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German Pages [432] Year 2009
böhlau
Literatur und Leben Neue Folge Band 75
Sabine Zeiger
Das ist alles viel komplizierter, Herr Sektionschef! Bürokratie - literarische Reflexionen aus Osterreich
BÖHLAU VERLAG W I E N • KÖLN • W E I M A R
Gedruckt mit der Unterstützung durch den
FLU F
Der Wissenschaftsfonds.
Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek : Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78299-5 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2009 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. KG, Wien • Köln • Weimar http ://www.boehlau.at http ://www.boehlau.de Umschlaggestaltung : Judith Mullan Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck: General Nyomda Szeged, 6726 Szeged
DANKSAGUNG
Im Rückblick auf die Jahre, in denen dieses Projekt konzipiert, zu finanzieren versucht, finanziert, durchgeführt und fertiggestellt worden ist, bemerke ich fast erschrocken, wie viele Freundinnen und Freunde, aber auch Institutionen, zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben. Sie haben meine Forschungsarbeit begleitet, belebt und bereichert, ermöglicht oder vorangetrieben. Bedanken möchte ich mich - bei zahlreichen Behördengängern aus Osterreich und Italien für heftige Diskussionen über die öffentliche Verwaltung und die Preisgabe ungezählter Amtsanekdoten - bei vielen meiner Kursteilnehmer und Kursteilnehmerinnen, die mir wertvolle Einblicke in den AMS-Alltag, in das Antragswesen und die Welt der Zeitbestätigungen und Staatsbürgerschaften geboten haben - beim Finanzamt, durch das ich persönlich spannende Einsichten in die Tiefe des Amtsdenkens gewinnen konnte, und insbesondere beim Finanzsenat, der von mir wissen wollte, wer mir die Liste der Primär- und Sekundärliteratur zur Verfügung gestellt habe - bei verschiedenen Institutionen, in denen ich als Deutschlehrerin arbeitete, für Erfahrungen mit informellen Ordnungen, hierarchischen Strukturen und sogenannten „Liquidierungstagen", an denen zentrale Daten an die kurszahlende Behörde zu übermitteln waren - bei der EU, in deren Bürokratie ich durch die Teilnahme an einem EqualProjekt erste persönliche Einsichten gewinnen konnte - beim italienischen Staat für hautnah zu erlebende Abwicklungen von Referenden und Pensionsverrechnungen - beim österreichischen Staat für seine jahrhundertealte Bürokratietradition, die ich nach wie vor an allen Ecken und Enden miterleben darf - beim US-amerikanischen Staat für die Finanzierung einer Vortragsreise zum Thema und seine aktuelle Sicherheitspolitik, durch die ich interessante Bürokratismen der freien Welt kennenlernen konnte
VI
Danksagung
- bei Lesern und Leserinnen, die mir Literaturtipps gaben oder vermittelten, dass Bürokratie nicht in allen guten Texten eine wichtige Rolle spielt - bei der Familie und meinen Eltern, die mir immer wieder extrabehördliche Rückzugsräume schufen. Namentlich danke ich herzlichst: - Projektleiter Roland Innerhofer, der dem Projekt treu zur Seite stand und viele Versionen des Manuskripts sorgsam durchgesehen hat - Wendelin Schmidt-Dengler (f 2008) für die jahrelange Betreuung der Arbeit und seine anregenden Impulse - Erika Schmid, mit der ich gemeinsam voller Enthusiasmus ins Projekt und den öffentlichen Finanzierungsdschungel gestartet bin - Hans Placzek, RegR, (f 2004) der mich mit so manchen Geheimnissen der Amtswelt vertraut und mit der „Beamtenbibel" Kleinwächters bekannt gemacht hat - Thomas und Heinz Zeiger für die viele Lesearbeit und kritische Hinterfragung - Patrick Greaney für seine wertvolle Lektoratsarbeit - Christa Klausberger für Korrektorat und sprachlichen FeinschlifF - Wolfgang Straub und Stefan Krammer als Leser, Diskussionspartner und verlässliche Dinstitutsfreunde im Germanistikalltag - Marion Löffler für ihre politikwissenschaftlichen, Sophia Plöchl für ihre juristischen Anregungen sowie Doris Pfabigan als philosophische Mitdenkerin - Alexander Grübl für seine schönen Fotos - Andi Krainz für seine beharrlich institutionenkritischen Standpunkte - meinen Kindern für ihre spannenden Fragen und Antworten zu Sinn und Bedeutung von Bürokratie und Amtsgeschäften - Eva Reinhold-Weisz für ihre Geduld und Verlässlichkeit in allen redaktionellen und verlegerischen Belangen - dem Theodor Körner Fonds, dem FWF* und dessen anonymen Gutachtern für Anregungen, Preis und Geld. *
Das Buch fußt auf den Ergebnissen des FWF-Projekts „Der bürokratische Alltag in Österreich".
VORBEMERKUNG Von Wendelin Schmidt-Dengler (t)
Das Wesen der Bürokratie ist zum Verständnis größerer sozialer Ordnungen unabdingbar. Die Banalität dieser Einsicht mindert keinesfalls die Dringlichkeit, sich der Spezifika der Bürokratie in unterschiedlichen Staaten analytisch anzunehmen und das Thema nicht nur der Konversation und dem gesellschaftsfähigen Witz zu überlassen, wozu behördliche Administration allemal Anlass geben mag. Das Moment des im besten Sinne Amüsanten sei keineswegs geleugnet, doch wäre es in der Tat verhängnisvoll, wollte man diese Thematik darauf reduzieren. Die Bandbreite, die sich aus den von Sabine Zeiger herangezogenen Beispielen ergibt, reicht von Fritz von Herzmanovsky-Orlando über Alois Brandstetter, Franz Kafka, Joseph Roth, Albert Drach und viele andere Erzähler bis hin zu Texten, die gemeiniglich der experimentellen Literatur oder der Avantgarde zugeschrieben werden, wie etwa die kleinen Schriften Konrad Bayers oder Heimrad Bäckers singuläre Auseinandersetzung mit dem Holocaust in seiner „Nachschrift", woraus sich auch ein repräsentativer Querschnitt durch die österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts ergibt. Das Thema bedarf der soziologischen und philosophischen Absicherung, wobei durch die Thesen von Max Weber, Jürgen Habermas und Michel Foucault förderliche Perspektiven eröffnet werden. Entscheidend aber ist die Integration des Themas Bürokratie in die Texte und der Nachweis, dass sich deren literarische Struktur daraus ergibt. So werden die Beispiele als aussagekräftige Quellen zur Geschichte der Bürokratie im Alltag gelesen, aber eben nicht nur, sondern eben auch als künstlerische Zeugnisse eines Phänomens, in dem dieses im besten Sinn wie im bekannten Doppelsinn aufgehoben ist. Die verlässliche Observanz des Themas wird zum Ariadnefaden durch das Labyrinth der österreichischen Literatur, zum anderen wird von Kapitel zu Kapitel ein Argument nach dem anderen geliefert, dass die sogenannte schöne Literatur für Verständnis komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge unentbehrlich ist.
INHALT
DANKSAGUNG
V
V O R B E M E R K U N G von Wendelin Schmidt-Dengler
VII
INHALTSVERZEICHNIS
IX
EINLEITUNG
Über sagenhalte Gegensätze bei der Betrachtung bürokratischer Ordnungen. Standpunkte in verschiedenen Diskursen. Ein Uberblick zum Forschungsstand 1 01 „Bürokratie" als Schimpfwort, Fachbegriff und literarisches Thema . . . 15 02 „Bürokratie" als Herrschaftsform, Subsystem und Zuchtprogramm . . . 23 03 „Bürokratie" im Klassiker, Bestseller und Experiment 26
I BÜROKRATIE ALS Ä U S S E R U N G M O D E R N E R
HERRSCHAFT
(Max Weber)
29
1 Die moderne Herrschaft: legal und bürokratisch 2 Die Sehnsucht nach einer anderen Herrschaft
29 33
A Ein leidenschaftliches Plädoyer für eine vorjosephinische Herrschaft
1 2 3 4
Alois Brandstetter: Die Abtei Die böse Bürokratie Das Ideal charismatischer Klosterherrschaft Das Ideal patrimonialer Weltlichkeit Schreibverfahren contra bürokratische Verfahren
40 40 43 45 50
B Die Vision einer bürokratischen Patrimonialherrschaft k.k.k.k. Österreichs
Fritz von Herzmanovsky-Orlando: Das Maskenspiel der Genien . . . .
59
X 1 2 3 4 5 6
Inhalt
Die Grenzen: Das dehnbare Österreich Die Herrschaft: Eine Staats-, Natur- und Göttergewalt Die Eroberung: diffizil bürokratisch Die Legitimität: Bürokratie in Hochform Der Apparat: erfrischend bunt Gesetz und Willkür: Ein dialektisches Verhältnis
59 63 66 71 79 82
C Schrecken der bürokratischen Alleinherrschaft
Franz Kafka: (Poseidon) 1 Herrschaft ohne Alternative
88 88
2 Zeitlose Herrschaft 3 Legitime Herrschaft, unbrauchbare Untertanen 4 Automatismus bis zum stillen Augenblick vor dem Weltuntergang . . .
90 93 97
D Der Bann des Mangels. Literatur versus Herrschaftstypologie. Eine Zusammenfassung
1 Der Zweck des Fehlers 2 Der Fluch der Götter 3 Der Segen der Satire
1 02
102 106 113
II. B Ü R O K R A T I E V E R S U S L E B E N S W E L T (Jürgen Habermas)
117
1 Kritische Sozialwissenschaft und Herrschaftssoziologie. Handlungsräume durch Perspektivenwechsel
117
2 Bürokratisierung als Kolonisierung und emanzipatorischer Prozess in der Literatur
122
A Der tödliche Fortschritt des imperialistischen Systems
1 2 3 4
Joseph Roth: Das falsche Gewicht Lebensweltliche Strukturen als staatspolitisches Tabu? Ergebnisse der Bürokratisierungspolitik Ursachen für die Misserfolge der Bürokratisierungspolitik Strategie und Verständigung im Kolonisationsprozess
125 125 130 134 144
Inhalt
XI
B Bürokratische Herrn im Reich der Sinne
Albert Drach: Untersuchung an Mädeln. Kriminalprotokoll 151 1 Die strategische Institutionalisierung sexueller Handlungsbedingungen 156 a) Die harmlose Argumentation 157 b) Das imponierende Satzgefüge 162 c) Verschleiernde Passivformen 164 d) Der verbürgende Indikativ 168 2 3 4 5
Lebensweltliche Vorstellungen von Autostoppersexualität Die Terminologisierung der Vergewaltigungen Uber die Legitimierung juristischer Sexualchroniken Die fachsprachliche Amtsbehandlung von Kindheitssexualität und Liebesabenteuern 6 Kolonialisierung auf allen Ebenen
170 174 179 181 191
C Existenzielle Kämpfe zwischen System und Lebenswelt
Konrad Bayer: Kurze Texte 1 Die „Holde des Unsagbaren": Jenseits von systemischer Statik und der dynamischen Lebenswelt (SEIN Lachen) 2 Ein Plädoyer für Dissens und Missverständlichkeit: Jenseits der Uberlebensfahigkeit des Systems und des lebensweltlichen Zusammenhangs der 50er-Jahre (Dicht gedrängt sitzen die Menschen) 3 Der Luxus der Systemwelt: Jenseits von Logik und Zweckrationalität (Ich wandere) 4 Die Utopie des verstaatlichten Einzelkämpfers: Contra Gesellschaft und Geselligkeit (einmannstaat) 5 Die Sehnsucht nach Herrschaftsfreiheit: Abseits von Mönchen, Matrosen, Rittern und Landsknechten (qui & qua. schauspiel in aufzügen) 6 Die Herrschaft der Einbahn: Legitimiert durch Gehorsamskultur. die einbahn
195 196
199 203 209
217 224
D Die „poröse" Schnittstelle zwischen Lebenswelt und System. Eine Zusammenfassung
1 Komplizenschaft zwischen System und Lebenswelt 2 Beamte zwischen System und Lebenswelt
229
230 235
XII
Inhalt
3 Vom richtigen und falschen Leben in der Bürokratie 4 Von der Universalität nationalbürokratischen Eigensinns
238 242
III. B Ü R O K R A T I E A L S Z U C H T M E C H A N I S M U S MIT V A R I A T I O N E N
..
247
(Michel Foucault)
1 Bürokratie als normender und normalisierender Prozess 2 Bürokratie als genuin bürgerliche Lebenspraxis
247 252
A Ökologie und Genetik
Texte über den Beamtenalltag von Gustav von Festenberg, Alexander Lernet-Holenia, Friedrich Kleinwächter, Anselm Eder, Hermann Ungar und Autobiografien von k.k. Beamten 1 Minute flir Minute: programmiert 2 Die Geografie der Bürokraten: verorten und klassifizieren a) Die Vielfalt der „Klausur" als klösterliche Abschottung b) Die Domäne der „Parzelle" mit Ubertrittssucht c) Heimatgefuhle in „Funktionsstellungen" d) Geborgenheit im „Rang" 3 Bürokratische Gewinne und Verluste durch Beamtenprosa a) Die Arbeit an Disziplin und Zerstreuung b) Rettungsaktionen der Dynastik c) Öffentlichkeitsarbeit
256 256 271 273 279 284 289 304 308 314 320
B Ökonomie und Perfektion
Heimrad Bäcker: nachschrift und nachschrift 2 1 Verteilung der Individuen im Raum a) Kategorisieren b) Deportieren c) Töten und Aufräumen d) Richten
327 329 330 333 334 340
2 Ökonomische Produktivität 3 Die Legitimität des Gehorsams 4 Die Arbeiten des Dichtens und Lesens
343 349 353
Inhalt
XIII
C Bürokratie als disziplinare Herausforderung. Eine Zusammenfassung
357
1 Bürokratie als Kräfteverhältnis
357
2 Bürokratie als Evokation des Individuums
362
3 Bürokratie als Schreibmotivator
365
SCHLUSSBETRACHTUNGEN
368
1 Literatur versus Theorie: Entbürokratisierung versus Bürokratisierung
369
2 Literatur versus Alltagsdiskurs: Bürokratie als gesamtgesellschaftliches Dilemma versus Feindbildkonstruktion . . . .
376
3 Literatur und Bürokratie: Skizzen zu einer Poetik der Bürokratie . . . .
383
4 Bürokratie und Forschung: Ein Ausblick
390
LITERATURVERZEICHNIS
395
Primärliteratur
395
(Alt-)Osterreichische Literatur
395
Andere Literatur
399
Sekundärliteratur
402
BILDNACHWEIS
410
PERSONENREGISTER
411
DIE A U T O R I N
415
EINLEITUNG Über sagenhafte Gegensätze bei der Betrachtung bürokratischer Ordnungen. Standpunkte in verschiedenen Diskursen. Ein Überblick zum Forschungsstand. eine meinung auf die spitze treiben, sich hineinstemmen dass alle meinungen ein bisschen verschoben werden, dann reisst sie und schnalzt den seicherln hinter dir in die visage. Oswald Wiener
Geht man den Aussagen verschiedener Diskurse über „Bürokratie" nach, so ergibt sich ein äußerst widersprüchliches Bild des Phänomens. Bürokratie, verstanden als Begriff für moderne Verwaltung, wird mit Merkmalen bedacht, die zueinander in radikalem Gegensatz stehen: Bürokratische Verwaltung wird als rationales Handeln gesehen, gilt aber in anderen Zusammenhängen als Inbegriff der Irrationalität; Bürokratisierungsschübe werden von den einen durchwegs positiv als Ökonomisierung gewertet, andere sehen darin lediglich die Favorisierung äußerst unökonomischer Praktiken; für die einen beruht Bürokratie auf Kriterien der Berechenbarkeit, während sie für die anderen geradezu exemplarisch für das Gegenteil steht und sich aus unerwarteten, unerwartbaren sowie undurchschaubaren Handlungen zusammensetzt. Dass bürokratische Systeme für Stabilität und Kontinuität sorgen, nur darüber scheint Einstimmigkeit zu herrschen. Jedoch wird diese Zuschreibung wiederum konträr gewertet: als Vorteil und Nachteil, als Garant für Sicherheit oder Willkür, als Voraussetzung für Demokratie oder Totalitarismus. Die Divergenzen treten nicht immer klar zutage. Gerne sind die Äußerungen über Bürokratie in große ideologische Diskurse oder komplexe Entwürfe eingebettet : in Auseinandersetzungen um Bilder der Nation, Deutung und Wertung
2
Einleitung
der Vergangenheit, der politischen und gesellschaftlichen Praxis, in Reden über den Beginn oder das Ende von „Zivilisation" oder „Kultur". Nicht zufallig wird Bürokratie entweder als genuiner Bestandteil von Demokratie oder aber von Faschismus ausgemacht und bringt der Bevölkerung je nachdem vor allem Freiheit oder vor allem Zwang. Äußerungen über Bürokratie liefern somit, so sie nicht bloß als polemische Seitenhiebe gedacht sind, nicht selten gesamtgesellschaftliche Diagnosen oder sind in solche verpackt. Deshalb werden auch die hier untersuchten Auseinandersetzungen mit Bürokratie vor dem Hintergrund komplexer Wert- und Ordnungssysteme betrachtet. Für die Untersuchungen der fiktionalen Literatur werden sozialwissenschaftliche Arbeiten herangezogen, die „Bürokratie" als je spezifische Formationen historisch und systematisch von anderen abgrenzen. Weil das Buch nicht zuletzt auf Klärung gegenwärtiger Standpunkte abzielt, bleibt für die Fragestellungen der Alltagsdiskurs stete Referenz. Rückgefragt werden demnach jene Punkte, die sich als dominant und aktuell aus öffentlichen Diskussionen und Medienbeiträgen ableiten lassen. Äußerungen über Bürokratie, wie sie heute privat und medial getätigt werden, nähern sich bürokratischen Phänomenen v.a. auf zweierlei Arten: über Einzelerfahrungen oder, indem damit v.a. staatliche Institutionen charakterisiert werden, als Kontrast zu privatwirtschaftlichen Ordnungen. Neben dem beliebten Augenmerk auf skurrile Besonderheiten und Störungen geht es vor allem um Fragen der Quantität: Ein Zuviel an Personal, Kosten, Regelungen wird konstatiert und führt zu verbreiteten Forderungen nach Rück- und Abbau. Dabei drängen sich zwei grundlegende Fragestellungen auf: Erstens: Fokussieren Alltagsäußerungen auf jenen „Bürokratismus", der nach Manfried Welan „lediglich pathologische Zustände von Bürokratien" umschreibt1, und wird demnach bloß Untypisches thematisiert? Meint „Entbürokratisierung" bloß eine Gesundung der öffentlichen Hand, die im Prinzip als Strukturform akzeptiert wird ? Bleibt auch die Forderung nach Ökonomisierung im Rahmen bürokratischer Ordnung oder impliziert sie eine Veränderung der Herrschaftsformen und der Politik?
1
Vgl. M. Welan: Die Republik der Mandarine? Ein Beitrag zur Bürokratie- und Beamtenrechtsdiskussion. Institut für Wirtschaft, Politik und Recht, Wien (Hg.): Diskussionspapier Nr. 57-R96. Wien 1996. S. 4
Einleitung
3
Und zweitens: Warum schreitet Bürokratisierung trotz langandauernder, heftiger Kritik kontinuierlich voran - und das ohne sichtliche Reduktion der wiederholt beanstandeten Mängel? Vor dem Hintergrund dieser Fragen wird in diesem Buch das Augenmerk auf detaillierte Wahrnehmungen bürokratischer Ordnungen gelegt und nach alternativen Vorstellungen gefragt. Zugleich werden die Hartnäckigkeiten bürokratischer Strukturen untersucht und Verwirklichungsmöglichkeiten anderer Organisationsformen ausgewertet. Dafür wird der literarische Diskurs in den Mittelpunkt gestellt. Anhand einer exemplarischen Auswahl literarischer Auseinandersetzungen mit Bürokratie sollen Antworten auf gängige Fragen gesucht werden.
BÜROKRATIELITERATUR A L S ZEUGNIS VON HUMANITAS UND KNECHTSCHAFT
Obwohl in Osterreich zwischen Literatur und Verwaltung/Amt/Beamten 2 eine auffällige Affinität besteht, wurden literarische Texte bislang kaum für die Bürokratieforschung ausgewertet. Das heißt aber nicht, dass das Naheverhältnis nicht Gegenstand germanistischer Untersuchungen wäre, im Gegenteil: Immer wieder wird es von Literaturwissenschaft; und Literaturgeschichtsschreibung dazu herangezogen, Aussagen über Kultur, Wesen und Nationalliteratur zu treffen. Ohne näher auf die Systematik und nationale Besonderheit bürokratischer Strukturen einzugehen, ja meist unter impliziter Wertung der Verwaltungsverhältnisse als nationalspezifische Ordnung, wird die Affinität für Standortbestimmung, Abgrenzung und Wertung der österreichischen Literaturtradition fruchtbar gemacht. Wie die Wertungen der verschiedenen Diskurse sind auch die literaturwissenschaftlichen Ergebnisse denkbar widersprüchlich. Weil sie nicht nur die Wahrnehmung der nationalen Literatur, sondern auch die Wahrnehmung der nationalen Verwaltungstradition beeinflussen, werde ich die konträrsten Deutungen skizzieren.
2
D i e m a s k u l i n e n B e z e i c h n u n g e n , wie beispielsweise B e a m t e r o d e r B e a m t e , w e r d e n in d i e s e m Buch g e s c h l e c h t s n e u t r a l g e b r a u c h t . Ich m ö c h t e a b e r d a r a u f h i n w e i s e n , dass im Bürokratiediskurs implizit o d e r explizit fast i m m e r d e r m ä n n l i c h e S t a a t s d i e n e r imaginiert ist. N u r als B e a m t e n g a t t i n n e n o d e r V e r w a l t u n g s o b j e k t e spielen F r a u e n eine gewisse Rolle. E i n e U n t e r s u c h u n g d e r literarischen B ü r o k r a t i e t e x t e u n t e r d e m G e n d e r a s p e k t s t e h t n o c h aus.
4
Einleitung
Die prominenteste Interpretation hat Claudio Magris geliefert und das Spezifikum der modernen österreichischen Literatur in der Arbeit am sogenannten „Habsburg-Mythos" nachgewiesen. Als eines der zentralen Motive des Mythos macht der Triestiner Wissenschaftler die Verklärung bürokratischer Ordnung aus, die im älteren k.k. Beamten versinnbildlicht werde und in dessen lebensweltliche Dimension „verlagert sei"3. Mit den rückwärts gewandten Idealisierungen habe die Literatur, so der Autor, wesentlich zum österreichischen Immobilismus der politischen und gesellschaftlichen Praxis beigetragen. Bei späterer Prüfung dieser Thesen - das Buch kam in den 60er-Jahren heraus und hat zahlreiche Auseinandersetzungen angeregt - wurde neben dem verklärenden auch der kritisch demaskierende Blick auf die Bürokratie und die alte Beamtenordnung hervorgehoben, der fiir die österreichische Literatur ebenso charakteristisch sei.4 Die Prominenz der Idealisierungsthese scheint diese ergänzende Interpretation jedoch bis heute nicht erlangt zu haben, auch wenn sich ihr der Autor selbst anschloss.5 Allerdings kam sie jenem Bürokratieverständnis entgegen, in dem Alltagserfahrungen verallgemeinert werden, die oft Assoziationen mit Kafkas Werken hervorrufen und alles andere eröffnen als verklärte Blicke auf das Thema. So spiegeln bereits diese beiden Lesarten der österreichischen Literatur den Kontrast der eingangs erwähnten Einschätzungen. Noch schärfer tritt die Opposition der Deutungen zutage, wenn mit dem spezifischen Wechselverhältnis zwischen Bürokratie und Literatur eine genuin nationalliterarische Tradition begründet wird. Als Eckpunkte literaturwissenschaftlicher Betrachtung sollen hier zwei gegensätzliche Befunde skizziert werden, die jeweils auf Bedingungen staatsbürokratischer Ordnung und deren Ordnungsträger zurückgeführt werden. Joseph Strelka weist auf Zusammenhänge zwischen Beamten und Literatur seit der Renaissance hin. Der „assimiliations- und dienstaristokratische Typus" sei entscheidend an der Herausbildung einer „allgemeinen Geistigkeit als sozialem und kulturellem Gesamtrahmen" beteiligt gewesen, und zwar in 3 4
C. Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1966. S. 29 Vgl. W. Weiss: Thematisierung der „Ordnung" in der österreichischen Literatur. In: G. Weiss/K. Zelewitz (Hg.): Peripherie und Zentrum. Studien zur österreichischen Literatur. Festschrift für Adalbert Schmidt. Salzburg 1971. S. 19-45
5 Vgl. C. Magris: Dreißig Jahre danach. In: Der Habsburg-Mythos. A.a.O. S. 9-18
Einleitung
5
viererlei Hinsicht: als Autor, Gegenstand und Thema der Literatur sowie als deren Publikum. 6 Damit habe er die österreichische Literatur und Kultur wesentlich geprägt, die sich nicht von ungefähr durch „eine menschenbrüderliche Humanitas und All-Liebe" auszeichne: „als höchste Sublimationsform des Österreichischen [schafft die österreichische Literatur] jene Verbindung von Universalität und Individualität, von Traum und Wirklichkeit", 7 die anderen Nationalliteraturen mangle. Selbst wenn diese schöne Tradition heute nur mehr nachwirke oder vielleicht bereits zu einem Ende gelangt sei,8 das Ergebnis aus der fruchtbaren Nähe von Amt und Dichtung kann sich sehen lassen. Joseph Strelka: Die historische Wirklichkeit des hohen Ethos österreichischer Dichtung, aus dem Schoß einer viele Jahrhunderte hindurch währenden Tradition, ist als Formkraft fur die österreichische wie als Beitrag zur Menschheitskultur unverlierbar. 9
Für ebenso entscheidend hinsichtlich der Herausbildung einer österreichischen Literaturtradition erachtet Juliane Vogel 10 die Nähe von Amt und Literatur. Allerdings wird sie von ihr als „verheerende Nachbarschaft" bezeichnet 11 : Während durch die religiöse Herrschaft bis weit ins 18. Jahrhundert keine eigenständige österreichische Dichtung existiert habe, sei deren Entfaltung später durch die Diskurse der staatlichen Institutionen determiniert und eingeschränkt gewesen. Juliane Vogel: „Die freigewordenen Potentiale äußerten sich im Dienste des Staates oder im Widerstreit mit ihm, nicht aber im Dienste literarischer Selbstbestimmung." 12
6 J . Strelka: Einleitung. In: ders.: (Hg.): Im Takte des Radetzkymarsches ...: Der Beamte und der Offizier in der österreichischen Literatur. Bern/Berlin u.a. 1994 ( = New Yorker Beiträge zur Osterreichischen Literaturgeschichte, Bd. 1). S. 7-9, hier S. 9 7 Ders.: Die sozialgeschichtliche Entwicklung und die kulturmorphologische Funktion des Beamten in der österreichischen Literatur. In: ebd. S. 17-31, hier S. 28 8 Ebd. S. 30 9 Ders.: Brücke zu vielen Ufern. Wesen und Eigenart der österreichischen Literatur. Wien/Frankfiirt u.a. 1966. S. 16 10 J. Vogel: Portable Poetics. Oder: „Kennst Du das Wörtchen Ordnung nicht ?" In: ( = manuskripte. Ztsch. f. Lit. 33. Jg. Nr. 119) Graz 1993. S. 105-112 11 Ebd. S. 109 12 Ebd. S. 108
6
Einleitung
Somit wird das, was so schön als gemeinsamer Nenner einer gesamten literarischen Tradition ausgemacht wird, zum Ausgangspunkt widersprüchlichster Deutungen: sei es, was die Wirkungen des Amtes auf die Literatur oder der Literatur auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit, sei es, was die Wirkung auf die Wirklichkeit selbst anbelangt. Die auffallige Nähe zwischen literarischer und Verwaltungstradition, die von allen Seiten als etwas spezifisch Österreichisches klassifiziert wird, fuhrt zu kontroversesten Wertungen der Nationalliteratur, Nationalkultur, der nationalen Befindlichkeit und der nationalen Bürokratie.
ARTEN DES ZEUGNISLESENS
Statt den genuin ideologischen Hintergründen dieser Interpretationsvielfalt nachzugehen - immerhin geht es ja um die literaturwissenschaftliche Konstitution einer nationalen Kultur soll hier lediglich die methodische Frage angesprochen und damit die Zugangsweise meiner Arbeit skizziert werden. In den erwähnten Untersuchungen wird die quantitative und qualitative Dominanz von „Bürokratie", „Ordnung", „Beamtenschaft", „Amt" festgestellt und anhand exemplarischer Texte deren thematische und strukturelle Vorherrschaft eruiert. Diese Begriffe werden aber meist nur notdürftig definiert und kaum von anderen Verwaltungs-, Herrschafts- oder Ordnungsmustern abgegrenzt. Implizit werden sie entweder in ihrer nationalen Spezifik oder als idealtypische Systematik verstanden und nach Kriterien gewichtet und gewertet, die nicht selten aus dem literarischen Diskurs selbst gewonnen werden: wie das österreichische „Fortwursteln" oder das Prinzip der Berechenbarkeit. Anders wären die vielfältigen Texte und die unterschiedlichen Merkmale sich wandelnder Verwaltungssysteme gar nicht auf gemeinsame Nenner zu bringen. Es wäre das, was die Literatur in Differenzen und Details zugänglich macht und mit verschiedenen Verwaltungsformen verknüpft, weder unter „österreichische Spezialität" noch unter systemische Vorgaben subsumierbar. Dieselbe methodische Unschärfe mag auch dazu beigetragen haben, dass die literarischen Bürokratien entweder als schöne Trübung oder als Schärfung des Blicks, entweder als erweiterte oder als verengte Perspektive auf die Wirklichkeit interpretiert werden. Denn welche Wirklichkeit ist gemeint? Was würde einer authentischen Darstellung entsprechen ? Welche Perspektive würde prä-
Einleitung
7
zise Erkenntnisse ermöglichen und dennoch der Komplexität des Themas gerecht werden ? Eine andere Problematik ergibt sich allein daraus, dass angesichts des höchst differenzierten Forschungsgegenstandes - der modernen österreichischen Literatur oder der österreichischen Literatur überhaupt - zugunsten postulierter Zusammenhänge Einzelheiten und Sonderformen ausgeblendet werden müssen. Daraus versteht sich auch der Reflex zum Widerspruch, den pauschalierte Zuordnungen hervorrufen, wie Aussagen über die Verklärung der Ordnung, Verknechtung der Autoren oder die Humanitas der Literatur. Auch wenn die divergenten Zugänge und Thesen Auseinandersetzungen fördern und interessante Perspektiven eröffnen - sie übersehen die Vielfältigkeit, wie sie gerade die österreichische Literatur in ihren Bearbeitungen bürokratischer Ordnungsvorstellungen zu bieten hat. Gerade diese Vielfalt ist es aber, der sich diese Studie zu stellen versucht. Da hier weniger eine Diagnose der österreichischen Literatur geliefert als der literarische Umgang mit österreichischer Bürokratie untersucht wird, ist neben dem Ziel auch der Weg ein anderer. Statt literarhistorische Thesen an einem ausgewählten Textkorpus zu prüfen, gehe ich von Einzelanalysen literarischer Werke aus. Uber die vielfältigen Auseinandersetzungen mit Bürokratie versuche ich neben Erkenntnissen über literarische Wahrnehmungspräferenzen auch Aufschlüsse über Funktionen und Besonderheiten der modernen Verwaltungsordnung zu gewinnen sowie alternative Vorstellungen herauszuarbeiten. Die Frage ist natürlich, ob eine Untersuchung literarischer Reflexionen für die sozialwissenschaftliche Bürokratieforschung relevant sein kann, ob Literatur überhaupt als Auskunftgeber über Strukturen und Mechanismen moderner Verwaltung nutzbar gemacht werden soll. Wie im Folgenden anhand von Standpunkten verschiedener Bürokratieforscher aus Rechts-, Politik- und Geschichtswissenschaften ersichtlich wird, kann eine Untersuchung, wie sie dieses Buch hier vorlegt, jedenfalls als längst fallige Aufgabe angesehen werden: einerseits als Klärung für die konträren Wertungen des literarischen Diskurses, andererseits auch als Beitrag zur Bürokratieforschung.
8
Einleitung
BÜROKRATIELITERATUR ALS VERSCHÖNERUNG ODER KORREKTUR DER WIRKLICHKEIT
Es scheint nämlich, als würde - auch aus der Sicht der Sozialwissenschaften - die systematische und historische Erforschung bürokratischer Ordnung mit dem literarischen Diskurs in Konkurrenz treten: Nicht nur dass fiktionale Texte Erkenntnisgewinne zulassen würden, die dem wissenschaftlichen Blick entgehen, sie können auch ihre Sicht besser durchsetzen, zumal die Rezeption literarischer Texte allemal beliebter und verbreiteter ist als das Studium rechtlicher oder historischer Arbeiten. Manfried Welan, Verfassungsexperte in Wien, konstatiert gar, „dass das gängige Gesamtbild der österreichischen Bürokratie hauptsächlich von der belletristischen Literatur bestimmt wird"13. Ist dem so? Oder trifft dies nicht eher auf das bildungsbürgerliche Segment der Bevölkerung zu, das sich zu einem guten Teil aus öffentlich Bediensteten zusammensetzt, während der Großteil der Leute eher seine persönlichen Erfahrungen mit den Behörden verallgemeinert ? Auch wenn es durchaus wünschenswert wäre, Wirkungskraft und Wirkungsradius der Literatur zu bestimmen und vielleicht sogar mit den Einflüssen der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu vergleichen - eine solche Untersuchung muss wohl aus methodischen Gründen scheitern. Anders sieht es bei der Analyse von Wahrnehmungskonventionen aus, die der literarische Diskurs konstituiert, untermauert oder bricht. Und sie sind das Thema dieses Buches. Es befasst sich mit Verarbeitungen der Bürokratie in fiktionalen Texten, die andere Diagnosen erstellen und Utopien entwerfen als sozialwissenschaftliche Arbeiten. Damit setzt die vorliegende Studie dort an, wo das Konkurrenzverhältnis zwischen Literatur und Wissenschaften elementar wird, und zeigt die Kontraste zwischen den Erkenntnissen auf. Zugleich geht sie jenen Fragen nach, die die Bürokratieforschung aufwirft, wenn sie sich mit der literarischen Darstellungskompetenz befasst: Denn die Vergleiche, die zwischen wissenschaftlichen und literarischen Zugängen angestellt und deren Ergebnisse an der Nähe zur historischen/politischen Realität bemessen werden, fuhren zu widersprüchlichen Einschätzungen. Zum einen wird der Literatur die Durchsetzung einer verfremdenden Sicht auf Genese und Struktur bürokratischer Ordnung unterstellt, die es zu korri13 M. Welan: Republik der Mandarine? A.a.O. S. 11
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gieren gelte. So schreibt Welan der Dichtung eine „nostalgische illusionistische Sicht" zu, vor der Bürokratieanalysen warnen. Zum anderen wird bei den fiktionalen Texten eine frappante Wirklichkeitsnähe konstatiert und ihnen, genau umgekehrt, die Funktion einer Ergänzung oder Revision wissenschaftlicher Erkenntnisse zugestanden. So nutzt die Historikerin Waltraud Heindl nicht nur ein Thomas-Bernhard-Zitat zur Veranschaulichung der Bürokratisierung, das sich dazu gerade deswegen eignet, weil es Wirklichkeit entstellt, „literarisch .überhöht' und satirisch erfaßt"14. Sie stellt auch einen Vergleich an zwischen den Aussagen des prominentesten Bürokratieforschers, Max Weber, und denen des prominentesten Vertreters der Bürokratieliteratur, Franz Kafka. Die Gegenüberstellung endet zugunsten der Literatur, wenn Heindl sie mit der rhetorischen Frage beschließt: „War Kafka nicht der Realist?"15 Auch die Politikwissenschaftlerin Eva Kreisky verweist auf die Stärke der Literatur, wenn sie mit dem Konzept und Begriff „bürokratische Kultur" eine Ausweitung der Bürokratieforschung und zugleich des Untersuchungsgegenstandes anregt. Sie formuliert: Lebensnäher und bürokratieauthentischer als viele sozialwissenschaftliche Analysen zur Verwaltung und Bürokratie erscheint oftmals dagegen die österreichische Literatur, die reich an Beispielen und Namen dafür ist, wie die bürokratischen Tretmühlen das alltägliche Leben sowohl der Beamten wie auch der ihnen „Unterworfenen" gestaltend beeinflussen, ja zur Tortur werden lassen.16
Entscheidend fiir Kreiskys Konzeption der Literatur als Auskunftgeberin ist, dass mit ihr auch beanstandete Lücken in der Bürokratieforschung angegangen werden können. Denn mit den herkömmlichen Methoden müssten Sozial- und Politikwissenschaften bestimmte Ansatz- und Streitpunkte ausklammern. Alles, was sich nicht statistisch erfassen lässt oder weitab liegt von gesetzes- oder rechtstechnischen Fragestellungen, habe, so Eva Kreisky, in der wissenschaftlichen Diskussion „weiße Flecken" hinterlassen. Außerdem würden Untersuchungen über das Alltagsleben und die Erfahrungen in den bürokratischen Ins14 W. Heindl: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Osterreich. 1780 bis 1848 (= Studien zu Politik und Verwaltung, Bd. 36). Wien/Köln 1990. S. 333 15 Ebd. S. 326 16 E. Kreisky: Bürokratie und Politik. Beiträge zur Verwaltungskultur in Österreich. Bd. 1. Habil. Wien 1986. S. 613
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titutionen fehlen, weil die Bürokratieforschung „selbst der Selektivität und den Ausgrenzungspraktiken ihres Forschungsgegenstandes" folge. Zudem seien die Politik- und Sozialwissenschaften durch „die institutionelle Verklammerung mit dem herrschaftlichen Status quo" auch gedanklich auf den Status quo fixiert.17 Der französische Soziologe Pierre Bourdieu sieht das Problem ähnlich. Weil, wie er formuliert, „das Denken des beamteten Denkers von der amtlichen Darstellung des Amtlichen völlig durchsetzt ist",18 entpuppen sich sozial- und politikwissenschaftliche Analysen als affirmative, ratifizierende Staatspapiere.19
BÜROKRATIELITERATUR A L S A B W E I C H U N G BÜROKRATISCHER ORDNUNG
Ob die Wissenschaften den literarischen Diskurs nun als Verfremdung, Entstellung oder Widerspiegelung der bürokratischen Realität deuten, als Erweiterung oder Korrektiv ihrer eigenen Forschungsergebnisse, hängt nicht nur mit der Werkauswahl zusammen, aus der die Rückschlüsse gezogen werden. Die verschiedenen Deutungen spiegeln auch das Forschungsinteresse wider und die durch den Ansatz gewählte Perspektive. Deshalb nutze ich verschiedene wissenschaftliche Zugänge. Drei Modelle ziehe ich heran, um mit deren Begriffen und Thesen und den unterschiedlichen Perspektiven auf Phänomene der Bürokratie ein ausgewähltes literarisches Textkorpus zu untersuchen: „Bürokratie" wird als Herrschaftsäußerung an den idealtypischen Modellen Max Webers gemessen, als emanzipatorische und kolonisatorische Prozesse im Sinne Jürgen Habermas' verstanden und an seinen kommunikativen Idealen geprüft sowie mit Michel Foucault als Disziplinarapparat untersucht, wo diffizilste Gesetzmäßigkeiten in Denken und Körper reproduziert werden. Zugleich wird „Bürokratie" entsprechend den wissenschaftlichen Arbeiten stets im Zusammenhang mit alternativen Formationen, mit anderen Herrschafts-, Verwaltungs- und Systemordnungen gesehen: im Unterschied zu traditionalen/charismatischen Herrschaftsprinzipien, im Kontrast zur Lebenswelt sowie diesseits und jenseits der modernen Disziplinartechniken. Indem es demnach nicht um Beamte, Amter, Schriftstücke, Behördengänger im Allgemeinen geht, sondern um das Büro-
17 E b d . S. 605 18 P. B o u r d i e u : Praktische Vernunft. Z u r T h e o r i e des H a n d e l n s . Frankfurt 1988. S. 96 19 E b d . insb.: Staatsgeist. G e n e s e und Struktur des bürokratischen Feldes. S. 91-136
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kratische dieses Personals, dieser Orte, dieser Handlungen, wird die spezifische Kombination mit nichtbürokratischen Ordnungen und Mechanismen in den Vordergrund gerückt. Gerade auf der Verknüpfung historisch und systematisch oft inkompatibler Versatzstücke, wie sie zum beliebten Inventar literarischer Techniken gehören, beruht ein großer Teil der bemerkenswerten und erkenntnisvollen Wirkungen der Beamten- und Bürokratieprosa. Jedenfalls nutzt auch dieses Buch die Affinität zwischen österreichischer Literatur und „Bürokratie", auch wenn es nicht auf Klassifikation und Auswertung der nationalen Literaturtradition abzielt. Genauso wenig geht es darum, die literarische Darstellung an der Realität zu messen oder den Grad der Widerspiegelung zu eruieren. Stattdessen will die Arbeit bürokratische Prozesse und Kultur ausdifFerenzieren, wie sie vom literarischen Diskurs in Österreich zugänglich gemacht werden. Gefragt wird danach, was die fiktionale Literatur zur Wahrn e h m u n g der Bürokratie beiträgt, für das Leben in und mit deren Strukturen. Untersucht wird, mit welchen genuin literarischen Techniken sie Blickpunkte herausarbeitet, die vielleicht irritieren, jedenfalls interessieren, weil sie Identifikationsangebote liefert oder von gewohnter Rezeption abweicht: durch Ubertreibung, Verfremdung, Aussparung, Naturalisierung und vieles andere mehr. Damit wird der Zugang zum Textkorpus, wie er für die oben skizzierten literaturwissenschaftlichen Arbeiten typisch ist, umgekehrt: Statt von der „Fülle des Sagbaren" 20 , den literarischen Möglichkeiten, die Konzentration, Beschränkung und Besonderheit der Literatur herauszuarbeiten, wird von den beschränkenden und besonderen Strukturen bürokratischer Ordnung ausgegangen, um deren Erweiterung und Brechung in der Literatur nachzuvollziehen. Vor dem Hintergrund festgelegter Mechanismen sind denn auch die beanstandeten Defizite der österreichischen Literaturtradition neu zu werten: Mangel an Fantasie, Mobilität, an Ereignissen oder Gegenwartsbezug. Ebenso sind die Merkmale, mit denen die Literatur und das „Wesen" Österreichs bedacht werden, im Kontext der Bürokratieforschung anders zu bestimmen: Ethos, Kompromiss, Konsens, Schlamperei. Indem die Texte nicht im Kontext der Weltliteratur untersucht werden, sondern als literarhistorische Auseinandersetzungen mit gesellschaftspolitischen Ordnungen, wird statt des uniformierenden Zusammenhangs die Vielfalt der Werke herausgearbeitet, die divergente Perspektiven auf das Thema eröffnen. 20J. Vogel: Portable Poetics. A.a.O. S. 197
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Diese Untersuchung scheint längst überfallig, wenn man zwei Befunde heranzieht, die dem literarischen Diskurs mangelnde und nur einseitige Auseinandersetzung mit der Institution bzw. der Verwaltung bescheinigen. Diese Behauptungen sind umso schwerwiegender, als sie auch auf die genuin poetischen Mittel bezogen werden, die bei diesem Thema versagen würden oder kaum zum Einsatz kämen. So geht Hans Bänziger nicht nur davon aus, dass „viele prominente Schriftsteller (wie Hinz und Kunz) das Feindbild Institution mitgestaltet haben",21 sondern auch von einem „prinzipiellen Antagonismus zwischen Poesie und Institutionen", 22 der auch auf die Sprache der Dichter zurückzuführen sei: „... sie haben dann oft Mühe, die konventionellen Kommunikationsformen zu verwenden."23 In meinem Buch wird zu zeigen sein, wie vielgestaltig die Beziehungen zwischen Institution und Poetik sind und wie radikal dabei über den Alltagsdiskurs hinausgegangen wird. Dabei lässt sich die ungeheure Produktivität dieses Verhältnisses vor allem in genuin literarischen Mitteln nachweisen, in Narration, Lexik und Syntax. Auch Michael Kilian stellt verblüfft fest, dass Verwaltung weder als Gegenstand noch als Form kaum in der Weltliteratur zu finden sei: Dieses recht geschlossen, formalisiert und somit starr wirkende System der öffentlichen Verwaltung trifft auf das pralle „wirkliche" Leben mit seiner Neigung zu alltäglichem Chaos und seinem Hang zur Anarchie. Aus diesem Zusammenprall müßte sich eine schier unübersehbare Fülle an Stoffen und eine Vielzahl an Ausdrucksformen für die schöne Literatur ergeben - dies ist jedoch überraschenderweise leider nicht der Fall.24
Diese These darf bezweifelt werden. Schon ein kleiner Rundblick auf die Literatur rund um Osterreich fördert zahlreiche Texte zutage, die von einer regen 21 H. Bänziger: Institutionen - literarische Feindbilder? Zu Bildern fester gesellschaftlicher Einrichtungen in Dichtungen der letzten zwei Jahrhunderte. St. Gallen 1995. S. 11 22 Ebd. S. 9f. 23 Ebd. S. 125 24 M. Kilian: Monrepos oder die Kälte der Macht. Der einzelne und die Staatsverwaltung als Gegenstand in der Literatur. In: H.-A. Koch/G. Rovagnati u.a. (Hg.): Grenzfrevel. Rechtskultur und literarische Kultur. Bonn 1998. S. 10
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und spannenden Beteiligung am Bürokratiediskurs zeugen. 25 Stattdessen mag das Desinteresse der Forschung überraschen, die sich bisher offenbar zu wenig der fiktionalen Verwaltung gewidmet hat. Für die österreichische Literatur trifft Kilians Befund jedenfalls mit Sicherheit nicht zu. Nicht nur ist sie „reich an Beamtenromanen", 26 sie enthält auch zahlreiche Auseinandersetzungen mit Teilgebieten und Aspekten, die nach Kilian kaum literarisch bearbeitet wurden. So gibt es österreichische Texte über „schlichte Ordnungsverwaltung", inklusive Kommunal- und Finanzverwaltung,27 „Beamte als Funktionsträger des Staates",28 Schilderungen des Dienstes 29 sowie zahlreiche Darstellungen zum Thema, die statt die „Kälte der Macht" zu demonstrieren, 30 wohlig-gemütliche Szenarien bieten. Außerdem stellen sich gar nicht wenig österreichische Autoren der Herausforderung, Verwaltungsstruktur als abstrakte Form darzustellen, und machen sie auch ohne Personalisierungen sichtbar.31 Ob die Vorliebe für diese Praxis auf zwingende Abarbeitung von Herrschaftsdiskursen zurückzufuhren ist und die Vielfalt der eigenen Literaturtradition beschränkt 32 - mit Sicherheit hat sie die literarischen Verfahren und Stile bereichert. So hat die österreichische Literatur, wie Wendelin Schmidt-Dengler zu Recht formuliert, mit „Nahrung" und „Strukturen" der im „ästhetischen Reservat" gehaltenen Bürokratie „die Entwicklung von Ironie und Komik und Tragikomik in einem in der europäischen Literatur unvergleichlichen Ausmaß garantiert".33 Gerade dort, wo die Autoren mit vielfältigen Stilmitteln operieren und Sprachexperimente anstellen, brechen sie gängige Wahrnehmungsmuster auf fokussieren auf Details und stellen Zusammenhänge her, die in den auf Widerspruchsfreiheit angelegten theoretischen Modellen oft
25 Siehe die kleine, nicht repräsentative Auswahl nichtösterreichischer Texte im Literaturverzeichnis, die meines Erachtens interessante Beiträge zur Bürokratie liefern: im Hauptthema, passagenweise, durch Stoff, durch Form. 26 Ebd. S. 25 27 Ebd. S. 19 28 Ebd. S. 26 29 Ebd. S. 27 30 Ebd. S. 29 31 Ebd. S. 26 32 Vgl.J. Vogel: Portable Poetics. A.a.O. S. 109 33 W. Schmidt-Dengler: Der Herr im Homespun. Zum Typus des Beamten in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Vortrag gehalten in Wien, Juni 1999. Typoskript S. 10
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nicht sichtbar sind. Diese Perspektiven sollen hier in ihrer verfremdenden, authentischen und kritischen Ausrichtung untersucht werden. Indem die literarischen Arbeiten für und gegen die moderne Verwaltung immer im Zusammenhang mit Konkurrenzformen betrachtet werden, versteht sich das Buch vor allem als Beitrag zur Entbürokratisierungsdebatte. Ihr geht es in fiktiven Ausbruch- und Abbauversuchen nach, die im Laufe eines Jahrhunderts gestaltet wurden. Uber die stete Einbeziehung des Nichtbürokratischen und diverser Gegenmodelle wird das von der Literatur erarbeitete Änderungs- und Variationspotenzial ausgelotet. Damit kann das Buch allerdings nur indirekt dem Konzept „bürokratische Kultur" folgen, das nach Eva Kreisky die Chance biete, den bürokratischen Alltag von allen Seiten und vor allem als Gesamtes zu sehen, den gesamten Lebenszusammenhang, die Lebensweise und Arbeitsformen der Beamten, alles Emotionale, Sinnliche, Unvorhergesehene zwischen all den einengenden formalen Abläufen und Strukturen. 34
Indem ich wissenschaftlichen Systematiken folge, wird der lebensweltliche, unberechenbare, informelle Aspekt, der in den bürokratischen Prozessen zum Vorschein kommt, bereits als Widerpart gelesen und konkurriert mit Herrschaft, System, Macht, selbst wenn diese Konkurrenz der Erhaltung des bürokratischen Status quo nützt. Statt die österreichische Bürokratie als nationalspezifische Kultur anzusehen, wird sie als verschieden stark implementierte Ordnung verstanden, die für alle modernen Staaten eine Herausforderung darstellt. Kulturen bringt sie hervor und verändert sie, indem mit bürokratischen Zwängen und Freiheiten in spezifischer Art umgegangen wird: Verwalter und Verwaltete etablieren alternative Formen bzw. richten es sich in besonderer Weise in den Strukturen ein. Insofern sind es die Abweichungen, die hier herausgearbeitet werden: und zwar sporadische Abweichungen, um den Radius an Möglichkeiten abstecken zu können, ebenso wie solche, die einen Regelcharakter erkennen lassen. Sie gilt es in ihren Zusammenhängen mit den Mechanismen zu erforschen: sei es als Besonderheiten, die bereits auf dem Eigensinn der bürokratischen Strukturen beruhen, sei es als historische, nationale Variationen. 34 E. Kreisky: Bürokratie und Politik. A.a.O. S. 613
„Bürokratie" als Schimpfwort, Fachbegriff und literarisches T h e m a
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01 „Bürokratie" als Schimpfwort, Fachbegriff und literarisches Thema
Im Alltagsgebrauch lässt die Bezeichnung „Bürokratie" inzwischen nicht mehr viele Blickpunkte und nur eine Wertung zu. Im 18./19. Jahrhundert hat sie sich nach dem Muster „Demokratie" vom Wort „Büro" herausgebildet und verschiedene Bedeutungen angenommen. In der Bezeichnung für Beamtenapparat gilt sie mittlerweile als veraltet. Aktuell ist, laut Duden, die abwertende Bedeutung für „bürokratisches Handeln" 35 , das den lästigen, umständlichen, pedantischen Umgang mit Personen und Dingen bezeichnet. Es steht für unübersichtliche Vorgänge oder überflüssigen Papierkram. Unterstellt ist die Annahme, dass der Einzelne gegen die bürokratischen Handlungen nichts ausrichten kann und ihnen ausgeliefert ist. Obwohl das Schimpfwort im Alltagsgebrauch auch gegen manche privatwirtschaftliche oder kirchliche Praktiken gerichtet wird, dient es meist der Verunglimpfung staatlicher, rechtlicher und heute insbesondere supranationaler Institutionen wie der EU. So ist es nicht verwunderlich, dass Parteien vor den Wahlen versprechen, „Bürokratie" zu dezimieren oder abzuschaffen. Interessant ist dabei nicht nur die diachrone Ubereinstimmung, d.h., dass Bürokratiekritik auch nach Ablauf einer nur knapp verkürzten Regierungsperiode kaum einer Aktualisierung bedarf. Interessant ist ebenso die synchrone Ubereinstimmung der Kritik, indem alle Parteien in bestechender Homogenität Kritik üben. Wer vermag schon parteienspezifisch zuzuordnen, wenn der Abbau der „Abhängigkeiten von einer überbordenden Bürokratie"36 und vier Jahre später „die Abkehr vom bürokratischen Obrigkeitsstaat" 37 oder aber ganz salopp „Dienstleistung statt Bürokratie" gefordert wird38 ? Welche Partei steht für „weniger Bürokratie" ein und prophezeit, dass „ein schlankerer, erfolgreicher und kostengünstiger geführter Staatsapparat [...] viel weniger Geld [kostet]" ?39 In welchem Grundsatzprogramm ist von 35 Duden. Das große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter. Mannheim/ Leipzig u.a. 1994 36 Das Programm der Freiheitlichen Partei Österreichs. Nr. la/98, 8. Jahrgang. Artikel 1.2. S. 5 37 http://www.fj3oe.at/fpoeAiundesgst/programm/programml.htm Kap.8, Art. 1.1. Stand 28.1.02, wurde mir auf Anfrage im November 2002 zugeschickt 38 Das neue Grundsatzprogramm derSPÖ. In: Freitag aktuell. Das Wochenmagazin derSPO. 5.11.1998. Art. III.8. S. 15. Unverändert im mir 2002 zugesandten Programm, jedoch auf S. 18 III. Art. 8 39 Kurswechsel statt Stillstand. Programm zur Nationalratswahl 1999. Die Unabhängigen. Lugner. S. 6 und 8. 2002 nicht kandidiert.
