wert des Christentums konzentriert wiederfinden. Rousseau versucht hier sowohl Bayles These von der Untauglichkeit jeglicher Religion für den Staat als auch Warburtons Überzeugung zu entkräften, daß das Christentum die stärkste Stütze des Staates sei. Gerade die christliche Religion nämlich bilde als Mischform einer apolitischen „religion de l'homme" und einer die politische Einheit sogar aufreibenden „religion du pretre" eine historische Ausnahme im allgemeinen Reigen der staatstragenden Religionen: „je ne connois rien de plus contraire ä l'esprit social".*5 Von den zahlreichen Thesen, in denen Hegel mit Rousseau übereinstimmt, seien hier nur die wichtigsten genannt. Als eine am Evangelium ausgerichtete allgemeine Menschheitsreligion habe das Christentum nicht nur keine Verbindung mit dem „corps politique"; sie füge den bürgerlichen Gesetzen nicht nur keine weitere „force" hinzu, sondern „loin d'attacher les coeurs des citoyens ä TEtat, eile les en detache comme de toutes les choses de la terre". So heilig, wahr und erhaben diese Religion auch sei, so wenig könne doch eine „societe de vrais chretiens" überhaupt noch eine „societe d'hommes" sein.®® Vielmehr sei Rousseau: Du contrat social. 332. «1]" (Röm. 4,15) nur unendlich fortpflanzen kann. Nie mehr soll Religion mit der „Gewalt" verwechselt werden, „den Menschen zwingen" zu „wollen, Mensch zu seyn" (GW 1.351 = N 212). Nach dem ethisch-politischen Anspruch des Hegelschen Denkens aber ist diese Welt nicht so, wie sie sein soll. Sie „liegt im Argen [ev xö) JIOVTIQö) xEÜxai]" (1. Joh. 5,19), weil der Geist freier Beziehungen unter den Menschen entflohen ist. Diesem theoretischen Dilemma, einerseits nicht dem Sollen die Würde eines philosophischen Prinzips zu verleihen, andererseits aber auch die Diskrepanz von „ist" und „soll" nicht einzutrüben (was seinerseits nur ideologisch sein könnte), kann Hegel nur zu entgehen versuchen durch eine spekulative Hermeneutik, die den mystischen, idealen Sinn der Geschichte transparent macht, indem sie die Wirklichkeit aus ihm heraus versteht und auslegt. Eine solche Interpretation der Wirklichkeit hätte sich dann frei gemacht von jenem „bestialischen Anstieren der Welt", d. h. vom „ewigen stieren Wahrnehmen" der anderen Menschen als fixer „Objecte" und „Thatsachen"232, wenn es ihr gelänge, die Wirklichkeit nicht mehr als eine schlechthin gegebene, sondern als eine in jedem Augenblick

Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie. GW 4. 202.

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aus Freiheit sich umgestaltende zu verstehen. Außerhalb dieses Geschehens gäbe es kein Transzendentes mehr, weil es selbst nur dieses ständige Sichselbsttranszendieren und Sichselbstaufheben wäre. Die absolute Immanenz ist nur denkbar als Subjekt, als ein selbsttätiges „Sein", das immer unterwegs zu sich selbst ist - als ein Subjekt allerdings, das selbst wieder eine Gemeinschaft von Subjekten ist und darin seinen Sinn hat. Wie die Liebenden in ihrer Gemeinschaft „Ein lebendiges Ganzes" bilden, so müßte auch die Gemeinschaft der Lebendigen überhaupt als ein lebendiges Ganzes gedacht werden. Hegel wendet sich nun - nach seinem ersten Anlauf im Berner Leben Jesu — in Frankfurt erneut der Auslegung des Neuen Testamentes zu, offensichtlich deshalb, weil er inzwischen zu der Überzeugung gelangt ist, daß die politische Religion der Freiheit und Verbundenheit, die „gestiftet" werden soll, keine „neue" sein kann, sondern nur die recht verstandene, von möglichen Mißverständnissen und prinzipiellen Schwächen gereinigte „alte". Die im folgenden zu behandelnden Manuskripte müssen als Versuch einer fortschreitenden Beantwortung der umgreifenden Frage verstanden werden, „was in unseren Zeiten für christliche Religion gelten könnte" (N 145) .

C. Die Entwicklung des geistigen „Lebens" vom sphärisch begrenzten Begriff sittlicher Ganzheit zum universalen E i n h e i t s p r i n z i p Bevor Hegel in mehreren Ansätzen den Text niederschreibt, dem Nohl den treffenden Titel Der Geist des Christentums und sein Schicksal gegeben hat, verfaßt er neben den von uns schon vorgezogenen späten Entwürfen zum Geist des Judentums zwei kleinere politische Schriften sowie einen Kommentar zu Kants Metaphysik der Sitten. Hegels erste Veröffentlichung überhaupt, die zur Ostermesse 1798 anonym in Frankfurt a. M. erschienenen Anmerkungen zu Jean Jacques Carts Vertraulichen Briefen über das vormalige staatsrechtliche Verhältnis des Wadtlandes zur Stadt Bern^^, ist vermutlich noch 1797, vielleicht aber auch schon während des Schweizer Aufenthaltes konzipiert worden. Dort nämlich hatte Hegel bereits detaillierte Studien zur Finanzverfassung

Text Schüler Nr 74. Neuausgabe: Hegels erste Druckschrift. Faksimiledruck der Ausgabe von 1798 mit einem Nachwort von Wolfgang Wieland. Göttingen 1970.

C. Entwicklung des geistigen „Lebens'

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Berns ausgearbeitet.^ Mit seiner „Aufdeckung der ehemaligen Oligarchie des Standes Bern" will er nun dem deutschen Publikum exemplarisch vor Augen führen, „wie die Freiheit, die ursprünglich da war, verloren ging, weil der Gemeingeist verloren ging, wie aber dann die Stunde der Entscheidung gekommen war, ob diese Freiheit weiterhin verloren sein oder zurückgewonnen werden sollte".Nach Hegel „schreien" die volksverachtenden „Begebenheiten" unter der Berner Patrizierherrschaft „laut über die Erde: Discite iusticiam moniti, die Tauben aber wird ihr Schicksal schwer ergreifen" (Dok 248). Was Hegel mit diesem Vergilischen ^ Kassandraruf an die Machthabenden sagen will, erläutert die zweite politische Schrift. Dieses 1798 als Flugschrift verfaßte und dann zurückgezogene Werk^^^ mit der ursprünglichen Widmung „An das Württembergische Volk" ist eine einzige Erläuterung der politischen Notwendigkeit, daß die württembergischen „Magistrate von den Bürgern gewählt werden müssen". Daß dieses Postulat aus einem politischen Theorem gewonnen wird, dessen zentrale Kategorie das „Bedürfnis" ist, wird von grundlegender Bedeutung für den Frankfurter Hegel. Ihm gilt es für eine Wahrheit, die nur politische Fledermäuse nicht wahrnehmen wollen, daß „Einrichtungen, Verfassungen, Gesetze, die mit den Sitten, den Bedürfnissen, der Meinung der Menschen nicht mehr zusammenstimmen, aus denen der Geist entflohen ist", nicht „länger bestehen" können; daß Formen, an denen Verstand und Empfindung kein Interesse mehr nimmt, nicht „mächtig genug" sein können, „länger das Band eines Volkes auszumachen" (PR 151). Wie schon der erste Entwurf zum Geist des Judentums darlegte, gehört zur politischen „Befreiung" eines „Volkes" sowohl dessen Freiheit vom Autoritätsgehorsam als auch ein entwickeltes Kontrastideal, das den „Enthusiasmus" für die Veränderung entfacht. Ist erst — so wird Hegel später sagen - „das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus".^® Nur muß zuvor das Bedürfnis allgemein werden; dem „unbestimmten Willen" der Vielen etwa vorgehalten werden, daß „Teile der Verfassung . . . auf Ungerechtigkeit gegründet sind" (PR 150). ^ Vgl. Rosenkranz: Hegels Leben. 61. 235 Pöggeler: Hegels praktische Philosophie in Frankfurt. 79. Über die damalige Strukturgleichheit von wadtländischer und württembergischer Verfassung informiert Hocevar: Stände und Repräsentation beim jungen Hegel. 133-135. Vgl. auch Nusser: Hegels Dialektik und das Prinzip der Revolution. 121 — 131. ^ Vergil: Äneis. VI, 620: „Discite iustitiam moniti non temnere divos [!]". Text Schüler Nr 75. Vgl. hierzu die Mitteilungen bei Rosenkranz: Hegels Leben. 90 f. Hiernach muß die Schrift vor dem 7. August 1798 entstanden sein. ^ Hegel an Niethammer, 28. Oktober 1808. Briefe. Bd 1. 253.

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III. Wiederbelebung der Zeit

Hegels Beurteilung des Zeitgeistes ist allerdings von einem eigentümlichen Schwanken gekennzeichnet. Einerseits nimmt er wahr, daß „die ruhige Genügsamkeit an dem Wirklichen, die Hoffnungslosigkeit, die geduldige Ergebung in ein zu großes, allgewaltiges Schicksal ... in Hoffnung, in Erwartung, in Mut zu etwas anderem übergegangen" ist. „Das Bild besserer, gerechterer Zeiten ist lebhaft in die Seelen der Menschen gekommen, und eine Sehnsucht, ein Seufzen nach einem reinem, freiem Zustande hat alle Gemüter bewegt und mit der Wirklichkeit entzweit." Eine „Aufschiebung" der Befriedigung könne die „Sehnsucht nur läutern", die sich aber „desto tiefer in die Herzen einfressen" werde. Inzwischen sei das „Gefühl, daß das Staatsgebäude, so wie es itzt noch besteht, unhaltbar ist", ganz „allgemein und tief" geworden (PR 150 f). Andererseits aber schlägt Hegels „Ruf nach durchgreifenden Reformen" gegen Ende der Schrift in „Resignation" und „Unschlüssigkeit" um.^® Der blutige Besen der Zauberlehrlinge zu Paris hat ihn so verunsichert, daß er am Ende sogar allgemeine Volkswahlen für riskant hält. Diese politische Irritation ist aber philosophisch begründet in Hegels gewandeltem Verständnis vom Wesen der Moralität. Nach dem Bericht von Rosenkranz hat Hegel Kants 1797 erschienene Metaphysik der Sitten vom 10. August 1798 an „einem strengen Studium" unterworfen und schriftlich kommentiert, wobei er „nichts unbegriffen, nichts unerörtert lassen" wollte.^^^ „Nachdem er in seinem Auszug von den Einleitungen zum Besondern fortgegangen war, stellte er im Einzelnen ganz einfach den Kantischen Begriffen die seinigen gegenüber." Daß Rosenkranz aus Hegels „Kritik der Tugendlehre", von der ihm selbst allerdings „nur Weniges" noch vorlag, gar nichts zitiert, aus dem Kommentar zur Rechtslehre aber lediglich einige Sätze wiedergegeben hat, muß an heutigen Ansprüchen gemessen beinahe unverzeihlich erscheinen — denn beide Teile sind verschollen.Vor allem die terminologische Gegenüberstellung einer Kantischen und einer Hegelschen Tugendlehre hätte uns nämlich über Hegels Gedankenfortschritt manche Hinweise erbringen und zudem ein Licht auf die zeitlich benachbarten Texte werfen können. Rosenkranz zufolge hat in diesen Kant-Kommentaren der Begriff „Leben" bereits eine durchgängige spezifische Bedeutung erhalten. Hegel

So bereits Haym: Hegel und seine Zeit. 67. Eine „überraschende Mäßigung" des politischen Anspruchs stellt auch fest Lukäcs: Der junge Hegel. Bd 1. 217. Vgl. hierzu Nusser: Hegels Dialektik und das Prinzip der Revolution. 132—138. Rosenkranz: Hegels Leben. 87. 2^' Vgl. Nohls Bemerkung N VI.

C. Entwicklung des geistigen „Lebens'

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habe hier versucht, „die Legalität des positiven Rechts und die Moralität der sich selbst als gut oder böse [!] wissenden Innerlichkeit in einem höheren Begriffe zu vereinigen, den er . . . häufig schlechthin Leben, später" — gemeint ist wohl die Jenaer Zeit — „Sittlichkeit" genannt habe.^'*^ Bevor im folgenden Hegels Auseinandersetzung mit Kants reifer Ethik und die mit ihr beginnende Entwicklung des Lebensbegriffs zum universalen Einheitsbegriff des Frankfurter Proto-Systems untersucht werden soll, muß noch eimmal ganz kurz die bisherige Bedeutung der Rede von „Lebendigkeit" und „Leben" rekapituliert werden. In Tübingen und Bern hat Hegel mit „Lebendigkeit" die freie moralische Selbsttätigkeit, die vernünftige Spontaneität bezeichnet, die ihrem Wesen nach von keiner Autorität, von keiner „Lehre" gefordert werden kann, sondern allein - der Sollizitation einer Kraft vergleichbar243 - durch einen religiösen (Gemein-)Geist, durch ein umfassendes, handlungsmotivierendes Selbstverständnis belebt werden kann. Bereits im vermutlich ersten Frankfurter Text, wo Hegel auf die spätjüdische Sektenfrömmigkeit zu sprechen kommt, erhält die Rede vom „Leben" eine emphatische Prägnanz. Während zunächst die ideologischen Kämpfe der „Meinungen und Parteien" ganz untypisch das nur „innere Leben" genannt werden (eine bloß theoretische Aktivität, die nicht in die politische Tat übergeht, sich nicht entäußert; vergleichbar Abrahams Reflexion auf sich, die nicht zur „Reflexion in sich" wurde, N 370), heißt es dann von dieser fanatischen Fixierung des richtigen Bewußtseins in toten „Zeichen": daß „vermittelst dieser" Zeichen „zum Lebendigen zu gelangen" in den meisten Fällen mißlingen müsse; gerade „dieses Tote empört" vielmehr „am meisten, weil es unmittelbar auf Leben hinweist und doch das Gegenteil davon ist" (N 371). Diesen Zeilen, mit denen Hegel erneut seine ursprünglichste Verachtung der „toten Zeichen" einer räsonierenden Verstandeskultur zum Ausdruck bringt, deren zur „Ware des Sophisten" gewordener „hohler Wörterkram" (Eleusis) sich längst von der handlungsproduktiven Gesinnung abgelöst hat und zum „Fetisch" eines tintenHecksenden Aufklärungs-Säkulums geworden ist - diesen Zeilen folgt eine Charakterisierung der jüdischen Spätzeit, die man gerade des-

Rosenkranz: Hegels Leben. 87. 243 Das Angestoßenwerden der Kraft „ist nicht die Passivität des Bestimmtwerdens, so daß dadurch etwas anderes in sie käme; sondern der Anstoß sollicitirt sie nur. .. Ihr Thun besteht . . . darin, diß aufzuheben, daß jener Anstoß ein äusserliches sey; sie macht es zu einem bloßen Anstoß und setzt es als das eigne Abstossen ihrer selbst von sich, als ihre eigne Aeusserung". Wissenschaft der Logik. GW 11. 362.

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III. Wiederbelebung der Zeit

halb zum Motto für Hegels und Hölderlins geistige Zusammenarbeit in Frankfurt machen könnte, weil sie eine bewußte Charakterisierung ihrer eigenen Zeit darstellt. „In einer solchen Periode, wo dem nach innern Leben Durstigen ..., wo ... dem etwas Besseres Suchenden, in dem er leben könnte, kaltes privilegiertes Totes geboten, und ihm dabei gesagt wurde, dies ist Leben; in einer solchen Periode hatten die Essener, hatte ein Johannes, ein Jesus in sich selbst Leben geschaffen, und stunden im Kampf gegen das ewig Tote^'*^ auf" (N 371). Dieses Bessere, in dem man leben und nicht bloß vegetieren könnte, war für Hegel und Hölderlin die ersehnte neue politische Gemeinschaft. Das kalte Tote, was ihnen für das Leben aufgeschwatzt wurde, war das in seinen Dogmatik-Kompendien verknöcherte Kirchenchristentum ihrer Zeit und ihres Landes — ebenso wie das vom Klappern der Guillotine bebeifallte Tugendgeklapper eines Robespierre.245 Ihre Form des Aufstandes gegen das Tote und Tötende aber war die Arbeit an einem neuen Selbstverständnis freier und miteinander verbundener Menschen. In sich selbst Leben zu schaffen wie einst Jesus, sollte für Hegel bedeuten, diesen Begriff — die johanneische — als den „Heilsbegriff" zu entdecken. In keinen anderen Begriff ist von seiten der Hegel-Literatur so viel hineingeheimnist worden. Als untrüglicher Indikator für alle Mystifikationen der Forschung, auf die hier im einzelnen nicht eingegangen werden kann, läßt sich festhalten, daß ein Subjekt hypostasiert wird, das in keiner Verbindung mit dem Menschen steht. Wo z. B. von einer „Epiphanie der unentziehbaren Macht des Lebens" die Rede ist, in dessen ,,hoheitliche[n] Zusammenhang" Hegel schließlich den Weg einer„ästhetischen Einschwingung" finde^^^, darf man sicher sein, daß hier der Herren eigener Geist erscheint, nicht der Hegels. Auch ist es ein Anzeichen dafür, daß Begriffe fehlen, wenn sich für Hegels „Leben" ein Wort einstellt wie „allgemeines Seinsgeschehen".248

Hegel rekonstruiert seine „Frankfurter Zentralkategorie" des „Lebens"249 systematisch aus dem Neuen Testament. In ihm findet er zunächst, was Kant unzureichend das „Handeln aus Pflicht" genannt hatte. Vgl. Eleusis: „Doch unter Moder und entseeltem auch gefielen sich die ewigtodten!" (GW 1.401 = Dok 382). Vgl. Hegels Äußerung über die „ganze Schändlichkeit der Robespierroten" in seinem Brief an Schelling, Heiligabend 1794. Briefe.Bd 1. 12. 2« Nipperdey: Positivität und Christentum. 17. de Guerenu: Das Gottesbild des jungen Hegel. 71, 70, 84. Hartkopf: Der Durchbruch zur Dialektik in Hegels Denken. 48- 223 ständig. Lukdcs: Der junge Hegel. Bd 1. 267.

C. Entwicklung des geistigen „Lebens'

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charakterisiert als „aus dem Geist leben" (Gal. 5,25), als „nach dem Geist leben" (Röm. 8,4), als „im Licht leben" (1. Joh. 1, 7), als „in der Wahrheit leben" (1. Joh. 2,4) und als „in der Liebe leben" (1. Joh. 2,6). Die Ausweitung dieses ethischen Begriffs zum religiösen „ewigen Leben" des Geistes in der Wirklichkeit, zum Begriff der in sich differenzierten und organisierten Totalität des Hen Kai Pan vollzieht sich zwischen Herbst 1798 und 1800, dokumentiert in einem Textmaterial, dessen Charakter zwischen einem großen und unübersichtlichen Notizenzettel und einer wohldurchdachten Abhandlung schwankt. Dieses Konvolut über den Geist des Christentums ist zu Recht der „genialste Teil der gesamten Jugendschriften" und das „eigentliche Hauptwerk" der Frankfurter „Lebensepoche"^^ genannt worden. Wie fast alle Entwürfe aus dieser Zeit enthalten auch die Blätter zum Geist des Christentums Aufzeichnungen aus verschiedenen Jahren, die Nohl wiederum zu einem Text (N 261—342)^^ komponiert hat.^53 Wer einen Blick in diese unübersichtliche Manuskriptmasse geworfen hat, wird Nohls Pionierarbeit kongenial nennen müssen. Er (bzw. sein Mitarbeiter) hat die Zusammengehörigkeit entlegenster Bemerkungen erkannt; Worte entziffert, wo der Laie oft nur Striche sieht; und m. E. nur wenige Lesefehler begangen. Ebensowenig läßt sich aber verkennen, daß (wie schon beim Fragment über Die Liebe) seine Verschmelzung mehrerer Textstufen Hegels Gedankenentwicklung erheblich entstellt, manchmal sogar zu ungereimten Satzverbindungen führt.

^ Schäfer: Das Wesen der religiösen Sozietät in Hegels theologischen Jugendarbeiten. 37. 251 Haering: Hegel. Bd 1. 307. 252 Entgegen der Nohlschen Titulatur sollen hier die Hauptmanuskripte zum Geist des Judentums (N 243- 245; 245—260) nicht als Bestandteile zum Geist des Christentums gezählt werden. Diese Trennung nimmt ebenfalls vor Hamacher: Der Geist des Christentums. 420. 253 Schüler: Zur Chronologie von Hegels Jugendschriften. 149, geht davon aus, daß „zwei Fassungen vorliegen, die sich deutlich voneinander abheben lassen und mit Sicherheit in einem gewissen Zeitabstand entstanden sind. Wie es seine Gepflogenheit ist, hat Hegel für die erste Niederschrift jeweils nur die linke Hälfte der Seite benutzt. Bei der Überarbeitung schreibt er teils zwischen die Zeilen, teils auf der freien Seitenhälfte, oftmals in einem Zuge über mehrere Seiten hinweg; reicht der Platz nicht aus, so fügt er neue Blätter und Bogen ein; diese Einschübe wachsen gelegentlich zu mehrfachen Lagen an. In der Neufassung bleiben manche Partien des ersten Textes unverändert erhalten, andere werden in Einzelheiten korrigiert und umgeformt, wieder andere ganz gestrichen und durch neue, z. T. viel längere Ausführungen ersetzt. Der Text der zweiten Fassung besteht demnach aus zahlreichen Einzelstücken, die im Manuskript oft weit auseinanderliegen. Den Zusammenhang stellt Hegel durch Verweisungszeichen her, die manchmal schwer aufzufinden, im ganzen aber sehr exakt gehandhabt sind." 254 Es ist das Verdienst von Jamme: Ein ungelehrtes Buch, erstmals auf die Veränderung der Hegelschen Termini, vor allem „Leben" und „Sein" (278 f), durch die verschiedenen Textstufen hindurch hingewiesen zu haben. Seine Deutung dieser Veränderung wird allerdings

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III. Wiederbelebung der Zeit

Solange eine Edition dieser Handschriften im 2, Band der HistorischKritischen Ausgabe der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften noch nicht vorliegt, wird eine Datierung der Textstufen wenig präzise sein können. Bis jetzt lassen sich mit Hilfe der Buchstaben-Analyse zwei Grundstufen rekonstruieren, deren erste nicht einmal ein Drittel des Gesamtumfangs beträgt. „Die Erstfassung ... ist kaum vor Herbst 1798 anzusetzen, während sie andererseits bis spätestens Februar 1799 ganz niedergeschrieben sein muß. Beginn und Abschluß der zweiten Fassung lassen sich nicht fixieren. Jedenfalls erfolgte aber die Überarbeitung nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der ersten Niederschrift, sondern einige Zeit später. Im übrigen kommt das ganze Jahr 1799, vielleicht auch noch der Anfang 1800 in Frage. Keinesfalls erleichtert wird die Datierungsfrage durch den Umstand, daß sich zwei Manuskripte aus der unmittelbaren Nachbarschaft zum Geist des Christentums erhalten haben. Das erste ist schon von Dilthey als „Grundfragment" verstanden worden, in dem Hegel sich „den Zusammenhang der Begriffe zum Bewußtsein bringt, der dann seiner Darstellung der Religiosität Jesu [im Geist des Christentums] ihre allgemeinste Grundlage gibt.''^^^ Auch Nohl glaubt hier das „Grundkonzept zum Geist des Christentums" vor sich zu haben^s^, und Gisela Schüler bestätigt dies durch ihre Datierung auf etwa Herbst 1798.Dagegen ist eingewandt worden, daß „vieles" - u. a. der vollentwickelte Lebensbegriff — dafür spreche, daß dieses Konzept später entstanden sein müsse. Tatsächlich läßt sich diese Kontroverse beheben durch die Beobachtung, daß auch bei diesem Text mindestens zwei Fassungen vorliegen. Der Lebensbegriff aber findet sich erst in den späteren Zusätzen. Der Schluß also liegt nahe, daß es ein Urkonzept zur ersten Fassung vom Geist des Christentums gibt, in das Hegel später für die beabsichtigte zweite Fassung neue darstellungsleitende Thesen eingefügt hat. Das zweite Manuskript, ebenfalls ein Konzept zur Moral und Religion des Neuen Testaments, ist mit Hilfe der Buchstabenstatistik auf ungefähr Herbst, Winter 1798/99 datiert worden^^ - welche Vermutung auch inhaltlich durch den Sachvernoch präzisiert werden müssen. Zu Recht stellt Jamme fest: „Alle bisherigen Untersuchungen [zum Frankfurter Hegel] kranken daran, daß nirgendwo eine säuberliche Scheidung zwischen erster und zweiter Fassung dieser Fragmenten-Gruppe versucht worden ist" (20). Schüler: Zur Chronologie von Hegels Jugendschriften. 153. Dilthei/: Die Jugendgeschichte Hegels. 76. “7 N 385-398. 758 Schüler: Zur Chronologie von Hegels Jugendschriften. 132, 151. 758 Jamme: Ein ungelehrtes Buch. 278. 780 N 398-402. Text Schüler Nr 81.

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halt gestützt wird, daß der Lebensbegriff zwar schon vorliegt, aber fast ausschließlich noch im Kontext des Moralitätsproblems steht. Wenn nun im folgenden ein erster Versuch unternommen wird, die Herausbildung gewissermaßen des Hegelschen Proto-Systems gedanklich nachzuvollziehen; und wenn diese Systempräfigurierung hier verstanden wird als der Prozeß einer Verallgemeinerung der lebendigen, weil gegensatzintegrierenden Ganzheit sittlichen Handelns zum Paradigma der AllEinheit - so darf dabei zwar die Differenz der verschiedenen Textstufen nicht unterschlagen, aber auch dem Leser keine Zerstreuung in Einzelheiten zugemutet werden. Daher sollen aus den Handschriften drei Themenbereiche isoliert werden, die auch in den beiden Versionen des Haupttextes in etwa zeitlich aufeinander folgen (falls die jetzige Anordnung der Manuskript-Masse diesen Rückschluß erlaubt). Diese Bereiche sind der Komplex zur Ethik und Kant-Kritik , die Ausführungen zu Freiheit und Schicksalsgerechtigkeit und schließlich Hegels Verständnis der „Gottheit", das zugleich eine Kritik des Christentums darstellt. Innerhalb dieser drei Abteilungen aber sollen die chronologischen Verhältnisse so gut wie möglich berücksichtigt werden.^^^

1. Das Gesetz und das Leben - Hegels Kritik an Kants Vermengung von ethischer Reflexion und sittlichem Selbstverständnis Vor der Erörterung der Kant-Kritik scheint es angebracht, sich die Gemeinsamkeiten von Kant und Hegel vor Augen zu führen. Erstens halten beide - was nicht selbstverständlich ist - die Unterscheidung von gut und böse für sinnvoll und machen Moralität zu einem Hauptgegenstand philosophischer Theorie. Zweitens erblicken beide in der sittlich gebundenen Freiheit die Würde des Menschen und damit den Ermöglichungsgrund seiner Glückseligkeit. Und drittens muß man sich selbst auf die Gefahr, trivial zu werden, ihre gemeinsame Überzeugung vergegenwärtigen, daß der Mensch nicht von Natur aus gut handelt, sondern daß es allererst einer Erhebung zur Moralität bedarf. Fragt man nun nach der Art ihrer Differenzen und nach der Triftigkeit von Hegels Kritik, so wird man für dessen Verständnislosigkeit gegen-

Terminologisch werden unterschieden eine Erstfassung vom „Geist des Christentums" (1. Fassung / Schüler Nr 83) und eine Zweitfassung (2. Fassung / Schüler Nr 89); ein Konzept und seine späteren Zusätze (Schüler Nr 80 = N 385—398); sowie ein Nebenkonzept (Schüler Nr 81 = N 398-402).

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Über dem Herzstück der Pflicht-Ethik Gründe erkennen. Er stößt sich nämlich an einer fundamentalen Schwäche vielleicht jeder transzendentalen Reflexion über das Wesen von Moralität, nicht etwa nur an einem mangelnden Problembewußtsein bei Kant. Im Anschluß an die Arbeiten von Henrich 2“ und Baumeister^^ läßt sich dieses Ungenügen zurückführen auf das vermutlich unüberbrückbare Auseinanderklaffen zwischen dem ganzheitlichen Selbstverständnis des sittlich Handelnden und der begrifflichen Zergliederung der Moralität durch eine vivisektorische Faktorenanalyse. Hatte Kant tatsächlich diese beiden Verständnisebenen nicht immer deutlich unterschieden und somit den Charakter der „sittlichen Einsicht" zu verzerren gedroht, so hängt die Beurteilung der sachlichen Angemessenheit der Hegelschen Einwände - mit denen schon die entscheidenden Argumente des späteren Naturrechts-Aufsatzes formuliert sind - ganz davon ab, wie weit man Kant zu unterstellen bereit ist, seine „Theorie über das sittliche Bewußtsein" auch für eine „Selbstauslegung des sittlichen Bewußtseins"^^^ gehalten zu haben. Hegel trifft Kant nur dort wirklich, wo dieser seine eigene Überzeugung von der unerklärlichen Einheit des vernünftigen Willens^^® zugunsten einer objektivistischen Deutung dieser Einheit vergessen zu haben scheint.

a) Desorganisation und legalistische Verkehrung der sittlichen Intention durch den Plagegeist der Reflexion Hegels Vorwürfe gegen Kant lassen sich auf zwei Punkte zurückführen. Er kritisiert die „Desorganisation" (N 388) und „Zerreißung" (N 269) der Gesinnungsganzheit infolge eines moralischen Positivismus und Objektivismus, aber auch die Verfälschung der sittlichen Intention in pharisäische „Heuchelei" (N 273) und „Gleichgültigkeit" (N 277) gegen das Wohl des Anderen - beides hervorgerufen durch die „Unreinheit" einer noch näher zu bestimmenden Reflexionsansicht. Während der erste Kritikpunkt in der ursprünglichen Textfassung bereits voll entwickelt ist, wird der Legalismus-Vorwurf erst in der zweiten Bearbeitungsstufe ausdrücklich formuliert.

Henrich: Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft; sowie: Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus. Baumeister: Hegels frühe Kritik an Kants Ethik. 2« Ebd. 92. 265 Ygi Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. AA 4. 458 f, 461.

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1. Eine Kritik an der Zerreißung der „lebendigen Gestalt" des Handelns durch die Moralphilosophie hat Hegel schon in Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde (1793) gefunden. Bei seinem Versuch, die unglückliche Entgegensetzung von Vernunft und Sinnlichkeit, Pflicht und Neigung zu überwinden, hatte Schiller grundsätzliche Bedenken gegen das „fremde und doch wieder so bekannte Moralgesetz" angemeldet. Mußte nicht „schon durch die imperatife Form" dieses Gesetzes „die Menschheit angeklagt und erniedriget werden"? Legte es nicht dem Handelnden nur „eine rühmlichere Art von Knechtschaft" auf, weil es den „Schein eines fremden und positiven [!] Gesetzes" abzulegen nicht fähig war? Und ließ sich schließlich dasjenige, „was wir für Beherrschung halten", nicht vielmehr als eine „Stumpfheit des Empfindungsvermögens" deuten?^^^ Diese Fragen mußten freilich rhetorisch bleiben, solange Schiller dem Dualismus von Pflicht und Neigung, der bei Kant im Unterschied zwischen Autonomie und Naturnotwendigkeit gegründet ist, keine Alternative entgegenzusetzen hatte. In seiner manchmal ungeschickten Art, sich in die Widersprüche seiner Gegner zu verstricken, hat Kant in seiner Religionsschrift auf Schillers Einwände entgegnet, daß zwar das echte „Temperament der Tugend" der frohe Mut sei, daß aber „die Majestät des Gesetzes (gleich dem auf Sinai)" keine Vermischung mit anmutiger Ungezwungenheit erlaube. Diese leichtfertige Analogisierung von Autonomie und Gesetzesgehorsam mußte für Hegel ebenso zum roten Tuch werden wie die unnötige Rede von einem „Gebieter", der „in uns selbst liegt".^^^ Solche mythologischen Verschlimmbesserungen waren nicht geeignet, die Konstrukte der Moralphilosophie plausibel zu machen, sondern verstärkten nur die Wachsamkeit von seiten des Menschenverstandes, der sich an dieser Stelle einmal nicht zu Unrecht für gesund hält. Schon im ersten Ansatz zur Kant-Kritik protestiert Hegel nun gegen die Zumutung, die freie Gebundenheit der ethischen Innerlichkeit als ein internalisiertes Herrschaftsverhältnis zu verstehen. Jesus habe bei seinem Unternehmen, sein Volk vom religiösen Gesetzes- und Autoritätsgehorsam zu befreien und dessen Gebote „subjektiv zu machen", keinesfalls den Weg eingeschlagen, es darüber zu belehren, daß der Mensch den „Herrn" nicht „außer sich", sondern „in sich" habe (N 265®; 1. Fassung). „Im Geiste der Gesetze handeln, konnte ihm nicht heißen, aus Achtung

^ Schiller: Über Anmut und Würde. Kant: Die Religion. AA 6. 23 f.