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„Verwaltungsexplosion" und „bürokratischen Amtswegen" zu lesen40 und wo von den „bürokratischen Regelungen" staatsnaher Apparate, die „das gesamte Alltagsleben von der Wohnung über die Arbeit bis zur Bank und dem Supermarkt" prägen 41 oder von einer „Staatsbürokratie", dergegenüber das Parlament „an Einfluss und Unabhängigkeit" verliere42 ? Welche Partei hebt die Bevormundung durch Bürokratie hervor43, und wer warnt davor, dass der Rechtsstaat schon in Gefahr ist - „durch schwer verständliche und unübersichtliche Gesetze"44 ? Ist es nicht frappierend, wie schwer sich diese Schlagzeilen in der Parteienlandschaft verorten lassen? Jedenfalls prangern Regierungs- und Oppositionsparteien in ähnlicher Art Kosten, Ausmaß und Verständlichkeit der Bürokratie an: Diese zeige immer Eigendynamik und gefährde die Demokratie, behindere die Wirtschaft. Bei aller Eintracht der Hauptkritikpunkte in den verschiedenen ideologischen Lagern versteht sich von selbst, dass Kritik an Bürokratie stets auf etwas anderes aus sein kann, ja mitunter auf Gegensätzliches hinauswill. Auch derjenige, der für Transparenz und Sparsamkeit plädiert, kann sich zugleich für mehr staatliche Durchdringung, Verteilungskompetenzen, Kontrolle einsetzen - möchte diese aber anders organisiert haben. Das gilt etwa für den Vorschlag, mehr Finanzbeamte einzusetzen, um mehr Steuerkontrollen durchzuführen und damit mehr Geld für den Staat zu lukrieren. 45 Das gilt aber auch für die Maßnahmen rund um die Digitalisierung von Daten, die die Prozeduren vereinfachen, den Zugriff des Staates aber erleichtern. Andere Bürokratiekritiker zielen hingegen auf Privatisierung und damit auf eine Verlagerung der Dienste vom Staat auf den Markt ab. Weil auch private
40 Das Programm. Die Freiheit des Menschen und seine Verantwortung für die Gesellschaft! Liberales Forum. 1999. Art. 3.2 sowie Art. 3.3. Identisch im 2002 zugesandten Typoskript auf S. 44 und 48. 41 Zukunftsfahige Politik für das 21. Jahrhundert. Entwurf für ein Grundsatzprogramm der Grünen in Osterreich. Version 8. S. 29 42 Grundsatzprogramm der Grünen, beschlossen vom 20. Bundeskongress am 7./8. Juli 2001. S. 99 43 KPÖ. Grundzüge einer Neu-Orientierung. 1998. S. 28. Unverändert im 2002 zugesandten Typoskript 44 OVP Grundsatzprogramm. Unser Selbstverständnis. Unsere Positionen. April 1999. S. 53 45 Vgl. G. Fleischmann: Das Geld liegt auf der Straße. Wie man mit mehr Personal eine Steuerentlastung finanziert. In: G Ö D - Der öffentliche Dienst aktuell. Oktober 2002. S. 14-17
„Bürokratie" als Schimpfwort, Fachbegriff und literarisches T h e m a
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Unternehmen nicht ohne bürokratische Strukturen auskommen, ist die eingeklagte Veränderung damit jedoch nicht grundlegend zu bewerkstelligen. Allerdings würde der finanzielle Aspekt derart in den Vordergrund treten, dass das Selbstverständnis der öffentlichen Einrichtungen sicherlich stark verändert würde. Das gelänge schon allein deshalb, weil langfristige Grundsicherung, Ausgleich oder Mitspracheprinzipien nur selten zu den Anliegen privatwirtschaftlicher Unternehmen gehören. Sollten verschiedene öffentliche Institutionen überhaupt abgeschafft bzw. der Sozialstaat abgebaut werden, würden sich traditionelle Bindungskräfte zwischen Bürger und Nation lockern, die herrschaftsstabilisierend sind und womöglich durch hohen Aufwand anderweitig kompensiert werden müssten. Ob dies nicht erst wieder zu bürokratisch durchgeführten Maßnahmen fuhren würde ? Wenn statt bürokratischer Hoheit Direktheit und Durchschaubarkeit gefordert werden, kann damit also eine Aufwertung marktwirtschaftlicher Prinzipien oder aber der gesellschaftspolitischen Dimension gemeint sein. Außerdem stellt sich die Frage, wie der Staat abmagern soll, nicht weniger als die, wo dabei anzusetzen sei. Bestehen bleibt der Widerspruch, dass Forderungen nach mehr Effizienz und Kontinuität in der öffentlichen Verwaltung oft nur durch mehr Staat eingelöst werden können, was fast immer einer Bürokratisierung gleichkommt. Jedenfalls dient die Bezeichnung Bürokratie im Alltagsgebrauch der Charakterisierung von Missständen, die insbesondere in öffentlichen Institutionen ausgemacht werden. Indem der bürokratische Kosmos als vom Bürger abgekoppelter Bereich gesehen wird und der Blick meist auf skurrile Auswüchse und Zahlen beschränkt bleibt, wird oft die Sinnhaftigkeit selbst der grundlegendsten Behördenarbeit angezweifelt. Diese Sichtweise wird auch in einer Reihe von populären Publikationen eingenommen, die aufgebracht oder amüsiert unzählige Beispiele aus Bürokratie und Amtsalltag präsentieren und vor allem resignatives Kopfschütteln oder Gelächter provozieren. Sie wählen schon vorab die Form der Anekdote und wollen „Finanzbeamte wie Steuerzahler (und die wenigen anderen), als Leser vereint, mit Geschichten aus dem Steueralltag unterhalten" 46 oder versammeln „Wissenswertes und Kurioses, Exemplarisches und 46 Vgl. H. Mayer/H. Tschernutter: Für mi und die Steuer is nix blieb'n! Anekdoten über Finanzbeamte und Steuerzahler, aufgeschrieben von zwei Insidern. Wien 1999. S. VII
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Absonderliches" aus der gesamten Geschichte, um zu zeigen, „dass Staatsdiener Menschen sind wie du und ich, mit genügend Humor begabt, um über sich selbst zu lachen, mit ausreichend Souveränität auch, das eigene Tun kritisch zu hinterfragen" 47 . Wenn diese Bücher also unterhaltsam um Verständnis werben, ohne der Büro- und Beamtokratie den Kampf anzusagen, zielen zahlendurchsetzte Abhandlungen weniger amüsiert auf eine Reduktion der Beamten und Amtskosten ab. Statt um Verständnis für die Probleme „auf dem schmalen Weg vom abstrakten Gesetzesauftrag zum konkreten menschlichen Einzelfall"48 geht es hier um Rechnungen, die „die unglaublichen Privilegien unserer Staatsdiener" belegen sollen49 oder die sprachlich und algebraisch mit „Tintenburg", „Elfenbeinturm", dem „goldenen Ruhekissen", „Beamten-Engel", „Extrazuckerl" oder „geschützten Werkstätten" abrechnen. 50 Sowohl die einen wie die anderen Bürokratiebücher wollen demnach vor allem ein verbessertes und billigeres Leben in und mit der Bürokratie, also nichts revolutionär anderes. Der Glaube in Veränderungen erweist sich dennoch als schwach. Selbst wo sich die Kritik konkret und pragmatisch präsentiert, scheint sie kaum auf Erfolg zu spekulieren, was in den genannten Büchern mit Hinweisen auf historische Kontinuität oder in einem resignativen, humorvollen, aggressiven Sprachgestus zum Ausdruck kommt. Dies gilt sogar für Auswüchse und Skurrilitäten, die von allen Seiten und unwidersprochen als problematisch und kontraproduktiv erachtet werden. So stellt sich die Frage, warum davon ausgegangen wird, dass die Missstände eher perpetuiert statt beseitigt werden und Korrekturmaßnahmen fehlen oder nicht greifen.Ja, warum hält man überhaupt an Bürokratie fest? Weshalb gibt es überhaupt noch das als lähmend, ungerecht, unmenschlich und teuer beschriebene System moderner Verwaltung? Liegt dies vielleicht am kargen Potenzial von Alternatiworstellungen ? Oder am Fantasiemangel geplagter Behördengänger und Amtspersonen ? Ideen für „gesunde" Formen der öffentlichen Verwal-
47 M. Z a c h : „Gauner, Pinsel, Chicaneure". Eine kleine Geschichte der Bürokratie. Tübingen 2003. S. 6f 48 Vgl. H. M a y e r / H . Tschernutter: Für mi und die Steuer is nix blieb'n! A.a.O. S. VII 49 W. Beninger: Beamtenrepublik Osterreich. Die unglaublichen Privilegien unserer „Staatsdiener". Wien 2004 50 Vgl. diverse Untertitel in: F. Pleterski/M. Korth: Die Beamten. Privilegien, Pfründen & Pensionen. Frankfurt 1997
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Abb. 1: Die Akten sind wiederum nichts wie beschriebenes, schmutziges Papier. Nach dem Essen [...] tauchen sie wieder vor Franz auf. Wie Ertrinkende sind sie jetzt. [...] Es käme beinahe dazu, daß er seine Schritte beschleunigte, so körperlich stellt er sich die Hilfe vor, die von ihm verlangt wird. Aber die Treppe, der Weg, alles hat ihn erschöpft, er sinkt vor seinem Schreibtisch zusammen. Gustav von Festenberg
tung scheinen jedenfalls beinahe nur mehr zur Sprache zu kommen, wenn von Privatisierung die Rede ist. Setzt die Kritik aber auf marktorientierte Modelle, bleibt zu überlegen, bis auf welchen Punkt demokratische Verfahren reduziert werden müssen, ja ob der öffentliche Dienst überhaupt auf Prinzipien der Gewinnmaximierung und Konkurrenz umgestellt werden kann. Diesen Fragen wird jedoch in alltäglichen Auseinandersetzungen kaum nachgegangen, wo „Bürokratie" nach wie vor insbesondere als Schimpfwort fungiert. Im Gegensatz dazu sind demokratie- und machtpolitische Fragen primär Gegenstand soziologischer Arbeiten, wo sich bürokratische Ordnung ohnehin ganz anders darstellt. Statt Malfunktionen zu bezeichnen und abzuwerten, wird mit dem Begriffjene administrative Praxis charakterisiert, wie sie sich seit der Aufklärung durchzusetzen beginnt. Als „moderne" Verwaltungsform gilt
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sie hinsichtlich ihrer Funktionalität und Durchsetzungskraft als unübertroffene Ordnung für den Staat. Sie ist Garant für ökonomische Praktiken und zeichnet sich durch ihre Erfolgsgeschichte aus: punkto Stabilität, Durchsetzungskraft und Machtzuwächsen. Allerdings variieren je nach Ansatz die Perspektiven auf die bürokratischen Strukturen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft beträchtlich. Deshalb werden in diesem Buch drei verschiedene Zugänge als Grundlage der Untersuchungen herangezogen, um sowohl die Abweichungen von einem Idealtypus, die bürokratischen Ausweitungen in problematische Bereiche als auch die prozessualen Aspekte herausarbeiten zu können. Verlässt man sich auf eine einzige Systematik, verschwinden bestimmte Sphären der bürokratischen Ordnung aus dem Blick: staatliche oder staatsbürgerliche Interessen, demokratisch/kollektive oder kolonialistische Praktiken, Verregelung des Alltags usf. Dies gilt umso mehr, als mit Bürokratie eine Strukturform staatlicher und wirtschaftlicher Institutionen oder ein oppositionelles System zum Markt bezeichnet wird. Sie wird als spezifische Verwaltungsform oder als Zuchtmechanik verstanden, als Voraussetzung für Demokratie oder als Hilfsmittel totalitärer Bestrebungen. Ebenso verschieden wie die Orte, an denen „Bürokratie" in den Theoriegebäuden verortet wird, ist die Definition der Alternativstrukturen. Nur über sie, die Abgrenzung zu anderen Herrschafts-, Kommunikations- und Gesellschaftsordnungen, kann den Forderungen nachgegangen werden, wie sie sich in Alltagsdebatten äußern und in den literarischen Texten in all ihrer Widersprüchlichkeit herauskristallisieren. Das gilt umso mehr, als die drei Wissenschaftler Alternativen weder im privatwirtschaftlichen Bereich noch in der ökonomischen Perfektionierung des Systems ausmachen und demnach für das geäußerte Unbehagen weniger rechnerische als gesellschaftspolitische Gründe liefern. Also stellen sich folgende Fragen: Inwiefern wird die verbreitete Kritik bürokratischer Prozesse von der Sehnsucht nach historischen, strukturellen Alternativen vorangetrieben oder von anderen Dimensionen der gesellschaftlichen Ordnung, die sich gegen Bürokratisierung sträubt ? Sind die zentralen Probleme mit Bürokratie eher auf die Präferenz von Ordnungen zurückzufuhren, die die modernisierte Verwaltung ersetzt bzw. zerstört hat ? Oder nährt sich die Kritik vielmehr von den neuen Praktiken, von den durch Bürokratie erweiterten gesellschaftlichen, macht- oder demokratiepolitischen Spielräumen?
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Diesen Fragen vor sozialwissenschaftlichem Hintergrund widme ich mich aber nicht über Analysen von Alltagstexten. Vielmehr gehe ich ihnen in der fiktionalen Literatur nach, die sich spätestens seit dem 19. Jahrhundert intensiv an der Auseinandersetzung mit Bürokratie beteiligt und zahlreiche Probleme aufgreift, wie sie sich im aktuellen Schimpf- und Schlagwort vergegenwärtigen. In mehrerer Hinsicht geht die Literatur dabei über den Alltagsdiskurs hinaus: sei es durch begründende Zusammenhänge oder liebevolle Details, sei es durch schillernde Gegenwelten und Widersprüche. Und eben das, was sie vom Alltagsdiskurs unterscheidet, wird in diesem Buch verhandelt, das anhand wissenschaftlicher Definitions- und Strukturvorgaben Paradoxien, Sehnsüchte und Albträume untersucht. Sie sollen auch dort herausgearbeitet werden, wo sie nicht mit den soziologischen Parametern vermessbar sind. Schließlich liegt das Hauptaugenmerk auf den spezifischen Erkenntnismöglichkeiten der Literatur, die den Forschungsdisziplinen auch durch deren eigene Nähe zu bürokratischen Verfahren unzugänglich sind. Denn beide - Wissenschaft und Bürokratie - sind auf festgelegte, eindeutig definierte Begriffe angewiesen. Sie folgen rationalen Prinzipien, abstrahieren weitgehend von Abweichungen und Ausnahmen. Ihre Strukturgebäude sind komplex und widerspruchsfrei, ihre Fachsprache in vielerlei Hinsicht identisch. Weder Wissenschaften noch bürokratische Systeme wollen unterhalten. Verständlichkeit für eine größere Gruppe von Menschen ist nicht vorderstes Ziel. Grundsätzlich wird die Arbeit an Orten fern einer größeren Öffentlichkeit von Spezialisten tradiert und weiterentwickelt. Entlohnt wird die Tätigkeit meist vom Staat oder dem Staat nahe stehenden Institutionen. Der literarische Diskurs findet in einer völlig anderen Umgebung statt und beruht auf ganz anderen Praktiken. Er darf verzerren, übertreiben und unkonventionelle Verbindungen herstellen. Literarische Texte leben von Überraschungen, Störungen und Widersprüchen, und viele von ihnen wollen auch unterhalten. Die Auswahl der Details hängt nicht von der Platzierung in einem großen Modell ab, die Qualität der fiktiven Zusammenhänge wird nicht an realen Gegebenheiten oder praktikablen Ergebnissen gemessen. Die Autoren sind im Allgemeinen auf eine größere Öffentlichkeit angewiesen, die sich nicht auf Spezialisten beschränken muss. Der Staat bezahlt meist nur, wenn die Autoren in einem Amt arbeiten, jedoch kommt er dabei nicht für ihre schriftstellerische Tätigkeit auf. Selbst dort, wo er das Verfassen oder
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die Drucklegung finanziert - was gerade in Österreich nicht unüblich ist können die Autoren weitgehend selbstständig und fern jeder Amtssphäre arbeiten. Vor allem aber profitiert eine Untersuchung von Bürokratie, die sich auf fiktionale Texte stützt, davon, dass Literatur Sprache nicht nur auf ein Mittel reduziert. Gerade bei der Auseinandersetzung mit einem Phänomen, das auf Verschriftlichung aufbaut, dessen Lexik und Syntax stark reglementiert sind, kann Literatur ihre Techniken gewinnbringend nutzen: durch Zitate und Abänderungen der Verwaltungssprache, durch Verarbeitungen von Formularen oder Akten. Literatur kann die Unübersichtlichkeit darstellen, aber auch Transparenz vortäuschen, sie kann Anordnungen modifizieren und erfinden oder auf Gebiete anwenden, wo „Bürokratie" zerstörerisch wirkt, weil sie dort nichts verloren hat, oder befreit. So sollen literarische Bearbeitungen analysiert und deren Zeitdiagnosen und Visionen herausgearbeitet werden. Dabei werden die Texte als Beiträge zur Wahrnehmung bürokratischer Ordnung verstanden und über die Kombination und Ausgestaltung von Alternativen als Auseinandersetzungen mit gesamtgesellschaftlichen Strukturen und Wertsystemen gesehen. In den literarischen Reflexionen und Reflexen können Gründe für die Beharrlichkeit der bürokratischen Handlungen ebenso wie für historische oder strukturelle Wandlungen ausgemacht werden. Über Herstellung und Zerstörung von Wahrnehmungskonventionen lassen sich nationale Mythen und politische Ideologien nachweisen, in denen der bürokratische Alltag zum konstitutiven oder oppositionellen Element avanciert. Anhand der fiktiven Verwaltungsorganisationen des Staates kann der Stellenwert herausgearbeitet werden, der den Herrschern und Beherrschten zugestanden wird. Somit rückt statt der finanziellen Problematik die Frage nach der Macht in den Vordergrund, die Ursache, Medium und Ziel aller bürokratischer Ordnungen ist. Das vielfaltige Potenzial, mit dem die „Bürokratieliteratur" die Deutungsmacht der Wissenschaften und die Deutungsgewohnheiten im Alltag stört, wird in diesem Buch via literaturwissenschaftlicher Methoden ausgelotet. Dazu werden erzähltechnische, stilistische und linguistische Analysen angestellt. Um den veränderten Blick auf die „Bürokratie" in ihrem Bruch mit „Wirklichkeiten" und Erfahrungen deuten zu können, greife ich bisweilen auch auf juristische, historische und politikwissenschaftliche Arbeiten zurück.
„Bürokratie" als Herrschaftsform, Subsystem und Zuchtprogramm
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Wie unvermittelt, brutal und komisch die „Bürokratie" in den literarischen Texten zum Ausdruck kommt, kann in diesem Buch auch über die Spannung zwischen den Abbildungen und Zitaten nach vollzogen werden. Weil meine Analyse auf der Auseinandersetzung mit Bürokratie fokussiert und immer dann einsetzt, wenn Lebenswelt bereits von ihr bearbeitet wurde, können die administrativen Invasivkräfte, wie sie in der Literatur wirksam sind, über die Natur- und Kunstbilder von jedem Leser selbst und anders erlebt werden. Ebenso offen bleibt die Spannung zwischen den historischen Bilddokumenten der Behördenkultur und den selbstentlarvenden Literaturzitaten der Beamtenautoren. Wenn die Literatur die Grenzen zwischen bürokratischen und nichtbürokratischen Ordnungen und Denkweisen verwischt, so ist es für diese Arbeit umso wichtiger, Parameter für das Forschungsthema heranzuziehen, um es von anderen Herrschafts- und Alternativformen zu unterscheiden. Dafür habe ich drei theoretische Zugänge ausgewählt, in denen die „Bürokratie" und deren Gegenordnungen ganz unterschiedlich konzipiert sind.
02 „Bürokratie" als Herrschaftsform, Subsystem und Zuchtprogramm Die theoretischen Grundlagen zum T h e m a hat der deutsche Soziologe Max Weber geliefert, auf dessen Arbeit zahlreiche wissenschaftliche Ansätze aufbauen. Auch hier werden im Abschnitt I die von ihm formulierten Prinzipien und Strukturmerkmale herangezogen, um „Bürokratie" von anderen Formen abzugrenzen. Weber bezeichnet damit moderne Verwaltung, die er als „Äußerung" der legalen Herrschaft versteht. Im Gegensatz zum Schlagwort versteht er seine Begriffsdeflnition als „wertneutral" - wenngleich sich die Bedeutungen des Alltagsbegriffs zum überwiegenden Teil mit den konstitutiven Merkmalen der bürokratischen Herrschaft decken: so etwa, wenn sich laut Duden ein „Bürokrat" „ohne Rücksicht auf besondere Umstände nur pedantisch an seine Vorschriften hält" oder wenn mit „bürokratisch" eine Haltung bezeichnet wird, in der sich jemand „übergenau an die Vorschriften" hält, „ohne den augenblicklichen Gegebenheiten Rechnung zu tragen". 51 Bürokratische Strukturen, die 51 Vgl. Duden. Das große Fremdwörterbuch. A.a.O.
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Einleitung
Weber idealtypisch formuliert, finden sich in kirchlichen, staatlichen, parteilichen und wirtschaftlichen Institutionen. Sie gründen auf einem spezifischen Legitimitätsanspruch und der Art des Gehorsams. Damit steht die Beziehung zwischen Herrschaft und Beherrschten im Mittelpunkt des Interesses. Gerade dieses Verhältnis ist es aber, das in der Literatur oft von großen Figuren, Idealen oder Automatismen verdeckt wird und hier herausgearbeitet werden soll. Zugleich lässt sich das sogenannte Obrigkeitsdenken, das in Alltags- und literarischem Diskurs als nationalspezifische Konstante schlechthin angesehen wird, differenzieren und Strukturformen rationaler Herrschaft oder deren Vorformen zuordnen. Aufgrund seiner empirisch historischen Forschungen hat Weber in seiner Herrschaftstypologie zwei alternative Formen zur Bürokratie ausgemacht, die immer mehr zurückgedrängt werden. Da literarische Texte eine Fülle traditionaler und charismatischer Gegenordnungen enthalten, ist Webers Arbeit hervorragend dazu geeignet, die versprengten Spuren kontrastierender Prinzipien und die dazugehörigen Ideologien herauszuarbeiten. Im Abschnitt II werden literarische Texte vor dem Hintergrund der Systematikjürgen Habermas' und damit Bürokratie als „Subsystem" untersucht. Besonderes Interesse gilt dabei der Ausbreitung, die nicht rückgängig zu machen ist und die in Konkurrenz mit synchronen Ordnungen verfolgt wird. Das heißt, Habermas sieht die Bürokratisierung weniger als Zerstörung alter Herrschaftsformen denn als fortschreitende Ausdifferenzierung der Lebenswelt: Sie wird durch das Subsystem Bürokratie rationalisiert, technisiert und im schlimmsten Fall kolonialisiert. Verständigungsorientiertes Handeln wird zurückgedrängt und unbewusstes Hintergrundwissen dezimiert. Zweckrationales Handeln und Wertrationalisierung setzen sich immer mehr durch. Insofern rückt mit diesem Ansatz das „lebensfremde" Moment der Bürokratie in den Mittelpunkt des Interesses. Die Auswirkungen der Rationalisierung, das Gefühl der Bedrohung in bestimmten Bereichen des Alltagslebens können fokussiert werden. Im Unterschied zu Weber sind weniger die unterschiedlichen Äußerungen von Herrschaft kraft Verwaltung auszumachen, als das Zustandekommen der Äußerungen hinterfragt wird. Damit geht es statt um Fragen nach dem Gehorsam um die kommunikativen Prozesse, die an Habermas' Theorie des herrschaftsfreien Diskurses zu messen sind. Seiner Utopie des selbstbestimmten, demokratischen Handelns kann in den Visionen und Diagnosen der Literatur nachgespürt wer-
„Bürokratie" als Herrschaftsform, Subsystem und Zuchtprogramm
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den. Dabei sind die literarischen Verarbeitungen von Bürokratisierung über die Prozesse der Konsensfindung zu untersuchen. Weder große idealtypische Strukturformen noch dialektische Verhältnisse zwischen Subsystem und Lebenswelt stehen bei Michel Foucault zur Diskussion, dessen Arbeiten zur Disziplinarordnung die Grundlage des letzten Teils, des Abschnitts III, bilden. Dort geht es um feinste Durchdringungen von Zeit und Raum durch die Macht der Vernunft. Indem sie ständig in Denk-, Handlungsweisen und dem Körper reproduziert wird, werden alle Beteiligten, Beamte wie auch Untertanen, zu verlässlichen Ausübenden bürokratischer Macht. Die so oft beanstandeten Ohnmachtsgefühle werden umso verständlicher. Jedenfalls können mit diesem Ansatz serielle Praktiken und Verhaltensmuster analysiert werden, auch wenn sie sich in winzigen Details manifestieren. Ja gerade auf den informellen Ordnungen, auf den facettenreichen Konventionen im bürokratischen Alltag, liegt hier das Augenmerk. Da bei Foucault aus den Disziplinierungen auch ökonomische Profite resultieren, wird zudem der Frage nachzugehen sein, wie wirtschaftlich fiktionale Bürokratie funktioniert. Ja, inwiefern realisieren die Beamten und Behördengänger der Literatur überhaupt die foucaultschen Disziplinierungsmaßnahmen ? Und wo versteckt sich „das Andere der Vernunft", wo werden amorphe Raum- und Zeitstrukturen sichtbar ? Mit den drei schrittweise verfolgten Ansätzen wird die Perspektive nach und nach verengt: Wenn es zuerst um konkurrierende große Herrschaftsmodelle, sodann um Handlungsweisen zwischen Behörde und Bürgern, Bürokratie und Lebenswelt geht, konzentriert sich schließlich der Blick auf Verhaltensweisen und Körperdisziplin des einzelnen Individuums. In jedem Abschnitt, in jeder Perspektive wird jedoch dasselbe in den Mittelpunkt gestellt: Kontinuierlichkeit und Routine von Abläufen, Regelhaftigkeit und Mechanismen, die den Ordnungen inhärent sind. Angesichts dieser einmal gröber, einmal feiner charakterisierten Alltäglichkeit von Bürokratie werden das Besondere und das Allgemeine, das Abstoßende und Triumphale, die geringfügige und exzessive Abweichung herausgearbeitet. Nicht zufallig ist es gerade die Spannung zwischen diesen Polen, die von den Literaten vielfaltig problematisiert wird. Sie interessieren sich für Bürokratie als widersprüchliches Phänomen, das per definitionem das Unbewusste, Ungeordnete, Spontane mit Regeln und Ordnung ersetzt - faktisch jedoch immer an dieser Transaktion scheitern muss. Umso mehr profitiert von diesem Spannungsfeld die Untersuchung jener modernen Verwaltungspro-
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Einleitung
zesse, wie sie in der Literatur konkretisiert werden. Sie gehen über stereotypisierte, standardisierte Ordnungen hinaus und zeigen den wahrscheinlichen, den möglichen und den unmöglichen Umgang mit Bürokratie auf. Das bedeutet, dass anhand der literarischen Texte die Thesen der theoretischen Ansätze nicht einfach belegt oder widerlegt werden können, da sie über deren Annahmen hinausgehen, vieldeutig sind und Verbindungen herstellen, die in Theoriegebäuden nicht vorgesehen sind. Ebenso wenig soll die Prosa nach soziologischer Methodik analysiert werden, zumal es immer literaturwissenschaftlicher Verfahren bedarf um das Besondere des literarischen Diskurses herausarbeiten zu können und jene Perspektiven zugänglich zu machen, die erst durch die Poetik der Texte eröffnet werden. Stattdessen dienen die theoretischen Ansätze als BegrifFsinstrumentarium, um nicht auf die alltägliche, populärwissenschaftliche Bürokratiesicht beschränkt zu bleiben, die sich dem Thema gern ahistorisch, national und monokausal nähert sowie den ganzen Komplex der modernen Verwaltung als fremdartigen, grotesken Kosmos abtut. Außerdem dienen die theoretischen Ansätze der thematischen Schwerpunktsetzung sowie der Nötigung zum Perspektivenwechsel. Damit können die allzuoft verengten Blickpunkte auf eines der spannendsten Phänomene der Moderne aufgesprengt werden und jenseits der Missstände und Ideale Ursachen, Unterschiede, Alternativen und nicht zuletzt Paradoxien ausgemacht werden.
03 „Bürokratie" im Klassiker, Bestseller und Experiment
Angesichts der großen Anzahl an Werken, die sich mit Bürokratie beschäftigen, möchte ich ein paar Bemerkungen zur Textauswahl vorausschicken. Weil die Bürokratie in der Literatur immer sozial, lokal, nationalhistorisch verortet ist und zu Auseinandersetzungen mit diesen Kontexten verpflichtet, habe ich mich der Machbarkeit wegen dazu entschieden, nur österreichische bzw. altösterreichische Texte heranzuziehen. Der Fundus bleibt unermesslich. Also habe ich den Textkorpus auch zeitlich eingeschränkt: Weil gerade das Osterreich des 20. Jahrhunderts verschiedenste Größen, Staatsformen, Ideologien aufzuweisen hat, mögen die 100 Jahre Forschungszeitraum für aussagekräftige Diagnosen zum bürokratischen Alltag genügen.
„Bürokratie" im Klassiker, Bestseller und Experiment
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Da es mir um die Analyse möglichst unterschiedlicher Facetten der Bürokratie geht, habe ich konventionelle, klassische und experimentelle Werke ausgewählt. Ihre divergenten stilistischen und formalen Ansprüche scheinen auch mit der inhaltlichen, ideologischen Schwerpunktsetzung zu korrelieren. Einfach konstruierte Texte, die oft humorvolle oder satirische Züge aufweisen, verarbeiten vor allem verbreitete Mythen und gehen in vielen Details auf bürokratische Prozesse ein. Auch die darin thematisierten Alternatiworstellungen und Visionen fußen meist auf gängigen Ideologien und spiegeln insofern Wahrnehmungskonventionen wider, auf denen auch noch heutige Stereotypen gründen. Indem sie Erwartungen einer größeren Leserschaft erfüllen - durch relative Widerspruchsfreiheit und meist geringe formale Innovationen -, weisen diese Texte Charakteristiken von Bestsellern auf auch wenn sie nicht immer große Verbreitung erfuhren und mitunter beachtliche literarische Qualitäten aufweisen. In ihrem Umgang mit bürokratischen Ordnungen und Gegenentwürfen scheinen sie jedenfalls recht direkt auf gängige Standpunkte der einen oder anderen Seite zurückzugreifen. Von den Texten, die der herrschenden Verwaltungsordnung gegenüber wohlgesinnt sind, habe ich Arbeiten von Gustav von Festenberg, Friedrich Kleinwächter und Autobiografien von k.k. Beamten ausgewählt, von den bürokratiekritischen Texten Prosa von Hermann Ungar, Alexander LernetHolenia, Alois Brandstetter und Anselm Eder. Auch viele Bücher Joseph Roths, Franz Kafkas und Fritz von HerzmanovskyOrlandos, die man als Beamtenklassiker bezeichnen könnte, wirken sich bis heute auf die Rezeption des bürokratischen Alltags aus. Der Einfluss scheint allerdings oft vorherrschenden, vereinfachten Rezeptionsmustern zu folgen. In meinem Buch gilt es, Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit herauszuarbeiten und zu zeigen, dass diese Texte oft zu Unrecht als literarische Dokumente pro oder kontra Bürokratie herbeizitiert werden. Besonders aufschlussreich ist die Untersuchung dieser Arbeiten hinsichtlich der Kombination von bürokratischer Ordnung und diverser Gegenordnungen. Durch die vielschichtigen Verkettungen werden gängige Wahrnehmungskonventionen zumindest fragwürdig. Beliebte Schuldzuweisungen und Problemlösungsideen werden jedenfalls gekonnt ad absurdum geführt. Schließlich habe ich auch experimentelle Literatur ausgewählt, Texte von Konrad Bayer, Albert Drach und Heimrad Bäcker, denen Thematisierung und Bearbeitung von Sprache und Sprachgebrauch zentrales Anliegen sind. Sie stören Wahrnehmungs- und Lesekonventionen, ja verunmöglichen mitunter, dass
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Einleitung
ihre Texte rational, logisch nachvollziehbar sind. Oft werfen sie Fragen auf die mitnichten an die Behörde - als Verantwortungsträger und Ursache aller Probleme - delegiert werden können. Wie die Texte der „Beamtenklassiker" zeichnen sich auch diese Werke dadurch aus, dass bürokratische und alternative Ordnungen ineinandergreifen und durch absurde Verzahnungen und unkonventionelle Kontexte spannende Blickwinkel auf die Thematik eröffnet werden. Die literarischen Texte sind jedoch nicht nach ihrem literarischen Anspruch, sondern je nach Sujet und Perspektive einem der drei wissenschaftlichen Ansätze zugeordnet. - Im ersten Abschnitt, der Max Webers Herrschaftstypologien folgt, werden Bücher untersucht, die ihre Auseinandersetzungen mit Bürokratie v.a. über Gehorsams- und Legitimitätsfragen fuhren. Zudem haben die Texte Herrschaftskonkurrenz zu thematisieren, die in gesamtstaatlichen Modellen reflektiert werden. - Dagegen müssen die Werke, die im zweiten Abschnitt analysiert werden, auch herrschaftsfreie Szenarien beinhalten und Bürokratisierungsprozessen gewidmet sein, die aufjene Schnittstellen fokussieren, wo sich emanzipatives Potenzial verwirklichen könnte. Damit sind vor allem kommunikative Handlungen, demokratische Institutionen und Rechtsangelegenheiten gemeint. - Noch mehr ins Detail müssen die literarischen Bürokratietexte gehen, wenn es im dritten Abschnitt um Disziplinarmechanismen geht. Hierfür wird vor allem Literatur über den Behördenalltag herangezogen, in der sich die von Michel Foucault herausgearbeiteten Strukturen der Macht wohl am deutlichsten offenbaren oder widerlegen lassen. Insofern interessiert hier die sogenannte Beamtenliteratur: In klassischen und experimentellen, klischeehaften und kontroversiellen Texten sollen bürokratische Ordnungen in ihren typischsten Verkörperungen herausgearbeitet werden. - Während ich am Ende jedes Abschnitts markante Vergleichspunkte je nach theoretischem Ansatz zusammengefasst habe, werden im Abschlusskapitel die dominanten Befunde des Literaturdiskurses in Abgrenzung zu Theorie und Alltagsdebatten resümiert. Dort werden auch Thesen zu Kontinuitäten und Brüchen der Bürokratie in der österreichischen Literatur aufgezeigt. Außerdem wird auf Basis der vorliegenden Untersuchungen eine Poetik der Bürokratie skizziert.
I.
BÜROKRATIE ALS Ä U S S E R U N G MODERNER HERRSCHAFT (MAX WEBER)
Der Apparat ist bei uns das, was beim Auto das tote Gewicht ist. Kurt Tucholsky
1 Die moderne Herrschaft: legal und bürokratisch Nahezu hundert Jahre alt sind Max Webers Ausfuhrungen zur Bürokratie, die von ihm als Garant, Stabilisator und Katalysator moderner Herrschaft gesehen wird. So konträr diese Zuschreibungen zu gängigen Unmutsäußerungen auch sein mögen - angesichts der Erfolgslaufbahn dieser Herrschafts- und Verwaltungsform erweisen sie sich als erstaunlich aktuell. Um jedoch die Logik dieses Siegeszuges anhand Webers Analysen nachzuvollziehen, müssen ein paar Bemerkungen vorausgeschickt werden. So muss die Abgrenzung zur „Macht" stets mitgedacht werden, wenn Webers Herrschaftstypologie zur Diskussion steht. Denn während der Mächtige seinen „Willen dem Verhalten anderer" auch gegen Widerstreben aufzwingen kann, akzeptieren die Herrschaftsunterworfenen die Befehle des Herrn. Das liegt am „Gehorchen ,wollen', also:,Interesse' [...] am Gehorchen", das zumindest „als bestimmtes Minimum" zu jedem „echten Herrschaftsverhältnis" gehört. 52 Die Beherrschten machen also den „Inhalt des Befehls, um seiner selbst willen, zur Maxime ihres Handelns". 53 Insofern muss nicht die Macht, sehr wohl aber die Herrschaft stets danach trachten, dass die Motive der Akzeptanz nicht schwächer werden oder verlustig
52 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen 1990. S. 122 53 Ebd. S. 544
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Bürokratie als Äußerung moderner Herrschaft
gehen. Daraus versteht sich auch das „nicht rastende Bedürfnis" jeder Herrschaft - ob religiös, staatlich, wirtschaftlich oder traditional, charismatisch oder legal bürokratisch ihre Privilegien als legitim herauszustellen. Stets versucht der Privilegierte „seine eigene Lage als von ihm .verdient' und die des anderen als von jenem irgendwie .verschuldet'" darzustellen. Schließlich ist seine Herrschaft eminent gefährdet, wenn „die reine Klassenlage nackt und unzweideutig, für jedermann sichtbar, als die schicksalbestimmende Macht hervortritt." Dann wird die „Legende der Hochprivilegierten von dem selbstverdienten Lose des Einzelnen oft eines der die negativ privilegierten Schichten am leidenschaftlichsten erbitternden Momente" 54 und möglicherweise zum Todesurteil für die Herrschaft.
VERWALTUNG ALS HERRSCHAFTSÄUSSERUNG
Da sich Herrschaft im Alltag primär als Verwaltung „äußert",55 ist die Administration der zentrale Ort, wo Befehle realisiert werden, wo Gehorsam geübt wird, wo Schwächen und Stärken der Herrschaft evident werden. Allerdings liegt der Zusammenhang zwischen Herrschaft und Verwaltung, die aufeinander angewiesen sind, nicht immer offen zutage. Gerade in bürokratischen Ordnungen verbirgt sich die Herrschaft oftmals hinter deren Äußerungen, der Verwaltung. Statt jene anzufeinden, die Verordnungen und Regeln in Kraft setzen, sind es deshalb oft die Beamten, die attackiert und verantwortlich gemacht werden, insbesondere wenn sie korrekt und sorgsam für die Durchführung gesetzlicher Vorgaben sorgen. Umgekehrt stehen andere Herrschende dergestalt im Vordergrund, „äußern sich" so laut, dass die Art, wie ihre Herrschaft „funktioniert", kaum sichtbar wird. Das mag auf manche Chefitäten, moderne Mythenträger oder Mediengestalten in privatwirtschaftlichen Bereichen ebenso zutreffen wie auf Herrschafts verhältnisse, die auf charismatische Prinzipien gestützt sind.
54 Ebd. S. 549 55 Ebd. S. 545
Die moderne Herrschaft: legal und bürokratisch
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STABILE HERRSCHAFT
Grundsätzlich ist die Herrschaft kaum gefährdet, wenn, so Weber, bestimmte Defizite vorherrschen: wenn es an Problembewusstsein, rationaler Durchsicht fehlt oder, ganz banal, wenn es an Problemen mangelt.56 Abgesehen von diesen Faktoren, die jede Herrschaft stabilisieren, schreibt Max Weber allein der bürokratischen Herrschaft zusätzliche Kräfte zu, die sie unersetzbar machen. Einmal installierte bürokratische Strukturen könnten kaum mehr zerstört werden. Sie gewährleisten Kontinuität über verschiedene Herren hinweg. 57 Was aber ist mit bürokratischen Strukturen, bürokratischer Herrschaft überhaupt gemeint, von deren Dominanz, Schlagkraft und Uberlebenskunst auch in Alltagsdebatten zu hören und in literarischen Texten so viel zu lesen ist ? Welche Merkmale charakterisieren deren idealtypisch reine Form ?58
BÜROKRATISCHE HERRSCHAFT
Sie wird von Max Weber als extremster Fall von legaler Herrschaft bezeichnet. Legal ist sie durch das Recht, das beliebig ist und rational gesatzt wird, und zwar in Form von Regeln, die von der Rechtspflege auf den Einzelfall angewandt werden. Diese Regeln beschränken den Raum, in dem die Verwaltung die rationale Pflege von vorgesehenen Interessen übernimmt. Der Ordnung, die zwangsläufig unpersönlich ist, haben Herr und Untertanen gleichermaßen zu gehorchen, garantiert wird sie durch die Amtsgeschäfte. Bürokratische Beamte (oder Angestellte) sind fachgeschult und arbeiten in einer „Amtsbetriebsstätte (Bureau)"59, die von ihrer Privatwohnung getrennt ist. Weder sind sie im Besitz „der sachlichen Verwaltungs- und Beschaffungsmitteln"60 noch haben sie als Personen ein Recht auf das Amt. Zentrales Kennzeichen der rationalen Herrschaft, die als eine Herrschaft kraft Wissen bezeichnet 56 Ebd. S. 549 57 Ebd. S. 570 58 Mit Max Weber werde ich im Folgenden bürokratische Herrschaft und Verwaltung auch als „moderne Verwaltung" bezeichnen. 59 Vgl. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. A.a.O. S. 126 60 Ebd.
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Bürokratie als Äußerung moderner Herrschaft
werden kann, ist außerdem das Prinzip der Aktenmäßigkeit, die Domäne der schriftlichen Fixierung, die im „Bureau" durch den kontinuierlichen und regelgebundenen Betrieb durch Beamte gewährleistet wird. Der Betrieb eines bürokratischen Verwaltungsapparats wird angeführt durch eine Person, die ihre „Herrenstellung" durch Appropriation, Wahl oder Bestimmung durch den Vorgänger besitzt und bezüglich der einzelnen Verwaltungsaufgaben Laie ist. Alle anderen sind „aufgrund freier Auslese" über Fachqualifikationen angestellt, sind platziert in einer festen Amtshierarchie, die auch einer Gehaltspyramide entspricht. Die Beamten haben klare Kompetenzen und müssen sachliche Pflichten erfüllen. Es gibt keine persönliche Entscheidungsfreiheit, dafür muss über die geleistete Arbeit bzw. Zuständigkeit hinaus auch keine Verantwortung übernommen werden. Für ihre Tätigkeit erhalten die Beamten Geld und haben Anspruch auf Posten. Die Amtsarbeit ist ihr einziger, zumindest aber ihr Hauptberuf. Sie rücken nach Amtszeit und/oder Leistung auf und folgen nur einer festgelegten Laufbahn. Die Amtsdisziplin ist einheitlich und streng.61 Die Angelegenheiten der Beherrschten werden material-utilitaristisch erledigt. Sie sind dauerhaft und von vielen Seiten her mit Formalismen konfrontiert. Aus den Strukturprinzipien der Bürokratie, die hier in aller Kürze vorgestellt wurden, resultiert nach Weber eine technische Überlegenheit über alle anderen Herrschaftsformen. Was Weber demnach durchwegs in positivem Sinn zu ökonomischen, stabilisierenden Faktoren rechnet, sind interessanterweise jene Prinzipien, die in Alltagsdebatten und in der Literatur gern und oft infrage gestellt werden: Angegriffen werden die Vielfalt der Regeln und deren beliebige Satzung, die Unpersönlichkeit des Amts und die Herrenstellung der Beamten, Verfügungsgewalt und Zwangsmittel, schriftliche Fixierung und Formalismus, die festgelegten Grenzen der Zuständigkeit, das Privileg der abgesicherten Laufbahn und manchmal überhaupt der Umstand, beherrscht zu werden. Nachdem Webers idealtypisch konzipierte Herrschaftsformen in der Realität nie rein vorkommen, sondern nur in Kombination mit Prinzipien anderer Ordnungen, ist auch in den Kritiken und Visionen nach den Verknüpfungen 61 Ebd. S. 126f.
Die Sehnsucht nach einer anderen Herrschaft
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verschiedener Herrschaftsformen zu forschen. Wie sehen nun die alternativen Formen aus, die aufgrund der manifesten Abneigung gegenüber Bürokratie doch beachtliche Anziehungskräfte entfalten müssten ?
2 Die Sehnsucht nach einer anderen Herrschaft Alternativen, die auf dem Interesse am Gehorchen aufbauen, sind nur in alternativen Herrschaftsformen zu suchen. Fehlt dieses Interesse, sind die Alternativen nach Max Weber jedoch nur in kleinen Formationen denkbar, weil „über eine gewisse (elastische) Quantität" von Personen oder über komplexere Verwaltungsaufgaben hinaus unmittelbare Demokratie oder genuine Honoratiorenverwaltung (durch finanziell abkömmliche, sozial geschätzte Amtsinhaber) „technisch versagen". 62
MARKT ODER STAAT?
Wie sieht es nun mit der naheliegendsten Alternative aus, von der heute am öftesten zu hören ist: privat statt öffentlich, Markt statt Staat ? Im aktuellen neoliberalen Diskurs spielt sie die wichtigste Rolle, zudem die Marktwirtschaft im Gegensatz zu staatlichen Ordnungen kaum prinzipiell infrage gestellt wird. Mit Weber lässt sich diese Vorliebe jedoch nicht auf Unterschiede in der Organisationsform zurückfuhren, weil sie sich sehr ähnlich sind. Umso entscheidender sind die Divergenzen bei der Motivation, die Ursachen für das Handeln der Beherrschten: Der Markt, so Weber, herrscht kraft Interesse (und Monopol), der Staat kraft Befehl und Regeln. 63 Darin liegt einer der wichtigsten Gründe, warum die Privatwirtschaft die „Legende der Hochprivilegierten" so erfolgreich tradieren kann. Es ist nicht verwunderlich, dass sich staatliche Institutionen, deren Privilegien „nackt und unzweideutig" zutage liegen, am Markt zu orientieren versuchen. Die Anstrengungen wollen auf eine Verschiebung der Motivationen des Gehorsams hinaus und Interesse wecken, wenn das Arbeitsamt in Arbeitsmarktservice
62 E b d . S. 171 63 E b d . S. 542
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Bürokratie als Äußerung moderner Herrschaft
umbenannt wird, Behörden auf „Kundenfreundlichkeit" Wert legen und „Angebote" machen sowie „Einladungen" verschicken. Die Untertanen sollen - wie im kapitalistischen Betrieb - das Gefühl haben, einem Interesse nachzugehen und nicht Regeln zu befolgen. Auch wenn sie dem Monopol unterworfen bleiben, sollen sie sich als Kunden eines freundlichen Servicebetriebs wahrnehmen. Diese Umorientierung, so angenehm sie für Behördengänger sein mag, zielt jedoch nicht auf prinzipielle Veränderung der bürokratischen Herrschaft ab. Weder kann mit diesen Modifikationen die prinzipielle Herrschaftsform des modernen Staates geändert werden noch ist die Privatwirtschaft eine Alternative zum bürokratischen System, weil sie, nach Weber - in allen Betrieben ab einer bestimmten Größe - denselben Prinzipien und Strukturmerkmalen verhaftet ist wie der moderne Staat. Ab einer gewissen Zahl von Arbeitskräften oder einer Höhe von Umsätzen, ab einer gewissen Komplexität und Reichweite muss jede Institution bürokratisch organisiert sein. So erklärt sich auch, warum es in Europa die Kirche war, die eine Vorreiterrolle dieser Strukturform einnahm, und in Amerika Großparteien und Konzerne, die „um so straffer" bürokratisch organisiert sind.64 Ganz abgesehen davon hat die Wirtschaft nach Weber selbst beträchtliche Interessen am bürokratisch geführten Staat. So bestehe vom Kapitalismus her ein enormer „Bedarf nach stetiger, straffer, intensiver und .kalkulierbarer' Verwaltung" und bedinge dadurch „diese Schicksalshaftigkeit der Bureaukratie als den Kern jeder' Massenverwaltung".65 Da mag es keine Rolle spielen, ob Daten in Banken eingescannt oder handschriftlich in Formulare eingetragen werden, ob die Stempelmarke gekauft und individuell geklebt wird oder die Gebühr via Internet dem Amt zukommt. In ihrem Wesen wird die bürokratische Herrschaft durch Technisierung und Rationalisierung nur verstärkt. Somit ist mit Weber Bürokratieabbau eine Illusion, es sei denn, die moderne Marktwirtschaft würde ganz grundsätzlich infrage gestellt. Alternativen zur bürokratischen Herrschaft sind weder in hochkapitalisierten Staaten mit liberaler Wirtschaft noch in den Wirtschaftsbetrieben selbst auszumachen, auch wenn die Verwaltung dort mitunter etwas rationeller funktionieren mag.
64 Ebd. S. 560 65 Ebd. S. 129
Die Sehnsucht nach einer anderen Herrschaft
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Alternativen können aber in traditionalen und charismatischen Herrschaftsformen gefunden werden. Viele ihrer Prinzipien sind zwar heute weitgehend aus den Strukturen eliminiert, können jedoch jederzeit wieder erstarken und mit modernen Verwaltungsformen kombiniert werden. Legitimitätsdefizite speziell der staatlichen Herrschaft rufen in der Tat gern Visionen hervor, die in die Vergangenheit des eigenen Landes oder der eigenen Kultur fuhren. Vor allem in literarischen Texten spielen diese Gegenordnungen eine entscheidende Rolle, während marktwirtschaftliche Alternativen dort kaum thematisiert werden. Fast scheint es, dass Literatur, die ihre Auseinandersetzungen mit Bürokratie über Legitimitätsfragen aufrollt, ohne traditionale und charismatische Gegenmodelle gar nicht auskommen kann. Wie unterscheiden sich nun diese beliebten Herrschaftsalternativen von unserer derzeitigen großteils bürokratischen Verwaltung?
TRADITIONALE
HERRSCHAFT
Als Sonderfall der patriarchalen Herrschaft bezeichnet Max Weber jene „dezentralisierte Hausgewalt" 66 , die dadurch entsteht, dass an Söhne oder andere abhängige Haushörige Land und eventuell Inventar übertragen wird. Organisiert sich der Herr politisch wie häuslich in dieser Art, so entstehen „patrimonialstaatliche Gebilde"67, die in Europa als traditionale Herrschaftstypen fast überall die Vorläufer der modernen Staaten waren. Ihre Struktur weist demnach nicht die für die Bürokratie grundlegende Trennung zwischen Sachgüter- und Verwaltungsapparat auf. Der Herrscher kann seine Herrschaft, wie im Feudalismus üblich, mit Vasallen, Pfründnern, Lehnsherren oder Vertrauten teilen und sie zu Besitzern von Verwaltungsmitteln machen. Damit sind die Verwalter finanziell unabhängig und müssen nicht von Amtsgeschäften leben. Das heißt: Sie können auch für das Amt leben und müssen nicht - wie in der Bürokratie - vom Amt leben. Außerdem sind die Beamten traditionaler Herrschaft nicht bloße Vertreter von Macht, sondern deren Teilhaber. Insofern sind Macht, Einfluss und Regeln dezentral und die Beherrschten ständig Veränderungen der Ordnung ausgesetzt.
66 Vgl. ebd. S. 584 67 E b d . S. 585
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Bürokratie als Äußerung moderner Herrschaft
Nicht immer jedoch rnuss der Herr seine Macht teilen. Wenn sein Verwaltungsstab gänzlich aus Sippenangehörigen, Sklaven oder haushörigen Beamten besteht, die über ein streng persönliches Pietäts- und Treueverhältnis mit ihm verbunden sind, muss er nichts von seiner Macht abgeben. Egal aber, wie stark die traditionalen Beamten in die Herrschaft eingebunden sind: Im Unterschied zu den modernen Verwaltern müssen sie für ihren Herrn auch repräsentierende Aufgaben übernehmen. Schon allein deshalb sind für diese Herrschaftsform weder Akt, Schreibtisch noch Büro charakteristisch. Verwaltet wird demonstrativ und sichtbar, die Gewalten äußern sich bunt, symbolkräftig und persönlich, willkürlich, spontan und unwiderruflich. Außerdem gibt es in der traditionalen Herrschaft weder eine genaue Abgrenzung des Privaten - weil auch die politische Verwaltung „persönliche" Sache des Herrn bleibt - noch berufsspezifische Fachspezialisierungen. Die Kompetenzen der Beamten sind nicht fest und pendeln sich nur über Kollegenkonkurrenz stereotyp ein. Die Amtshandlungen sind beliebig - sofern dem Herrn recht und nicht von der „Heiligkeit altüberkommener [...] Ordnungen und Herrengewalten"68 oder von festen Rechten Einzelner verlangt bzw. vorausentschieden. Keine bindenden Normen oder Reglements liegen ihnen zugrunde: Von-Fallzu-Fall-Verfiigungen sind typisch. Das gilt umso mehr, als für die Beziehung zwischen Herrn und Beamten, Beamten und Beherrschten nicht nur das persönliche Belieben, die persönliche Gunst und Ungnade des Herrn ausschlaggebend ist (was nur auf die Sonderform der „sultanistischen Herrschaft" zutrifft), sondern jede Entscheidung auch vor der allerhöchsten Instanz bestehen muss: nämlich vor der Tradition.69
CHARISMATISCHE HERRSCHAFT
Gegenüber diesem Konkurrenzreichtum, dem der traditionale Herrscher ausgesetzt ist - durch selbstbewusste Vasallen, heilige Tradition oder freie Beamte, die bereits bürokratischen Prinzipien folgen können -, ist der charismatische Führer Herrschaftsmonopolist. Berserker, Schamanen, Propheten, Heilande,
68 Ebd. S. 130 69 Ebd., insb.: Patriarchale und patrimoniale Herrschaft. S. 580-624 und S. 130-140
Die Sehnsucht nach einer anderen Herrschaft
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Genies (wie Napoleon), ja selbst Literaten wie Kurt Eisner70 können, so Weber, durch Bewährung bzw. Wunder Anerkennung verlangen. Sie beruht auf freier „Hingabe an Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen"71 und ist Pflicht. Der Verwaltungsstab rekrutiert sich gemäß dem Führer: „dem .Propheten' entsprechen die Jünger', dem ,Kriegsfürsten' die .Gefolgschaft', dem ,Führer' überhaupt: Vertrauensmänner'". 72 Es versteht sich von selbst, dass sich diese außeralltägliche Form von Herrschaft auch durch eine außeralltägliche, ja spezifisch revolutionäre Form von Verwaltung ausdrückt. Demnach sind die „Verwalter" weder einstell- noch absetzbar, sie haben keine Laufbahn vor sich, keine Kompetenzen, beziehen kein Gehalt und verfügen über keine Pfründe. Es ist verständlich, dass auf charismatische Herrschaft kein Verlass ist und sie nicht dauerhaft sein kann: Nur im Status nascendi kann sie als solche bezeichnet werden, d. h. dann, wenn sich der Herrscher gerade als außeralltägliche Persönlichkeit profiliert. Bald wächst jedoch das ideelle und materielle Interesse des Verwaltungsstabs. Die Verpflichtung zur Anerkennung ist nicht mehr aufrechtzuerhalten, wenn die Wunder ausbleiben oder es den Beherrschten über längere Zeit nicht gut geht. Während bei den anderen Herrschaftstypen traditionale Werte oder bürokratische Strukturen für Kontinuität sorgen, hilft dem charismatischen Herrn nichts über schlechte Zeiten hinweg. Deshalb setzt für gewöhnlich bald eine „Veralltäglichung"73 ein, bei der sich asketische Normen herausbilden, Regelungen aufgestellt oder Amterposten geschaffen werden, die auf Vererbung setzen. So werden alle Helden in kürzester Zeit Herren ständischer Herrschaft oder Vorgesetzte in höchst komplexen bürokratischen Gebilden.74
A L T E R N A T I V E N IN DER L I T E R A T U R
In den drei Texten, die ich im Folgenden untersuche, wird die Wandlung oder der Wunsch nach Veränderung in umgekehrter Reihenfolge vollzogen. Die bürokratische Herrschaft - längst Alltag und im Selbstverständnis der Beherrsch70 Vgl. e b d . S. 140 71 Ebd. S. 140 72 E b d . S. 141 73 Ebd. S. 142fr. 74 E b d . S. 1 4 0 - 1 4 8 ; 6 5 4 - 6 8 7
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Bürokratie als Äußerung moderner Herrschaft
ten verankert - wird mit charismatischen, traditionalen Zügen versehen oder durch andere Herrschaftsformen zu ersetzen versucht. In diesen Utopien bürokratiefreier Ordnungen oder bürokratischer Verwaltungen mit traditionalem Antlitz werden Wünsche verarbeitet, die auch heute noch verbreitet sind. Sie gilt es, herauszuarbeiten. Allerdings werden in den Texten, wie überhaupt oft in der Literatur, ökonomische Sachfragen hintangestellt, wodurch das Wesen der Herrschaft und deren spezifische Gehorsamsformen in einem anderen Licht zutage treten als im Alltagsdiskurs üblich. Indem die Autoren Bürokratie an ungewohnten Orten und in Zeiten ausmachen, die von moderner Verwaltung nicht betroffen waren, schärfen sie den Blick für bürokratische Prinzipien. Außerdem legen sie ein verblüffendes Legitimitätspotenzial des bürokratischen Personals offen, indem sie historische und geografische Netzwerke kreieren und Amtshandlungen an absurdesten Knotenpunkten einbauen. Selbst dort, wo traditionale und charismatische Äußerungen der Herrschaft aus populären Geschichtsbildern und Mythen gewonnen werden, ist Bürokratie mit ihren dominanten Prinzipien nie gänzlich wegzudenken. Die Gründe dafür werden selten explizit, jedoch immer indirekt zum Thema gemacht. Sie zu finden ist meist Sache der Leserschaft, an die auch die schwierige Aufgabe delegiert wird, Entbürokratisierungsmöglichkeiten auszuloten. Von den gewagten Kompositionen der Herrschaftsverhältnisse und komplexen Herrschaftsverschnitten profitieren die Lesenden aber auch, weil die Texte dadurch äußerst unterhaltsam werden. Darüber hinaus lassen sich dadurch erkenntnisreiche Diagnosen von Bürokratie eruieren sowie deren dahinterliegende Ideologien freilegen. Von der Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der Herrschaftskonzeptionen hing deshalb auch meine Auswahl der drei Texte ab. So geht es in der „Abtei" von Alois Brandstetter um den Gegensatz zwischen einer klösterlichen idealen Utopie, die in Antike und Mittelalter wurzelt, und dem bürokratischen Zeitalter von Joseph II. bis heute. Im „Maskenspiel der Genien" Herzmanovsky-Orlandos arbeiten Beamte mit bürokratischen Methoden an der Weltmachtstellung Österreichs und sind als Personal der Metternichära in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts projiziert. Franz Kafka installiert in seiner Kurzgeschichte „Poseidon" eine bürokratische Verwaltung der Meere, die sich nur dem Göttervater Jupiter gegenüber zu verantworten hat. In allen fiktionalen Texten wird Herrschaft um- und zugleich ausgebaut. Sie wird mächtiger und gewaltiger: Uber die bürokratische Verwaltung wird die Provinz mit der
Die S e h n s u c h t n a c h einer a n d e r e n Herrschaft
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Metropole, werden die Antike und das Mittelalter mit den 70er-Jahren verknüpft ; der Orient und Griechenland sind mit Osterreich, der Schreibtisch am Meeresboden mit dem Olymp verbunden, griechische und römische Götter mit bürokratischer Zukunft. Moderne Administration wird in den Texten aber nicht nur als Katalysator für Herrschaftsansprüche entworfen, sie hat vor allem stabilisierende Wirkung: Es sind dies Bürokratisierungsschübe, durch die die Herrschaft unbesiegbar gemacht wird, egal, ob es sich um eine primär charismatische oder traditionale handelt. Da Bürokratie nicht nur über ihre Organisationspraxis, sondern stets in Verbindung mit kulturellen und nationalen Bildern wahrgenommen wird, sind die literarischen Auseinandersetzungen immer auch als Beiträge zu Österreich- und Staatskonzeptionen zu lesen. Der blinde Gehorsam der Figuren wird denn auch nur über mitgelieferte Bilder der Nation und traditionale Bilder verständlich gemacht. Zugleich werden Gottesbilder gestaltet, die mit bürokratischer Herrschaft in Konkurrenz treten - oder aber auch Seite an Seite mit ihr auftreten. Die Frage ist hier nun: Wie manifestiert sich die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Untertanen bürokratischen Herrschaftsformen unterwerfen, und inwiefern wird dagegen gesteuert?Ja, gibt es überhaupt Alternativen? Außerdem geht es darum zu prüfen, ob in den fiktionalen Verwaltungsszenarien bürokratische Prinzipien überhaupt zerstört werden. Oder werden sie bloß verlagert ? Welche Ideologien und kollektiven Identitätsbilder liegen den Konkurrenzformen zugrunde, die herbeigesehnt werden ? Auf welche modernen Errungenschaften wird dabei großzügig verzichtet ?
A EIN L E I D E N S C H A F T L I C H E S P L Ä D O Y E R FÜR EINE V O R J O S E P H I N I S C H E H E R R S C H A F T Alois Brandstetter: Die Abtei75 Dabei geht in den Amtern doch wenigstens einiges verloren, in der Welt aber nichts. Robert Musil
1 Die böse Bürokratie Wenn die alltägliche Kritik an Bürokratie vor allem Deformierungen anprangert und Korrekturmaßnahmen fordert, scheint sie kaum die Prinzipien moderner Herrschaft infrage zu stellen. Eine rationale, berechenbare Verwaltung, Gleichstellung und Gleichbehandlung der Bürger, Absicherung gegen willkürliche Bescheide bis hin zur Sicherung des Wohlstandes: Längst gehören diese Elemente zum Selbstverständnis moderner Gesellschaften und werden dort, wo sie vernachlässigt erscheinen, eingeklagt. Zugleich wird jedoch oftmals ein Unbehagen geäußert, das sich auf dieselben Elemente bezieht: die Sachlichkeit, die als Entmenschlichung, die Gleichbehandlung, die als Nivellierung nach unten empfunden wird, das Recht auf Widerruf durch das möglicherweise Autoritäten untergraben werden, oder der gesicherte Lebensstandard, der eine merklich degenerierte Konsumgesellschaft hervorzubringen scheint. Damit wird für dieselbe Ordnung Stabilität erhofft und zugleich deren Ende herbeigesehnt. Aufgrund dieser Paradoxie, die zahlreiche Auseinandersetzungen mit Bürokratie lähmt, wird jeder grundlegende Wandel ad absurdum gefuhrt. Umso radikaler ist Alois Brandstetters Utopie, wie er sie in seinem 1977 erschienenen Roman „Die Abtei" gestaltet hat. Indem er gängige Kritiken nicht nur aufgreift, sondern darüber hinaus eine gänzlich unbürokratische Zukunft mit allen damit verbundenen Konsequenzen zu entwerfen sucht, eignet sich dieses Buch hervorragend dazu, es an den Beginn meiner Untersuchungen zu stellen. Außerdem lassen sich hier scharfe Trennlinien zwischen den ver75 A. Brandstetter: Die Abtei. München 1993
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Abb. 2: W e n n seine B e a m t e n beispielsweise zu e i n e m Arbeitsunfall g e r u f e n w e r d e n , d a n n seien sie sich von v o r n e h e r e i n sicher, d a ß d e r Verunfallte e i n e Art P o e t sei o d e r „ g e w e s e n " sei, w e n n d e r Unfall tödlich g e e n d e t h a b e . Ein Poet, sagte er, im w e i t e s t e n Sinn, ein T r ä u m e r , n i c h t selten sogar ein P o e t im e n g e r e n , j a im d i r e k t e n Sinn.
Alois Brandstetter
schiedenen Herrschaftstypen ziehen, wie sie für gewöhnlich in der Literatur nicht auszumachen sind, im Gegenteil: Wo andere Autoren Zeiten und Modelle ineinander verweben, Legitimitätsprinzipien auf widersprüchlichste Art kombinieren, lassen sich in Brandstetters Text alle Erscheinungen der einen oder anderen Formation zuordnen. Dabei bringen die traditionalen, charismatischen Prinzipien eine gute und spannende, die bürokratischen hingegen eine schlechte und fade Welt hervor. Auch durch die eingehende Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Bereichen bietet sich dieses Buch dazu an, die von Weber ausgemachten Kriterien aufzuspüren und die propagierte Veränderung in Einzelheiten zu beleuchten: bei Gewohnheiten im Verkehr, beim Konsum, bei der Verwaltung, den Reisen, der Bildung usw. So geht der Text weit über die Aufdeckung eines Kirchendiebstahls, den Plot, hinaus, der letztlich nur dazu dient, die Verkommenheit
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des modern geführten Klosters und der modern verwalteten Polizei zu thematisieren, d.h. Bürokratie anzugreifen. Wie beim Kriminalfall und dessen Aufdeckungsarbeit handelt es sich auch bei den zahlreichen anderen Textsequenzen um eine „allumfassende Klage über den Zustand der Welt" (s. Klappentext), die der Kriminalinspektor Dr. Einberger dem Abt eines Benediktinerklosters unterbreitet. Sie richtet sich gegen die „unmenschliche Ordnung" (95), deren Versatzstücke offensichtlich gängiger Bürokratiekritik entsprechen. So prangert Einberger den Zentralismus und dessen Einzeldenker samt servilen „Beiläufeln" an (93f.), den Pragmatismus und den „ethischen Misthaufen" (146), Beziehungs- und Wertemobilität (169), kalte Routiniers (89), „Schreibtischtäter" und „Palisadenschreibtische" (33) und schließlich die Suspendierung des Moralischen, was „eine böse Unmenschlichkeit" sei (75). In seiner Kampfansage nimmt er nicht nur wertkonservative Standpunkte ein, sondern wettert gegen alle bürokratischen Strukturmerkmale, die mit Max Weber folgendermaßen zusammengefasst werden können: ein hierarchisches Gefuge mit detailbetrauten, spezialisierten, treuepflichtigen Funktionsträgern und Sachgüter- sowie Aktenapparat, Fachmenschentum, dilettantische Vorgesetzte statt Herren, maximale Zentralisation, beliebige, aber festgeschriebene Regeln, die auf rationalen, kalkulierbaren und stets widerrufbaren Kriterien beruhen. 76 Auch wenn Brandstetters Text nur sporadisch auf genuine Verwaltungsprozesse eingeht, kann der Brief als „allumfassende Klage" gegen alle Äußerungen moderner Herrschaft gelesen werden, die sich ganz im weberschen Sinn in verschiedensten Institutionen festsetzt. Im Kloster, bei der Gendarmerie, in Provinz und Hauptstadt, bei Herrschern und Unterworfenen: Uberall agiert die bürokratische Bestie, die Kultur und Moral, Tradition und Menschlichkeit zerstört. Mit Akribie deckt der Briefschreiber ihre Spuren auf und propagiert seine Gegenordnung. Für sie, die vehement geforderte Alternativutopie, werden alte Herrschaftsformen reaktiviert, die alle Lebensbereiche von Grund auf verändern sollen. Dabei sind fiir kirchliche Organisationen eher charismatische, für weltliche vor allem traditionale vorgesehen, allesamt Prinzipien, die seit der Aufklärung ziemlich an Bedeutung verloren haben. Nicht zufällig erzählt der oberösterreichische Polizeiinspektor seinen Wiener Kollegen von deren Amtsvorgängern, die im Zuge der josephinischen Säkularisierung wertvolle Folianten aus 76 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. A.a.O. S. 551f.
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den Klöstern in die Hauptstadt verschleppten. Mitunter hätten sie diese sogar „unter die Räder der Planwagen geworfen", um aus dem Dreck zu kommen (70). Schmerzvoller kann der Bruch mit der guten alten Zeit gar nicht gestaltet werden. Die Täter bahnen sich durch barbarische Akte ihren Weg in die siegreiche Zentrale der neuen Zeit. Dass der Briefschreiber deren Nachkommen an diese Geschichte erinnern will, liegt daran, dass sie längst modernen Verwaltungsprinzipien gehorchen und sich weder an den damaligen noch an den aktuellen behördlichen Aktivitäten stören. Nur Dr. Einberger, ein Überbleibsel der Vergangenheit, Prototyp des altehrwürdigen Patrimonialbeamten, will sich keiner bürokratischen Herrschaft unterwerfen, weigert sich, einem Vorgesetzten zu dienen, und will eine Hoheit repräsentieren. Als Vertreter des Kulturmenschentums, promoviert und voller Moral und Verantwortungsbewusstsein - also kein Rädchen im Getriebe - , verlangt der Inspektor die alten Herren zurück. Deshalb verfasst er statt eines Polizeiberichts einen persönlichen Brief richtet ihn statt an den Chefinspektor an den Abt und widmet sich darin weniger der Aufklärung des Kirchendiebstahls als der Klärung der Frage, warum so ein Diebstahl möglich war und die Tätersuche sich so schwierig gestaltet. Dabei werden Fehler, Mängel und dekadente Erscheinungen als notwendige Bestandteile moderner Ordnungen ausgemacht und durch ihre Störanfälligkeit von alten Herrschaftsformen negativ abgehoben.
2 Das Ideal charismatischer Klosterherrschaft Anhand eines berühmten Klosters in der Provinz und dessen religiösem, historischem und gesellschaftlichem Umfeld sammelt Inspektor Einberger eine Reihe von Symptomen, die auf eine abgestumpfte, faule, verschwenderische und kranke Gesellschaft schließen lassen. Dabei setzt seine Kritik bei der Sachgüterverwaltung und unpersönlichen Herrschaft an, deren Mängel nur durch einen strukturellen Wandel zu beheben seien, und plädiert für autonome Klöster und einflussreiche Äbte. Damit würde er die ländlichen Positionen machtpolitisch aufwerten und die Güter mehr an die Verwalter binden. Wie Max Weber aus der Geschichte kolportiert, sind solche feudalistischen Strukturen jedoch nicht selten die Ursache für persönliche Bereicherung: der Herr ein Ausbeuter, der Günstling korrupt und selbst der kleinste Beamte oft
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darauf aus, mehr in die eigenen Taschen zu wirtschaften. Gegen diese Gefahren, die ja in den Augen des Autors erst recht wieder in einen moralischen Skandal münden würden, weiß sich der Autor zu wappnen: Nicht umsonst wählt er als Kloster ein benediktinisches, das seit seiner Gründung auf charismatischer Herrschaft beruht. Hier bürgen nicht Tradition oder Satzung für den Zusammenhang, sondern der Vorbildcharakter des Stifters: die Qualität einer Persönlichkeit, die „außeralltäglich" ist. Da Charisma „nur ,geweckt' und .erprobt', nicht .erlernt' oder .eingeprägt' werden kann",77 müssen die Mönche, Nachfolger des längst verstorbenen Klostergründers, strengen asketischen Normen gehorchen, um der Herrschaft Dauer zu verleihen. Ihnen wird Gemeinschaftshandeln abverlangt und nicht „rational geordnetes Gesellschaftshandeln" 78 . Die Klosterinsassen repräsentieren ihren Herrn, der in jedem einzelnen Beherrschten in vollem Glanz erstrahlen soll. Dass dem heute nicht mehr so sei, zeigt der Briefschreiber exemplarisch in der Darstellung des Pförtners. Dieser döst in seiner bequemen Loge betrunken vor sich hin und macht selbst auf Ungläubige einen schlechten Eindruck: „Wir haben alles gesehen, sagen sie, wir haben genug gesehen." Zwar würden nicht alle gleich vom Pförtner auf den Heiligen Vater oder den lieben Gott schließen - auf Abt, Prior oder die Stiftsleitung falle aber immer ein schlechtes Licht, und das „sicher nicht ganz ohne Recht" (17). In der charismatischen Ordnung wird durch die Handlungen jedes Herrschaftsunterworfenen der Herr legitimiert. Deshalb muss auch jeder für diese herrschaftssichernde Rolle zur Verantwortung gezogen werden. Was auf den Pförtner zutrifft, gilt für alle Mönche. Keiner darf es sich - wie in der Bürokratie möglich - auf seinem Posten gemütlich einrichten. Genauso wenig darf es darum gehen, sich auf die persönliche Laufbahn, die „Marschroute" 79 zu konzentrieren, das Höchste darin zu sehen, „der Gattin des Herrn Professors beim Einkaufen behilflich sein zu dürfen" (94f.). Nicht nur zu den Beherrschten, auch zu den Herrschern ist eine andere Beziehung herzustellen: Dem charismatischen Führer ist Vertrauen und Anerkennung entgegenzubringen. Das gilt auch, wenn die praktische Führung nicht mehr in der Hand des Klostergründers liegt.
77 Ebd. S. 145 78 Vgl. ebd. S. 570 79 Ebd. S. 570
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Daraufbaut Einbergers Vision: Wenn die unbestrittene Autorität des heiligen Benedikt einwandfrei durch den Abt repräsentiert wird, könnte die charismatische Ordnung wiederhergestellt werden. Deshalb darf der Abt kein Inhaber einer Position sein, die womöglich von den Mönchen angestrebt wird. Dass das Kloster und die Kirche überhaupt nicht mehr nach diesen Prinzipien funktionieren, zeigt Einberger durch zahlreiche Mängel auf. Vor allem ist es die kontinuierliche Bürokratisierung außerhalb und innerhalb der religiösen Institutionen, die sich nur exemplarisch festmachen lasse. Uber die Schwierigkeiten bei der Suche nach Verantwortlichen und Ursachen schreibt der Inspektor, dass natürlich [...] der Gegner bei einem Verkehrsunfall leichter festzustellen und zu beurteilen [ist] als der eigentliche Feind im gesellschaftlichen und politischen Alltag eines Klosters oder der Kirche insgesamt, noch dazu, wenn sich viele Personen und Parteien und Gruppen pharisäisch einschmeicheln. Der Kirche fehlt heute sehr die Gabe der Unterscheidung der Geister, sie läßt sich von ihren Feinden so lange umarmen, bis ihr einmal die Luft wegbleibt (43).
Mit den Annäherungs- und den hartnäckigen Vereinnahmungsversuchen, die an die katholischen Institutionen gestellt werden, spricht Brandstetter eine aktuelle Situation an: Jede charismatische Ordnung ist in Gefahr, wenn sie von bürokratisch strukturierten Bereichen umgeben ist, was heute durch die immer diffizilere und weitreichendere Bürokratisierung bereits ein globales Phänomen geworden ist. Nur Sekten mit ihren strengen Gemeinschaftsregeln können sich dagegen weitgehend schützen, während Weltreligionen selbst dann massiv verändert und bedroht werden, wenn die Bürokratisierung außerhalb ihrer Domäne stattfindet. Umso verständlicher, dass im Brief an den Abt auch gegen Rationalisierungstendenzen in weltlichen Institutionen gewettert wird.
3 Das Ideal patrimonialer Weltlichkeit
Geht es um staatliche Ordnung und Administration, ist das Urteil Einbergers ebenso negativ wie jenes über die kirchliche und klösterliche Organisation. Die Gegenmodelle dafür sehen allerdings anders aus. Einbergers Visionen für alle
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weltlichen Belange kommen ohne charismatische Prinzipien aus. Nachdem sich der Staat aus den säkularisierten Orten wieder zurückgezogen hat, müsste das, was dann noch von ihm übrig ist, wieder auf traditionalen Legitimitätsgründen basieren: auf der „Heiligkeit der Tradition" sowie auf Gunst und Gnade der Herrn; Beamte müssten die Amtsgeschäfte wieder als persönliche Aufgabe verstehen und nicht sachlichen Interessen folgen.80 Nicht zwecks Emanzipierung der Gesellschaft, sondern um „die Ordnung im Lande, also die Herrschaftsverhältnisse" 81 zu erhalten, die Einberger durch Wertezerfall und Schlamperei bedroht sieht, plädiert er für die Abschaffung der Arbeit als Kalkül und das Ende der abstrakten, zweckrationalen Herrschaft. Stattdessen setzt er auf eine Ordnung, die aus dem Geistigen kommt (51), auf persönliche Verantwortung und Moral, auf Glauben, Träume, Poesie und Fantasie. Weder solle das Moralische „eine Sache der Statistik" (145) noch die Philosophie „die Hure der Soziologie" (146) sein. Damit möchte Einberger konstitutive Prinzipien der Moderne bzw. der Bürokratie eliminieren. Stattdessen sollten die Menschen wieder Opfer bringen und abgehärtet werden. Als Vorbild dienen unter anderem die fußmarschierenden Pilger von damals, die sich „steinharte Erbsen in die Schuhe getan oder einen Rucksack mit Granitsteinen mitgetragen" haben (22). Wie weit die heutigen busreisenden Pilger von diesen Bräuchen und Werthaltungen entfernt sind, zeigt Einberger, wenn sie vor dem damals entstandenen Steinhaufen stehen und „sich angesichts des seltsamen, abgekommenen Wallfahrerbrauches ungemein modern und aufgeklärt" vorkommen (ebd.) Mit seiner Begriffswahl zeigt der Autor, dass es ihm weniger um die fehlerhafte Selbsteinschätzung der Besucher geht, sondern um jene fatalerweise positiv gewerteten Tendenzen, die in den Adjektiven „modern" und „aufgeklärt" zur Sprache kommen. Dass mit ihnen zugleich ein historischer Abschnitt, eine geistesgeschichtliche Wende bezeichnet wird, macht der Autor immer wieder deutlich. Sie dient als Zäsur, an der Werte und Haltungen umschlagen, auch historisch die gute in die schlechte Zeit zu kippen beginnt. Dass Brandstetter seinen Dr. Einberger oftmals über Brutalität und Härte referieren lässt, wenn er von der Vormoderne berichtet, liest sich weniger als Kritik an
80 Vgl. ebd. S. 596 81 M. Weber: Politik als Beruf. In: ders.: Schriften zur Sozialgeschichte und Politik. S. 271-339, hier S. 289
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damaligen Ereignissen: Vielmehr wird dadurch seine Darstellung der Moderne kontrastiert und karikiert, die sich mit der Aufklärung durchzusetzen begann. In jener Epoche, so Einberger, wurzelt all das Übel, das heute in der verweichlichten, verantwortungslosen Konsumgesellschaft zum Ausdruck kommt und nichtssagende, nivellierte Lebensformen hervorbringt. In diesem Sinne verdammt der Briefautor Bequemlichkeiten aller Art und setzt auf Gemütlichkeit, sofern sie in historisch verbürgten Formen zustande kommt. So begründet er, wie alle anderen Verbesserungsvorschläge, auch die Forderung nach heimeligen Tavernen mit der Legitimität kraft Gepflogenheit. Die Klöster stünden „gastwirtschaftlich gesehen in einer langen und ehrwürdigen Tradition", und die Geschichte des Gastgewerbes sei „ein wichtiges Kapitel der Kulturgeschichte, wenn nicht das wichtigste, nicht nur der allgemeinen .Kulturgeschichte, sondern [...] der ,Geistes'geschichte" überhaupt. Traditionsgemäß hat eine Wirtschaft, „die diesen Namen mit Recht trägt", auch über einen gewölbten Raum und eine gewölbte Bedienung zu verfugen. „Auch eine Kellnerin muß etwas gleichschauen" (131f.). Diese umgangssprachliche Bezeichnung, die für das Tradieren von Werten über Sinne und Erfahrungen steht und auf gemeinschaftliche Identität mit gemeinsamem Erfahrungsschatz baut, könnte man auch bei anderen Forderungen des Inspektors einsetzen: Die Autorität müsse „etwas gleichschauen" und das Genie müsse ebenso „etwas gleichschauen". Männer wie Bäume sind gefragt oder Menschen, für die es, um sie zu martern, schon „einer schweren Axt" bedarf (37). Stets geht es um sinnliche Vergegenwärtigung persönlicher Herrn und keineswegs um die Durchsetzung gesatzter Regeln. Ziel sind Präsenz und Tradierung von Werten, die unhinterfragbar und unwiderrufbar sind. Dies gilt für weibliche Kurven und männliche Muskeln ebenso wie für die griechische Grammatik, abendländische Kulturgüter oder kirchenhistorische Schriften. Zahlreiche Zitate aus dem religiösen und literarischen Kanon versorgen Abt und Leserschaft mit dem, was etabliert bzw. wieder schärfer in Erinnerung zu rufen ist. Sie sind Exempel für Einbergers Modell der „Kulturstereotypisierung", durch die, wie in verschiedenen mittelalterlichen Staatsgebilden, die Herrschaft eine gewisse Zeit Bestand haben kann, ohne die Mittel für die politische Einheitlichkeit (durch Zentralisierung, Verrechtlichung, Militarisierung, ja Bürokratisierung) voll auszuschöpfen. 82 82 Vgl. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. A.a.O. S. 559
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Mit der Aufwertung und Verbreitung kulturgeschichtlicher Güter in Einbergers Vision werden Strukturen und Rahmen der Herrschaft verändert. Aber auch die hierarchischen Gefüge innerhalb der Gesellschaft erfahren einen Wandel. Mit dem Vorzug des bildungsbürgerlichen und katholischen Kanons ist eine Stärkung bildungsbürgerlicher und katholischer Positionen vorgesehen. Mit dieser Aufwertung geht naturgemäß die Abwertung anderer Bevölkerungsgruppen einher, was Fragen nach der Mitbestimmung aufwirft. Aber Einberger stellt sich auch hier, bei den staats- und demokratiepolitischen Belangen, den Konsequenzen, die aus der gewünschten Abschaffung der sachlich rationalen Organisation zu erwarten sind. Er nimmt sie nicht nur in Kauf er heißt sie sogar willkommen und propagiert vordemokratische Formen und Bekundungen der Herrschaft: Indem die Gesetzgebung wieder mehr „.vorgeben" statt nachgeben solle (146), braucht sie nicht mehr auf dem Willen der Bevölkerung zu beruhen. Dafür sind wieder autoritäre Gewalten zur Durchsetzung der Herrschaftsabsichten gefragt, denn wie sollte sonst der Gehorsam gesichert werden ? Auch dafür greift der Autor auf historische Strukturformen zurück, auf patrimoniale Herren, die sich Loyalität und Treue durch wiederholte persönliche Gegenwart, Werbezüge und Zurschaustellung von Macht sichern.83 Mit einem Vergleich zwischen modernen und vormodernen Herrschaftsfiguren fasst er den Wandel ganz im Sinne Max Webers zusammen: Denn damals, so Einberger, mußte der Hochmögende vor allem auch persönlich und unmittelbar und direkt terrorisieren, heute tun dies seine Stäbe, Sekretäre, Vorzimmerdamen, rechten Hände, Adjutanten und Exekuteure, zu denen ich auch uns am Posten rechne
(32). Dass er diese Entwicklung für eine Degenerierung hält, ist derselben Wertetradition verpflichtet wie sein satirisches Plädoyer für den oberösterreichischen Hausverstand (159). Die Veränderungswut des Briefeschreibers korrespondiert mit dem beschaulichen Traum, die Masse mit all ihren Phänomenen abzuschaffen. Menschengruppen sind wieder auf kleine, dörfliche Einheiten zu verteilen, sie haben wieder gemeinschaftlichen Prinzipien zu folgen und in ihrem bescheidenen 83 E b d . S. 605
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Aktionsradius wieder selbstverantwortlich zu agieren. Als praktisch Veranlagte mit traditionsreichen Kenntnissen werden sie ihre Alltagsprobleme selbst meistern. In allen Bereichen aber, die außerhalb dieses Kreises liegen, haben sich die Menschen völlig der charismatischen bzw. traditionalen Herrschaft von Kirche und Staat zu unterwerfen. Da diese „Herrschaft kraft Autorität" „auf eine in Anspruch genommene, von allen Motiven und Interessen absehende schlechthinige Gehorsamspflicht" baut,84 wird der Demokratie die Basis entzogen. Das ist aber nicht der Punkt, an dem Einberger seine Vision fiir problematisch hält. Er verlässt sich gern auf Autoritäten und Traditionen sowie deren moralische Kräfte. Es ist der demografisch ökonomische Aspekt, aufgrund dessen die Utopie tatsächlich unrealistisch wird. Bei all der Radikalität der Forderung genügt es nicht, auf die Verteilung längst alltäglicher Güter zu verzichten und den Lebensstandard zu senken. Ohne Industrialisierung und bürokratische Verwaltung könnte ein großer Teil der Bevölkerung nicht überleben. Milliarden von Menschen können nicht in den propagierten Herrschaftsformen organisiert werden. Selbst wenn demokratische Entscheidungsprozeduren und gesellschaftliche Umverteilungsprinzipien einfach aufgegeben werden und von Revolten oder Revolutionen einfach abgesehen wird - schon allein die Grundversorgung ist auf bürokratische Strukturen angewiesen. Diese Problematik, die sich den Lesenden unweigerlich aufdrängt, wird auch von Einberger indirekt thematisiert. Besonders interessant ist diese Passage, weil der Inspektor bei der von ihm propagierten Korrektur der Ordnung auf Mittel des Feindes, und zwar auf bürokratische Verfahren, zurückgreift. Dabei geht es hier gar nicht um Revolution oder Hungersnot, sondern lediglich um die Scharen von Ungläubigen, die das Kloster besichtigen möchten. Der Umgang mit diesem Problem ist schwierig, und selbst dem Inspektor fallt keine richtige Lösung ein. Weil die Ungläubigen von ihren Klostertrips nicht abgehalten werden könnten, müssten sie, so Einberger, „wenigstens" registriert und gezählt werden (8). Mit diesem Vorschlag greift er auf die gute alte Tradition bürokratischer Kirchengeschichte zurück, die er eigentlich loswerden wollte. Der Feind kann aber nicht mit seinen eigenen Mitteln geschlagen werden. Denn was macht der kleine Bürokrat oder sein Vorgesetzter mit den registrierten Massen, mit der langen Liste von schwarzen Schafen ? Ihre Verwertung, die Einberger durch die Anwendung des 84 Ebd. S. 542
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Adverbs „wenigstens" zumindest nicht ausschließt, wird mit Sicherheit mehr Bürokratie nach sich ziehen, womöglich auch bürokratisch durchgeführte Gewalttaten. An diesem Punkt angekommen schweigt der Inspektor aber, er scheitert. Nicht dreist genug, die ungläubige Menschenmasse, die auf den Indexlisten verzeichnet ist, außer Landes oder auf den Scheiterhaufen zu wünschen, plädiert er lieber für den Untergang. Im aussichtslosen Kampf gegen die Amerikanisierung schreibt er denn an den lieben Abt: Wir mögen im Sinne ihrer „business" nicht reüssiert haben, wir mögen sogar untergehen oder untergegangen sein. Aber mit Würde. Und mit Würde untergehen ist bekanntlich besser als würdelos leben, auch dies eine Erkenntnis des Idealismus
(146).
4 Schreibverfahren contra bürokratische Verfahren Wenn „Die Abtei" als nicht unproblematische konservative Bürokratiekritik gelesen werden kann, so präsentiert der Autor dieses Anliegen jedoch mit großer Kunstfertigkeit. D e m Bekenntnis für eine längst vergangene Welt, das die traditionale und charismatische Herrschaft in allen Punkten der bürokratischen Herrschaft vorzieht, entspricht Brandstetters Prosaarbeit auch formal. Damit ist sie nicht nur ein praktischer Beitrag zur Wiederherstellung alter Ordnungen, sie transportiert die Utopie auch implizit durch den Stil, ja geht damit über die expliziten Äußerungen mitunter hinaus. Schon die Wahl, den Roman als fiktiven Brief abzufassen, geht auf „gute alte Tradition" zurück. Seiner Form entsprechend werden persönliche Erfahrungen und Wertungen eingestreut. Die bürokratische Welt wird nicht abgebildet, ihre Sprache nicht zitiert, sondern Einzelheiten werden erinnert und geschildert. Dennoch ist der Brief Einbergers voller Zitate aus unterschiedlichen Textsorten. Indem der Autor sowohl formal als auch inhaltlich jedoch vor allem traditionelles Wissens- und Bildungsgut aufgreift, demonstriert er, was durch Modernisierung und Bürokratisierung verschüttet oder degeneriert sei und was es wieder zu verbreiten gelte. So wird die Erzählweise selbst zum Argument gegen die „bürokratische" Gegenwart, die vereinfacht, versachlicht, Formen dezimiert und klaren Richtlinien folgt.
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In der formalen Entscheidung drückt sich die Rebellion gegen die bürokratische Herrschaft vor allem auch deshalb aus, weil der Brief ein Delikt und dessen Aufklärung zum Anlass hat: eine für einen Inspektor eigentlich gänzlich aktenmäßige Angelegenheit. Aber der öffentlich Bedienstete wendet sich nicht einmal an seine Vorgesetzten, sondern an eine kirchliche Instanz. Er formuliert keinen sachlichen Bericht, sondern schreibt einen persönlichen Brief, wie es in Beziehungen üblich ist, die privat und nicht administrativer Natur sind. Er macht sich nicht auf den Amtsweg, sondern emotional und moralisch auf die Rückeroberung vergangener Werte. Um dies zu bewerkstelligen, verlässt der fiktive Autor seinen Zuständigkeitsbereich und überschreitet seine Kompetenzen. Er setzt sich mit zahlreichen Thematiken auseinander und zitiert statt Gesetzestexten und Paragrafen Benediktinerregeln, Kirchentheoretiker, Prediger, Heilige und Schriftsteller. Vom beruflichen Alltag gibt er Gespräche mit Kollegen nur wieder, um über die Behinderungen bei der Aufklärung des Falls oder auf behördliche Missstände aufmerksam zu machen. Das einzige amtliche Schriftstück, das er zwischen zahlreichen direkten Zitaten aus der Kanon-, Gebrauchs- und Alltagsliteratur wiedergibt, dient als Identifikationsangebot für den Abt. Die darin zum Ausdruck gebrachte Resolutheit der Zeugin solle ihm eine Lehre sein (vgl. 38ff.). Vor allem aber überschreitet der Inspektor seinen Kompetenzbereich insofern, als er sich ständig und ausschließlich mit Störungen befasst, die gar nicht ungesetzlich sind: Faulheit, Karrieresucht, Zeitverschwendung usf. Selbst das Delikt und dessen erfolglose Aufarbeitung vonseiten der Wiener Zentrale fungieren nur mehr als Symptom für den Zustand der Welt. Der Kelch, der gestohlen wurde, gilt als Herrschaftssignum wiederherzustellender Ordnung. Genauso verfahrt der Autor bei allen beanstandeten Mängeln: Statt sie an gesetzlichen Vorgaben zu prüfen, wertet sie der Inspektor als Zeichen der Verkommenheit, indem er sie mit vormodernen Traditionen vergleicht. Die Art, wie diese Gegenüberstellungen gestaltet sind, kann wiederum als formelles Mittel angesehen werden, das gegen bürokratische Verfahren gesetzt wird. In jedem Bogen wird ein Thema im Kontrast von historischen Gebräuchen, Werten, Schriften mit modernen „Degenerierungserscheinungen" abgehandelt und kommentiert. Dabei genügt es, einige wenige moderne Verhaltensweisen pointiert auszustellen und ihre Inkompatibilität mit Traditionen aufzuzeigen.
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So verfahrt der Autor, um ein Beispiel zu nennen, in jenem Abschnitt, der sich mit den Heizungspraktiken befasst (146fF.). Ausgehend vom Brauch in den Klöstern, nur einen Raum zu heizen, widmet sich der Autor der Energieverschwendung und Uberheizung von heute. Wiederholt stellt er die Praktiken einander gegenüber, nicht ohne auch deren Auswirkungen miteinander zu vergleichen. So referiert der Inspektor, dass warme Kirchen die Gläubigen einschläfern, in den Amtern die Hitzeschlacht tobt, die Verschwendung der Heizkosten zum Staatsproblem wird. Darauf reagiere die öffentliche Hand, indem sie im Winter die Schulen schließt. „Ob die Schüler unterrichtet werden oder nicht, ist nach dieser Meinung relativ unerheblich." Dabei würde es sich bei guten Schulen lohnen, sie zu heizen, „eine schlechte' Schule zu heizen, ist freilich schlecht". Nach dieser Pointe geht Einberger wieder auf die unausgesprochenen Motive der Staatsgewalt über und unterstellt ihr, durch „Schulstillegungen" die Akademikerschwemme eindämmen zu wollen. An diesem Punkt ist aber das Problem der Hitze und Uberheizung noch nicht gelöst. Die Rede kehrt zum schlafenden Pförtner zurück und gelangt schließlich zu den Heizgewohnheiten unter Benedikt. Wiederum geht dies nicht ohne Seitenhieb auf eine zentrale Institution des modernen Staates ab. Als Einberger von der benediktinischen „Gepflogenheit" berichtet, sogar im „Parlatorium" auf einen Ofen zu verzichten, fordert er die Einfuhrung dieser Praxis im säkularisierten „Parlatorium", dem Parlament. Damit könnte man „das Palaver auch dort sehr verkürzen". Nach diesem demokratiepolitisch höchst aufschlussreichen Ausflug kehrt die Rede wieder ins Mittelalter und über kalte Schlösser und warme Kemenaten zum asketischen Leben der Mönche zurück, für die der Winter lebensgefährliche Tortur und Prüfling gewesen sei. Die Schlusspassage enthält eine beinahe pragmatische Herrschaftsregel: Die Natur sei eben „der beste und billigste Zuchtmeister" gewesen. Wie in jedem thematischen Bogen nimmt Brandstetter auch für dieses Heizungskapitel Anleihen bei verschiedenen kirchlichen Textsorten. Ähnlichkeiten mit dem Klagelied, häufigste Form des Psalms, bestehen durch die ständige Anrufung, die persönliche Anrede des Abtes sowie den Wechsel von Klage und Bitte mit beigefügter Begründung. Außerdem sind die Textsequenzen - wie die Klagelieder - durch den Einsatz zahlreicher Parallelismen strukturiert. Damit folgen sie ganz anderen Ordnungen als Verwaltungstexte, in denen es maximal standardisierte Anreden gibt, Regelungen statt traditional mit Gesetzespara-
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grafen begründet sind und in keinem Fall Parallelen zu anderen alternativen Verhaltensweisen gezogen werden. Wie auch in jenen Textelementen, die wie Predigten verfasst sind, setzt der Autor damit auf Autorität, persönliche Verantwortung sowie auf Einsicht und Gehorsam. Andere stilistische Merkmale weisen hingegen Charakteristiken der Litanei auf und zielen damit eher auf meditative, sinnliche Erfahrungen ab. Vor allem durch den sparsamen Gebrauch und die ständige Wiederholung von Wörtern verleiht der Autor mitunter ganzen Textteilen Züge litaneihafter Formen. So schreibt der Autor z.B., dass Schüler „keinen natürlichen Begriff von der Temperatur mehr" hätten und ergänzt: „Sie ist automatisch vorhanden, es ist alles automatisch und von selbst, vollautomatisch. Automatisch reißen sie in den Schulen die Fenster auf" (147). Die Rhythmisierung durch Wortwiederholungen durchzieht den gesamten Text: In jedem Bogen kehren immer dieselben Begriffe wieder, egal, ob es sich um bürokratische Missstände oder „sinnvolle" vergangene Praktiken handelt. Dieses Stilmittel ist in Bezug auf Brandstetters Bürokratiekritik von mehrfacher Bedeutung: Zum einen unterstreicht der Autor die von ihm favorisierte Rezeption von Gegenwart und Geschichte: sinnliche Vermittlung. Doch geht es ihm zum anderen auch um Besinnung, nachvollziehbare Begründungen für die von ihm geforderte Umkehr. So zeigt er über die ständige Repetition auch den Wandel auf, den Praktiken und Werthaltungen erfahren haben. Dies leistet der Autor vor allem dadurch, dass er Bedeutungsveränderungen oder Bedeutungsverluste von Wörtern thematisiert, Sprichwörter, Redeweisen abändert, mit Homonymen spielt. Manchmal drückt Einberger die Bedeutungsdifferenz zwischen damals und heute dezidiert aus, wie im obigen Beispiel, wenn er daraufhinweist, dass es heute an einem „natürlichen Begriff von der Temperatur" fehle. Oft geht er über das Klagen hinaus und erteilt Sprachunterricht: referiert moderne Ausdrucksweisen, die Geschichte von Begriffen, die Bedeutung von Bedeutungswandlungen : so etwa, wenn er über das „fabrikatorische Wort .Betrieb'" berichtet, das in der Formulierung „noch in Betrieb" auf Abteien angewandt werde, während die schwäbische und Schweizer „Betriebsamkeitsmentalität" dazu führe, „daß dortzulande so viele Monasterien .außer Betrieb' sind" (150f.). Die ständige indirekte oder direkte Thematisierung der Bedeutungsvarianten macht den Text komisch. Zugleich setzt sich der Autor damit gegen Bürokra-
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B ü r o k r a t i e als Ä u ß e r u n g m o d e r n e r H e r r s c h a f t
tie und ihre Systematik ab: einerseits, weil er der Verarmung und Abstraktion etwas entgegenstellt, andererseits, weil bürokratische Ordnung im Unterschied zur Literatur- und Alltagssprache auf Eindeutigkeit und festgelegter Begrifflichkeit beruht, die der Autor unterläuft. Außerdem kann bürokratische Verwaltungssprache mit willkürlich gesetzten Zeichen operieren und muss nicht auf Sprachgebrauch und Tradition Rücksicht nehmen. Genau das ist aber ein Anliegen Brandstetters: die Verankerung in Tradition, die Vieldeutigkeit von Sprache und Ereignissen - ja überhaupt Ereignisse und Helden und Taten. Im fiktiven Brief wird durch den Rhythmus des Schreibstils und die veranschaulichte Dezimierung der Wortbedeutungen das Ende der alten Welt auch sprachlich vorgeführt. Trotz zahlreicher ideeller und praktischer Reformvorschläge dominiert damit eine pessimistische Sicht. Die Vergeblichkeit der Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel wird vorexerziert. Egal, wem die Rede in den Mund gelegt wird: Vereinfachung, Verallgemeinerung und Wortwiederholung kennzeichnen sowohl die persönlichen Kommentare des Autors oder Zitate aus der Kultur- und Religionsgeschichte als auch die ausdrücklichen Wiedergaben behördlicher Stellungnahmen. So lautet ein Resümee des Inspektors im Kapitel, das den Bauernkriegen gewidmet ist, wie folgt: Die Geschichte lehrt. Sicher lehrt die Geschichte, mein Abt, aber damit die Geschichte lehren kann, muß sich der Mensch in ihren Unterricht begeben, sonst kann die Geschichte nicht lehren. Vor allem muß man aus der Geschichte die richtigen und keine falschen Lehren und Schlüsse ziehen. Der Mensch muß Lehre annehmen (75).
Ähnlich wortarm erweist sich jene Textstelle, in der Einberger die Meinung des Leiters des Bundeskriminalamtes wiederzugeben erklärt. Zu Beginn scheint sich der Beamte beinahe philosophisch zu versuchen, indem er behauptet, dass die Poesie bei den Unfällen und Katastrophen immer „eine große Rolle" spiele. „Das sei die Funktion der Poesie, sagte er" (83). Die Verifizierung der These bleibt er jedoch schuldig, weil er kein Exempel, sondern nur eine Erwartungshaltung der Beamten im Einsatz wiedergibt, die sich obendrein nicht mehr auf die Poesie, sondern auf Personen bezieht: Sie „seien sich von vorneherein sicher, daß der Verunfallte eine Art Poet sei oder ,gewesen' sei, wenn der Unfall
Ein leidenschaftliches Plädoyer für eine vorjosephinische Herrschaft
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A b b . 3: W i e die W i e n e r E x p e r t e n im A n s c h l u ß an d e n Einsturz festgestellt h a b e n , w a r alles in O r d n u n g u n d gut, n u r die Brücke, einzig allein die B r ü c k e w a r n i c h t in O r d n u n g . Alles w a r in O r d n u n g , s t e h t in e i n e m G u t a c h t e n , das länger ist, als die Brücke war, die Kontrollen w a r e n in O r d n u n g , die S t a d t r ä t e w a r e n u n d sind in O r d n u n g , n u r die Brücke w a r nicht in O r d n u n g . Alois
Brandstetter
tödlich geendet habe" (ebd.). Damit wird kein logischer Schluss gezogen oder empirischer Beweis geliefert, sondern nur die Verbreitung eines Vorurteils exemplifiziert. Indem in der gesamten Passage immer nur dieselben Wörter Unfall und Posie eingesetzt und abgewandelt werden, ohne auf die Bedeutungsveränderungen Rücksicht zu nehmen, wird durch scheinbare Argumentation bloß der Radius des denunzierten Bereichs vergrößert: von der Poesie im Allgemeinen über die Poeten als Schriftsteller bis hin zu den Träumern, den Poeten „im weitesten Sinn" (ebd.). Obwohl auch in der Verwaltungs- und Gesetzessprache kaum Synonyma verwendet werden, weil für die gleiche Sache das gleiche Wort eingesetzt werden muss, stellen diese Beispiele keine Persiflage auf sie dar. Die Variationsarmut in Brandstetters Text fußt nicht darauf, dass die Begriffe festgelegt sind, sondern sie
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Bürokratie als Äußerung moderner Herrschaft
stellt gerade im Gegenteil die Uneindeutigkeit oder Mehrdeutigkeit der Wörter sowie deren Nebenbedeutungen aus. Mit jeder neuen Umgebung und kleinen Variation ändert sich die Bedeutung, verkörpert eine andere Weltsicht und löst neue Assoziationen aus, denen der Autor lustvoll nachgeht. Aber auch in anderer Hinsicht verzichtet der Polizeiinspektor auf alle verwaltungssprachlichen Elemente. Sein Text ist weder durch eine hochkomplizierte Syntax, eine Vorliebe für den Nominalstil noch durch zahlreiche Passivkonstruktionen gekennzeichnet. Deshalb wird die ständige Wiederholung derselben Wörter erst recht als radikale Vereinfachung wahrgenommen, die - so man sie wie die Bürokraten immer nur in festgelegten Bedeutungen versteht - zu Störungen fuhrt und der komplexen Welt nicht gerecht wird. Neben dieser Simplifizierung von Welt entlarvt der Autor mit der Technik der Repetition auch die erstaunliche Kontinuität der Bürokratie. Ihre Mechanik lässt sich selbst von augenscheinlichen Mängeln nicht irritieren und fuhrt statt zu deren Behebung zur Stärkung ihrer eigenen Prinzipien. Besonders klar wird diese Deutung bürokratischer Praxis in jenem Fall, als sich die Behörden öffentlich rechtfertigen müssen, weil eine Brücke eingestürzt ist. Aufgrund eines Gutachtens, „das länger ist, als die Brücke war" (164), wird die Ursache für den Einsturz auf die Brücke selbst geschoben, weil die Kontrollen, Stadträte und alles andere auch „in Ordnung" war - „nur die Brücke war nicht in Ordnung" (ebd.). Im Repetieren der Worte Brücke und Ordnung sowie ganzer Satzteile und dem sich daraus ergebenden Rhythmus wird die behördliche Routine sinnlich nachvollziehbar. Speziell fokussiert diese Technik aber auch auf der Veralltäglichung des Mangels. Durch die monotone Redeweise wird der Fehler statt als Einzelerscheinung als ein allgemein verbreitetes Phänomen dargestellt. Der Mangel, der Missstand, die Störung werden zum Charakteristikum der heutigen Zeit. Entscheidend für Brandstetters Sichtweise ist nun allerdings, dass er sich nicht damit begnügt, ganz generell den Sinn diverser bürokratischer Praktiken infrage zu stellen oder mangelnde Korrekturfahigkeit zu konstatieren: Das wäre der im Alltagsdiskurs am häufigsten anzutreffende Standpunkt. Entscheidend ist für ihn vielmehr, dass die Mängel gar nicht als solche erkannt werden, weder von den Untertanen noch vom systeminternen Personal. Dementsprechend tauchen in der geschilderten Gegenwart keine größeren Probleme auf, und Problembewusstsein gibt es schon gar nicht, sodass die moderne Herrschaft äußerst stabil ist. Lediglich der promovierte Inspektor ortet Missstände, deutet sie
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als Symptome und schließt von ihnen auf den Verfall jahrhundertelang gültiger Werte und Kulturen sowie auf den Siegeszug der Bürokratie. Um die beanstandeten Mängel zu bekämpfen, setzt der Autor nicht nur die erwähnten Kunstgriffe ein, sondern wendet auch jene Verfahren an, die vielen bürokratiekritischen Alltagsäußerungen zugrunde liegen. Er minimiert Ausmaß und Kräfte bürokratischer Herrschaft. Die von ihm geschilderten modernen Organisationen weisen keine technische Überlegenheit auf, ja werden als lächerliche Gebilde ausgewiesen. Weil sie nur sporadisch in thematischen Bögen zu Kultur und Tradition vorkommen und dort nur als degenerierte Einzelerscheinungen eines nicht einmal angedeuteten Ganzen, geht die Dimension bürokratischer Herrschaft verloren. Die Mängel, Blindgänger des Staatsapparats, machen jedoch in der Tat nur einen kleinen sichtbaren Teil einer großen Maschinerie aus und werfen bloß ein Schlaglicht auf ein Detail, sodass die Gewaltigkeit des Apparats nicht beleuchtet wird. Mit dieser Perspektive wird das genaue Gegenteil dessen extrapoliert, was bürokratische Herrschaft im idealtypischen Sinn ausmacht: statt Ordnung Unordnung, statt Zweckgerichtetheit Sinnlosigkeit, statt Regeln Willkür. Ähnlich dem Alltagsdiskurs werden Störungen gesucht, lustvoll registriert und jedes Fundstück wie ein persönlicher Erfolg gefeiert. Das Ausmaß des Apparats schrumpft jedoch nur in den Köpfen der Bürokratiegegner zusammen. Nur in deren Fantasie tritt ein Machtvakuum zutage. Dieses füllt der Autor sofort wieder mit einer neuen, nämlich althergebrachten Herrschaft auf. In jeder Hinsicht baut er auf den „ästhetische [n] Respekt vor der Hierarchie, der politischen Ordnung", die sein Protagonist gegenüber der alten Kirche hegt (51). Insofern funktioniert sein Verfahren wie der volkstümliche Reflex: Aus der Idylle vergangener Herrschaftsbilder wird gegen jede Störung des Apparats ausgeschlagen, selbst wenn die Moderne alle Voraussetzungen für eine Rückkehr ruiniert hat. Dass er aber diesen Reflex mit einem gänzlich unbürokratischen Sprachgestus ausführt und weder Wortschatz noch Rhythmus an die konstatierten Änderungen anpasst, macht den Text witzig und pessimistisch zugleich. So steht auch die Auflösung des Deliktes für diese Sicht und Brandstetters Poetik: Mit verschiedenen Bedeutungen eines Wortes konfrontiert er die bürokratische und nicht bürokratische Welt miteinander und zeigt, dass es in ersterer weder Probleme noch Problemlösungen gibt, wovon allein jene betroffen sind, die sich
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in zweiterer zu Hause fühlen. Der Inspektor, der den Fall im Diesseits lösen wollte, beruft sich auf Hölle und Verdammnis und verrät den Behörden, dass der Dieb des Kelches ebendort zu finden sei, womit er ein Bild einsetzt, das zugleich die Jenseitigen" Arbeitsvorstellungen der Wiener Beamten demaskieren soll. Und der Inspektor setzt noch eins drauf: Denn, so seine „ernste Befürchtung", für die Behörden stelle das Jenseits und zugleich diese „jenseitige" Lösung ein durchaus brauchbares Abschlussergebnis dar (vgl. 175).
B
DIE VISION EINER BÜROKRATISCHEN PATRIMONIALHERRSCHAFT K.K.K.K. ÖSTERREICHS Fritz von Herzmanovsky-Orlando: Das Maskenspiel der Genien85 wenn die Beamten sich beeilen, ihre Freizeit dem Vergnügen zu weihen:
Nikolai Wassiljewitsch Gogol
1 Die Grenzen: Das dehnbare Österreich Wenn Alois Brandstetter seine Bürokratiekritik mit einer Utopie verknüpft, die auf Formen und Strukturen vormoderner Zeit aufbaut, bleibt er konsequent historischen und verifizierbaren Fakten treu. Außerdem zieht er die Grenzen zwischen den verschiedenen Herrschaftsformen fast so deutlich wie Max Weber in seiner Typologie. In dieser radikalen Trennschärfe ist der Roman einzigartig und kann beinahe als amüsantes Anschauungsmaterial wissenschaftlicher Definitionsvorgaben rezipiert werden. Ganz anders operierte Herzmanovsky-Orlando ein paar Jahrzehnte früher, indem er moderne Strukturprinzipien in Orten und Zeiten einfuhrt, die nie von Bürokratie betroffen waren. Zudem vermischt er alle drei Herrschaftsformen und fuhrt deren Kombinationstauglichkeit äußerst facettenreich vor. Mit diesen beiden kompositorischen Schachzügen gelingt dem Autor im Abschluss seiner „Osterreichischen Trilogie" nicht nur ein äußerst witziges, originelles Buch. Indem er die willkürlich vermischten Herrschaftsprinzipien in fremder Umgebung ausstellt, wird noch der bekannteste und anerkannteste Verwaltungsakt lächerlich. Mit dieser Karikierung geht jedoch kein Machtverlust der Herrschenden einher, im Gegenteil. Dadurch, dass ein fixer Verwaltungsstab mit seinen Wei-
85 F. v. Herzmanovsky-Orlando: Das Maskenspiel der Genien. In: ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Texte, Briefe, Dokumente. Bd. 3. Osterreichische Trilogie. Das Maskenspiel der Genien. Roman. Salzburg/Wien 1989
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sungen durch die Gegend und die Geschichte geschickt wird, bekommt die Behörde eine expansive Dimension. Zugleich wird offensichtlich, dass Gegenden und Epochen durch eine bestimmte Herrschaftsformation zusammengehören oder zumindest zusammengebracht werden können. Nicht zuletzt wird auch der topografisch und historisch heterogene Roman durch die Beamten und ihren Erfahrungs- sowie Gesinnungshorizont homogenisiert. Mit dem Protagonisten Cyriak, zugleich Held aus der griechischen Mythologie und k.k. Beamtenenkel, reisen verschiedenste Amtmänner durch das ehemalige bzw. zukünftige Osterreich. Als verlässliche Gestalten, die immer wieder auftauchen und damit die verschiedenen Textschichten kitten, gewinnen vor allem zwei Beamte Konturen, die bereits in den anderen Teilen der Trilogie vorgekommen sind: der pensionierte Doktor Philipp Bogislav Edler von Hahn und der Rat Xaver Naskrükl. Aber auch andere Amtspersonen spielen, indem sie durch Länder und Geschichte fahren und ihre Amtskenntnisse zum Besten geben, eine verbindende Rolle im Textgewebe. Neben dem Behördenpersonal stellt noch der von Amts wegen für tot erklärte Käfermacher, der von den Beamten mit auf Reisen genommen wird, Zusammenhänge her. Nachdem der behördliche Irrtum nicht revidiert wird, kreiert die Perpetuierung dieses Amtsfehlers ein Netzwerk durch alle Romanschichten hindurch. Kohärenz schaffen außerdem Weisungen und Symbole der Herrschaft, die auf Geräten und Kleidungsstücken sichtbar werden. Vor allem aber sind es der Behördenklatsch, Aufklärungen über Amtsentscheide, ja eine skurrile Amtslogik, die Abschnitte und Zeitebenen verknüpfen. Indem Personal, Herrschaftsinsignien, Titulaturen oder behördliche Vorgangsweisen als altösterreichisch ausgewiesen werden, sind alle Orte des Romans mit dem Etikett einer grotesken k.k. Monarchie versehen. Wo befinden sich aber nun die dem Österreichischen zugeordneten Gegenden und von welchen Epochen ist die Rede ? Oder konkret: Wohin reisen Cyriak und die Amtsleute und welche Zeitebenen durchbrechen sie dabei schrittweise ? Seine räumliche Ausdehnung erfahrt das Reich über Italien, Griechenland bis in den Orient. Entsprechend führen die Reisen von Graz über Leoben nach Gradiska in Friaul-Julisch-Venetien, zur Ionischen Insel Cythera, zu anderen Inseln im Mittelmeer, in den Orient und nach Athen auf den Olymp. Zeitlich spielt der Roman im damaligen Zukunftsjahr 1966 - Herzmanovsky-Orlando
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schrieb das Werk in den 20ern und feilte daran bis zu seinem Tod in den 50erJahren. Zugleich handelt es vom 19. Jahrhundert, der Ära Metternichs, weitet sich später ins Mittelalter der griechischen Feudal- und der Kreuzfahrerstaaten aus (12. Jh.) und verliert sich, angesichts der griechischen Götterwelt und der toten Protagonisten, in der Ewigkeit. Mit dem Fortschreiten der Handlung geht jeweils eine historische Rückblende einher: Mit jedem Kapitel entfernt sich die erzählte Zeit in Sprüngen von der Gegenwart. Zugleich wird mit jedem Kapitel eine weitere österreichische Grenze überschritten, ein Terrain rückerobert, das einmal österreichisch gewesen ist oder gewesen sein soll. Das heißt: Die Gegenden, die aufgesucht werden, sollen auf österreichische Herrschaftsansprüche verweisen, die vor dem Ersten Weltkrieg, beim Wiener Kongress oder im Mittelalter verloren gingen. Das beachtliche zeitliche und räumliche Ausmaß, so würde man annehmen, könnte die monarchische Herrschaft überfordern. Dies passiert jedoch keineswegs. Gerade weil sie im Hintergrund bleibt, nicht auftritt, kann sie für Bestand und Zusammenhalt sorgen, vermag sich beständig zu vergrößern und zu vertiefen. Dass nämlich die Spitze gern abbricht, Monarchen altern und sterben, tut dem Verwaltungsapparat nicht weh. Jedoch hat er einer ausgetüftelten Architektur zu genügen. Die pyramidal organisierte Verwaltung und Gesellschaft - in der es bei Herzmanovsky-Orlando von Adeligen aller Art nur so wimmelt - macht der Autor wiederum Schritt für Schritt deutlich. Nicht dass er die Struktur aufzeichnen, darüber referieren würde, er bildet sie in seinem kunstvoll geschichteten Text ab: Mit jeder räumlichen und zeitlichen Entfernung wird nämlich die Bevölkerung dezimiert. Sie wird stetig erlesener und auserwählter. In den entferntesten Gegenden des Reichs - weit weg und lange her - treten nur mehr hohe Adelige, Halbgötter - und natürlich Beamte auf. Die fortschreitende Handlung führt aber nicht nur diese geografischen, historischen Distanzen und das gesellschaftliche Gefuge vor. Sie folgt auch schrittweise dem Weg vom Selbst zum Verlust des Selbst und vom Physischen zum Metaphysischen. 86 Insofern geht die Reise von außen nach innen, vom äußerlichen Leben zu inneren Werten und endet dort, wo das (alt-)österreichische Wesen in der griechischen Götterwelt aufgehen könnte. Denn jede Etappe dieser Europa-, 86 Vgl. Notizen des Autors zum Roman, zit. nach: Entstehung und Rezeption. In: ebd. S. 445
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Historien-, Todesreise legt weniger ein Stück Geschichte oder Landschaft als eine Traumschicht frei, sodass die Orte und Zeiten nicht auseinanderstreben, sondern sich zu einer Einheit verdichten: In den verschiedenen Teilen des Romans werden nur weitere Strukturen eines Ganzen sichtbar gemacht. Sowohl der tarockanische Kanzler als auch die griechischen Halbgötter beherrschen keine verschiedenen Länder, sondern bloß andere Tiefen des Traumreichs, und zwar des österreichischen Traumreichs Herzmanovskyscher Prägung. Das „eigentümliche Staatengebilde", „das wie nichts anderes im Europäertum verankert ist und sozusagen den Astralleib der weißen Rasse darstellt", hat die Eigenschaft, nach und nach Länder wie Fremdkörper zu verschlingen und sich beständig weiterzufressen (vgl. 13). Aber nicht alles Fremde wird einverleibt. Die Ausdehnung folgt sprachlichen, historischen und rassischen Prinzipien und stellt eine Gegenvision zu jeglichen kommunistischen Utopien dar. Zugleich ist sie auch mit der Ideologie des Dritten Reichs, aber auch mit jener des habsburgischen Mythos völlig inkompatibel. Entgegen den Eroberungsfeldzügen Hitlers, aber auch entgegen den letzten Jahrhunderten österreichischer Politik, breitet sich das Traumreich nämlich nicht im Osten oder Südwesten Europas aus, es baut nicht auf Ungarn oder Preußen, nicht auf Wien oder Berlin. In Herzmanovsky-Orlandos Vision grenzt das Land im Norden an die Steiermark und Kärnten und wird nach und nach durch Gebiete in Südosteuropa und im Orient vergrößert (16). In den Paralipomena ist gar von einem österreichischen China und Persien die Rede, was eine historische Realität geworden wäre, wenn man Napoleon abgewehrt hätte. 87 Nicht verloren gegangen sind jedoch die Ansprüche des Oströmischen Reiches, dessen legitimer Erbe Osterreich sei.88 Vom verwaltungsgeschichtlichen Standpunkt aus versammelt der Autor damit (historische) Länder und Ländereien, die ihr feudalistisches System - nicht zuletzt durch Bürokratisierung wesentlicher Bereiche - lange Zeit erhalten konnten. Im Gegensatz zu den durch Aufklärung und Revolutionen längst entfeudalisierten, „entzauberten" nordischen und westlichen Staaten hatten sich in den orientalischen, chinesischen und persischen Ländern - trotz teilweise hochmoderner Verwaltungsprozesse - facettenreiche Herrschaftstraditionen erhalten.