NA 20. 284 f.

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für die Pflicht mit Widerspruch der Neigungen handeln; denn beide Teile des Geistes (man kann bei diesem Zerrissensein des Gemüts nicht anders sprechen) befänden sich ja eben dadurch gar nicht im Geiste, sondern gegen den Geist der Gesetze." (N 266; 1. Fassung) Worauf dieser Vorwurf gegen die Zerteilung des Geistes im Selbstzwang der Kantischen Tugend genau zielt, macht eine andere Textstelle deutlich, an der Hegel die in der Bergpredigt gewürdigte Agape als eine „Synthese" versteht, „in der das Gesetz", von Kant zu Recht „als ein Gedachtes" auch „ein Objektives" genannt, „seine Allgemeinheit, und ebenso das Subjekt seine Besonderheit, - beide ihre Entgegensetzung verlieren"; wohingegen „in der Kantischen Tugend diese Entgegensetzung bleibt, und das eine zum Herrschenden, das andere zum Beherrschten wird" (N 268; 1. Fassung). Diese Beurteilung zeigt, daß Hegel zwar nicht an Kant vorbeiredet, aber eine andere theoretische Intention verfolgt. Kant war vornehmlich an dem Problem interessiert, mit Hilfe welcher gedanklicher Momente man sich das Phänomen begreiflich machen kann, daß bei dem lediglich um die eigene Existenz besorgten Menschen sich Vernunft zu Wort meldet. Die unbedingte Anerkennung der vernünftigen Allgemeinheit hatte er gedeutet als eine gehorsame Achtung des vernünftigen Willens, der sich selbst Gesetz ist. Und diese Achtung müsse man sich denken als eine simultan gegenläufige Einheit der Erhebung über die vom Lustempfinden getriebene selbstische Natur sowie deren Demütigung und Niederschlagung. Hegel dagegen hat von vorneherein kein theoretisches Interesse an einer begrifflichen Erhellung der Dunkelheiten des Autonomie-Problems. Ist Kant gleichsam am Sprung zur vernünftigen Willensbestimmung orientiert, so Hegel an der ruhigen Gesinnung. Er konstatiert bloß die Verunstaltung der vernünftigen Motivation durch die widrigen Disjunktionen der Kantschen Analyse. Er bemerkt nur, daß der Geist, der die Handlung ins Leben ruft, sich nicht ohne Verlust seines Charakters aus dem Gedanken eines Subordinationsverhältnisses Entgegengesetzter verstehen läßt. Der vernünftige Wille ist nicht Selbstbehauptung gegen ein ihm Fremdes, dem er immer unverbunden bleibt. Im Konzept und in der zweiten Fassung vom Geist des Christentums diagnostiziert Hegel dann von seiner Prämisse aus scharfsinnig die Schwäche von Kants Interpretation moralischer Autonomie. Mag auch die Behauptung, Moralität sei hiernach „die Unterjochung des Einzelnen unter das Allgemeine, der Sieg des Allgemeinen über sein ihm entgegengesetztes Einzelnes", bestimmte Äußerungen Kants polemisch verabsolutieren, so trifft doch die Feststellung ins Schwarze, daß Kant die von Jesus geforderte „Erhebung des Einzelnen zum Allgemeinen ... — Aufhebung der bei-

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den Entgegengesetzten durch Vereinigung" zu denken unfähig sei (N 387). Nach Hegel beruht das Konzept reiner praktischer Vernunft auf der „Verstandes-Einheit", durch welche „die Getrennten als Getrennte gelassen" werden. In der „Willenseinigkeit" dagegen sind die Getrennten, Pflicht und Neigung, vernünftige Allgemeinheit und sinnliche Besonderheit aufgehoben (N 387®). Dieser Punkt offenbart wieder Hegels entscheidende Voraussetzung, die durch Kants analytische Dekomposition der Willenseinheit methodisch isolierten Faktoren auch als sukzessive Gedankenmomente des sittlichen Bewußtseins zu verstehen. Dadurch gewinnt er ein waches Auge für die tatsächlichen Gefahren, die in Kants „vergegenständlichender Betrachtungsweise"^^® liegen. So spaltet die Rede von der Achtung vor dem Sittengesetz die Bewußtseinsganzheit des Menschen und rückt Vernunftgründe suggestiv in die Nähe positiver Befehle. „Kants praktische Vernunft ist das Vermögen der Allgemeinheit, d. h. das Vermögen auszuschließen; die Triebfeder Achtung; dies Ausgeschlossene in Furcht unterjocht — eine Desorganisation, das Ausschließen eines noch Vereinigten; das Ausgeschlossene ist nicht ein Aufgehobenes, sondern ein Getrenntes noch Bestehendes." Die Gesinnung oder moralische „Geneigtheit" hat dagegen „ihr idealisches Objekt in sich selbst; nicht in einem Fremden [!] (dem Sittengesetze der Vernunft)" (N 388; Konzept). Hegel kritisiert also zweierlei. Zum einen schließt die mechanische Deutung der vernünftigen Willensbestimmung als Niederschlagung selbstsüchtiger Neigungen gerade noch das ein, was nicht mehr zum Willen gehört. Zugleich aber schließt sie gerade die lautere Zustimmung des ganzen Menschen zur Vernunft aus. Daß das Sittengesetz immer als ein interner Fremdkörper, als „der letzte unverdaute Klotz im Magen" der Vernunft^®^ empfunden wurde, hat seinen bestimmten Grund darin, daß Kant sich mit den anthropologischen Prämissen, die seine Erkenntnis- und Handlungstheorie determinieren, der Möglichkeit begeben hat, „die positive Beziehung des Bewußtseins zum Gesetz zu erklären, die Identifizierung wäre und damit Distanz und Einheit zugleich".Die theoretische Schwäche der Kantischen Motivationstheorie liegt darin, daß sie die Einheit ihrer durch Entgegensetzung definierten Vermögen und Akte nicht anders zu denken erlaubt als in einer sekundären Übereinstimmung durch Unterordnung. Es soll aber kein Nebeneinander von Vernunftachtung und niedrigen Nei268

Vgl. Baumeister: Hegels frühe Kritik an Kants Ethik. 59-82. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. WW 15.593. Henrich: Das Problem der Grundlegung der Ethik. 374.

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gungen gedacht werden, sondern so etwas wie eine freudige praktische Vernunft. In der Zweitfassung erkennt Hegel, daß Schillers Plädoyer für eine „Zusammenstimmung zwischen Neigung und Pflicht, zwischen Vernunft und Sinnlichkeit"27^ eine ohnmächtige Beschwörungsformel ist, die die Kategorien zugleich anerkennt, von denen sie loskommen möchte. Zwar wußte auch Schiller, daß mit einer auch von der Vernunftkritik eingeräumten „Unterstützung der moralischen Gesinnung durch Neigung" (die Hegel in Tübingen propagierte) nichts gewonnen ist. Doch übersah er, daß die Begriffe „Pflicht" und „Neigung" hinfällig werden, wenn eine „geneigte moralische Gesinnung" gedacht werden soll (N 268®; 2. Fassung); und daß die gesuchte harmonische Gemütsganzheit sich nicht sinnvoll beschreiben läßt als eine „Neigung zu der Pflicht".Solange Gesetz und Neigung noch „als Besondere, als Entgegengesetzte" fixiert werden, läßt sich auch ihre Einheit nur als eine „Übereinstimmung", und das heißt eben als eine zufällige „Einheit Fremder" begreifen (N 268; 2. Fassung). Trägt man diese Gegensätze gar ins Handlungsbewußtsein selbst hinein, so nistet sich dort eine „unzerstörbare Positivität" ein. Zwischen dem Schamanen, Prälaten, Mogulitzen und Puritaner auf der einen und dem aus Pflicht Handelnden auf der anderen Seite wäre dann in dieser Hinsicht kein Unterschied „im Princip“ — wie Kant versicherte - sondern nur „in der Manier"Durch die uneinholbare Differenz von Gesetz und Setzen, von Pflicht und Erfüllung wäre der Geist des Handelnden wieder nur in einen „Herren" und in einen „Knecht" zerrissen (N 266; 2. Fassung). Beurteilt man nun diesen Punkt der Hegelschen Kant-Kritik auf seine Triftigkeit hin, so wird man um eine Argumentation des Zwar-Aber nicht umhinkommen. Einerseits verfehlt Hegels Einwand, die Gebote des Sittengesetzes seien „für die Achtung immer ein Gegebenes" (N 389), die Kantische Position. Bei Kant ist das moralische Gesetz kein vorgegebenes Datum für die Vernunft, sondern ein spontanes Faktum der Vernunft. Eine genauere Betrachtung der ethischen Schriften Kants zeigt, daß nicht ein „Gesetz", sondern die „Idee der Würde eines vernünftigen Wesens"^^^ der eigentliche Gegenstand der Achtung ist. Weil erst die „Achtung für" diese „bloße Idee"2^5, d. h. meine freie Anerkennung der Selbstzweckhaftigkeit

272 273 274 275

Schiller: Über Anmut und Würde. NA 20. 293. Ebd. 283. Kant: Die Religion. AA 6. 176. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. AA 4. 434. Ebd. 439.

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jedes vernünftigen Wesens, diesen nicht-objektiven Begriff der autonomen Person zum verbindlichen Beweggrund meines Handelns macht, kann der Gesetzescharakter der Idee der Würde nicht logisch der Achtung vorangehen. Daß vielmehr die Anerkennung der Freiheit jeder Person diesem Gedanken allererst seine Normativität verleiht, bringt Kant dadurch zum Ausdruck, daß er die Idee der Selbstzweckhaftigkeit „vernünftige[r] Natur" den „Grund" des kategorischen Imperativs nennt.^^^ Dieser Intention Kants, den sittlichen Normativitätsgrund in der freien Entscheidung für den jenseits aller Einsehbarkeit liegenden Standpunkt menschlichen Freiseinkönnens zu verankern, widersprechen aber andererseits die vielen Formeln, welche — wie z. B. die völlig schiefe Rede von der „Achtung fürs Gesetz" — die ethische Grundnorm suggestiv in die Nähe einer erzwingbaren theoretischen Einsicht rücken. Unterstützt wird dieser auf der Ebene des Buchstabens unleugbare moralische Gesetzespositivismus durch den rationalistischen Objektivismus, der wiederum mit Kants aprioristischem Formalismus aufs engste verknüpft ist. Diesen Objektivität beanspruchenden moralischen Formalismus kritisiert Hegel völlig zu Recht, indem er das „Moralgesetz" Kants „inkonsequent" nennt - weil „es doch nicht bloß ein Bestimmendes, sondern Bestimmbares ist; also immer noch unter einer fremden Macht steht" (N 390 f). In Kants Ethik findet man in der Tat leider keinen skeptischen Formalismus, der die Auslegungs- und Ergänzungsbedürftigkeit der obersten Idee der Menschenwürde durch historisch sich wandelnde materiale Wertbestimmungen sich eingestände; man findet vielmehr einen naiven und höchst ambitiösen Formalismus, der dem allerdings nicht inhaltsleeren, aber doch inhaltsarmen kategorischen Imperativ zutraut, die Maximen in der ganzen unendlichen Vielfalt möglicher Handlungssituationen eindeutig und zuverlässig wie ein „Kompaß"^^ auf ihre moralische Legalität hin beurteilen zu können durch das Kriterium widerspruchsloser Verallgemeinerbarkeit - einen vernunftgläubigen Objektivismus, der den Gedanken einer Pflichtenkollision und das Prinzip der abzuwägenden Verhältnismäßigkeit von sittlichen Werten bei der Grundlegung einer Ethik für außerwesentlich hält und demnach bis auf einen Restbestand kasuistischer Fragen die „Pflichten herzählen"^^» zu können glaubt wie die Gattungen und Arten im Linneschen System.

276 Ebd. 428 f. 277 Ebd. 404. 278 Ebd. 421.

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III. Wiederbelebung der Zeit

Man sieht also, wie Hegel bei seinem Versuch einer radikalen politischreligiösen Metanoia selbst noch im allgemeinbegrifflichen Charakter des kategorischen Imperativs ein letztes Asyl des Autoritätsgehorsams erblickt. Die Apriorität eines objektiv bestimmbaren Allgemeinen repräsentierte wieder etwas, das wie der Igel in der Fabel immer schon da ist — einen Fund, der sich nicht wieder als ein Selbsterzeugnis denken läßt — autoritative Vorschriften, die der noch unbestimmte Wille nur mechanisch exekutieren könnte. Daß Hegel das Sittengesetz als ein solches Gegebenes und objektiv Bestimmbares versteht, zeigt nicht nur der Klageruf: „Wehe den menschlichen Beziehungen, die nicht gerade im Begriff der Pflicht sich finden, der . . . alle anderen Beziehungen ausschließt oder beherrscht" (N 266; 2. Fassung); sondern auch der ganze zweite Punkt seiner Kant-Kritik. 2. Dieser besagt, daß eine Pflicht-Ethik „der Zerrissenheit des Menschen nur einen hartsinnigen Dünkel zugesellt" (N 266; 2. Fassung); und zwar deshalb, weil ihr ein sublimierter Legalismus innewohnt. Es ist die ständige Gefahr einer Theorie absolut rationaler Handlungsbegründung, daß sie zugleich als Theorie der Selbstrechtfertigung ausgelegt werden kann. Durch Kants wiederholten Hinweis auf die prinzipielle Unerkennbarkeit der eigenen Moralität kann diese Gefährdung nicht ausgeräumt werden, weil die Orientierung an Pflicht und Gesetz bestehen bleibt. Hegel, der auch hier wieder Kants Reflexionsbegrifflichkeit auf das Selbstbewußtsein des Handelnden überträgt, muß in dem Bedacht auf die Erfüllung der Pflichten eine Störung der Handlungsintention auf die andere Person erblicken, die zu einer Wesensverkehrung der Moralität in ihr Gegenteil, die inhaltsgleichgültige Gesetzesableistung führt. Auf diese Weise ist für ihn der Buchstabe der Kantischen Ethik ebenso wie der Pharisäer von Jesu Forderung nach einer Aufhebung der „Gerechtigkeit der Pflichtlinge" betroffen (N 267; 2. Fassung). Das Gebot: „Laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut"^^^, könne, wenn es „einen Sinn haben soll", nur die „eigene Reflexion über seine Pflichtgemäßheit" verwerfen, die eine „Unreinheit der Handlung" durch das „Einmischen eines Fremden" bewirke (N 272; 2. Fassung). Die Selbstrechtfertigung ist der internalisierte „Beifall anderer über einen Sieg, den die Pflicht, das Allgemeine über das Besondere davon getragen hat" (ebd.). Schon im Wunsch, sich rein aus Pflicht zu bestimmen, liegt eine Tendenz zur „Entartung der sittlichen Selbstreflexion" in ein ständiges „Vergleichen seiner selbst mit ei-

279 Mt. 6,3.

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nem zum Seienden fixierten Ideal der Heiligkeit"^®“: das Individuum „schaut sich als ein Allgemeines, als erhaben über sich selbst als Besonderes, und über das was im Begriff der Bestimmtheit liegt, an, über die Menge der Individuen" (N 272; 2. Fassung). Wer sein Handlungsideal als einen solchen erhabenen Sieg versteht, hat den Anderen als solchen aus dem Blick verloren. Ließen sich Vernunftgründe als Beweggründe abtrennen von den Handlungen, zu denen sie bewegen, drohte auch der, dem die Handlung gilt, zum bloßen „Fall der Anwendung von Gesetzen" zu werden. Die Konsequenz seiner Kant-Kritik erblickt Hegel nun darin, daß er, um der Möglichkeit einer unfreiwilligen Katastrophen-Dialektik ethischer Reflexion zu entgehen, nicht nur der heimlichen Augendienerei und dem Eigenbeifall des Pflichterfüllungs-Gedankens den Rücken kehren, sondern auch Abschied nehmen muß von einer streng allgemeinverbindlichen normativen Ethik überhaupt.

b) Leben als gegensatzintegrierendes Handeln aus dem Geist freier Verbundenheit Hegel setzt nun der Kantischen Ethik, deren objektivistische Begrifflichkeit des Gesetzes die Ganzheit der Gesinnung verfehlt, die neutestamentliche Ethik der Liebe, der „Vereinigung", des „Seins", des „Lebens" entgegen. „Hütet euch", — so läßt er schon in der Erstfassung Jesus sagen — „das Rechttun und die Liebe als eine Abhängigkeit von Gesetzen und Gehorsam gegen Gebote zu nehmen und sie nicht als aus dem Lebendigen kommend zu betrachten". Die Begründung zeigt, daß diese Warnung sich nicht nur gegen heteronomen Gesetzesgehorsam richtet, sondern auch die Autonomie-Konzeption eines apriorischen Imperativs antizipierend verwirft. „Ihr erkennt [sonst] eine Herrschaft über euch [an], über die ihr nichts vermögt, die stärker ist als ihr; eine Macht, die nicht ihr selbst seid, . . . über die ihr euch nie durch Liebe erheben könnt. Ihr setzt für euch wie für andere vor der Tat ein Fremdes, ihr erhebt zu einem Absoluten ein Fragment des Ganzen des menschlichen Gemütes; stellt darin eine Herrschaft der Gesetze und Knechtschaft der Sinnlichkeit, oder des Individuums auf." (N 287 f; 288®; modifizierte 1. Fassung) Baumeister: Hegels frühe Kritik an Kants Ethik. 91 f. Henrich: Das Problem der Grundlegung der Ethik. 366; 372 ff.

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Fragt man, was unter dem „Lebendigen" zu verstehen ist, aus dem das rechte Handeln kommt, muß man Hegels Sprachgebrauch untersuchen. Das Lebendige ist zunächst das freie Individuum selbst. In diesem Sinne werden im Text etwa bürgerliche von moralischen Geboten dadurch unterschieden, daß jene die „Grenze der Entgegensetzung mehrerer Lebendiger" bestimmten, also die „Entgegensetzung Lebendiger gegen Lebendige" einschränkten; wohingegen diese die „Grenze der Entgegensetzung in Einem Lebendigen" bestimmten, d. h. „die Entgegensetzung Einer Seite, Einer Kraft eines Lebendigen gegen andere Seiten, andere Kräfte eben desselben Lebendigen" einschränkten (N 264 f; 1. Fassung). Diese Ausführungen, die Hegels Orientierung am Modell der Kräfteharmonie hervortreten lassen, werden ergänzt durch einen Passus, an dem der „spekulative Moralist" (Kant) dem „Volkslehrer" und „Verbesserer der Menschen" (Jesus) gegenübergestellt wird. Hegels Sympathie gilt dem Zweiten, weil dessen Schwäche, die „Entstehung der Tugend" und die „Bildung zur Tugend" nicht erklären zu können, sich als eine praktische Stärke erweist. Denn er hat darauf verzichtet, wie der Moraltheoretiker „mit dem Lebendigen den Krieg [zu] führen, gegen dasselbe zu polemisieren, oder nur ganz kalt seine Begriffe zu kalkulieren". Der Index dieser Kriegführung ist für Hegel die Rede vom Sollen. Der „spekulative Moralist"^®^^ der das Wesen der Moralität fixieren will, hält eine „Vorstellung", einen „Begriff an das Lebendige" und sagt: „Das Lebendige soll so sein - zwischen dem Begriff und der Modifikation eines Lebendigen soll kein Widerspruch sein, als der allein, daß jener ein Gedachtes, dieses ein Seiendes ist." Dagegen kann, wer sich „an die Menschen selbst wendet", nur dies feststellen: „die Tugend als Modifikation des Lebendigen ist entweder, oder ist auch nicht, — kann entstehen und vergehen" (N 276*’; 1. Fassung). Was aber ist diese Tugend, die Hegel in der Terminologie der deutschen Spinoza-Ausleger eine „Modifikation" des freien Individuums nennt.

Dieser pejorative Gebrauch des Begriffs „spekulativ" könnte ein Hinweis auf Hegels Lektüre von Schellings Einleitung zu den Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1797 sein. Schelling hat dort dasselbe Anliegen wie Hegel, Hölderlin und Schiller: zu protestieren gegen die Zerlegung der Ganzheit sittlichen Handelns durch den „Plagegeist" der „Spekulation". Das „Wesen des Menschen ist Handeln. Je weniger er aber über sich spekuliert, desto thätiger ist er. Seine edelste Thätigkeit ist die, die sich selbst nicht kennt. Sobald er sich selbst zum Objekt macht, handelt nicht mehr der ganze Mensch." Weil die „bloße Spekulation" den „Keim" der menschlichen „Existenz", seinen freien Geist, zergliedert und „tödtet", kann sie selbst zu einer „Geisteskrankheit des Menschen" werden, die nur in einer höheren Philosophie „aufzuheben" ist. SW 2. 13; 14 Anm. (Lesart der 1. Auflage).

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wenn sie nicht eine Mystifikation sein soll? Er selbst findet die Antwort in der Bergpredigt, die ihm für einen exemplarischen „Versuch" gilt, „den Gesetzen das Gesetzliche, die Form von Gesetzen zu benehmen, der nicht Achtung für dieselben predigt, sondern dasjenige aufzeigt, was sie erfüllt, aber als Gesetze aufhebt" (N 266; 1. Fassung). Dieses Plus, das die Mangelhaftigkeit der Achtung als „Triebfeder" ausfüllt, ist die analytisch nicht mehr zerlegbare Einheit der Gesinnung, des „Geistes der Liebe" (N 297; 1. Fassung). Diese Gesinnung zu denken war auch Kants Ziel. Er mußte es aber verfehlen, wenn er sie in Kategorien beschrieb, die ihre Ganzheit gerade zerstören. Sittliche Autonomie verstehbar zu machen mit Hilfe der Begriffe „Achtung", „Pflicht", „Sollen", „Triebfeder", „Niederschlagung" usw. ähnelt den Anstrengungen der Schwarzkünstler, Blei in Gold zu transmutieren. Gesinnung ist „ein Lebendiges, ein Geist" (N 296; 1. Fassung), das nicht erkannt, sondern getötet wird, sobald man es in absolute Teile zerlegt. Mit dem Verzicht auf eine begriffliche Analyse der Willensbestimmung verzichtet Hegel freilich in diesem Punkt auf einen Erkenntnisfortschritt gegenüber Kant. Seine Kennzeichnungen der ,,tugendhafte[n] Gesinnung" (N 293; 1. Fassung) sind zutreffende Beschreibungen ihrer spontanen und übersummativen Einheit, aber sie haben für sich keinen großen Erläuterungswert. Es bleibt bei der bloßen Versicherung. Die „Gesinnung der Menschenliebe" ist „von einer reicheren lebendigen Fülle als das kalte Gebot der Vernunft" (N 269 F; 1. Fassung). Sie ist — als intersubjektive Vereinigungsmacht — der „zwischen Menschen" wohnende Geist, „der über Gesetze und Herrschaft" erhaben ist; ein „lebendiges Band" der Individuen, „vor welchem alle Ketten schmelzen, und in dem die höchste Freiheit ist" (N 291; 1. Fassung); die „lebendige Beziehung der Wesen selbst" (N 295; auch N 269, 270*’; 1. Fassung). Und sie ist — als subjektives Organisationsprinzip der Handlungen — ein „lebendiges Band der Tugenden, eine lebendige Einheit", die selbst „im buntesten Gemische von Beziehungen unzerrissen und einfach" erscheint (N 295; 1. Fassung). Diese Formulierungen verdecken den theoretischen Abgrund, für den sie stehen. Sie leisten aber eine einheitliche Deutung des Aufgehobenseins der Gegensätze der Reflexion im sittlichen Handeln. Der vernünftige Wille versteht sich ebensowenig als Unterdrückung einer ihm fremden Selbstsucht, wie die in der sittlichen Beziehung stehenden Menschen als einander Entgegengesetzte oder Fremde. Bewegen Vernunftgründe das Individuum, so ist, was die Reflexion in vernünftige Allgemeinheit und sinnliche Besonderheit, in Einsicht und Exekution auseinanderlegt, unzertrennlich in einer höheren Einheit integriert, ebenso wie die in der sittlichen

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Beziehung zusammengeschlossenen Individuen. Wie in der Zustimmung zur Vernunft selbstsüchtige Handlungsantriebe nichtig geworden sind, so sind auch im sittlichen Zusammenleben die Trennungen zwischen den Menschen vergessen. Daher ist es das Kennzeichen der Nächstenliebe, d. h. der Liebe zu den Menschen, mit denen man konkret „in Beziehung kommt", daß sie weder „Herrschaft über ein ihr Fremdes" noch Knechtschaft „unter Pflicht und Recht" ist. Sie ist keine Gewalt, also keine „feindliche Macht gegen ein anderes", sondern sie „hat die Feindschaft überwunden"^®^^ indem sie - intersubjektiv wie intrasubjektiv - zwei Entgegengesetzte zu einer höheren Einheit organisiert hat (N 296; 1. Fassung). (Deshalb wird Hegel die Liebe später auch die „freye Macht"^®^ nennen.) Für die „lebendige Einheit" des Willens bedeutet dies, daß in ihm Vernunft und Sinnlichkeit nicht in einem Exklusionsverhältnis stehen, bestenfalls zwei gleichgerichtete Vermögen sind, sondern daß die vernünftige Allgemeinheit die Sinnlichkeit integriert hat, wodurch sie auch mit der „Freude" und „Lust" Zusammengehen kann (N 262; 1. Fassung). Natürlich ist dieses organologische Systemmodell aufgehobener Gegensätze vage und die Frage nach dem Maßstab sittlicher Orientierung ganz offen. In den Zusätzen zum Konzept und in der Zweitfassung vom Geist des Christentums sehen wir nun, daß Hegel die Rede von einer „lebendigen Einheit" weitgehend zurückgedrängt hat zugunsten des Ausdrucks „Leben". Die Gründe für diesen Wechsel zu einer dynamischen Begrifflichkeit können nur teilweise aus den Passagen zur Kant-Kritik verständlich gemacht werden. Das Kapitel über Freiheit und Schicksal wird zeigen, daß schon in der Mitte der Erstfassung sich der Lebensbegriff für Hegel als geeigneter erwiesen hat. In den Konzept-Zusätzen stehen manchmal beide Termini noch direkt nebeneinander. Die „lebendige Vereinigung, Einigkeit in der moralischen Handlung ist keine äußere, d. h. die Bezogenen sind keine Getrennten mehr". An diese statische Betrachtung schließt sich unmittelbar die der Tätigung an. „Moralität^®® ist Aufhebung einer Trennung im Leben" (wobei „im" natürlich auf den Ort der Aufhebung, nicht auf den der Tren-

283 Vgl. Eph. 2,16. 284 Wissenschaft der Logik. GW 12. 35. 285 Hegels Gebrauch des Begriffs „Moralität" ist noch schwankend. Einerseits hält er wie an dieser Stelle an ihm fest und nennt etwa Liebe das „Prinzip der Moralität" (N 388). Andererseits aber verwendet er etwa zur selben Zelt diesen Terminus als Synonym für Kants gesetzesfixierte Deutung der Moralität: „Moralität ist Abhängigkeit von mir selbst, Entzweiung in sich selbst" (N 390).

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nung verweist; N 388). In der sittlichen Autonomie, so hat es ja auch Kant gesehen, sind „das Wesen und das Gesetz eins, in einer Natur" (N 396). Aber bei Kant wird die Gesetzesallgemeinheit gedacht als „eine tote, denn sie ist dem Einzelnen entgegengesetzt, und Leben ist Vereinigung beider" (N 390). Wie diese organisierte Einheit von Allgemeinheit und Einzelheit im „Leben" zu verstehen ist, erläutert die Zweitfassung des Haupttextes. Für Hegel bedeutete schon zur Zeit der Erstfassung die Bergpredigt eine an mehreren Beispielen durchgeführte Darstellung der Übergerechtigkeit des Geistes, der die Liebe ist. Daß er die Erfüllung des Gesetzes ist (Röm. 13,10), heißt nicht, daß er bloß die Pflichten erfüllt, sondern daß er ein Bewußtsein vervollständigt, das sittliches Handeln als eine Erfüllung gegebener Pflichten versteht. Das Pieroma ist also „ein Geist, dessen Handlungen, wenn sie etwa nach Gesetzen und Pflichtgeboten beurteilt" würden, „denselben gemäß befunden" würden, „der aber [selbst] kein Bewußtsein für Pflichten und Rechte hat" (N 271 f; 2. Fassung). Der Pflicht gemäß ist das Handeln aus dem Geist, weil es die Menschheit des Anderen jeweils achtet. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" heißt: „als dich selbst", aber nicht im komparativischen Sinne eines: Liebe den Anderen im selben Grad wie dich selbst („sich selbst lieben" ist für Hegel - weil er Liebe als Vereinigung Getrennter versteht - ein „Wort ohne Sinn"!; N 296; 2. Fassung). Sondern in dem Sinne: Erkenne in ihm dich selbst, erkenne ihn an als ein freies Individuum und ehre seine Freiheit!^®^ Ist diese identifizierende Einstellung vorhanden, wird die praktische Urteilskraft das Richtige treffen. Pflichtvergessen ist das Handeln aus dem Geist, weil ihm die sittliche Norm kein Äußeres mehr ist. Weil die Gesinnung der Liebe selbst die sittliche Perspektive der Anerkennung des Anderen ist, bleibt sie das Normierende in allen einzelnen Handlungen, ohne daß der Handelnde noch einmal begriffliche Distanz zu dieser Norm hätte. Daß in ihr „aller Gedanke von Pflichten wegfällt" (N 267; 2. Fassung), ergibt sich daraus, daß ihr das Sittengesetz gleichsam im Rücken liegt und die spontane Beziehung auf den Anderen nicht durchkreuzt.287 Der Blick liebender Verbundenheit ist daher das verinnerlichte sittlich Allgemeine, das die Handlungen motiviert und organisiert. Er ist das belebende Prin-

Bereits im Leben Jesu hieß es: Du sollst „deinen nächsten lieben, als wenn er du selbst — wäre" (GW 1. 231=N 102)! 287 Deshalb erkennt Hegel auch in Kants Auslegung des christlichen Liebesgebots als einem unerreichbaren Ideal, „alle Pflichten" gegen den Nächsten „gerne aus[zu]üben", eine kategoriale Perturbation (N 267). Vgl. Kant: Kritik der praktischen Vernunft. 147 f AA 5.83.

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zip des Handelns, das Hegel schon in Tübingen unter dem Namen des lebendigmachenden Geistes zu suchen begann. Hatte Hegel in der Erstfassung sowohl die unzerreißbare Gesinnungsganzheit als auch die durch sie erzeugte Ganzheit der in der sittlichen Beziehung Verbundenen als „lebendige Einheit" bezeichnet, so erfahren wir nun in der Zweitfassung zumindest einen Grund für die dynamisierte Konzeption dieser Einheit als „Leben". Hegel entdeckt hier noch eigene Relikte einer isolierenden Betrachtungsweise, wenn er bemerkt: „der Ausdruck Gesinnung hat die Unbequemlichkeit, daß er nicht die Tätigkeit, die handelnde Tugend zugleich mitanzeigt" (N 293*’; 2. Fassung). Die Gesinnung drohte also wieder zu einem toten, weil aus dem Handlungszusammenhang losgelösten Faktor zu werden, wenn sie nicht zugleich als eine solche gedacht würde, die nur in ihrer Äußerung wirklich ist. Das unterscheidet die Gesinnung ja gerade von der Gelehrsamkeit und dem moralischen Räsonieren, daß sie ins Handeln oder — wie Hegel schon in Tübingen mit Mendelssohn formulierte - ins „Leben" übergeht und sich nicht zur „Lehre", zum „toten Kapital" verselbständigt. Gedacht werden muß daher die umfassende „lebendige Einheit" der Gesinnungseinheit und der durch sie gestifteten sozialen Beziehungsganzheit. Dementsprechend bedeutet „Leben" im ethischen Kontext nun das Handeln aus dem Geist freier Verbundenheit, das eine Trennung zwischen dem Handelnden und dem Anderen, zwischen Subjekt und Objekt aufhebt und beide zu einer Ganzheit organisiert.288 Je nach Aspekt kann diese Grundbedeutung variiert werden; immer aber ist es eigentlich die Liebe selbst, welche „lebt" (N 270; 2. Fassung).289 In ihren „Modifikationen", den Tugenden (Versöhnlichkeit usw.), verliert das Gesetz „seine Form"; „der Begriff" wird „vom Leben verdrängt". Die „Form des Gebots" ist dagegen eine „Zerreißung des Lebens" (N 269; 2. Fassung), weil sie nicht nur die sittliche Norm von ihrer Anerkennung trennt, sondern auch die Anerkennung und die praktische Umsetzung zu sukzessiven Momenten macht und das freie Handeln mechanisiert. Hegel schließt nun hieraus, daß das Liebesgebot der Bergpredigt „in einem ganz anderen Sinne Gebot" sein muß „als das Sollen des Pflichtgebots". Die imperativische Form sei hier nur die unvermeidbare „Folge davon, daß das Lebendige gedacht, ausgesprochen, in der ihm fremden Form des Begriffs gegeben" wird. ^ Das neutestamentliche Liebes-„Gebot" versteht Hegel als „Gebot sich zu versöhnen, Entzweiung aufzuheben, und einig zu werden" (N 400; Nebenkonzept). 289 Die Unterscheidung von „Leben" (als dem, was die Reflexion „Übereinstimmung" von Pflicht und höherer Neigung nennt) und „Liebe" (als „Beziehung Verschiedener") ist daher nicht disjunktiv (N 268; 2. Fassung).

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In diesen Ausführungen über die „zum Lebendigen nicht gehörige" Form des Sollens (N 267; 2. Fassung) könnte man einen Hinweis darauf finden wollen, daß Hegel seinem alten Problem, mit dem er auch Jesus hat ringen sehen, nicht nähergekommen ist: wie nämlich kollektive Autonomie aktiviert, Mündigkeit allgemein gemacht, die sittliche Gesinnung anderer belebt werden kann, ohne daß ihr Selbstsein gleichsam mit Positivität affiziert würde. Das Leben des Geistes scheint hier gerade noch nicht als die Macht gedacht zu werden, auch das Gegebene als solches abzubauen und zu integrieren. Hegels Augenmerk richtet sich scheinbar nur auf die Äußerung und Objektivierung eines ruhigen Geistes, nicht aber darauf, wie dieser Objektivität zu verinnerlichen, also etwa fremde Gebote anzuerkennen fähig wäre. Hegels ganze Lehre vom Gesetzes-Pleroma der Liebe spricht aber dafür, daß ihm dieses Problem der Assimilation fremder Wertmaßstäbe wohl bewußt war. Der von Paulus rezipierte gnostische Begriff jtXrjQcopa meint bei Hegel geradezu diese Integrationsbewegung objektiv gegebener Forderungen in die „Fülle" der Innerlichkeit, sofern sie dem Gewissen nicht widersprechen.^^ So legt etwa das Nebenkonzept Jesus folgende Worte in den Mund: „Das neue Leben zerbreche . . . nicht die Materie der Gesetze, sondern es sei vielmehr ihre Erfüllung, die Ergänzung dessen, was unter der Form eines Entgegengesetzten, als Gesetz bisher vorhanden war. Diese Form des Gebotenseins soll durch" der Menschen „neues Leben vertilgt werden und vor der Fülle ihres Geistes, ihres Wesens verschwinden" (N 398). Das Schwanken des „Lebens" zwischen dem Aufgehobensein des Sollens in der handelnden Gesinnung und dem Aufheben von Sollensforderungen in die Subjektivität hat aber seinen Grund darin, daß der Geist liebender Beziehung als ein ständiger Prozeß gefaßt werden muß, den Willen anderer in meine Freiheit zu übernehmen. Freilich bleibt dies sein feiner Unterschied zur Heteronomie: er handelt nicht, weil er soll, sondern weil er hinter bestimmten Forderungen den Willen anderer Individuen anerkennt. Diese Tilgung des Gegebenen muß aber schon deshalb Grenzen haben, weil der „Geist" und sein „Leben" zunächst Begriffe für die Sittlichkeit sind. Daß das sittliche Leben, gerade weil es das höhere Leben ist, noch eine ganz fremde Sphäre unter sich liegen hat, deren Integration auf eine bestimmte Weise seinen Tod bedeutete, zeigt Hegels Exegese des fünften Punktes der Bergpredigt. 290 YVie schon in Bern (vgl. GW 1.198=N 363) heißt es jetzt im Konzept (zu Mt. 5,17): „jrXtiQuaai ergänzen, vollständig machen durch die Gesinnung, durch Hinzufügen des Innern zum Aeußern" (N 395).

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Das Wort des Alten Äons: „Aug um Auge, Zahn um Zahn''^^^ formuliert das Prinzip der äquivalenten „Wiedervergeltung", also „das heilige Prinzip aller Gerechtigkeit" überhaupt, auf dem - wie Hegel ohne Illusionen zugesteht - „jede Staatsverfassung ruhen muß" (N 271; 2. Fassung). Jesus fordert aber mit der Liebe „im allgemeinen Aufgebung des Rechts" (1. Fassung), ja „Aufhebung der ganzen Sphäre der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit" (N 271; 2. Fassung), „gänzliche Erhebung" über diese „Sphäre" durch „Aufhebung alles Eigentums" (N 399; Nebenkonzept). Hegels skeptische Reservationsformel „im allgemeinen" zeigt ebenso wie die Sphärenmetaphorik, daß Liebe nicht verabsolutiert werden darf. Erstens kann der Einzelne nur einen beschränkten Kreis von Individuen mit liebender Verbindung wirklich umfassen. Hegel konstatiert daher die „Unnatur und Schalheit der prächtigen Idee einer allgemeinen Menschenliebe" (N 323; 2. Fassung), die eine „Erfindung" solcher Zeitalter sei, in denen der Verlust wirklicher Beziehungen unter den Menschen durch die Liebe „gegen ein Gedankending" kompensiert werden muß, so daß der gute Wille zumindest geheuchelt werden kann (N 293; 1. Fassung). Zweitens kann Liebe nicht zum Staatsprinzip werden, weil nur eine zwangsmächtige Autorität die Möglichkeitsbedingungen für freies Handeln zu garantieren fähig ist. Gerade weil Hegel die Trennung von Moral und Recht für heilsam hält und ihre Vermischung — sei es durch ein legalistisches Moralverständnis oder durch eine staatlich verordnete Moral — für ein Unglück, muß er das vom Staat verbürgte Rechtsverhältnis als notwendig anerkennen. Die Sphäre der Gerechtigkeit regelt dasjenige, was keine Macht den Menschen zwingen kann aufzugeben: Sicherheit, Eigentum und private Bedürfnisse. Wenn Jesus also zur „Erhebung . . . über die ganze Sphäre des Eigentums" in das „Reich der Liebe" (N 274 f; 2. Fassung) auffordert, so erkennt Hegel hier die Einsicht ausgesprochen, daß Besitz und die mit ihm wachsenden Sorgen eine „Bestimmtheit", d. h. ein Moment des Beherrschtwerdens, eine Abhängigkeit „in den Menschen" bringt, die ihn „des reinen Lebens unfähig" macht (N 399; Nebenkonzept). Ein „Ganzes", ein „vollständiges Leben" wird aber genau dann verhindert, wenn der Besitz den Menschen zu besitzen beginnt. Hegel scheut sich daher nicht, in Jesu absoluter Negation des Besitzes selbst eine Form von Prinzipienbesessenheit zu entdecken. Die „Verachtung der Reichtümer" (Mt. 9,19 ff) ist selbst noch ein letztes Indiz für eine innere Abhängigkeit, die es aufzugeben gilt. Die Eigentumsverschmähung in

2« Vgl. 2. Mos. 21,24.

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Bausch und Bogen wird zu einer „Litanei, die nur in Predigten oder in Reimen verziehen wird" und „keine Wahrheit für uns" hat, denen „das Schicksal des Eigentums ... zu mächtig geworden" und eine völlige „Trennung" von ihm nicht „denkbar" ist (N 273; 2. Fassung). Jesu Forderung nach einer Befreiung vom Prinzip der Gerechtigkeit und von den Sachen, die von ihm geregelt werden, darf für Hegel also nicht als utopische, sondern muß als topisch begrenzte Forderung verstanden werden. Nicht daß die Eigentumsverhältnisse nach Rechtsgesetzen reguliert werden, ist das Skandalon, sondern daß die Menschen ihre eigene Innerlichkeit und das Herz der anderen zu einem Rechtsobjekt machen, indem sie sich unter moralische Gesetze bringen. Die moralische Beurteilung des Anderen ist das Gegenteil liebender Beziehung, denn in jener wird der Andere auf ein Merkmal reduziert und an dies gefesselt. Das „Subsumieren anderer unter einen Begriff, der im Gesetz dargestellt ist, kann darum eine Schwäche genannt werden, weil der Urteilende nicht stark genug ist, sie ganz zu ertragen, sondern sie teilt, und gegen ihre Unabhängigkeit nicht auszuhalten vermag, [sie nimmt], nicht wie sie sind, aber wie sie sein sollen, durch welches Urteil er sie sich, denn der Begriff, die Allgemeinheit ist sein, in Gedanken unterjocht hat." (N 274 f; 2. Fassung) Hatte Hölderlin das Wesen des Urteils als eine „Ur-Theilung" des ursprünglich „innigst vereinigten Objects und Subjects" verstanden^^z, so überträgt Hegel diese Definition auf die Zerteilung der individuellen Ganzheit im moralischen Be-griff. Hinter der Gerechtigkeitsliebe erblickt er das oftmalige Bedürfnis, den Richter zu spielen^^S; hinter der „Strenge der Pflichtgemäßheit" einen rationalisierten „Haß" auf die Anderen und sich selbst (N 287; 2. Fassung); hinter dem Ruf nach Bestrafung eine „moralische Wollust" (Ros 86); und auch hinter der ,,öffentliche[n] Beurtheilung von Charakteren" eine europäische Zeitkrankheit, bei der die „Verachtung der Menschen" sich für „hohe Cultur" ausgibt (Ros 524). Hegels Exegese des Neuen Testaments sieht im Evangelium aber die Befreiung nicht nur von diesen Formen „moralischer" Prädikation (d. h. Formen von Herrschaft über Gleichgültiges), sondern auch von den judaischen Vorstellungen eines göttlichen Gesetzgebers und einer gegebenen „Bestimmung" des Menschen. Ihnen will Hegel darum den religiösen GeHölderlin: Urteil und Sein. StA 4. 216. Hegel schreibt im Brief vom 13. November 1797 an Nanette Endel, er sei „geneigt, die vorgegebene Gerechtigkeitsliebe der Menschen und ihr Strenghalten auf Tugend und Vollkommenheit im Urteil über andre eher für das Gefühl eigner Schwäche und Unwürdigkeit und für Unfähigkeit zu halten, irgend etwas Reines und Schönes außer sich anzuerkennen". Briefe. Bd 1.56.

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danken einer persönlichen Schicksalsgerechtigkeit entgegensetzen, in dem die reduktive Subsumtion individueller Ganzheiten unter ein WertAllgemeines überwunden ist - ganz im Geiste des Christentums.

2. Freiheit und Schicksal — Vom tragischen Leben des Geistes Hegel erweitert nun seine Kritik der Kantischen Gesetzesethik auf die Theologie der Gesetzesethik, wodurch er das genuin christliche Verständnis von Schuld und Sühne eruieren will. Er wendet sich dabei gegen die Verabsolutierung des Gesetzes und gar des Talionsprinzips zu letzten Kategorien der religiösen Weltdeutung, nicht etwa gegen die Grundsätze bürgerlicher Gesetzgebung und Rechtspflege.Seine Notizen über Freiheit und Schicksal stellen das Experiment dar, die schlechthinnige und unentrinnbare Bestimmtheit des Menschen, seine vergegenständlichende Reduktion auf einen lebenden Fall unter einem göttlichen Allgemeinen in einer höheren religiösen Perspektive zu überwinden^^^, die das Individuum als solches anzuerkennen vermag.

a) Die lebenden Justizfälle der moralischen Weltregierung Hegels Ausgangspunkt ist wieder die ursprüngliche Ganzheit der göttlichen „Natur". Mit ihrer „Zerstörung" im Verbrechen (theologisch gesprochen: in der Sünde) kommt auch erst das Gesetz als solches ins Bewußtsein der Menschen. „Wenn das Einige entgegengesetzt ist, so ist die Vereinigung der Entgegengesetzten nur im Begriff vorhanden; es ist ein Gesetz gemacht worden" (N 277; 2. Fassung). So ist etwa das Gesetz: Du sollst nicht töten! eine Reaktion auf die ursprüngliche Zerreißung des harmonischen „Zusammenlebens"^®^ die mit Kains Brudermord begann. Kondylis: Die Entstehung der Dialektik, 519, verkennt daher die Problemstellung, wenn er an Hegel die Frage zurückgibt, „ob die gesetzliche Strafe unter diesen Bedingungen einfach abgeschafft werden sollte". 295 Dies hat schon Dilthey erkannt: Die Jugendgeschichte Hegels, 89. „Der ganze Standpunkt selber muß verlassen werden. Das Bewußtsein muß eine Stellung ergreifen, in welcher die Gesetze und die Strafgerechtigkeit als ein untergeordnetes Verhältnis des göttlichen Lebens zur Schuld erkannt werden. Dieser neue Standpunkt ... ist der Jesu, den Hegel aber zu einem allgemeinen erweitert, indem er aus der griechischen Tragödie den Begriff des Schicksals herbeizieht." 295 Dieser Terminus, der das ständige Erzeugnis des „Lebens", des sittlichen Handelns, charakterisiert, findet sich besonders häufig in den späten Manuskripten zum Geist des Juden-

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(Hegel begeht hier übrigens keinen naturalistisch-deskriptivistischen Irrtum. Natürlich weiß er, daß die Ahndung des Verbrechens das sittliche Bewußtsein voraussetzt. Nur faßt er das scire bonum et malum offensichtlich intuitionistisch, nicht als diskursives Gesetzesbewußtsein.) Das Gesetz bleibt nach der Bestrafung bestehen. Ständig weist es auf das „Fehlende", auf die „Lücke" im „Leben" hin, auf die Verletzung der sittlichen Ganzheit (ebd.). Hegels Kritik richtet sich dagegen, daß dieses Symbol für die verschwundene „lebendige Beziehung unter den Wesen" (N. 295; 1. Fassung), der Index für den Mangel an „Sein" zum Absoluten erhoben, Gott als Gesetzgeber und der Mensch als von einem fremden Willen vorherbestimmt gedacht wird. Mit dem Nachweis, daß der Gott des Neuen Testaments — im Widerspruch selbst zum Verständnis mancher Theologen — kein moralischer Gesetzgeber und Weltenrichter ist, will er auch dem politischen Despotismus jede Möglichkeit einer quasitheologischen Legitimation entziehen. Das theoretische Problem besteht darin, „wie das Gesetz ... als strafende Gerechtigkeit könne aufgehoben werden" (N 277; 2. Fassung). (Der Begriff der Aufhebung hat hier durchaus schon die Bedeutungseinheit von negare, elevare und conservare.) Der Gedanke einer strafenden Gerechtigkeit soll also nicht abgeschafft, darf aber nicht verstanden werden als eine Bestrafung besonderer, d. h. unter ein gegebenes Allgemeines subsumierter Fälle von Handlungen. Hat man nämlich göttliche Strafgesetze einmal akzeptiert, so ist - wie Hegels folgender Gedankengang zeigen wird — die Art der Inquisition und der Höllenvorstellung nur noch eine Geschmacksfrage. Ein Verbrecher hat sich durch seine Tat „außer dem Begriff gesetzt, der der Inhalt des Gesetzes ist" (N 277; 2. Fassung). Zwar liegt die Strafe „unmittelbar in dem beleidigten Gesetze" (ebd.; 1. Fassung), doch erfolgt ihre Ausübung mittelbar. Das Gesetz muß „mit Lebendigem verbunden, mit Macht bekleidet werden" (N 278; 2. Fassung). Dieses rechtlich autorisierte Lebendige ist der „Exekutor, der das im Begriff verlorene Recht dem Verbrecher in der Wirklichkeit nimmt". Allerdings kann es nun zwischen der abstrakten Gerechtigkeit als einem „Gedachten" und ihrer Verwirklichung durch die „Modifikation eines Lebendigen" zu einem Widerspruch kommen. Der Rächer kann „verzeihen", der Richter „begnadigen". Aber da-

tums, die dem Geist des Christentums unmittelbar vorhergehen. Hegel spricht dort vom „Zusammenleben mit andern" (N 246); von den ,,Bande[n] des Zusammenlebens und der Liebe" (N 245), des „freundschaftlichen Zusammenlebens" (N 257); aber auch von einem „lebendigen Einen", einem „gemeinsamen Leben" (N 259 f).

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mit ist, wie der am Prinzip interessierte Hegel erkennt, „der Gerechtigkeit nicht Genüge geleistet; diese ist unbeugsam, und solange Gesetze das Höchste sind, so lange kann ihr nicht entflohen werden, so lange muß das Individuelle dem Allgemeinen aufgeopfert, so lange muß getötet werden" (1. Fassung von N 278). Der Gedanke der satisfactio vicaria durch Christus, den Hegel schon in Bern abgeschmackt nannte, stellt keine Lösung des Problems dar, weil das Gesetz als allgemeingültiges nicht „an einem Repräsentanten vieler gleicher Verbrecher sich befriedigen" kann (N 278; 2. Fassung). Es bleibt auch hier das „Verhältnis", die „Bestimmtheit" des Menschen als eines bloßen Falles, dessen ganze Bedeutung für das höchste Auge des Gesetzes nur darin besteht, ihm „gemäß oder zuwider" zu sein (ebd.; 1. Fassung). Die lex aeterna bleibt die „Macht", der „das Leben untertan ist, über welcher nichts, über welcher" — wie Hegel pointiert — „selbst nicht die Gottheit ist, denn sie ist nur die Gewalt des höchsten Gedankens, nur der Handhaber des Gesetzes" (N 281; modifizierte 1. Fassung). Mit dieser absolut fremden Macht kann der Mensch auch durch das Erleiden der Strafe nicht „versöhnt" werden. Sie zieht sich danach nur „in die drohende Stellung zurück", setzt sich im Gewissen des Sünders fest und hinterläßt in seinem Selbstbewußtsein das unzerstörbare Stigma, im Widerspruch mit dem Allerhöchsten zu existieren. Nach Hegels psychologischer Argumentation wird der Mensch aber durch dieses zerrissene Bewußtsein zur Unredlichkeit verführt. Er kann „diese Angst nicht aushalten; der schrecklichen Wirklichkeit des Bösen" und dem „Druck und Schmerz des bösen Gewissens" versucht er zu entfliehen, indem er beim „Handhaber der abstrakten Gerechtigkeit" um Gnade bettelt (N 279; 1. Fassung): daß dessen Güte „ein Auge bei ihm zudrücken, ihn anders ansehen möchte, als er ist". Angesichts dieser absoluten Festigkeit der Sünde unter den steinernen Tafeln einer moralischen Weltregierung, angesichts des Umstands, daß der Sünder hier Trost allein finden kann in einer Verleugnung, in einer „unwahren Vorstellung" (N 279; 2. Fassung), lautet Hegels Frage in der Erstfassung noch unsicher: „Gibt es keinen Rückweg zur Tugend^^^, gibt es keine Aufhebung der Strafe und der drohenden Macht, als durch Unredlichkeit und Bettelei?" (fehlt bei Nohl). Die Zweitfassung formuliert dann negativ die Bedingung, unter der das Dilemma gelöst werden kann.

Hegel-Nachlaß Bd 11, Bl. 90 recto. - Die Entlastung von Angst und Gewissensdruck war schon für den Tübinger Hegel die notwendige Bedingung für sittliches Handeln. Entsprechend ersetzt Hegel in der zweiten Fassung den „Rückweg zur Tugend" durch die „Rückkehr zur Einigkeit des Bewußtseins" (N 279).

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Es kann nicht behoben werden, wenn „die Strafe" — und das Gesetz ist die Strafe als drohende — „nur als etwas Absolutes angesehen werden muß, wenn sie unter keiner Bedingung stünde und keine Seite hätte, von welcher sie mit ihrer Bedingung eine höhere Sphäre über sich hätte" (N 279). Das Gesetz und seine Exekution müssen daher verstanden werden als ein vom Individuum selbst, ohne Vermittlung über ein Fremdes, Gesetztes.

b) Der Verbrecher und die schöne Seele — Prototypen der Selbstsetzung des Schicksals Hegels Theorie der Schicksalsgerechtigkeit will nun eine Exegese von Joh. 3,17 f; 12, 47 f und Mt. 7,1 ff darstellen. Wer den Geist der Liebe verachtet, richtet sich selbst, nämlich zugrunde. Für die Erläuterung dieses Gedankens hat sich Hegel nicht nur durch die griechische Tragödie anregen lassen, sondern vermutlich auch durch Herders Aufsatz über Das eigene Schicksal, der 1795 in den Horen erschienen war. Herder versteht hier Schicksal gerade nicht als ein von außen zufallendes Geschick, sondern als „Schatte", „Abbild", „Echo" unseres „Charakters" (im Heraklitischen Sinne). „Jeder Mensch hat sein eignes Schicksal, weil jeder Mensch seine Art zu seyn und zu handeln hat. In diesem Verstände nämlich bedeutet Schicksal die natürliche Folge unserer Handlungen, unserer Art zu denken, zu sehen, zu wirken." Darum „entgehet niemand" seinem individuellen Schicksal. Bemerkenswert ist, daß Herder diesen Gedanken auch für den Sinn von Jesu Ausspruch hält: „daß, wie wir richten, auch wir unser Urtheil empfangen". Entsprechend konzipiert auch Hegel bereits in der Erstfassung eine „Strafe in der Form des Schicksals vorgestellt" (N 279®). Sie sei die „Rückwirkung eines vom Verbrecher selbst aufgestellten Gesetzes, einer Macht, die er selbst bewaffnet, eines Feindes, den er selbst sich zum Feinde machte" (1. Fassung von N 281). Das Vergehen ist hier keine Übertretung eines gegebenen Gesetzes, d. h. für Hegel: nicht eine „Empörung des Untertanen gegen seinen Regenten, das Entlaufen des Knechts von seinem Herrn, das Freimachen von einer Abhängigkeit; nicht ein Lebendig-Werden aus einem toten Zustande, sondern [vielmehr umgekehrt] ein Töten des Lebens" (1. Fassung von N 280). Hegel verkehrt hier pointiert eine

^ Herder: Das eigene Schicksal. WW 18. 405 ff; (Textsperrungen vernachlässigt).

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verkehrte Sichtweite. Die Existenz unter einem absoluten Gesetz ist der Tod, das Verbrechen wäre hier eigentlich eine Befreiung zum Leben. Er dagegen geht vom Ideal des „Lebens", der freien Ganzheit Verschiedener in der sittlichen Beziehung aus. Die Sünde ist ein Zerreißen nicht des Jochs der Gesetze, sondern des sittlichen Zusammenhangs selbst. Das „Töten des Lebens" meint daher nicht nur die Verletzung eines Lebendigen i. e. S., sondern auch die Verletzung des freien Zusammenlebens mit ihm. (Vielleicht ist Hegels gedankliche Orientierung am Beispiel einer Lebensverletzung durch einen Mord aber sogar der Grund dafür, daß er nun schon in der Erstfassung den Terminus „lebendige Einheit" durch den des „Lebens" verdrängt). „Leben ist als Leben nicht vom Leben verschieden" (1. Fassung von N 280). In der Bewußtlosigkeit über diesen inneren Zusammenhang zweier Lebendiger besteht die „Täuschung" des Verbrechers. Er „meinte es mit fremdem Leben zu tun zu haben; aber er hat nur sein eigenes Leben zerstört".^^ Wie diese Rückwirkung zu verstehen ist, erläutert die zweite Fassung am Beispiel von Shakespeares Macbeth. Die Illusion des Mörders, durch die Vernichtung eines „fremden" Lebens seinen eigenen Machtbereich erweitern zu können, wird selbst vernichtet dadurch, daß „der abgeschiedene Geist des verletzten Lebens" gegen den Mörder „auftritt, wie Banquo, der als Freund zu Makbeth kam, in seinem Morde nicht vertilgt war, sondern im Augenblicke darauf doch seinen Stuhl einnahm; nicht als Genosse des Mahls, sondern als böser Geist" (N 280; 2. Fassung). Die „Vernichtung des Lebens" bedeutet also „nicht ein Nicht-Sein desselben, sondern seine Trennung". Sie besteht darin, daß das Leben „zum Feinde umgeschaffen worden" ist (ebd.). Mit seinem Paradigma offenbart Hegel aber schon die fundamentale Beschränktheit seines Gedankens der Schicksalsstrafe. Wenn es das böse Gewissen ist, das dem abgeschiedenen Lebendigen seine gespenstische Gegenwart verleiht; wenn also die Zerstörung des eigenen Lebens vermittelt ist über das Bewußtsein eines begangenen Vergehens - so erheben sich von selbst zwei Fragen. Wie sollte erstens ein skrupelloser Mensch jemals von seinem selbstgeschaffenen Schicksal Strafe erleiden?^'’^ Und wie ließe sich zweitens das Phänomen des bösen

Zweitfassung N 280. Hegel faßt diesen Gedanken aber schon in der Erstfassung: „soviel die Tat anscheinend fremdes Leben verletzt hat, so viel eigenes" (fehlt bei Nohl; HegelNachlaß Bd 11, Bl. 90 verso). 300 Dieselbe Frage bewegt offenbar auch Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. 519. „Hegel erklärt nicht, warum denn der Mensch, sobald er ein Verbrechen begeht, das Gefühl hat, ihm stehe das Leben als Feind gegenüber."

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Gewissens überhaupt anders verstehen denn als Bewußtsein einer verbotenen und dennoch begangenen Tat? Bedarf Hegels Theorie nicht doch wieder eines sittlichen Gesetzes, zu dessen Annahme sie eine Alternative sein will? Während dieser zweite Einwand sich nur halbwegs entkräften ließe durch den Hinweis, daß das übertretene Gebot ja kein positives (weder von einer göttlichen noch einer staatlichen Autorität gegebenes) sein muß — womit die Frage nach dem Ursprung der Gewissensregung freilich nicht geklärt wäre —; scheint der erste Einwand tatsächlich eine Schwäche des Schicksalsgedankens zu treffen. Wenn Hegel formuliert: „von da an, wo der Verbrecher die Zerstörung seines eigenen Lebens fühlt (Strafe leidet) oder [!] sich (im bösen Gewissen) als zerstört erkennt, hebt die Wirkung seines Schicksals an" (N 281; 2. Fassung) — so kann man das „oder" keinesfalls disjunktiv verstehen. Strafe erfahren heißt ja, wie Hegel auch weiß (s. o. 214), Leid oder Schmerz zu deuten als Folge einer begangenen Tat, die das moralische Bewußtsein als böse erkennt. Es wäre also absurd, wenn Hegel eine Schicksalsstrafe für abtrennbar vom moralischen Bewußtsein hielte. Wenn etwa ein Metzger seine Kunden durch verdorbenes Fleisch vergiftet, so kann das, was Hegel die „Strafe des Schicksals" nennt (ein Zusatz im Grundkonzept spricht auch von einer „moralischen Strafe" (N 392)), doch nicht in der Geschäftsschädigung bestehen. Gibt sich also Hegels Gedanke der Schicksalsstrafe in jedem Falle als Gedanke der Gewissensstrafe zu erkennen^*, so rückt auch das Bewußtsein des „Lebens" in eine eigentümliche Nähe zum Gewissen. Die Selbstzerstörung des Verbrechers beginnt mit der Zerstörung der Illusion, daß es fremdes, gleichgültiges Leben gibt. Geschieht aber diese Rektifikation des vergegenständlichenden Bewußtseins im erwachenden Gewissen, so ist der Gedanke des „Lebens" als der freien Verbundenheit freier Ganzheiten („Lebendiger") der Versuch, diese ins Gewissen gerufene Einheit mit dem anderen Lebendigen systematisch zu entfalten. Als Strukturformel für ein „Reich der Sitten" ist der Lebensbegriff auch adäquat zur Beschreibung des Reuebewußtseins. Das „Gefühl des zerstörten Lebens muß eine Sehnsucht nach dem verlornen werden; das Mangelnde wird erkannt als sein Teil, als das was in ihm sein sollte, und nicht in ihm ist; diese Lücke ist nicht ein Nicht-Sein, sondern das Leben als nicht-seiend erkannt und gefühlt" (N 281; 2. Fassung). Diese schmerzliche Präsenz der verletzten Ganzheit im Bewußtsein, das Leiden an der eigenen Tat, macht die Schicksalsstrafe zum Pieroma der Gesetzesstrafe. Dies übersieht etwa Habermas: Erkenntnis und Interesse, TJ f, in seiner kurzen Interpretation dessen, was er Hegels „Dialektik der Sittlichkeit" nennt.