87 Vgl. Paralipomena. In: ebd. S. 411 88 Vgl. Anmerkungen. In: ebd. S. 477
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Mit dieser Komposition vermag Herzmanovsky-Orlando zweierlei zu veranschaulichen : die expansive, grenzüberschreitende Kraft bürokratischer Ordnung, wie sie sich in Verrechtlichungs- und Globalisierungsprozessen inzwischen seit Jahrzehnten realisiert. Und zweitens verdeutlicht der Autor durch eben diese stets in Ausdehnung begriffene Ordnungsgewalt, wie sie mit unterschiedlichen Alternativherrschaften verschmelzen muss, selbst wenn sie dabei gerade ihre zentralsten Prinzipien, jene der Rationalität und Transparenz, unterläuft.
2 Die Herrschaft: Eine Staats-, Natur- und Göttergewalt Nachdem es sich bei der Reise auch um eine Läuterungsfahrt auf einen mystischen Idealpunkt hin handelt, entspricht jede Etappe auch einer gewissen Realitätsentfremdung. Gegend und Geschehnisse werden mit jedem Kapitel fantastischer und metaphysischer. Parallel dazu zeigt auch die Herrschaft immer mehr theatralische, fantastische und metaphysische Züge. Ein kurzer Herrschaftsabriss der drei wichtigsten Schichten soll diese Entwicklung veranschaulichen. Zu Beginn, vom steirischen Ausgangspunkt bis zur ersten Grenze, ist noch von relativ konventionellen Formalitäten und Befehlen zu lesen. Bald verlagert sich die Handlung und beginnt im sagenhaften Land, der „Tarockei", zu spielen. Diese Ebene Österreichs sollte nach fiktiven Ideen Metternichs regiert werden, gerät jedoch immer mehr in den Einflussbereich der Commedia dell'Arte-Figuren. Damit kommt es zur grotesken Mischung einer reaktionären und karnevalesken Regierungspraxis. An der Spitze dieses „k.k.k.k." Reiches, der Tarockei, stehen vier Monarchen, die für jeweils ein Jahr regieren. Statt dynastischen oder ständischen Auswahlkriterien zählt lediglich die physische Ähnlichkeit mit den Königen des Normaltarockspiels, sodass selbst ärmste Leute aus dem Volk, mitunter sogar Frauen, an die Regierungsspitze kommen. Allerdings ist die Funktion der Monarchen auf eine repräsentative beschränkt. Die Exekutive hinwiederum rekrutiert sich aus fachmännisch geschulten Figuren der Commedia dell'Arte und ersetzt das Parlament. Mächtig ist allein jener, der das Monopol auf die legislative Gewalt innehat, der unfehlbare Kanzler, „der fast stündlich neue Gesetze aus dem Ärmel schüttelte und jede Woche irgend etwas Umwälzendes tat" (15f.). Die Herrschaft der Tarockei funktioniert jedoch keineswegs so bürokratisch, technisch,
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Abb. 4: Er wird d a s M e e r zuschütten lassen; im M a i oder Juni. Die H ä f e n werden verlegt und zwar ins H o c h g e b i r g e ! Dort ist j a sonst nichts los und alles Staatseigentum. E s soll, b e h a u p tet man im Arbeitsministerium, g a n z gut gehen, ... mittels schiefer E b e n e n o d e r s o ... alles, damit in die unwirtlichen Hochtäler ein bißchen L e b e n k o m m t . Verstehen Sie jetzt, w a s es heißt: Pater patriae zu sein und alle Vorteile wahrhaft gerecht zu verteilen ...
Fritz von
Herzmancrvsky-Orlando
transparent, wie es aufgrund der wichtigsten Kriterien scheinen mag. Zwar gilt das Primat der Gerechtigkeit vor Tradition, der Auslese vor Vererbung (Könige könnten sich durch den schnellen Wechsel nicht abnutzen wie die Karten). Zwar baut die tarockanische Herrschaft mehr auf Anonymität und Ausbildung als auf Ehre und Würde, auf Machtkonzentration statt auf Dezentralisierung, auf Gesetz statt auf Gunst und Gnade. Jedoch wird das weitgehend bürokratische Gehäuse mit vielen traditionalen Elementen gefüllt. Das Verwaltungspersonal ist abgeklärt, aufgedonnert, repräsentiert die Herrschaft in würdevollen Spielen, inszeniert seine Arbeit feierlich und spontan. Zwar sind die Verwalter anonym, weil sie hinter Halbmasken versteckt bleiben. Aber man versteht sie dadurch nicht mehr. Außerdem tauchen sie stets unvermittelt auf und überraschen mit Amtshandlungen. Die Beamten „wirbelten immer bunt durcheinander, umkoplimentierten sich aufs feierlichste, ohne das geringste zu arbeiten
Die Vision einer bürokratischen Patrimonialherrschatt k.k.k.k. Österreichs
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oder zu schaffen - pompöse, ruhmtriefende Erlässe ausgenommen" (18). Diesen Ausnahmen ist nicht zu trauen, ja manchmal sind sie gar nicht bekannt. Oft ist es besser, statt sich den Verordnungen zu beugen, abzuwarten, bis sie vergessen werden. Das gilt umso mehr, als Beamte eigenmächtig fiir Veränderungen sorgen, indem sie immer wieder die Bescheide ihrer Vorgänger aufheben. Wenn die Untertanen darüber rätseln, ob das Wetter oder neue Erlässe schuld an der Misere sind (30), werden puncto Unberechenbarkeit und Ohnmacht jene typischen Analogien angesprochen, die zwischen Naturgewalten und traditionaler Herrschaft bestehen. Verlassen die reisenden Protagonisten diese Ebene des Reichs mit dem Namen Tarockei, geraten sie immer tiefer in mystische und mythische Welten, die nichtsdestoweniger österreichischer Provenienz sind. Das wird im Text nicht immer ganz deutlich - in Herzmanovsky-Orlandos Notizen jedoch wiederholt thematisiert. Bezüglich der griechischen Liebesgöttin und Charon schreibt der Autor etwa: Die Ionischen Inseln mit Cythere gehörten de jure zum Osterreich überlassenen venetianischen Gebiet, wurden aber von den Engländern besetzt. Ergo war 1. „Aphrodite" eine geborene Österreicherin 2. Charon [...] österreichischer Untertan und w o h l in der Kategorie einer Dienerstelle des Handelsministeriums beizuzählen. 89
Nicht jedoch braucht man in des Autors Notizen nachzusehen, will man erfahren, wer fiir Einreiseformalitäten oder Verwaltungsangelegenheiten zuständig ist. Amtsgewalt und Weisungskraft der „oberflächlichen" Herrschaft reichen über feudalistische, mystische Inselsysteme bis in die Götterwelt. Damit verfugt Herzmanovsky-Orlandos Österreich neben den traditionalen und bürokratischen Elementen auch über eine metaphysische Dimension, die die charismatische Seite der Herrschaft darstellt. Nymphen und Genien vermitteln nicht nur zwischen den irdischen und außerirdischen Sphären, sie fungieren auch als längst falliger Ersatz fiir die in Osterreich bereits notorisch lückenhaft besetzte Herrschaftsposition. 89 F. v. Herzmanovsky-Orlando: Sämtliche Werke in 10 Bänden. A.a.O. Bd. IV. Zit. nach ebd. Bd. III. S. 518
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Schließlich brauchte das Land zu Lebzeiten des Autors nichts mehr als charismatische Herrscher, an wenig litt Osterreich mehr als an der Sehnsucht danach bzw. den verheerenden Auswirkungen, die sich aus dem Beifall far charismatische Angebote ergaben. Andererseits wird in Herzmanovsky-Orlandos Traumreich durch diese Vervollständigung der Herrschaftsprinzipien die Macht total: Mit dem Konglomerat aus bürokratischer Gegenwart, bürokratischer Patrimonialherrschaft der Tarockei und charismatischer Ordnung der androgynen Wesen, die die Götterwelt repräsentieren, ist auch das „Interesse am Gehorsam" (vgl. Weber) dreifach abgesichert. Es nützt nichts, die Gesetze und die Legalität, den persönlichen Herrn oder die Gottheiten zu bekämpfen, weil alle zusammen die Herrschaft desselben Reichs bilden. Weder punktuell noch strukturell ist diese Herrschaft zu unterwandern oder zu stürzen.
3 Die Eroberung: diffizil bürokratisch Ausgeliefert sind dieser vielfach abgesicherten Herrschaft verschiedene Staaten. Wie Fremdkörper werden sie von Osterreich verschlungen (vgl. 16), so Herzmanovsky-Orlando, oder sie erliegen dessen Anziehungskraft: „ungefähr um 1966" wird sich „ganz Europa in Österreich .hineingeschlampt' haben".90 Träume von Herrschaftsexpansionen, die historisch begründet werden, gab und gibt es in vielen Ländern. Besonders zu Lebzeiten des Autors wurden Reichsvergrößerungen von konservativen und rechten Kräften in mehreren europäischen Ländern nicht nur herbeigesehnt, sondern auch realisiert. J e nach nationaler Geschichte und dominanten Geschichtsbildern werden bestimmte Gebiete als zugehörig empfunden und zumindest in der Fantasie die Grenzen der Nation gesprengt. Das Besondere an Herzmanovsky-Orlandos Herrschaftsgebilde - spezifisch österreichischer Art - liegt demnach nicht in den Eroberungswünschen, sondern in Richtung und Inszenierung des Machtzuwachses begründet. Statt durch militärische oder wirtschaftliche Aggression werden die quantitativen und qualitativen Expansionsansprüche des kleinen Osterreich mit
90 Vgl. Brief vom 20. 3. Friedrich Torbergs an Herzmanovsky-Orlando, der auf Aussagen seines Freundes Bezug nimmt. In: F. v. Herzmanovsky-Orlando: Sämtliche Werke in 10 Bänden. A.a.O. Bd. VIII. Zit. nach Bd. III. S. 457
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bürokratischen Mitteln auf traditionaler Grundlage umgesetzt. Die Staatsgewalt agiert nicht, wie üblich, mit militärischer Gewalt nach außen und kultureller Beeinflussung nach innen,91 sondern beschränkt sich im in- und auswärtigen Kampf auf Tradition und Verwaltung, ja auf die in der Verwaltung abgespeicherte Kultur. Es wird sich noch zeigen, welche Werte und was für Traditionsformen vom Autor zu uen österreichischen Alternativwaffen gezählt werden. Wichtigster Schachzug für Landgewinne ist bei Herzmanovsky-Orlando jedenfalls die Korrektur des Osterreichbildes, wozu der Erzähler nicht zuletzt mit dem Roman, der Ausgestaltung des Traumreiches, beitragen will. „... des Traumreiches ...", werden wohl alle Leser ausrufen und das Buch geekelt wegwerfen. „Davon ist ja schon so viel unsinniges Zeug geschrieben worden ... gibt's das denn wirklich ?"/Ja, und abermals: Ja! Doch, man kann ihnen die Frage nicht übelnehmen, da man sich stets vor Augen halten muß, daß die ganze Welt Osterreich mit unerhörter Interesselosigkeit, ja, mit beklagenswertem Unwissen gegenübersteht, kaum daß man das bißchen kennt, was die Reisehandbücher Falsches von den paar begangenen Touristenrouten zu sagen wissen (12).
Wie der Autor mit seinem Anliegen, setzt auch die tarockanische Herrschaft durch diverse Regelungen auf Vergrößerung des Ansehens. So wird mit den Gesetzen nicht nur die Disziplinierung der eigenen Untertanen bezweckt, sondern sie zielen auch auf symbolische Profite im Ausland ab. Der angestrebten Vergrößerung, die nicht brachial mit Geld oder Bomben bewerkstelligt werden soll, muss Werbung für das kleine Land vorangehen. Deshalb wird die Verbrecherstatistik manipuliert oder das Landesverwanzungsamt nur als halbamtliche Stelle eingerichtet. Das Ausland darf nicht schockiert werden (84). Neben den bürokratischen werden auch die traditionalen Herrschaftsäußerungen mit Blick über die Grenzen inszeniert. „Flaggen, Spaliere, Ehrensalven und stundenlange pathetische Reden" in „stylvoller Maskerade" werden bei kleinsten Anlässen und immer wieder an falschen Plätzen durchgeführt. „Aber gerade solche Staaten blühen und gedeihen und erfreuen sich des Ansehens bei den Nachbarn" (19). Herrschaft kraft Ansehen soll wohl eine Sogwirkung auf andere Länder ausüben und dafür sorgen, dass sie sich anpassen und freiwillig angliedern. Außer91 Vgl. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. A.a.O. S. 559
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dem haben die Techniken, die zum österreichischen Großreich fuhren sollen - nämlich die etwas wahrheitsverzerrende Werbung und die Zelebrierung von Geschichtskonstanten - , auch ihre Wirkung auf die interne Gewalt des Zusammenhangs. Das ist umso wichtiger, als selbst im Inland weder das Prinzip „Herrschaft kraft Wissen" angewandt wird, weil es ihm an Inhalt oder an Eindeutigkeit mangelt, noch das Prinzip „Herrschaft kraft Tradition", das längst überholt ist. Nur am Rande ist es noch wirksam, wie etwa beim Großvater der Hauptfigur, der in Ancona das Amt des Münzwardeins innehatte, obwohl die Münze bereits 1631 abgeschafft worden war. Obwohl er demnach „ein so gut wie ressortloses Amt" (10) ausübt, wird sein Posten als besonders verantwortungsvoll bezeichnet. Sein daraus resultierendes Ansehen vermag sogar noch dem Enkel zu nutzen. Nachdem dieser zudem die Figur des Aktaion aus der griechischen Mythologie verkörpert, kann er Held der Monarchie und der Antike sein. Das Ansehen aus vergangener und vorvergangener Zeit öffnet dem Beamtenenkel und Göttersohn alle Türen; als Statthalter der österreichischen Geschichte Herzmanovskyscher Prägung vermag er gemeinsam mit den Beamten alle Grenzen zu überschreiten. Wenn er am Ende des Romans getreu der Vorgabe aus der griechischen Mythologie als Hirsch von den eigenen Hunden zerfleischt wird, ist er immerhin der Letzte der Reisenden, der sterben muss. Um erfolgreich expandieren zu können, werden neben dem Engagement für das Ansehen im Ausland technische Messgeräte eingesetzt. So lautet ein amtlicher Auftrag, dämonische Orte des klassischen Altertums mittels k.k. Diabolometers festzustellen. Dahinter steckt das „austro-freysingische Staatsgeheimnis" (231), das für die Expansionsansprüche Richtung Orient zuständig ist und sie zu realisieren hat. Freising ist ein 724 gegründetes Fürstbistum unter dem Hochstift Salzburg, dessen Namen vom Autor von der germanischen Göttin Freya abgeleitet wird und dessen Gebiet er zu einem Zentrum Österreichs zählt.92 Andere Beamte vermessen mittels Dryadometer und Nixographen die „letzten Regungen der Antike". Wenn bei den Bäumen der „Grad der Benixung" festgestellt und verzeichnet wird, kann Österreich im Nullpunkt einschreiten und „den Hyperbelast des Weges zu Gott wieder hinauf lenken" (321f.). Auch diese Messtätigkeit zielt letztlich auf die Eroberung Osteuropas ab, was 92 Vgl. Anmerkung in: F. v. Herzmanovsky-Orlando: Sämtliche Werke in 10 Bänden. A.a.O. Bd. III. Anmerkungen, Notizen aus den Vorarbeiten. S. 497
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Abb. 5: „Was für ein Amt hatte der Hirte in Delos, und hier der gute Alte?" „Ja - schwer zu sagen! Vielleicht gibt Ihnen das etwas, wenn ich Ihnen sage: Er bedient hier das Dryadometer!" - „Das Dryadometer ... was ist das?" - „Nun - eine mechanische Vorrichtung, die mehr oder minder starke ,Benixung' eines Baumes zu messen - die heiligen Bäume herauszufinden - ihr Stellungsnetz festzulegen ... Fritz von Herzmanovsky-Orlando
in Herzmanovsky-Orlandos Notizen immer wieder als Vereinheitlichung von Zusammengehörigem bezeichnet wird: „Freysing und Hellas sind eins ... Ostara Reiche, Afroditen begnadet". 93 Allerdings muss fiir die Vereinigung erst der Zeitpunkt abgewartet und darfja nicht versäumt werden. Dafür sind die Geräte dienlich und gelten deshalb als Garantie für die friedliche Annexion. Mittels bürokratischer Methoden - Herzmanovsky-Orlando soll die magischen Felder allerdings auch ohne Geräte wahrgenommen haben 94 - werden Zusammenhänge von Tradition und Mythos gestiftet: Das Unberechenbare, Unregistrier-
93 Vgl. F. v. Herzmanovsky-Orlando: In: ebd. 94 Vgl. M. v. Gagern: Ideologie und Phantasmagorie Fritz von Herzmanovsky-Orlandos. München Diss. 1972. S. 32
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bare wird geortet und geordnet. Und die Ordnung, die Systematik wird unterwandert und belebt. Damit komme ich zum dritten und letzten Punkt, der die Expansionskraft Österreichs zu begründen hat: die seltsame Verklammerung traditionaler, bürokratischer und charismatischer Prinzipien. Für die Lesenden produziert sie in erster Linie eine spezifische Verwaltungskomik, die durch den Kontrast zwischen der Gelassenheit der beamteten Erzähler und den terrorisierten Untertanen verstärkt wird. Die Selbstverständlichkeit, mit der Bürokratie als Tradition ausgegeben wird, aber auch das Selbstverständnis, mit dem traditionale Äußerungen bürokratisiert werden, provoziert jedoch zugleich mit der Komik auch das in Verwaltungsangelegenheiten typische Gefühl des totalen Ausgeliefertseins. Von der Zerstörung jedes Feindbildes innerhalb des Reichs geht ein unbehaglicher Anpassungsdruck aus, der wie selbstverständlich auch die zu erobernden Länder erfasst. Sowohl für interne Belange als auch für außenpolitische Bestrebungen werden vor allem bürokratische Prinzipien herangezogen Land und Personen werden konsequent und routiniert mittels eines dichten Personalnetzes mit technischer Unterstützung vermessen, es gibt stete Rationalisierungsbemühungen, klare Hierarchiestrukturen und feinste Spezialisierungen. Um mit diesen Organisationsformen die Installation einer österreichischen Weltmacht zu begründen, müssen sie als Nationalspezifikum ausgegeben werden. Das bedeutet, dass der bürokratische Herrschaftsapparat zur heiligen Tradition hochstilisiert wird. Zugleich sind feudalistische, ja nahezu sultanistische Formen auf moderne Weise zu legalisieren. Die Herrschaft, die dadurch entsteht, hat Totalitätsanspruch, sie ist das verzerrte Spiegelbild einer verbreiteten österreichischen Vision, die sich allerdings nicht nur althabsburgischen Träumen, sondern auch nationalsozialistischen Ideen widersetzt. Die Folgen der Verklammerung von Legalität und Tradition sind nicht nur in ihrer quantitativen Dimension, sondern auch in der qualitativen Steigerung der Bürokratisierung zu spüren. Die Arbeit der Bevölkerung wird bis ins kleinste Detail rationalisiert und fiir die Zwecke der Herrschaft programmiert. Die Steuerung geht über die herkömmliche Organisation von Massen auch in anderer Hinsicht hinaus. Nicht nur eröffnet die Grenzüberschreitung in geografischem und historischem Hinblick Landgewinne unerhörten Ausmaßes. Terraingewinne werden noch in weitaus spektakulärerer Hinsicht möglich: Wald und Schafe werden nicht einfach als Objekte der Verwaltung untergeordnet,
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sondern zu Produkten bürokratischer Anstrengungen degradiert (vgl. 263 und 373). Damit wird selbst das Reich der Natur legalen Prinzipien unterworfen. Auch die metaphysische Welt ist nicht mehr frei von modernen Herrschaftsprinzipien. Auf dem Götterberg erscheinen statt des obersten Gottes Zeus plötzlich Beamte österreichischer Provenienz: sei es der ordenbehängte Wilhelm Ritter von Nepalek, Zeremonienmeister des Kaisers Franz Joseph (362), oder Hofzinser, ein ehemaliger Kontrollor der Staatsschuldenkassa mit „der politischen Einstellung einer plusquamperfekten byzantinischen Gesinnung", ehemals Schreibtischpartner des „Grillparzer gottselig" (363). Selbst die Göttin Venus gerät in Kontakt mit der österreichischen Behörde. Sie wird von einem Männchen in verschossener, spinatgrüner Uniform und österreichischer Amtsdienerkappe in ihrer Muschel an Land gezogen. „Es sei tatsächlich ein österreichischer Finanzer gewesen!", so der Beamte Streyeshand. „Diese Behörde funktioniert bekanntlich außerordentlich gerne ganz autonom, und ihr heißester Wunsch sei es, wenn möglich, auch in ganz fremden Ländern Zollfunktionen auszuüben" (238f.). Wegen alter Herrschaftsansprüche sei dies auf Cythera nicht nur statthaft, sondern sogar dezidiert erlaubt (239).
4 Die Legitimität: Bürokratie in Hochform
Wie bereits gezeigt, gelten in Herzmanovsky-Orlandos letztem Roman Gottheiten, Natur und Beamte kraft tradierter bürokratischer Formen als Konstanten österreichischer Herrschaft. Durch das kunstvoll hergestellte und verbreitete Ansehen und die Sogkraft tarockanischer Eigenheiten drohen nicht einmal außenpolitische Widerstände. Gefahr scheint letztlich nur von der großen grauen Masse zu drohen. Da sie in die Sphären der charismatischen, androgynen Wesen nicht vordringen kann, bleibt ihr Bedrohungsradius jedoch auf die Tarockei beschränkt. Dort ist sie beliebtes Objekt herrschaftlicher Äußerungen. Unter ungeheuren Anstrengungen werden für sie wirtschaftliche und beschäftigungspolitische Maßnahmen gesetzt, die nur auf den ersten Blick als völlig sinnlos erscheinen. Aber wie erklärt Quarrengrüller, ein Schulkollege des Urgroßneffen des verschollenen Bruders des Dichters Grillparzer, seinem Mitreisenden freundlich ? „Ja, denken muß man und immer das Abseitige ins Auge fassen ... dann kommt man schon aufs Richtige!" (45)
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Der Staat schafft nämlich Arbeitsplätze, die er selbst steuert und die nicht wegrationalisiert werden können. Indem er bestimmt, dass die fertiggestellten Gobelins sofort wieder aufgetrennt und unentwegt neue gewebt werden, ergeben sich nicht nur arbeitsmarktpolitische, sondern - so eine trügerische Rechnung - auch ökonomische Vorteile. Denn strenge kaufmännische Berechnungen haben ergeben, daß der Abtransport (das Werk ist aus Ersparnisgründen auf fast unzugänglichem Terrain erbaut worden!) der fertigen Stücke etwas teurer käme als die Zufuhr des Rohmaterials (ebd.).
Für den Erhalt des Systems sorgt der staatliche Betrieb durch innovative Planung und beachtliche Startinvestitionen. Einmal errichtet, bindet die Fabrik auf lange Zeit eine Menge Untertanen, und das Management muss sich nicht mit Rationalisierung oder neuen Strategien auseinandersetzen. Vom Wert der Arbeitsplatzbeschaffung und von schlichter Arithmetik sind tarockanische Beamte allemal überzeugt. In einem weiteren Projekt des tarockanischen Kanzlers geht es um den Bau der größten nationalen Industrieanlage der Welt. Um in dem kleinen Land dafür Platz zu schaffen, wird er die Häfen ins Hochgebirge verlegen lassen. Dort kann er aufjede Menge „Staatseigentum" zurückgreifen und diese Ressourcen auch gleich für vernachlässigte Untertanen nutzen. Schließlich sollen von seinem Vorhaben nicht bloß die Werktätigen in der industrialisierten Gegend profitieren, sondern auch die benachteiligten Bewohner der „unwirtlichen Hochtäler". Die Staatsgewalt nimmt also nicht nur arbeitspolitische Aufgaben wahr, sondern agiert auch im Sinne moderner Umverteilung und nach dem Primat Gerechtigkeit vor Freiheit. „Verstehen Sie jetzt, was es heißt: Pater patriae zu sein und alle Vorteile wahrhaft gerecht zu verteilen ... [?]" (103) Nicht zuletzt verschafft das Projekt der Bevölkerung ein Gefühl der Superlative, deren kleine und v.a. geschrumpfte Länder so sehr bedürfen. Die Identifikation mit dem Reich und seiner Herrschaft wird forciert. Nach außen hinwiederum wird das Ansehen verstärkt sowie die österreichische Vormachtstellung in der kommenden Weltordnung signalisiert. Projekte, wie die zwei genannten, so grotesk sie durch Übertreibung und Zuspitzung auch anmuten, realisieren in kleinerem Umfang alle Staaten, um ihre Herrschaft zu legitimieren. Meist sind sie aus wirtschaftlicher Perspektive kon-
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traproduktiv und bringen, wenn überhaupt, höchstens kurzfristig Profite. Für die Absicherung des Gehorsams, die Bindung und Kontrolle von Arbeitskräften sowie für die Festigung der nationalstaatlichen Position als Signal über die Grenzen hinweg scheinen sie der Herrschaft aber durchaus zu nutzen. 95 Wenn sich der reisende Protagonist über derartige Unternehmen im ersten Augenblick erstaunt zeigt - die Erklärung des Amtsträgers Dr. Eusebius Nockhenbrenner scheint ihn schnell davon zu überzeugen, dass es sich nur um ein Wahrnehmungs- und Darstellungsproblem handelt: Denn im Herzen des Reichs, in der Tarockei, gehe es nicht um ein Grad wunderlicher zu als in irgendeinem andren Land. Die Vorgänge sind bloß krystallhafter herausgearbeitet, der neu angekommene Fremde distanzierter dazu gestellt, und die kleine Differentialkluft sozusagen läßt Ihnen alles in größerer Plastik erscheinen (27).
Wegen dieser „Differentialkluft" muss der Fremde über einige Praktiken aufgeklärt werden, was die Beamten nie in Verlegenheit bringt. Die Skurrilitäten der Bürokratie werden allenthalben als Rationalisierung von Machtinteressen der Herrschaft dargestellt. Unbehagen und Komik ergeben sich jedoch weniger daraus, dass zu viel Rationalisierung im Spiel ist. Auch entsteht das Groteske der Tarockei nicht durch die bereitwillig erteilten Auskünfte der Verwalter, die über jede Kritik und jeden Zweifel erhaben sind. Vielmehr liegt die Verzerrung in der Bearbeitung der Wirklichkeit: nicht das Herausarbeiten der Vorgänge, wie Nockhenbrenner meint, sondern das Umwerten der diversen Herrschaftsfunktionen ist es, was das Traumland „tarockanisch" oder „herzmanovskysch" macht. So wird Sinn nicht suspendiert, was jede Herrschaft gefährdet, er wird bloß auf andere Ebenen verlagert. Im Traumreich werden wichtige Ursachen zu nebensächlichen, Nebeneffekte zu Haupteffekten gemacht. Keine neuen Werte treten zutage, sie werden aber anders eingestuft und kehren damit Machtpro95 Nicht unähnlich handeln große Wirtschaftsunternehmen, um die Herrschaft eines Produkts oder einer Marke abzusichern. Auch sie vermitteln, dass ihre Waren allen frei und gleich zuganglich sind und dass sie für ein besseres Leben zu sorgen vermögen. Allerdings können die Konzerne bei ihren Werbeprojekten auf zahlreiche öffentliche Ressourcen zurückgreifen, was umgekehrt kaum der Fall ist.
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zesse deutlicher hervor. Beispiele für die Realisierung von Funktionsverschiebungen sind etwa die raffinierten Maßnahmen des Staates zur Verschlechterung der Lebensbedingungen. Spezialist auf diesem Gebiet ist Doktor Philipp Bogislav Edler von Hahn, Beamter im Ruhestand, der durch die Sekretäre Schwenzeltanz und Schleimhascher vorzeitig aus dem Amt katapultiert worden sein soll. Er produziert das unentwirrbare Unkraut Teufelszwirn en gros, das von einem Ministerium direkt bezogen wird. Der verblüffte Fremde, „der ja gar keine Ahnung vom Verwaltungswesen zu haben" scheint, wird freundlich aufgeklärt: In einem Land, wo alles wunderbar gedeiht, wird die Bevölkerung (von ihrer „fürsorglichen Regierung") durch das Unkraut dazu angehalten, zu jäten, statt auf „die unnützesten Dinge" zu kommen: auf „Unzucht, Revolution, Verbrechen" (83). Demselben Zweck dient das Landesverwanzungsamt (ebd.) oder das Ministerium für Teufelsdreck, das die Mühlenindustrie zerstören könne (87). Immer geht es um den Gehorsam der Untertanen. Auf den wirtschaftlichen Profit durch die Leistungen der Arbeitskraft wird zugunsten der absoluten Unterwürfigkeit verzichtet. Die Untertanen verrichten tatsächlich reine Unterwerfungsarbeit, bleiben aber im Glauben belassen, tüchtig zu sein und gegen Naturkräfte anzukämpfen. So kann die Herrschaft eine neue Wirklichkeit schaffen, die als natürliche wahrgenommen wird, und sichert sich alle Machtansprüche. Diese können nicht infrage gestellt werden, weil sie den Beherrschten in diesem Fall gar nicht einmal bewusst sind. Mithilfe seines Amtsblattes, der „Wiener Zeitung", in der „jedes vVort bis zur UnWirklichkeit abgewogen ist" (90), versucht er zusätzlich die Wahrnehmungsvielfalt einzugrenzen und sein Steuerungsmonopol auch beim Umgang mit der Realität durchzusetzen. Umsichtig blendet er bestimmte Sphären der Wirklichkeit aus. Für die anderen, die zugänglichen, behält er es sich vor, sie ständig (neu) zu inszenieren. In anderen Bereichen jedoch ist es für die Herrschaft opportun, ihre Machtposition nicht nur sichtbar zu machen, sondern sogar in den Vordergrund zu stellen. Das gilt für alle Grenzüberschreitungen, die tiefer ins Osterreichische führen. Hier wird die Auslese von Personen und Waren ausdrücklich „österreichisch" durchgeführt. Am strengsten agieren die Grenzbeamten dort, wo sie nicht auf Fracht, sondern auf Verhaltensweisen aus sind. Gefahndet wird etwa nach einer verpönten Wurstsorte, worunter eigentlich nur die österrei-
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Abb. 6: Aber man war zufrieden, das Reisepublikum zu quälen, unnütz aufzuhalten und es die Macht der staatlichen Ordnung gehörig fühlen zu lassen. Feinhörige hörten den Fiscus förmlich vor Vergnügen quaken. Fritz von Herzmanovsky-Orlando
chische Wurstigkeit bzw. das Sich-Fortwursteln gemeint sein kann. Nachdem man diese Eigenheit weder festmachen noch schmuggeln oder verzollen kann, die Suche deshalb nur erfolglos sein kann, müssen die Behörden umso autoritärer auftreten. Begründet werden die übertriebenen Formalitäten gegenüber den Reisenden nicht. Cyriak jedoch wird von einem Beamten, den er auf der Fahrt kennengelernt hat, über den Sinn aufgeklärt: Es gehe darum, die Reisenden „die Macht der staatlichen Ordnung gehörig fühlen zu lassen" (19). D.h., die sinnliche Erfahrung der Staatsgewalt soll nicht etwa den Staat präsent und spürbar machen, sondern dessen ganz spezifische Ordnung. Diese zeichnet sich eben v.a. durch Willkür und Unnützlichkeit aus. Dass nur „Feinhörige" von seiner Lust auf finanzielle Einnahmen etwas mitbekommen - nur sie „hörten den
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Fiscus förmlich vor Vergnügen quaken" (ebd.) zeigt, wie nachrangig Etatfragen für die gesamte Gesellschaft sind. Aber auch der Staat scheint kein Interesse daran zu haben, diesen Aspekt in den Vordergrund zu spielen, sonst würde er schon bei seinen Untertanen für ein entsprechendes Gehör sorgen. Wirtschaftlichkeit zählt aber sowieso nicht zu den Kernkompetenzen des tarockanischen Staates. Sie gehört auch nicht zu seinen wichtigsten Zielen. Lieber investiert er in Machterhaltung und Machtausbau, in die gesellschaftliche Ordnung, die auf seinem expandierenden Territorium zu gelten hat. In diesem Bereich finden wir einen weiteren zentralen Grund für die skurrilen Formalitäten an der Grenze. Für ihn sind neben der Fahndung nach der Wurstsorte auch die Prozeduren an der Grenze zu Cythera exemplarisch. Dort werden die Reisenden auf einer kleinen Insel in einer Art von „Quarantäne" durchgesiebt und einer Autopsie unterzogen. Damit lasse sich besser als mit einer ,,bloße[n] Einreisebewilligung" feststellen, „ob die Ankömmlinge den etwas märchenhaften Staat nicht durch groteskes oder geschmackloses Wesen allzu sehr belasten würden" (193). So geht es an den tarockanischen Grenzen sehr wohl auch um Einwanderungskriterien sowie Fragen der Integration, wenngleich Sprachkenntnisse, Bildungsnachweise, Leumundszeugnisse oder Einkommensniveaus keine Rolle spielen. Peinlichkeiten und Willkür sind bei der Anwendung kultureller Kriterien jedenfalls vorprogrammiert. In der Tarockei korrigieren die Beamten zur Absicherung ihrer irrationalen Untersuchungen Daumenabdrucke, bevor sie sie gänzlich übermalen. Damit entziehen sie ihre Entscheidungen jeglicher Kontrolle. Die ungewöhnliche Praxis diene wohl dazu, „Unberufene irrezuführen" (29), erklärt denn auch ein Beamter phlegmatisch. Jedenfalls nützt sie der staatlichen Kontrolle über die Zu- und Einwanderung, die nicht nachprüfbar ist. Zugleich handelt es sich um Machtdemonstrationen, die sich der Staat etwas kosten lässt. So verzichtet er auf monetäre Einnahmen, profitiert aber von der Absicherung seiner Herrschaft. An den Grenzen des Reichs sind diese Bemühungen umso stärker, als deren Überschreitung nicht in ein anderes Land, sondern immer näher in sein Herz fuhrt. Aber auch im Amtsalltag zielen die Schikanen auf den Gehorsam der Protagonisten, der Untertanen wie der Beamten. Allerdings bleibt offen, ob Vorschriften und Pflichten für den Verwaltungsstab ebenso unhinterfragbar sind wie für die restliche Bevölkerung oder ob ihnen kleine Freiheiten gestattet sind. Immerhin werden sie weder angedacht noch probeweise realisiert. Allent-
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halben gilt, dass der Staat auch innerhalb seines Apparats das bürokratische Maximum verwirklicht, das nach Weber darin besteht, durch Sklaven oder wie Sklaven behandelte Angestellte verwaltet zu werden. 96 Bestes Beispiel ist der Amtsdiener Hahn. Obwohl sein Anzug (den er über das „Cavalliersabonnement .römisch II' mit dem Index , a e r h a l t e n hat) (89) aus unerklärlichen Gründen jeweils drei Tage vor Wetterumschwüngen bestialisch zu stinken beginnt - Kinder in der Straßenbahn fangen an zu weinen (94), legt ihn Hahn nicht ab. Diese Geschichte zeige, so ein anderer Staatsdiener, Streyeshand von Hasenpfodt, wie der Beamte „ein Sklave der Repräsentationspflicht (sei), ein Mann, der sogar das imponderable Moment des Gestankes auf die Goldwaage legen muß!" (95) Da Kollegen und Vorgesetzte dieses verlässliche Barometer schätzen, weil sie durch die Wettervorhersage wissen, „ob man am Samstag auf die Rax oder sonst wohin ausfliegen könne" (94), darf er sich des Anzugs nicht entledigen. Gern wird dafür in Kauf genommen, dass Hahn durch Beamte abgelenkt wird, die ihn um seine wahrsagerischen Fähigkeiten beneiden, sodass er so „manchen Akt verpatzt" (95). Für die Karriere ist das Tragen des Kleidungsstücks, das Stinken, unverzichtbar, ja die Hauptarbeit wird überhaupt in der Präsenz Hahns, respektive der Präsenz seines Anzugs, gesehen. So verknüpft Herzmanovsky-Orlando in diesem kurzen zutiefst satirischen Abriss ein genuin bürokratisches Prinzip, die Präsenzpflicht, mit einem traditionalen: der Repräsentation. Wie unwichtig gegenüber den Unterordnungsgesten die Arbeit an den Akten ist, erfahren wir über denselben Protagonisten noch einmal durch eine weitere Wertverschiebung gegen Ende des Romans. Der inzwischen pensionierte Beamte Hahn, der gern auf finanzielle Nebengeschäfte aus ist, hat einen geheimen Posten in der geheimen Knallerbsenfabrik angenommen. Als er aber selbst von Geheimagenten verfolgt wird, entflieht er in tiefere, mythische Schichten des Reichs. Nach seinem Tod durch Ertrinken findet er sich auf einer menschenleeren Insel nahe Kreta wieder. Dort nimmt er in einer versteckten Talmulde wieder seine Arbeit an den Akten auf. Er hält sich an Amtszeiten, schreibt mit Hölzchen auf Steine, wenn auch ohne Tinte, bezieht stets neue Amtsräume (Höhlen), arbeitet Rückstände auf und klettert die Karriereleiter hoch. Hahn, dem schon immer ein „bequemer Schreibtisch" lieber war als etwa 96 Vgl. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. A.a.O. S. 558
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das Badewesen (271), amtiert nach eigenen Angaben, „um vor Langeweile nicht umzukommen" (380). Er leistet Amtsarbeit als Therapie, Spiel, Zeitvertreib, als Maßnahme zum Uberleben. Dass sich dabei sein Selbstverständnis von jenem anderer Beamter unterscheide, widerlegt der Autor an vielen Stellen des Romans. Dezidiert geht auch Hahn darauf ein und sagt, dass die Besucher „keineswegs so zu schauen [brauchen]! Die übergroße Anzahl aller Ämter arbeite ganz ähnlich ... jedenfalls mit der gleichen Wirkung" (381). So wird mit dieser Quintessenz des toten bzw. pensionierten Staatsdieners zur Sprache gebracht, dass Verwaltung gar keine verwaltende Funktion hat. Der Amtsalltag dient lediglich der Sicherung und Bereicherung der beamteten Existenzen. Die Behörde ordnet die Angestellten, die oft nichts zu tun haben und nie etwas bewirken, in Hierarchien und ermöglicht Beschäftigung. Diese Schlussfolgerung ist auch bedeutsam für das Verständnis der Legitimitätsfrage. Schließlich ist - nach Weber - nur am Grad des Gehorsams die Stabilität der Herrschaft abmessbar. Und die Verwalter hätten dafür zu sorgen, ihre Interessen durchzusetzen. Was passiert aber, wenn die Beamten - zumindest von ihrer Wirkung her - nur mehr eigentherapeutisch tätig sind ? Andererseits scheint die Herrschaft nicht genügend legitimiert zu sein, wenn sie so heftig am Gehorsam der Bürger arbeitet. Ständig ist der Machthaber dabei, das Volk bis ins kleinste Lebensdetail und Arbeitsmoment zu steuern. Dabei gibt es keinen, ja nicht einmal den geringsten Versuch von Aufmüpfigkeit oder Rebellion. Die Untertanen sind bar jedes kritischen Potenzials und laborieren stattdessen ständig am Bestand der Herrschaft. Deshalb muss angenommen werden, dass auch die Beschäftigungspolitik, durch die die Bürger konstant mit Arbeit versorgt werden, letztlich nur aus dem Beschäftigungsnotstand der Beamten resultiert bzw. auf dessen Behebung abzielt. Einige der grotesken staatlich verursachten Arbeiten gehen auf die Fantasie der Beamten zurück, die damit Geld verdienen oder sich zerstreuen wollen. Sie sind es auch, die von den aufwendigen Staatsprojekten profitieren, indem sie nicht arbeitslos, d.h. beschäftigungslos, werden. Die Beamten nehmen aber noch in anderer Hinsicht eine Sonderrolle ein, da der Autor nur ihnen zugesteht, nicht hundertprozentig gehorsam zu sein. Sie sind es nämlich, denen immerhin als schwaches Moment der Revolte das „Nörgeln" vorbehalten ist. Symptomatisch für diese exklusive und äußerst wirksame Widerstandsmöglichkeit ist eine kurze Szene gegen Ende des Romans.
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Bei Problemen im Wald wird nicht konstatiert, dass etwas nicht funktioniere oder nicht gut funktioniere, sondern „daß denen ihr Ackerbauministerium nicht klaglos funktioniert" (373). Damit wird einfach Funktionalität mit Akzeptabilität ersetzt. Sie ist jedoch von grundlegender Bedeutung: Nur durch die Akzeptanz, die Klaglosigkeit der Behörden, ist es möglich zu verschleiern. Schon eine winzige Ungehorsamkeit wie die Nörgelei macht den Betrieb, der überall dahintersteckt, wahrnehm- und beschreibbar. Ohne sie würden alle Zustände und Vorgänge als naturgegeben hingenommen werden und könnten nicht in Erscheinung treten. Da nur die Beamtenschaft nörgelt oder nörgeln darf ist einzig sie es, die Mechanismen und Störungen sowie über diese die staatliche Herrschaft sichtbar machen kann. Das aufklärerische Potenzial wird von ihr aber nicht genutzt. Da sie dem Gewalthaber doppelt - nämlich bürokratisch und traditional - verpflichtet ist und der Kanzler als unfehlbar gilt, werden Missverständnisse und Missstände nur selten als beklagenswert angesehen und noch seltener beklagt. Diskussionen und Revisionen finden nicht statt.
5 Der Apparat: erfrischend bunt Der unerschütterliche Gehorsam von Beamten wird jedoch nicht nur in der Tarockei, sondern in allen Herrschaftsverhältnissen vorausgesetzt. Keine Herrschaft kann sich erlauben, in dieser Hinsicht großzügig zu sein. Ebenso haben die Unterworfenen in allen Herrschaftsmodellen den Entscheidungen der Beamten zu folgen. Diese Mittlerrolle des Verwaltungsstabes ist bei allen Herrschaftstypen durch konstitutiven Gehorsam abgesichert. Die Art der Befehle und die Motivation für das Gehorchen unterscheiden sich in traditionalen, charismatischen und legalen Formationen jedoch wesentlich, und es stellt sich die Frage, welchem Selbstverständnis die beamteten Protagonisten im „Maskenspiel der Genien" folgen. Ganz im Sinne einer persönlichen Beziehung zur Herrschaft verzieht der Amtmann Bogislav Hahn „den in der Richtung der Hofburg gelegenen Mundwinkel in servile Falten" (91). Dasselbe Selbstverständnis wird evoziert, wenn Hahn „vor andächtiger Aufregung förmlich glotzte, als ob er vom Stoffwechsel seines Ministers gesprochen hätte" (89). Im Sinne traditionaler Herrschaft stehen die Beamten auch mittels Kleidung und Insignien sichtbar für sie ein und
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zeigen sich dekoriert in der Öffentlichkeit. Der „reisende Arm" des Kanzlers präsentiert sich z.B. als „goldstrotzender Herr [...] mit Federhut und Allongeperücke, auf einen riesigen Bleistift gestützt, wie man solche bisweilen in den Auslagen neuerungssüchtiger Papierhandlungen findet" (31). Bei der Zolluntersuchung zeigen sich „zahlreiche maskierte und düster aussehende Figuren" (19), bei der Verkündigung eines Gnadenerlasses „bunte Figuren hoch zu Roß" mit „geschwenkten Federhüten" in Begleitung weißgekleideter Jungfrauen mit Palmenzweigen (42). Nicht nur Kostüm und Attribute zeugen von traditionalen Herrschaftsverhältnissen. Die Repräsentanten der Macht erscheinen plötzlich und unerwartet und amtswalten vor Ort. Ihr Auftritt und ihr Vorgehen demonstriert die Autorität, die sie vertreten, selbst wenn sie bereits fraglich wurde, mit ganzer Härte: Der „Galafunkelnde" schreit: „warum zittern Sie nicht" (31); die Zollbeamten „präparieren" die Reisenden, indem sie sie „einer Chlorräucherung unterziehen, durch eine mit Karbolwasser gefüllte Pfütze" schicken (19), und die reitenden Amtsdienerfiguren veijagen die begnadigten Insassen der geschlossenen Anstalt: „Wer von den Irren nicht gutwillig gehen wollte, flog wie ein Kleiderpaket ins Freie" (42). Diese durchwegs traditionalen Herrschaftsverhältnissen entsprechenden Amtshandlungen sind in ein komplexes bürokratisches Gehäuse eingebunden. Die lauten und funkelnden Vertreter der Macht repräsentieren nämlich nicht bloß den mächtigen Herrscher, sondern zugleich den genuin bürokratisch strukturierten Apparat. So wird der „ausgepichte Hofsüchtling" Pyperitz von verschiedenen Gentlemen und Männern aus dem Volk verfolgt, „die aber immer in derselben Reihenfolge auftraten, was in der Anciennität dieser Geheimbeamten begründet war" (115). Neben dem Anciennitätsprinzip - dem automatischen Aufrücken nach Dienstjahren, einem rein bürokratischen Kriterium - wird in den Demonstrationen der Autorität auch der Siegeszug von Akt und Dokument deutlich. Verschriftlichte Aussagen der Herrschaft triumphieren ganz nach bürokratischem Prinzip über jeden persönlich vorgetragenen Befehl oder über jeden überzeugenden Einwand. Egal wie aufgedonnert oder gefährlich der Beamte auftritt oder wie er selbst darüber denken mag: Als letzte Autorität gilt das schriftliche Dokument. Da genügt ein irrtümlicherweise unterschriebenes Verzeichnis, gegen das kein Einspruch denkbar ist (42). Es genügt aber auch in umgekehrtem Sinn, dass ein Brief nicht mehr existiert, weil er von Motten zerfressen ist
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(56): Mit dem Schriftstück kommt und geht die Angelegenheit selbst. Das gilt auch fiir die Amtsarbeit in der Behörde, wo die komplizierten Formalitäten auch dann eingehalten werden, wenn gerade deshalb nichts mehr funktionieren kann: So werden die Leute „oft wegen des mangelnden Vornamens des Urgroßvatermutterbruders" ein dutzendmal zu allen erdenklichen Behörden gehetzt [.. .]. Da man jedoch gerade der Ubergenauigkeit wegen mit der Registrierung der Akten um zwanzig bis dreißig Jahre im Rückstand war und prinzipiell in den Melderegistern alle Daten verwechselte, war dieser Amtszweig „für die Katz" [...] (115).
Mit dem absoluten Vorrecht des Schriftstücks ist demnach die absolute Funktionslosigkeit des Schriftstücks verknüpft, sieht man von den optimalen Terrorisierungsmöglichkeiten ab, die sich daraus ergeben. Dies gilt umso mehr, als die Beamten weder Zeit- und Geschwindigkeitsregeln beachten müssen noch Fehlerlosigkeit anzustreben haben. Zudem sind Büroschläfchen beliebt und verbreitet, die Präsenz (des Beamten und der Akten) genügt. Der Behördenbetrieb hat kontinuierlich stattzufinden, „laufen" muss er nicht. Jeder Beamte hat seine Lebensstelle im Dienste des Staates und Anrecht auf Pensionszahlungen, die er sich im Alter als Geheimbeauftragter der Herrschaft aufbessern kann. Positionswechsel können durch Intrigen beschleunigt oder variiert werden. Amtsstellen werden aber auch geschaffen, um rebellische Kräfte der Außenwelt zu immunisieren. So erging es etwa dem Leiter eines oppositionellen Blattes, das natürlich unterdrückt worden war. Von zu ätzendem Sarkasmus, als daß man es gewagt hätte, ihn in die Verbannung zu schicken, hatte man ihn vielmehr durch Verleihung einer solchen einträglichen Vertrauensstellung [eine Professur für Literatur und Anstand im k.k.k.k. Policinellinstitut] unschädlich zu machen gesucht (102).
Genuin bürokratisch sind auch die einzelnen Ämter nach spezialisierten Kompetenzbereichen aufgeteilt: Da gibt es etwa einen Hofrat an der staatlichen Seidenschwanzbeobachtungsstation (19), einen Hofrat am Bombenetikettierungskontrollinstitut im Kriegsministerium (199), die Ehrenmitgliedschaft am Institut
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für Kehrichtforschung (336), ein Referat über die Ringelspiele, das zum Eisenbahnministerium gehört (154), oder jenes Hofamt, dem das Weiden der automatischen Schafe obliegt und das der Erzähler als besonders melancholisches Hofamt bezeichnet (263). Über die Vielzahl der kleinen Funktionsrädchen waltet eine Zentrale, die - wie bei bürokratischer Herrschaft üblich - dilettantisch bleibt und über einen Geheimapparat verfugt. Mit streng vertraulichen Aufträgen betraut, tauchen dessen Agenten auf allen Ebenen und in allen Bereichen des Traumreichs auf. Dass sie sich nur notdürftig tarnen, ja die Heimlichkeit betonen und sich damit verraten, könnte bedeuten, dass sich die Herrschaft äußerst sicher ist. Vielleicht liegt dieses absurde Gebaren daran, dass selbst in diesem sensiblen Bereich Repräsentationspflicht herrscht und die Autorität sichtbar zu vertreten ist. Warum sonst sollte Janus von Nebelwischer, der Sittenschnüffler, „Schnüffelsieder" genannt werden ? „Das Geheimnisvolle seines Amtes", so ein Amtskollege, solle durch den Namen angedeutet werden (24). Der Beamtenapparat ist wegen seiner Doppelfiinktionen - Bürokratie wird repräsentativ, Tradition bürokratisch - aus verwaltungstechnischer Perspektive katastrophal. Machtpolitisch jedoch ist er durch äußerste Effizienz gekennzeichnet. Er operiert geheimnisvoll, willkürlich und nach beliebigen, jedoch stets gesatzten Gesetzen, agiert physisch nach technischen Regeln und bleibt völlig undurchschaubar. Selbst von seiner Schwerfälligkeit und Umständlichkeit profitiert die Herrschaft. Untertanen und Beamte sind zwar nicht mehr zweckgebunden steuerbar, werden jedoch stets irgendwie gesteuert und sind damit total gebunden : Alle sind völlig mit Arbeit eingedeckt, selbst wenn sie niemals geleistet wird.