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Im bösen Gewissen artikuliert sich unmittelbar „das mangelnde Leben als Macht" (N 281; 2 Fassung). War es im Verbrechen getötet worden, so erscheint es nun als „schreckendes Gespenst, das alle seine Zweige geltend macht, seine Eumeniden losläßt" (N 280; 2. Fassung). Dieses Verfolgtwerden von der begangenen Tat vermag die Gesetzesstrafe für sich allein nicht zu vermitteln. Was durch sie erzeugt wird, ist bloß ein hartnäckiger „Eigensinn", hervorgerufen durch das „Gefühl der Ohnmacht gegen einen Herrn, mit dem der Verbrecher nichts gemein hat" (N 282; 2. Fassung). Und eine Reue vermag dieses Leiden durch ein Fremdes um so weniger zu bewirken, als die gesetzmäßige Strafe selbst eine „Verkehrtheit" darstellt, die dem Bestraften nicht entgeht. Die Bestrafung hat nämlich als Gewalt dieselbe „Gestalt" wie die Straftat (N 280; 2. Fassung).In der Strafe des selbstgeschaffenen Schicksals dagegen ist die klassische Mechanik des ungerechten Stoßes und des gerechten Gegenstoßes aufgehoben durch die Einheit von Tat und Strafe. In ihr ist das von Mephisto formulierte homöopathische Gesetz gewährleistet, nach dem die „Teufel und Gespenster" da hinaus müssen, „wo sie hereingeschlüpft" sind. Weil die Entzweiung der sittlichen Ganzheit ins Bewußtsein integriert und als Selbstentzweiung erlitten wird, kann dieses selbstgesetzte Schicksal „versöhnt" werden. Die Versöhnung besteht nicht in einer Verleugnung der begangenen Tat, sondern gerade darin, daß der „Verlust", die „Lücke" des Lebens „ganz durchgefühlt" wird. Der Sünder reinigt sich gleichsam durch diese Trauerarbeit, um sich „nicht leichtsinnig mit dem Leben, sondern aus tiefer Seele sich wieder zu vereinigen" (N 282; 2. Fassung). Schon in der Erstfassung hat Hegel diese Wiederherstellung der Ganzheit des zerrissenen Selbstbewußtseins mit der Regenerationsfähigkeit eines Organismus verglichen. „Das Leben kann seine Wunden wieder heilen, wieder zu sich selbst zurückkehren" (1. Fassung von N 281). Mit dieser biologischen Merkmalserweiterung des Lebensbegriffs werden aber wieder zwei Fragen aufgeworfen. Droht nicht erstens mit ihr ein Mord zu einer geringen Schürfwunde bagatellisiert und ein Phänomen des ethischen Bereichs in unzulässiger Weise naturalisiert zu werden? Und desavouiert Hegel nicht zweitens seinen bisherigen sittlichen Lebensgedanken dadurch, daß auch die Verletzung der sittlichen Ganzheit zum Moment der Lebensentwicklung erklärt wird?^^^ In Wahrheit zeigt aber — um zu-

„Die Peiniger und die Henker, die dasselbe tun, was die Tyrannen und die Mörder taten, heißen darum gerecht, weil sie das Gleiche tun." (N 288; 2. Fassung) Diesen Kurzschluß begeht Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. 520. „Ist das Leben unsterblich und kann es ohnehin nicht wahrhaft vernichtet werden, warum sollte man unter

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erst die letzte Frage zu beantworten — das Zitat von der Selbstheilungskraft des Lebens lediglich, daß Hegel die gegensatzintegrierende Kraft des Organischen auch auf andere Gebiete als das des sittlichen Zusammenlebens zu übertragen beginnt. Der Gedanke des moralischen Handelns aus dem Geist wird selbst in einen umfassenderen Zusammenhang integriert, ohne dadurch preisgegeben zu werden. Durch diese Beobachtung kann auch die erste Frage entkräftet werden. Die Sittlichkeit wird nicht naturalisiert, sondern in den Kontext der Persönlichkeitsentwicklung einbezogen. Geheilt wird ja auch nicht die Verletzung der sittlichen Totalität bzw. der Ermordete, sondern die offene Wunde im Selbstbewußtsein des Mörders. Allerdings hält Hegel diese zwei Bedeutungsbereiche des Lebens nicht immer präzise auseinander. So formuliert er z. B. in einem Zusatz zum Konzept, das Schicksal als Gewissensstrafe sei „das Bewußtsein seiner [des Menschen] selbst (nicht der Handlung), seiner selbst, als eines ganzen . . .; da dies Ganze ein Lebendiges ist, das sich verletzt hat" - als ob es nicht zunächst den Anderen verletzt hätte! - „so kann es wieder zu seinem Leben, zu der Liebe zurückkehren; sein Bewußtsein wird wieder Glauben an sich selbst" (N 392 f). Hegel hat jedoch die Notwendigkeit, das höhere Leben des Geistes liebender Beziehung nicht mit der individuellen Lebensgeschichte zu vermengen, offensichtlich erkannt. Mit der Erweiterung des Gegenstandsbereichs für den Lebensbegriff, die sich schon im ersten Ansatz zum Geist des Christentums vollzieht, verspürt er nämlich zugleich das Bedürfnis, das Leben des Geistes terminologisch durch ein bewertendes Attribut vom Bios abzugrenzen. Der Sünder könne, so heißt es nun, „zu seinem reinen [I] Leben durch Liebe wiederkehren" und sich so mit seinem Schicksal versöhnen (N 283®; 1. Fassung). Die weitere Konsequenz aus der Gebietserweiterung des Lebensbegriffs ist seine in Ansätzen erfolgende Verallgemeinerung zum Prinzip der absoluten Totalität. Nach der Art, wie zuvor die Verletzung der freien Einheit Verschiedener im Verbrechen betrachtet worden war, ist die böse Tat „kein Fragment", also kein Straffall eines vorgegebenen Gesetzes. Vielmehr stellt nach Hegel das Verbrechen, das „aus dem Leben, aus dem Ganzen kommt, . . . auch das Ganze dar". Allerdings „teilt" es dieses Ganze (1. Fassung von N 283). Es ist zugegebenermaßen nicht leicht, dieGewissensbissen leiden?" Diese absurde Verwechslung von „Lebendigem" und „Leben" ist allerdings wieder eine Folge davon, daß Kondylis Hegel mit seinem „Hölderlineal" bearbeitet: Hegel habe nämlich das Hölderlinsche „Alles ist gut" (StA 3.171) — was für Kondylis offensichtlich soviel bedeutet wie: jegliches ist gleichermaßen gut — übernommen und es dann in Jena „durch das ,alles ist vernünftig' [!] ersetzt" (325). Hegels „Glaube, alles sei gut" (520), bedeutete also eine Rechtfertigung des Verbrechens!

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se Formulierungen zu verstehen. Sie „rechtfertigen" aber keinesfalls „das Verbrechen mit der spekulativen Notwendigkeit, eine immanente Ausdrucksform für das Abstraktum ,Leben' zu finden".Und sie wollen auch nicht eine „legitime [!] Verletzung von Leben" beschreiben.Daß jedes Verbrechen „aus Leben kommt" (N 283; 2. Fassung), soll vielmehr bedeuten, daß es als ein „Herausgehen aus [!] dem einigen, weder durch Gesetze regulierten, noch gesetzwidrigen Leben" (N 280; 2. Fassung), also gerade als „Entfremdung von Gott" (N 289; 2. Fassung) verstanden werden muß, nicht aber als Verstoß gegen ohnehin dem Menschen fremd gegenüberstehende göttliche Nomoi. Nun muß ein zweiter Prototyp der Erzeugung eines individuellen Schicksals näher untersucht werden, an dem sich Hegel vorwiegend orientiert. Wie der Anfang einer Moritat klingen die Worte, mit denen die Zweitfassung vom Schicksal des Verbrechers zum Schicksal der schönen Seele überleitet. (Und wie eine Tragödie — mit dem erhabenen Tod des Helden Jesus von Nazareth — werden die Ausführungen enden.) „Aber das Schicksal hat ein ausgedehnteres Gebiet als die Strafe; auch von der Schuld ohne Verbrechen wird es auf gereizt, und ist darum unendlich strenger als die Strafe; seine Strenge scheint oft in die schreiendste Ungerechtigkeit überzugehen, wenn es der erhabensten Schuld, der Schuld der Unschuld gegenüber um so fürchterlicher auftritt." (N 283) War es beim Verbrechen eine unmittelbare Aktion, die ein Schicksal provozierte, so stellt es sich diesmal als Folge einer bestimmten Antwort auf eine Herausforderung, als „Reaktion" gegen eine „fremde Tat" dar (N 284; 2. Fassung). Hegel wählt als Ausgangspunkt einen „ungerechten Angriff" und beschreibt zunächst die beiden extremen Erwiderungsweisen, das ohnmächtige Erleiden der Aggression und die Verteidigung des Rechts. „Mit seiner Reaktion, sie sei duldender Schmerz oder Kampf, fängt" des Menschen „Schuld, sein Schicksal an" (N 284; 1. Fassung). Obwohl sich Hegels Sympathie für die zweite Form schon sprachlich, durch die Entgegensetzung von „Willenlosigkeit" und „Tapferkeit" zu erkennen gibt, erblickt er doch in beiden Antworten einen „unnatürliche [n] Zustand". Ihre Unnatürlichkeit - so lautet das Zeugnis für Hegels frühe So Timm: Fallhöhe des Geistes. 128. Tatsächlich sind aber nicht diese Sätze Hegels „leichtfertig", wie Timm rügt, sondern solche Deutungen wie die Timms. Von einer „Notwendigkeit" des Verbrechens kann bei Hegel gar nicht die Rede sein. So Wildt: Autonomie und Anerkennung. 191. Wildt mißversteht das, was bei Hegel zwei verschiedene Betrachtungsweisen der Sünde sind (nämlich als Übertretung göttlicher Gebote und als Entfremdung vom göttlichen Leben), als zwei Klassen von Verbrechen — das schlechte Verbrechen und das „legitime Verbrechen von Widerstand und Revolution"!

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„Zärtlichkeit" gegen die Große Natur — bestehe nämlich darin, daß sie einen „Widerspruch" enthielten. Die Begründung dieser Widersprüchlichkeit wirkt allerdings erkünstelt. Während sie im Falle passiven Duldens darin liegen soll, daß zwar das Recht, nicht aber die Macht auf der Seite des Opfers sich befindet, erspäht Hegel im Falle des rechtmäßigen Widerstands ein ganzes Nest von Widersprüchen. Nur eines von diesen Argumenten soll hier aufgegriffen werden, weil es Hegels eigentlichen Kritikpunkt ausspricht. Im „Kampf für Rechte" erkennt er „zweierlei Lebende, Leben im Kampf mit Leben, welches sich ... widerspricht" (N 284; 2. Fassung). Diese Stelle zeigt nicht nur, wie wenig Hegels früher Lebensbegriff mit Vitalität und Selbstbehauptung zu tun hat, sondern auch, daß das Leben als das die freie Einheit mit dem Anderen stiftende Handeln aus einem Geist, der sich über die Rechtsposition erhoben hat, bei Hegel wieder zu einer Art Wesensbestimmung des Menschen (des „Lebendigen") wird, so daß seiner höheren Natur widerspricht, wer sich gegen andere ins Recht setzt. So gibt sich als der eigentliche Mangel beider Verhaltensweisen ihre Abhängigkeit vom Rechtsbewußtsein zu erkennen. Der Dulder unterscheidet sich vom Kämpfer nur dadurch, daß er die physische oder volitive „Kraft nicht hat", das Recht „festzuhalten", auf das sein Begehren gleichwohl gerichtet ist (N 284; 1. Fassung).^ Beide rechtsfbderten - und das bedeutet hier immer besitzfixierten — Handlungseinstellungen werden nach Hegel erst überwunden in der Geisteshaltung der „schönen Seele".307 Die Zweitfassung nennt sie deshalb zunächst „das Wahre beider Entgegengesetzten, der Tapferkeit und der Passivität", weil in ihr „von jener das Leben", allerdings ohne die Feindschaft gegen den Anderen, bewahrt bleibe, „von dieser der Verlust des Rechtes", allerdings ohne „Schmerz". Sie sei die Aufhebung von Kampf und Recht als eine „lebendige, freie Erhebung" über deren Sphäre (N 285; 2. Fassung). — Was hier aber so schön als „das Wahre" präsentiert wird — eine Bilderbuchsynthese, wie man sie sonst nur in Lehrbüchern zur Dialektik findet —, das kann nach Hegels eigenem Geständnis zu einer Halbwahrheit verderben, die nicht einmal die Hälfte der ganzen ist. Die Wahrheit über dieses „Wahre",

3* Die Möglichkeit, das Recht über die Justiz einzuklagen, erwähnt Hegel hier nur am Rande (N 285; 1. Fassung). ^ Hegel hat diesen Ausdruck — mit dem er schon in Tübingen (GW 1.93=N 11) Maria von Bethanien charakterisiert hatte — nicht unmittelbar aus Plotins Werk übernommen, sondern aus Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde: „ln einer schönen Seele ist es ..., wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren". NA 20.28.

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Über das lebendige „Leben" einer „edle[n] Natur" ist ihre „Selbsttötung, die sich endlich in das Leere zurückziehen muß" (N 285'^; 1. Fassung). Fragt man nun, ob eigentlich Hegels Lebensbegriff so irritierend beweglich ist, oder das, was in ihm gedacht wird, so wird man beides bejahen müssen. Im Eifer, den neuerworbenen Begriff für das freie Handeln aus der Gesinnung der Menschenliebe als Abbreviatur für die Kennzeichnung verschiedenster sittlicher Phänomene zu verwenden, unterlaufen Hegel manchmal verwirrende Ungenauigkeiten. Das „Leben", das das „schöne Gemüt" (N 293) vom tapferen Verteidiger des Rechts übernehmen soll, ist natürlich nicht das besitzüberhobene Leben der Liebe, sondern nur die Lebendigkeit oder freie Selbsttätigkeit. Daß aber das höhere Leben des ichvergessenen Geistes, das die Spontaneität als Moment in sich befaßt, zu einer „Selbsttötung" werden kann, liegt dagegen in der Sache selbst begründet. Hegel orientiert sich bei seinen Ausführungen über die schöne Seele an zwei verschiedenen idealtypischen Situationen. Dies vor allem, weniger ein Überzeugungswandel zwischen den (mindestens) zwei Textfassungen308 jgt auch der Grund für Hegels schwankende Bewertung der „Schönheit der Seele". Während nämlich der Verzicht auf Rechte unter den Bedingungen eines gemeinsamen sittlichen Wertekonsens nicht die Existenzzerstörung bedeutet, muß in einer Gesellschaftsordnung, deren sittliche Verhältnisse fast ausnahmslos durch Gesetz und Recht geregelt werden, die Geisteshaltung „wer dir den Rock nimmt, dem gibt auch den Mantel" (Mt. 5,40) schließlich auch zum sittlichen Beziehungsverlust führen. Hegels kritische Bemerkungen über den Edelmut des Jesus von Nazareth verraten nun seine Schwierigkeit, in Hinsicht auf den tragischen Konflikt zwischen jüdischem Legalismus und urchristlicher Agape eine prinzipielle Entscheidung zugunsten von moralischer Autonomie oder Ethos zu treffen. Eine spätere Stelle im Manuskript formuliert die ausweglose Alternative folgendermaßen. „Das Schicksal Jesu war, vom Schicksal seiner Nation zu leiden, entweder es zu dem seinigen zu machen und ihre

^ Nach Jamme: Ein ungelehrtes Buch, 280, stellt „die Kritik Jesu als .schöner Seele' . .. eine der bedeutsamsten Neuerungen der zweiten gegenüber der ersten Fassung" dar. Diese These läßt sich aber so nicht halten. Erstens spricht Hegel schon im ersten Ansatz von der „Selbsttötung" und charakterisiert die schöne Seele als eine Mimose, die sich bei jeder Berührung mit der feindlichen Welt zurückzieht (N 285; 1. Fassung). Zweitens nennt gerade die spätere Fassung die schöne Seele euphorisch „das Wahre". Drittens aber heißt es bereits im Grundkonzept über „schöne Seelen": „sie haben schöne Momente des Genusses, aber auch nur Momente" (N 389). Allerdings läßt sich feststellen, daß Hegels Skepsis gegenüber dem anachoretischen Konfliktlösungstypus sich in der Zweitfassung verstärkt.

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Notwendigkeit zu tragen, . . . und seinen Geist mit dem ihrigen zu vereinigen, — aber seine Schönheit, seinen Zusammenhang mit dem Göttlichen aufzuopfern, oder das Schicksal seines Volkes von sich zu stoßen, sein Leben aber unentwickelt und ungenossen in sich zu erhalten" (N 328; 2. Fassung). Der sachliche Grund für Hegels unentschiedene Beurteilung des historischen Jesus ist dieses zugespitzte Entscheidungsdilemma zwischen einem sittlichen „Zusammenleben", das die „Verunreinigung" und den „Bund mit der entwürdigten Welt" (N 328, 286; 2. Fassung), einen „Bund mit dem Gewebe jüdischer Gesetzlichkeiten" (N 305; 1. Fassung u. N 328; 2. Fassung) bedeutet hätte; und einem isolierten moralischen „Leben", das „mit Freiheit" alle „lebendigen Beziehungen fliehen" mußte, weil alle „unter dem Gesetze des Todes lagen" (N 285; 328; 2. Fassung). Aufgrund dieses Umschlagenkönnens höchsten moralischen „Lebens" in einen Tod gleichsam durch Reinlichkeit, durch Rückzug aus allen als niedrig verschmähten Gegenwartsformen, verleiht Hegel nun dem Lebensbegriff eine charakteristische Spannung, die erst im letzten Schritt durch Integration in einen noch umfassenderen Lebensgedanken aufgehoben wird. Die „Fülle" des moralischen, um seinen Gegensatz zum Ethos wissenden „Lebens", der „Reichtum der Liebe" (N 290; 2. Fassung) ist in Gefahr, zu einem „Verzichttun" auf das sittliche „Leben" (N 286; 2. Fassung) zu werden, zu einer „Entsagung der Beziehungen des [sittlichen] Lebens" (N 305; 1. Fassung), die schließlich in eine „Furcht vor jeder Lebensform" (N 331; 2. Fassung) und eine „Flucht in unerfülltes Leben" (N 332; 2. Fassung) ausarten kann, bis hin zum „Fanatismus", sich rein in der „Beziehungslosigkeit zu erhalten" (N 331; 2. Fassung). Eine solche Seele wird zu „schön", um noch „wahr" zu sein! Hegels Ausrichtung am klassischen historischen Konflikt von Moralität und Sittlichkeit ist auch der Grund für sein frühes tragisches Verständnis vom richtigen Handeln, ln das Prinzip einer reinen Vernunft, die wie ein Kompaß in allen Lebenssituationen das Handeln eindeutig zu normieren fähig wäre, hat er — falls er es je besaß — das Vertrauen verloren. Es gibt keine festen, begrifflich bestimmbaren Grenzen mehr, etwa zwischen der kompromißbereiten Solidarität mit einem in vemunftlosen Sitten lebenden Volke und dem Opportunismus. Hatte Hegel in Bern noch unreflektiert Stellung bezogen zugunsten einer öffentlichen Tugend vor einer privaten Sektenmoral, so erkennt er in Frankfurt immer deutlicher die Unabtrennbarkeit einer Handlungsaltemative von der jeweiligen Situation einer Zeit, ln einer Zeit des Konflikts zwischen der Tradition und dem Gewissen gibt es aus der Verstrickung in die Schuld keinen Ausweg. Während die Erstfassung vom Geist des Christentums noch durchaus affir-

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mativ eine moralische Lieblingsopposition Hölderlins zugrundelegt und die reine Seele des edlen Revolutionärs gegen die unreine Welt abhebt, finden sich in der Zweitfassung immer wieder kritische Anmerkungen zum ethischen Reinheitsideal.^^ So wird etwa der Kommentar zu Jesu Lobpreis auf die „heilige Reinheit" kindlicher Unschuld, die von niemandem dürfe „besudelt" werden^^^, zu einer Art Epigramm auf den Tod einer Hegelschen Illusion. „O der schmerzlichen Notwendigkeit solcher Verletzungen des Heiligen! Der tiefste, heiligste Kummer einer schönen Seele, ihr unbegreiflichstes Rätsel, daß die Natur zerstört, das Heilige verunreinigt werden muß." (N 315; 2. Fassung) Nicht nur das Recht ist eine Zerstörung der freien Liebe. Auch die Liebe muß zur Sünde werden in einer lieblosen Zeit. Die scheinbar herzenswarme Frage: „was sind tausend rechtlich abgelaufener Uhren, Automaten — d. h. die „rechtschaffene[n] Leute" (N 292; 1. Fassung) — „gegen einen einzigen . . . Moment der Liebe?" (1. Fassung von N 293) hat eine verstandeskalte Antwort: sie sind im Recht! Keiner kann seine Integrität „retten", indem er sich wie die mimosa pudica aus allen korrumpierten Verhältnissen zurückzieht (N 285 f; 1. u. 2. Fassung). Nicht frei von Bitterkeit erkennt Hegel so die tragische Ironie, die im Jesus-Wort liegt: „wer aber sein Leben retten will, der wird es verlieren".Die Wahrheit, die Jesus hiermit auszusprechen gedachte, spricht für Hegel noch einmal die Wahrheit über ihren Sprecher aus. Wie die Behauptung vitaler Interessen und die Fixierung auf sie nach Jesus zum Verlust des ewigen Lebens führt, so führt nach Hegel auch der Wille, vor der moralischen Verderbnis rein sich bewahren zu wollen, zum Verlust des sittlichen Zusammenlebens. Hegels Ausführungen über die „schöne Seele" werfen am Ende nicht nur erneut die Frage nach den Grenzen liebender Anerkennung auf, sondern auch die Frage nach ihrer inhaltlichen Bestimmung. Hätte es im Falle Jesus von Nazareth die Anerkennung seines Volkes und seiner Zeit bedeutet, mit ihnen fortzuschwimmen? Hätte sie allein darin bestehen können, die im Gesetz versteinerte Zeit über ein höheres „Leben" zu belehren? Oder hätte sie auch den politischen Kampf für die Befreiung des im allgegenwärtigen Gesetz gefangenen Individuums einschließen müssen? ^ Dies hat schon erkannt Rosenzweig: Hegel und der Staat. Bd 1. 85 f. 31° Vgl. Mt. 18,1 ff. 311 N 286; 2. Fassung. Vgl. Lk. 17,33; Joh. 12,25. 312 Dies ist auch zumindest eine Bedeutung des späteren Wortes der Phänomenologie des Geistes: „Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt, und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes." GW 9. 27.

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Hegels Maxime lautet im allgemeinen nur noch: „beides, der Kampf und das Vergeben, sollte seine Grenzen haben" (N 286®; 1. Fassung). Wo er, wie in der Einleitung zur Neufassung vom Geist des Christentums, eine spezielle Beurteilung des jüdisch-urchristlichen Konflikts abgibt — „solche Feindschaften", wie sie Jesus „aufzuheben suchte, können nur durch Tapferkeit überwältigt, nicht durch Liebe versöhnt werden" (N 261; 2. Fassung) — da bleibt selbst noch unbestimmt, wie die tapfere Problembewältigung hätte aussehen können. Wie Hegels Versuche zur Ethik das alte Wort zu bestätigen scheinen: „nulla philosophi tradant praecepta", so endet auch der Versuch, den Gedanken einer göttlichen Strafgerechtigkeit in einer Theorie individueller Schicksalsgerechtigkeit aufzuheben, mit offenen Fragen. Die Einsicht, daß jeder seines Schicksals (bewußter oder unbewußter) Schmied ist, ist dem Strafgedanken zunächst heterogen. Erst das Gewissen stellt einen GrundFolge-Zusammenhang her zwischen einer begangenen Untat und einer Leidenserfahrung, es drängt eine Deutung von Leiden als Schuld gleichsam auf. Hegels Worte: „nie hat die Unschuld gelitten, jedes Leiden ist Schuld" (N 284; 2. Fassung)^^^ entstammen bereits dem sittlich erfahrenen, tragischen Bewußtsein, daß Verletzungen des „Lebens", der durch sittliches Handeln hergestellten freien Einheit der Lebendigen, unumgänglich sind. Die Aufhebung des göttlichen Gerichts in der Schicksalsstrafe setzt also nicht nur das Gewissen als moralische Beurteilungsfähigkeit voraus, sondern auch, daß das Gewissen selbst zu einer reuebewirkenden feindlichen Macht wird, und nicht etwa andere schmerzhafte Folgen des Handelns, ln Hegels Ausführungen bleibt aber unklar, in welcher Beziehung Schicksal, als äußerliche Handlungskonsequenz, und Gesinnungswandel stehen. Als das Pieroma des „moralischen" Gottes hat sich der vom Geist belebte Mensch erwiesen, der Himmel und Hölle in seinem Bewußtsein verinnerlicht hat und keiner „fremden Macht" mehr bedarf, die ihm seine Sünden vergibt. Das Individuum ist befreit von einer göttlichen Autorität und als Individuum anerkannt, der Sünder ist in der Tat „mehr als eine existierende Sünde; ein Persönlichkeit habendes Verbrechen" (N 288; 2. Fassung). Das „Leben" des Geistes liegt nicht mehr gefangen „unter" ewigen Gesetzen, sondern ist selbst „über allen" (N 287®; 1. Fassung). Wo aber ist

Hegel spielt hier auf das „Jia’ftövTeg äv |\)7YvoCgev TjiiaQtTixöxEg" der Sophokleischen Antigone (v.926) an, das noch die Phänomenologie des Geistes (GW 9. 256) zitiert. Vgl. hierzu auch Hölderlins frühen Aufsatz Über den Begriff der Strafe: „Alles Leiden ist Strafe." StA 4. 215.

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der Gott, den Hegel im Neuen Testament finden will? Diese Frage, zu der die bisherige Darstellung hingedrängt hat, soll im letzten Kapitel zu beantworten versucht werden. Von der Antwort wird nicht zuletzt die Frage nach dem Sinn des späteren Systemganzen abhängen.

3. Das Christentum des Buchstabens und das Evangelium des Geistes — Hegels behinderte Annäherung an das Absolute Die späten Frankfurter Notizen zum Geist des Christentums offenbaren bereits die Konturen der späteren Hegelschen Religionsphilosophie^^^ jenes spekulativen Christentums, an dessen Chamäleonsnatur später die Hegelsche Schule sich entzweien sollte. Als eine einzige Verständigung über den Gedanken der paulinischen Gemeindechristologie des Einen Leibes und der johanneischen Identifizierung von Gott und Liebe kreisen diese Aufzeichnungen erneut um das theologische Pendant zu Hegels politisch-republikanischem Interesse: um das Reich Gottes, das er im Leben Jesu als die „Verbrüderung" der Menschen im „heiligen Geist" der Tugend und Liebe gedeutet hatte. Der Wandel der Begrifflichkeit darf also über die Kontinuität der Problemstellung nicht hinwegtäuschen. Aus dem „göttlichen Funken" des Geistes, mit dem das Leben Jesu die praktische Vernunft übersetzt hatte, ist in Frankfurt die „Flamme des Lebens"3i5 bzw. der „Funke des Lebens"^^^ geworden. Der geheime Mittelpunkt des Leben Jesu, der johanneische Gedanke vom Weinstock und seinen durch „eigene Lebenskraft", d. h. „Tugendkraft" zusammengehaltenen Reben, bleibt auch in Frankfurt der Mittelpunkt von Hegels religiösem Denken. Ein späterer Zusatz zum Grundkonzept formuliert diesen Gedanken der freien Einheit der Lebendigen im selbstunterhaltenen Leben in programmatischer Kürze. „Hat der Mensch selbst Willen, so steht er in ganz anderem Verhältnis zu Gott, als der bloß passive; zwei unabhängige Willen, zwei Substanzen gibt es nicht; Gott und der Mensch müssen also eins sein Dies bestreitet etwa Jaeschke: Die Religionsphilosophie Hegels, 2, 33: Er spricht in bezug auf die „Jugendschriften" von einem „Scheitern ihrer Religionskonzeption". „Ihr Charakter" sei daher „grundlegend verschieden" vom Religionsverständnis der Berliner Vorlesungen. Leider wird dieses Urteil nicht näher begründet. — Dagegen hat bereits Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels, 103 f, erkannt, daß in Frankfurt die „Grundkonzeption der Hegelschen Religionsphilosophie . . . gefunden" wird. 3*5 Hegel verwendet diesen Ausdruck, mit dem er ein Paulus-Wort (Röm. 12,11) aufnimmt, erstmals im sechsten Judentumsfragment (Schüler Nr 71; fehlt bei Nohl und Hamacher), Hegel-Nachlaß Bd 11, Bl. 24 verso; weiterhin N 256. 3*5 N 325.

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— aber der Mensch der Sohn, und Gott der Vater; der Mensch nicht unabhängig und auf sich selbst bestehend, er ist nur, insofern er entgegengesetzt^l^^ eine Modifikation ist, und darum auch der Vater in ihm; in diesem Sohn sind auch seine Jünger; auch sie sind eins mit ihm, eine wirkliche Transsubstantiation, ein wirkliches Einwohnen des Vaters im Sohn und des Sohnes in seinen Schülern - diese alle nicht Substanzen, schlechthin getrennte und nur im allgemeinen Begriffe vereinigt, sondern wie ein Weinstock und seine Reben; ein lebendiges Leben der Gottheit in ihnen." (N 391) An anderen Stellen charakterisiert Hegel dieses Ideal religiöser Gemeinschaft mit ähnlichen Worten. „Alles lebt in der Gottheit, alle Lebendigen sind seine [des Vaters] Kinder." (N 318; 2. Fassung) Im Reich Gottes sind „alle in Gott lebendig" (N 321; 2. Fassung). Im folgenden wird nun die Frage zu beantworten sein, die sich jedem aufdrängen dürfte. Warum spricht Hegel hier in der Sprache der Theologie? Warum — wo wir doch wissen, daß es für Hegel „keine andere Gottheit" mehr gibt „als die Liebe" (N 391; Zusatz zum Konzept) - warum formuliert er das Ideal nicht geradewegs als Ideal der Gemeinschaft freier Individuen in der gegenseitigen Beziehung liebender Verbundenheit? Daß es sich bei Hegels Ausführungen um eine Interpretation des Neuen Testaments handle, ist keine befriedigende Antwort. Denn die Frage läßt sich auch so stellen: warum wendet sich Hegel immer noch der christlichen Religion zu? Damit hängt eine zweite Frage zusammen. Welchen Sinn hat Hegels fortwährende Orientierung am religiösen Ideal des Reiches Gottes? Legt sich doch der Verdacht nahe, daß sein leidenschaftliches Durchdenken der freien Ganzheit des Zusammen-Lebens zur Flucht geworden ist aus dem wirklichen Elend einer unfreien und zerstückelten Gesellschaft und ihres Staatsmechanismus in die heiteren Regionen des Ideals. Hegel wäre damit selbst zum Opfer jener narkotisch kompensatorischen Funktionsmöglichkeit der Religion geworden, die er in Bern noch aus kritischem Abstand studiert hatte. Eine schöne Versöhnung! Die Texte lassen jedoch keinen Zweifel daran, daß der Argwohn grundlos ist. Hegel ist sich seines Übergangs von der Ethik zur Religion deutlich bewußt, denn seine Religion befindet sich immer noch im Stadium der methodischen Rekonstruktion des Christentums. In seinen letzten Aufzeichnungen über den Geist des Christentums legt er sich nicht nur Rechenschaft ab über den Sinn des religiösen Ideals. Vielmehr gewinnt er sein religiöses Ideal gerade in kritischer Abgrenzung gegen das traditionelle

Nohl liest versehentlich: „entgegensetzt".

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Verständnis vom Christentum, das sich ihm schon in der Urgemeinde offenbart. Die Bedeutsamkeit dieser Gemeinde-Kritik für Hegels spätere Philosophie ist schlechthin nicht überschätzbar, denn sie läßt für uns bereits den Grund erkennen für die berühmt-berüchtigte „Aufhebung" der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff.

a) Pieroma pleromaton - Die Legitimierung des religiösen Bedürfnisses als Forderung nach ganzheitlicher, praxisleitender Weltdeutung Nach Hegel ist die Religion die höchste Vollendungsstufe des Bewußtseins. Bildet die „Moralität", d. h. die an der Rechtsform orientierte Pflichtgesinnung, das Pieroma des Gehorsams gegenüber positiven Gesetzen; stellt dann die „Liebe" aber die Erfüllung des Pflichtbewußtseins dar; so ist „Religion" das „nkTiecopa der Liebe" (N 302; auch 389).^^* Die Begründung dafür, daß die „Fülle des Lebens", der „Reichtum der Liebe" (N 290; modifizierte 1. Fassung), noch einmal einer Erfüllung bedarf, scheint zunächst zwiespältig zu sein. Einerseits nämlich versteht Hegel das höchste Pieroma als die natürliche Befriedigung eines humanen Bedürfnisses. „Dies Bedürfnis, das höchste des menschlichen Geistes, ist der Trieb nach Religion." (N 333; 1. Fassung) Andererseits aber begründet Hegel die Notwendigkeit des religiösen Bewußtseins mit der Mangelhaftigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit der Liebe selbst. Religion hebe nämlich „die Schranken der Liebe" auf (N 389; Konzeptzusatz), die in folgendem zu sehen sind. „Durch die Gesinnung [der Liebe] ist nur das objektive Gesetz aufgehoben, aber nicht die objektive Welt, der Mensch steht einzeln und die Welt. — Die Liebe knüpft Punkte in Momenten zusammen; aber die Welt[,j in ihr^^^ der Mensch[,j und ihre Beherrschung besteht noch." (N 390; ebd.) Die „Schranken der Liebe" liegen also — wie die vorangehenden Kapitel schon gezeigt haben — darin, daß ihr Reich eine „höhere Sphäre" über dem Gebiete der durch Gesetze geregelten Rechtsverhältnisse, der Domäne von Herrschaft und Gleichgültigkeit bildet, das nicht ohne weiteres aufgehoben werden kann. Die der Liebe äußerlich bleibende Sphäre der Subsumtion und Isolation nennt Hegel

3'® Lukäcs: Der junge Hegel. Bd 1. 306, erkennt in dieser Stufenfolge der Pleromata zu Recht eine embryonale Vorform der Phänomenologie des Geistes. 3** Nohl hat hier ein Komma eingefügt, das sich im Manuskript nicht findet. Diese Konjektur ist unglücklich. Nicht um die „Welt in der Liebe" geht es Hegel, sondern um den „Menschen in der Welt". Das von Hegel vergessene Komma gehörte also hinter „Welt".

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(mit dem gnostischen Terminus des Johannes-Evangeliums?) „die Welt" (xöo|iog).32‘’ An einer anderen Stelle charakterisiert er die zeitliche und umfangsmäßige Beschränktheit der Liebe auch so: „in den Momenten der glücklichen Liebe ist kein Raum für Objektivität; aber jede Reflexion hebt die Liebe auf, stellt die Objektivität wieder her und mit ihr beginnt wieder das Gebiet der Beschränkungen" (N 302; modifizierte 1. Fassung). Es ist jedoch nicht schwer zu erkennen, daß Hegel hier zwei Bedeutungen von „Liebe" vermischt bzw. einen reduzierten Liebesbegriff zugrunde legt. Das Versäumnis einer Klärung des strukturellen Unterschieds zwischen Eros und Agape, zwischen dem erfüllten, gegensatzlosen Einheitserlebnis und dem gegensatzintegrierenden Handeln aus der Gesinnung der Liebe rächt sich nun.^^^ So sinnvoll es einerseits ist, die Beziehung zwischen Romeo und Julia, die Vaterlandsliebe des Republikaners und die caritas des Samariters als eines Wesens zu verstehen (nämlich als Lebenim-Anderen oder im Im-Anderen-bei-sich-selbst-Sein), so verhängnisvoll muß sich andererseits das Verschieden ihrer unterschiedlichen Motivationen und Weltverhältnisse auf die Argumentation auswirken. Das Reich Gottes, in dem „Liebe, ein lebendiges Band, ... die Glaubenden vereinigt" (N 321; 2. Fassung)^^, erhält einen ganz anderen Charakter, je nachdem, ob „Liebe" als ungetrübte Freude und Harmonie oder als eine Aufgabe verstanden wird, gegebene Trennungen abzuarbeiten. Mit Hegels späteren Worten: es macht einen großen Unterschied, ob die Liebe ein vom Leid der Welt abgehobenes Spiel bleiben will oder sich zum Ernst eines Spieles entscheidet, das den „Schmerz, die Geduld und Arbeit" in sich enthält.^2^ Unsere Beobachtung, daß Hegel in der letzten Zeit seines Frankfurter Aufenthaltes sein während der Kant-Kritik gewonnenes Verständnis von der „Gesetz- und Pflichtlosigkeit" (N 275; 2. Fassung) der Gesinnung der 320 Das Thema Hegel und Gnosis wäre einer eigenen religionswissenschaftlichen Monographie wert. Es ist erstaunlich, wie sich beim frühen Hegel griechische Daseinsverbundenheit und Schönheitsempfindung durchdringen mit einem politisch dechiffrierten gnostischen Dualismus. Wer die gnostische Tradition kennt, wird bei Hegel die Verinnerlichung des Erlösungsmythos bemerken: der „Aufhebung einer Trennung im Leben" (N 388) entspricht vollkommen die Bewegung der Katabasis der erlösenden, weltgesetzfreien und polymorphen Lichtmacht der Liebe aus dem Pieroma der Subjektivität in die feindliche, gottentfremdete Welt der Herrschaft (Archonten) und des Hasses, sowie ihre Erhebung ins große Leben. (Eine originelle Interpretation von Hegels Rezeption des gnostischen „Pieroma" findet sich bei Hamacher: pleroma.). 321 Auch Liebrucks: Sprache und Bewußtsein. Bd 3.149, stellt fest, daß Hegel sich „um den Unterschied von agape und eros ... keine Sorgen" mache. 322 Vgl. Kol. 3,14 f. 323 Phänomenologie des Geistes. GW 9. 18.

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Menschenliebe tendenzweise unterläuft und „Liebe" terminologisch auf das Einheitsgefühl des erfüllten Augenblicks festlegt (man möchte sagen verniedlicht), ist bis zu einem gewissen Grad geeignet, eine Kontroverse in der Hegel-Literatur zu beheben. Sie legt nämlich einen der Gründe dafür frei, warum zwar bei Hegel „die Liebe nicht ein Zentralbegriff seiner Philosophie geworden ist"^^'*, wohl aber der Gedanke der Liebe „die innere Mitte des ganzen späteren Systems"^^ bleibt.^26 Die Ambiguität der „Liebe" muß aber auch Verwirrung stiften über den Sinn ihrer „Erfüllung" durch das religiöse Bewußtsein. Soll Religion nur die objektivitätsflüchtige Tendenz eines auf den Vereinigungsgenuß verkürzten Verständnisses von Liebe ergänzen oder etwa auch die Endlichkeit der Macht der Liebe in einer Welt der Gewalt? Das Verhältnis von Religion und Liebe wird nun noch komplizierter dadurch, daß Hegel mit Hölderlin die Religion als ästhetische Darstellung des Göttlichen, als Gestaltung der Liebe auffaßt. Was im Rückblick von der christlichen Urgemeinde gesagt wird, gilt allgemein. Die „Liebe ist ein göttlicher Geist, aber noch nicht Religion; daß sie dazu würde, mußte sie zugleich in einer objektiven Form sich darstellen; sie, eine Empfindung, ein Subjektives mußte mit dem Vorgestellten, dem Allgemeinen zusammenschmelzen, und damit die Form eines anbetungsfähigen und würdigen Wesens gewinnen". Der „Trieb nach Religion" ist also, wie Hegel in Weiterführung seiner frühen Frankfurter Aufzeichnungen unter dem Titel Eine Religion stiften (s. o. 209 f) formuliert, das „Bedürfnis, das Subjektive und Objektive, die Empfindung und die Forderung derselben nach Gegenständen, den Verstand durch die Phantasie in einem Schönen, einem Gotte zu vereinigen" (N 332; 2. Fassung). Oder noch anders: „Liebe ist noch nicht Religion .. .; denn nur eine durch Einbildungskraft objektivierte Vereinigung in Liebe kann Gegenstand einer religiösen Verehrung sein (N 297; 1. Fassung). Wie sollte aber Religion als ästhetische Objektivation der Liebe deren praktische „Schranken" aufheben können? Welcher Art wäre dann die Entschränkung durch Religion? Und wie müßte schließlich die Darstellung

Nipperdey: Positivität und Christentum. 78. Hoffmeister: Hölderlin und Hegel. 30. 325 Ein anderer Grund für die spärliche Verwendung des Ausdrucks „Liebe" in Hegels späterer Philosophie dürfte seine „eleusinische" Scheu der Profanisierung des „Heiligen" (die Liebe ist für Hegel „das Heilige"; N 319, 270, 399) durch das Anpreisen seines bestimmten Namens sein. Der Name der Liebe drohte zur Münze für den „Markt" der Meinungen und Weltanschauungen zu werden. (Es ist der Liebe „eine Art von Unehre, daß sie, ein Lebendiges, ein Geist, mit Namen genannt wird"; 1. Fassung von N 296.)

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des Göttlichen beschaffen sein? Auf die ersten beiden Fragen findet sich in den Manuskripten zum Geist des Christentums eine Antwort nur an wenigen Stellen und in gedrängter Form. Zu Anfang der Erstfassung bemerkt Flegel, „religiöse Gebräuche" seien „das Geistigste, das Schönste, dasjenige . . ., was auch die durch die Entwicklung notwendigen Trennungen noch zu vereinigen strebt, und diese Vereinigung im Ideal [,] auch in einer Handlung, einem Symbol auszudrücken, sie als völlig seiend [,] der Wirklichkeit nicht mehr entgegengesetzt darzustellen sucht" (1. Fassung von N 262). Ähnlich lautet eine Notiz im Grundkonzept: „im Ideal das völlig vereinigt, was noch getrennt ist, die Griechen in Nationalgöttern; die Christen in Christus" (N 389) - und in einem Zusatz: „die Götter sind nur die Ideale der einzelnen Trennungen, ist alles getrennt, so ist nur Ein Ideal." (N 391) Hegel erblickt also in den religiösen Idealen die Darstellung einer erstrebten Einheit, die in der Praxis „noch" nicht verwirklicht ist. Während nun die historischen „Götter" Ideale im Kantischen Sinne sind, also Ideen von einer Einheit in individuo repräsentieren, kann dasjenige Ideal, das Hegel selbst im Blick hat, nicht wieder durch ein Individuum dargestellt werden. Denn die „Trennungen", an deren Aufhebung er interessiert ist, sind die selbstgeschaffenen Entgegensetzungen und Isolierungen der nur für sich lebenden, „einander entfremdeten Menschen" (N 245). Hegels religiöses Ideal ist folglich wieder nichts anderes als das im Weinstock symbolisierte Reich Gottes: „die göttliche Harmonie" (N 305 Fn; 1. Fassung), die „lebendige Harmonie von Menschen, ihre Gemeinschaft in Gott" (N 321; 2. Fassung). Dieses Ideal nennt er jedoch an einigen Stellen auch eine „Idee"^^^, womit er seinen Berner Sprachgebrauch (s. o. 98) wiederaufnimmt. Es ist die Idee, wie sie nach Hegel auch „das ganze der Religion, wie sie Jesus stiftete", „vollendet und umfaßt" (ebd.). Der Sinn der ergänzenden Erfüllung der Empfindung der Liebe durch das religiöse Bewußtsein liegt also in dessen Orientierungsfunktion. Die Religion, wie sie Hegel aus dem Neuen Testament zu rekonstruieren sucht, überschreitet die Gegenwartsschranken der Liebe durch die Eröffnung ihrer ethischen Zukunftsperspektive. Ihr Prinzip ist nicht nur Liebe, sondern auch Glaube (ju'oxig) und Hoffnung (eXju'g).^^® Allerdings darf man diese Zukunftsdimension der religiösen Weltorientierung nicht als utopisch-chiliastisch mißverstehen. Würde das Reich Gottes, der „Zu-

Vor allem in der Zweitfassung; z. B, N 321 f. 3“ 1. Kor. 13,13.

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stand, wenn die Gottheit herrscht"^^^, in ein futurisches Jenseits geschoben, so wiederholte sich nur der von Hegel als verheerend erkannte jüdische Chorismos zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Sollen und Sein. Gott würde wieder zu Abrahams „Ideal der Entgegensetzung", auf dessen Altar eine verfluchte, weil gottlose Gegenwart im Namen des Höchsten geopfert zu werden drohte. Was Hegel daher von Jesus sagt, gilt auch für den Gedanken vom Reich Gottes. Zu meinen, daß Jesus „ein [bloßes] Ideal sei, heißt eben, ihm das Leben nehmen, zu einem Gedanken machen ... — und ein Gedanke ist nicht der lebendige Gott. Ihn zu einem bloßen Lehrer der Menschen machen^^o, heißt die Gottheit aus der Welt, der Natur und dem Menschen nehmen" (N 391; Zusatz zum Konzept). (Übrigens will Hegel hier — wie noch nachzuweisen ist — nicht einen Gegensatz zwischen Jesus und den übrigen Menschen festmachen.) Es ist der Sinn des Perfekts bei Mt. 3,2 („fjyYiJtEV . . . f| ßaoikeia TCöV övgavüjv"), daß das Reich Gottes kein utopischer Gedanke, sondern bereits angebrochen ist. Es hat wirkliches Dasein, sobald zwei Menschen „in der Liebe, im Geiste Eins" sind (N 298; 1. Fassung), sobald „lebendige", d. h. freie und ganzheitliche „Beziehungen" vorhanden sind, die Hegel deshalb auch die „geistigen Beziehungen" nennt (N 305; 2. Fassung), weil „die Beziehung nur im Geiste ist" (N 340; 2. Fassung)^^^ durch ihn gestiftet werden muß und nichts Gegebenes ist. Die von Hegel gesuchte Religion muß also, als das am Ideal der freien Gemeinschaft orientierte praxisleitende Bewußtsein einer Gemeinschaft, das Ideal verstehen als „der Wirklichkeit nicht mehr entgegengesetzt". Wenn sie andererseits kein illusionäres Selbstverständnis des Menschen sein soll, das die Wirklichkeit als solche zum Ideal verklärt, so bleibt nur übrig, die Wirklichkeit aus dem Ideal heraus zu deuten. Das heißt für Hegel, die gegenwärtige Welt der Beziehungslosigkeit und Herrschaft zu verstehen als die schon in ihrer Aufhebung begriffene Zerstückelung eines ursprünglich Ganzen. Der Begriff aber, der sich zur Charakterisierung dieses verletzten und an seiner Heilung arbeitenden Ganzen anbietet, ist wieder das „Leben" als Prozeß der Integration gegebener Gegensätze. Dieser noch näher zu betrachtende Bewegungsaspekt des universalen Organisationsprinzips „Leben" ist zu unterscheiden sowohl vom „Leben" qua Handeln eines Individuums aus dem Geist freier Verbundenheit als Zu diesem sprachlichen Mißgriff s. o. 188, Anm. 127. Hierzu hatte Hegel allerdings im Leben Jesu geneigt. Hegel meint zwar an dieser Textstelle gedankliche Beziehungen, doch gilt der Satz auch für die praktischen Beziehungen.

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auch vom „Leben" qua freiem „Zusammenleben" der „Lebendigen", das durch das Handeln hergestellt und unterhalten wird. Den Gedanken der absoluten Ganzheit des Lebens, der im Kontext der Schicksalstheorie nur angeklungen war, entwickelt Hegel schon an einer Stelle der Erstfassung vom Geist des Christentums weiter, und zwar in Ausdeutung des christlichen Trinitätsgedankens, dessen Struktur der ehemalige Theologiestudent bereits im Neuen Testament angelegt findet. Wie früher im Leben Jesu (s. o. 117) interpretiert er auch jetzt das Verhältnis von Vater und Sohn mit den Begriffen „unendlich" und „endlich", den Geist aber als das Verbindende zwischen Vater und Sohn. Dieser trinitarische Gedanke der Einheit von Vater und Sohn im Geist ist für Hegel der geschichtliche Gegenentwurf der ,,edle[n] Natur" (N 285; 2. Fassung) Jesu gegen die jüdische „Unnatur" (N 329; Zusatz zur 2. Fassung), d. h. gegen die Zerreißung der Ganzheit in einen „reichen Oberherrscher der Welt" (N 312; 2. Fassung) und eine „götterlose, unheilige Natur" (N 263; 2. Fassung). „Der Idee der Juden von Gott als ihrem Herren und Gebieter über sie, setzt Jesus das Verhältnis Gottes zu den Menschen als eines Vaters gegen seine Kinder entgegen." (N 302; modifizierte 1. Fassung) Mit dieser Bestimmung ist ein Hauptpunkt der späteren „Dialektik" gegeben: die Immanenz des Endlichen im Unendlichen. Hegel läßt sich bei ihrer gedanklichen Durchdringung leiten vom archetypischen, in der Geschichte der Trinitätsspekulation immer wieder auftauchenden Bild der arbor vitae. Gott ist hiernach auf solche Weise Vater der Menschen, „wie ein Stamm der Vater der Zweige, des Laubes und der Früchte ist" (N 304 Fn; 1. Fassung). Mit der genetischen Einheit Vieler im Lebensbaum^^^ Hegel zunächst Joh. 5,26^^^ auslegen und betont dabei die Unfaßbarkeit dieser Einheit für das verständige Begreifen. „Der Zusammenhang des Unendlichen mit dem Endlichen ist freilich ein heiliges Geheimnis, weil er Leben und also das Geheimnis des Lebens ist." Zertrennt man dagegen diese mystische Identität, „spricht man . . . von zweierlei, von einer göttlichen und menschlichen Natur, so ist keine Verbindung zu treffen, denn auch in jeder Verbindung sollen sie noch zwei bleiben, wenn beide als absolute Verschiedene gesetzt sind" (ebd.). Mit der Annahme einer Einheit von menschlicher und göttlicher Natur entgeht man der einen Aporie nur um den Preis, in eine neue hineinzugeZum biblischen Bild vom „Baum des Lebens" vgl. auch Offb. 22,2; 14; 19. 333 Hegel übersetzt: „Der Vater hat Leben in ihm selbst und so hat er auch dem Sohne Leben in sich selbst zu haben gegeben" (N 304 Fn; 1. Fassung).

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raten; wie sich nämlich gleichwohl die Differenz zwischen Menschlichem und Göttlichem festhalten läßt. Hegel sieht dieses Problem in der doppelten Selbstcharakterisierung des biblischen Jesus als „Gottessohn" und „Menschensohn" ausgesprochen. Dieser Jesus ist nicht ganz Gott und ganz Mensch, sondern als ein aus dem Geist lebender Mensch der „göttliche Mensch" (N 311; 2. Fassung). Jesus Christus ist für Hegel nur das fleischgewordene Ideal der vollendeten Menschennatur.^34 Deshalb stellt sich die Frage, wie sich der Erdenrest des Menschlichen, die „Individualität" Jesu damit vereinbaren läßt, daß in ihm „der Geist Gottes wohntje]" (N 304 Fn; 1. Fassung). Hegel versucht folgenden Ansatz zu einer Antwort. „Von dem einigen, ungeteilten, oder unendlich gegliederten Lebendigen kann ein Glied sich als einen Teil setzen, und von den anderen unterscheiden; dieses modifizierte . . . Leben ist als reines Leben in dem reinen All des Lebens; als Modifikation setzt es sich anderen entgegen." (ebd.) Offensichtlich ist mit dem „modifizierten" Leben das natürliche, mit dem „reinen" Leben das höhere oder das Leben des Geistes gemeint. Dann stellt sich jedoch u. a. die Frage, in welcher Beziehung das „reine All des Lebens" als das universale Reich der Geister zum „unendlich gegliederten Lebendigen" steht. Wenn dieses Problem in der Erstfassung vom Geist des Christentums auch offenbleibt, so ist doch Hegels Tendenz unverkennbar, die Totalität des Universums nach dem Ideal der sittlichen Totalität als das Leben des einen göttlichen Geistes zu interpretieren. Die Religion, die Hegel dann in der weiteren Überarbeitung des Manuskripts findet, ist also deshalb das JiXr|Qa)|j.a der Liebe, weil sie das Weltganze nach Analogie der Liebe als das Wirken eines göttlichen Geistes versteht. Sie vermag in den Bewegungen der organischen Welt ein Abbild des Handelns aus dem Geist freier Verbundenheit wiederzuerkennen und damit zu einer universalen „Anschauung des Unvergänglichen"^^^ jxy gelangen. Auf diese Weise „rechtfertigt" Hegel den „Trieb nach Religion" als das Bedürfnis nach spekulativer Kontemplation des sittlichen Handelns. Der Kreis der frühen Manuskripte, die Hegels Suche nach einem lebendigmachenden Geist, nach einer empfindungsproduktiven, sittlichkeitsfördernden und gemeingeiststiftenden Religion offenbarten, beginnt sich zu

Ähnlich schon Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels. 103 f: „Christus ist der Mensch, der seine Einheit mit dem Absoluten weiß"; Schmidt-Japing: Die Bedeutung der Person Jesu. 72: „Was für Jesus gilt, paßt auch für jeden anderen Menschen"; Nipperdey: Positivität und Christentum. 94: Christus ist das „Urbild des wahren Menschen". 335 Vgl. Hegels Brief an Nanette Endel, 25. Mai 1798. Briefe. Bd 1. 57.

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schließen. Bevor jedoch die ersten Ansätze zu dieser Religion aus dem Sozialethos freier Verbundenheit nachgewiesen werden, muß Hegels Kritik der ersten Christengemeinde, die sich vorwiegend in den vermutlich letzten Notizen zum Geist des Christentums findet, betrachtet werden, ln der frühen Gemeinde nämlich entdeckt Hegel bereits ein Christentum, das seinen Stifter mißverstanden hat — ein Christentum, das mit der wahren Freiheit des Christenmenschen unvereinbar ist.

b) Eine leblose Liebe — Kritik der unpolitischen Konventikel-Solidarität der christlichen Urgemeinde und ihres Bedürfnisses nach einem verdinglichten Gott Hegels Frankfurter Kritik der christlichen Urgemeinde stellt eine partielle Selbstkritik dar. Hatte er in Bern vor allem die moralische Unselbständigkeit und den Autoritätsgehorsam der ersten Christen gerügt, so kritisiert er jetzt deren Konsequenz: das harmonistische Verständnis vom Geist der Liebe und damit vom Reich Gottes. Wie so oft in seiner Entwicklung gelangt Hegel auch hier durch die Kritik einer geschichtlichen Geisteshaltung zur Läuterung seines eigenen Selbstverständnisses. Aufmerksamen Lesern wird es nicht entgehen, daß sich auch hinter diesen Analysen, die den Anschein eines geschichtsgetreuen Rekonstruktionsversuchs erwecken könnten, wieder einmal eine Gegenwartsdiagnose verbirgt. Ins religiöse Sektierertum der Spätantike imaginiert ein morphologisch geschulter Blick das kryptoreligiös-politische Sektierertum zeitgenössischer Bewegungen. Es hat zunächst den Anschein, als wollte Hegel sein ganzes bisheriges Ideal eines Reichs Gottes als amabilis insania in Frage stellen. „Gibt es eine schönere Idee als ein Volk von Menschen, die durch Liebe aufeinander bezogen sind? eine erhebendere, als einem Ganzen anzugehören, das als Ganzes, Eines der Geist Gottes ist — dessen Söhne die Einzelnen sind? Sollte in dieser Idee noch eine Unvollständigkeit sein, daß ein Schicksal Macht in ihr hätte? oder wäre dies Schicksal die Nemesis, die gegen ein zu schönes Streben [!], gegen ein Ueberspringen der Natur wütete?" (N 322; 2. Fassung) Im folgenden zeigt sich jedoch, daß allein die Vorstellung von einer Volksgemeinschaft, deren Glieder unmittelbar und ausschließlich „durch Liebe aufeinander bezogen" sind, für Hegel fragwürdig wird. Die Kritik der Liebesgemeinde wird daher eingeleitet durch eine erneute Verständigung über das Wesen der Liebe. „In der Liebe hat der Mensch sich selbst in einem andern wiedergefun-

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den." Sie ist „eine Vereinigung des Lebens"^^^, eine geistige Symbiose mehrerer Lebendiger. In seiner skizzenhaften Beschreibung der „Vereinigung" bemerkt Hegel nun zwei Kennzeichen, die in seinen Augen für eine religiösö Gemeinschaft verhängnisvoll werden: die direkte Proportion zwischen der Intensität der Beziehung und ihrer Isolationstendenz, und das reziproke Verhältnis zwischen Umfang und Einigkeit der Gemeinschaft. Das erste Merkmal formuliert Hegel auch so: „je inniger die Liebe sich konzentriert, desto ausschließender ist sie, desto gleichgültiger für andere Lebensformen" (N 322; 2. Fassung). Das zweite wird in der folgenden Argumentation bereits vorausgesetzt. „Je vereinzelter die Menschen in Ansehung ihrer Bildung und ihres Interesses, ihrem Verhältnis zur Welt stehen, je mehr Eigentümliches jeder hat, desto beschränkter wird die Liebe auf sich selbst; und um das Bewußtsein ihres Glücks zu haben, ... ist es notwendig, daß sie sich absondert, daß sie sich sogar Feindschaften erschafft." (ebd.) Die Reaktion einer wesentlich am Solidaritätsgenuß orientierten Gruppe besteht also darin, daß sie störende Differenzen zu beseitigen sucht durch eine künstlich, nämlich in Abgrenzung gegen die Außenwelt erzeugte Identität. Aus dieser möglicherweise totalitären Tendenz folgert Hegel, daß eine „Liebe unter vielen" nur einen „gewissen Grad" der „Innigkeit" zulasse und außerdem eine „Gleichheit des Geistes, des Interesses, vieler Lebensverhältnisse" erfordere. Eine solche „Gemeinsamkeit des Lebens, diese Gleichheit des Geistes" beruhe jedoch nicht auf Liebe, noch weniger auf „Uebereinstimmung in Erkenntnis, in gleichen Meinungen", sondern — „auf gleicher Not". „Eine Menge gleicher Zwecke, der ganze Umfang der physischen Not, kann Gegenstand vereinigter Tätigkeit sein, in dieser stellt sich der gleiche Geist [dar]" (ebd.). Diese einleitenden Thesen zur Gemeindekritik sind für Hegels Entwicklung bahnbrechend, weil sie erstmals in der Frankfurter Epoche eine Anerkennung der Sphäre der Not, vielleicht auch eine realistischere Ein-

Ähnlich schreibt Hegel in der zweiten Fassung des Fragments Über die Liebe (Fragment Schüler Nr 84; datiert auf HerbstAVinter 1798/99): In der Liebe sei das „Ganze nicht als in der Summe vieler Besonderer, getrennter enthalten; in ihr findet sich das Leben selbst, als eine Verdoppelung seiner Selbst, und Einigkeit desselben" (N 379). Von dieser Selbstfindung im anderen Leben ist jedoch die Wiederfindung des eigenen, durch ein Vergehen entzweiten Lebens im geläuterten Gefühl der Liebe zu unterscheiden, die Hegel mit ähnlichen Worten beschreibt: Das „Gefühl des Lebens, das sich selbst wiederfindet, ist die Liebe, und in ihr versöhnt sich das Schicksal" (N 283; 2. Fassung). „Das Leben hat in der Liebe das Leben wiedergefunden . .. das Leben entzweite sich mit sich selbst und vereinigte sich wieder." (N 289; 2. Fassung)

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Schätzung der natürlichen Bedingtheit des Menschen verraten. „Not" meint in diesen Ausführungen nicht einen katastrophenartigen Ausnahmefall, sondern (in Übereinstimmung etwa mit Schillers Sprachgebrauch in den Briefen Über die ästhetische Erziehung) das Genötigtwerden des Menschen von seinen physischen Bedürfnissen. Mit dieser Hinwendung des Blicks auch auf die niedrigeren Triebe des Menschen beginnen sich aber in der zweiten Fassung vom Geist des Christentums auch die Begriffe „Leben" und „Geist" zu naturalisieren. Die „Gemeinsamkeit" des geistigen Lebens, von der oben die Rede war, ist in erster Linie keine Harmonie der Gesinnungen, sondern eine Affinität natürlicher Bedürfnisse und Verhaltensweisen. Hegel überträgt nun seine Einsichten in die Dynamik einer Gemeinschaft auf die urchristliche Gemeinde. In ihr sieht er die Exklusionstendenz der Gruppe und ihren regressiven Hang zur Ausschaltung unliebsamer Divergenzen verstärkt durch ein puristisches und quietistisches Fehlverständnis der Agape. „In der Aufgabe der Liebe verschmäht die Gemeinde jede Vereinigung, die nicht die innigste, jeden Geist, der nicht der höchste wäre." Jede Beziehung zu ihrem Anderen, der Welt, hätte bedeutet, daß sie „von der Liebe, ihrem einzigen Geiste, gelassen" hätte und „ihrem Gotte ungetreu geworden" wäre (N 323; 2. Fassung). Wer die Ironie dieser Sätze übersieht, gelangt leicht zu einer falschen Beurteilung von Hegels Liebesverständnis.3^7 Nicht die Liebe, sondern ihre Fetischisierung wird ihm suspekt. Hegel bringt seinen eigentlichen Kritikpunkt auf die paradoxe Formulierung, daß für die Gemeinde „die Liebe Liebe sein und nicht leben sollte" (N 336; 2. Fassung). Was nämlich oben ironisch „Aufgabe der Liebe" genannt wurde, erweist sich als eine Flucht vor allen Aufgaben, als ein Weglaufen vor der Einheitserarbeitung in den Einheitsgenuß. Schon in der ersten Fassung hatte es geheißen: „Aufhebung des Eigentums, Gemeinschaft der Weiber, Essen, Trinken und Beten nicht Tätigkeit" - die ersten Christen waren „in ihrem Gott nicht lebendig verei-

Für die zahlreichen Fehleinschätzungen in der Hegel-Literatur sei hier nur stellvertretend genannt Schmidt-Japing: Die Bedeutung der Person Jesu. Er erblickt in Hegels Jesus- und Gemeindekritik den „Sieg des naturhaften Lebens über das reine Leben" (75-80), der eng Zusammenhänge mit einer „Streichung", ,,totale[n] Verleugnung" und „Ausmerzung des Willens" in Hegels Ethik (37, 39, 74 u. ö.). Schließlich habe Hegel festgestellt; das reine Leben oder die „Liebe bringt es nur zum Konventikel, nicht zur vollen Gemeinschaft" (77). Trotz dieser Verwechslung von Liebe und Gruppenegoismus bleibt es Japings Verdienst, in Hegels Frankfurter Rede vom „Leben" einen vitalen und einen sittlichen Aspekt unterschieden und damit einen Differenzierungsgrad erreicht zu haben, der vielen neueren Arbeiten mangelt.

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nigt" (N 305 Fn). Statt nämlich den Gott der Liebe dadurch zu rühmen, daß man aus seinem Geist heraus in den gegebenen Verhältnissen tätig wird, wurde dieser Gott wieder zu einem Gegenideal der unreinen Wirklichkeit hypostasiert und damit die Weltflucht moralisch legitimiert. Der Dienst am Idol sollte rein bleiben, weil die Welt es nicht ist. Das „Verschmähen aller Formen des Lebens" (N 331; 2. Fassung), die „Furcht vor jeder Lebensform", ja die „Aengstlichkeit" vor den „Berührungen" mit der „Welt" (N 330; 2. Fassung), lag für Hegel zutiefst im Wesen dieser Liebe. Denn sie war eine ihr Anderes, das nicht Liebe ist, „verachtende Liebe" (N 335; 2. Fassung).Der Staat, weil er die Sphäre der Gesetzesherrschaft darstellt, blieb für sie eine „fremde Macht, die man verachtet" (N 328; 2. Fassung), ein ungeheures Negatives, der sie nicht ins Angesicht schauen wollte, sondern von der sie sich voller Abscheu wegwandte. Weil diese Liebe nicht in den Umkreis der Herren der Welt treten und in öffentlichen Ämtern Veränderungen bewirken, sondern zur „Unschuld" der „Biene"®®^ zurückkehren wollte, war für sie „eine Menge tätiger Verhältnisse, lebendiger Beziehungen verloren" (N 327; 2. Fassung). Hegel sieht nun, daß dieses unwahre, weil die Welt ihrem Schicksal überlassende Verständnis des Geistes freier Verbundenheit aufs engste zusammenhängt mit dem Lebenswandel des Sektenstifters. Es ist gleichsam das Produkt der Fixierung einer Fixierung von seiten Jesu. Dieser hatte seine Botschaft, daß sein Reich „nicht von dieser Welt" ist®^, so verstanden, daß eine Veränderung der Wirklichkeit auf das Ideal hin nicht nur gegenwärtig nicht „möglich", sondern daß dieses jenem „entgegengesetzt" sein müsse (N 327; 2. Fassung). Damit wurde sein Ideal wieder zu einer abstrakten Utopie, einer „Wiederherstellung" seines „leerausgehenden Lebens in der [bloßen] Idealität" (N 329; 2. Fassung). Die Gemeinde machte aber gerade ihres Meisters Entgegensetzung eines reinen Göttlichen gegen eine unreine Realität zum absoluten, unhinterfragten Prinzip ihrer Lebensführung und wiederholte so nur den jüdischen Chorismos. „In Gott allein [!], im Glauben kann nur das sich vereinigen, was eine Wirklichkeit sich entgegensetzt, von ihr sich aussondert; damit war diese Entgegensetzung fixiert und ein wesentlicher Teil des Prinzips des Bundes; und die Liebe mußte immer [!] die Form der Liebe, des Glaubens an Es ist nötig darauf hinzuweisen, daß Hegel immer die unmittelbare Gemeinde vor Augen hat, also nicht etwa in makabrer Weise diejenige „Aussonderung von den Menschen" (N 330) kritisiert, die der späteren Gemeinde durch organisierte Verfolgungen aufgezwungen wurde. Hölderlin: Hyperion. I, 1. StA 3.37f. ^ Joh. 18,36.