6 Gesetz und Willkür: Ein dialektisches Verhältnis
Wenn sich der Erzähler zu Beginn des Romans darüber beklagt, „daß die ganze Welt Osterreich mit unerhörter Interesselosigkeit, ja mit beklagenswertem Unwissen gegenübersteht" und deshalb die Lektüre des „Traumreichs" empfiehlt (12), muss er nicht nur über die spezifische Rationalisierung von Herrschaft berichten, sondern auch über den Ordnungsbegriff hierzulande. Seine Ansicht, dass Österreich ein Land der Mitte sei, das zwischen dem ordnungsfanatischen Norden und dem schlampigen Süden liege (27), fuhrt der Autor allerdings selbst
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ad absurdum. Herzmanovsky-Orlandos Österreich entpuppt sich nämlich als maximal ordnungsfanatisch und maximal chaotisch, ebenso wie es eine Hochburg von Legalität und Tradition zugleich ist. Die Diskrepanz der Organisation wirkt dabei dialektisch: Das Gesetz, der Apparat, die Ordnung werden verschlampt und das Unvorhergesehene, Willkürliche, Schlampige auf geradezu bürokratische Weise institutionalisiert. Dieser Mechanismus funktioniert auf die verlässlichste Art und Weise, vor allem in dem Sinne, dass durch jeden Ordnungsschub die Unordnung ausgebaut wird und von jeder Vergrößerung der Unordnung das Ordnungssystem profitiert. So wird von wöchentlichen Transaktionen erzählt, bei denen sich „Altpapierhändler mit ihren klingelnden Mauleselwägelchen vor den Minister- und Gerichtskanzleien" drängeln, um kleinen Beamten Akten abzukaufen (136). Dieses samstägliche Geschäft entlastet die Staatsdiener, säubert deren Schreibtische und beinhaltet obendrein noch das sogenannte „ethische Moment": „das Reich genoß im Ausland ob seiner unerhört niedren Verbrechensstatistik ein vorbildliches Ansehen" (ebd.). Wenn es sich hier auch nicht direkt um eine von oben verordnete Regulierung handelt, so wird diese Praxis doch vom Staat toleriert und der Staatsräson einverleibt. Andere sich einschleichende Usancen werden von oben nicht bloß akzeptiert, sondern reglementiert oder dezidiert angeordnet. Da werden zwei neue Feiertage eingeführt, um Erpressung gesetzlich zu verankern: Am fünfzehnten und sechzehnten Tag nach Ostern dürfen die Straßen abgesperrt werden, um Geld zu erpressen. Uber die Einfuhrung von Fopptagen wird im Parlament noch diskutiert (105). Diese Beispiele zeigen, wie Willkür und Schlamperei institutionalisiert werden und wie sie damit die staatliche Organisation komplexer machen. Selbst unvorhersehbare, unberechenbare Praktiken werden reglementiert sowie Präzisionsmängel unter staatliche Obsorge gestellt. Umgekehrt wird jede technische, moderne Ordnung so angelegt, dass sie nur in chaotischer, willkürlicher Art zu realisieren ist. Weil alle Kraft des Staates darauf konzentriert ist, allgegenwärtig und konkurrenzlos zu sein, bleiben Fehler und Mängel des Apparats bestehen und ziehen eine große Unordnung nach sich. Verpatzte Akte, verloren gegangene Dokumente, falschlich unterschriebene Papiere fuhren zu chaotischen Zuständen. Man amtiert an falscher Stelle (19) oder versorgt die Beamten zu lange mit Aufträgen, was „immerhin" ihr Gehirn abnutzt (201). Wie das Gehirn der Beamten, so laufen auch Großprojekte
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leer, wie etwa die „Renaissance des Läusekrautes", für das stündlich Farmen aus dem Boden gestampft wurden, um den Karst auf diese Art [zu] begrünen. Doch bald wurde dieser staatliche Auswuchs zertreten, denn: Amtsstolze Läusekrauträte hemmten wie zäher Kot die Räder des Staatswagens; ihre Sekretäre schlangen sich wurmartig in seine Speichen; in jedem Salon machten sich arrogante, hohle Läusekrautkonzipisten breit, nur weil keiner von ihnen wußte, was er zu tun hatte (28).
Diverse Dysfunktionen, hier grotesk überzeichnet, sind bekanntermaßen Merkmale eines Systems, das zu komplex geworden ist. Genauso bekannt sind die amtlichen Reaktionen darauf: Nie wird bürokratische Herrschaft mit Lockerung der Regelungen oder einem teilweisen Rückzug ihrer Staatsgewalt reagieren. Unter keinen Umständen kann sie problematische Falle verschwinden lassen, sie lässt höchstens die betreffenden Akten liegen, wenn es sein muss für immer. Selbst treuen Untertanen werden Formalitäten nicht erspart, für sie wird höchstens der Durchgang beschleunigt. Den ökonomisch Schwachen einfach die Justiz zu verweigern, wie es im relativ unbürokratischen England lange Zeit üblich war,97 ist eine Gangart, die nicht nur dem österreichischen Staat Herzmanovsky-Orlandos völlig fremd ist. Alle haben das Recht und die Pflicht, vom Apparat erfasst und amtsbehandelt zu werden, auch wenn sich daraus hochkomplizierte Fälle und peinliche Akte ergeben, die „selbst die Advokatenkammer" dazu bringt, „die Wände hinaufzukraxeln" (182). Mit einer Figur, die irrtümlich für tot erklärt wird, liefert Herzmanovsky-Orlando ein anschauliches Beispiel, zu dem er gleich durch zwei reale zeitgenössische Fälle inspiriert wurde, die sich nicht in Osterreich, sondern in Deutschland, dem durch Ordnung grotesken Norden (vgl. 27), zugetragen haben sollen. Lebenslänglich ist Käfermacher dazu verurteilt, bloß widerrechtlich zu leben, da er fiir das Gesetz tot war. Dessenungeachtet lebte er ja, was er ja durch seine Steuerquittungen beweisen konnte. Doch ist es ihm trotz jahrzehntelangem Kampf nicht möglich gewesen, den Gerichtsspruch nichtig erklären zu lassen (181). 97 Vgl. ebd. S. 564
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Käfermacher, der „lebende Leichnam" (182), hätte innerhalb eines Monats Rekurs einreichen müssen, auch wenn er von seinem Tod erst später erfahren hat. Nachdem er die gesetzliche Frist nicht einhalten konnte, stellt „unser lieber Toter [...] als strenger Logiker die Steuerzahlung ein". Prompt reagiert der Apparat. Käfermacher wird „gepfändet, erbarmungslos gepfändet und immer wieder gepfändet" (ebd.). Während die eine Behörde zu ihrem „Irrtum" steht, erkennt ihn die andere nicht an. Rückwärtsgang, Korrekturweg, Fehlereingeständnis sind nicht denkbar. Allerdings legt sie Käfermacher nahe, sich ein anderes Vaterland zu suchen, was für juristisch Tote nicht so einfach ist. Dennoch schafft es Käfermacher mithilfe seiner Beamtenfreunde und deren Tricks, zu verreisen. Für die Behörde ist damit auf äußerst korrekte Weise das Problem gelöst. Für die Zukunft verschickt sie ein „Geheimzirkular an alle verbindeten Ämter" mit der Weisung, „bei ähnlichen Fallen" äußerste Vorsicht walten zu lassen (181). An diesem Schreiben sieht man, dass die Behörde annimmt, dass es weitere Falle geben wird. Sie will diese gar nicht unterbinden oder geht davon aus, dass sie derartige voreilige Gerichtssprüche sowieso nicht unterbinden kann. Außerdem hält sie daran fest, mit Fehlern nach wie vor nicht nachsichtig, sondern lediglich vorsichtiger umzugehen, was immer das für die Praxis heißen mag. Dass die Todeserklärung nicht zurückgenommen oder dies nicht durch eine neue Regelung ermöglicht wird, vermag ein Beamter knapp, aber vielsagend, zu begründen: „Eines Käfermachers wegen [wird] die Staatsmaschine ihren Gang nicht gern verändern." Nur auf Zeit könne gesetzt werden, aufJahrzehnte. Dann würde vielleicht ein diesbezügliches Gesetz eingereicht werden (182). Dasselbe gilt im Nachbarland für die halbstündlichen „markigen Erlässe" des Kanzlers mit deren „katastrophalen Folgen". Diese „verebbten" allerdings nicht erst nach Jahren, sondern bereits nach Monaten: „Das war beiläufig die Dauer, in der in diesem Lande Gesetze in Vergessenheit zu geraten pflegten" (103). Schlamperei und Zeit sind damit die einzigen Kräfte, die im Osterreich Herzmanovsky-Orlandos wesentliche Veränderungen ermöglichen. Nicht zufallig vertraut die Herrschaft auch hinsichtlich ihrer Expansionspläne darauf. Nur durch Abwarten und die langsamen Fortschritte der Schlamperei lasse sich das österreichische Reich überall anpassen, sowohl zeitlich als auch räumlich. Mit diesen beiden zu Zukunftsmotoren erhobenen Prinzipien und der Bürokratisierung kann das Traumreich auch seine spezifische Sonderstellung als Reich der Mitte behaupten, die jedem Gegensatz Platz verschafft: dem Unberechenbaren
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und Wiederholbaren, dem Persönlichen und Anonymen, der Tradition und der Technik, dem Moment und der Ewigkeit. Das Herausstellen der Dialektik von Gesetz und Willkür ist auch der Grundkonzeption des Romans zugrunde gelegt, die durchwegs einem starren Schema verhaftet bleibt. Die bürokratische Eroberung von Land und Geschichte wird in der Komposition sichtbar, die einer kunstvoll aufgebauten Pyramide oder vielmehr einem Eisberg entspricht. Um diese strenge Ordnung hervorzuheben, ist jede Ebene des Traumreichs säuberlich in Kapitel geteilt, denen kurze Zusammenfassungen vorangestellt sind. Der Erzähler und die reisenden Beamten versuchen, die Komplexität und Besonderheiten des Landes zu erklären. Vom Büro aus wäre dieses schichtartig angelegte Reich nicht darstellbar, ja von dort aus ist es gar nicht sichtbar. Nur indem Schicht für Schicht freigelegt wird, kann die Herrschaft als bürokratische, traditionale und mythische Einheit vorgeführt werden. Die Reise des Protagonisten und der Beamten ist die Voraussetzung für die Demonstration der komplizierten Verfasstheit des Staates. Die vertikale Kohärenz wird durch Fehler abgesichert, die als Handlungsstränge aufjeder Ebene weiterverfolgt werden. So ist es die Abweichung von der Regel, die den Text strukturiert und stets neue Perspektiven auf die Herrschaft eröffnet. Diese Klarheit in Textaufbau und Erzählverlauf, mit der die hierarchische Struktur des Staatengebildes ofFengelegt wird, wird durch eine Uberfülle literarischer Techniken konterkariert, die die Ordnung äußerst sinnlich und amorph machen. Weil jede Ebene des Reichs beinahe unüberwindlich von den anderen getrennt ist, jedoch eine Menge an Elementen, die vor allem Verwaltungsnatur sind, durchlässt und sie dabei verändert, werden die Landschaften und Begebenheiten immer verworrener. Dazu kommen zahlreiche Einarbeitungen von Mythologie und Geschichte, die sehr eigenwillig und unkonventionell ausgewählt, kombiniert und interpretiert sind. Deren verquerer, atypischer Einsatz samt überraschender Kombinationen mit Bürokratie wird mit dem Fortschreiten der Handlung ständig gesteigert: je traumhafter das Reich, umso karikaturesker die bürokratischen Formen, die naturgemäß immer seltener vorkommen. In der Götterwelt gibt es nur mehr vereinzelt Symbole, Instrumente und kurze Auftritte der Beamten, die den Zusammenhang mit Osterreich herstellen. Sie bilden die Koordinaten im unüberschaubaren Gebilde, auf sie ist Verlass, auch wenn ihre Insignien, mit denen ihre Macht symbolisiert wird, immer lächerlicher werden. Und doch versuchen sie so weiter zu agieren, als ob sie
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im oberflächlichen System, auf der wahrnehmbaren Spitze des Eisbergs tätig wären. Dieselbe Technik der Dialektik rationaler und irrationaler Ordnung realisiert der Autor auch auf der semantischen und syntaktischen E b e n e : Abstruse Fragmente aus der modernen Verwaltungswelt, wie überbordende Titel, sinnlos anmutende Verordnungen oder Funktionen werden in Sätze eingebaut, die vor Sinnlichkeit strotzen bzw. unglaubliche und mystische Zusammenhänge herstellen. Indem der Autor diese Komposition auf verschiedenen Ebenen radikal realisiert, entsteht das, was im Allgemeinen unter dem Terminus „herzmanovskysch" verstanden wird: Bekannte Versatzstücke aus Mythologie, Feudalismus und Bürokratieauswüchsen zu vermischen, gleichermaßen in eine sinnliche Dimension einzubetten, ihnen eine mythische Zielgerichtetheit zuzuschreiben und damit zu zeigen, wie man in durchwegs schillernder Pracht scheitern muss. Dass noch die kuriosesesten Einzelerlebnisse, statt mit Pauken und T r o m peten abgegolten zu werden, in die Banalität von Gesetzmäßigkeiten münden, und sei es in solche, die sich fernab der staatlichen Hoheit konstituieren, offenbart der Autor in seiner Schlusssequenz. Statt den grauenvollen Tod seines Helden gehörig zu schildern und zu begründen, endet der fulminante Roman, der das Traumreich Schicht für Schicht durchquert hat, äußerst lapidar: Ehe Cyparis mit flehender Gebärde zu Füßen der Göttin für sein Leben bitten kann, sieht sich Cyriak verwandelt. Ein flüchtiger Hirsch rast er dahin ... Seine Hunde zerreißen ihn, und alles versinkt. Bloß ein einzelner Köter steht noch da, verlegen, einen zerfetzten Panama im Maul. / Denn zur Zeit, da diese Geschichte spielte, trugen schon wieder vereinzelte Herrn der Gentry diese Art von Hüten
(407). Damit wird noch ganz am E n d e der Widerspruch zwischen formaler sowie mythologischer Stringenz und semantischer, inhaltlicher Freiheit vorgeführt. J e größer die Unausweichlichkeit, desto sicherer und verwegener der Ausweg der Poesie. J e umfassender die Freiheit der Abweichung, desto zielsicherer deren kontextuelle, systemische Einbettung.
c S C H R E C K E N DER BÜROKRATISCHEN ALLEINHERRSCHAFT Franz Kafka: (Poseidon) 98
Aus jedem Fenster schauen wie Gespenster Beamte wieder her nach meinem Fenster Und das macht jede andre Trauer klein. JosefWeinheber
1 Herrschaft ohne Alternative Man kann sich von der modernen Herrschaft befreit und vergangenen Herrschaften unterworfen wünschen, wie Alois Brandstetter in seinem Roman gezeigt hat. Man kann es sich in hochkomplexen irdischen Ordnungen einrichten und es gleichzeitig schicksalhaften Zwängen aussetzen, was HerzmanovskyOrlando ganz nach dem Geschmack der Zwischenkriegszeit, aber doch äußerst eigenwillig, vorführt. Franz Kafka ist mit seiner Erzählung, die Max Brod mit „Poseidon" überschrieb, den umgekehrten Weg gegangen. Die bürokratische Ordnung herrscht allein über alle und übt ihre Zwänge auch auf die Götter aus. Sie okkupiert bis ans Ende der Zeiten jeden realen und symbolischen Raum für Gegenordnungen oder Opposition. Auf nur einer Seite vermag der Autor jeden Zweifel darüber auszuräumen, dass Herrscher und Beherrschte jemals etwas an den Strukturen ändern könnten. Dies gelingt Kafka ausgerechnet durch die Wahl jener Perspektive, die für seine großen Romane „Das Schloß" und „Der Prozeß" die heftig ersehnte Ergänzung darstellt. Hier entwirft Kafka nämlich jene Szenerie, die dort immer im Dunkeln bleibt, und nimmt nicht den Blickwinkel des Bürgers und Behördengängers ein, sondern schildert die Welt der Macht: deren Räume, Personal, Handlungen, Gedanken und Alltag. 98 F. Kafka: (Poseidon). In: ders.: Nachgelassene Schriften und Fragmente II. S. 300-302. Titel, die nicht von den Autoren selbst stammen, zitiere ich wie hier in Klammern.
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Aus zwei Gründen liegt eine Untersuchung im Rahmen dieser Arbeit nahe. Zum einen stellt Kafka die zwanghaften Verbindungen innerhalb des Apparats dar, denen Chef und Untertanen gleichermaßen ausgeliefert sind. Die damit gewählte Perspektivik ist für seine Texte, aber auch für viele andere literarische Auseinandersetzungen, außergewöhnlich. Meist beschränken sich die Autoren auf die Innen- oder auf die Außensicht der Behörde und gestalten, wenn sie die Übergänge schildern, Querschnitte der Hierarchie: kleiner Untertan trifft kleinen Beamten, Unternehmer unterhält sich mit Sektionschef. Im Poseidontext haben wir es hingegen mit einem Längsschnitt zu tun, der beide Endpunkte des bürokratischen Alltags freilegt: Verwaltungszentrale und Volk. Der zweite Grund für meine Wahl dieser Kurzgeschichte ist Kafkas Entscheidung, einen Gott an die Spitze einer modernen Institution zu setzen. Inhaber der Machtposition ist Poseidon, dem die gesamte Verwaltung der Gewässer obliegt. Inwieweit die göttliche Herrschaft, die durchwegs eine bürokratische ist, Menschen und Welt steuert, wird nicht ausformuliert. Durch Lücken wird die totale Durchdringung allerdings doch sichtbar gemacht. Die Auslassungen ergänzen die Leser in jener Art, wie das Gehirn automatisch altbekannte Muster vervollständigt. Nur bei der rationalen, berechenbaren, anonymen Herrschaft ist das möglich, ja nur dort funktioniert das einheitlich und zwanghaft. In einem vorhersehbaren Koordinatensystem lassen sich Leerstellen ergänzen, Fehler identifizieren und Totalität gewährleisten. Dort gibt es keinen Schmuck, sondern Regeln, keine Referenzen, sondern nur die Paradigmen der Organisation. Bei Kafka hebelt diese mit ihren verschriftlichten Verfahren nicht nur jede Tradition, sondern auch die Naturgewalten aus, wodurch überall dieselbe Ordnung vorherrscht. Er nimmt auch nicht mehr auf eine Institution, eine Nation Bezug, auch nicht auf ein Jahrhundert oder eine Epoche. Zeitliche und räumliche Verortung fallen wegen der Allgemeingültigkeit der Strukturen weg. Damit wird Max Webers Superlativ der bürokratischen Herrschaft, die, einmal installiert, kaum mehr zertrümmerbar sei," noch gesteigert: Das Gebilde erweist sich gegenüber jeder alternativen Form, auch gegenüber Mischformen, als immun. Kein Mensch nimmt für gewöhnlich Verwaltung und Apparat derart skelettiert wahr. Die Ordnung wird durch den Filter erzählter oder eigener Erfah99 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. A.a.O. S. 569
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rangen rezipiert und gewohnheitsgemäß in kolportierte Raster eingebunden. Kafka nimmt diese persönlichen Wahrnehmungen auf, bindet sie aber in ein fremdes Umfeld ein. Dabei kehrt er nicht bloß die für Amtserlebnisse typische Perspektive um, sondern stellt eine wechselseitige Beziehung zwischen Verwaltungschef und Masse her, die im bürokratischen Alltag keine Rolle spielt. Durch die Störungen gewohnter Wahrnehmung werden unauflösliche Widersprüche extrapoliert und präsentieren als Ergebnis eine absolut gewordene bürokratische Herrschaft. Alle Alternativen sind ausgeschaltet, und Webers idealtypische Charaktersierung der bürokratischen Herrschaft, die nie „historisch wirklich ,rein' vorzukommen pflegt"100, wird realisiert und zugleich globalisiert. Verblüffend ist, dass der Autor hierfür seinen Text weder in die Länge zieht noch fachsprachlich verknappt. Allein die Kürze des Textes deutet an, wie schnell man mit dem Aufstellen des bürokratischen Gerüstes, mit der Weltbürokratie fertig sein kann. In einer klaren Sprache ohne Metaphern und Vergleiche, aber auch ohne bürokratietypische Satzgefüge und Terminologien, wird das Funktionieren der Herrschaft dargelegt. Umso beklemmender ist die Einsicht, dass die Klarheit nur Täuschung und die Transparenz nur scheinbar ist.
2 Zeitlose Herrschaft „Poseidon saß an seinem Arbeitstisch und rechnete." Mit diesem Satz beginnt Kafkas Text und provoziert eine Erwartungshaltung, die auf eine Fortsetzung der Geschichte gerichtet ist. Er beschreibt nämlich eine bestimmte Situation des Protagonisten, die als Einleitung einer Geschichte mit besonderen Vorfällen gelesen wird. Der Satz lässt vermuten, dass in der Folge etwas Besonderes passieren wird, was die Spannung des Textes ausmacht. Die Erwartungshaltung wird jedoch vom zweiten Satz an enttäuscht. Es fallt nichts vor. Bis ans Ende der Kurzgeschichte passiert nichts, worauf im Genre der Kurzgeschichte normalerweise gebaut wird. Stattdessen wird geschildert, was 08/15-Amtspraxis charakterisiert. Kontinuität, Wiederholung, Routine machen den Alltag so vorhersehbar, dass ein Tag auf alle anderen verweist, er allein das ganze Dasein beinhaltet: Täglich werkt am selben Ort, der Tiefe der 100 E b d . S. 124
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Abb. 7: Poseidon saß an seinem Arbeitstisch und rechnete. [...] Man kann nicht sagen, d a ß ihn die Arbeit freute, er führte sie eigentlich nur aus, weil sie ihm auferlegt war, j a er hatte sich schon oft um fröhlichere Arbeit, wie er sich ausdrückte, beworben, aber immer, w e n n m a n ihm dann verschiedene Vorschläge machte, zeigte es sich, daß ihm d o c h nichts so zusagte, wie sein bisheriges A m t .
Franz Kafka
Meere, an demselben Möbelstück, dem Arbeitstisch, dasselbe Personal, Poseidon, in derselben Haltung, sitzend, und verrichtet dieselbe Tätigkeit: Er rechnet. Deshalb setzt der Autor die Geschichte nicht mit Ereignissen fort, sondern mit der Schilderung der Regelmäßigkeiten, wodurch der erste Satz nicht als Einfuhrung in eine Geschichte, sondern als Beschreibung eines unveränderlichen Zustandes gelesen werden muss. Wie zu Beginn des Textes sitzt Poseidon auch nach dessen Ende am Schreibtisch und rechnet. Die Verallgemeinerung des Zustandes wird dadurch potenziert, dass es sich um einen Gott handelt, der viele Menschenalter überlebt. Tragisch wird die Veralltäglichung, weil der Verwalter der griechischen Götterwelt entstammt, deren Dasein vor Abwechslung nur so strotzt. In Kafkas Geschichte wird das Leben des Gottes auf einen Nullpunkt gestellt und seine Vergangenheit eingefroren.
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Eine weitere Regelmäßigkeit, die die Geschichtlichkeit abschafft, liegt in den Amtsgängen Poseidons begründet. Sie fuhren den Gott nicht etwa in die Welt der Beherrschten, sondern zum Chef höchstpersönlich. „So hatte er die Meere kaum gesehn, nur flüchtig beim eiligen Aufstieg zum Olymp, und niemals wirklich durchfahren." Die Verwaltungsspitze, die ihr Verwaltungsgebiet gar nicht kennt, dort keine Veränderungen nachvollziehen kann, zementiert somit den Status quo bis in alle Ewigkeit. Wen Poseidon bei seinen regelmäßigen Amtswegen aber antrifft, ist erschütternd, und es darf nicht verwundern, dass Poseidon von dieser „Reise übrigens [...] meistens wütend zurückkehrte". Denn auf dem Götterberg residiert nicht Göttervater Zeus, mit dem er schon immer wilde Kämpfe auszufechten hatte, sondern, schlimmer noch, dessen römischer Nachfolger: Jupiter. Mit dieser zeitlichen und räumlichen Zusammenfuhrung, für die sich der Autor nach mehrfachen Überlegungen entschied,101 verliert Geschichte vehement an Bedeutung. Griechische und römische Herrschaft fallen zusammen. Obendrein wird die sprichwörtliche Bürokratie des Alten Rom über die ausgesprochen unbürokratische Ordnung der Griechen gesetzt, von der in Kafkas Text auch nichts mehr übrig ist. Verschärft werden die Faktoren Regelmäßigkeit und Zeitlosigkeit zudem, weil die Arbeit des Verwalters nur dann eine Variation erfahren kann, wenn nicht nur sie, sondern alles zu Ende ist. Der Zeitpunkt für den Weltuntergang ist unbekannt, der Meeresgott stellt ihn sich jedoch immer wieder in Aussicht. Er redet nicht davon, sondern „pflegte zu sagen", dass er auf ihn warte, weil er den Augenblick davor endlich einmal anders verbringen wird (s. u.). Die Verwendung dieser Verbkonstruktion mit Infinitiv weist auf die Routine hin, mit der selbst ein so außergewöhnliches Ereignis zu einer Banalität wird. Zugleich zeigt diese Passage, dass nicht nur Untertanen und Beamte bis in Spitzenpositionen, sondern selbst die Herrschaft einem „rastlos weiterlaufenden Mechanismus" 102 unterworfen ist, der von nichts und niemandem unterbrochen oder variiert werden kann. Auch das Herrschaftsende kann niemand, selbst der Gott nicht, herbeifuhren. Dafür ist er gottgemäß unerschrocken angesichts Katastrophen aller Art und erledigt seine Arbeit wie immer, trotz Gewissheit des drohenden Welt101 In Kafkas Manuskript ist sowohl der Name Jupiter wie auch jener von Zeus mehrmals notiert und wieder durchgestrichen. Vgl. F. Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Apparatband. S. 290 102 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. A.a.O. S. 570
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Untergangs. Diese notorische Ruhe teilt er im Übrigen mit den meisten Beamten höherer Gehaltsklasse, die in der österreichischen Literatur vorkommen. Dass Poseidon eifrig und pausenlos bei der Sache ist, die er obendrein schnell und perfektionistisch erledigt, eine solche Charakterisierung höchster Beamter scheint hingegen literarische Seltenheit zu sein. Auch deshalb stellt Kafka einen Endpunkt des bürokratischen Zustandes dar, der futuristisch anmutet. Selbst im Apparat sind die quantitativen und qualitativen Ressourcen maximal ausgeschöpft und gesichert. Die Bürokratisierung, mit der nach Weber auf komplexe und große Herrschaftsbereiche reagiert werde, ist abgeschlossen.
3 Legitime Herrschaft, unbrauchbare Untertanen Auch die Bürokratisierung, mit der auf die „Nivellierung der Beherrschten reagiert" 103 wird, ist abgeschlossen. Wieder geht Kafka über das nach Weber „notwendige Maß" hinaus: Nivellierung findet auch dort statt, wo der Herrschaft gar keine Gewalten im Weg stehen. 104 Während die Gottheit nämlich mit Namen und einem passenden, wenn schon nicht angemessenen Inventar ausgestattet ist - von Poseidon bleiben immerhin sein aggressives Temperament und seine Feindschaft zum Göttervater übrig - , verliert die Masse jede Differenzierung und alle Kräfte. Sie wird nicht erwähnt, sondern findet nur in ihren Reaktionen auf die Macht als ihr anonymes Gegenüber Erwähnung. Das größtmögliche Ausmaß ihrer UnUnterscheidbarkeit wird nicht nur inhaltlich, sondern auch grammatikalisch ausgedrückt: Die Untertanen kommen nur in Passivkonstruktionen vor. Zwar wird ihnen ein Spielraum für Wünsche und Gefühle zugestanden, diese sind aber gleichgeschaltet, was durch die Absenz an Aktivkonstruktionen und das unpersönliche Pronomen „man" unterstrichen wird. Bei der Herrschaft hingegen, selbst wenn auch für sie jede Veränderbarkeit aussichtslos ist, hat sich die Lust auf Abwechslung erhalten. Erwartungsgemäß ist ein stürmischer Gott mit monotoner Dauerbeschäftigung nicht zu befriedigen. Also schreibt Kafka:
103 Ebd. S. 568 104 Vgl. ebd. S. 572
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Man kann nicht sagen, daß ihn die Arbeit freute, er führte sie eigentlich nur aus, weil sie ihm auferlegt war, ja er hatte sich schon oft um fröhlichere Arbeit, wie er sich ausdrückte, beworben, aber immer, wenn man ihm dann verschiedene Vorschläge machte, zeigte es sich, daß ihm doch nichts so zusagte, wie sein bisheriges Amt.
Alle Lösungen sind zum Scheitern verurteilt. Wenn der Erzähler schreibt, wie „schwer" es sei, „etwas anderes für ihn zu finden", gebraucht er das Adjektiv euphemistisch oder unterschätzt das Problem. Denn man konnte dem „großen Poseidon" weder bloß „ein bestimmtes Meer zuweisen", noch durfte man ihm ein anderes Ressort, etwa zu Land oder zu Luft, übergeben. Demnach ist es schlicht unmöglich, von dieser Seite her eine Veränderung herbeizuführen. Zugleich stellt sich die Kompetenzfrage. Bei wem bewirbt sich der Meeresgott, wem obliegt die Aufgabe, Auswege zu suchen ? Wer ist zuständig für Umbesetzung und Umstrukturierung? Indem das unpersönliche Pronomen „man" eingesetzt ist, wird die Instanz jedenfalls nicht Jupiter zugeschrieben. Die Unzufriedenheit Poseidons wird demnach zum (unlösbaren) Problem der Allgemeinheit gemacht. Die Sicherung der Herrschaft wird an die Beherrschten delegiert, die damit zwangsläufig überfordert sind. Neben Fadesse und Lustlosigkeit beklagt der Meeresgott das gigantische Ausmaß der Arbeit. Auch diesbezüglich werden die anonymen Berater bzw. die Untertanen mit einem völlig unlösbaren Problem konfrontiert. Denn Poseidon hatte, wie es Göttern gebührt, „unendliche" Arbeit zu verrichten. Und wie es sich für Götter gehört, hätte er auch „Hilfskräfte haben können, wie viel er wollte, und er hatte auch sehr viele, aber da er sein Amt sehr ernst nahm, rechnete er alles noch einmal durch und so halfen ihm die Hilfskräfte wenig". Es versteht sich von selbst, dass man einen Gott nicht von seiner Ernsthaftigkeit und schon gar nicht von seiner Perfektionssucht abbringen kann. Ebensowenig kann man ihn durch ein kleineres Amtsgebiet beschämen, wo „die rechnerische Arbeit nicht kleiner, sondern nur kleinlicher war". Obendrein würde das seine Position schwächen. Die Hilfskräfte fristen jedenfalls ein noch traurigeres Leben: nicht nur der Routine, sondern der Sinnlosigkeit ihrer Beschäftigung wegen. Dafür sind sie jeglicher Verantwortung enthoben.
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Verantwortlich gemacht wird nur die anonyme Masse für das fade, anstrengende Leben ihres Spitzenbeamten, der eine Veränderung seiner eigenen Arbeitssituation fordert. Es sind die Unterworfenen, die dauernd mit seinem Unmut konfrontiert sind, den sie nicht beseitigen können. Wie reagieren sie darauf, wie sollen und können sie damit umgehen? Verblüffend wird diese Frage in einem dreigeteilten Satz beantwortet, der das Wesen des bürokratischen Untertanendaseins sichtbar macht: Übrigens nahm man seine Beschwerden nicht eigentlich ernst; wenn ein Mächtiger quält, muß man ihm auch in der aussichtslosesten Angelegenheit scheinbar nachzugeben versuchen; an eine wirkliche Enthebung Poseidons von seinem Amt dachte niemand, seit Urbeginn war er zum Gott der Meere bestimmt worden und dabei mußte es bleiben.
Im ersten Satzteil geht es um die emotionale Reaktion, die ohne Arger, Schrecken und ohne Verzweiflung bleibt, ja beinahe fröhlich ist: Denn „man" nahm Poseidons „Beschwerden nicht eigentlich ernst". Dieser Gleichmut widerspricht den Machtverhältnissen jeder traditionalen und charismatischen Herrschaft: Mit ihm setzt „man" sich über den Status des Herrschers und über die Unterworfenheit der Beherrschten, ihre ohnmächtige Position, hinweg. Stattdessen wird ein bürokratisches Prinzip zutage gefördert, das umso drastischer ist, als es sich hier um einen Gott handelt. Es drückt ein Spezifikum der Herrschaftsverhältnisse aus, wie es sich in modernen Gesellschaften ausbildet, und liegt in der anonymen Beziehung zwischen unpersönlicher Führung und Unterworfenen begründet. Während in anderen Herrschaftsformen die „Heiligkeit der Tradition", sichtbare Strafe und sichtbarer Prunk Respekt sichern, muss die Herrschaft bürokratischer Organisationen ohne „Autorität" auskommen. Weil die bürokratische Zentrale entrückt, unsichtbar, unpersönlich und unzugänglich ist, kann man sich bedenkenlos und skrupellos über die Beamten und ihre Probleme lustig machen. Besonderer Reiz des Kurztextes liegt darin, dass der Chef Schwäche zeigt und ausgerechnet unter denselben Umständen leidet wie der gesamte Verwaltungsstab. Zwar unterliegen in der Bürokratie alle denselben Mechanismen und selbst der Mächtigste hat der Vorschrift und dem Gesetz zu dienen: Jedoch sind sein Arbeitsumfeld und die Herausforderungen für ihn normalerweise gänzlich andere. Die radikalen Unterschiede zwischen Hierar-
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chiespitze und -boden werden auch dementsprechend gern literarisch bearbeitet. Kafka übergeht die sozialen Unterschiede und legt damit umso treffender die Strukturprinzipien moderner Herrschaft frei: Immerhin haben sich de iure selbst Chefitäten mit Götterqualität den Gesetzen zu unterwerfen. Die Freude der Beherrschten ist aber, darin den Alltagsdebatten und Beamtenwitzen ähnlich, vor allem Ausdruck einer realen Ohnmacht gegenüber den Behörden. Sojedenfalls lässt sich Kafkas Kurzgeschichte einen Strichpunkt später deuten. Ein Gebot wird wie ein Naturgesetz formuliert, und das hierarchische Gerüst ist wieder wie gewohnt wirksam: Nicht der Gott ist Opfer, machtlos, Bittsteller (der umsonst Beschwerden einreicht oder sich bewirbt), sondern alle Hilfskräfte und Untertanen sind es. Kafka schreibt: „Wenn ein Mächtiger quält, muß man ihm auch in der aussichtslosesten Angelegenheit scheinbar nachzugeben versuchen." Der Chef wird zum Täter mit Handlungsfreiheit, die Beherrschten zu Opfern, die gequält werden. Die Bedrohung ist gewaltig, wenn der Gehorsam sogar für Situationen angeraten wird, die mit dem Superlativ von „aussichtslos" charakterisiert sind. Der Erzähler, der als Kenner der Lage mit großem Erfahrungshorizont ausgewiesen wird, lässt durch das Verb „müssen" keinen Platz für Alternativen übrig. Geboten ist aber nicht passiver Rückzug, Akzeptanz oder Mitleid und Resignation. Dringend anempfohlen werden Einsatz und Lüge. Verlangt werden Täuschungsmanöver. Geraten wird, sich schuldig zu machen, selbst wenn man damit das Risiko auf sich nehmen muss, ertappt und bestraft zu werden. Dass die Täuschung vergeblich ist und dennoch ständig neu zu versuchen ist, vergrößert das Dilemma. Nicht nur die Angelegenheit ist aussichtslos, sondern auch die Reaktion darauf. Wie diese zwanghaften Täuschungsmanöver zu bewerkstelligen sind, wird - wieder auf indirekte Weise - nach dem nächsten Strichpunkt klar gemacht. Denn „an eine wirkliche Enthebung Poseidons von seinem Amt dachte niemand". Nur die scheinbare, so ist zu folgern, kann mit dem „Versuch nachzugeben" gemeint sein. Wie aber kann ein Gott oder der Chef der Beamten angeblich abgesetzt werden, ohne dass er tatsächlich seiner Position enthoben wird und dennoch daran glaubt ? Es würde den Untertanen nichts nützen, auf den mächtigen Beschwerdeführer korrekt zu reagieren, wenn er es nicht bemerken würde! Die Angelegenheit mündet im Paradox: Die Menschheit, die dem Gott geschlossen gegenübersteht und von ihm gequält wird, muss auf eine bestimmte Art reagieren und kann dies nicht. Sie hat sich an der Sinnlosigkeit
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zu beteiligen, und zwar um den Preis, den absoluten Status ihrer Ohnmacht und ihrer Schuldhaftigkeit ständig zu erneuern. Weil die Menschheit nur mehr für die Aufrechterhaltung des Scheins zuständig ist und ihr selbst dafür jede Kompetenz fehlt, ist sie unbrauchbar. Sie kann der Gottheit keine Arbeit abnehmen, da Poseidon alles nachrechnet und ihm ihre verwaltungstechnischen Vorarbeiten nichts nützen. Ebensowenig vermag sie ihrem Verwaltungschef und Gott das Dasein zu versüßen. Ist sie somit nicht in ihrer Existenzberechtigung infrage gestellt? Ist sie nicht überflüssig? Ist die Menschheit mit dem Erreichen des Endstadiums der bürokratischen Herrschaft obsolet geworden? Nicht ganz: Als Adressat für Nörgelei und Wutausbrüche des großen Poseidon, als Objekte, die er quälen und belästigen kann, ist sie notwendig. Wie langweilig wäre ihm erst, wenn er keine Hilfskräfte um sich hätte oder Unterworfene, die ihn mit Versuchen der Täuschung unterhalten ? Nicht zuletzt braucht es die Menschen, damit er als großer Gott erinnert wird und ihm Spitzenposition und Ressort erhalten bleiben. Schließlich können alle Beamten pragmatisiert sein, einem Gott kann eine solche Absicherung nicht gegeben werden.
4 Automatismus bis zum stillen Augenblick vor dem Weltuntergang Zuletzt gilt es die Beziehung zwischen Untertanen und Herrschaft noch einmal genau unter die Lupe zu nehmen, um mögliche Entwicklungen oder einen denkbaren Wandel skizzieren zu können. Für die Untertanen gilt, dass nur jene ausdifferenziert sind, die als Hilfskräfte bezeichnet werden, auch wenn sie nur unbrauchbare Arbeit leisten. Aber selbst ihre Gruppe ist beliebig erweiterbar, nachdem Poseidon gottgemäß so viele davon haben könnte, wie er wollte. Die Masse hingegen, die verwaltet wird, kommt weder als Gruppe von Subjekten noch von Objekten zur Sprache. Weil von den Beherrschten keine Arbeitsleistung und keine Veränderung zu erwarten sind, brauchen sie von der Verwaltungshoheit nicht mehr als Gruppen oder Individuen ausgewiesen werden. Wenn die Untertanen in Herzmanovsky-Orlandos Vision noch als Experimentierfeld gelangweilter Beamter oder als Objekt für Machtdemonstrationen herhalten, dienen sie in Kafkas Kurzprosa lediglich als Gegenbild der Spitzenbehörde : Die Beherrschten versagen, machen sich schuldig und sind unbrauch-
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bar. In beiden Texten werden die bürokratischen Verhältnisse dabei in einem befremdlichen Licht gezeigt. Das Unkonventionelle und Verstörende liegt darin, dass die Untertanen mehr auf die Herrschaft und die Herrschaft weniger auf die Untertanen angewiesen ist. Allerdings bleibt Herzmanovsky-Orlandos Traumreich in seinem Verwaltungssystem stets zielgerichtet. Noch abstrusesten Amtshandlungen wird Sinn abgetrotzt und dargelegt. Kafka - und darin radikaler und universaler in seiner Aussage - verrät Ziel, Methoden und Anwendungsgebiete nicht. Die Herrschaftspraxis wird nur als mathematische Tätigkeit ausgewiesen. Warum und fiir wen gerechnet oder was berechnet wird, bleibt offen. Es wird nicht einmal ein Versuch gestartet, die Zweckhaftigkeit der Amtsgeschäfte, die jedenfalls trotz göttlicher Einbindung den Weltuntergang nicht verhindern können, darzulegen. Diese Lücke charakterisiert zwar tendenziell die Wahrnehmung aller modernen Herrschaftsmodelle und gefährdet deren Legitimität, der Mangel an Sinnhaftigkeit findet jedoch spätestens dann sein Ende, wenn von allgemeinen und abstrakten Werten die Rede ist. Schließlich können hinter jedem Verwaltungsakt die Allgemeinheit der Gesetze und Realisierungen von Prinzipien wie Gerechtigkeit oder Gleichheit erahnt werden. Bei Kafka jedoch bleibt nicht nur die Legitimität der Herrschaft unangetastet, er füllt die Lücke auch nicht mit abstrakten Werten auf. Er lässt die Sinnfrage völlig offen. Die Herrschaft, die er beschreibt, ist maximal ausgebaut und bis in alle Zeiten abgesichert. Sie produziert allein Totalität: Unendlichkeit, Ausweglosigkeit, Pausenlosigkeit, Regelmäßigkeit. Verschwiegen werden aber nicht nur Ziele und Zielobjekte der Herrschaft, verschwiegen wird auch, wer fiir diese Totalität verantwortlich zeichnet. Zwar können wir vermuten, dass Jupiter an der Hierarchiespitze in der Zentrale sitzt. Jedoch wird auch er nur als oberste Instanz der Verwaltung ausgewiesen, der sozusagen für die Koordination zuständig zu sein scheint. Jedoch verschweigt der Erzähler sowohl Ursache als auch Urheber der Arbeit. Als Auftraggeber, der den Meeresgott mit so viel Arbeit eindeckt, wird nämlich niemand anderes als „die Verwaltung" genannt. Verwaltung hat aber auch nur umzusetzen und zu verkörpern, was und wie es ihr aufgetragen wurde. Offen bleibt demnach, welche Legislative die Exekutive mit Richtlinien versorgt. Nirgends wird von der Ursache der Verpflichtungen gesprochen, die man ja auch bekämpfen könnte, um den Arbeitsalltag Poseidons zu verändern. Aber wir wissen nicht einmal, was wäre, wenn Poseidon seine Arbeit nicht leisten, vielleicht nicht gut oder
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nicht ganz korrekt ausfuhren würde. Wie würde sich das auf die „Gequälten" oder auf die Gewässer auswirken ? Was könnte ein Rechenfehler oder ein außerirdischer Generalstreik auslösen ? Diese Fragen gewinnen an Brisanz, weil der Gott vielleicht seines Amtes enthoben ist, ohne dass er sich dessen bewusst ist. Aber würden die Untertanen dies überhaupt merken ? Allenthalben macht Kafkas Text klar, dass weder Eingriffe noch Veränderungen möglich sind: dass es egal ist, wer in welcher Position Verwaltungsarbeit leistet. Alternativen und Zeit sind abgeschafft, und jeder Begriff existiert nur als Superlativ. Konkurrenzen und Wahlmöglichkeiten oder Entscheidungsfreiheiten sind suspendiert. Wenn die Zeit ihrer geschichtlichen Dimension beraubt ist, bleibt nur eine dominante, repetitive Gegenwart. Damit verschwindet auch der Raum, in dem rebelliert werden könnte, der Zeitpunkt, an dem die Revolte stattfinden könnte, der Gegner, den man vernichten möchte, und die Utopie, fiir die man kämpfen könnte: Wogegen aufbegehren, wenn es nichts gibt, was zuständig ist, warum aufbegehren, wenn nichts veränderbar ist ? Mensch- und Gottheit sind im ausweglosen Getriebe gefangen. Nachdem Kafka diese kurze Geschichte 1920 geschrieben haben soll, erscheint es umso erstaunlicher, wie präzise und konsequent er die Herrschaft von alten Herrschaftsformen losgelöst hat. Kein Attribut lässt ahnen, dass das gesellschaftliche und politische Leben anders organisiert sein könnte, das einzige, was auf Vergangenheit verweist, ist die Erzählform des Präteritum. Ein Gott, der „niemals wirklich" sein Verwaltungsgebiet durchfahrt und an dessen „wirkliche Enthebung" niemand denkt, sorgt für konstante Verhältnisse. Umso zentraler wird der einzige Bruch mit der Kontinuität, der nur aus der göttlichen Fantasie resultiert. Poseidon wird allein durch die „Vorstellung", ein anderes Verwaltungsgebiet zu erhalten, übel, sodass „sein göttlicher Atem in Unordnung [gerät], sein eherner Brustkorb schwankte". Auch wenn hier nicht ausgemalt wird, was dies für Auswirkungen hat, ist bekannt, wie gefährlich gekränkte Götter sein können. In jedem Fall suggeriert der Erzähler mit diesem Vorfall, dass es besser ist, nicht nur die Welt, sondern auch die Vorstellungswelt Poseidon allein zu überlassen. Und dennoch hält sich die Bevölkerung nicht an die unterschwelligen Mahnungen. Nahezu impertinent ist ihr wiederholter Widerstand, und das ausgerechnet in jenem Bereich, wo die Götter am empfindlichsten sind: im Reich, in dem sie entstanden sind, in Tradition und Geschichte, im Bereich der Symbole und
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Zeichen. Dass dies genau jenes Gebiet ist, auf das traditionale und charismatische Herrschaft bauen, macht den Wunsch der Untertanen besonders gefahrlich. Mit ihm werden sie zur Ursache dessen, was den Gott „am meisten ärgerte", was bei ihm mehr Unzufriedenheit mit dem Amt provoziert als alles andere: nämlich die Vorstellung von Poseidon, nach der er „immerfort mit dem Dreizack durch die Fluten kutschiere". Dieses Bild stört und kränkt den Meeresgott aufs Heftigste, weil er sich längst der Mythologie entledigt hat und moderner ist, als es sich die Menschheit vorzustellen vermag. Mit diesem Traum der Herrschaftsalternative verpatzen die Untertanen, die Gläubigen, die Perfektion des bürokratischen Apparats, die Absolutheit der Automatik und verhindern den Abschluss der Bürokratisierung. Zugleich festigen sie die bürokratische Herrschaft, deren Verwaltung hier Göttern obliegt, die es ohne Erinnerung nicht geben könnte. In diesem Uberlebenskunststück irdischer Fantasie und Tradition, d.h. in der unauflöslichen Verquickung von Moderne, Tradition und Metaphysik, liegt wohl das letzte schöne Paradox dieser Erzählung. Die Götter, traditionell völlig unbürokratische Herrscher sowie Produkte menschlicher Schöpfungskraft, die zutiefst bürokratisch geworden sind und sich gegen ihre Erfinder wenden, können diese nicht loswerden. Als Garanten für das idealtypische legale Produkt, wie es sich Max Weber nicht besser hätte ausmalen können, bürgen die Götter mit ihrem Namen und ihrer Geschichte stets auch für die Gegenbilder der Bürokratie, die zumindest als Vision überleben. Aber gerade durch die Dialektik von Fantasie und Sachlichkeit, Tradition und Ratio, wird das Ende der bürokratischen Herrschaft suspendiert. Sie kann nie vollkommen sein und erlangt eben deshalb - weil sie auf Perfektion ausgerichtet ist - den Status von Ewigkeit. Das gilt selbstredend nur für den Zeitraum, in dem die Welt Bestand hat. Wenn sie nämlich untergehen sollte, wie im letzten Satz als Möglichkeit angedacht, respektive einen „stillen Augenblick" vor dem Ende, würde die Herrschaft wesentliche Änderungsimpulse erfahren. Schließlich handelt es sich um jenen Moment, an dem Poseidon seinen Arbeitsplatz verlassen könnte, weil dann alle Rechenarbeit erledigt wäre. Das ist der einzige Moment, in dem er also das tun wird, wozu er Lust hat, und in dem er sich freispielt vom bürokratischen Alltag. Zugleich ist es etwas, das sich die Untertanen wünschen, selbst wenn man nicht weiß, ob er sich in Uniform oder ohne Dreizack zeigen wird. Das Ende ist damit ein Zugeständnis an die Beherrschten, auch vielleicht deshalb, weil es eines großen Gottes nicht unbedingt würdig ist. Poseidon möchte „knapp
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Abb. 8: So hatte er die Meere kaum gesehn, nur flüchtig beim eiligen Aufstieg zum Olymp, und niemals wirklich durchfahren. Er pflegte zu sagen, er warte damit bis zum Weltuntergang, dann werde sich wohl noch ein stiller Augenblick ergeben, w o er knapp vor dem Ende nach Durchsicht der letzten Rechnung noch schnell eine kleine Rundfahrt werde machen können. Franz Kaßta
vor dem Ende nach Durchsicht der letzten Rechnung noch schnell eine kleine Rundfahrt [...] machen". Mit diesem letzten Satz knüpft Kafka an den Beginn des Textes an und gibt zumindest eine Idee davon, dass es eine Geschichte, eine Fortsetzung geben könnte, selbst wenn sich diese darin erschöpft, dass der Verwaltungschef Poseidon einmal mit dem Rechnen fertig ist, aufsteht und sich durch die Meere bewegt. Immerhin ist für diese Vorstellung, diese Änderungsmöglichkeit, ein Weltuntergang vonnöten: Damit für die Zeit einer kleinen Rundfahrt die Welt, wie wir sie kennen, ein bisschen geändert werden kann, muss sie hinterher geopfert werden. Mit anderen Worten: Soll der gekränkte Gott zu seinem Ausflug kommen und werden wir ihm wieder angesichtig, heißt das, dass das Weltenende bevorsteht. Oder anders: Wollten wir tatsächlich eine kleine Variation und sollten wir uns mit dem Wunsch, Gott nahe zu kommen, durchsetzen bzw. ihn zufriedenstellen, dann handeln wir uns damit die Apokalypse ein.
D DER B A N N DES M A N G E L S . LITERATUR V E R S U S
HERRSCHAFTSTYPOLOGIE.
EINE Z U S A M M E N F A S S U N G Haben wir noch Spaß an unserem Staat ? Friedrich Dürrenmatt 1 Der Zweck des Fehlers In seinem Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft" versucht Max Weber verschiedene Herrschaftsformen idealtypisch zu fassen: Prinzipien und Strukturformen werden differenziert und gegeneinander abgegrenzt, von kleineren Abweichungen oder Widersprüchen muss er abstrahieren. Auf Kombinationen oder Sonderformen geht der Wissenschaftler nur ein, wenn sie einen bestimmten Typus ergeben, auf Details, metaphysische Weltbilder und Tradition nur, wenn sie sich als wesentliches Merkmal einstufen lassen. Die Auseinandersetzung mit Bürokratie und ihren Alternativformen wird mit präzise abgegrenzten Begriffen gefuhrt, und die Zusammenhänge sowie Unterschiede werden auch in der Struktur seiner Arbeit transparent gemacht. Webers Zugang ist sachlich und rational. Sein Forschungsobjekt, das soziale Handeln, soll deutend verstanden „und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich" erklärt werden. 105 Bescheiden gibt sich der Forscher, wenn er notiert, dass „die soziologische Typologie [...] der empirisch historischen Arbeit lediglich den immerhin oft nicht zu unterschätzenden Vorteil" biete, eine Herrschaftserscheinung durch ihren Typus oder die Nähe zu Typen charakterisieren zu können, „und daß sie dabei mit leidlich eindeutigen Begriffen arbeitet." 106 In jedem Fall nutzt Webers Arbeit damit auch der Analyse literarischer Auseinandersetzungen, die radikal vom wissenschaftlichen Diskurs, sowohl vom typologisch wie auch vom empirisch geführten, abweichen.