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Gott behalten, ohne lebendig zu werden, und in Gestalten des Lebens sich darzustellen" (N 330; 2. Fassung). Mit dieser bestimmten Festlegung der Liebe auf eine objektive, anachoretische Daseinsform war es nicht nur beschlossen, daß die Liebe, die eigentlich „das höchste Leben" ist, „unlebendig" bleiben sollte (N 324; 2. Fassung). Mit der Fixierung dessen, was Liebe ist, konnte vielmehr auch — wie Fiegel schon in der Berner Positivitätsschrift gewahr wurde — „sehr leicht" die „Schwärmerei" eines Konventikels reingestimmter Seelen in „Fanatismus" Umschlägen. Den eingangs skizzierten Tendenzen gemäß mußte die Schwärmergruppe sich durch ein Allgemeines gegen die Außenwelt definieren, „um sich in ihrer Beziehungslosigkeit zu erhalten" (N 331; 2. Fassung). Hegel wendet sich aber nun nicht den möglichen totalitären Folgen zu, die sich ergeben, wenn die Sektensolidarität sich verbindet mit der „Anmaßung, rein zu sein" (N 329; 2. Fassung), sondern er fragt nach einem spezifischen „Bedürfnis" dieser Gemeinschaft, deren Gesinnung sich vom Handeln, deren „Lehre" sich vom „Leben" abgekoppelt hat, und deren „einzige . . . Tätigkeit" nur noch in der Ersatzhandlung des „Proselytismus" besteht (N 323; 2. Fassung). Wie schon Dilthey annähernd erkannt hat, stellen die letzten Kapitel des Konvoluts zum Geist des Christentums nichts geringeres dar als den Versuch, aus diesem Bedürfnis der Anhängerschaft Jesu den Mythos von Christus und seiner fleischlichen Auferstehung zu erklären.^i Bei dieser Ableitung geht Hegel auf den unmittelbaren Jüngerkreis Jesu zurück, dessen „Glaube an reines Leben" von seinem Meister abhängig gewesen war, „an dem Individuum, Jesus, gehangen" hatte (N 334; modifizierte 1. Fassung). Nach dessen Tod war die junge Gemeinde wie eine Herde ohne Hirt. „Er hatte alles mit sich ins Grab genommen; sein Geist war nicht in ihnen zurückgeblieben." (N 333; 1. Fassung) Hegel wiederholt hier nur noch einmal das Kennzeichen der Gemeinde: der Geist Jesu, d.h. die Gesinnung sich entäußernder Hingabe wurde nicht in seinen Schülern lebendig; das Licht, das in die Welt gekommen war, hatten sie nicht erkannt. „In der Lebenslosigkeit der Liebe" schon der frühsten Gemeinde „blieb der Geist ihrer Liebe so dürftig, fühlte sich so leer, daß er den Geist, der an ihn ansprach, nicht voll in sich, nicht in [!] sich lebendig erkennen konnte, und ihm fremde blieb" (N 336; 2. Fassung). Mit dem Karfreitag war ihnen lediglich das „Andenken", das Vor-„Bild reinerer Menschheit" geblieben, von dem sie abhängig waren und das sie als Fetisch brauchten. „Aber der Verehrung dieses Gei-

Vgl. Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels. 111, 113.

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stes, dem Genuß des Anschauens dieses Bildes wäre das Andenken an das Leben dieses Bildes zur Seite gestanden, dieser erhabne Geist hätte an seiner verschwundenen Existenz immer seinen Gegensatz gehabt; und die Gegenwart desselben vor der Phantasie wäre mit einem Sehnen verbunden gewesen, das nur das Bedürfnis der Religion bezeichnet hätte, aber die Gemeinde hätte noch keinen eignen Gott gehabt." (N 334; 2. Fassung) Hegel schreibt im Konjunktiv, weil er bereits den Weg vor Augen hat, auf dem sich das religiöse Bedürfnis der frühen Gemeinde befriedigte. Schon die Erstfassung des Textes zeigt die quasitranszendentale Methode, nach der ein scheinbar Gegebenes, Objektives abgeleitet wird aus der Interpretationskunst der bedürftigen Subjektivität: die „Auferstehung wurde der Grund ihres Glaubens und ihres Heils"; ergo „mußte das Bedürfnis [nach] derselben" bei den ersten Christen „sehr tief" gewesen sein (N 333*’.). Weil das christliche Osterereignis das Produkt einer kollektiven Phantasie, also ein religiöser Mythos ist, wäre es völlig Fehl am Platze, wenn man es zum Objekt des „Geschichtsforschers" machte. Der reduzierende Verstand versteht nicht den Sinn des religiösen Mythos, weil er die mythische „Begebenheit" gerade von dem individuellen Geist isoliert, dessen Ausdruck sie ist. Er ist der „Tod der Religion" (N 334; 2. Fassung). Weil Hegel dagegen das „Recht" der bedürfnisgetriebenen Subjektivität und ihres Verlangens nach ganzheitlichen Daseinsinterpretationen anerkennt und diese Subjektivität (wie sein imaginärer Geistesverwandter Jesus) den „Juden", das heißt den Anbetern des absoluten Gesetzgebers „Verstand" gegenüber verteidigen möchte - darf man annehmen, daß der folgende Satz völlig ohne die Überheblichkeit gemeinaufklärerischer Entlarvungsabsicht niedergeschrieben worden ist. „In dem Auferstandenen und dann gen Himmel Erhabenen fand das Bild wieder Leben, und die Liebe die Darstellung ihrer Einigkeit; . . . das Sehnen" der vom Idol verlassenen Liebesgemeinde „hat sich selbst als lebendiges Wesen gefunden und kann nun sich selbst genießen, dessen Verehrung nun die Religion der Gemeinde ist; das Bedürfnis der Religion findet seine Befriedigung in diesem auferstandenen Jesus, in dieser gestalteten Liebe" (N 334; modifizierte 1. Fassung). Es kann also nicht die Fiktivität des Christus-Mythos, sondern muß seine inhaltliche Bestimmtheit samt zugrundeliegendem Bedürfnis sein, an der sich Hegel stößt. Kritisiert wird genau die „Apotheose", die „Deifikation", sprich die Vergötzung menschlicher Endlichkeit, die Hegel kurioserweise noch heute von Theologen vorgeworfen wird. „Es ist nicht die Knechtsgestalt, die Erniedrigung selbst, an welcher als der Hülle des

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Göttlichen sich der Trieb nach Religion stieße, wenn die Wirklichkeit sich damit begnügte, Hülle zu sein, und vorüber zu gehen; aber so soll sie fest und bleibend" noch „an und in dem Gotte zu seinem Wesen gehören, und die Individualität Gegenstand der Anbetung sein; und die im Grabe abgestreifte Hülle der Wirklichkeit ist aus dem Grabe wieder emporgestiegen und hat sich dem als Gott Erstandenen angehängt" (N 335; 2. Fassung). In den obigen Ausführungen über die frühe Gemeinde ist auch bereits Hegels Erklärung für dieses „traurige Bedürfnis" der Jünger nach einem „Wirklichen" enthalten, das „dem Vergötterten immer wie Blei an den Füßen hängt" (ebd., 1. Fassung). Die „Wirklichkeit", d. h. die objektive Bestimmtheit dieses christlichen Gottes gründet in der Autoritätsgläubigkeit und in der exklusiven Gruppensolidarität seiner Anhänger. Weil ihre Liebe die Nachahmung der Liebe ihres Meisters war, der ihnen als das „geoffenbarte, gestaltete Göttliche" galt (N 334; 2. Fassung), konnte es auch nicht die selbständige Liebe, der Geist freier Verbundenheit selbst sein, der die „durchgängige Vereinigung" unter ihnen „stiftete". Sie bedurften außer dieser freien Macht freier Vereinigung wieder eines „andern Bandes", das sie „verknüpfte". Dieses Band — Hegel meint natürlich eine Kette — mußte erneut die Gestalt eines gegebenen Allgemeinen haben, unter das sie ihre Existenz subsumierten. Die Gemeinde mußte ihre bedrohte Einheit „an einer Wirklichkeit erkennen". Dieses objektive Einheitskriterium „war nun die Gleichheit des Glaubens, die Gleichheit, eine Lehre empfangen, einen gemeinschaftlichen Meister und Lehrer zu haben. Dies ist eine auszeichnende Seite des Geistes der Gemeine, daß das Göttliche, das sie Vereinigende, die Form eines Gegebenen für sie hat" (N 336; 2. Fassung). Zugleich mußte dieses sanft über sie herrschende Symbolen die Einzigartigkeit ihrer exklusiven Gruppenliebe festlegen. „Die Gemeine hat das Bedürfnis eines Gottes, der der Gott der Gemeine ist, in dem grade die ausschließende Liebe, ihr Charakter, ihre Beziehung zueinander dargestellt ist." (N 333; 2. Fassung) Die universale „Gottheit der Welt", der „Gott . . . des Ganzen", in dem sich Jesu eigenes „Bedürfnis" nach Religion befriedigt hatte, wäre nicht „die Darstellung ihrer [!] Liebe, ihres [!] Göttlichen" gewesen (N 332; 2. Fassung). Jesus hatte geglaubt, daß seiner Schüler „Abhängigkeit von ihm . . . mit seinem Tode aufhören" werde, daß sie „in sich selbst den Führer in alle Wahrheit finden und Söhne Gottes sein" würden (N 305 Fn; 1. Fassung); - er hat sich nach Hegel getäuscht. Das „Leben" und das „Licht" des selbstbewußten Handelns, das Jesus nach dem Zeugnis des vierten Evangelisten in die Welt des Todes und der Finsternis bringen sollte, wurde nicht entzündet. Der Menschen „eigner Feuerstoff", ihre „eigene Flam-

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me" ist nicht „in Brand" geraten; sie blieben passiv „wie ein dunkler Körper, der nur fremden Glanz trägt" (N 313; 2. Fassung).^42 Trotz seiner verständnisvollen Haltung gegenüber dem religiösen Bedürfnis der ersten Christen läßt also Hegel keinen Zweifel an seinem skeptischen Verdikt: die Lehre von der exklusiv heilsbringenden Kraft des einzigen Gottessohns Jesus Christus ist das Dogma, dessen die geistige Lfnselbständigkeit bedurfte, um durch die Unterordnung ihrer „unlebendigen Liebe" (N 336; 2. Fassung) unter die toten Zeichen eines ewigen ordo salutis sich eines herabträufenden Segens343 teilhaftig zu machen, den sie selbst nicht austeilen konnte. „Der theologiekritische Effekt" von Hegels Frankfurter Kritik des Christentums ist in der Tat „nicht minder scharf als in der späten Berner Konzeption".^ Was hat nun Hegel, der das wahre Christentum der gewaltlos vereinigenden Gottheit rekonstruieren und vom jüdischen Dualismus reinigen wollte, mit seinem Bild vom lebendigen Bild der Christen gewonnen? Ist sein Plan gescheitert, ähnlich wie der seiner großen historischen Leitfigur? Wird in Frankfurt „eine Art Schlußbilanz des frühhegelschen Denkens in Sachen Religion" gezogen; offenbaren die Texte den ,,tragische[n] Absturz" eines vom „jugendschönen Religionsbedürfnis" Beflügelten, dessen „Ernüchterung in letzter Minute" alle Knabenmorgenblütenträume in den Abgrund der „Positionslosigkeit" hineinreißt?345 Es ist zwar eine verzeihliche Schwäche mancher theologischen Hegel-Interpretation, daß sie Hegels unübersehbaren Aufschwung zur Philosophie als Absturz des Geistes bewertet; doch sollte sie nicht — durch die Verwechslung ihres eigenen Absturzes, den sie durch eine Aneignung Hegels erfahren kann, mit einem vermeintlichen Sturz Hegels — dessen konsequenten Entwicklungsgang verstellen. Wenn Hegel tatsächlich durch seine Kritik des jüdischen Urchristentums hindurch eine Jugendillusion verloren hat, dann ist dies das Luftschloß von der „Schönheit" und dem „göttlichen Leben eines reinen Menschenbundes", aus dem jede „Einheit durch Herrschen", jede „Gewalt eines Fremden über ein Fremdes" „ganz entfernt" werden könnte. Gerade weil die Idee des Reiches Gottes den heterogenen Gedanken

Job. 5,35: „Jener war die Lampe, die brennt und leuchtet, und ihr wolltet euch eine Zeitlang an seinem Licht erfreuen." ^ Vgl. bereits Hegels Berner Unterscheidung zwischen dem exklusiven „Seegen", der durch fixierten christlichen „Glauben auf uns auserwählte traüft" (GW 1.157 f = N 65), und dem „Geist der Menschenliebe ..., die ihren Seegen auf beschnittene und unbeschnittene, getaufte und ungetaufte ausgiest" (GW 1.130 = N 42). ^ Jaeschke: Die Religionsphilosophie Hegels. 56. So Timm: Fallhöhe des Geistes. 150, 144, 157, 145, 156.

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der „basileia" (Jesu sprachliche Akkomodation an den „jüdischen" sozialen Einheitstypus) ausschließt, dürfen die, die sich an dieser Idee orientieren, sich der Wirklichkeit von Herrschaft nicht verschließen (N 305, 321; 1., 2. Fassung). Dieses scheinbare Paradox macht Hegel zum Kerngedanken: die absolute Macht ist nicht die, welche sich gegen ihr Anderes feindlich beträgt oder sich gegen es verschließt, sondern nur diejenige, die auf ihr Anderes zugeht und sich mit ihm zusammenschließt. In dieser assimilierenden Verwandlung eines Feindlichen, Negativen in das gemeinsame Sein liegt ihre „Zauberkraft".^46 Obwohl Hegel also der anachoretischen Konfliktvermeidung Jesu für seine eigene Zeit nicht zustimmt, gelingt es ihm, die beide verbindende Wahrheit zu erkennen, daß der Weg, der das Leben selbst ist^7, nicht am Kreuz der Gegenwart vorbeiführen kann. Nach Hegels Auslegung des Evangeliums sind alle, die sich vom Geist der Liebe leiten lassen, die Söhne Gottes.^® Daß dieser Geist vorbildlich Fleisch wurde im Menschen Jesus von Nazareth, darf nicht dazu verleiten, dieses historische „Individuum" und damit auch den „Makel der Menschlichkeit" zu deifizieren (N 335; 1. Fassung). Eine solche „ungeheure Verbindung" von logos und sarx zu einem einzigen Gott ist es nach Hegel, über deren Verständnis „seit so vielen Jahrhunderten Millionen gottsuchender Seelen sich abgekämpft und gemartert haben". Damit ist freilich auch die Schwierigkeit offenkundig, die Hegel vor Augen liegt — eine Schwierigkeit, die auch ein Grundproblem seiner späteren Philosophie darstellt. Wie will eine in statu nascendi begriffene Philosophie, die eine Lehre vom „Göttlichen", d. h. vom „Leben" des „Geistes", und zugleich nicht Dualismus sein will — wie will sie es vermeiden, nicht als Pantheismus mißverstanden zu werden? Hinter Hegels Geständnis, sie sei tatsächlich „nicht aus der Seele zu bringen, die Zweierleiheit der Naturen" in Jesus (N 335; 1. Fassung)®^^, verbirgt sich also die Erkenntnis von allgemeiner Tragweite, daß der Unterschied zwischen dem Geist und seiner individuellen Erscheinung nicht eingetrübt werden darf. Hegels Auslegung der Trinität in der zweiten Fassung vom Geist des Christentums enthält bereits die Anfänge zu einer Lösung dieses Problems, die Einheit und

^ Phänomenologie des Geistes. GW 9. 27. 347 Job. 14,6. 34* Vgl. Rom. 8,14. 349 Der theologiegeschichtlich versierte Hegel dürfte hier auf die christologische Formel des Konzils von Chalkedon anspielen: „frv 6i3o q)i5oeoiv". Friedhelm Nicolin verdanke ich den Hinweis, daß das Zwei-Naturen-Problem sich auch im § 230 des Theologie-Kompendiums von Sartorius findet, das zur Pflichtlektüre (s. o. 38, Anm. 35) der Tübinger Stipendiaten gehörte.

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die Differenz des Göttlichen und Menschlichen, des Unendlichen und Endlichen zu vereinbaren, ln eins mit diesem Vorstoß zur Dialektik verspürt Hegel — wie zu zeigen sein wird — auch in zunehmendem Maße das Bedürfnis nach einer Verständigung über das Medium, in dem der Geist allein adäquat gefaßt zu werden vermag.

c) Die Gestalt des Göttlichen - Schwierigkeiten bei der Suche nach einem adäquaten Modus der religiösen Selbsterkenntnis des Geistes Hegels späte Notizen zum Geist des Christentums werden von der Forschung im allgemeinen unterschätzt in ihrer Systematizität, überschätzt aber, was den Umfang ihres Gegenstandsbereichs betrifft. Dieses zweite Vorurteil ist von Hegel selbst durch seine wiederholte Rede vom „All des Lebens" (N 296, 312; 2. Fassung) nahegelegt worden, die den Anschein erweckt, als werde mit ihr bereits eine absolute All-Einheit durchdacht. Wie wir aber gesehen haben, verständigt sich Hegel in seinen Manuskripten ausschließlich über die Struktur des Reichs Gottes als der Sphäre liebender Kommunikation zwischen freien Geistern (Lebendigen), veranschaulicht im Bild vom Baum des Lebens. Um den naturalen Lebensaspekt auszuschließen, hatte Hegel in der Erstfassung auch vom „reinen" All des Lebens (s. o. 276) gesprochen, ln Hegels „Reich des Lebens" (N 309; 2. Fassung) ist das Reich des außermenschlichen Lebens ganz vergessen. Schon deshalb ist es verfehlt, von einem „Pan-theismus" im Geist des Christentums zu sprechen. Allerdings beginnt Hegel in seinem Bestreben, die Wirklichkeit aus dem ethischen Ideal freier Verbundenheit heraus umfassend zu interpretieren, schon bald nach Beendigung seiner Rekonstruktion der christlichen Religion, im sogenannten Systemfragment von 1800, auch das Reich der Natur in dieses Ideal des trinitarischen Lebens allmählich einzuzeichnen. Was die Unterbewertung der gedanklichen Systematik im Manuskript über die christliche Religion betrifft, so dürfte ein Grund vor allem in Hegels unleugbarem Erkenntnis-Dilemma bestehen. Sein Versuch, die vom Organ der Selbstbehauptung, vom reduktiv subsumierenden Verstand aus der Welt vertriebene und kaltgestellte Schönheit, die „gegenwärtige Gottheit" (Hölderlin) der freien Liebe wieder einzubilden in die auf Tatsachen reduzierte Wirklichkeit, ist noch befangen in einer Illusion, die Hegel bei seiner Kritik der Urgemeinde bereits entlarvt hatte. So wenig nämlich eine unreine Welt dadurch verbessert wird, daß man von ihr

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in „unerfülltes Leben" (N 332), in die sterile Reinlichkeit eines Zirkels „sich ausschließende[r] Privatpersonen" (N 327) flieht — eben so wenig wird die Wirklichkeit des Verstandes dadurch aufgehoben, daß man von ihm bloß wegsieht. Für das Erkenntnisproblem heißt dies, daß noch unter der Botmäßigkeit des Verstandes bleibt, wer von ihm bloß abstrahiert. Wie gleich zu zeigen sein wird, meditiert Hegel bereits an einer Stelle über die geheime Verwandtschaft zwischen seinem eigenen, vom Verstand abstrahierenden Erkennen mit dem abstrahierenden Verstand, ohne allerdings zu einem deutlichen Bewußtsein hierüber zu gelangen. Hegel weiß, daß seine Betrachtungen über den adäquaten Modus der Selbsterkenntnis des Geistes unauflöslich verknüpft sind mit dem Problem der Darstellung des religiösen Ideals. Was er in Frankfurt das „Bedürfnis. . . nach Religion" nennt - das Verlangen, „das Subjektive und Objektive, die Empfindung und die Forderung derselben nach Gegenständen, den Verstand durch die Phantasie in einem Schönen, einem Gotte zu vereinigen" (N 332; 2. Fassung) —, ist der Sache nach identisch mit dem in Jena so genannten „Bedürfniß der Philosophie", die Vorgefundene „Entgegensetzung der festgewordenen Subjektivität und Objektivität aufzuheben" durch eine gedankliche Konstruktion der Totalität.^so Die Totalität, die Hegel im Geist des Christentums zu konstruieren versucht, ist der Baum oder der Weinstock des Lebens, die von den Lebendigen durch eigenes Handeln aus dem Geist erzeugte freie Ganzheit. Dieses „Göttliche", unter dem Subjektsaspekt betrachtet, ist also „der Geist selbst" (N 318; 2. Fassung).„Das Göttliche" hinsichtlich seiner Tätigkeit ist mithin „das Leben" des Geistes (N 317; 2. Fassung). Die Darstellung dieses religiösen Ideals muß jedoch einen anderen Charakter haben als die Darstellung des Christus-Ideals, die Hegel bei der christlichen Urgemeinde beobachtet. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Darstellungsunterschiedes liegt in der theoretisch-praktischen Doppelbedeutung der „Darstellung", mit der Hegel offensichtlich bewußt spielt. Was die Religion zur Vollendung der Liebe macht, ist „die Darstellung dieser Einigkeit" der Liebe in der sich die Vereinigten „erkennen" (N 333; modifizierte 1. Fassung). Damit der göttliche „Geist der Liebe" zur Religion sich ergänzt, muß die Liebe „zugleich in einer objektiven Form sich darstellen" (N 332; 2. Fassung). Diese theoretische Objektivation der Liebe ist zu unterscheiden von ihrer praktischen Entäußerung. Hegels Kri350 Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie. GW 4. 14. 351 Vgl. auch N 315, 316, 317, 400. 352 Vgl. auch N 334.

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tik der Gemeindesolidarität, die „Liebe sein und nicht leben sollte", richtet sich gerade dagegen, daß diese Liebe nicht „in der Entwicklung des Lebens", in „schönen Beziehungen" sich „darstellte" (N 335 f; 2. Fassung). Wenn die Jesus-Anhänger eines Gottes bedurften, in dem ihre „ausschließende Liebe" zueinander „dargestellt ist" (N 335; 2. Fassung), so bedeutet dies, daß sie nach der theoretischen Darstellung ihrer Gruppenliebe suchten, die sich nicht in der Öffentlichkeit praktisch darstellte. Die private Liebe fand ihre Selbstanschauung schließlich in ihrem privaten Gott, im „Bild" eines bestimmten Individuums. Dieser (und kein anderer) war ihre „gestaltete. . . Liebe" (N 334; 2. Fassung). Hegel dagegen muß sich bei seiner Rekonstruktion der christlichen Religion als universaler Komtemplation der sittlichen Praxis von dieser „Einmischung eines Geschichtlichen, Wirklichen" (N 336; 2. Fassung) in die religiöse Darstellung des lebendigen Geistes befreien, weil er in ihr das fetischistische und zugleich exklusive Moment der Religion erkennt. Seine gesuchte theoretische Darstellung des nicht fixierbaren, sich in der Öffentlichkeit in „schönen Werken"^53 darstellenden Geistes fällt zusammen mit der Darstellung des Reichs Gottes. Sie ist spekulativer Nachvollzug des sich vollziehenden „Lebens" des Geistes. Wie Hegel gegen Ende der zweiten Fassung zum Geist des Christentums erkennt, ist dieses Leben selbst „gestalteter Geist". Denn „wenn dieser als Göttliches, Ungetrenntes wirkt, so ist sein Tun eine Vermählung mit verwandtem Wesen, mit Göttlichem, und Erzeugung, Entwicklung von neuem, der Darstellung ihrer Vereinigung". Das „göttliche . . . Tun" der praktischen Vernunft, das Hegel hier immer mit der biblischen Wendung als „Leben" aus dem Geist bezeichnet, ist „Wiederherstellung" und zugleich „Darstellung der Einigkeit" (N 338, 339; 2. Fassung). Als Hegel jedoch zu dieser Einsicht gelangte, daß eine Religion, die „das Göttliche des Geistes" (N 316; 2. Fassung) nicht fixieren soll, nur im spekulativen Nachvollzug der Bewegung des sich entäußernden sittlichen Handelns, des Lebens, ihren gleichsam flüssigen „Gegenstand" gewinnt, hatte er einen längeren Weg hinter sich, der mit der Kritik des christlichen Abendmahls (schon in der ersten Fassung) begann und über die Erörterung eines im Johannesevangelium angelegten Stufenmodells des religiösen Bewußtseins führte.

353 Hegel kann sich bei dieser ästhetischen Charakterisierung sittlichen Handelns auf Mt. 26,10 stützen, wo die Handlung der Maria von Bethanien ein „egyov ... xaXöv" (schönes Werk) genannt wird (vgl. N 293, 397).

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Auf Hegels Verständnis des Abendmahls kann hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Es ist in unserem Zusammenhang allein deshalb wichtig, weil Hegel im Abendmahl eine ungeschickte, weil barbarische religiöse Handlung erblickt. Ein Liebesmahl als solches ist „noch nicht Religion", denn es ist zwar eine unmittelbare Äußerung des „Geistes der Liebe" selbst, aber ihm fehlt noch die Objektivität dieser Vereinigung in einem Kultgegenstand für die religiöse „Einbildungskraft". Eine solche Objektivation wird erst annähernd geleistet durch die „Erklärung Jesu: dies ist mein Leib, dies ist mein Blut"^®^ (N 297). Die „objektiv betrachtet" ganz profanen Gegenstände Brot und Wein erhalten dadurch die „mystische" Bedeutung, daß in ihnen die Partizipation der Jünger am Leben des Meisters „sichtbar" wird (N 298). Hegel kritisiert nun nicht etwa, wie man erwarten könnte, den bestimmten Sinn des Essens und Trinkens: zur Vergebung der Sünden.Sondern er konstatiert den Widersinn, daß dasjenige, in dem die Vereinigung dargestellt ist, zugleich „zernichtet werden soll". „Etwas Göttliches kann, indem es göttlich ist, nicht in der Gestalt eines zu Essenden und zu Trinkenden vorhanden sein." Diese Unmöglichkeit begründet Hegel aber nicht nur mit der Zerstörung der anschaulichen Gegenwart des Göttlichen durch das Verzehren, sondern offensichtlich auch mit der inhaltlichen Unangemessenheit, die sich in der Symbolisierung der freien Verbindung der Liebe durch eine gewaltsame, das Vereinigungsobjekt übermächtigende Einverleibung darstellt. Der „Empfindung der Liebe" „widerspricht" das „Gefühl des wirklichen Aufnehmens in sich" (N 300). Was Hegel am Abendmahl aber andererseits magisch anzieht, ist gerade diese vorbildliche Ent-dinglichung des Kultobjekts. „Die objektiv gemachte Liebe, dies zur Sache gewordene Subjektive kehrt zu seiner Natur wieder zurück, wird im Essen wieder subjektiv." Er vergleicht diese ideale Aufhebung eines objektiv Gegebenen mit der Bewegung des Lesens, durch die die toten Buchstaben, diese „zum Dinge gewordenen Gedanken" wieder in die „Subjektivität" hineingeholt werden, ohne daß sie allerdings „aufgelesen" werden können (N 299). In dieser Hinsicht wäre die kultische Handlung des Verzehrens sogar glücklicher als die kultische Anbetung griechischer Götterstatuen, die Hegel doch so schätzt. In der Verehrung eines gestalteten Apoll oder einer Venus muß man nämlich „den Marmor, den zerbrechlichen Stein vergessen", um vom „Gefühl ewi354 Mt. 26,26 ff. 355 Aus „zur Vergebung der Sünden" (Mt. 26, 28) wird in Hegels Exegese vielmehr „zur Erhebung über" sie (N 299).

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ger Jugendkraft" bzw. „der Liebe durchdrungen" zu werden. Hegel sieht aber, daß nicht viel gewonnen wäre, wenn man den Marmor aufessen könnte. Mit seiner sinnlichen Gestalt, seiner „Form", verschwände auch die Gegenwart seines Sinns (N 300). So ist es auch mit Brot und Wein. Mit ihrem Verzehr wird leider nicht nur „die Materie, das Seelenlose vernichtet" (N 299), sondern auch der in sie hineingedeutete Geist entsinnlicht. Wie mit dem Zermalmen eines Götterbildes „der Staub und das Göttliche" auseinanderfallen (N 300), so wird auch mit dem Verzehren von Brot und Wein die anschauliche Präsenz der kommunizierenden Reben des Weinstocks verschluckt. Während nach einer „echt religiösen Handlung" die „ganze Seele befriedigt" ist, kehrt nach dem Abendmahl eine Karfreitagsstimmung in die Gemüter ein, eine „Traurigkeit", als ob der alte Gott — von seiner Gemeinde aufgegessen worden sei. „Es war etwas Göttliches versprochen, und es ist im Munde zerronnen." (N 301). Das Abendmahl hat für Hegel exemplarische Bedeutung. Im Mund der Jünger erblickt er ein allgemeines Problem: den Zahn der Zeit, dem die religiöse Darstellung ausgeliefert ist. Im Verzehren des mit religiösem Sinn aufgeladenen Objektiven erkennt er die vorbildliche Verinnerlichungsbewegung des Lebens wieder. Nur soll nicht Göttliches, sondern Ungöttliches aufgezehrt werden. Die göttliche Bewegung des Geistes ist selbst dieses Aufzehren eines unmittelbar gegebenen Objekts, die Tilgung der Kluft zwischen Subjekt und Objekt durch gewaltlose Immanentisierung des letzten. Während im Verspeisen das Objekt selbst gerade zerstört wird, stellt die Identifizierung mit dem Anderen gerade dessen Ganzheit wieder her. Der Blick liebender Beziehung erlöst den Anderen davon, das reduzierte Objekt zu sein, das das verständige Begreifen immer schon, unmittelbar, aus ihm gemacht hatte. „Wenn ein Gott wirkt, ist es nur von Geist zu Geist; die Wirksamkeit setzt einen Gegenstand voraus, auf welchen gewirkt wird; aber die Wirkung des Geistes ist die Aufhebung desselben. Das Herausgehen des Göttlichen ist nur eine Entwicklung, daß es, indem es das Entgegengesetzte aufhebt, sich selbst in der Vereinigung darstellt." (N 388; 2. Fassung) Dies gehört natürlich längst nicht mehr zur erhofften Rekonstruktion einer christlichen Religion des Volkes, sondern bereits zur esoterischen Philosophie. Hegel sieht nun im Johannesevangelium auf eine Analogie hingewiesen zwischen den interpersonalen und den religiösen Erfahrungsstufen. Nicht nur „wie der Mensch den Menschen auffaßt", sondern auch wie er Gott auffaßt, „so ist er selbst" (N 401; Nebenkonzept). Wie dem Verstandesmenschen alles zum Objekt erstarrt, der Transzendenzgläubige nur einen göttlichen Meister erkennt, dem er sich unterlegen fühlt, so „erkennt nur

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den Geist" „der Geist" selbst (N 312; 2. Fassung). Diese Dreistufung von Verstand, Transzendenzglauben und Geist findet Hegel in der Bildsprache des vierten Evangeliums angelegt. Die Finsternis (oxoTia) symbolisiert die „jüdische" Welt, das „Fernsein von dem Göttlichen", das „Gefangenliegen unter der Wirklichkeit" eines absoluten Verstandes (N 313; 2. Fassung). Wenn Hegel daher von der „Lieb- und Gottlosigkeit" der „Juden" spricht (N 259), so ist dies eigentlich ein Hendiadyoin. „Völlig fremd" sind sich hier Gott und Mensch, Mensch und Mensch (N 312; 2. Fassung). Das „Licht" der spekulativen und das „Leben" der praktischen Vernunft, das mit Jesus in diese Welt kam, wurde zwar von seinen Jüngern wahrgenommen, aber eben nur im Meister, dessen Individuum sie ihrem Religionsprinzip gemäß wieder über die „Menschenwelt hinaufsetzten". Dieser „Glaube" ist schon eine „Erkenntnis des Geistes durch Geist" (N 289; 1. Fassung), denn er ist nach dem alten Grundsatz similia similibus cognoscitur „nur dadurch möglich, daß im Glaubenden selbst Göttliches ist, welches in dem, woran er glaubt, sich selbst, seine eigene Natur wiederfindet".^^^® Der Glaube ist aber als dieses „Ahnden" des göttlichen Geistes (N 313; 2. Fassung) nur die „erste Stufe" des religiösen Selbstbewußtseins, nicht seine „Vollendung" (N 314; 2. Fassung). Er ist ein „Mittelzustand" zwischen Licht und Finsternis, weil der Gläubige noch nicht zum „Bewußtsein" darüber gekommen ist, daß Licht und Leben „in jedem Menschen selbst ist", daß das „Gefundene seine eigene Natur" ist (N 313; 2. Fassung). Diese Stelle zeigt, daß Hegel einen Kerngedanken der Fichte-Schellingschen „Geschichte des Selbstbewußtseins", die unbewußte Selbstvergegenständlichung des selbstverlorenen Subjekts im gegenständlichen Fund, in den Kontext der Religionsgeschichte stellt. Den Fortschritt in der religiösen Bewußtseinsvollendung findet Hegel aber im Johannesevangelium formuliert: „Bis sie selbst das Licht haben, sollen sie an das Licht glauben, [auf] daß sie Söhne des Lichtes werden." (N 314; 2. Fassung)356 Es ist der Fortschritt von Karfreitag auf Pfingsten, vom Beleuchtetwerden durch das „individualisierte. . . Licht" Jesu zur Entzündung des eigenen Lichtes. Joh. 16, 7 (Es ist gut für euch, daß ich fortgehe. . .) wird von Hegel folgendermaßen kommentiert. „Solange er unter ihnen lebte, blieben sie nur Gläubige; denn sie beruhten nicht auf sich selbst; Jesus war ihr Lehrer und Meister, ein individueller Mittelpunkt,

355a Vgl, auch Hölderlins Frankfurter Kurzode Menschenbeifall: „An das Göttliche glauben / Die allein, die es selber sind." StA 1. 250. ^ Vgl. Joh. 12,36.

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von dem sie abhingen; sie hatten noch nicht eigenes, unabhängiges Leben; der Geist Jesu regierte sie; aber nach seiner Entfernung fiel auch diese Objektivität, diese Scheidewand [!] zwischen ihnen und Gott; und der Geist Gottes konnte dann ihr ganzes Wesen beleben" (N 314; 2. Fassung). Pfingsten bedeutet also für Hegel die Befreiung des Geistes vom „Gedanken eines persönlichen Gottes", gegen den sich auch Jesus immer wieder ausgesprochen habe (N 316; 2. Fassung). Die „Belebung durch den heiligen Geist", der „alle Fäden" des Bewußtseins durchdringt, alle „Beziehungen zu der Welt berichtigt" und im „ganzen Wesen weht" (N 315, 313; 2. Fassung), ist identisch mit dem Wissen, daß der heilige Geist der Liebe - um mit den Mystikern zu sprechen - im innersten Quell geboren und ausgeblüht werden kann, und mit dem Lebendigwerden dieses Geistes. Diese Einheit von spekulativer und praktischer Vernunft, um die Hegels frühestes Denken kreiste, ist aber immer noch unklar, weil das Verhältnis zwischen dem interpersonalen Geist der Gemeinschaft und dem Geist des Ganzen, zwischen den Söhnen und ihrem Vater immer noch dunkel ist. Hegel weiß, daß diese Beziehung der reziproken Immanenz des Sohnes im Vater und des Vaters im Sohne vom Verstand nicht erfaßt werden kann, weil er gleichsam immer schon die isolierten Teile in der Hand hat und ihre Einheit nur über ein Drittes denken kann. Wenn Hegel sagt, daß „das Wesen des Jesus, als ein Verhältnis des Sohnes zum Vater. . . in der Wahrheit nur mit dem Glauben aufgefaßt werden" kann (N 312; 2. Fassung), so meint er den sehenden Glauben, den er gegen die reflexive Erkenntnis abgrenzt. Diese gnostische pistis epistemonike erfordert etwas, das der Verstand gerade als das subjektive „Vermögen" der Bestimmtheitssetzung, d. h. der „Wirklichkeit" (N 333; 2. Fassung), nicht kann: „aus der Wirklichkeit herausgehen" (N 312; 2. Fassung). Auf seiner Suche nach diesem Weg der Befreiung vom „Joch der Wirklichkeiten" (N 304 Fn; 1. Fassung) durch ein ethisch-religiöses Selbst- und Weltbewußtsein freier Verbundenheit, auf seiner Suche nach diesem Evangelium des pfingstlichen Geistes wendet sich Hegel nun dem Prolog des Johannesevangeliums zu, das schon Clemens von Alexandrien das „Euangelion pneumatikon" genannt hatte. Diese Exegese des Hohenliedes vom Logos^®^ , die im Leben Jesu schon vorbereitet wurde, ist sehr schwer verständlich.^®® Sie Sie findet sich allein in der zweiten Fassung. 358 \Yjg Timm: Fallhöhe des Geistes, 113, bemerkt, nimmt hier „meist das Verständnis in der Sekundärliteratur sprunghaft ab". Timm, der Hegels Frankfurter Religionsphilosophie schlechthin als „das johannistische Systemkonzept" (113—138) vorführt, gelangt aber auf-

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kann hier nur auszugsweise behandelt werden. Für Hegel ist der vierte Evangelist so bedeutsam, weil er die Trinität gründlicher als die Synoptiker behandelt, zugleich aber in der „Wirklichkeitssprache" (N 305, 316) befangen bleibt, welche die „an geistigen Beziehungen so arme jüdische Bildung" einzig bereitstellen konnte (N 305). Diese „objektive Sprache" (N 306) soll, wie schon Dilthey erkannt hat, gleichsam „zurückübersetzt" werden in die unverfälschte „Religiosität Jesu".^®^ Für uns ist Hegels Übersetzungsversuch so aufschlußreich, weil er die Schwierigkeiten eines Philosophen zutage treten läßt, der das „heilige Geheimnis" der Trinität gedanklich durchdringen will und zugleich voreingenommen bleibt im letzten schroffen Dualismus von Wirklichkeit und Denken, von irreflexivem Leben und lebloser Reflexion. Die ersten vier Zeilen des Prologs stellen zwar nach Hegel keine gewöhnlichen Urteile dar, weil ihre Prädikate „selbst wieder Seiendes, Lebendiges", keine conceptus communes sind; doch sei auch diese „einfache Reflexion" im Satz „nicht geschickt, das Geistige mit Geist auszudrükken".^^° Warum schon „unmittelbar jedes über Göttliches in Form der Reflexion Ausgedrückte" nicht bloß unangemessen, sondern sogar „widersinnig" ist, wird von Hegel nicht eigens begründet, weil es ihm evident scheint. Im Satz „der Logos war bei Gott" werden zwei feste Entitäten gesetzt, die im Satz „und Gott war der Logos" wieder aufgeweicht werden sollen. Hegel deutet an, daß der Verstand durch solche Kapriolen „zerrüttet" werde (N 306). Doch will er dem hier formulierten Problem, nämlich der Einheit der Entgegensetzung und Identifizierung von Gott und Logos, auf den Grund gehen. Auszugehen ist von den beiden extremen Verständnismöglichkeiten des „Logos", seiner objektivistischen Deutung als „Wirkliches" oder „Individuum", und seiner subjektivistischen Deutung als „Vernunft" oder „Allgemeinheit". Hegel erkennt zunächst, daß diese Alternative im Wesen der „Reflexion" selbst gegründet ist, insofern diese sich als allgemeinbegriffliche Diskursivität versteht, die der irreflexiven Wirklichkeit äußergrund seiner Hegel unterstellten Intentionen und seiner Mißverständnisse (z. B. der von Hegel bemängelten „Wirklichkeitssprache" als einer Sprache der „Versöhnung"; 115, 153, 154) zu keiner Aufhellung des Textes. Schulze: Das Johannesevangelium im deutschen Idealismus, 108 ff, begnügt sich mit einer Zusammenstellung unkorrekter Zitate. Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels. 102. 3*0 Ähnlich wird Hegel noch in der zweiten Anmerkung zum „Werden" in der Wissenschaft der Logik formulieren, daß „der Satz, in Form eines Urtheils ... nicht .. . geschickt" ist, „speculative Wahrheiten auszudrücken". GW 21. 78. Vielleicht ist diese wörtliche Übereinstimmung ein Indiz dafür, daß Hegel auch später noch öfter in seinen Jugendmanuskripten geblättert hat.

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lieh bleibt. Zugleich ist damit auch die Möglichkeit, ja Notwendigkeit aufgezeigt, Gott und Logos zu unterscheiden. „Gott" bezeichnet das „Einige, in dem keine Teilung, Entgegensetzung ist", der „Logos" dagegen die „Möglichkeit der Trennung, der unendlichen Teilung des Einigen" (N 306 f). Indem Hegel aber zu Vers 3 des Prologs übergeht und die Identität von Gott und Logos verstehen will, beginnt sich seine ganze Argumentation zu wandeln. Daß Gott selbst „der Stoff in der Form des Logos ist", ließe sich zunächst so verstehen, daß ihm diese Form, die reflexive Teilung, vom subjektiven Logos des Betrachters aufgeprägt ist. Der folgende Satz macht aber deutlich, daß an eine ontische Form und Teilung gedacht wird. „Die Mannigfaltigkeit, die Unendlichkeit des Wirklichen ist die unendliche Teilung als wirklich, alles ist durch den Logos." (N 307). Hegel verspürt sofort das Bedürfnis, diese Deutung des göttlichen Logos als Strukturprinzip des Weltganzen gegen einen Emanationspantheismus abzugrenzen. Die „Welt" könne nicht einfach als „Emanation der Gottheit" gedacht werden, weil das Wirkliche sonst „durchaus ein Göttliches" wäre. Es sei allerdings „als Wirkliches . . . Emanation, Teil der unendlichen Teilung". Offenbar will Hegel mit dieser nicht eindeutigen Unterscheidung die Differenz zwischen dem Ursprung und dem Entsprungenen, zwischen der flüssigen natura naturans und der fixierten natura naturata betonen. Zugleich aber darf das Produkt nicht vom Produzieren abgetrennt werden. Hegel bezieht daher das „ev aiixö) ^cof) f|v" (in ihm war das Leben) des vierten Prolog-Verses sowohl auf den Teil als auch auf das absolute Subjekt, das sich in die Teile auseinanderlegt. Wieder greift er zur Veranschaulichung zum Bild des Lebensbaumes. „Das Einzelne, Beschränkte, als Entgegengesetztes, Totes ist zugleich ein Zweig des unendlichen Lebensbaumes; jeder Teil, außer dem das Ganze ist, ist zugleich ein Ganzes, ein Leben." (N 307) Die Stelle ist bahnbrechend für Hegels Gedankenfortschritt, weil sie erstmals ausdrücklich das „Leben" als Prinzip der absoluten Totalität formuliert, die das Tote, durch Entgegensetzung Isolierte nicht mehr außer ihr hat. Entsprechend symbolisiert nun auch der Lebensbaum nicht mehr nur das Reich Gottes^^^ sondern die absolute Unendlichkeit. Freilich war

Im Zusatz zum Konzept etwa findet sich der Lebensbaum noch als Sinnbild für das Ideal „Reich Gottes": „Reich Gottes der ganze Baum mit allen notwendigen Modifikationen, Stufen der Entwicklung; die Modifikationen sind Ausschließungen, nicht Entgegensetzungen [!]; d. h. es gibt keine Gesetze, d. h. das Gedachte ist dem Wirklichen gleich, es gibt kein Allgemeines, keine Beziehung ist objektiv zur Regel geworden, alle Beziehungen sind lebendig aus der Entwicklung des Lebens hervorgegangen . .." (N 394 f).

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sie schon im Gedanken des trinitarischen Lebens immer miigedacht. Die erste Fassung zum Geist des Christentums sprach etwa vom „Vater", der „unverwandelt in allen Verwandlungen lebt" (=N 303). Aber erst in der Auseinandersetzung mit der des Johannes-Prologs kommt Hegel zu Bewußtsein, daß die universale Ganzheit des Lebens auch ihren Gegensatz, das Tote umfassen muß. Seiner Verallgemeinerung entsprechend bedeutet „Leben" jetzt nicht mehr nur das Handeln des menschlichen Geistes, sondern das gesamte Wirken des göttlichen Geistes im Universum, das ewige Schaffen des logos spermatikos. Hegel versteht also — weil sein systematischer Ansatzpunkt das ethische Problem ist - die erste „Person" der Trinität von der zweiten her, nicht umgekehrt. Er denkt den Vater nach dem Ebenbild des Sohnes als lebendigen Geist, die Dynamik des Ganzen nach Analogie der frei handelnden Glieder. Und diese ganzheitliche Weltdeutung aus dem einen Prinzip des Geistes ist gemeint mit der Forderung an die religiöse Vollendung der Liebe, daß in ihr „Reflexion und Liebe vereint, beide verbunden gedacht" werden müssen (N 302; 2. Fassung). Hegel zieht jedoch aus der Integration des Toten ins All-Leben noch nicht die letzte Konsequenz. Zwar soll die Lebenstotalität den Gegensatz in ihr befassen, nicht aber die subjektive Macht des Entgegensetzens, die „absolute Trennung, das Töten", den Verstand selbst (N 311; 2. Fassung). Das Universum des geistigen Wirkens wird trotz seiner inneren Strukturiertheit noch als eine präreflexive Ganzheit gedacht. Daß die Religion der freien Verbundenheit der Lebendigen im göttlichen Leben „Reflexion und Liebe" vereinigen muß, bedeutet nicht, daß sie das Ganze durch die Reflexion des Verstandes erfassen könnte. „Reflexion" meint hier bloß die religiöse Spiegelung des tätigen Geistes der Liebe im Weltganzen. Ausführungen, die im Manuskript der Exegese des Johannes-Evangeliums vorausgehen, zeigen die Schwierigkeiten Hegels, einen Bewußtseinsmodus zu finden, der zur Erfassung des „Lebens" geeignet wäre. Ein solches „Bewußtsein, das dem Leben gleich" wäre, nennt er mit dem vierten Evangelisten auch „aufgefaßtes Leben (cpcog, Wahrheit)" (N 307). „Reines Leben zu denken ist die Aufgabe"^^ - so lautet das Problem. Es besteht darin, „alle Taten, alles zu entfernen, was der Mensch war oder

Bis auf ganz wenige Ausnahmen werden hier die Hegelinterpreten durch eine ungeschickt angebrachte Anmerkung des Herausgebers irregeführt und bisweilen zu absurden Konsequenzen veranlaßt. Nohl (N 302) hat nämlich den Anmerkungsbuchstaben b, der auf die Formulierung der Erstfassung „Selbstbewußtsein" verweist, hinter „reines Leben" eingefügt und nicht — wie es korrekt gewesen wäre — hinter „zu denken". Daraus wird in der

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sein wird" (N 302; 2. Fassung).363 Hegel will hier nicht das Kunststück vollbringen, denkend „die ganze Welt des Bewußtseins. .. zu überwinden".^64 Vielmehr sollen alle bestimmten Taten weggedacht werden, um des reinen Tuns gewahr zu werden. „Was der Mensch ist", soll sich offenbaren dadurch, daß seine Vergangenheit und Zukunft ausgeblendet werden. Bemerkenswert ist nun, daß Hegel dieses reine „Einfache", zu dem das reine Lebensbewußtsein gelangt „wäre" [!], nicht für ein „negatives Einfaches, eine Einheit der Abstraktion" hält (N 302 f; 1. Fassung). Er begründet dies in der zweiten Fassung damit, daß die abstrakte Einheit entweder nur „ein Bestimmtes" von „allen übrigen Bestimmtheiten" gedanklich isoliere, oder aber selbst nur das Postulat der „Abstraktion von allem Bestimmten" sei (N 303). Diese Stelle zeigt wieder Hegels Mißtrauen gegen die totalitäre Macht der Abstraktion, die als nur gedachte Einheit die wirklichen Unterschiede, das Nicht-Identische verleugnet. Dagegen will Hegel ein ontisch Einfaches zu Bewußtsein bringen, von dem er selbst nicht zugeben möchte, daß es auch wieder ein nur gedachtes ist. Sein Frankfurter Versuch, ständig gleichsam hinter die Augen des Verstandes zu treten, beruht auf der mißlichen Voraussetzung, daß „in der Wahrheit" ist, was „außerhalb der Reflexion" ist (N 310; 2. Fassung). „Reines Leben ist Sein" lautet Hegels Protestformel gegen alle eventuellen Versuche, die hingabevolle Beziehung auf den Anderen in eine Reihe zu stellen mit den ideologischen Entitäten des abstrahierenden, seinsüberheblichen Verstandes. Hegel gibt aber im folgenden schon sprachlich zu, daß auch die Reinheit des geistigen Lebens ein Abstraktionsprodukt ist. Er gibt nämlich nun zu erkennen, worum es ihm bei seinem Experiment, reines Leben zu denHegel-Forschung, die nicht am Manuskript arbeitet, der Schluß gezogen, Hegel habe „reines Selbstbewußtsein" in der Zweitfassung durch „reines Leben" ersetzt. Marcuse: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit, 238, hat in dieser vermeintlichen Ersetzung ein „sehr bezeichnendes Schwanken" Hegels zwischen den „beiden ursprünglichen Leitideen der Ontologie" erkennen wollen. Andere erblicken in ihr ein Indiz dafür, wie spät sich Hegel erst von der Terminologie und dem Denken Fichtes befreit hat. Tatsächlich aber verbirgt sich hinter diesem sprachlichen Wandel kein gedanklicher. Das reine Selbstbeu»«/?fsem ist das Denken des reinen Lebens (einige Zeilen später heißt es übrigens korrekt; „Bewußtsein reinen Lebens"), insofern für Hegel das „Leben" — die tätige, praktische Vernunft — das wahre Selbst des Menschen ausmacht. Das johanneische „Licht" bedeutet das vollendete Bewußtsein, das Innesein des „Lebens". Die erste Fassung dieses Satzes laute, vollständig: „Reines Selbstbewußtsein ist die Entfernung aller Taten, alles dessen, was der Mensch war oder sein wird." Hegel-Nachlaß Bd. 11, Bl. 111 recto. ^ Kondylis: Die Entstehung der Dialektik, 515; ähnlich 489.

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ken, überhaupt geht. „Nur dadurch kann der Mensch an einen Gott glauben, daß er von aller Tat, von allem Bestimmten zu abstrahieren vermag, aber die Seele jeder Tat, alles Bestimmten rein festhalten kann; worin keine Seele, kein Geist ist, darin ist nichts Göttliches" (N 303; modifizierte 1. Fassung). Auch hier sucht Hegel also die geistige Einheit des Vaters und Sohnes, des Unendlichen und Endlichen zu verstehen. Wie die ruhige Gesinnung der Liebe in besonderen Handlungen sich äußert, so manifestiert sich der unendliche Geist im All der Erscheinungen. Hegels Entschränkung des ethischen Bereichs auf Religion hin zeigt sich deutlich in einer Ergänzung zum Text der ersten Fassung. Zuerst hatte Hegel nur die Gesinnung ins Auge gefaßt. Sie sei „die Quelle alles Lebens und aller Tat". Später hat er jedoch an den unendlichen Geist gedacht und folgendermaßen ergänzt. Der reine tätige Geist ist „die Quelle aller vereinzelten Leben, der Triebe und aller Tat" (N 303). Der Leser des Nohlschen Textkompositums kann an dieser Stelle den Grund gar nicht entdecken für den unvermittelten Übergang Hegels vom ethischen zum religiösen Selbstbewußtsein, vom Quell des Lebens zur Quelle der Lebendigen. Was Hegel in einem problematischen Abstraktionsakt „rein festhalten" möchte, ist die Entäußerungsbewegung des Geistes, mit der er sich in sein Anderes frei entläßt.^^^ Diese Interpretation der Schöpfung nach dem ethischen Paradigma, nach dem „heiligen Erguß eines liebenden Gemüts" (N 293; 1. Fassung), ist Hegels Weg der Annäherung an Gott. Die Annäherung, die Kontemplation der sich Gestalt gebenden geistigen Flüssigkeit wird aber erschwert, solange diese Gestaltung noch nicht als ein SichBestimmtheit-Geben des Geistes gefaßt wird. Weil für den Frankfurter Hegel „bestimmen" soviel bedeutet wie ,per notas communes beherrschen', muß seinen Ausführungen über die Selbstgestaltung des Geistes auch die bestimmte Bestimmtheit fehlen. Der Geist wird bereits als der „Ursprung", als die „Quelle" verstanden, „aus welcher jede Gestalt des beschränkten Lebens . . . fließt" (N 303; modifizierte 1. Fassung), aber die Beschränkung noch nicht als Selbstbeschränkung des Geistes. Verendlichung wird vielmehr für ein Produkt der äußerlichen Betrachtung gehalten. Die religiöse „Anschauung der Liebe" - so glaubt Hegel - sei letztlich ein „Widerspruch", denn „das Anschauende, Vorstellende ist ein Beschränkendes und nur Beschränktes Aufnehmendes, das Objekt aber

365 Nicht ohne Tiefsinn ist die Bemerkung von Krüger: Theologie und Außlärung, 121, daß ,den Begriff des Lebens . . . nur festhalten" könne, „wer sich nicht selber festhält".

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wäre ein Unendliches; das Unendliche kann nicht in diesem Gefäße getragen werden —" (N 302; modifizierte 1. Fassung). Der Frankfurter Hegel will zwar nicht mit Spießen und Stangen, wohl aber mit einem „Gefäß" auf die Wahrheit zugehen. Vermutlich wird ihm in Jena, als er zur Einsicht in seine Befangenheit im subjektiv-instrumentalistischen ErkenntnisAnsatz kam, auch die verborgene Ironie bewußt geworden sein, die darin liegt, daß er einmal „das jüdische [!] Prinzip der Entgegensetzung des Gedankens gegen die Wirklichkeit" der „Zerreißung des Lebens" angeklagt hatte (N 308; 2. Fassung)! Obwohl Hegel in Frankfurt den „Baum des Lebens" noch für einen anderen hält als den Baum der Erkenntnis, hat die bisherige Darstellung gezeigt, daß die Aufzeichnungen zum „Geist des Christentums" bereits aufs Ganze gehen und dieses in seiner Ganzheit durchdringen wollen. Der Grund dafür, weshalb sich ihm dieses Ganze als ein „heiliges Geheimnis" darstellt (N 304 Fn, 309; 2. Fassung), über das „nur mystisch" (N 308; 2. Fassung), „nur in Begeisterung gesprochen werden" kann (N 305; 2. Fassung), liegt im wunderbaren Prinzip des totum in parte et pars in toto. Hegel hat sich zum Verständnis dieser wechselseitigen Immanenz von Teil und Ganzem immer wieder von den Bildern des Baumes und der Quelle leiten lassen. Er teilt diese Bildsprache mit den christlichen Mystikern, weil er ihre Denknot teilt und von einer Totalität stammelt, über die nach dem Wort Meister Eckharts auch „Pfaffen zum Hinken" kommen. Das Eine, das in sich selber quillt, manifestiert sich als fließendes Kontinuum zugleich in einer Unendlichkeit diskreter Gestaltungen. „Ein Baum der drei Aeste hat, macht mit ihnen zusammen Einen Baum; aber jeder Sohn des Baumes, jeder Ast... ist selbst ein Baum ... — und es ist ebenso wahr, daß hier nur Ein Baum ist, als daß es drei Bäume sind." (N 309; 2. Fassung)^^^ Der Sohn ist ein Individuum und „fühlt sich" doch „im Wesen, im Geiste eins mit dem Vater, der in ihm lebt" (N 312; 2. Fassung). Ein Rückblick auf Hegels Geist des Christentums zeigt also, daß der Begriff des Lebens ganz konsequent aus der Exegese des Neuen Testaments entwickelt worden ist und schließlich im Traditionsstrom der christlichen Theologie des ewigen trinitarischen Lebens mündete. Hegel hat ihn zunächst, als Ausdruck für die handelnde Gesinnungsganzheit, der ethischen Analyse Kants entgegengesetzt und dann zielstrebig zum wirken^ Baum: Zur Vorgeschichte des Hegelschen Unendlichkeitsbegriffs, 96 f, macht hier zu Recht auch auf § 64 der Kritik der Urteilskraft aufmerksam, wo Kant den Naturzweck und seinen generativen Zusammenhang am Beispiel des Baumes erläutert. Vgl. Kant AA 5. 350 f.

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den „Geist des Ganzen" (N 318; 2. Fassung) verallgemeinert.Die Religion des dreieinigen Lebens im Geist ist die politische Religion, nach der Hegel von Anfang an gesucht hatte, das theologische Pendant zum republikanischen Organismus, dessen Glieder das Ganze repräsentieren. Es ist deshalb kein Zufall, wenn Hegel inmitten seiner trinitarischen Meditationen die Feststellung trifft, daß „bei jedem echt freien Volk.. . jeder ein Teil, aber zugleich das Ganze" sei, während „im jetzigen Europa" der Einzelne „nicht das Ganze des Staates in sich" trage (N 308; 2. Fassung). Unter dem Theologumenon vom Einwohnen des Vaters im Sohne verhandelt Hegel das Politikum der Partizipation des Bürgers am substantiellen öffentlichen Ganzen. Hegels Herausarbeitung des theologischen Lebensbegriffs zwischen Herbst 1798 und 1800 war daher der gedankliche Widerspruch gegen das zersplitterte Deutsche „Reich des Toten", in dem „das Ganze ein anderes ist, als die Teile" (ebd.). Sie war, wie Hegel in einem politischen Fragment aus dieser Zeit andeutet, getrieben von der „Sehnsucht derer nach Leben", die von der „Zeit in eine innere Welt vertrieben" worden sind, wo sie „die Natur zur Idee in sich" emporarbeiten müssen (PR 138 f).368

Mit dieser Beobachtung von Hegels philosophischem Willen, sich keine metaphysischen Annahmen unbefragt vorgeben zu lassen, erübrigt sich eigentlich auch die traditionsreiche Suche der Forschung nach mysteriösen Einflüssen, denen Hegels Frankfurter Lebensbegriff seine Entstehung verdanken soll. Entstanden ist Hegels Kategorie des Lebens aus dem frühen Gedanken der „Lebendigkeit", also der die soziale Verbundenheit erzeugenden sittlichen Spontaneität, und aus der Herleitung des trinitarischen „Lebens" aus den Paulinischen Briefen und dem Johannesevangelium. Für den systematischen Sinn des „Lebens", wenn auch nicht für eine historische Untersuchung der Wurzeln des deutschen Idealismus, sind sekundär sowohl die Tatsache, daß Hölderlins Idee des freien, ungeteilten, glühenden, heiligen „Lebens" der Gottheit im All der Natur für Hegel eine entscheidende Anregung darstellte, als auch die Frage nach der Herkunft der Hölderlinschen Lebensidee ihrerseits. Daß Hölderlin schon früh mit der trinitarischen Lebenstheologie des schwäbischen Pietisten Friedrich Christoph Oetinger, seiner „theologia ex idea vitae deducta" in Berührung gekommen ist, hat Gaier: Der gesetzliche Kalkül, trotz gelegentlicher Übertreibungen und gewaltsamer Spekulationen plausibel machen können. Es ist allerdings erstaunlich, wie stark die in die Tradition Jakob Boehmes, Duns Scotus’ und der Gnosis zurückreichende Lehre Oetingers von der vita socialis und der alienatio a vita Dei per voluntatem propriam (vgl. hierzu Piepmeier: Aporien des Lebensbegriffs seit Oetinger. 110-206) bei Hegel wieder zum Tragen kommt. Die Hypothese von Hölderlin als dem gedanklichen Vermittler Oetingerscher Theosophie erlaubt es also, einerseits den Hinweisen von Schneider: Schellings und Hegels schwäbische Geistesahnen bis Rohrmoser: Zur Vorgeschichte der Jugendschriften Hegels auf die innere Verwandtschaft Hegels und Oetingers, andererseits aber auch der Kritik von Brecht, Sandberger: Hegels Begegnung mit der Theologie im Tübinger Stift, 48, an einem durch Lektüre „unmittelbaren Einfluß" Oetingers auf den jungen Hegel recht zu geben. ^ Fragment Schüler Nr 91; datiert auf 1799/1800.

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Wie Abrahams verhinderte praktische „Reflexion in sich" kompensiert worden war durch eine theoretische Reflexion über sich (N 370), so könnten auch Hegels Betrachtungen zum Geist des Christentums zunächst wieder als eine Ersatzhandlung politischer Ohnmacht erscheinen. Tatsächlich hat aber Hegels gedankliche Rekonstruktion der real verlorengegangenen Totalität im Ideal des Lebens einen anderen Charakter als die „Wiederherstellung des leerausgehenden Lebens in der Idealität", die er auch bei Jesus entdeckt hatte. Sie ist keine „Flucht" aus der „Welt" „in den Himmel" (N 329). Zum Trieb der zeitvertriebenen Philosophen gehört für Hegel nämlich zugleich deren „Bedürfnis . . ., ins Leben aus ihrer Idee überzugehen" (PR 139). Die ideale Wiederherstellung der zerrissenen Ganzheit im Medium der religiösen Einbildungskraft ist also nur ein Moment in der selbstregulativen Regeneration des gestörten Lebensprozesses. Für die reale Regeneration des beschädigten Sozialethos freier Verbundenheit muß das religiöse Ideal auch öffentlich wirksam werden und normbildend in das kollektive Zeitbewußtsein eingreifen. Nur wer diese im Hegelschen Lebensideal selbst noch gegenwärtige Spannung von Sein und Sollen und damit den politisch-hermeneutischen Orientierungscharakter der Lebensidee übersieht, kann wie Rudolph Haym in ihr eine „Flucht aus der Gegenwart in die Vergangenheit" argwöhnen. „Unfähig, sein Ideal in die Wirklichkeit zu übertragen, setzt er die Wirklichkeit in sein Ideal um." „Eine erahnte und ersehnte Zukunft wird als Gegenwart behandelt. — Solche Vorwürfe könnten nur dann treffen, wenn Hegels umgreifendes Ideal nicht gerade der Vermittlungsprozeß der Ganzheitlichkeit des Lebens mit ihren historischen Verletzungen wäre. Hegels eigener Übergang aus den stillen Räumen des Denkens in die Welt des politischen Wirkens begann sich nach dem Tod seines Vaters im Januar 1799 bereits abzuzeichnen. Im Besitz eines größeren Nachlaßvermögens „dachte er jetzt sehr lebhaft daran, in die akademische Sphäre überzutreten".Hegels Rückkehr zum „Leben" sollte also, dies ist nicht frei von Ironie, in der „Lehre" bestehen — in einer Lehre allerdings vom geschichtlichen Leben des Geistes, nicht in einer Doktrin des räsonierenden Verstandes. Von dieser politisch-religiösen Theorie der Wirklichkeit, die sich der wirkende Geist selbst gibt, sind in den Manuskripten zum Geist des Christentums aber erst die systematischen Umrisse zu erkennen. Noch unbeantwortet sind die eigentlich philosophischen Fragen an dieses aufkeimende System. Sie betreffen in erster Linie die Art des ZusamHaym: Hegel und seine Zeit. 91, 86, 92. Rosenkranz: Hegels Leben. 142.

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menhangs zwischen dem Leben qua Handeln des menschlichen Geistes und dem Leben qua Wirken des göttlichen Geistes im Universum, damit aber auch das Differenzkriterium zwischen Menschlichem und Göttlichem; die Beziehung von Teilsubjekt und Allsubjekt, Vielheit und Einheit, sowie die Art der absoluten Totalität; die Möglichkeit und Wirklichkeit von Freiheit und Sünde; das Verhältnis von Organischem und Mechanischem, Leben und Tod; und schließlich die Subjekts-Qualität des unendlichen Geistes, dessen Tätigkeit das All-Leben ist. Hegel hat einen Großteil dieser Fragen, die sich kaum von einander isolieren lassen, in Frankfurt nicht mehr beantwortet, wahrscheinlich aber in einer sehr differenzierten Form gestellt und durchdacht. Fragmentarisches Zeugnis dieser systematischen Überlegungen sind die beiden noch erhaltenen Bogen eines größeren, vermutlich 47 Bogen umfassenden Manuskripts, dessen Beendigung auf den 14. September 1800 datiert ist.^^*^ An dieses Ganze, das die beiden Bruchstücke erahnen lassen, hat Hegel vermutlich gedacht, als er wenig später im Brief an Schelling folgendes kurzes Resümee seiner langen „Jugend" zog. „In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordneten Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln. Schon Nohl hat hier eine Beziehung hergestellt und die zwei Fragmente mit Systemfragment von 1800 über schrieben. Zum Abschluß unserer Studie sollen die Grundzüge dieses Textes, der die Entstehung einer Philosophie ersten Ranges ankündigt, erarbeitet werden, so daß ein kurzes Fazit von Hegels Entwicklung bis Jena möglich wird.

d) Die Beziehung selbst als der belebende Geist des Lebens - Hegels uneingestandener Übergang zur Philosophie Daß sich vom systematischen Ganzen nur die beiden kleinen Teile erhalten haben, stellt vielleicht den bedauerlichsten von allen Verlusten frühhegelscher Manuskripte dar. Denn hier stellt sich einerseits „gleichsam die Summe der Jugendarbeiten" vor^^^, andererseits die „Basis, von

370 Fragment Schüler Nr 93. Die Bemerkungen von Rosenkranz: Hegels Leben, 94, 96, legen die Vermutung nahe, daß schon ihm lediglich die zwei Bogen noch Vorlagen. Brief an Schelling, 2. November 1800. Briefe. Bd. 1. 59. N 343 - 351. Zum Textbefund und seiner Deutung vgl. N 345 Anm. 373 Hoffmeister in seiner Anmerkung zu Hegels Brief an Schelling. Briefe. Bd. 1. 444.