105 Vgl. ebd. S. 1 106 Ebd. S. 124
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Man könnte sogar behaupten, dass der Kontrast zwischen den zwei Diskursen in nicht unwesentlichen Aspekten dem Gegensatz zwischen bürokratischen und alternativen Herrschaftsformen entspricht. Zugang und Methode Webers tragen einige zentrale Merkmale moderner Verwaltung, während literarische Texte kaum deren Prinzipien wie Rationalität, Transparenz, Widerrufbarkeit, Terminologisierung verwirklichen. Das hängt schon einmal damit zusammen, dass sich Literaten vom Selbstverständnis her dem „Fachmenschentum" widersetzen, das für die Bürokratie konstitutiv ist, und als und für „Kulturmenschen" arbeiten. Noch spannender wird Literatur dort, wo es um die Störanfälligkeit von Bürokratie geht. Während Derartiges in der idealtypischen Gestalt der modernen Herrschaft ausgeblendet wird, steht sie motivisch und dramaturgisch im Mittelpunkt der drei ausgewählten Texte und macht nicht nur Fehler, sondern über die Fehler auch eine grundlegende Mechanik bürokratischer Herrschaft sichtbar. Es scheint geradezu, dass die Poesie angesichts perfekter Bürokratie verstummen müsste, dass moderne Verwaltung, die reibungslos funktioniert, Literatur zum Schweigen bringt. Stattdessen sind es Abweichung und Schlamperei, die im Kontrast oder in Kombination mit charismatischen und traditionalen Strukturformen Machtinteressen und Ideologien freilegen. Das bedeutet aber nicht, dass in den Texten Fehler in bürokratischen Strukturen bemängelt und wie im Alltagsdiskurs Korrekturen angeregt würden, im Gegenteil: Gleich in mehrfacher Hinsicht erweisen sich die Mängel als konstitutiv : Zum einen braucht es den Fehler aus dramaturgischen Gründen. Mittels seiner Produktivität werden Handlungsstränge verknüpft, Figurenkonstellationen arrangiert, Höhepunkte gestaltet. Der Mangel an Vollständigkeit ermöglicht Überraschungen, Steigerung und Komik. Zum Zweiten eröffnet der tradierte und kolportierte Fehler mit seinen Auswirkungen Blicke durch verschiedene hierarchische Schichten hindurch und auf Mechanismen des bürokratischen Regelwerks. Er sorgt nicht nur für Beschäftigung und vergnügte Beamte, sondern auch für den Ausbau der Macht, die noch undurchschaubarer und unveränderlicher wird. Nicht dass er existiert, sondern dass er nicht als solcher erkannt oder anerkannt wird, ist das, was ihn austreiben und wuchern lässt und zum Katalysator fiir Bürokratisierung macht. Selbst wenn er von der Verwaltung identifiziert wird, beseitigt man ihn nicht, sondern empfiehlt bloß einen anderen Umgang mit ihm. Aus machttechnischer
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Perspektive ist das eine profitable Praxis und kann auch bei Staatsbetrieben zu veritablen Erfolgen fuhren. Gebannt von Mangel und Mängeln scheint die Literatur aber auch dort zu sein, wo es um Transparenz und Bewusstsein geht. Wenn Weber schreibt, dass fehlende Probleme und mangelndes Problembewusstsein die Herrschaft sichern, so laborieren sowohl Brandstetters Beamte als auch die Behörden der Tarockei mit allen Kräften daran, Probleme zu vertuschen und die Sicht darauf zu verstellen. Der ersten Voraussetzung hingegen wird entgegengearbeitet: Statt eine Reduktion anzustreben, geht es um stete Vergrößerung der Probleme. Durch die zahlreichen Täuschungsmanöver, Verschleierungstaktiken und Verkomplizierungen bleibt die Herrschaft unerkannt oder unzugänglich. Besonders interessant für den Zusammenhang meiner Arbeit ist, dass der Kampf gegen den rationalen Durchblick und fiir die Vermehrung der Probleme mit bürokratischen Mitteln ausgefochten wird: mit Schriftstücken, Fußnoten in Gesetzen, auf Amtswegen, durch die Kontinuität der Amtsgeschäfte, die Regelgebundenheit, die rationale Pflege von vorgesehenen Interessen, die festgelegten Kompetenzen, die Lebenslänglichkeit des Beamtenstatus ... Ausgerechnet der moderne Teil der Herrschaft sorgt also fiir Chaos, Irrationalität, Unsachlichkeit, Unberechenbarkeit, Willkür und realisiert damit Prinzipien, die der idealtypischen bürokratischen Herrschaft diametral entgegengesetzt sind. Damit nimmt die Literatur die heftige Kritik vorweg, die sich heute nicht nur gegen nationale Staatsapparate, sondern auch gegen die Institutionen in Brüssel richtet. Bei Kafka gewinnt diese Ebene noch an Drastik. Durchblick und Bewusstsein sind ad absurdum geführt, was angesichts der perfekten, fehlerlosen Administration umso paradoxer anmutet. Hier steckt der Mangel anderswo: wohlverankert in der Existenz der Menschen, die niemals perfekt sein können. Diese Wesenseigenschaft der Menschen mag eine Binsenweisheit sein - in der Auseinandersetzung mit moderner Verwaltung scheint sie oftmals in Vergessenheit zu geraten. Man kann und will nicht an Fehler glauben. Wenn im Alltagsdiskurs oft das Böse, das Hintertückische oder eine Verschwörung für ihn verantwortlich gemacht werden, ist er in der Literatur gerade deshalb produktiv, weil er für die Behörde gar nicht existiert. Die Bürokratie in der Literatur zehrt jedoch nicht nur vom mangelhaften amtlichen und zivilen Personal, sondern auch von ihrem eigenen Mangel: Fast zwanghaft reagiert die Herrschaft mit Bürokratisierungsschüben auf ihr mög-
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liches oder drohendes Ende. Bürokratisierungsfortschritte korrespondieren auffällig mit diversen österreichischen Herrschaftsdefiziten. Dazu gehören zum einen die kriegerischen Niederlagen, die Verkleinerung und das Verschwinden von der Landkarte, die nicht vorhandenen oder nicht länger haltbaren Herrschaftsbilder sowie die damit zusammenhängenden Probleme mit identitätsstiftenden Bildern der österreichischen Nation. Ersatz leistet hier Bürokratie, die Kontinuität über die Brüche hinweg sichert und kollektiven Zusammenhalt ermöglicht. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Bürokratie ihr modernes, der Demokratie und Gerechtigkeit verpflichtetes Selbstverständnis hintanstellt und stattdessen als genuin austriazistisches Kulturgut wahrgenommen wird. Was heißt das ? Statt ein technisch optimiertes, durchsichtiges, neutrales Verwaltungshandeln anzustreben oder zu gewährleisten, muss die Bürokratie so aussehen, dass sie als zutiefst österreichisch empfunden werden kann. Aus der Sicht der Literatur - und man kann sich hier durchwegs auch auf andere Texte der österreichischen Literatur berufen - fußt das Osterreichische der Bürokratie auf „Fortwursteln", Schlamperei, auf obrigkeitlicher Willkür und Intrigen. Es speist sich aus einer vielfaltigen Dominanz über den Alltag der Untertanen und einer notorischen Intransparenz. Ermöglicht wird diese spezifische Art von Bürokratie durch ein dichtes undurchschaubares, nichtsdestotrotz wohlgeordnetes Netz an Mitarbeitern, deren bestbezahlte als Kulturträger anzusehen sind. Als solche haben sie naturgemäß nicht am reibungslosen Ablauf verwaltungstechnischer oder gar demokratiegarantierender Prozesse zu arbeiten, sondern müssen am Fortbestand österreichischer Tradition laborieren, und das heißt vor allem: auf die Produktivität des Fehlers bauen. Mit viel Fantasie und Witz werden diese Aufgaben in der Literatur ausgestaltet und sprengen normalerweise jeden konventionellen oder realen Rahmen, egal ob es um die europäische Vormachtstellung Österreichs, die Rettung der Welt oder ganz einfach um die Inszenierung eines gigantischen Friedensfestes gehen soll. Allenthalben bürgen die hohen Beamten, die für die Sicherung und Expansion der Herrschaft zuständig sind, für das genial Fröhliche einer kaum vorhandenen Nation. Mit ungebrochenem Optimismus versuchen sie, mittels bestehender Strukturen das Außerordentliche oder Allerhöchste zu verwirklichen und scheitern stets nur so, dass der bürokratische Bestand aufrechterhalten bleibt. Möglicherweise liegt auch darin die große Affinität der österreichischen Literatur zur Bürokratie, zumal dieses Land mit der Verwaltung zu stehen und
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fallen scheint. „Bürokratie und Literatur in einem Atemzug zu nennen löst zumeist Erstaunen aus",107 schreibt die bundesdeutsche Forscherin Kerstin Stüssel. Aus österreichischer Sicht - auch jenseits der prominenten Kafkatexte - sind derartige Reaktionen undenkbar. Der Zusammenhang kann nicht geleugnet werden und ist weit über das literaturwissenschaftliche Feld hinaus bekannt. Die Verzahnung von Literatur und Bürokratie, literarischem und Verwaltungstext, fiktionaler und nationaler Kultur wird nicht nur über spitzfindige Staatsaufgaben hoher Staatsdiener hergestellt. In zahlreichen Texten zeigt er sich außerdem, wenn niedrige Beamte nivellierende, eintönige Verwaltungsarbeiten verrichten. Sie sind für die bürokratische Kulturtradition Österreichs ebenso konstitutiv wie die skurrilen Ziele der Vorgesetzten. Durch sie verliert zwar der Macht- und Herrschaftsaspekt an Bedeutung, dafür bekommt die formale Dimension der Bürokratisierung des Alltags mehr Gewicht. Aber auch bei den kleinen Beamten garantiert das Verwaltungshandeln das Immergleiche nur in jenen Bereichen, die ob ihrer historischen Situation oder in ihrer logischen Stringenz sinnentleert scheinen oder zumindest eines Wandels bedürfen. Bürokratie ersetzt in der österreichischen Literatur also den Mangel an Herrschaft, an Motivation, an Kraft, an Veränderungslust. Und Bürokratie ersetzt in der österreichischen Literatur jedweden Mangel mangelhaft: nie konsequent, nie fehlerfrei und niemals ein für alle Mal.
2 Der Fluch der Götter Max Weber hat die Bürokratie als Herrschaft ausgewiesen, die den anderen Formen überlegen ist: Sie steht für Perfektion, überdauert ganze Zeitalter und kann kaum mehr zerstört werden. Auf wen, wenn nicht auf Gottheiten, kann eine derartige Beschreibung besser zutreffen ? Götter sind Synonyme für Vollkommenheit, Überlegenheit und Unendlichkeit. Allerdings ist ihre Herrschaft auf charismatische Prinzipien gegründet, was sie hinwiederum in den schärfsten Gegensatz zu bürokratischen Ordnungen stellt. Von diesem Spannungsfeld profitiert die Literatur, wenn die Protagonisten auf der Suche nach dem letzten
107 Vgl. K. Stüssel: In Vertretung. Literarische Mitschriften von Bürokratie zwischen früher Neuzeit und Gegenwart. Tübingen 2004. S. 8
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Maßstab, vor allem aber auf der Suche nach Stärke, Dauer und Legitimation in die Welt der Götter geführt werden. Dort ist das wahre Reich der Perfektion zu finden. Gerade weil bürokratische Ordnung im Unterschied zur traditionalen und charismatischen auf technischer Perfektion aufbaut, kann durch den Kontrast mit der metaphysischen Macht die fehlerhafte Praxis entlarvt werden. So ist es in allen drei Texten nur die göttliche Verwaltung, in Form von Höllenzuteilungen, Schicksalszwängen und Mathematik, die störungsfrei und vollkommen ist. Zugleich ermöglichen die Gottheiten die Schuld- und Sündhaftigkeit der Gläubigen und Ungläubigen, bedingen also auch die Drastik der menschlichen Fehleranfalligkeit. Vor dem Hintergrund metaphysischer Weltbilder, die noch in den modernsten Gesellschaften eine Referenz für die verwaltungstechnischen Ordnungen bilden, werden die Mängel der Beamten bürokratischer Provenienz so peinlich, dass sie vom Verwaltungsstab schlichtweg nicht wahrgenommen werden können. Aber die Götter bleiben nicht nur Folie oder unerträgliche, besserwisserische Konkurrenz. Sie werden in weltliche Angelegenheiten involviert und ob ihrer Erlöserkompetenz herbeigesehnt. Allein als Gegner der bürokratischen Herrschaft erweisen sie sich als schwach und machtlos. Gegenüber derart ähnlich bemessenen Kräfteverhältnissen in Brandstetters, Kafkas und Herzmanovsky-Orlandos Texten variiert die Ausgestaltung der Utopien beträchtlich. Die Rollen, die den charismatischen Instanzen, und die Intensität, die der metaphysischen Kraft zugestanden werden, unterscheiden sich wesentlich. Alois Brandstetter setzt auf eine ganze Palette von charismatischen Kräften aus dem literarischen, lokalhistorischen, vor allem aber aus dem kirchengeschichtlichen Kanon, um dem einzelnen Untertan wieder Entscheidungs- und Handlungsräume zu eröffnen und ihn wieder eigenverantwortlich zu machen. Diverse Herrn, die Gottes Worte vertreten und sichern, fordern in seiner Vision jeden Einzelnen heraus, der selbst entscheiden kann, sündig oder heilig, gut oder böse zu sein. Dem Fluch der hartnäckig eingelebten Bürokratietradition in kirchlichen und staatlichen Institutionen, die beinahe wie ein nationales Naturund Geschichtsprodukt alles Österreichische definiert, wird ein „prophetischer Bruch" entgegengesetzt. Mit kanonisierten Zitaten und dem Argument der „heiligen Tradition" setzt sich der Briefautor für „charismatische" oder „KadiJustiz" ein, die mit dem 250 Jahre alten bürokratischen Österreich abrechnen
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soll. An die Stelle von Gesetzen, Regeln oder demokratischen Institutionen positioniert er prophetische Sprüche und Gottesurteile, konkrete „ethische oder andere praktische Werturteile".108 Dabei konkretisiert Brandstetter nicht nur einen konservativen Standpunkt, der alte Herrn mit bekannten Namen herbeiwünscht, sondern dokumentiert auch dessen Unvereinbarkeit mit Werten wie Demokratie, Gleichheit und Gerechtigkeit. Zugleich ist seine Vision gänzlich von Bürokratismen befreit. Im Glauben an den einzigen Gott und die einzigartigen Denkleistungen seiner Repräsentanten sollen vorbürokratische Formen im Diesseits konserviert bzw. wiederbelebt werden. Das bedeutet für die moderne Gegenwart, beträchtlichen Verzicht zu leisten. All jene Errungenschaften sind abzuschaffen, die Industrialisierung und Aufklärung zur Voraussetzung hatten. Das betrifft, wie man mit Weber zusammenfassen kann, die „raffinierte [...] Technik der äußeren Lebensgestaltung", die Befriedigung „sozialpolitischer Aufgaben" sowie die feste absolute Befriedung durch „Ordnung und Schutz [...] auf allen Gebieten", an die die Gesellschaft längst gewöhnt ist.109 So viel Rückschritt ist nur mittels metaphysischer Kräfte zu bewerkstelligen. Nur mit ihrer Rückendeckung kann verlangt werden, gegen die moderne Herrschaft zu rebellieren und den Verzicht darauf ohne Entzugserscheinungen zu überstehen. Bei Herzmanovsky-Orlando sieht die göttliche Angelegenheit ganz anders aus: Bei ihm obliegen Perfektion und Zukunft noch ganz und gar den überirdischen Wesen, was für die Menschen noch weniger Freiraum bedeutet. Dem Schicksal, das von einem schillernden griechischen Götterpersonal vorherbestimmt wird, kann keiner entrinnen. Dennoch versucht die Bürokratie, in metaphysische Ebenen vorzudringen, und verbucht dabei vor allem internationale Erfolge. Beispiellos breitet sich die Bürokratie auch in systemimmunen Bereichen aus: in Natur, Magie, religiösen Ritualen, und punktuell scheint es sogar, als würden die Verwalter über manche Götter triumphieren. Gestützt auf die Plutokratisierung moderner (und traditionaler) Verwaltungs apparate sind die Beamten Auserwählte, die auch in der Götterwelt eine besondere Rolle spielen. Ihre Tätigkeit wäre zwar notorisch fade, wird aber durch groteske Abweichungen interessant. Sie verpassen selbst der genuinen Amts108 Vgl. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. A.a.O. S. 563 109 Vgl. ebd. S. 561
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arbeit eine traditionale, mitunter sogar göttliche Note. Jedoch wird am Ende sichtbar, dass alle Menschen den Göttern unterliegen: nicht nur, weil sie sterben müssen, sie können auch deren Ordnung nicht auslöschen. Dass und wie sehr man an der steten menschlichen Unzulänglichkeit auch leiden kann, zeigt Franz Kafka. Da der letzte Maßstab und die einzig mögliche Herrschaft die moderne Verwaltung ist, der sich auch die Götter unterworfen haben, sind die Untertanen sowohl mit der irdischen wie auch der überirdischen Perfektion konfrontiert. Weil sie nicht göttlich sind, machen sie Fehler, die doppelt geahndet werden. In dieser Konstellation sind die Fehler nicht einfach abzutun, die Menschen bleiben ihnen auf schmerzhafte Weise ausgeliefert. Dazu kommt, dass sie sich ständig andere Herrschaftsformen wünschen, sie aber nicht installieren können. Mit ihrer Sehnsucht nach Metaphysik sorgen sie nicht zuletzt dafür, dass die Herrschaft, nämlich die bürokratische, unabsetzbar wird, da ihre Götter Perfektion und unendliche Dauer der Bürokratie garantieren. Damit fuhrt Kafka verschiedene gängige Bürokratie-Kritikpunkte schön und paradox zusammen: 1. Nicht weil die Menschen ihren metaphysischen Glauben verloren haben, sondern weil sie daran festhalten, erweist sich die Bürokratie als unzerstörbar. 2. Die Absenz vitaler und sinnlicher Elemente fuhrt nicht zur Perfektion des Apparats, sondern bedingt im Gegenteil dessen Fehleranfalligkeit. Erstaunlicherweise vermag die Verwobenheit rationalen und mythischen Denkens, wie es von Herzmanovsky-Orlando und Kafka vorgeführt wird, viel zum Verständnis von Bürokratie beizutragen. Macht-, Zeit- und Raumverhältnisse entpuppen sich in dieser Mischung als stabile Angelegenheit. Das hängt auch damit zusammen, dass in beiden Texten demonstriert wird, wie sich eine ganze Reihe bürokratischer und mythischer Merkmale decken bzw. einander verdoppeln. Da wie dort gibt es keine Entwicklung der Helden, auf psychologische Motivierung kann verzichtet werden. Die Ereignisse sind unausweichlich, der individuelle Einsatz bedeutungslos, nachgerade lächerlich. Die Ganzheit hat vor dem Einzelnen immer Vorrang. Nichts passiert plötzlich, ungewöhnliche Ereignisse sind wertlos. Es besteht ein konstanter Wille zur Entwertung und Aufhebung der Zeit. Zudem vermag sowohl das bürokratische wie auch das
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mythische Denken verschiedenste Lebensbereiche, Totes und Lebendiges zu durchdringen. Durch den VerdopplungsefFekt solcher Denkweisen wird die Ordnung sowohl in der Meeresverwaltung als auch in der Tarockei total. Allerdings gibt es auch jede Menge sich widersprechender, einander ausschließender Kategorien mythischen und bürokratischen Denkens, wie finale und kausale Motivation, die fließenden bzw. fixen Grenzen der Identität oder die rationale und die mythische Bedeutung von Zahlen und Gegenden. Mit der Konkurrenz dieser Denkformen wird in beiden Texten ganz unterschiedlich umgegangen. Bei Kafka sind - nicht nur im Poseidontext - beide nebeneinander unaufgelöst wirksam, was zu einer paradoxen Zweideutigkeit fuhrt.110 Im „Maskenspiel der Genien" wird das mythische Denken zur letzten Kategorie gemacht, ihm widersprechende rationale Reflexionen und Reflexe werden mit der Lächerlichkeit des menschlichen Daseins abgetan. Das macht den Roman eindeutig. Die Ohnmachtsgefuhle bleiben in beiden Texten gleich, wenngleich Kafkas Poetik genau durch die stehen gelassenen Paradoxa noch mehr Realitätsnähe herstellen kann. Der Blick auf Bürokratie wäre verfremdet, würde man den Aspekt des Zentralismus ausblenden. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass in allen drei Texten die Zentrale, die sich über divergierende Traditionen und Bedürfnisse hinwegsetzt, Schwerpunkt der Auseinandersetzungen mit Bürokratie ist. Dabei erweist sich sowohl die irdische Dimensionierung als auch die Platzierung von Gott und Gottheiten in ihrer Distanz zur Welt als durchwegs spannend. Brandstetter verlagert den ideellen und faktischen Schwerpunkt auf Oberösterreich, um sich Distanz zu Wien zu verschaffen und die zerstörerischen Wirkungen der Machtzentrale auf die Provinz unter die Lupe nehmen zu können. Die Entfremdung von Religion und Geistigkeit nimmt mit der Nähe zum Verwaltungszentrum, zur Hauptstadt, zu. Metaphysik und Tradition können dort gar nicht mehr erinnert werden. In der Provinz kommen sie auch abhanden, aber ihre Spuren können noch sichtbar gemacht werden. Herzmanovsky-Orlando verschiebt den „Astralleib", der immerhin nach einem fiktiven Testament Metternichs organisiert ist, nach Südösterreich, Slowenien und Nordostitalien. Damit gewinnt auch er Distanz zum herkömm110 Vgl. H. Gottwald: Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur. Theoretische Modelle und Fallstudien. Würzburg 2007, insbes. S. 204-232
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liehen Zentrum und zur herkömmlichen Staatsauffassung. Zudem werden in seinem Reich die Beamten auf Reisen geschickt, bis in den Orient, um die Lage in den Griff zu bekommen und später das Reich zu vergrößern. Zentrum bleibt allerdings unverkennbar die Tarockei, wohingegen das überirdische Reich im äußersten Südosten Europas angesiedelt ist. Wahrscheinlich brauchen die Götter die Entfernung zum real existierenden Osterreich, um überleben zu können. Mit Sicherheit brauchen sie allerorten genug Distanz zur bürokratischen Zentrale, weil sie sonst verschwinden oder, wie Poseidon, allzusehr leiden müssten. Mit ihm an der Spitze einer Abteilung am Grund des Meeres thematisiert Franz Kafka das Missverhältnis zwischen Sektion, Zentrale und Verwaltungsgebiet. Während die Zusammenarbeit zwischen den ersten beiden wöchentlich durch persönlichen Kontakt realisiert wird, existiert keine Verbindung zum Verwaltungsobjekt, obwohl der Verwaltungschef sein Gebiet in einer „kleinen Rundfahrt" besichtigen könnte. Indem Kafka das Endstadium bürokratischer Herrschaft beschreibt, gibt es nur mehr jene Herrschaftsprinzipien, die allgemeingültig sind und zu jeder Zeit und an jedem Ort realisiert werden können. Das zeigt der Autor, indem er Götter aus verschiedenen Zeiten und Ländern einsetzt. Das veranschaulicht er auch dadurch, dass die Untertanen nicht differenziert werden. Sie unterscheiden sich möglicherweise nur mehr durch den Beamtenstatus, wobei ein jeder Hilfskraft der Verwaltung werden könnte, so es die Spitze anordnet. Differenz wird nur mehr durch die Positionierung innerhalb oder außerhalb des Apparats errungen. Aber nicht nur bei Kafka wird die Unterdrückung zur sine qua non. In allen drei Texten ist sie unhinterfragbar selbstverständlich und konstitutiver Bestandteil der Herrschaften. Das betrifft sowohl die satirischen Diagnosen als auch die wie auch immer angedeuteten negativen oder positiven Herrschaftsutopien. Demokratiepolitische Fragen sind ausgeblendet: Wo Göttern, Führern und Sätzen großer Meister gehuldigt wird, ist Volksherrschaft nicht möglich. An Drastik gewinnt die Lage durch die Dimension der Zukunft, die mit Götterherrschaft einherzugehen pflegt: die drohende Hölle bei Brandstetter, die vom Schicksal vorausbestimmte Tötung der Helden bei Herzmanovsky-Orlando, der Weltuntergang bei Kafka. Zugleich werden mit den Göttern Epochen und Grenzen überspannt, womit die Herrschaft nicht nur mächtiger, sondern v.a. intensiver gemacht wird. Aber auch die Qualitäten der Bestrafung sind andere:
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Sie sind martialischer und körperlicher. Indem Anspruch und Notwendigkeit zusammengeführt werden, was durch historische und geografische Zusammenhänge evident gemacht wird, verstärkt sich der Unterwerfungsimpuls. Nichtsdestotrotz suggerieren alle drei Texte, dass es allemal vorzuziehen sei, unter dem Bann der Götter zu leiden, als wegen eines Diebstahls, der Beleidigung einer Amtsperson oder wegen eines Rechenfehlers von den Fangarmen des Apparats erfasst zu werden. Wenn nach Weber Führer, Genies und Propheten nach ihren ersten Erfolgen auf traditionale oder moderne Verwaltung setzen müssen,111 so wird offenbar umgekehrt bei einem großen Maß an bürokratischen Formen die Sehnsucht nach charismatischen Herrschern und Strukturformen wach. Dieser Umkehrschluss lässt sich in allen drei Texten ziehen. Dadurch, dass alle drei von beamtetem Personal dominiert und strukturiert werden, scheint der Drang zu Alternativformen noch intensiviert zu werden. Ständige Konfrontation mit Amtsmenschen und der ihnen zugeschriebenen Denk- und Handlungsweisen verführt scheinbar selbst notorisch Ungläubige zur Sehnsucht nach mythischen Welten und Erklärungsmodellen. Sie sind Garanten für ein aufregendes, sinnliches oder zumindest sinnhaftes Leben, was in bürokratischen Verhältnissen sehr gefragt ist, insbesondere beim Umgang mit Formalismen und Rationalisierungsmaßnahmen. Außerdem ist das göttliche Treiben Selbstzweck, während die bürokratischen Handlungen klare Ursachen und Ziele haben müssten, die dann nicht einmal auszumachen sind. In allen drei Texten bleibt der Zweck der genuinen Amtsarbeiten eine fragwürdige Angelegenheit. Bürokratische Herrschaftsäußerung scheint in erster Linie der Beschäftigung der Beamten zu dienen. Nur auf den zweiten Blick eröffnet sich der Sinn zahlreicher Amtshandlungen als Strategie zur Herrschaftssicherung. Der Ruf nach mythischen und religiösen Kräften erweist sich jedoch als fatal. Wenn bei Brandstetter deren Unterlegenheit schmerzlich zu Bewusstsein gebracht wird, gehen sie bei Kafka und Herzmanovsky-Orlando in die bürokratischen Ordnungen ein und unterstützen den Machtkampf der Bürokratie. Indem die Götter für Endlosigkeit und Ewigkeit bürgen, stellen sie würdige Hilfskräfte dar. Außerdem kann der Kampf pausenlos und unentwegt toben - Götter haben keine Freizeit. Das kommt der modernen Herrschaft ebenso entgegen. 111 Vgl. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. A.a.O. S. 142ff.
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Auch wenn die Wohnungen des Verwaltungsstabs fern der Amtshäuser liegen und Abende sowie Wochenenden dienstfrei sind, können die Beamten nicht und nirgends gänzlich aufhören, Beamte zu sein. Das wird jedenfalls nicht nur in den drei vorliegenden Texten, sondern überhaupt in der österreichischen Literatur facettenreich vorgeführt. So können auch die Untertanen der modernen Herrschaft nicht entkommen, weder für M o m e n t e noch in der Zukunft und schon gar nicht in die Welt der Götter.
3 Der Segen der Satire Und doch stellt sich die Tragödie nicht ein. Statt dramatischer und mitleidserregender Effekte ist in allen drei Texten eine Komik wirksam, die in den bürokratischen Sequenzen ihren Höhepunkt erreicht. Wenn der Roman Herzmanovsky-Orlandos in einigen Passagen ohne Grundkenntnisse in Mythologie, Esoterik und Geschichte vielleicht nicht immer in seinen bestechend originellen Bearbeitungen zugänglich ist, so scheinen die verwaltungskritischen Stellen voraussetzungslos witzig zu sein. Die Wirkung zeigte sich bereits zu Lebzeiten des Autors, als im Rundfunk Passagen aus dem Roman vorgelesen wurden und laut Torberg nicht nur der Kreis der Eingeweihten, „Mundpresse" bzw. „zünftige Kritiker" Beifall bekundeten, sondern „alle Mitwirkenden einhellig von Begeisterungsausbrüchen ihrer Portiers, Garagenmeister, Wirtschafterinnen etc." berichteten. 112 Ohne der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der drei Texte nachgehen zu können, lässt sich vielerorts beobachten, dass sich satirische Auseinandersetzungen mit Bürokratie großer Beliebtheit erfreuen. Dabei macht sich nicht nur die „ironische Alltagskompetenz" jenseits differenter Bildungsniveaus bemerkbar, die der Sprachwissenschaftler Richard Schrodt allen Sprachbenutzern zuschreibt, sondern auch „ein einigermaßen konstantes Hintergrundwissen (Kontextwissen)", das sich jeder Staatsbürger ab einem gewissen Alter erwirbt.113 Dass die Altersgrenze relativ niedrig an112 Vgl. Friedrich Torberg an F.v. Herzmanovsky-Orlando am 30. 4. 1953. Zit. nach: F. v. Herzmanovsky-Orlando. Sämtliche Werke in 10 Bänden. A.a.O. Bd. III. Anmerkungen. S. 458 113 Vgl. R. Schrodt: Strategien des uneigentlichen Sprechens: Ironie und Witz. In: O. Panagl/R. Kriechhaumer (Hg.): Stachel wider den Zeitgeist. Politisches Kabarett, Flüsterwitze und subversive Textsorten. Wien/Köln u.a. 2004. S. 11-31, hier S. 11
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zusetzen ist, lässt sich vermuten, wenn bürokratische Spitzfindigkeiten bereits in Büchern für Volksschulkinder zum Ausdruck kommen, auch wenn etwa die Begriffe Verwaltungsarbeit oder Aktenbearbeitung noch kaum verständlich gemacht werden können.114 Ein großer Gewinn der Satire, wie er sich in den drei analysierten Texten zeigt, ist der Strategie geschuldet, nie ganz eindeutig zu sein. In keinem der drei Texte wird gänzlich klar, wie die Parodie zu lesen ist, als Negativutopie, Realsatire, Vision. Weder ist der Abstand zwischen Realem und Übertreibung zu bemessen, noch können die Wertungen zwischen Neutral, Positiv und Negativ fixiert werden. Abgesehen davon sind bei Kafka und Herzmanovsky-Orlando nicht einmal Zeit- und Raumbezüge festlegbar. Diese Offenheit macht nicht nur die komische Wirkung wahrscheinlicher, da der persönlichen Betroffenheit und den Verletzungen eigener Wertvorstellungen leichter auszustellen ist, sie sichert auch Anspruch und Varianz der Lektüren. So können auch keine Visionen oder Rezepte herausgelesen werden, was eine Eindimensionalisierung und Simplifizierung, ja eine Missdeutung der Literatur bewirken würde. „Es ist immer die Trauer um einen Verlust, nicht die Utopie, die die Folie für die Schriften des Satirikers abgibt", formuliert Wendelin Schmidt-Dengler 115 zu Recht, und in diesem Sinne wäre es angebracht, statt der Sehnsucht nach großen Lösungen anheimzufallen, dem Verschwinden und Vergessen nachzuforschen, wie es die Literatur thematisiert. Dieses steht in engem Zusammenhang mit der Modernisierung der staatlichen Verwaltung. Indem die Bürokratie, ähnlich den Thesen und Prognosen Max Webers, auch in der Literatur als die beständigste und expansivste Herrschaftsform des 20. Jahrhunderts ausgemacht wird, sorgt sie für die Schwächung gewichtiger alternativer Bezugs- und Ordnungssysteme. Am akzentuiertesten wird die Verschiebung oder Auflösung der Metaphysik thematisiert, die wohl die komischste Wirkung erzeugt. Götter, Nymphen und Gottesvertreter im Gehäuse der Bürokratie vegetieren zu sehen, erzeugt nämlich kein Mitleid. Angesichts der eigenen Ohnmacht mag es sogar befriedigend sein, sie dort zu wissen und ungefährdet beobachten zu können. 114 Vgl. z.B. Literatur von Astrid Lindgren, u.a. „Pippi Langstrumpf' oder etwa Janoschs „Der Quasselkasper" 115 W. Schmidt-Dengler: Hüben und drüben: Karl Kraus, der Ständestaat und das Deutsche Reich. In: O. Panagl/R. Kriechbaumer: Stachel wider den Zeitgeist. A.a.O. S. 113-119, hier S. 117
Der Bann des Mangels
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Abb. 9: Es genügte nicht, nur eine bloße Einreisebewilligung zu haben, sondern man überzeugte sich durch Autopsie, ob die Ankömmlinge den etwas märchenhaften Staat nicht durch groteskes oder geschmackloses Wesen allzusehr belasten würden. Fritz von Herzmancrusky-Orlando
Verstärkt wird der komische Effekt, indem das edle Personal auf unterschiedlichste Weise mit physischer Präsenz von irdischen oder überirdischen Verwaltungsangestellten konfrontiert wird. Neben dem Status der Götter wird auch der Status der Nation durch die satirische Bearbeitung kritischen Fragen unterzogen. Welche Grenzen hat sie, wo ist ihr Zentrum, wer ist für die Verwaltung zuständig und wer herrscht in der Tat ? Ist jeder Beamte ex- und importierbar ? Wäre die Verwaltung austriazistischer Prägung eine Chance oder ein Fluch für andere Nationen? Bekannte Mythen rund um das nationale Selbstverständnis werden, insbesondere bei Kafka und Herzmanovsky-Orlando, durch historische und geografische Grenzüberschreitungen demontiert. Nicht zuletzt sind es aber auch die modernen Prinzipien der Gleichheit, der Gerechtigkeit, der Funktionalität und Transparenz, die thematisiert, aber ständig unterwandert und verletzt werden. Besonders offensichtlich und variantenreich werden diese Missstände vorgeführt, wenn Brandstetter oder Herzmanovsky-Orlando die Rationalisierungsbestrebungen durch die Sprache demaskieren. Hierbei werden gleich mehrere Areale des Hintergrundwissens
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Bürokratie als Äußerung moderner Herrschaft
einbezogen, wenn Amtssituationen, Parteienverkehr, behördliche Schreiben und Rechtfertigungsreden mit gesellschaftspolitischen Grundüberzeugungen verquer gesetzt werden. Aus dem Verlust von Allmacht und Größe diverser Götter, der Nation und des Behördenapparates ziehen nicht nur die vorliegenden Texte ihre komischen Wirkungen. Gerade die österreichische Literatur verfugt über einen beachtlichen Fundus an bemerkenswert kurzweiligen Texten zu Verwaltung und Amt, in dem irdische oder überirdische Figuren und Topografien in Wechselwirkungen mit Bürokratie gesetzt sind. Dass dabei die parodistisch satirische Bearbeitung dominiert, hat abgesehen vom Unterhaltungswert schon deshalb zentrale Bedeutung, weil damit lustvolle Auseinandersetzungen mit einem zentralen Thema der modernen Welt gefördert werden. Ob die Herrschaftsverhältnisse dadurch nur besser auszuhalten sind oder diesen humoristischen Strategien subversives Potenzial innewohnt, kann unter dem hier gewählten Blickwinkel nicht beantwortet werden. Wenn der Gehorsam vorausgesetzt ist und das bürokratische Getriebe wie geschmiert läuft, weil Störungen subsumiert und integriert werden, stehen nur die Mechanismen und die Feinmechanik zur Disposition. Wie im nächsten Teil zu zeigen ist, wird mit der Dimension der Lebenswelt und den gesellschaftlichen Anliegen das Augenmerk auch jenseits der bürokratischen Verfahren gelenkt. Und fast scheint es, als ob mit den dadurch gewonnenen Handlungsspielräumen ein Teil der herzhaft komischen Wirkungen verlustig gehen würde.
II.
BÜROKRATIE V E R S U S LEBENSWELT (Jürgen Habermas)
In der Theorie verstehen wir die Menschen, aber in der Praxis halten wir sie nicht aus, dachte ich, gehen mit ihnen meistens nur widerwillig um und behandeln sie immer von uns aus gesehen.
Thomas Bernhard
1 Kritische Sozialwissenschaft und Herrschaftssoziologie. Handlungsräume durch Perspektivenwechsel
Eine denk- und wünschbare Alternative zu den modernen Herrschaftsformen, den Bürokratien, konnte Max Weber nicht bieten, weil er davon überzeugt war, dass der Sinn durch den Zerfall physisch-religiöser Weltbilder verloren gegangen und kein anderer sinnstiftender Zusammenhang entwickelbar sei. Das „Gehäuse der Hörigkeit" 116 triumphiere über die Gebäude vergangener Zeiten, von denen seit dem Absolutismus immer mehr Grundpfeiler einstürzen würden; und Ordnungen, die auf Herrschaftsfreiheit basieren, sind für Weber sowieso nur in kleinen und einfachen Gesellschaftsgebilden aufrechtzuerhalten, die im 20. Jahrhundert kaum eine Rolle spielen können. Dieser engen und düsteren Zukunftsperspektive ist jene Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft diametral entgegengesetzt, die Jürgen Habermas entwickelt hat. Zwar ist auch hierfür die Uberwindung metaphysischer Weltbilder Bedingung, aber zugleich wird eben auch die Voraussetzung für herrschaftsfreies Handeln, für jenen normativen Orientierungspunkt geschaffen, nach dem Habermas seine gesamte Theoriebildung ausgerichtet hat. Dass dafür auch Bürokratisierung und Verrechtlichung konstitutiv sind, stellt nicht nur einen Kont116 Vgl. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. A.a.O. S. 835
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Bürokratie versus Lebenswelt
rapunkt zu Weber, sondern auch einen reizvollen Gegensatz zum literarischen Diskurs dar. Um zu zeigen, wie eine derart komplexe Forschungsarbeit, wie sie Habermas vorgelegt hat, für meine Textanalysen fruchtbar gemacht werden soll, werde ich vorerst Rolle und Position der Bürokratie in Habermas' emanzipativem Prozess skizzieren. Dafür ziehe ich v.a. das Opus Magnum des Philosophen, seine „Theorie des kommunikativen Handelns" 117 heran, in der er 1981 seine jahrelange Forschungsarbeit zur kommunikativen Rationalität, zum zweistufigen Gesellschaftskonzept und seine Theorie der Moderne gebündelt und weiterentwickelt hat. Daneben berücksichtige ich auch seine diskursive Rechtstheorie, die seit 1992 unter dem Titel „Faktizität und Geltung" 118 vorliegt. Worauf ich hingegen nicht eingehen werde, sind Habermas' Ansichten zur Nichtexistenz eines ästhetischen Diskurses, da es mir nicht um den Universalismusanspruch von Ästhetik geht, sondern um das Bestreben, exemplarisch die Bedeutungen literarischer Texte und deren Signifikanz für den Bürokratiealltag nachzuweisen. Warum nun Habermas' Arbeiten als Grundlage und Perspektivik für eine Untersuchung des literarischen Diskurses äußerst gewinnbringend sind, kann anhand von fünf Aspekten seiner Theorie zusammengefasst werden.
L E B E N S W E L T VERSUS B Ü R O K R A T I E
Ein zentraler Unterschied zwischen Weber und Habermas liegt darin begründet, dass Letzterer Bürokratie weder als idealtypische Formation noch als Form der Herrschaft bzw. als spezifisches Gehorsamsverhältnis konzipiert. Vielmehr denkt er die Gesellschaft in zwei Dimensionen: erstens die der Lebenswelt, dem gesellschaftlichen Normsystem, das individuelle Fertigkeiten und kulturelles Wissen vereint und großteils bloß unbewusst vorrätig ist, und zweitens die der Subsysteme Wirtschaft und Bürokratie. Dieses zweistufige Modell ist die Basis dafür, dass, wie in meinem Titel angedeutet, einerseits ein Perspektivenwechsel ermöglicht wird und andererseits Handlungsräume eröffnet werden.
117 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt 1988. 2 Bde. 118 Ders.: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt 1998
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Um sie auch nutzen zu können sind weitere Annahmen vonnöten, die sich mit den Wechselwirkungen der zwei Sphären auseinandersetzen. Durch soziale Evolution, so Habermas, differenzieren sie sich ständig aus und entkoppeln sich zugleich voneinander. Dadurch wird das Ausmaß von Fortschritt feststellbar, wobei sich Fortschritt auch jenseits der Macht festsetzen kann. Also wird der Forscherblick weniger auf die Legitimität von Herrschaft gerichtet, als vielmehr auf die Prozesse und Handlungen zwischen den Subsystemen (Wirtschaft, Bürokratie) und der Lebenswelt.
HANDLUNGSKOORDINATION STATT HANDLUNGSORIENTIERUNG
Ein zweiter wichtiger Bestandteil des habermasschen Denkens ist die zentrale Bedeutung der Kommunikation, die die Chance auf emanzipative kognitive Entwicklung berge. Denn anders als Max Weber sieht Habermas nicht das zweckrationale, strategische oder erfolgsorientierte Handeln als Prototypen der modernen Kommunikation, sondern nimmt als Originalmodus das verständigungsorientierte, das „kommunikative Handeln" an. Um die Diskurse freizulegen und analysierbar zu machen, formuliert Habermas Webers Begriff des sozialen Handelns um, der der monologischen Konzeption verhaftet bleibt und nur Einzelsubjekte mit zielgerichteter Kommunikation untersuchen kann. Demgegenüber versteht Habermas das Sich-miteinanderVerständigen grundsätzlich als gleichwertig mit der Zielgerichtetheit des Handelns und ergänzt damit Webers Handlungsorientierung mit dem Kriterium der Handlungskoordinierung. Weil selbst manipulative Kommunikation nur funktionieren könne, wenn der Ansprechpartner eine Interaktion mit dem Sprecher aufnimmt, gehe jede Kommunikation über das Ziel, Verständnis zu erhaschen, hinaus und will Verständigung. Voraussetzung hierfür ist das gemeinsam unterstellte System von Welten, der objektiven, sozialen und der Innenwelt sowie der damit erhobenen Geltungsansprüche auf Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit. Nur wenn jeder prinzipiell die gleiche Chance hat, diese Ansprüche an die Kommunikation durchzusetzen und sie (gegebenenfalls) auf diskursiver Ebene zu hinterfragen, entsteht herrschaftsfreie Kommunikation. Auf diesem Prinzip des Sich-Verständigens baut Habermas seine Theorie auf und entwickelt seine Kriterien für eine demokratische und emanzipatorische Gesellschaft.
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Bürokratie versus Lebenswelt
KOMMUNIKATIONSENTLASTUNG DURCH MACHT UND GELD
Neben dem verständigungsorientierten Handeln, das sich impliziten Wissens bedient und in praktischen Diskursen realisiert wird, also dem Paradigma der Lebenswelt zugehört, existiert die Welt des Systems mit eigenen Medien. Sie sind es, die bei steigender Komplexität den Mechanismus sprachlicher Verständigung entlasten. Zum einen wären dies, so Habermas, die Kommunikationsmedien, wie Schrift, Presse und elektronische Medien, zum anderen aber auch jene Steuerungsmedien, die fiir mein Thema bedeutsam sind. Zu ihnen gehört neben dem Geld des Subsystems Wirtschaft die Macht des Subsystems Bürokratie. Beide sind entsprachlicht und regulieren sich autonom.
DIE V E R M I T T L E R R O L L E DES RECHTS
Zwischen den beiden Sphären gibt es das System des Rechts, über das kommunizierend und korrigierend eingegriffen werden kann und, so Habermas, auch eingegriffen werde. Das heißt, dass der Bereich der Jurisdiktion, inklusive den juristischen Möglichkeiten des Staatsbürgers, nicht nur eine Schlüsselfiinktion erhält, sondern auch aus dem bürokratischen System ausgegliedert ist. Lebenswelt sowie (Wirtschaft,) Bürokratie und Recht können damit in ihren radikal unterschiedlichen Mechanismen und vor allem auch in ihren Wechselwirkungen betrachtet werden.
G E F A H R DER K O L O N I S I E R U N G
Ich habe jetzt das zweidimensionale Modell der Gesellschaft mit seinen verschiedenen Implikationen skizziert: seine Entwicklung und gleichzeitige Entkoppelung, seine kommunikativen Besonderheiten (selbstverständlich und unbewusst versus entsprachlicht und autonom) sowie sein Regulativ und Korrektiv, den Rechtsdiskurs. Augenscheinlich ergeben sich in der modernen Gesellschaft trotz der darin angelegten demokratischen Vergewisserung eklatante Probleme, deren neuralgische Punkte Habermas in seinem Modell auch ausmacht und erklärt. Mit der Konzeption der Zweidimensionalität und der AusdifFerenzierung des Rechtsdiskurses lassen sich nämlich auch dort Konflikte thematisieren, die
Kritische Sozialwissenschaft und Herrschaftssoziologie
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in Webers Herrschaftstypologie ausgeblendet waren. So ergibt sich eine neue Problematik, wenn Schwierigkeiten in wesensfremden Sphären abgehandelt werden. Probleme würden zutage treten, wenn nicht nur Gesetze zu Fragen der Moral gemacht, sondern auch Fragen des guten Lebens im Rechtsdiskurs abgehandelt werden. Die Folgen, die daraus entstehen, hat Habermas mit dem Begriff der „Technisierung von Lebenswelt" bezeichnet, die oft der Preis für gesellschaftliche Entwicklung sei.119 Zwar hält der Handlungstheoretiker Komplexitätszuwachs der Systemstrukturen sowie den damit einhergehenden Rationalitätszuwachs der Lebensweltstrukturen an sich für positiv: Wissen werde explizit und damit kritisierbar gemacht und die Lebenswelt von Kommunikationszusammenhängen entlastet. Jedoch würden zugleich Spielräume für die Subsysteme Bürokratie und Wirtschaft entstehen, die sich mittels der entsprachlichten Steuerungsmedien Macht und Geld ausbreiten. Diese Tendenz hält Habermas nicht prinzipiell für problematisch, als ja über das „Scharnier" des Rechtssystems stets kommunikativ und korrigierend eingegriffen werden könne. Das gilt aber nicht für alle Bereiche. In seinem Hauptwerk, der „Theorie des kommunikativen Handelns", schreibt er: Nicht die Entkoppelung der mediengesteuerten Subsysteme, und ihrer Organisationsformen, von der Lebenswelt fuhrt zu einseitiger Rationalisierung oder Verdinglichung der kommunikativen Alltagspraxis, sondern erst das Eindringen von Formen ökonomischer und administrativer Rationalität in Handlungsbereiche, die sich der Umstellung auf die Medien Geld und Macht widersetzen, weil sie auf kulturelle Uberlieferung, soziale Integration und Erziehung spezialisiert sind und auf Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordinierung angewiesen bleiben.120
Hier erst würden Bürokratie (und kapitalistische Wirtschaft) zerstörerisch. Sie fragmentieren das Bewusstsein und erzwingen „wie Kolonialherren in einer Stammesgesellschaft" die Assimilation.121
119 Ders.: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. II. S. 232f. und 273 120 Ebd. Bd. II. S. 488 121 Ebd. S. 521f
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Bürokratie versus Lebenswelt
2 Bürokratisierung als Kolonisierung und emanzipatorischer Prozess in der Literatur Mit dem Begriffsinstrumentarium dieser kritischen Theorie ausgestattet, eröffnet sich ganz ein anderes Spektrum an Möglichkeiten, die im literarischen Diskurs thematisierten Aspekte und Deutungen der Bürokratie freizulegen. Die Grenzen der weberschen Soziologie, aber auch die Grenzen der bereits untersuchten Texte werden sichtbar. Brandstetters und Herzmanovsky-Orlandos Utopien sind nicht auf eine emanzipative Ordnung aus, und auch in Kafkas Meeresverwaltung sind alle Handlungsmöglichkeiten ad absurdum gefuhrt. Deshalb finden sie auch wenig Platz in Sujet und Ästhetik. Thematisiert werden stattdessen Gründe für oder gegen die Rationalisierung, insofern sie der Herrschaft zu nützen oder zu schaden vermag. Die Beherrschten in den bürokratischen Systemen sind nur Objekte diverser Machtinteressen und Teilchen einer Automatik. Die Untertanen, deren Lebenswelt kaum ausdifferenziert ist, werden nur mit guten Ratschlägen versorgt oder durch Zwänge belastet: Sie sind und bleiben sprachlos und dienen als Adressaten diverser Befehle, Gesuche, Predigten, die maximal auf Einverständnis (Gehorsam, Machtsicherung) aus sind, nie aber auf gegenseitige Verständigung. Auch die Beamten, die in allen drei Texten zumindest ab einer gewissen Position von der eigenen Handlungsfreiheit überzeugt sind, täuschen sich. Nur in der visionären Herrschaftsänderung - die bürokratische Prinzipien abschafft - entsteht ein gewisser Spielraum. Aber auch die Visionen sind nicht etwa auf Herrschaftsfreiheit gegründet. Lediglich Herrschaftsalternativen werden entwickelt, die gegenüber den diagnostizierten bürokratischen Gegenwartsformationen ihre Machtansprüche sichern oder sogar noch vergrößern. Weil es dabei um religiöse, mythologische oder andere traditionale Wiederbelebungsversuche geht, werden ausgerechnet jene Aspekte vernachlässigt, in denen die Hauptursachen und Hauptwirkungen der Bürokratisierung liegen: nämlich die Phänomene der Massengesellschaft und die lebensweltliche Dimension. Soll es um den herrschaftsfreien Diskurs, herrschaftsfreie Alternativen gehen, die auf kognitiven Fortschritt und Glück in der Lebenswelt abzielen, müssen wohl andere Arbeiten herangezogen werden. In den Texten müssen Schnittstellen zwischen rationalisierten und nichtrationalisierbaren Bereichen auszumachen sein.
Bürokratisierung als Kolonisierung und emanzipatorischer Prozess in der Literatur
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Nur dann kann der veränderte Blick auf die moderne Verwaltung auch genug zu sehen bekommen. Es kann statt der Bürokratie und deren historischen Alternativen der Prozess der Bürokratisierung thematisiert werden. Auch können Antworten darauf gefunden werden, wie das Steuerungsmedium der Bürokratie, die Macht, auf die lebens weltlichen Werte und das kommunikative Handeln wirkt bzw. wie die ausdifferenzierte Lebenswelt die systemische Dimension beeinflusst. Verschiedene Arten der Rationalisierung können herauskristallisiert werden, die in unterschiedlichen Bereichen stattfinden. Ob sich aber überhaupt eine Grenze zwischen den Handlungen ziehen lässt, die in der Tat normative Verfahren von Fragen des guten Lebens scheidet ? Und was passiert, wenn es zu allfalligen Überschreitungen kommt? Es wird sich zeigen, dass die Untersuchung mitunter nur dann sinnvoll durchgeführt werden kann, wenn die Analyse auf das sprachtheoretische Modell zurückgreift, wie es Habermas in seiner Handlungstheorie präsentiert. In jeder Hinsicht erfordert dies genuin linguistische, argumentationsanalytische Untersuchungen. Damit wird das Augenmerk auf jenen Ort gerichtet, an dem das ästhetische Potenzial v.a. angesiedelt ist und wo die Bürokratie durch Störung und Verfremdung thematisiert wird. Art und Weise der Abweichungen und Irritationen können anhand des zweistufigen Modells analysiert und am Ideal der Handlungskoordinierung, der These der Kommunikationsentlastung und dem demokratischen Korrektiv des Rechtsdiskurses geprüft werden. Der Blick wird auf das Unbehagen in und mit der Bürokratie gelenkt, das sich in Differenzen und Ursachen darstellen lässt. Weil Bürokratie in diesem Abschnitt als Systemkomplexität und in ihrer Wirkung als Rationalitätszuwachs in der Lebens welt begriffen wird, auf die die jeweils verschieden geformten Dimensionen der Gesellschaft, aber auch die jeweils betroffenen Bereiche anders reagieren, kann die bürokratische Invasion auch in äußerst „unamtlichen" Gegenden ausgemacht werden: Bei Joseph Roth etwa breitet sich die k.k. Monarchie mit Staatsdienern, Aufklärungsarbeit, Messungen und Maßen in kleinen, von der Staatsmacht bisher nur marginal erfassten ländlichen Gegenden aus; bei Albert Drach expandiert das bürokratische System in intime Angelegenheiten, und bei Konrad Bayer dient es Mördern und Ermordeten gleichermaßen zur Konservierung alter Ordnung sowie auch zu deren Zerschlagung. Bei allen drei Texten geht es zugleich auch um das Rechtssystem, dem Jürgen Habermas eine zentrale Rolle im Modernisierungsprozess und dessen demo-
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Bürokratie versus Lebenswelt
kratischem Gehalt einräumt. Als Schaltstelle zwischen den zwei Dimensionen dient das Recht der Transformation von Werten in Gesetze, ist prinzipiell kontrollierbar und kommunikativ ausverhandelbar. Jedenfalls werden die Texte im Folgenden statt vor einer idealtypischen Folie im Kontext der Idealität gesehen. D.h.: Selbst wenn in den literarischen Arbeiten der herrschaftsfreie Diskurs im Hintergrund bleibt, wird er, um es mit Habermas zu sagen, stets als „unterstellt" gedacht. So könnten hier - anders als im vorangegangenen Abschnitt - vielleicht auch Wege sichtbar werden, die aus dem Dilemma von Bürokratie und Autoritätsgläubigkeit hinausfuhren.
A DER T Ö D L I C H E F O R T S C H R I T T DES I M P E R I A L I S T I S C H E N SYSTEMS Joseph Roth: Das falsche Gewicht122 Der Mensch kann sich offenbar auch die Hölle nicht ganz ohne Regeln und Regulation vorstellen - vom Paradiese ganz zu schweigen. JörgMauthe 1 Lebensweltliche Strukturen als staatspolitisches Tabu? Getreu dem absolutistischen Selbstverständnis der k.k. Monarchie schildert Joseph Roth die strukturelle Eingemeindung der anderssprachigen Randbezirke als zutiefst vormoderne Prozesse, bei denen sich der Staat „ausschließlich als Anwalt der über Geld und Macht ausdiflerenzierten Subsysteme verstanden und die ins Private abgeschobene Lebenswelt als ungeformte Materie behandelt" hat.123 Nirgends im tiefsten Osten des k.k.Reichs ist ein Beamter oder ein Gesetz dazu abgestellt, in einen „kommunikativ strukturierten Handlungsbereich" einzudringen. 124 Für unsere Vorstellungen heute mutet es manchmal geradezu angenehm fremd an, wenn wir vom staatlichen Desinteresse am Privaten lesen. Nur aus Einsamkeit lugt der dort amtswaltende Anselm Eibenschütz „durch die Ritzen der Fensterläden in die fremden Wohnungen" hinein. Dafür schämt er sich. Also versucht er sich „einzubilden" (!), etwas Nützliches, Erforderliches zu tun, nämlich „Personalkenntnisse" zu erwerben (33). Ebenso erstaunlich ist die durchgängige Absenz des Staates bei allen sozialen Schwachstellen wie Armut, Bettelei oder Alimenteangelegenheiten. Schließlich lässt J. Roth seinen Roman, den er 1937 im Pariser Exil geschrieben hat, zu Kaiser Franz Josephs Zeiten spielen, in denen die Staatsmacht im „fernen Osten der
122 J. Roth: Das falsche Gewicht. Köln 1990 123 J. Habermas: Die Theorie des kommunikativen Handelns. A.a.O. Bd. II. S. 528 124 Ebd. S. 539
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Monarchie" (11) noch mit weitaus elementareren Dingen beschäftigt war: Sie betrafen ausnahmslos rechtsstaatliche und marktrechtliche Prinzipien der „äußeren Verfassung"125. Die Durchsetzung solcher bürokratischer Strukturen sollte allerdings - so Habermas - auf „schmerzlose" Weise zu bewerkstelligen sein.126 Einmal abgesehen davon, dass der ganze Text von den Schmerzen angetrieben und strukturiert ist, die durch die Ordnungsgewalten entstehen - worauf ich weiter unten eingehen werde -, stellt sich die Frage, inwiefern die administrativen Maßnahmen auf indirekte Weise doch sozialintegrative Ordnungen angreifen. Das muss von der Staatsräson nicht unbedingt einkalkuliert sein und ihr vielleicht auch gar keinen Nutzen bringen. Denn was wollten schon die alten Staaten mit ihren vorindustriellen Wirtschaftsordnungen, bevor sie sich in einen bürgerlichen Rechtsstaat verwandelt haben? Oder besser: Was mussten die Untertanen ihrem Staat geben, damit er sich reproduzieren konnte? Wenn Habermas von den Hauptinteressen „Arbeitsleistungen und Gehorsambereitschaften" spricht127, fragt sich, was der Staat davon hat, wenn durch seine Maßnahmen immer mehr Leute ihre Arbeit verlieren, treibende Kräfte der traditionalen Herrschaft eingekerkert werden oder seine eigenen Vertreter im Elend oder ermordet enden? Wenn Beamte in dieser ihnen völlig fremden Gegend ab Dienstantritt in den Bestechungskreislauf eintreten und zusammen mit der Bevölkerung dem verbotenen neunziggrädigen Schnaps verfallen, bleiben die Modernisierungsversuche der Staatsgewalt auf der Strecke. Dafür kann sich das zarte Gleichgewicht emsiger und archaischer Uberlebenskunst erhalten: Bevor der erste redliche Staatsdiener im Bezirk Zlotogrod eintraf, hatte jeder einfache Bewohner seine kleine Existenz, die er ohne Betrügereien vorwärts bringen musste, weil mit Auge, Hand und Arm gemessen und gewogen wurde und jeder wusste, daß ein Männerarm, von der geschlossenen Faust bis hinauf zum Ellenbogen, eine Elle mißt, nicht mehr und nicht weniger. Alle Welt wußte ferner, daß ein silberner Leuchter ein Pfund, zwanzig Gramm w o g und ein Leuchter aus Messing ungefähr zwei Pfund (11).