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der aus Hegel in eine andere Sphäre abspringt"^^^, nämlich in die Philosophie des Absoluten. Was allerdings für gewöhnlich als Sprung von einer Frankfurter Religion zu einer Jenenser Philosophie gedeutet wird, zeigt sich bei näherer Betrachtung als der letzte Schritt einer unglücklichen philosophischen Religion, die sich selbst nicht für fähig hält, in die absolute Einheit sich vollständig hineinzudenken, zum Selbstbewußtsein einer religiösen Philosophie, die sich als Moment des Absoluten begriffen hat. Das Ganze, das die zwei Systemfragmente andeuten, dürfte eine ausführliche Religionsphilosophie gewesen sein.^^s Dafür spricht, daß das zweite, von Hegel als Schlußbogen mit yy gekennzeichnete Stück nach einer differenzierten Betrachtung des religiösen Kultus mit einer Klassifizierung geschichtlicher Religionstypen endet; während das erste Stück, als hh etwa das erste Drittel des verlorenen Ganzen abschließend, eine Erklärung des Bedürfnisses nach Religion enthält. Dieses erste Bruchstück beginnt mit einem Problem, das Hegel im Geist des Christentums zwar bereits behandelt, aber nicht ausgiebig reflektiert hatte. Die schlichte Formel für dieses tiefe religiöse Geheimnis lautet: „die Vielheit ist nichts Absolutes" (N 303; 1. Fassung). Die Menschen können in einer politischen Religion nicht als eine „Mehrheit absoluter Substantialitäten", als ursprünglich isolierte Atome vorgestellt werden. Sie sind vielmehr die Freigelassenen der Schöpfung und doch verbunden durch ihren gemeinsamen Ursprung. Die „Lebendigen" sind daher „Wesen als Abgesonderte", aber „ihre Einheit ist ebensowohl ein Wesen" (N 308; 2. Fassung). Hegel geht nun dieses Problem der Vielen und ihrer Einheit zunächst von einem Standpunkt aus an, den er weiter unten als Partikularperspektive von einer Totalitätsperspektive unterscheidet. Während diese das „ungeteilte Leben" des Ganzen „voraussetzt, fixiert", also zum gedanklichen Ausgangspunkt macht, die „Lebendigen" aber als „Darstellungen" und „Aeußerungen" des All-Lebens betrachtet, besteht der Partikularaspekt im Ansatz bei einem Teil bzw. bei der diskreten Mannigfaltigkeit (N 346). Die „Vielheit Lebendiger" läßt sich gedanklich trennen in einen „Teil dieser Vielheit", d. h. in ein „Individuum" auf der einen Seite, und in die

Theunissen: Hegels Lehre vom absoluten Geist. 15. Schon Rosenzweig: Hegel und der Staat. Bd. 1. 99, hält es für „fast . . . wahrscheinlich, daiS die ganze Arbeit um den Religionsbegriff kreiste". Von einer „Religionsphilosophie" spricht auch Baum: Zur Vorgeschichte des Hegelschen Unendlichkeitsbegriffs, 102. Baums Ausführungen 102—110 stellen m. E. die einzige detaillierte, im Ganzen vorbildliche Interpretation zu diesem Text dar.

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von ihm ausgeschlossene „unendliche Vielheit" auf der anderen Seite (N 345 f). Das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Restmannigfaltigem wird von Hegel mit Hilfe der Operatoren „Beziehung" („Vereinigung") und „Entgegensetzung" („Trennung") charakterisiert. Ein Individuum gedanklich hervorheben heißt demnach die „unendliche Vielheit", die es selbst wiederum als in sich differenziertes Lebendiges darstellt, aufzufassen als „in Beziehung" stehend. Das Individuum hat sein „Sein" gerade „als Vereinigung", d. h. in der „Organisation" seiner Mannigfaltigkeit. Das vom Individuum ausgeschlossene Viele wird dementsprechend betrachtet als „sein Sein nur durch die Trennung von jenem Teil habend", d. h. es wird gedanklich isoliert. Umgekehrt ist aber auch das Individuum durch seine Entgegensetzung gegen das Restmannigfaltige definiert. Die interne Bezogenheit seiner Momente ist nur die Kehrseite dieser Abgrenzung gegen sein Anderes. Das Sichabsetzen ist konstitutiv für das individuelle Ganze, weil eine „Verbindung mit dem Ausgeschlossenen" gerade die „Möglichkeit des Verlusts der Individualität" in sich birgt. Hegel ergänzt diese Betonung der Selbständigkeit sofort durch den Hinweis auf die Notwendigkeit auch der Beziehung des Individuums auf sein Anderes. „Der Begriff der Individualität schließt Entgegensetzung gegen unendliche Mannigfaltigkeit, und Verbindung mit demselben in sich." Dieses widersprüchliche Verhältnis des Individuums — dessen Notwendigkeit anzuerkennen Hegels großer Fortschritt gegenüber dem „selbstlosen" Ethos im Geist des Christentums ist - läßt sich am angemessensten beschreiben in einer Reihe von Antithesen. Die spannungstragenden Begriffe werden von uns im folgenden durch Kursivsatz hervorgehoben. „Ein Mensch ist ein individuelles Leben, insofern er ein anderes ist, als alle Elemente, und als die Unendlichkeit der individuellen Leben außer ihm, er ist nur ein individuelles Leben, insofern er eins ist mit allen Elementen, aller Unendlichkeit der Leben außer ihm; — er ist nur, insofern das All des Lebens geteilt ist, er der eine Teil, alles übrige der andere Teil, er ist nur, insofern er kein Teil ist, und nichts von ihm abgesondert." (N 346) Aus dieser dialektischen Einheit von Selbständigkeit und Verbundenheit, Fürsichsein und Sein-für-Anderes^^^ leitet Hegel daraufhin das Bedürfnis des Menschen nach Religion ab. Der Mensch weiß sich mit seinem individuierten, „beschränkten Leben" ausgeschlossen von seinem Anderen, das „unendliches Leben" ist. Weil er sich dem Unendlichen, Ganzen

376 Daß diese nachmaligen seinslogischen Kategorien hier verhandelt werden, hat schon Marcuse: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit, 242, bemerkt.

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zugleich als Moment verbunden fühlt, verlangt er danach, seine Endlichkeit zu transzendieren und seine Einheit mit dem Unendlichen zu genießen.3^ Diesem Vereinigungsdrang steht aber der reflektierende Verstand entgegen, der die „Unendlichkeit der Lebendigen", die „Unendlichkeit von Gestalten", die das All-Leben bildet, immer schon in bestimmte Entgegensetzungen zerlegt. Auf diese Weise verhext er gleichsam das Unendliche in ein „unendlich Endliches", das Schrankenlose in ein „unbeschränkt Beschränktes". Dieses „von der Reflexion" des Betrachters gesetzte, „fbcierte . .. Leben" nennt Hegel mit Kant auch „Natur". Der Mensch, der dieser Bewußtseinsschranke gewahr wird, möchte aus seinem Käfig ausbrechen. Er „fühlt, oder wie man es nennen will", diesen letzten „Widerspruch" und Gegensatz „seiner selbst gegen das unendliche Leben, - oder die Vernunft erkennt noch das Einseitige dieses Setzens, dieses Betrachtens". Folglich „hebt" er - durch einen Abstraktionsakt, der im Geist des Christentums näher beschrieben wurde (s. o. 295 f) aus der gestalteten Mannigfaltigkeit der Natur das reine „Lebendige" „heraus", erfaßt ein „alllebendiges, allkräftiges, unendliches Leben", das er als „Gott" verehrt, und „ist nimmer denkend, oder betrachtend" (N 347). Auch diese Ausführungen, die offensichtlich einen allgemeinen religionsgeschichtlichen Deutungsanspruch erheben, können Hegels Unbehagen am eigenen Standpunkt nicht verbergen. Das „denkende Leben" ist schon im Gefühl über seine Schranke hinaus, es vermag sich dem Unendlichen rein anzunähern, und doch soll es „nimmer denkend, oder betrachtend" sein. Hegel weist aber nun ausdrücklich darauf hin, daß die religiöse „Erhebung des Menschen" nicht als Abhebung eines „Endlichen" zu einem von ihm isolierten „Unendlichen" verstanden werden darf. Den Gefahren dieser platonisch-jüdischen Zäsur, die die „Trennung" des Menschen vom Göttlichen „absolut" macht, hatten immerhin Hegels bisherige Studien gegolten. Die „Erhebung" des Menschen zu Gott ist vielmehr die andächtige Selbstaufhebung des organischen Moments ins Ganze, d. h. seine kontemplative Entschränkung. Weiter unten charakterisiert Hegel diese religiöse Ek-stase auch so, daß der Mensch „das unendliche Leben als Geist des Ganzen . . . zugleich außer sich, weil er selbst ein Beschränktes ist, setzt, [aber auch] sich selbst zugleich außer

In der zweiten Fassung vom Geist des Christentums sprach Hegel von der symbolischen Wunscherfüllung bei der Johanneischen Wassertaufe, die dem „Verlangen nach dem Unendlichen, dem Sehnen, in das Unendliche überzufließen", dadurch entgegenkommt, daß sie den Täufling in eine weltvergessene „Einsamkeit" versenkt, die alle Bestimmtheit „von sich geworfen, allem sich entwunden hat" (N 319).

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sich, dem Beschränkten, setzt" (N 347). Hegels Dilemma besteht nun darin, das Wissen des religiösen Menschen, sich nicht zu einem Fremden, sondern zum Ganzen zu erheben, mit dem Gedanken einer dumpfen, gegenstandslosen Einheitsfühlung nicht hinreichend verstehbar machen zu können. Daß religiöse Erhebung gerade keine Überhebung, sondern mystische Versenkung ins Ganze bedeutet, ist bereits ein spekulativer Gedanke. Diese Schwierigkeit hat Hegel offenbar geahnt, als er seiner Berufung auf ein religiöses Totalitätsge^AZ die selbstkritische Formel „oder wie man es nennen will" hinzufügte.Hegels spätes Frankfurter Denken bleibt charakterisiert durch die paradoxe Einstellung, daß das Unendliche bereits bestimmt ist, kein getrenntes Jenseits des Endlichen zu sein, daß aber zugleich diese faktisch geleistete Erkenntnis von Hegel nicht wahrgenommen, anerkannt und weiterentwickelt wird.^^^ In seinen weiteren Ausführungen wendet sich Hegel vom Handlungsaspekt dem Subjektsaspekt des Unendlichen zu. „Das unendliche Leben kann man einen Geist nennen." Als Organisationsprinzip des Mannigfaltigen muß der Geist von seiner „Gestalt" unterschieden und zugleich auf sie bezogen werden. Abgetrennt vom Geist wäre nämlich das Gestaltmannigfaltige „tote, bloße Vielheit", jener die „bloße Einheit" eines abstrakten Gesetzes. Der Geist muß daher gefaßt werden als „belebendes Gesetz in Vereinigung mit dem Mannigfaltigen, das alsdann ein belebtes ist". Auf das Ausgangsthema der Hegelschen Entwicklung, das freie öffentliche Zusammenleben bezogen, heißt dies, daß aus einer „Menge" individueller „Einzelleben" genau dann „Organe" eines politischen Ganzen werden, sobald sie „in Verbindung mit dem Belebenden" stehen (N 347). Würde aber die gesellschaftliche Vielfalt - um das biologische Leben geht es Hegel hier immer noch nicht — lediglich organisch, d. h. als „in Beziehung auf den lebendigen Geist, als belebt" aufgefaßt, so könnte „das Tote", also der mechanische Kultus, die Gewalt und die soziale Beziehungslosigkeit nicht erklärt werden. Wie das „Leben" des Individuums eine widersprüchliche Einheit von Fürsichsein und Beziehung-auf-Anderes bildet, so muß auch das gesellschaftliche „Leben" eine „Verbindung der Entgegensetzung und Beziehung" darstellen (N 348). Der Sinn dieser vielzitierSchon Haering: Hegel. Bd 1. 540, ist aufgefallen, daß Hegel bei diesem „Gefühlsbegriff" [!] offenbar „nicht ganz wohl" sei. 3^ Ähnlich Rohrmoser-.Subjektivität und Verdinglichung. 56. Die „topologische Bestimmung" der philosophischen Reflexion sei „keineswegs mit dem identisch, was Hegel tatsächlich auf dieser Stufe seiner Entwicklung begreift". Mit seiner „Erkenntnis des Wesens des Lebens" sei Hegel bereits „über die Beschränktheit der verständigen Reflexion und der unmittelbaren Totalität des religiösen Seins .. . hinaus".

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ten Formel ist Hegels relative Anerkennung des Privatlebens. Die Selbständigkeit des Bürgers gegen die Gesellschaft, des Individuums gegen das relative Ganze gehört zu seinem Wesen. Wann diese bloß private Lebendigkeit zum Tod, zur Abschneidung von der öffentlichen Kommunikation wird, ist begrifflich nicht festzulegen. Der politische Tod der Lebendigen läßt sich lediglich abstrakt beschreiben als Verabsolutierung des Fürsichseins. „Im lebendigen Ganzen ist der Tod, die Entgegensetzung, der Verstand zugleich gesetzt, nämlich als Mannigfaltiges, das lebendig [!] ist, und als Lebendiges sich als ein Ganzes setzen kann." (ebd.) Obwohl Hegel des theoretisch-praxeologischen Doppelsinns von „Setzen" innegeworden sein und sich fragen müßte, warum denn der gedankliche Nachvollzug des sich vom Ganzen absetzenden und zum Ganzen aufwerfenden Teils keinen Erkenntnischarakter besitzen sollte, hält er seine Betrachtungen über die Lebendigen und das Leben noch nicht für „Philosophie". Dieser Terminus ist für ihn noch besetzt mit der Vorstellung von einer „Disciplin der verirrten Vernunft''^®® namens Verstand, die, dem von Fichte formulierten Reflexionsgesetz der Gegensatzexklusion bei allem Bestimmen unterworfen, niemals Ruhe finden kann, wenn sie die Einheit vollständig denken will. Die Bestimmung etwa des „Lebens" als der „Verbindung" der „Entgegensetzung" eines Lebendigen gegen und der „Beziehung" dieses Lebendigen auf sein Anderes, d. h. die Bestimmung des „Lebens" als eines harmonisierten Widerspruchs, enthält die Einseitigkeit, daß sie nicht zugleich die mögliche Härte dieses Widerspruchs, also die zeitweilige Unvereinbarkeit der Entgegensetzungs- und Beziehungstendenz formuliert, an der etwa das Leben Jesu zerreißen mußte. Das Leben ist also die Macht, den Gegensatz zwischen der sozialen Isolations- und der Beziehungstendenz des Lebendigen zu vermitteln. Es muß gedacht werden als die „Verbindung der Verbindung" widersprüchlicher Lebensrichtungen und ihrer „Nichtverbindung" (N 348). Den Prozeß der unendlichen Reihung von Synthesis und Antithesis, den die Reflexion hier in Gang gesetzt hat, glaubt Hegel durch den Hinweis darauf abwehren zu müssen, daß das Unendliche selbst von diesem nicht berührt werde, weil es ein „Sein außer der Reflexion" ist. Hegel hat es tatsächlich noch nicht bemerkt, daß dieser unendliche Prozeß — das Leben selbst ist.

^ So hatte Schelling in der Einleitung zu seinen Ideen zu einer Philosophie der Natur die bloße Spekulation genannt, die sich ihrem diskursiven Wesen gemäß in die „endlose Entzweiung" verstrickt. SW 2. 14 f.

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So endet Hegels dreißigjährige Jugend in einer sich selbst verkennenden Philosophie, die sich noch auf der dürren Heide des Verstandes herumgetrieben wähnt und „das wahre [!] Unendliche außerhalb ihres Umkreises" glaubt (N 348), obwohl sie sich schon bewußt, nicht aber selbstbewußt, zu ihm erhoben hat. Dieses werdende „System" der Philosophie zu verstehen, in das sich das „Ideal des Jünglingsalters" verwandelt hat, ist deshalb so schwierig, weil in ihm bereits der absolute Geist gedacht ist, ohne näher expliziert zu werden.Der alles „belebende" „Geist des Ganzen" (N 347) ist ein Geist, dessen organisierte Mannigfaltigkeit in ihrem ganzen Umfang von Hegel noch nicht dargestellt worden ist. Bislang ist dieser Geist lediglich auf dem „Feld des Humanen"^®^ erschienen, in der „Vereinigung der Geister" (N 305). Eine solche „lebendige", d. h. freie und ganzheitliche „Vereinigung", so hat Hegel versichert, sei die „Wirkung Gottes" (N 317). Trotz der Vernachlässigung des natürlichen Reichs der Notwendigkeit in Hegels frühem Denken läßt sich bereits absehen, wie der Zusammenhang des i. e. S. natürlichen und geistigen Lebens konsequent weitergedacht werden muß. Hegel hat uns in seinen frühen Manuskripten einen Schlüssel zum Verständnis seiner späteren Theiologie des absoluten Geistes verwahrt, mit der er, „was die Kirche lehrt, im Begriff auffassen" will.®®® Wo er von Gott spricht, spricht er bewußt die vergegenständlichende Sprache des Kirchenchristentums, das immer Gefahr läuft, einen persönlichen Gott jenseits der Sterne anzubeten und dar-

Zu einem anderen Urteil gelangt Theunissen: Hegels Lehre vom absoluten Geist. Einerseits stellt er einen Gegensatz zwischen dem Frankfurter Denken Hegels und einer späteren „Hinwendung zum Christentum" fest. „Während aber das Jünglingsideal gräzisierender Religiosität sich im Begriff des Ganzen oder der Totalität des welthaft Wirklichen [!] niederschlug, erhellt sich die Erfahrung der Wahrheit christlicher Religion im Begriff des Absoluten" (14). Andererseits stellt er in bezug auf das erste Systemfragment die selbstkritische Frage, „ob die Totalität, als die hier Gott gilt, schlechterdings nichts als der Immanenzzusammenhang des in der Welt Seienden sei oder ihn überschreite" (15). Indes beruht schon diese Alternative auf einer unzulässigen Abtrennung des Subjekts von seinem Handeln, des Geistes von seinem Leben. Mit seiner objektivistischen Deutung des Lebens als eines „welthaft Wirklichen" befindet sich Theunissen in wohl kaum beabsichtigter Nähe zu Lukäcs, der Hegels Frankfurter „Leben" auf die „Idee der widerspruchsvollen und lebendigen Einheit der bürgerlichen Gesellschaft" reduziert und dem Lebensbegriff damit seinen religiösen Sinn raubt {Der junge Hegel. Bd 1. 267). Gerade weil das unendliche Leben als Äußerung und Darstellung des unendlichen Geistes sich verweltlicht und verwirklicht, ist seine Charakterisierung als welthafte Totalität, der dann später „das Absolute zugrunde [gejlegt" werde (16), irreführend. Ein „ständiges Über-sich-hinausschießen" (15) ist das Leben nur deshalb, weil Hegel selbst es bereits als Substantiation des absoluten Subjekts versteht, ohne dies allerdings näher auszuführen. Hartkopf: Der Durchbruch zur Dialektik in Hegels Denken. 222. Vorlesungen über die Philosophie der Religion. WW 11. 211.

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Über Schönheit und Elend der Erde zu vergessen. Die „Gottheit", neben der Hegel selbst „keine andere" (N 391) findet, ist die „von der Einbildungskraft zum Wesen gemacht[e]" Liebe (N 376). Die sprachliche Akkomodation an die Zeitkirche — hier weiß sich Hegel mit seinem großen historischen Vorbild Jesus eins — ist nötig, wenn man auf die Gegenwart wirken und keine Fischpredigt halten will. Hegel möchte nach langen Jahren der Praxisfeme zurückkehren zum „Eingreifen in das Leben der Menschen", um eine „Wirkung auf die Welt" auszuüben, die unter dem Joch der Tatsachen gefangenliegt.^*^ Es ist für ihn kein Gebot der Sittlichkeit, sondern eine Regel der Geschicklichkeit, sich in den Umkreis des Gegners, d. h. der Schriftgelehrten zu stellen. Diese haben mit ihren Lehren von der Erbsünde und der Erkenntnistranszendenz Gottes „alle Liebe, Geist und Leben einem fremden Objekte anvertraut, aller Genien .. . sich entäußert" und „allen Adel, alle Schönheit. . . verschenkt" (N 291). Hegel bereitet sich am Ende seiner Frankfurter Zeit darauf vor, vom Katheder aus das „lebendige Brod der Vernunft" zu verteilen, das mit Jesus von Nazareth vom Himmel herabgestiegen ist.^^ Er weiß, daß diese religiöse Lehre vom lebendigen Geist der Beziehung sowohl von den orthodoxen Theologen bekämpft als auch von den Verstandesphilosophen belächelt werden wird. Diese „verständigen Menschen" können aufgrund ihres empiristisch beschränkten Wahrheitsverständnisses „nicht begreifen", wie von seiten der religiösen Einbildungskraft „ihrer Wahrheit widerstanden wird". Ihr „Fehler ist, sie bieten Steine dem Kinde dar, das Brot fordert" (N 142). In seiner neuen, am 24. 9. 1800 beendeten Einleitung zur Berner Positivitätsschrift hat Hegel über den natürlichen Hunger des Menschen nach dem Brot der Religion erneut nachgedacht und eine längst fällige Selbstkorrektur vorgenommen. Diese Einleitung enthält weder die Ablehnung einer Bewertung der historischen Religionen noch eine „Anerkennung der positiven Elemente in der Religion"^®^, schon gar nicht eine „Rehabilitation der Positivität".^®^ Vielmehr gelangt Hegel hier zur Einsicht in seine frühere unzulässige Identifizierung von Historischem und Positivem. Seine Schwäche lag darin, daß er an den religiösen Menschen in der Geschichte immer schon das Lineal seines eigenen Freiheitsbewußtseins angelegt und Positivität, d. h. Gesinnungsgehorsam auch dort unterstellt

^ Hegel an Schelling, 2. November 1800. Briefe. Bd 1. 59 f. Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie. GW 4. 201. ^ Schäfer: Das Wesen der religiösen Sozietät in Hegels theologischen Jugendarbeiten. 75. Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. 509.

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hatte, wo das religiöse Bewußtsein selbst in schrankenloser Seligkeit eine Heiligung seines Daseins gefunden haben mag. „Der schwachsinnigste, härteste Aberglauben ist für ein seelenloses, menschliche Gestalt habendes Wesen nichts Positives, aber so wie Seele in ihm erwacht, und die Anforderung des Aberglaubens bliebe, so würde er positiv für den, der sonst ganz unbefangen unter ihm stand; für den Beurteiler aber ist er notwendig ein Positives, eben weil diesem als Beurteiler ein Ideal von Menschheit vorschweben muß" (N 142). Die Religion der erwachten Seele, die Hegel im Neuen Testament gefunden hat, kann deshalb die „Religion der Wahrheit und Freiheit" genannt werden^®®, weil der in ihr angebetete Geist der Liebe, der sich im Anderen bei sich selbst weiß, nicht objektiv bestimmbar, folglich nicht fähig ist, als positives Gebot Gehorsam zu fordern. Sie kennt keine absolute „Autorität" (N 145). Die schwierige Frage, „was in unseren Zeiten für christliche Religion gelten könnte" (ebd.), hat Hegel in seinen frühen Manuskripten noch nicht beantwortet. Sein spekulatives Christentum, zu dem er sich unserer Deutung nach nicht erst später hingewendet hat, läßt sich jedoch in seinen Umrissen bereits erschließen; und zwar aus der Kombination der Motive, die ihm zugrunde liegen, mit dem Keim seiner spekulativen Religionsgeschichte und dem Ansatz beim monistischen Prinzip Geist. Hegel geht davon aus, daß „in der menschlichen Natur selbst das Bedürfnis [ist], ein höheres Wesen, als das menschliche Tun in unserem Bewußtsein ist [!], anzuerkennen" und „die Anschauung der Vollkommenheit desselben zum belebenden Geiste des Lebens zu machen" (N 146). (Von der Suche nach diesem religiösen Geist, der im Handeln sich äußert, haben wir Hegels Entwicklung ihren Ausgang nehmen gesehen.) Zugleich stellt er fest, daß die Verehrung des Vollkommenen „zum grellen Positiven" wird, „wenn die menschliche Natur absolut geschieden wird von dem Göttlichen, wenn keine Vermittlung [!] derselben — außer nur in Einem Individuum [Jesus Christus] — zugelassen" wird (ebd.). Eine solche Vermittlung wird aber geleistet im trinitarischen Gedanken, daß die Söhne als Momente im Ganzen des Vaters leben und umgekehrt. Die entscheidende Frage an Hegel wäre allein die Frage nach seinem Verständnis vom Vater. Daß diesem Persönlichkeit zukomme, muß bezweifeln, wer Hegels kritische Bemerkung im Gedächtnis hat, daß es „zwei unabhängige Willen" nicht geben kann (N 391). Der „Vater" kommt vielmehr erst in seinen Söhnen zum Bewußtsein, er wird erst durch sie zum Geist des Ganzen.

^

Vorlesungen über die Philosophie der Religion.

WW 12. 167.

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Diese Auffassung, in der Hegels politischer Anspruch zum Tragen kommt, das Ganze nicht seinen Momenten vorauszusetzen, äußert sich auch im folgenden religionsgeschichtlichen Entwicklungsschema. Das Kind „beginnt mit dem Glauben an Götter aus[ser] sich, mit der Furcht^®^, bis es selbst immer mehr gehandelt, getrennt hat, aber in den Vereinigungen zur ursprünglichen, aber nun entwickelten, selbstproduzierten, gefühlten Einigkeit zurückkehrt; und die Gottheit erkennt, d. h. der Geist Gottes in ihm ist, aus seinen Beschränkungen tritt, die Modifikation aufhebt, und das Ganze wiederherstellt. Gott, der Sohn, der heilige Geist!" (N 318) Daß der von fremden Autoritäten befreite Menschengeist, in dem das Ganze zu seinem Selbstbewußtsein gelangt, sich zugleich mit seinem Ursprung verbunden, sich eines Wesens mit ihm weiß, unterscheidet ihn von einem „Ich", das „über den Trümmern dieses Leibes und den leuchtenden Sonnen, über den tausendmaltausend Weltkörpem" schwebt und „alles entgegengesetzt, unter seinen Füßen hat" (N 351).^^ Hegel hat in seinen Jugendmanuskripten die „Ruhe" in einer „unpersönlichen lebendigen Schönheit" gefunden (N 342), zu der seinem Urteil nach das Kirchenchristentum nicht gelangen konnte, weil für dieses das Göttliche „allein im Bewußtsein, nie im Leben vorhanden sein" sollte (N 341). Das „Schicksal" dieses Christentums bleibt daher, daß „Kirche und Staat, Gottesdienst und Leben, Frömmigkeit und Tugend, geistliches und weltliches Tun nie in Eins zusammenschmelzen können" (N 342). Hegel wird dagegen - was hier nicht mehr gezeigt werden kann — eine philosophische Offenbarungs-Theiologie lehren, die ihr Herzstück im christologischen Gedanken des sich entäußemden Geistes, der ihr Kreuz auf sich nehmenden, sich verschenkenden und scheiternden Liebe hat. Mit Hölderlin teilt er einen religiösen Glauben, der niemals vergeßlich dafür geworden ist, daß es zunächst „der Geist des Menschen" ist, der der Materie „lebendigen Othem einhaucht".^^i Dieser Geist weiß sich aber zugleich als freies Moment eines Ganzen, zu dem er sich demütig erheben muß, um sich ihm nicht zu überheben. Zum absoluten Geist wird er, wenn er sich

S. o. 212.

390

Ygj Pichte: Appellation an das Publikum. SW 5. 236 f.

Hegel an N. Endel, 2. Juli 1797. Briefe. Bd 1. 55. Vgl. Hölderlin: Hyperion. Metrische Fassung: „Ich weis, daß nur Bedürfnis uns dringt, der Natur eine Verwandtschaft mit dem Unsterblichen in uns zu geben und in der Materie einen Geist zu glauben, aber ich weis, daß dieses Bedürfnis", nämlich die Liebe, „uns dazu berechtigt, ich weis, daß wir da, wo die schönen Formen der Natur uns die gegenwärtige Gottheit verkündigen, wir selbst die Welt mit unserer Seele beseelen, aber was ist dann, das nicht durch uns so wäre wie es ist?" StA 3. 192; vgl. 194.

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nicht mehr absolutsetzt, sondern sich befreit vom unmittelbaren Blick des Verstandes und sich zurückbindet an sein Anderes. Hegels im Entstehen begriffene politisch religiöse Philosophie ist eine „kontemplative Gotteslehre"^®^, die niemals zu einer Lehnstuhlphilosophie geworden ist, weil sie ihren Gegenstand in der absoluten Unruhe hat. „Nichts ist festgeworden" (N 395) in der offenen und polymorph sich gestaltenden Totalität des geistigen Lebens, weil sein Prinzip der ewige Widerspruch des Zeitbedürfnisses mit dem Zeitgegebenen ist, der sich in „Explosionen" (N 385) entladen oder auch kontinuierlich aufheben kann. Mit dem Gedanken, daß der Geist des Menschen in der ganzen Bandbreite seiner Bedürfnisse die „Macht über die Wirklichkeit" darstellt (PR 140), daß zugleich aber die durch keinen Machtspruch herbeizurufende, unweltliche Macht des tätigen Geistes freier Verbundenheit „unter den Menschen" „wohnt" (N 391), hat sich Hegel schließlich versöhnt; nicht mit einer „gesellschaftlichen Realität".^®^ Seine Dialektik will keinen Fortschritt in der analytischen Erhellung der Dunkelheiten erreichen, mit denen etwa Kant in seiner Erkenntnistheorie und Ethik gerungen hat. Vielmehr ist sie daran interessiert, ein letztlich Irrationales — auch den blinden Fleck, der als Motiv einem jeden philosophischen Augen-Blick seine perspektivische Gestaltganzheit schenkt — als solches gelten zu lassen und das „Wunder" und „Geheimnis" freier Ganzheiten und aufgehobener Widersprüche zu verehren. In der Aura fluktuierender gedanklicher Bestimmtheit, die Hegels ganze spätere Philosophie des lebendigen Geistes umgibt, ist dieses dreifältige Geheimnis der spontan sich erzeugenden, in ganzheitlichen Beziehungen sich individuell gestaltenden und regenerationsfähigen Macht des ewigen Lebens testamentarisch aufbewahrt. Hegelsche Philosophie, die den meisten noch immer als geschichtliches Musterbeispiel für die naiv anmaßliche Besitzphantasie gilt, Gott und seine lebendige Schöpfung in den Schnappsack der abstrakten Begriffe einzustreichen — sie ist tatsächlich das systematisch durchgeführte Eingeständnis, daß die ganze Fülle des Lebens, deren Natur sich des Schleiers nicht berauben

Iljin: Die Philosophie Hegels als kontemplative Gotteslehre. 3*3 So Rohrmoser: Subjektivität und Verdinglichung. 44. Rohrmosers Verdienst, die Unhaltbarkeit einer politisch-theologischen Dichotomie der Hegel-Interpretation aufgezeigt zu haben, soll hier nicht geschmälert werden. Aber seine Vernachlässigung der dialektischen Spannung, die dem sozial-ethischen Sinn von Hegels politischem Christentum innewohnt, läßt durchweg den Eindruck aufkommen, als werde Hegel schließlich für die Bewertung eben derjenigen Realität als einer real gegebenen „Erlösung" (79, 86) gelobt, deren Gewaltcharakter kritisiert zu haben ihm zuvor als politisch-emanzipatorisches Interesse bescheinigt wurde.

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läßt, keinem Sterblichen zuteil wird. Insofern war niemals das Hegelsche System zusammengebrochen, sondern das öffentliche Bewußtsein darüber, daß dies System bereits die Zusammenbruchserfahrung eines die selbstgeschlagenen Wunden kaum mehr heilen könnenden analytischen Weltverhältnisses darstellend bewirken wollte, die zu leisten „durch Philosophie leben lemen"^^ heißt.

394 Ygj hierzu Baum, Meist: Durch Philosophie leben lernen. Hegels Konzeption der Philosophie nach den neu aufgefundenen Jenaer Manuskripten.

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