125 Ebd. S. 544 126 Ebd. S. 549 127 Ebd. S. 526
Der tödliche Fortschritt des imperialistischen Systems
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Demnach konnten die Händler nicht falsche Maße und Gewichte vortäuschen, und die Käufer, oftmals ärmliche Bauern, waren eigenständige Kontrollore. Die örtlichen Autoritätsgewalten mischten sich wenn, dann nur als Lebensberater in die Angelegenheiten der Bevölkerung ein. Selbst eingewanderte Mörder wurden in dieser Gegend beinahe friedlich, da es „überhaupt wenig Mörder oder gar Raubmörder" gab und das Landesgericht die Bezirksgerichte sogar um Lappalien-Prozesse beneidete, weil es einfach nichts zu tun gab (48). Zudem sorgte der Ex-Mörder Leibusch Jadlowker in seiner Grenzschenke für alle Ausgestoßenen und Verlorenen der Gesellschaft, an denen er sich zwar bereicherte, die er aber auch aufnahm, wenn er sich nichts von ihnen erwarten konnte: Es verkehren und übernachten bei ihm nämlich nicht nur Diebe und Räuber, sondern auch sogenannte „Taugenichtse": russische Deserteure, Bettler und Landstreicher (20). Und von Bettlern oder Landstreichern ist noch dazu in einer armen Gegend nun wirklich nicht viel zu holen. Auch bezüglich Nachbarschaftshilfe existierte, solange kein staatstreuer Dienst versehen wurde, ein Netzwerk, das jedem ein bescheidenes Uberleben sicherte: So kauften reiche Leute immer wieder mickrige und verdorbene Waren von Frau Singer, deren tief religiöser Mann von allen geachtet wurde und nicht nur von den Bauern aus der Umgebung um Rat gefragt wurde, „wenn sie in Not waren". Und „obwohl es schien, daß er die Welt und die Menschen noch niemals gesehen hatte, erwies es sich doch, daß er die Welt und die Menschen verstand. Seine Ratschläge waren trefflich, und seine Fürbitten halfen" (90). Selbst mit den Naturkatastrophen und Seuchen kam die Bevölkerung irgendwie zurecht. Während diese Tragödien als vorübergehende Schicksalsschläge begriffen worden waren, wird durch staatliche Evakuierungsmaßnahmen aus der Cholera, wie aus allem anderen auch, eine „dauernde Angelegenheit" (74), mit der keiner mehr fertig werden kann. Das gilt für alle anderen Probleme ebenso. In vielen Facetten fuhrt der Autor die destruktiven Folgen der Staatsgewalt vor. Die Auswirkungen des langen Arms der kaiserlichen Gesetzgebung übertreffen jedes Ausmaß an Zerstörung, das durch Naturgewalten verursacht werden könnte. So erschreckt Mendel Singer „noch mehr, als er vor einem Brand erschrocken wäre", als er aus dem Bethaus nach Hause kommt und erfahrt, dass sein Laden inspiziert werde. Zieht der Gendarm das große, schwarze Dienstbuch heraus, ist „es Mendel Singer und seiner Frau, als zückte er gegen sie beide die gefahrlichste von allen seinen gefahrlichen Waffen. [...] Ein Feuer wäre eine
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Bürokratie versus Lebenswelt
Kleinigkeit gewesen." Diese Vergleiche sind durchaus nachvollziehbar. Schließlich hat diese Amtshandlung zur Folge, dass eine Familie ihrer Existenzgrundlage beraubt wird: Wenn Frau Singer auch nur noch eine einzige Mandel verkauft, „wird sie auf vier Monate eingesperrt". Also wird sie das Strafgeld niemals bezahlen können. Außerdem wird der gesamten Gegend ein wichtiger Knotenpunkt des Sozialnetzes entzogen (91). Ebenso wie die Existenz der Singers wird die Existenz Leibusch Jadlowkers ruiniert, der hinter Gitter gebracht wird. Mit der Verwaltung seiner Grenzschenke wird der Eichmeister Eibenschütz betraut, der diese ganz gleich, also jeden gesetzlichen Rahmen verletzend, weiterfuhrt. Aus vielfaltigen Gründen wird er dabei schließlich zum Alkoholiker und versieht seinen Dienst nachsichtig oder überhaupt nicht mehr. Infolgedessen kann sich die Gegend kurz regenerieren und ihr altes Leben ohne Störungen wiederaufnehmen. Dies gilt so lange, bis der Beamte auch als Liebhaber an Jadlowkers Stelle zu treten versucht. Wie bei der Führung der Schenke versagt er jedoch auch hier. Er kann die schöne Euphemia Nikitsch nicht wie sein Vorgänger mit dem redlichen Maronihändler Sameschkin „teilen", der den Winter immer in der Grenzschenke verbringt und Euphemia gegenüber „alte Stammrechte" genießt (95). Während der Eichmeister zwar aus Kummer darüber nicht direkt zur Mordtat schreitet, sondern in seinem Dienst „nur" immer strenger wird und damit noch mehr Menschen hinter Gitter bringt oder in den Tod treibt, wird Jadlowker rückfallig und erschlägt Eibenschütz. Der brave Maronihändler aus Bessarabien aber, der jeden Winter durch seine Gerüche von Schafspelz, verbrannten Kohlen und gebratenen Maroni den Flecken verzaubert hatte, den strengen Winter durch seine Kastanien für die Leute erträglicher machte, der mit seiner Physiognomie, seinem Sprachengemisch und seiner Bereistheit von der Bevölkerung der verlassenen Gegend durchwegs als Bereicherung angenommen worden war, dieser gutmütige und „sogar weichherzige Mann" verlässt nach den vielen erzwungenen Veränderungen den Bezirk Zlotogrod, um nie mehr in diese „giftige Gegend" zurückzukommen. „Und es schien ihm, daß ihm die Lerchen und die Frösche recht gaben" (64f. und 103). Damit geht diesem Landstrich der Monarchie ein weiterer wichtiger sozialer und kultureller Bezugspunkt verloren. Dort, wo die Rationalisierungsaktivitäten nicht selbst „Naturkatastrophen" und Menschheitstragödien gleichkommen oder diese überbieten, lösen sie
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Abb. 10: Eibenschütz kennt nun schon alle Familien des Städtchens und wie sie leben. Er bildete sich gelegentlich ein, es sei für einen Eichmeister gut, nützlich, ja sogar erforderlich, etwas Näheres über die Kaufleute zu erfahren, „Personalkenntnisse" nennt er das. Joseph Roth
jedenfalls welche aus. So schaut nach der Amtskontrolle der gesamte Markt „fast aus wie eine Schlacht", weil alle Leute ihre falschen Gewichte in den „silbergrauen Schlamm" warfen (41). Durch die verordneten Maße und Gewichte wird aber nicht nur der Schauplatz der Händler „wüst" und „verwüstet" (vgl. ebd.). Die gesamten sozialintegrativen Formen sind wie nach einem Erdbeben zerstört und hinterlassen im Chaos mannigfaltige Möglichkeiten für verbrecherische, mafiose Machenschaften. So fuhren die Bürokratisierungsmaßnahmen, selbst wenn sie nie direkt in lebensweltliche Strukturen eingreifen, zu deren Eliminierung auf verschiedenen Ebenen: Das vormalig existente Tabu, dass der Staat in gemeinschaftlichen, privaten Belangen nichts zu suchen habe, wird auf indirekte Weise massiv verletzt. Durch die Zerstörung durchaus funktionierender Netze und Kräfte werden neue Ordnungen hervorgebracht. Sie verweben sich mit den tatsächlich umgesetzten und langsam greifenden zentralistischen Maßnahmen, was
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mitunter kreative Energien freisetzt. Die sich daraus ergebende neue Ordnung soll im Folgenden in Bezug auf Komplexitätszuwächse, auf Machtprofite der Herrschaft und nicht zuletzt in Bezug auf Rationalisierung untersucht werden.
2 Ergebnisse der Bürokratisierungspolitik
Was passiert denn im „fernen Osten der Monarchie", in diesem ziemlich ausgedehnten Bezirk mit seinen vier größeren Dörfern, den zwei bedeutenden Marktweilern und dem Städtchen Zlotogrod, wenn Beamte tatsächlich ausfuhren, was die Zentrale Wien für diese Gegend vorsieht? Welche Auswirkungen haben Gesetze und Verordnungen, die tatsächlich exekutiert werden, auf eine Bevölkerung, fiir die neue Rechtsinstitutionen herausgebildet werden ? Und was bedeuten die Auswirkungen der Medien Macht und Recht schließlich für den Komplexitätszuwachs der Systemstrukturen ? Um diese Fragen zu beantworten, muss zuerst gezeigt werden, wo Joseph Roth die Vertreter des absolutistischen Staates agieren und in welchen Bereichen er sie Institutionen verankern lässt. Zentralobjekte des vormodernen Staates sind nach Habermas, wie ich schon erwähnt habe, Arbeitskraft und Gehorsamsbereitschaft der Untertanen. Insofern haben die Beamten einerseits den wirtschaftlichen Sektor zu regulieren und zu kontrollieren, andererseits gilt es ein Recht zu etablieren, dessen Einhaltung überprüft und dessen Verletzung bestraft werden kann. Aus diesen beiden zentralen Anliegen ergeben sich neue Sektoren: die (Schul-)Bildung und die Gesundheit. Auch auf diesen Gebieten muss sich der Staat engagieren, weil sonst weder die Verordnungen verstanden werden noch die Produktionsgewinne gehalten oder gesteigert werden können. In allen diesen Bereichen gibt es staatliche Durchdringungsversuche, und Joseph Roth gelingt es in unglaublicher Dichte und Schärfe, sie zu veranschaulichen. Nicht einmal der außenpolitische Aspekt bleibt in diesem schmalen Roman unerwähnt, wenn zu lesen ist, wie noch jede kleinste Notiz bezüglich ausländischer Deserteure dienlich und damit dienstlich zu verwenden ist. Für die Amter bedeuten die Bürokratisierungsschübe in erster Linie viel Schreibarbeit: Konzessionen, Berechnungen, Anzeigen, Verordnungen, Pro-
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tokolle. Zum anderen erweist sich auch eine verstärkte staatliche Präsenz als Notwendigkeit, nachdem zumindest den Händlern, Verkäufern und Gastwirten noch keine administrative Tätigkeit in Form von Steuererklärungen und Warenlisten abverlangt wird. Nicht zuletzt sind Waffen und bewaffnete Herren gefragt, die - bei Widerstand - mit physischer Gewalt das geltende Recht durchsetzen. Im Einzelnen tritt die Staatsgewalt für die Bevölkerung weisend und kontrollierend wie folgt in Erscheinung: - Im Wirtschaftsbereich verlangt sie Konzessionen für jede entgeltliche Tätigkeit, die ausschließliche Verwendung von staatlich geprüften Maßen und Gewichten sowie die Entrichtung von Steuergeldern. - Im juristischen Feld unterscheidet sie Grade von Vergehen und befindet über die je einzusetzenden Sanktionen. So legt sie beispielsweise fest, dass es schlimmer ist, den Staat und seine Beamten zu beleidigen, als Gott zu lästern. Sie ahndet Verbrechen wie Mord, Diebstahl, Bestechung und Ohrfeigen, verlangt und bezahlt Zeugenaussagen, führt mithilfe der Bevölkerung Leichenidentifizierungen durch und sorgt für die Institutionen Gericht und Gefängnis. - Vom bildungspolitischen Bereich liest man bei J. Roth nicht nur, dass sich der Staat unter vielem anderen auch um die schulpflichtigen Kinder kümmert. Er wird auch aufklärerisch aktiv, als es plötzlich mitten in der Cholerazeit rot zu regnen beginnt. Da schickt die Statthalterei eine Kommission aus gelehrten Herren, die „den Leuten in der Gemeindestube erklärten, der Blutregen sei ein roter Sand, der von weit her, aus der Wüste, durch ein besonderes, aber der Wissenschaft bekanntes Phänomen hierhergekommen sei" (74). - Die Gesundheit schließlich liegt dem Staat besonders am Herzen. Er verbietet neunziggrädigen Schnaps, sorgt für Impfungen und verbietet den Verkauf verdorbener Lebensmittel. Er schickt Arzte und Medikamente in die choleraverseuchte Gegend, in der er Sträflinge für Friedhofsarbeiten einsetzt, und die er letzten Endes mithilfe des Militärs evakuieren lässt. Bei jeder seiner Amtshandlungen sammelt er Daten und sorgt für deren Vernetzung, auf die er das Zugriffsmonopol hat, während sich die Bevölkerung meist mit Gerüchten weiterhilft. Auch die Beamten haben sich bisweilen mit Vermutungen zu begnügen. Das trifft dann zu, wenn es um Einstellungen und
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Versetzungen oder die Verteilung der fachkompetenten Verwaltungsaufgaben geht. Allerdings bietet der Staat auch eine kleine Dienstleistung für den Bürger in Form von Datenverschafiung an. Denn stirbt wer oder liegt wer im Sterben, werden die nahen Angehörigen oder zumindest die, die das Amt für die Angehörigen hält, vom Amtsarzt mit amtlichem Stempel davon in Kenntnis gesetzt. Handelt es sich allerdings nur um eine uneheliche Lebensgemeinschaft, dann muss der Partner nicht über Verurteilungen oder das Ableben informiert werden. Wenn hier die Bemühungen der Staatsgewalt vom sinnlichen, spannungsgeladenen Plot und der historischen Folie losgelöst wurden, so um die Widersprüche des bürokratischen Systems besser aufdecken zu können. Die eklatanten Folgen, die sich aus den geschilderten „Äußerungen des Staates" (vgl. Weber) ergeben, erscheinen nämlich als umso verwunderlicher, wenn sie vom Personal der Handlung und dem historischen Hintergrund abstrahiert werden. Ausgerechnet die „äußere Verfasstheit" ist es, die ins Wanken gerät, was dem aufklärerischen Impetus, der neben den herrschaftlichen Implikationen auch hinter den Aktivitäten steht, direkt widerstrebt. Aber in einer nicht industrialisierten und bäuerlichen, kaum schulisch gebildeten Gesellschaft nehmen bürokratische Strukturen, die auf keiner demokratischen und sozialrechtlichen Basis stehen, eigenartige Formen an. Wissenschaft und Behörde werden hier nicht einfach nur abgelehnt, sie stoßen auf reines Unverständnis oder lösen Furcht und Schrecken aus. Wenn die Angst in manchen Fallen auch berechtigt sein mag, so könnten die Staatsaktivitäten jedoch in vielen anderen Bereichen als strukturelle, administrative Hilfeleistungen angesehen werden. Bevor sich jedoch eine solche Wahrnehmung durchzusetzen vermag, hat sich längst eine andere Ordnung herausgebildet, die ganz anderswo Profite abwirft. Konkret sieht das so aus, dass etwa im wirtschaftlichen Bereich nicht nur ein Schwindel und Handel mit Konzessionen einsetzt, sondern auch ein Goldgrubengeschäft mit falschen Gewichten entsteht, auf die schließlich alle Händler angewiesen sind. Mit klarem Blick auf die ironische, ja tragische Dimension solcher Strukturveränderungen schildert Roth auch, wer mit den echten Gewichten handelt: Statt den braven, loyalen Leuten sind es ausgerechnet jene, die durch den Gewichte- und Konzessionenbetrug längst genug verdient haben. Sie sind es auch, die sich in den Gesetzen auskennen und die dadurch fast immer der Staatsgewalt entrinnen können. In dieser Stellung einmal etabliert,
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stehen ihnen genug Spitzel aus Bevölkerung und Behörde zur Verfügung, die sie stets rechtzeitig warnen. Somit können sie auch allen anderen Machenschaften in Ruhe nachgehen. Kleinere Gauner halten sich dagegen an kleinere Summen und reizen bloß, auf beinahe legale Weise, das Rechtssystem aus: Denn es gab zum Beispiel Menschen, eine gewisse Sorte von Menschen, die sich ohrfeigen ließen, freiwillig und mit Wonne. Sie besaßen die große Kunst, ein paar Männer, die ihnen aus dem oder jenem Grunde böse gesinnt waren, so lange zu reizen, bis sie Ohrfeigen bekamen. Hieraufgingen sie zum Bezirksarzt. Der stellte fest, daß man ihnen wehgetan hatte, und manchmal auch, daß ihnen ein Zahn ausgefallen war. Das nannte man: „Visum rapport". Hierauf klagten sie. Sie bekamen Recht und Entschädigung. Und davon lebten sie jahrelang (48).
Andere kleinere Gauner sagen absichtlich zugunsten der Anklage und gegen den Angeklagten aus, egal wie sie vordem von den Vertretern der Staatsgewalt schikaniert worden sind und egal was sie wirklich in der Angelegenheit denken : nicht aber aus Vertrauen zur Behörde oder aus Angst vor den Verbrechern, sondern bloß weil sie annehmen, dass sie ansonsten um das volle Zeugenentgelt gebracht werden könnten. Dass es sich bei diesen Geldern so oder so nur um die Sicherstellung eines äußerst bescheidenen Lebens handeln kann, wird daraus ersichtlich, dass sich einer der großen Fische, nämlich Kapturak, zusammen mit seiner Frau auch nur eine kleine, ärmliche Zimmer/Küche-Wohnung leisten kann (81). Der Schwindel mit den Papieren und Gewichten dient aber nicht nur dem Uberleben oder der Bereicherung, sondern wird auch für die Wiedereingliederung in der Gesellschaft nutzbar gemacht: Tot geschriebene Sträflinge können sich mit gefälschten Dokumenten wieder frei bewegen. Dass ihnen dieser Neuanfang nicht gelingt und sie wieder im Gefängnis landen oder tot an Bäumen hängen, liegt an der zwischenzeitlichen Zunahme an Staatsgewalt, die die Verdichtung der mafiosen Strukturen und die Zerstörung jeglichen sozialen Zusammenhangs sowie zahlreicher existentieller Grundlagen zur Folge hatte. Die Bevölkerung aber, die erst durch die Eingriffe der Staatsmacht zu einem regelrecht betrügerischen Volk werden kann und muss, wird auch noch ganz etwas anderes: nämlich panisch. Nicht nur jene haben Angst, die kontrolliert
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werden und etwas zu verbergen haben, es fliehen auch immer wieder Käufer vom Markt und aus den Geschäften, wenn sie die Insignien der Macht sehen, und zwar den Eichmeister in Begleitung des Gendarmen. Für diese Furcht stellt Roth verschiedene Vergleiche zur Verfugung: Die Angstlichen werden in Zahl und Größe dezimiert („man stelle sich eine zusammengeschrumpfte Null neben einer entsetzlichen Ziffer vor", 86), sie werden zu Tieren und rennen davon wie Kraniche (43) oder treten ab, als ob sie verprügelt worden wären, wie Hunde (53). Genausowenig wie den Kontrolloren traut die Bevölkerung den behördlichen Aufklärungsmaßnahmen und beharrt darauf, dass es sich beim roten Regen keineswegs um Wüstensand, sondern um ein schlimmes Zeichen handelt und bei der „Cholera" wie eh und je um die „Pest". So wirken Ordnung und Verordnung hinsichtlich von Rationalisierung und Zuwachs von Komplexitätsstrukturen kontraproduktiv auf die lebensweltliche und auf die Systemdimension, und das selbst, wenn man die zahlreichen Strafen beiseite lässt, durch die die Leute ins Elend gestürzt und erst recht dem Arbeitskreislauf entzogen werden. Nichtsdestotrotz wird die Bürokratisierung fortgesetzt. Warum dem so ist, könnte möglicherweise mit der Frage nach den Ursachen für die staatlichen Niederlagen beantwortet werden.
3 Ursachen für die Misserfolge der Bürokratisierungspolifik
Dass Joseph Roth so bestechend zeigen kann, wie die Imperative von außen nicht nur in die Lebenswelt eindringen, sondern auch die Organisation des Systems durcheinanderbringen, liegt vor allem daran, dass er seinen Text dualistisch strukturiert hat und jeweils den Kampf zwischen zwei Perspektiven zur Sprache bringt. Dabei geht es um streng voneinander getrennte oppositionelle Bereiche, die sich wie Schattierungen oder verschiedene Tiefen der zwei Habermas-Dimensionen ausnehmen. Folgende dichotome Paare strukturieren einzelne Passagen wie auch den gesamten Text: Nacht-Tag, NaturelementeGebrauchsgegenstände, Farben-Formen, Kinder-Erwachsene, Frauen-Männer, Vögel-Haustiere, Gefuhl-Ratio, Leidenschaft-Ehe, Lust-Norm, Güte-Strenge, Freiheit-Zwang, Gewissen-Gewissenhaftigkeit, Gott und Staat. Diese Gegensätze fuhren im Roman ständig zu unauflösbaren Konflikten, weil zwar die Landbevölkerung und die korrupten Beamten Partei zu nehmen vermögen, für
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Nacht, Gott, Gefühl, Leidenschaft, Lust, Freiheit, Gewissen, der Protagonist Eibenschütz hingegen zwischen den beiden Welten steht und damit mit den hartnäckigen Widersprüchen konfrontiert bleibt. Der Anspruch auf Recht, Moral und Richtigkeit wird von beiden Seiten erhoben, und beiden Seiten ist der Beamte Rechenschaft schuldig: einmal seinem Dienstgeber und andererseits seinem Gott. Insofern liegt das zentrale Problem für ihn darin, das Falsche vom Richtigen bzw. das Falsche vom Rechten bzw. das Falsche vom Echten nicht trennen zu können. Eben erst befreit von den Zwängen der Militärzeit und beordert in den fernen Osten der Monarchie, sehnt sich der Eichmeister Eibenschütz wieder nach eben diesen Zwängen zurück. Sie waren ihm seine einzige Heimat und die Uniform seine einzige Wohnung (vgl. 15). Folgerichtig fühlt er sich im Zivilgewand wie eine Schnecke, „die man zwingt, ihr Haus zu verlassen, das sie aus ihrem eigenen Speichel, also aus ihrem Fleisch und Blut, ein viertel Schnecken-Leben lang gebaut hat" (10). Auf Verlangen seiner Frau hatte er nämlich sein tapferes Leben (vgl. 13) verlassen müssen, das so „leicht und frei" und so geregelt gewesen war und wo die Verantwortung „irgendwo hoch über ihm [lag], er wußte selber gar nicht wo" (17). Vielleicht irritiert, dass Eibenschütz das Soldatenleben ausgerechnet als „frei" und „geregelt" zugleich bezeichnet: Aber genau in diesem Paradoxon drückt sich einer jener Widersprüche aus, die unter der Herrschaft der zwei Herren und Gewalten nicht auflösbar ist. Denn es ist schließlich der Zwang zur Freiheit, der als Unfreiheit verstanden wird, weil man diesem nicht entgehen kann. In dieser erzwungenen Freiheit muss sich ein Eichmeister ständig gegen den einen Chef den Staat, oder gegen den anderen, den Gott, entscheiden: für Tag oder Nacht, Formen oder Farben, Männer oder Frauen, Gewissenhaftigkeit oder Gewissen, Strenge oder Güte, Norm oder Lust. Insofern bedeutet jeder Akt, jede Aktion, ja bisweilen auch jeder Gedanke Gehorsam ««¿/ Verrat zugleich an echten und richtigen Dingen und Werten. In diesem Sinn entdeckt Eibenschütz, 37-jährig, nach 12 Jahren Dienst als Feuerwerker beim Militär allerorten Widersprüche. Ständig steht er zwischen den verschiedenen Welten oder einer einzigen Welt gegenüber, was noch schlimmer ist. Andererseits ist es genau diese Zwickmühle, durch die er sich mit den Leuten aus dem Bezirk Zlotogrod als Unwissender verbunden fühlt. Denn eben hieß es noch: „Was weiß ein armer Fisch ? Ach, und was weiß ein armer Mensch, Leibusch Jadlowker?" (41) Und bald darauf heißt es auch: „Ach,
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was weiß ein armer Eichmeister!" (51), wobei hinter diesem Jammer für Joseph Roth gar kein Frage-, sondern gar schon ein Ausrufezeichen passt. Aber wenn die Bevölkerung nur im Letzten nach Begründungen sucht, so tun sich dem Eichmeister bei allen Kleinigkeiten elementare Fragen auf. Unverständlich ist ihm, wie ein bewaffneter Mann in Uniform von den Schwalben reden kann oder warum man „sinnlos" Widerstand leisten und gegen die Verhaftung protestieren kann (42). Er versteht nicht, warum er immer nur gleichzeitig an die gesetzlichen Verfehlungen Jadlowkers und die Schönheit von dessen Geliebter denken kann, dass sich ständig beruflicher und menschlicher Ekel mit der schönen Sehnsucht nach Euphemia vermischen (36f.). Eingezwängt zwischen den verschiedenen Welten fühlt er sich „nackt, ganz nackt", und es ist ihm, „als hätte ihn das Schicksal ausgezogen". Am schlimmsten aber ist, „daß er gar nicht wußte, weshalb er sich schämte". Und dieses Unwissen besiegelt letztlich die Ausweglosigkeit seiner Situation, die ihn immer tiefer ins Verderben treibt. Als er den Auftrag bekommt, die Schenke Jadlowkers zu übernehmen, hat er Angst und weiß nicht wovor (53). Als er eines Tages dorthin zurückkehrt und sich eine Nacht lang niedersäuft, kann er bloß feststellen, dass „er gar nicht gewußt (hatte), daß er hierhergekommen war, um hierzubleiben. Wie einfach war das." (62f.) Später lässt er dort seinen Koffer stehen und glaubt, dass er dies „aus dienstlichem Pflichtgefühl" mache (67). Die Vermischung von Dienst- und Privatsphäre, die die österreichischen Literaten nur allzugern thematisieren, führt bei Roth nicht nur zu grotesken Situationen, sondern auch zu beunruhigenden Brüchen in der Erzähllogik. Dies gelingt dem Autor dadurch, dass er einen wissenden Erzähler schildern und aufklären lässt und durchwegs der Eindruck entsteht, dieser schaffe Durchblick und Kohärenz. Der Eindruck täuscht. Die Unvereinbarkeit der zwei Dimensionen äußert sich gerade im Scheitern des Erzählers. Exemplarisch ist etwa jene Textstelle, in der der angezeigte Broczyner mit dem Beamten und Gendarmen ein Gespräch sucht. „Aber sie waren beide dienstlich und strenge, das heißt, sie bildeten sich ein, daß sie dienstlich und strenge seien" (69). Warum sie sich das bloß einbilden, ist nicht im Mindesten nachvollziehbar und verwundert umso mehr, als die beiden die Anzeige wegen der Lappalie, der fünf falschen Pfundgewichte, nicht zurückziehen. So wie hier wird das Vertrauen der Lesenden immer wieder missbraucht, ohne dass jemals die Vertrauensbrüche thematisiert würden. Der Effekt ist, dass
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neben dem Protagonisten auch der Erzähler immer wieder zwischen den zwei Polen aufgerieben zu werden scheint. Dieses Leiden, das in Inkonsequenzen, logischen Fehlschlüssen und Widersprüchen sichtbar wird, betrifft auch Nebensächlichkeiten, die für verschiedene Grade von Gewissenhaftigkeit und damit für eine zentrale Problematik stehen: Wenn der Erzähler schreibt, dass sich Eibenschütz beim Militär immer abends rasierte und er, als erstes Zeichen der Nachlässigkeit, diese Körperpflege auf den Morgen verschiebt, verschärft er in seiner Erinnerung nicht nur die militärische Disziplin, sondern löscht auch die in Zlotogrod verbrachten Jahre im Handumdrehen aus: Denn einige Seiten zuvor war es noch nicht so, dass er sich als Feuerwerker schon nachts rasiert und gewaschen hatte, weil der Dienst bereits um sechs Uhr früh begann. Dort wurde noch ganz anderes behauptet: Gerade weil er es von der Dienstzeit her noch so gewöhnt war, „des Morgens eine halbe Stunde an nichts anderes zu denken als an die Zubereitung des Gesichts", behält er diese Gewohnheit auch als Eichmeister bei (67, 83). Fast scheint es, als ob der Erzähler denselben Gedächtnisausfallen und Umwertungen ausgesetzt ist wie sein Held, der zusehends dem Alkohol verfallt. Denn warum sollten vor dem unerbittlichen Eichmeister und sadistischen Gendarmen, der mit Attributen des Teufels versehen wird, nur noch „manchmal" Kunden fliehen, wo doch vordem, bei den bloß redlichen und manchmal sogar nachsichtigen Kontrollen, alle Käufer samt Geflügel auf und davon liefen - zudem sie früher mit Torheit, Hass, Misstrauen und unbestimmter Furcht gegenüber der Obrigkeit geschlagen und also auch rebellisch und eigenständig waren und inzwischen nur noch Angst hatten? (40, 86) Ebenso schwankt der Erzähler zwischen Komparativen und Superlativen und scheint sich damit mit dem labilen Protagonisten zu identifizieren, selbst wenn dafür die Kohärenz der Geschichte aufgegeben werden muss. Einmal wird die Kontroll- und Verhaftungstätigkeit so geschildert, dass „der Händler zitterte" und „manchmal aus dem Hinterzimmer des Ladens seine Frau heraus[kam]" und die Hände rang. „Alle Menschen fragten sich, warum die Cholera nicht den Eichmeister Eibenschütz getroffen hatte. Denn er wütete schlimmer als die Cholera." Einen Satz später wird die Steigerung im Vergleich mit der Seuche zurückgenommen und die Amtshandlungen vermögen nicht mehr deren Schrecken zu übertreffen, obwohl die Dramatik beträchtlich zunimmt. So schreibt der Erzähler:
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Wie die Cholera wütet er im Land. [...] Es kam vor, während seiner fürchterlichen Dienstvisiten, daß die Frau und die Kinder eines Händlers sich vor ihm auf die Knie warfen und ihn anflehten, keine Anzeige zu machen. Sie hängten sich an ihren Pelz. Sie ließen ihn nicht gehen. Aber der rothaarige Piotrak stand reglos daneben. An ihn wagte sich kein Weib, kein Kind heran, weil er in Uniform war (86f.).
Die Progression des Elends, um die es dramaturgisch geht, fuhrt demnach zu einer Regression der Wirkung, zumindest was den Vergleich mit der Seuche anbelangt. Oder hat man sich nur daran gewöhnt ? Wenn das Neue der Amtshandlungen an sich alles übertroffen hat, was man seither kannte, werden späterhin selbst eminente Verschlechterungen nicht mehr als derart drastisch empfunden. So oder so irritiert die Veränderung im komparativen Gebrauch des Bildes und provoziert die Lesenden. Vielleicht sollte man diese Ungereimtheiten der Erzählung auch ganz einfach als „Fälschungen", ja kleine Betrügereien ansehen, die den Erzähler auf die Seite der betrogenen Bevölkerung schlagen und ihn zusammen mit ihr gegen die Exaktheitsbegriffe, die aufoktroyierte Ordnungsgewalt ankämpfen lassen. Vielleicht wird aber auch erst durch diese Ungenauigkeiten die Zunahme an Macht auf der einen und die Zunahme der Ohnmacht auf der anderen Seite erst exakt wiedergegeben: Durch die maximale Anwendung der Gesetze, was lediglich ihre korrekte Anwendung bedeuten kann, wird auf allen Seiten Chaospotenzial frei, und alles, was kommunikative Sphären beinhaltet, reagiert mit Abweichungen von der Norm. Das scheint sogar in dem Maße zu passieren, dass selbst die Gesetze der Logik außer Kraft geraten. Dieser Schluss liegt nahe, insofern mit dem ersten scharfen behördlichen Gewaltakt - der Verhaftung, Prozessierung und Verurteilung der lebensweltlichen Autoritätsinstanz Leibusch Jadlowker - immer mehr Widersprüche in der Bewertung der Straftaten und des Strafausmaßes zum Vorschein kommen. So werden innerhalb weniger Seiten zweimal die Verwünschung gegen Gott (44, 48), einmal jedoch jene gegen Staat und Beamte als schlimmstes Vergehen bezeichnet. Außerdem bleibt rätselhaft, dass der Angeklagte für die erwiesenen Amtsbeleidigungen, die Gotteslästerung, den bewaffneten Widerstand gegen die Staatsgewalt und einen Mord bloß zwei Jahre bekommt (inklusive einem Fasttag pro Woche), wenn bereits auf die ersten
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beiden Vergehen „mindestens zwei ganze Jahre Zuchthaus" stehen (46). Hier kann nur die Strategie des Verteidigers aufgegangen sein, der daraufhingewiesen hat, dass sich die Gotteslästerung seines Mandanten nicht auf „Gott im allgemeinen" bezogen hätte, sondern auf „den Gott im besonderen: nämlich den Gott der Beamten" (49). Und vielleicht kann der denn doch etwas gnädiger mit Sünde umgehen, da ihm wirksame Strafinstitutionen zur Verfugung stehen. Der „allmächtige Gott" (ebd.) scheint jedenfalls nicht besonders gnädig und keinesfalls eine gerechte Instanz zu sein. Er verfahrt je nachdem, für wen er zuständig ist, verschieden. So geht der Erzähler mit dessen Eingriffsgewalt genauso widersprüchlich und ironisch um wie mit der Staatsgewalt. Einerseits kommentiert er das „klein wenig Herz" der Reichen, mit dem diese bei den Allerärmsten auch die verdorbenen Waren einkaufen und die dadurch „immerhin noch leben konnten", knapp mit: „so hilft Gott den Armen". Andererseits nimmt er diese schöne Seite von Gott kurz darauf gleich doppelt wieder zurück. Der Gott, der bei den Armen gerade noch für das nackte Uberleben gesorgt hat, und zwar nur für das, wird im Kontrast zum staatlichen Eingriff plötzlich einerseits besser, verliert aber andererseits an den Unterprivilegierten jedes Interesse. Denn „woher nimmt ein Mendel Singer zwei Gulden funfundsiebzig und weitere drei ? Gott ist sehr gütig, aber Er kümmert sich nicht um so winzige Beträge" (91). In einem weiteren Rückgriff auf die Präsensform wird Gott wenige Sätze später noch eindeutiger zum Komplizen der Staatsgewalt. Denn Eibenschütz wollte etwas sagen. Er will zum Beispiel sagen: es geht nicht, lieber Mann, es ist Gesetz. Er will sogar sagen: ich hasse dieses Gesetz und mich auch dazu. Aber er sagt nichts. Warum sagt er nichts ? Gott hat ihm den Mund verschlossen, und der Gendarm stößt Mendel Singer fort (ebd.).
Damit wird - betont und verallgemeinernd durch Roths Tempuswahl - der Sieg des Gesetzes veranschaulicht, der nicht nur gegen die Bevölkerung, sondern auch über das Gewissen und über einen humanistischen, ausgleichenden Gottesbegriff gefeiert werden kann. Der modernisierte Gott wird sogar selbst aktiv, um die Rebellion zu verhindern und Gewissen sowie Mitleid abzutöten. Nicht zuletzt gestaltet der Autor durch die Hauptsatzreihe eine Umordnung der dualistischen Welt, durch die der Widerspruch parallel gefuhrt werden kann. Gott und der Gendarm, Täter und Machthaber, sind Subjekte; das aufmüpfige
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Sprachorgan des Beamten und die sich auflehnende Person als lebensweltliche Kontrahenten der Subjekte sind Objekte der Macht; die ohnmächtigen Objekte werden durch die Subjekte eliminiert, was durch die Verben „verschließen" und „fortstoßen" signalisiert und durchgeführt wird. Mit dieser Situation kann Eibenschütz, dessen Hände gebunden, dessen Mund verschlossen, dessen soziales und religiöses Gewissen aber unausrottbar sind, nicht fertig werden. Der Höhepunkt, auf den Roth die paradoxe dualistische Welt zuspitzt, wird gegen Ende des Romans in einem Traum des sterbenden Eichmeisters realisiert, in dem auch Gott als der „Große Eichmeister" den Widerspruch aushalten muss. Denn obwohl sich Eibenschütz als Händler mit tausend, zehntausend falschen Gewichten vor ihm zu verantworten hat und er sich sofort mit dem Argument „Dienst ist Dienst!" vor jeder Anklage schützt, kann es zu keiner Verurteilung, letztlich aber auch nicht zur Absolution kommen. Das liegt an zwei ganz verschiedenen Tatbeständen, die letztlich die Ausweglosigkeit der Situation begründen: Der erste besteht darin, dass die Bevölkerung ihre eigenen lebensweltlichen Strukturen nicht los werden kann, wenn es dafür keine Alternativen gibt. Und der Staat kann diese nicht bieten. Das heißt: Obwohl Kontrolle und Sanktionen Angst machen, muss gegen das Gesetz verstoßen werden, um das Uberleben im Allgemeinen und die soziale Lebensfähigkeit im Besonderen zu garantieren. So träumt sich der Beamte in die Rolle des Händlers, der gerade kontrolliert wird, und denkt: „Gut, mögen sie jetzt die Gewichte prüfen [...]. Falsch sind sie, aber was kann ich dagegen machen? Ich bin ein Händler wie alle Händler in Zlotogrod. Ich verkaufe nach falschen Gewichten." Der zweite Tatbestand betrifft den Konflikt zwischen staatlicher und moralischer Instanz, die sich quasi gegenüberstehen. Dennoch entzieht Roth nicht einer von beiden einfach die Berechtigung. Das zeigt sich schon darin, dass Gott als Eichmeister daherkommt und Zeit braucht, um die Gewichte zu prüfen. Das zeigt sich aber auch daran, dass er die gesetzlich unkorrekten Gewichte nicht nur als richtig, sondern zugleich auch als falsch bezeichnet. Und das zeigt sich letztlich auch daran, dass er um die Richtigkeit seiner Position nicht weiß, sondern auch nur daran „glauben" kann. So sagt der Große Eichmeister zum Händler Eibenschütz: „Alle deine Gewichte sind falsch, und alle sind dennoch richtig. Wir werden dich also nicht anzeigen! Wir glauben, daß alle deine Gewichte richtig sind. Ich bin der Große Eichmeister" (102).
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Abb. 11: Drittens ferner hätte Jadlowker mit seiner Gotteslästerung gar nicht Gott im allgemeinen, den allmächtigen Gott gemeint, sondern den Gott im besonderen: nämlich den Gott der Beamten: „Euer Gott!" hätte er gesagt. Joseph Roth
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Das zentrale Problem bei der Durchsetzung der Rationalisierungsstrukturen kann also mithilfe des dualistischen Systems von Habermas geklärt werden und kulminiert bei Roth schließlich in einer Frage, die den armen Beamten verrückt macht. „Bald glaubte der Eichmeister Eibenschütz, daß er irre geworden sei, nur weil ihm der Satz eingefallen war: ,Wer regiert denn überhaupt die Welt?'" (67) Man muss sich die Zeit nehmen und die Formulierungen des Autors näher anschauen. Denn dass die Frage als „Satz" etikettiert wird, mit dem, abgesehen von der wissenschaftlichen Definition, eine Aussage bezeichnet wird, die keine Antwort haben kann, lässt insofern an eine psychische Störung denken, als eine offene Situation als ausweglos registriert und empfunden wird. Zudem beruht das Verrücktwerden, das sich nicht einfach einstellt, sondern von dem er „glaubt", befallen worden zu sein, auf einem Einfall. Nicht zufallig beinhaltet der Einfall - mit den Synonyma „Gedanke, Idee, Eingebung, Erleuchtung, Intuition, Inspiration, Geistesblitz"128 - durchwegs positiv bewertete Konnotationen und schließt an sich unbeantwortbare Fragen aus. Als ironisch müssen zudem die Partikel „denn" und „überhaupt" angesehen werden, die eine lakonische Distanz zwischen dem Fragenden und seiner Frage schaffen. Nichtsdestotrotz provoziert dieser Einfall fürchterliche Gefühle. Denn dem Eibenschütz seine „Furcht war so groß, daß er, wie um ihr zuvorzukommen und sein Schicksal selbst zu erfüllen, sich im Bett aufrichtete und laut den Satz aussprach: ,Wer regiert eigentlich die Welt?'" Damit wird das Mittel beim Namen genannt, das das schlimmste und effektivste sein könnte für die Emanzipation der Gesellschaft und das auch der kritischen Theorie zugrunde liegt: sich aufrichten und Sätze aussprechen, die den Widerspruch sichtbar werden lassen. Dass das allein noch nicht genügen mag - wie es 1937 im Pariser Exil kurz vor dem Zweiten Weltkrieg oder unter Kaiser Franz Joseph im fernen Osten der Monarchie kurz vor dem Ersten Weltkrieg nicht genügte -, kann vielleicht mit jenem ausstehenden Paradigmenwechsel begründet werden, den die kritische Theorie mit Jürgen Habermas in den Nachkriegsjahren vornahm: durch die Verschiebung des Fokus von der Handlungsorientierung zur Handlungskoordinierung, statt dem kommunikativen Primat der Zielgerichtetheit den Originalmodus im Sich-Verständigen anzunehmen. An die Stelle des freien Willens des Subjekts muss Intersubjektivität treten: 128 Duden. Die sinn- und sachverwandten Wörter. Mannheim/Wien/Zürich 1986
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Das Gewicht verschiebt sich von dem, was jeder (einzelne) ohne Widerspruch als allgemeines Gesetz wollen kann, auf das, was alle in Übereinstimmung als universale Norm anerkennen wollen.129
Andererseits kommt in dieser dramatischen Szene eine zweite Problematik zutage, die in den zwei integrativen Mechanismen wurzelt: Das System greift in lebensweltlich strukturierte Bereiche ein und Eibenschütz muss dennoch fiir ersteres stehen. In den Worten von Joseph Roth liest sich diese Problematik als Gleichnis, bei dem Eibenschütz einem Menschen ähnlich wird, „der aus Angst vor dem Tode einen Versuch unternimmt, sich zu töten. Aber er lebt weiter und fragt sich: Bin ich eigentlich schon tot? - Bin ich eigentlich schon wahnsinnig?" (67) Die Furcht, die realen Verhältnisse zu erkennen, die schrecklicher sind, als man es sich auszudenken wagt, treibt Eibenschütz in der Panik dazu, sie auszusprechen : sich mit ihnen zu konfrontieren. Aber wie der Selbstmord misslingt, weil die Angst dennoch triumphiert, so scheitert auch die Erkenntnis, weil sie das Todesurteil für Eibenschütz bedeuten würde: für Eibenschütz als kleinem Beamten, als redlichem Staatsdiener, genauso wie für Eibenschütz als formal korrektem Ehemann: Der Satz wird zwar laut ausgesprochen, aber nur vom Sprecher gehört. Hier stellt sich nicht nur die Frage, ob denn immer dasselbe kolonialistische Szenario entstehen muss, wenn Staatsgewalt ausdifferenziert wird, sondern auch die Frage nach Möglichkeiten der Emanzipation. Es stellt sich nicht nur die Frage nach den Ursachen für die ständige Ausbreitung der Subsysteme, sondern auch nach den Widerstandsnestern, die in sie eingebaut werden, von allen, die Versuche herrschaftsfreier Kommunikation unternehmen. Denn wenn es keine Kanäle und Straßen gibt, wie sie von den Untertanen im römischen Reich benutzt werden konnten, kein Bewässerungssystem, das ägyptischen Landsleuten das Leben erleichterte, keine Erleichterungen durch Berechnungen der Überschwemmungen wie im Alten China oder nirgendwo ein Recht auf Arbeit und Sozialwohnung wie in den sozialistischen Ländern, dann kann sich der bürokratische Feldzug niemals mehr als einen Pyrrhussieg erhoffen. Statt Wirtschaftswachstum, mehr Wohlstand, weniger Naturgewalt oder einem kleinen 129 Vgl.J. Habermas: Kommunikatives Handeln und Moralbewußtsein. Frankfurt 1983. S. 77
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bisschen Existenzsicherung lauert - wie in den Provinzen der k.k. Monarchie - als gefahrlichster Gegner der Kolonialherrn „der Satz": „Wer regiert eigentlich die Welt?", der stets ausgesprochen und womöglich auch diskutiert und infrage gestellt werden könnte.
4 Strategie und Verständigung im Kolonisationsprozess
Verankert der Staat Rationalitätsstrukturen in Institutionen der Lebenswelt, die das moralische Bewusstsein verkörpern, dann wird die Herrschaft von der Bevölkerung selbst mitgetragen. Das heißt, jeder sieht die Gesetze nicht nur als legal, sondern auch als legitim an. In undemokratischen Gebilden, in denen der Staat nichts außer Ordnungsgerüste aufstellt und Steuern kassiert, bleibt er Feind, nicht nur der Bevölkerung, sondern kann er auch zum Gegner seiner Diener werden, die sich der Lebenswelt der Untertanen nicht so einfach entziehen können. Um die Diskrepanzen zwischen Herrschaft und Bevölkerung auszuhalten, müssen sie sich arrangieren. Möglichkeiten hierfür werden von Joseph Roth einige aufgezeigt: Die Verwalter verbringen viel Zeit im „Sparverein der älteren Staatsbeamten", dem „Sequester, Konzipisten und sogar Gerichtsadjunkte" angehören. Sie spielen, lassen sich bestechen, bestechen selbst, betrügen „Gott und die Welt und die Vorgesetzten. Aber auch die Vorgesetzten betrogen wieder ihre höheren Vorgesetzten, die in den weiten, größeren Städten saßen." Damit haben sie weniger vor, sich zu bereichern, sondern gestatten sich eher ein Minimum an Lebensfreude: Sie frönen ihrer „Lust am Betrügen" (16). In den Landgemeinden wird der verbotene Schnaps getrunken, mit den Leuten Karten gespielt und mit den Frauen der Beamten und der Gegend das Abenteuer gesucht. So gestatten sich die Staatsvertreter ein Leben, das zwar trist, aber auch wieder ein bisschen lustig ist, und sie erweisen sich wie die ausgebeutete Bevölkerung durchwegs als beziehungs- und kommunikationsfahig. Das ist für den Typus des kleinen und mittleren Beamten in der österreichischen Literatur, der fast immer fundamentale Probleme mit seinen Mitmenschen hat, eine wahre Besonderheit. Idealbild dieser sozialen Überlebenskunst ist der Wachtmeister Slama, der auf Dienstreise, bewaffnet und in Uniform von den Schwalben schwärmt (40), der zwanglos und korrekt mit dem Gauner verkehrt: „Sie werden wir auch noch erwischen, Herr Kapturak! Noch eine
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Partie gefallig?" (56), der teilnahmsvoll den privaten Erzählungen seines Kollegen lauscht, auch seine eigenen Probleme zu schildern vermag (68f.) und sich schließlich von Beamten und Bevölkerung freundlich zu verabschieden weiß, als er versetzt wird: „Gewissenhaft, wie er war, ging er überall hin, um Abschied zu nehmen, trotz der Cholera, und sogar von den Leuten, die er gern verhaftet hätte" (81). Der Eichmeister Eibenschütz weiß hingegen mit seiner Umwelt so gar nichts anzufangen und ist deshalb nicht nur bei der Bevölkerung, sondern auch im Verein der Beamten nicht gern gesehen. Gleichermaßen problematisch sind seine zwiespältige Redlichkeit und die ausgeprägte kommunikative Störung. Die Kombination dieser beiden Charakteristiken ist allerdings fatal, zumal flir einen Beamten, was Joseph Roth in vielen Facetten zu schildern vermag. So weiß er nicht, wie mit den Denunziations- und Drohbriefen umgehen (17f.), oder er erfindet selbst einen falschen Sachverhalt und leitet die Anzeige an seine Vorgesetzten weiter, um seinen Schreiber loszuwerden (31). Dies verhindert nicht, dass er selbst weiterhin blind der Echt- und Korrektheit amtlicher Schreiben vertraut (88), in denen er trotz aller Berufserfahrung nicht nur einen „verborgenen Nebensinn", sondern sogar „Geheimnisvolles" sucht (54). Als ihn ein von ihm selbst Angezeigter über den Treuebruch seiner Frau infomiert, misstraut er dem Schreiben, obwohl dem Informanten keine Denunziation mehr nutzen kann (22). Als Eibenschütz, beeinträchtigt vom ständigen Alkoholkonsum, nicht mehr weiß, was er dem Schreiber am Vortag alles gesagt hat, verwendet er Kräfte und Anstrengung lediglich dafiir, Erinnerung vorzutäuschen (84). Wie im privaten Bereich und im papiernen Amtsalltag versagt der brave Eibenschütz auch im Außendienst kläglich. Während die Bevölkerung das „Gespräch sucht" (69), schimpft, klagt, fleht, schreit (42), sich als Händlergemeinschaft solidarisiert (ebd.), nur angesichts der Staatsvertreter zu einer schweigenden Mauer erstarrt (41) und ein Gauner dem anderen auch unter widrigsten und gefahrlichsten Umständen weiterhilft (80f.), leidet der Eichmeister stets still und sanft (41ff.), verstummt, obwohl er nicht will (91), und spricht schließlich verworren und jeder Situation unangemessen. Noch schlimmer wird die Situation, als er mit dem neuen Gendarmen unterwegs ist, der den liebenswerten Slama ersetzt hat. Mit ihm versandet das Gespräch über die tragische Verhaftung Mendel Singers in den Sätzen „Redlich ist niemand!" und „Gesetz
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ist Gesetz", selbst wenn beiden Staatsdienern nicht wohl dabei ist (92). Unter seinem Einfluss entwickelt sich Eibenschütz zu einem „neuen Eibenschütz", der spricht: Gesetz ist Gesetz, und hier steht der Wachtmeister Piotrak, und ich war selbst zwölfjahre Soldat, und außerdem bin ich selbst sehr unglücklich. Und Herz habe ich nicht im Dienst (87).
Lose verknüpft als Hauptsatzreihe, wirft der Exekutor der armen Bevölkerung nicht nur Aussagen über Staat und Staatsgewalt, sondern auch Sätze über sein eigenes verpfuschtes Leben entgegen, als ob dieses für die behördliche Angelegenheit Relevanz hätte. Dabei wird klammheimlich die vordem vergötterte Soldatenjugend zum Ursprung des Elends erklärt, die Eibenschütz tatsächlich jeder lebensweltlichen Dimension beraubt hatte. So deutlich wird die Erzählung sonst nur in der reduzierten, wirren Sprache des Protagonisten. Steht ihm der mehr vergleichende als kommentierende Erzähler beiseite, bleibt der Unmut unausgesprochen und die kritische Wertung des Militärs ausständig. Typisch hierfür ist die Auseinandersetzung mit dem Schreiber Novak, der sich mit der Frau des Eichmeisters zusammengetan und mit ihr ein Kind gezeugt hatte. Als ihm Eibenschütz die Entlassung und Versetzung mitteilt, wird der „junge, ehrgeizige Mann" nach dem ersten Wort unterbrochen. .„Schweigen Sie!', rief Eibenschütz, wie er dereinst auf dem Exerzierplatz geschrien hatte, als er noch Feuerwerker gewesen war" (32). Warum jedoch weder Ehe noch Zivilberuf den Protagonisten kommunikationsfahig machen können, mag auch an jenen Motiven liegen, die ihn und andere Unteroffiziere zum Heiraten veranlassen. Es beruhe auf einer sonderbaren Einsicht der Situation, so der Erzähler, dass sich Soldaten irgendwann plötzlich für Natur und Lebenswelt entscheiden. Denn „ach, sie sind einsam, die längerdienenden Unteroffiziere! Nur Männer sehen sie, lauter Männer! Die Frauen, denen sie begegnen, huschen an ihnen vorbei wie Schwalben. Sie heiraten, die Unteroffiziere, sozusagen um wenigstens eine einzige Schwalbe zu behalten" (10). Während sich aber die festgehaltene Schwalbe des Eichmeisters, der eingesperrte Zugvogel, an die neue Situation anpassen will und kann, spricht, liebt, sich befreundet, ja es sogar schafft, todkrank dem Mann von ihrer Liebe zu ihm zu erzählen, endet Eibenschütz ihr gegenüber im kommunikativen und
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sexuellen Bankrott. Sowohl gegenüber seiner Frau als auch gegenüber seiner Geliebten bleibt er stumm, findet kein schönes, freundliches Wort - bisweilen gar keins - und verliert naturgemäß alle beiden Frauen an andere Männer. Unproblematischer sind die Gegenstände. Mit ihnen setzt sich Eibenschütz auseinander und entwickelt intensivere Gefühle als zu den Menschen. So sieht er das Strickzeug seiner Frau als „einen gefahrlichen, giftiggrünen Knäuel mit zwei dräuenden Nadeln" und in einem „Stückchen Strumpf das eigentlich aussah wie ein Überrest, ein noch nicht geborenes und schon zerstückeltes Werk" (16). Diesen Feinden gegenüber werden andere grüne Objekte zu den allerbesten Freunden des Eichmeisters, so etwa die „zwei grünbeschirmten Lampen" in seinem Amtszimmer, die die einzigen sind, mit denen er sich unterhalten kann (25). Wie die Dinge, so können auch manche Tiere des Eichmeisters Herz gewinnen, und es verwundert nicht, dass er niemals an einen Kameraden zurückdenkt, sich aber glücklich an Namen und Gesichter der Pferde erinnert, die „rückwärts, im Hintergebäude der Kaserne" hausten (33). Treuester Gefahrte war ihm sein „Amtsschimmel" Jakob, der sogar mit positiven Attributen versehen wird, die der Erzähler ansonsten nur sehr sparsam einsetzt: Jakob sei „immerhin ein staatlicher Schimmel", besitze „ansehnlichstes Temperament", bewege sich „mit ehrgeiziger Eleganz und mit dem Elan eines aktiven Kavalleriepferdes" und habe winters wie sommers denselben „eleganten Galopp" (10f.). Die Doppelbedeutung des Begriffs „Amtsschimmel", der seit dem 19. Jahrhundert „Bürokratie" bezeichnet und entweder auf das österreichische „Simile" (Formular) oder tatsächlich auf die Pferde der Amtsboten zurückgeht, kommt hier jedenfalls zur vollen Geltung. Dies gilt umso mehr, als im Gegensatz zwischen wörtlichem und metaphorischem Sinn sowohl die Kluft zwischen den Dimensionen als auch die Geschichte der Bürokratisierung zur Sprache kommt. Wie bei der homonymen Begriffsverwendung, bei der sich das lebendige, elegante Pferd mit einem Musterformular des Alten Osterreich, „nach dem bestimmte wiederkehrende Angelegenheiten schematisch erledigt wurden", 130 den Namen teilen muss, erfährt auch Joseph Roths Protagonist die Welt als 130 Duden. Das Herkunftswörterbuch. Eine Etymologie der deutschen Sprache. Mannheim/Wien u.a. 1963
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Konglomerat gigantischer Homonyme: Ständig muss er sich zwischen sittlichen und sinnlichen oder gegenständlichen und metaphorischen Bedeutungen entscheiden. Und wie beim Amtsschimmel auf das Pferd fokussiert wird, interessieren den Eichmeister weniger die Behördengänger als die Natur. Von Anfang an machen poetische Landschaftsbeschreibungen ziemlich deutlich, dass es Eibenschütz, auch wenn er die slawische Sprache beherrscht, „nicht so sehr darum [ging], zu verstehen, was die Menschen sagten, sondern was das Land selber sprach" (12). Selbst wenn man dem Eichmeister keineswegs Romantik oder differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit zutraut: Jahreszeiten, Blumen, Vögel, Wind oder die Sonne beeinflussen seine Gedanken und sein Gemüt nachhaltig (vgl. etwa 12f.). Umso eigenartiger mutet denn auch die plötzliche Erkenntnis des Beamten an, der - längst in ganz anderen Lebensumständen - plötzlich einen Wandel in seinen Natureindrücken zu bemerken glaubt. „Warum empfand er auf einmal alle Veränderungen in der Natur? [...] Warum nur fühlte der Eichmeister Eibenschütz plötzlich alle Veränderungen in der Natur?" (57) Wie an anderen Stellen des Romans scheint der Protagonist zusammen mit dem Erzähler in Amnesie verfallen zu sein. Die Widersprüchlichkeit erweist sich als umso brisanter, als es in dieser Passage ausgerechnet um Selbsterkenntnis geht und der Beamte über sich ein Stück Wahrheit erfährt. Nicht nur, dass hier also pauschal zentrale Kontinuitäten der Persönlichkeit missachtet werden: Es wird auch ein Zusammenhang zwischen Natur- und Menschenwahrnehmung expliziert, der nun endlich nicht nur dem Erzähler, sondern auch seiner Figur bewusst wird. Denn „merkwürdigerweise mußte er selbst feststellen, daß ihn seine wachsende Empfindlichkeit gegenüber den Vorgängen der Natur auch empfindlicher machte gegen die Schlechtigkeit der Menschen" (58). So zerstören die um Ordnung und Transparenz bemühten Bürokratisierungsmaßnahmen des Staates nicht nur die sachlogischen Zusammenhänge der treuen Diener, sondern selbst derer, die darum zu schreiben bemüht sind - und es tut eigentlich nichts zur Sache, ob dieses Wahmehmungs- und Kommunikationschaos dem alkoholkranken Autor selbst bewusst war oder nicht: Vor dem Hintergrund schmerzvoller Erfahrungen mit dem Staat verwächst sich die Trennung zwischen bürokratischen Verfahren und Fragen des guten Lebens, zwischen Schimmel und Schimmel. Diese Verschwommenheit ist am Leiden des Beamten, an der Multiplität der Gottesautorität und den Brüchigkeiten des Erzählens
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Abb. 12: Es schien ihm, als könnte er mit ihnen sprechen. Wie Menschen waren sie, eine Art lebendiger, milder, leuchtender Menschen. Er hielt stille Zwiesprache mit ihnen. „Halte deinen Plan ein", sagten sie ihm grün und gütig, wie sie waren. „Glaubt ihr wirklich?" fragte er wieder. „Ja, wir glauben es!" sagten die Lampen. Joseph Roth
ebenso ablesbar, wie es jene überrascht, die selbstgewiss glauben, das System durchschaut zu haben, und säuberlich in bürokratischen Strukturen denken. So passiert es selbst dem gewieften Leibusch Jadlowker, dass da „plötzlich ein unbekannter Paragraph auf[steht], und wenn es nicht auf den Paragraphen ankommt, so erwacht zum Beispiel eine ungeahnte Leidenschaft in einem Beamten" (41). Wenn eine bürokratische Spitzfindigkeit auch eklatante Verunsicherung hervorrufen kann - die Folgen, die durch einen in lebensweltlicher Leidenschaft entbrannten Verwaltungsangestellten entstehen, schlagen alles: Maximale Unordnung und Unberechenbarkeit fuhren dazu, dass mit allem zu rechnen ist. Nicht zuletzt wird mit diesem Sinneswandel des Eichmeisters eine These gestützt und auch ausformuliert, die in der österreichischen Literatur nicht immer unwidersprochen stehen gelassen wird: „Beamte sind auch Menschen" (ebd.).
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Von Anfang an ist Anselm Eibenschütz mit nichts anderem beschäftigt, als den Spagat zwischen Lebenswelt und System zu verkraften, zwischen Gefühl und Verstand, Gott und Gesetz. Dass er daran mit dem Erzähler und dem alten gütigen Gott, der auch von der Gesetzesmoral korrumpiert ist, scheitert, liegt in der Natur der Sache. Vielleicht hätte es dem Eichmeister zumindest geholfen, wenn er regelmäßig Zeitungen gelesen hätte, dann wären ihm vielleicht manche Zusammenhänge klarer gewesen. Andererseits hätte es ihm vielleicht genutzt, wie der ruthenische Bauer Onofrij taub zu sein. Denn der begreift alles (58) und ist letztlich der Einzige, der den Leibusch Jadlowker erkennt, als er unter falschem Namen, nach Gefängnis und Flucht wieder in seiner Schenke von Szwaby auftaucht. Sieht er so gut oder so klar, weil er nicht vom amtlichen Schreiben, das den Tod des Häftlings bescheinigte, verwirrt war, weil er von diesem Brief nicht Kenntnis hatte? Vielleicht. Jedenfalls lässt der Erzähler die bestechende Aussage des tauben Knechts unkommentiert stehen, mit der er Jadlowkers Bedenken besänftigt. „Nur an der Stimme" erkenne man den Totgeglaubten. Dagegen hat selbst der gewitzte Verbrecher nichts einzuwenden (100).
So wird die Paradoxie des Sprechens deutlich, die mit ihrem Gegenstand, den widersprüchlichen Situationen, nicht fertig werden kann. Wie Erzähler und Eichmeister, so kann ihr auch der Kaiser Franz Joseph mit seinem Beamtenund später mit seinem Soldatenheer nichts anhaben. Alle bewirken nur Verelendung. Vielleicht muss gemeinsam mit seinem Erzähler und Protagonisten auch der Autor selbst mit seinen habsburgischen Bemühungen in den 3 OerJahren als Opfer der Kolonialisierung angesehen werden, die für redliche Menschen selbst logische Gesetze außer Kraft setzen. Jedenfalls erteilt dieser kleine Roman jeder Habsburgmythisiererei eine klare Absage. Außerdem verdeutlicht er auf vielfaltige Weise Facetten der systemischen Problematik: Eine Invasion des bürokratischen Subsystems vermag das gesellschaftliche Selbstverständnis in höchstem Maße zu verändern, selbst wenn der Staat weitab jeder lebensweltlichen Dimension agiert.
B B Ü R O K R A T I S C H E H E R R N IM R E I C H D E R S I N N E Albert Drach: Untersuchung an Mädeln. Kriminalprotokoll131 Geschlechtsverkehr! Ein solches Wort serviert einem diese sogenannte Kultur. Für das Höchste, wozu man im Stande ist, für die Handlung, die einen so zu sich selber kommen läßt wie keine andere, dienen sie einem ein Wort an, das in einer Behörde konstruiert worden sein muß. Den Beamten ist kein Vorwurf zu machen. Die konnten ja nicht wissen, daß das Wort über den Gesetzestext hinaus verwendet werden würde [...].
Martin Waber Wie in Joseph Roths Text, in dem Beamte auf ihren Rationalisierungsfeldzügen in slawischen Monarchiegebieten beschrieben sind, kann die Bürokratie auch bei Albert Drach als expanisve Gewalt gelesen werden: Auch hier wird nämlich gehörig durchrationalisiert, wenngleich sich das staatliche System in andere Bereiche vorwagt und sich vor allem direkt an der „symbolischen Reproduktion der Lebenswelt" vergreift. An die Stelle autonomer Dorfkulturen tritt im Kriminalprotokoll sinnlicher Teenageralltag und an die Stelle marktpolitischer Vereinheitlichung durch vorgeschriebene Maße und Gewichte die Institutionalisierung von Lust, Gewalt, Zufall und Gefühl. Was dort einem absolutistischen Staatengefüge nützen sollte, dient hier einem chauvinistischen Machtapparat, der im modernen Osterreich an die Tradition der Hexenprozesse anknüpft, die selbst im Mittelalter erstaunlich bürokratisch durchgeführt wurden. Das dualistische System allerdings, das bei Joseph Roth noch fast säuberlich in die zwei Dimensionen trennbar ist, wird bei Drach im Stil zusammengezwungen und verliert infolgedessen beinahe jede dialektische Bewegung. Die Zerstörungsgewalt des Staates, des Systems, des Wissenschafts- und Justizapparats fallt damit auf fruchtbaren Boden und 131 A. Drach: Untersuchung an Mädeln. Kriminalprotokoll. München 1995
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löst durch diesen Siegeszug beim Leser, der vergeblich freundliche, vertraute Lebenswelt sucht, einen emotionalen Skandal aus. In terminologischer, syntaktischer und argumentationstechnischer Feinstarbeit wird das Ende herrschaftsfreier Kommunikation vorgeführt und zugleich die Sehnsucht danach provoziert. Das Zwanghafte dieser Lektüreeffekte liegt auch in der Thematik des Buches begründet: Gegen zwei junge Frauen, die beim Autostoppen vergewaltigt worden sind, wird ein Mordprozess geführt, weil angenommen wird, dass sie den Täter umgebracht haben. Der Justizapparat rekonstruiert jedoch weniger den Tathergang als das intime Leben der zwei Angeklagten bis ins kleinste Detail. Zwar kann den beiden nicht der Mord nachgewiesen werden, zumal gar nicht feststeht, dass der Vergewaltiger überhaupt tot ist, jedoch findet über moralische Urteile und die sprachliche Bearbeitung ihrer Vergangenheit durch den Protokollanten, den fiktiven Autor, eine permanente Verurteilung statt. Der Schuldspruch muss gar nicht mehr gefällt werden. Was passiert eigentlich in Adoptions-, Vergewaltigungs-, Missbrauchs-, Vormundschafts-, Scheidungsprozessen mit den Gefühlen, Trieben, der Zärtlichkeit, der Leidenschaft, dem Hass und der Liebe? Wie wird das, was seit Jahrtausenden in Lyrik verpackt oder facettenreich in nonverbaler, verständigungsorientierter Kommunikation ausgelebt wird, wie wird das alles rechtstauglich gemacht? Viele Jahrhunderte lang galt die Gefühlswelt für die Justiz als irrelevant, nur die Triebwelt war durch Normen verschiedentlich geregelt, auch wenn diese immer wieder radikalen Veränderungen ausgesetzt waren. Seit der sukzessiven Invasion von Recht in das Reich der Sinne, durch mühsames Ausdifferenzieren von Gefühlshaushalten, sublimen Gewaltanwendungen und psychosozialen Pathologien kann man einerseits im Privatbereich immer mehr Verbrechen ausmachen und ahnden; andererseits verlieren entscheidende Lebensweltfaktoren allmählich an Autonomie und der selbstsichere und selbstverständliche Umgang damit geht verloren. Zuständigkeits-, Kompetenz- und Legalitätsfragen ersetzen nach und nach Sinn-, Lust- und Legitimitätsfragen. „Die Suche nach dem guten Leben", die es ja immer gibt, wird durch die Suche nach den geltenden Normen ersetzt. Sie gerät zunehmend in den rechtspolitischen Kontext und wird damit dem Kompetenzbereich der Lebenswelt immer mehr entzogen. Dafür installiert der Staat mit dem Pathos von Wissenschaftlichkeit und Objektivität Moralvorstellungen als Institutionen, die über das Hin-
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tergrundwissen der lebensweltlichen Dimension hinausgehen und spätestens seit dem 19. Jahrhundert immer mehr auch aufklärerischen Zielen verpflichtet sind. Allerdings besteht die Gefahr, dass nur der althergebrachte Regelkanon im Rechtssystem weitertradiert und bloß verstärkt, weil von der Behörde anerkannt wird. Durch bürokratische Mittel wird er auch de jure unhintergehbar gemacht, egal ob er gegen jede aufklärerische und emanzipative Ordnung oder sogar im Gegensatz zu gesatzten Menschenrechten steht. Solcherart passiert in Albert Drachs „Untersuchung", die mit syntaktischen und lexikalischen Anleihen aus der Rechts- und Verwaltungssprache verbreitete Vorurteile ausmacht und diesen Form und Status von Urteilen verpasst. Insofern geht es im Kampf gegen „abartige" Trieb- und Verhaltenshaushalte lediglich um deren einseitige Funktionalisierung durch das Rechtssystem, wodurch gerade diskriminierende Männerfantasien institutionalisiert werden. Damit kann die eine Herrschaft durch die andere verstärkt werden, was einer Monopolisierung gleichkommt. Technisch wird das möglich gemacht, indem eine der zentralen Voraussetzungen für eine ethisch einwandfreie Bürokratisierung zwar nicht missachtet, aber umgangen wird: Denn nach Jürgen Habermas müssten die Personen innerhalb des Kontingenzspielraums abstrakt und allgemein normierter Handlungsbereiche schon so weit autonom handeln können, daß sie ohne Gefährdung der eigenen Identität von moralischen Zusammenhängen verständigungsorientierten Handelns auf rechtlich organisierte Handlungsbereiche umschalten können.132
Jetzt werden in Drachs Text zwar lebensweltliche Handlungsbereiche in einen rechtlichen Kontext gestellt, die dominanten Lebensweltregeln jedoch minutiös beibehalten. Indem Drach sie in einem Protokoll thematisiert, das mit zahlreichen fachsprachlichen Elementen durchsetzt ist, erscheinen sie als institutionalisiert und legal, obwohl einige Wertungen von schwächeren Teilen der Gesellschaft kaum akzeptiert werden können: von Frauen, Jugendlichen und Kindern. Diese bleiben in ihrer Identität und Autonomie 132 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. A.a.O. Bd. II. S. 470
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nach wie vor gefährdet, nachdem sie aus beiden Perspektiven heraus - der lebensweltlichen und systemischen - bloß als Objekt behandelt oder als Instrument gehandelt werden. Dafür geht die herrschende Gruppe, d.h. die herrschenden Männer, gestärkt aus dem Bürokratisierungsprozess hervor. Zu ihrer Entlastung wird jenes Handeln legalisiert, das nur vorgeblich verständigungsorientiert geführt wird, das jedoch immer schon fiinktionalisiert war und als solches strategisch verfolgt wurde. Insofern bewirkt die Legalisierungsarbeit eine Stärkung der lebensweltlichen Autoritäten und deren Deutungshegemonie. Um diese Leistung vorzuführen und gleichzeitig die herrschende Moral der Lebenswelt zu entlarven, zentriert Albert Drach die Inhalte der Gerichtsverhandlung in der Welt der Sinne. Nicht der Mord, der de jure verhandelt wird, ist de facto zentrale Angelegenheit des Gerichts und des zusammenfassenden Protokolls, sondern das Triebleben. Die Mordanklage wird zur Anklage gegen Mädchenkultur, Lust, Abenteuer, die Verteidigung eine Verteidigung von Missbrauch und anderer sexueller Gewalt. Statt Motiven wird die Veranlagung untersucht, statt auf Indizien und Beweise des Tatgeschehens besonderen Wert zu legen, wird nach der Entwicklung der „kriminellen", sexuellen Gesinnung der Verdächtigten geforscht. Das Urteil schließlich muss gar nicht mehr verkündet werden, weil die Schuldhaftigkeit prinzipiell feststeht und bereits Satz für Satz gefallt wurde: gegen weibliche bzw. jugendliche Autonomie und Sexualität. Demnach passiert in Drachs Bürokratisierungsprozess zweierlei : Einerseits werden Handlungen weniger nach ihrer Faktizität, sondern mehr nach ihrer moralischen Berechtigung hinterfragt. Hier könnte man sagen, dass sich die Lebenswelt des Systems bemächtigt. Andererseits macht sich institutionalisiertes Recht dort breit, wo es nach Habermas nichts zu suchen hat: in Bereichen der lebensweltlichen Dimension, die sich auf die „symbolische Reproduktion" bezieht und von verständigungsorientiertem Handeln auf strategisches Handeln umstellt. Im Prozess der Institutionalisierung werden Jugendliebe, Freundschaft, private Trauer, Erotik, Solidarität kriminalisiert bzw. ausgelöscht. Hier gilt umgekehrt, dass sich das System der Lebenswelt bemächtigt. Diese beiden dialektisch funktionierenden Prozesse werden via rechtlicher Mittel und mit dem vorgeblichen Ziel der Urteilsfindung durchgeführt.
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So gelingt es über Verhöre, Vernehmungen, Gutachten und das zusammenfassende Protokoll schrittweise, die privaten, intimen Angelegenheiten zu überformen, die dadurch nicht nur rechtsrelevant gemacht und rationalisiert werden, sondern auch rückwirken auf die Lebenswelt: „Strukturelle Gewalt" wird angewandt, indem Systemintegration in soziale Integration eingreift.133 Zugleich aber wird auch der „lebensweltliche Konsensvorschuß"134 innerhalb eines Wertepanoramas ausgemacht, das frauenfeindlich und menschenverachtend ist. Will man der Handlungstheorie von Habermas folgen, muss man sich jedoch jenseits der inhaltlichen Werte, der Fragen des guten Lebens, d.h. der Sittlichkeit bewegen. Wo die Lebenswelt zuständig ist, sind die Analyseinstrumente des Systems nicht anwendbar. Stattdessen geht es darum, die Verfahren zu untersuchen und in ihren Abweichungen von idealen Handlungen zu charakterisieren und zu bewerten. Durch die „kommunikative Rationalität", die in apriorischen Bedingungen von Verständigung eingelassen sei und Einigungsprozeduren ermögliche, habe im optimalen Fall jeder die gleichen Chancen, Handlungen infrage zu stellen oder zu begründen. Kommt es jedoch zu strafrelevanten Ereignissen, tritt der Staat auf der den Diskurs managt oder durch seinen eigenen ersetzt: Anhand juristischer Argumentation und Sprache setzt er sich mit den zu klassifizierenden Handlungen und deren Geltungsansprüchen auseinander. Für das zentrale Thema in Drachs Text würde das bedeuten, folgenden Perspektiven nachzugehen: Nicht, ob die verschiedenen sexuellen Vereinigungen gut oder schlecht waren, schön oder unbefriedigend, darf der juristische Diskurs klären, sondern lediglich, ob es wahr und legal war, dass sie in dieser Form stattfanden. Insofern hätte sich das Gerichtsverfahren nach Habermas auf folgende Fragen zu beschränken: Hat es sie tatsächlich und geradeso gegeben ? Und war es richtig, dass es sie gegeben hat oder verletzten diese Handlungen gesetzliche Normen ? Insofern hat sich der Gerichtsdiskurs notwendig vom Alltagsdiskurs zu unterscheiden. Der Prozess der Urteilsfindung kann nicht kooperativ vorgehen wie die Sexualpartner, sehr wohl aber argumentativ. Denn dem Gericht kann es nicht darum gehen, zu einem Einverständnis der Beteiligten zu gelangen, son133 Ebd. S. 278 134 Ebd. S. 272
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dem bloß darum, eine korrekte Darstellung und eine gesetzeskonforme Beurteilung zu erarbeiten. „Als Protagonist einer gerechten Entscheidung"135 muss das Gericht dafür den Weg zu den Handlungen sowie Absichten, Gründe, Zweck nachzeichnen, sofern sie der Urteilsfindung dienlich sind. Wie das Kriminalprotokoll Drachs von diesen Aufgaben abweicht, soll über eine Analyse der argumentativen, syntaktischen und lexikalischen Mittel gezeigt werden. Indem der literarische Text auf ein mannigfaltiges Instrumentarium aus der systemischen und lebensweltlichen Ordnung zurückgreift, ergibt sich die Chance, die systemimmanente Problematik, die zwangsläufig habermasschen Idealen zuwiderläuft, herauszustellen und in ihren fatalen Auswirkungen auf die Lebenswelt nachvollziehbar zu machen.
1 Die s t r a t e g i s c h e I n s t i t u t i o n a l i s i e r u n g sexueller H a n d l u n g s b e d i n g u n g e n
Um zu zeigen, wie Drach Handlungen und Effekte von Verrechtlichungsprozessen herausarbeitet, werde ich vorerst den Anfang des Romans, den ersten Satz, analysieren: Wieviel Sprachtechnik der Protokollant allein in den ersten Zeilen zum Einsatz bringt, ist erstaunlich. Sie könnte der Verwirklichung diskursethischer Ideale dienen: Dann würde das fachsprachliche Instrumentarium zur Realisierung einer besonders wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe eingesetzt. Es ist aber auch möglich, dass damit strategische Ziele verfolgt werden: Vielleicht weist die Fülle an fachsprachlichen, syntaktischen Mitteln und Argumentationstechniken auf gewichtige Anliegen des Protokollführers hin, die er versteckt halten will. Dann würden aber nicht nur ganz allgemein diskursethische Ideale, sondern auch entscheidende Grundsätze der juristischen Arbeit verletzt. Denn in der Tat ist ein Gerichtsprotokoll unparteiischer und neutraler Darstellung verpflichtet. Als „genauer schriftlicher Bericht über Verlauf und Ergebnis" eines Verfahrens136 hat das „Protokoll" lediglich dafür zu sorgen, im Nachhinein den Prozess in seiner Urteilsfindung nachvollziehbar zu machen. Dass
135 P.-L. Völzing: Begründen. Erklären. Argumentieren. Modelle und Materialien zu einer Theorie der Metakommunikation. Heidelberg 1979 136 Vgl. Duden. Das große Fremdwörterbuch. A.a.O.
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es durch die notwendige Kürzung und Verschriftlichung zu Entstellungen und Glättungen kommt, lässt sich nicht vermeiden. Wie umfassend und wirkungsvoll aber das Ideologisierungspotenzial eines Protokolls sein kann, wird nirgends sonst so penetrant vorgeführt wie im vorliegenden Stück Literatur von Albert Drach. Es soll Wind gegeben haben, und diese Versicherung erscheint glaubhaft, wenn festgehalten wird, daß die Röcke, nämlich die unteren äußeren Kleidungsstücke der Weibspersonen, in Bewegung gerieten und die Anschauung der dann noch dürftiger bedeckten Oberschenkel zuließen, so daß sich Männer veranlaßt fühlten, ihre Kraftwagen anzuhalten und auf das Angebot der beiden, an der noch unvollendeten Autobahn wartenden sogenannten Mädel einzugehen, indem diesen zur Mitfahrt die Wagentüren geöffnet wurden (7).
Was in diesem ersten Romansatz direkt oder indirekt ausgedrückt wird, ist ausgesprochen vielschichtig. Zum einen weist sich der Schreiber als zuständiger Vertreter einer Behörde aus, der durch Argumentationstechnik und syntaktische Mittel sachlich, exakt und kompetent einen Auftrag ausführt. Zum anderen wird bereits ersichtlich, dass er eine monopolistische Strategie verfolgt. Als Anwalt des Systems und als Vertreter der Lebenswelt arbeitet er daran, die beiden Dimensionen ineinander zu verweben. Inhaltlich führt der Schreiber in diesem Satz nicht nur in die Fakten ein, die die Autostopperszene betreffen, sondern deutet auch an, was weiterhin passieren wird. Das geht so weit, dass er in seinem ersten Satz bereits das Wesentliche der Urteilsfindung vorwegnimmt sowie die Auslegungsphilosophie des Gerichts bekannt macht. Um darzulegen, wo diese Deutungen und Bedeutungen abzulesen und wie sie angelegt sind, ist es notwendig, Argumentationstechnik und syntaktische Instrumente zu analysieren.
A) DIE HARMLOSE ARGUMENTATION
Weil der Satz lang und kompliziert ist, kommt man den uneindeutigen Zusammenhängen nur auf die Schliche, wenn man ihn in seine Bestandteile zerlegt und die einzelnen Argumentationsschritte nachvollzieht. Das grammatika-
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lisch korrekte Satzgewebe transportiert seine Aussagen nämlich nur scheinbar schlüssig und sachlich. Wo aber verrät sich die Strategie ? Wo kann man das, was als objektive Rekonstruktion daherkommt, als persuasive Argumentation entlarven? Anschaulich wird die zu überprüfende Ausgangsthese durch Kausalketten für die Leserschaft nachgewiesen. Korrekt bleibt der Protokollant dabei, sie bis ans Satzende als These stehenzulassen, ohne sie in ein Faktum umzudeuten. Der klimatische Sachverhalt, der Wind, den es wahrscheinlich gegeben hat, wird als nicht sicher ausgegeben und von allen möglichen Wirkungen abgeleitet. So beinhalten die beiden Hauptsätze, die parallel gesetzt sind, eine harmlose These - es hat Wind gegeben - und die Einschätzung ihres Wahrheitsgehalts: Angeblich hat es Wind gegeben. Die Nebensätze aber, die die positive Einschätzung der These begründen, sind in ein kompliziertes Argumentationsmuster eingebaut, das sich nicht einmal exakt abbilden lässt, weil die Funktionen der Konjunktionen nicht eindeutig sind (s.u.). Dennoch versuche ich die Argumentationskette schematisch darzustellen. Ich bilde sie nach ihrem syntaktischen, chronologischen, nicht aber nach ihrem pragmatischen Bauplan nach, um die raffinierte Strategie belegen zu können. These: „Es soll Wind gegeben haben" Das ist die (physikalische) Ursache für die folgenden Wirkungen und Handlungen. Sie gibt die Aussage Dritter wieder. Einschätzung der These: „und diese Versicherung erscheint glaubhaft" Das heißt: Wahrscheinlich stimmt es, dass es Wind gegeben hat. Sie gibt eine allgemein vertretbare Einschätzung der These wieder. Bedingung der Verifizierungsschritte: „wenn festgehalten wird" Sie gibt entweder eine mögliche Handlung des Protokollführers wieder oder aber eine gesicherte Einschätzung der dann folgenden Auswirkungen. Wer für diese Auswirkungen bürgt, ist unklar: Sind es Zeugen, der Protokollführer oder handelt es sich bloß um logische Schlussfolgerungen ? Folge 1: „dass die Röcke [...] in Bewegung gerieten" Das ist eine physikalische Wirkung.
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Folge 2 der Folge 1: dass sie dadurch „die Anschauung der dann noch dürftiger bedeckten Oberschenkel zuließen" Das ist ebenso eine physikalische Auswirkung und zugleich ein Grund fiir eine Interaktionsmöglicheit. Folge 3 der Folgen 1 und 2.: „so daß sich Männer veranlaßt fühlten" Das Interaktionsangebot wird angenommen. Ein Handlungsimpuls ist entstanden. Folge 4 von 1 und 2 sowie nähere Bestimmung von Folge 3: „ihre Kraftwagen anzuhalten" Eine Handlung wird gesetzt sowie die Interaktion (aus Folge 3) spezifiziert. Folge 5 der Folgen 1,2 oder nähere Bestimmung von Folge 3: „und auf das Angebot der [...] Mädel einzugehen" Eine 2. Handlung wird gesetzt: Die Interaktion (aus Folge 3) wird noch einmal und anders spezifiziert als in Folge 4. Folge 6 von 1,2 sowie Bestimmung des Mittels von Folge 5: „indem diesen zur Mitfahrt die Wagentüren geöffnet wurden." Die Art der 2. Handlung wird charakterisiert, die Mittel oder Bedingung für den Zweck (in Folge 5) ist. Taktisch brillant wird durch die scheinbar durchsichtige Argumentation das Anliegen des Protokollanten und der „Männer" deponiert, ohne es direkt als eigenes Anliegen entlarven zu müssen: Sexuelle Annäherungsversuche und in Folge eventuelle Vergewaltigungen sind durch den Wind, die mangelhafte Bekleidung und das einladende Verhalten der Frauen verursacht. Neben einer Reihe syntaktischer Mittel greift der Protokollführer für diese impliziten Äußerungen auf vier verschiedene argumentative Strategien zurück. Erstens wird die These mit der Begründung verkehrt. Was die Gewaltakte begründen soll, der Wind nämlich, wird argumentationstechnisch als Annahme platziert und umgekehrt: Die entscheidende
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These, die Amoralität der Mädchen, die durch die Wetterverhältnisse besonders evident werde, platziert der Autor als Begründung für die These Wind. Die Frage, um die es an dieser Stelle des Prozesses geht, ist jedoch nicht, ob Wind gegangen ist, sondern wie es zur Vergewaltigung gekommen ist, oder ob es sich statt um einen Gewaltakt um einen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehandelt hat. Diese Frage wird in den Nebensätzen beantwortet, die allerdings nur zur Stützung der Zeugenaussage (Wind!?) eingesetzt werden. Durch diese Verkehrung von These und Begründung muss die eigentliche Anklage weder belegt noch argumentiert werden. Stattdessen wird sie in eine komplexe Kettenreaktion eines klimatischen Sachverhalts eingebettet, die aus einem Konditionalsatz, zwei davon abhängigen Inhaltssätzen, zwei sich darauf beziehenden Konsekutivsätzen sowie einem davon abhängigen Modalsatz besteht. Die Argumentation ist nur stimmig, wenn es darum geht, ob es Wind gegeben hat. Das versteckte Anliegen wird als Begründung dieser harmlosen Hypothese mitgeliefert und kann demnach nicht so einfach infrage gestellt werden. Zweitens wird ein wichtiges Glied in der Argumentationskette übersprungen und kommt erst hinterher verkürzt als Fakt zur Sprache: das „Angebot". Denn die zweite und entscheidende Begründung für das Handeln der Männer sind nicht so sehr die freien Beine, sondern dass diese als Hinweis auf ein Angebot der Mädchen interpretiert werden. Dafür transformiert der Protokollant beinahe mit marktwirtschaftlicher Raffinesse eine Nachfrage in ein Angebot. Denn die Mädchen wollen mitfahren und bedürfen somit der Hilfe. Es ist daraus nicht ableitbar, dass sie dafür etwas anbieten möchten. Weil diese Umdeutung nicht argumentiert und spezifiziert wird, muss sich der Protokollant auch nicht dezidiert darüber äußern. Es bleibt offen, ob bloß die Männer davon ausgehen, dass es hier ein (sexuelles) Angebot gibt, oder ob die Mädchen von sich aus ein solches stellen und mit ihren Beinen darauf aufmerksam machen wollen. Bedenklich ist zudem, dass nicht erklärt wird, was im Angebot alles „mitinbegriffen" ist: Handelt es sich bloß um „Anschauung" aus nächster Nähe (Mann schaut auf nackte Beine einer Beifahrerin) oder ist auch ein „Gebrauch" im Offert inkludiert? Wenn ja, dann ist mitnichten festgelegt, ob bloß sexuelle Annäherungen oder auch Geschlechtsakte akzeptiert sind.
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Die dritte Verschleierungstaktik des Protokollführers besteht darin, dass die Argumentation auf zwei Annahmen aufbaut, wobei aber nur auf die erste eine Beweisführung folgt. So wird von der behördlichen Instanz die mögliche „Uberzeugung [...] von der Wahrscheinlichkeit einer Tatsache" 137 nur begründet, sofern es um den Wind geht. Die Aussage aber, dass die Röcke flatterten und die Oberschenkel sichtbar wurden, wird bloß „festgehalten" und nicht auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft. Das Problem liegt beim Begriff „festhalten", der semantisch nicht eindeutig zuordenbar ist: Entweder geht es um die Aufzeichnung von etwas oder aber um das Beharren „an einem Glauben, einer Meinung, Uberzeugung"138. Der Unterschied zwischen diesen beiden Bedeutungen ist allerdings beachtlich und im Kontext einer Begründung entscheidend, zumal diese Aufzeichnung bzw. diese Meinung die erste These zu stützen hat. Die Ungenauigkeit ist umso verwegener, als gerade diese zweite Behauptung eine moralische Interpretation beinhaltet und die Schuld bzw. Mitschuld der Mädeln begründet. Denn dabei wird ausgedrückt, dass nicht das Wetter allein zu Vergewaltigung und Mord gefuhrt habe, sondern die Mädeln selbst das Ihrige bzw. das Wesentliche dazu beigetragen hätten. Durch den Einsatz eines Modalpartikels und des komparativ gebrauchten Adjektivs wird ihre moralische Unbedenklichkeit und ihr gefahrliches Spiel mit Reizen „festgehalten": die Oberschenkel seien durch den Wind nämlich „dann noch dürftiger" bedeckt gewesen. Das bedeutet, dass die Mädeln so und so zu wenig anhatten und wohl einen Minirock getragen haben mussten, was beim Autostoppen - nach Ansicht des Gerichts - auch ohne physikalische Ursachen wie Wind und Regen sexuelle Handlungen provoziert. Weil der Protokollführer ausgerechnet hier aber nicht deutlich wird und bloß die ohnehin logische Definition von Röcken beifügt, nicht aber die Art derselben spezifiziert (Länge, Material), könnte es sich auch um eine reine Annahme handeln: Denn ab wann gilt, dass Körperteile zu dürftig bedeckt sind ?
137 Vgl. Zum juristischen Begriff der „Glaubhaftmachung" H. Russwurm/A. Schoeller: Österreichisches Rechtswörterbuch. 1600 Rechtsbegriffe praxisnahe erläutert. Wien 1997. S. 35 138 Vgl. Der kleine Wahrig. Wörterbuch der deutschen Sprache. München 2000
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Die vierte Argumentationsstrategie wendet der Protokollant bei den letzten Folgen (3-6) an. Diese integriert er insofern unklar in den Zusammenhang, als offen bleibt, ob die Folgen auf Zeugenaussagen beruhen oder als logische Konsequenzen anzusehen sind. Damit baut der Protokollant ausgerechnet die entscheidendste Frage im Kontext der Verhandlung auf Undefinierten Aussagen auf. Denn ist es einfach nur logisch, dass die Männer stets einschlägig auf nackte Beine reagieren oder beruht dieses Verhalten auf Aussagen von vorbeifahrenden Männern, die eben so veranlagt sind und also dafür auch die Verantwortung zu tragen haben ?
B) DAS I M P O N I E R E N D E S A T Z G E F Ü G E
Damit die Argumentation nicht als fragwürdig entlarvt wird, präsentiert sie der Autor in einem langen, komplizierten Satz: Es handelt sich dabei um eine Hauptsatzreihe, der fünf zum Teil mehrgliedrige Gliedsätze angefügt sind. So kann sich der Beamte als fachkompetent ausweisen. Beim Rezipienten wird durch das komplizierte Satzgefüge der Impuls unterdrückt, sich näher in der Syntax umzusehen: Sei es, weil er durch den hohen Komplexitätsgrad von der Legitimität des Schreibers bereits überzeugt ist, sei es, weil er überfordert ist und glaubt, nicht mehr durchblicken zu können. Der Verdacht aber, dass der Protokollant auch auf dieser Ebene strategisch handelt, lässt sich bestätigen: Die entscheidenden Bindewörter sind unpräzis und im argumentativen Zusammenhang äußerst problematisch. Die erste und wichtigste fragwürdige Konjunktion ist das konditionale „wenn", das anstelle eines kausalen Bindeworts die Begründung der These einleitet. Die Konjunktion „wenn" besagt hier nur „im Falle dass" oder „unter der Bedingung dass". Damit bleibt offen, wer festhält bzw. aufgrund welcher Fakten oder Aussagen „festgehalten wird", dass der Wind die „noch dürftiger bedeckten Oberschenkel" entblößt hat. Wir wissen also nicht einmal mit Sicherheit, ob diese Auswirkungen tatsächlich festgehalten, gesagt oder aufgeschrieben wurden. Genausowenig wissen wir, ob es diese Auswirkungen tatsächlich gegeben hat. Interessant ist, dass man diese Verknüpfung auch so auslegen könnte, dass es die Auswirkungen nur dann geben hat können, wenn die weiteren Folgen eintraten: dass Männer angehalten haben usf. Dann wäre die Deutung miteingeschlossen, dass
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Männer nur anhalten, wenn sie durch nackte Oberschenkel gereizt werden. Damit würde die ganze Argumentation letztlich umgekehrt und weder die explizite These des Windes noch die implizite These des „Angebots" wäre begründet. Die zweite unpräzise Konjunktion ist das konsekutive „sodass", es leitet einen Nebensatz ein, der dem Konditionalsatz untergeordnet ist. Damit beinhaltet der Nebensatz eine Schlussfolgerung des vorangegangenen Satzes: Wenn die Beine angeschaut werden können, dann nehmen die Männer das Angebot der jungen Frauen wahr. Wie in der Argumentationsanalyse sichtbar wurde, überspringt der Protokollant hiermit die entscheidende „Folge": Durch die konjunktive Verknüpfung wird diese implizite Aussage noch mehr verschleiert. Denn nicht das Eingehen auf ein Angebot ist Auswirkung der nackten Beine, sondern dass es überhaupt plötzlich zu einer Art „Angebot" kommt. Eine dritte unpräzise konjunktivische Verwendung lässt sich im additiven Bindewort „und" nachweisen, durch das die beiden Aktionen der Männer aneinandergereiht werden: Männer halten ihre Autos an und gehen auf das Angebot ein. Die zweite Handlung ist aber gar keine Handlung, sondern bloß das dahinterliegende Ziel der ersten und müsste insofern klarer, etwa durch eine finale Konjunktion, ausgewiesen werden: Männer halten ihre Autos an, um auf das Angebot einzugehen. Nachdem der Protokollant aber ein aneinanderreihendes Bindewort einsetzt, entsteht der Eindruck, dass die Männer denn doch bloß auf die Nachfrage der Mädchen reagieren und sie einfach nur im Auto mitnehmen: dass sie selbst eben keinen Zweck verfolgen. Diese Interpretation wird jedoch durch den Begriff „Angebot" unwahrscheinlich gemacht. Der tatsächliche strategische Hintergrund für die Verwendung der additiven Konjunktion muss also woanders liegen. Das modale Bindewort „indem" gibt schließlich Aufschluss darüber, obwohl vordergründig wieder dieselbe (unwahrscheinliche) Auslegung nahegelegt wird. Die Konjunktion „indem" kennzeichnet nämlich ein Mittel: Hier muss es ein Mittel sein, durch das es den Männern möglich wird, auf das „Angebot" einzugehen. Deshalb werden den Mädchen die Wagentüren geöffnet. Auf etwas einzugehen bedeutet aber, sich damit auseinanderzusetzen oder zu beschäftigen.139 Das würde heißen, dass die Beschäftigung mit dem Angebot 139 Der kleine Wahrig. A.a.O.
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sich darauf beschränkt, den Mädeln die Wagentüren zu öffnen. Das aber ergibt keinen Sinn, es sei denn die Mädel als solche sind das „Angebot" und die Beschäftigung beginnt bereits damit, dass man sie an Land zieht. Mit dieser Interpretation würde plötzlich auch das Bindewort „und" passen: Verständlich wird, warum zur Auseinandersetzung mit dem Angebot nicht gehört, die Wagen anzuhalten und es eingehend(er) zu betrachten. Erst durch die Aneignung gehen die Männer darauf ein. So hat der Protokollant durch die Sprachmittel die Autostopperinnen vom Anschauungsobjekt in Konsumartikel transformiert. Diese Wandlung gewinnt umso mehr an Schärfe, als die Mädeln selbst als Anbieterinnen ausgewiesen werden. D.h., der Protokollant hat bereits in seinem ersten Satz seine Deutung zu platzieren vermocht: Stella und Esmeralda haben nicht nur zu kurze Röcke getragen oder bewusst Reize eingesetzt, sondern auch ein Angebot gemacht und sich allen nur möglichen Männern wie Prostituierte angeboten.
C) V E R S C H L E I E R N D E P A S S I V F O R M E N
Damit diese Funktionalisierung verbreiteter „lebensweltlicher" Vorstellungen Autostopperinnen können und wollen konsumiert werden - nicht allzu plump auftritt, wird sie, wie gezeigt, in einer Argumentation über eine klimatische Begebenheit untergebracht. Wie der Protokollant zudem als kompetent punkten und als Systemsprecher figurieren kann, zeigt er durch die „wissenschaftliche Fachsprache", in der „die Abstrahierung und Intellektualisierung von Inhalten keineswegs durch Fremdwörter verursacht sein müssen"140. Durch beigefugte Definitionen, wie jene für die Röcke, die Zustandserklärung der Autobahn oder durch das den Mädeln zugeordnete Attribut „sogenannte" (weil noch nicht präzisiert) wird dieser Eindruck schließlich noch verstärkt. Der Schreiber gibt damit vor, exakt und den Tatsachen treu zu bleiben und diese möglichst vollständig einzubeziehen. Vor allem aber liegt es an seiner Vorliebe für passivische Formen, durch die er den Anschein erweckt, distanziert und objektiv zu sein. Das Passiv und Formen mit Passivsinn machen etwa 40 % in den Verwaltungssprachen aus141 und sollten laut Duden jedoch nur zu etwa 7 % in der allgemei-
140 P. Braun: Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache. Stuttgart/Berlin u.a. 1987. S. 155 141 Vgl. H. Wagner: Die deutsche Verwaltungssprache der Gegenwart. Düsseldorf 1970
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nen Schriftssprache verwendet werden. 142 Dass Albert Drach in seinem ersten Satz nicht nur zahlreiche passivische Formen einsetzt, sondern auch gleich alle pragmatischen Möglichkeiten dieser Verbform für die verdeckte Strategie realisiert, zeigt wieder seinen souveränen Umgang mit Sprache. Dadurch, dass das Passiv „täterabgewandt" und „vorgangsorientiert" ist, müssen weder die Zeugen genannt werden noch jene, die rückschließen und schlussfolgern. Denn wer hat gesagt, dass Wind gegangen ist? Die Glaubhaftigkeit der These und das Festhalten der Wirkungen kann entweder auf der Meinung des Protokollanten oder der Allgemeinheit beruhen, ja die Wirkungen könnten überhaupt nur auf verallgemeinerte Schlussfolgerungen zurückgeführt werden, wodurch sich die Argumentation des gesamten Satzes komplett ändern würde. Sie würde dann wie folgt aussehen: Halten wir einmal folgende Tatsachen fest: Röcke geraten in Bewegung, Beine lassen sich sehen, Männer nehmen sie als Anlass wahr. Damit das passieren kann, muss der Wind gehen. Weil das in der Tat passiert ist - Thuguts sexuelle Handlungen sind der Beweis dafür -, muss der Wind gegangen sein. Den nächsten strategischen Vorteil gewinnt der Protokollant dadurch, dass mittels Passivformen Vorgang und Zustand als bewirkende Faktoren etabliert und also die sexuell interessierten Männer als folgerichtig Agierende, d.h. als Reagierende ausgewiesen werden. Damit scheinen Triebe, Geilheit und letztlich Vergewaltigung demselben Reflex unterworfen wie die Röcke und die Wagentüren, die durch physikalische Einwirkung in bestimmter Art verändert werden. Nähere Betrachtung lohnen hier die drei passivischen Begriffe „Anschauung", „Angebot" und „veranlasst werden": etwas wird angeschaut, etwas wird angeboten, jemand wird veranlasst. Der Protokollant schreibt, dass die physikalischen Reaktionen eine „Anschauung" verursachen, aber verursacht wird nur, dass sie gesehen und nicht, dass sie angeschaut werden. Mit dieser nicht begründeten Transformation des passiven Wahrnehmens zum aktiven Betrachten werden die weiblichen Körperteile zu Anschauungsobjekten gemacht und lösen Handlungen aus. Damit kommen wir zum zweiten problematischen Begriff, zum „Angebot", in dem gleich die ganze Frau als Anbieterin ausgewiesen wird. 142 Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Mannheim/Wien u.a. 1984. S. 176
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Die durch die Argumentation zu Fakten erhobenen Zustände und Vorgänge bewirken nun aber nicht überlegte, rationale oder frei entscheidbare Handlungen, sondern fuhren zu Zwangsreaktionen. Das gilt auch für den Umgang mit dem „Angebot", das ja seiner Bedeutung nach angenommen oder abgelehnt werden könnte. Hier kommt der dritte passivische Ausdruck zum Einsatz: das Veranlassungsgefuhl. So werden die sexuellen Aktionen der Männer zu Ereignissen, die zwingend sind, weil sie auf Ursachen beruhen. Nur die Berechtigung von Gründen und Handlungen kann hinterfragt werden, nicht aber die Ursache.143 Nicht umsonst wird von manchen Sprachwissenschaftlern die passive Form „als Ausdrucksform kraftloser Naturen"144 bezeichnet oder als „Makel der Energielosigkeit"145 : Ohne Stimulanz gibt's keinen Anlass, die Männer müssen erst aus ihrer Reserve gelockt werden. Ist der Reiz aber einmal vorhanden, löst er automatisch Kettenreaktionen aus. Die Stimulanz, die im konkreten Fall vorliegt, geht - der gleichen Funktionalisierung zufolge - nicht „von" jemandem aus: Denn die Präposition „von" wird „besonders bei einem persönlichen Subjekt gebraucht". Ausgelöst wird sie „durch" etwas, und die Präposition „durch" dient eher als „Instrumentalangabe", als „,Mittel, Vermittler, Werkzeug'".146 Eine weitere Unterstützung dieser Transformation, in der aus Sexualität eine sachliche, technische Angelegenheit gemacht wird, steckt im Präfix „ver-" des Verbs „veranlassen". In diesem Zusammenhang bezeichnet es eine „bewirkte Zustandsänderung" 147 . Durch die gewählte Passivform gibt es an, von außen eingewirkt zu haben und nicht etwa in den Absichten der Männer begründet zu sein. Der Zustand der Autofahrer war demnach solange sexuell inaktiv, bis die nackten Oberschenkel ihn änderten. Diese sind notwendig, um auf die Männer einzuwirken. Damit werden „Männer" jeder Verantwortlichkeit enthoben. Um sie aber nicht gänzlich aller menschlichen Charakteristika zu berauben, entschärft der Protokollant dieses Bild dadurch, dass sie nicht veranlasst werden, sondern sich veranlasst „fühlen". Die passivische Bedeutung des „Sich-ver143 P.-L. Völzing: Begründen. Erklären. Argumentieren. A.a.O. S. 16 144 Vgl. L. Reiners: Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa. München 1953. S. 166 145 Vgl. G. Wustmann: Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen. 1966 146 Vgl. Duden. Grammatik. A.a.O. S. 186f. 147 Ebd. S. 422
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anlasst-Fühlens", die das schreibende Ich gebraucht, um die Allgemeingültigkeit der Angelegenheit (in diesem Fall der Sexualität) hervorzuheben, wird damit durch eine persönliche Note ergänzt. Damit kann der Autor einfließen lassen, dass es sich bei den Männern jedenfalls nicht bloß um reflexabhängige Apparate handelt, sondern sehr wohl auch um Wesen mit Gefühlen. Eine weitere Funktion des Passivgebrauchs sehen Sprachwissenschaftler in den Möglichkeiten der Anonymisierung und des Verschweigens.148 Diese nutzt der Protokollant zum einen, wenn er verschweigt, wer „festhält", dass die Röcke flatterten usf., wodurch die gesamte Argumentation des Satzes ins Wanken kommt. Zum Zweiten kann durch die gewählte Passivform „der Artikel" des Angebots verschwiegen werden. Demgegenüber müsste eine aktivische Konstruktion im obligatorischen Akkusativobjekt darüber Auskunft geben: „Sogenannte Mädel" bieten wen oder was an ? Dass der Erzähler aber sehr wohl verrät, wer das Angebot stellt, obwohl das syntaktisch nicht notwendig wäre, ist für den Täterinnenaufbau und damit für die Strategie des Protokollanten notwendig. Trotz der bedenklichen impliziten Interpretationen des Geschehens mittels passivischen Konstruktionen (durch Verbformen, Nominalisierungen und Reflexivkonstruktionen mit passivischer Sehweise) gelingt es dem Protokollanten, zugleich (durch dasselbe Mittel!) unparteiisch und objektiv zu wirken. Abgesehen davon, dass das Übermaß an argumentationstechnischen und fachsprachlichen Mitteln irritiert und im Zusammenhang mit dem Thema im literarischen Diskurs sinistre Motive des Protokollanten erahnen lässt, weist sich dieser gerade durch den verschwenderischen Gebrauch des Passivs als Kenner und Könner seines Fachs aus. Schließlich gilt der häufige Passivgebrauch als typisches Merkmal von Fachsprachen, wo die subjektive Sicht oder die lebensweltlichen Dimensionen als ausgeblendet gelten. Noch in einem weiteren Sinn macht sich der Protokollant diese fachsprachliche Form zunutze. Mit ihr gelingt es ihm, die Haupthandlung grammatikalisch auf Dinge und Menschenteile, und zwar auf die Röcke und die weiblichen Oberschenkel, zu zentrieren und eine pornografische Perspektive anzuregen. Die semantischen Subjekte (die Frauen) werden nur als Beifügung von Kleidungsstücken (im Genitiv und innerhalb eines untergeordneten Gliedsatzes) 148 Vgl. P. Braun: Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache. Sprachvarietäten. Stuttgart/ Berlin u.a. 1987. S. 141f.
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und ihres eigenen Angebots gesetzt. Selbst als sie im Wagen mitgenommen werden sollen, tauchen sie innerhalb der Passivkonstruktion als Dativobjekt auf während „die Wagentüren" zum Satzsubjekt avancieren. Auch die Männer bleiben mithilfe des Passivs vorerst ungenannt, was ausdrückt, dass der Reiz, der Blickfang stets vor ihnen da ist und auch ohne sie und ihre Perspektive existiert: „Die Anschauung" wird zum Objekt des subjektlosen Nebensatzes. Schließlich treten sie aber doch auf den Plan, und zwar als „Männer" - ohne Artikel, Zahlen- oder nähere Angaben - , und bilden damit eine generalisierte Masse. Das bedeutet, dass eine Einschränkung der Männergesellschaft nicht notwendig und bloß das Geschlecht entscheidend ist. Mit diesem begleiterlosen Pluralsubstantiv werden sie als Klasse ausgewiesen und zu klassischen Vertretern ihrer Gattung.149 Charakterisiert als solche Gattungsvertreter treten sie im konsekutiven Nebensatz als Subjekte auf und reagieren mit ihren Objekten, den Kraftwägen, die sie anhalten, auf das „Angebot", das sie annehmen. Als sie den ersten Schritt zur interpersonalen Handlung setzen, und zwar den „Weibspersonen" die Türen öffnen, sind sie allerdings (durch die passivische Form) konsequenterweise als Satzsubjekte und Verantwortungsträger auch schon wieder verschwunden.
D) DER VERBÜRGENDE INDIKATIV
Nachdem ich den manipulativen Einsatz von Argumentationstechniken, der Satzkonstruktion und des Passivgebrauchs nachgewiesen habe, möchte ich zuletzt noch auf die Tempus- und Modusformen eingehen. Präsens und Indikativ stehen im juristischen Kontext für die Gültigkeit einer Aussage, die nicht mehr hinterfragt werden muss. Diese Form wählt der Protokollant bei den ersten Verben, wo es ihm darum geht, dass die These glaubhaft „erscheint" und die Auswirkungen „festgehalten werden". Umgekehrt wird die zentrale These im Konjunktiv formuliert, da sie noch zu prüfen ist, wenn auch dieser Möglichkeitsform im darauffolgenden Hauptsatz durch die Bezeichnung „Versicherung" semantisch entgegengewirkt wird. Die zweite These allerdings, die nicht als solche gekennzeichnet ist, wird hingegen vollständig im Indikativ wiedergegeben, was nahelegt, dass es sich dabei 149 Duden. Grammatik. A.a.O. S. 216
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um logische Zusammenhänge und gar nicht mehr um zu überprüfende Fakten handelt. Das heißt, dass es bloß glaubhaft ist, dass der Wind gegangen ist, dass aber mit Sicherheit feststeht, dass sich die Röcke bewegten, die Oberschenkel zu sehen waren, (die) Männer ihre Autos anhielten, auf das „Angebot" eingehen mussten und die Wagentüren öffneten. Das heißt auch, dass als gesichert gilt, dass die „Weibspersonen" Röcke trugen, zu dürftig bekleidet waren und dass das „Angebot" allein von den „sogenannten Mädeln" ausging. Damit hat sich gezeigt, wie folgenreich es sein kann, durch Verallgemeinerung, Funktionalisierung und Versachlichung einen konkreten Bereich sozialer Handlungen in die bürokratische, systemische Perspektive zu rücken. Dass eine solche Verarbeitung lebensweltlicher Bereiche problematisch ist, fällt auf, wenn man bedenkt, dass der spezifische Einsatz der sprachlichen Mittel auf allen grammatischen Ebenen hier nur dem Anliegen der Anklageinstanz, der Männer und der Vergewaltiger nützt. Durch die penible Analyse konnte auch gezeigt werden, wie mannigfach das Manipulationspotenzial in Fachsprache ist und wie aufwendig es sein kann, dieses nachzuweisen. Sätze von Drach, wofür der hier analysierte nur ein Beispiel ist, fuhren bestechend vor, wie jegliche Chance schwindet, dagegen zu sprechen und sich zu wehren. Zu viele Ebenen sind es, wo strategisch operiert wird. Genau deshalb fühlt sich der unbedarfte Leser des Textes oder auch nur des ersten Satzes unangenehm berührt, ohne unbedingt genau zu wissen, worauf das Unbehagen zurückzufuhren ist. Der Begriff „Angebot" irritiert, und den „Männern" wird ihre Opferrolle nicht allzu einfach abgekauft. Albert Drach kann mit diesem Buch durchwegs als Anwalt der Frauen verstanden werden, gerade weil auch jeder weitere Satz nur durch systemische (und patriarchale) Zurichtung in den Text gelangt und Verstörung auslöst. Darin verbirgt sich das kritische Potenzial, das im Text angelegt ist. Wie die strategischen Möglichkeiten des juristischen Diskurses eingesetzt werden, wurde bislang nur an der Rekonstruktion der Tatumstände gezeigt, bei der nicht ausdrücklich auf Zeugenaussagen Bezug genommen wird. Wenn das Protokoll jedoch kommunikative Handlungen referiert und die Handelnden selbst zum klärenden Diskurs heranzieht, müssen auch die Strategien erweitert werden. Schließlich ist dann mit expliziten Widersprüchen zu rechnen, die erst recht wieder im System untergebracht werden müssen. Vielleicht finden sich dort Gründe für jene „pathologischen Nebeneffekte", die dadurch entstehen, weil die „symbolische Reproduktion [...] auf die Grundlagen systemischer Inte-
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gration umgepolt werden".150 D.h.: Vielleicht wird ersichtlich, wie beklemmend (und krankmachend) juristische Abstraktionsvorgänge sein können oder müssen, wenn sie sich spontaner Gefühlsäußerungen oder verschiedener Intimsphären bemächtigen - weil die Bürokratisierung, in den Worten von Jürgen Habermas, „die Grenzen der Normalität zu überschreiten [scheint], sobald sie die eigensinnig strukturierten Zufuhren aus der Lebenswelt instrumentalisier[t]".151
2 Lebensweltliche Vorstellungen von Autostoppersexualität
Im Prozess der Wahrheitsfindung zieht das Gericht Aussagen von verschiedenen Beteiligten, Angeklagten und Zeugen heran. Weil aber der einzige Zeuge im vorliegenden Fall, der Stechviehhändler Thugut, entweder ermordet wurde oder geflohen ist, muss sich das Gericht allein auf die Aussagen der zwei Mädeln stützen. Dabei steht der Tathergang für den Mord und das mögliche Motiv dafür zur Diskussion, das im Tatbestand der „Notzucht" ausgemacht werden könnte: im „Widerstandunfahigmachen einer weiblichen Person mit Gewalt gegen diese, oder mit einer gegen diese gerichteten Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben und Mißbrauch derselben zum außerehelichen Beischlaf"152? Um festzustellen, ob der vorliegende Sachverhalt diesem Tatbestand entspricht, muss der Rechtsdiskurs die instrumentalen und kommunikativen Handlungen zur Tatzeit genauestens rekonstruieren. Penibel referiert denn auch das Protokoll auf verschiedene Äußerungen der Mädel, wodurch klar werden soll, wie es zur kommunikativen Einigung bzw. sexuellen Vereinigung gekommen ist. Diese Sichtweise der Mädel wird im Protokoll jedoch nicht bloß wiedergegeben, sondern in bearbeiteter, hinterfragter Art und gekürzt dargestellt.
150 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. A.a.O. Bd. II. S. 476f. 151 Ebd. S. 477 152 H. G. Russwurm/A. Schoeller: Österreichisches Rechtswörterbuch. A.a.O. Inzwischen werden für diese Handlung im österreichischen Strafgesetzbuch die Begriffe „Vergewaltigung" (§201) bzw. „geschlechtliche Nötigung" (§202) verwendet. Darauf einzugehen, wie Gesetze oder Rechtsmittel ausverhandelt und verändert wurden, würde den Rahmen dieser Analyse sprengen. So begnüge ich mich auch im Folgenden mit der Referenz auf das oben genannte Wörterbuch.
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Diese Bearbeitung entspricht gemeiner Rechtspraxis, insofern „die Urteile der [...] Rechtssprechung [...] nämlich erst das Ende und den Abschluß der Institutionalisierung dar [stellen]. Bevor ,eine Sache' vom Richter entschieden wird, haben regelmäßig Anwälte die Erzählung ihrer Mandanten auf Schriftsatzform oder in Plädoyerkürze reduziert."153 In diesem Institutionalisierungsprozess hat das Gericht alle Aussagen nach ihrem Wahrheitsgehalt zu prüfen sowie von ihren irrelevanten Details zu befreien. Zugleich müssen im Strafverfahren die rekonstruierten Handlungen danach befragt werden, ob sie berechtigt und gesetzeskonform waren. Aber - und hier kommen wir zu einem problematischen Punkt - auch mögliche Verletzungen von „Lebensweltregeln" müssen in der Institutionalisierungsarbeit berücksichtigt werden. So ist die „.topische' Argumentation", „die sich ausdrücklich auf alltagsweltliche Werte und Annahmen bezieht", für die behördlichen Vertreter sowohl rechtstauglich als auch rechtsnotwendig. Zu ihr gehören „der Hinweis auf bestehende Uberzeugungen, der Verweis auf den Einzelfall oder die Betonung einer anerkannten Handlungspraxis"154. In juristischer Formulierung heißt das, dass die „guten Sitten" in den Prozess der Urteilsfindung integriert werden (müssen). Unter diesen „Sitten" versteht das „Osterreichische Rechtswörterbuch" die „Summe der Normen, welche nicht ausdrücklich im Gesetz normiert sind, sich aber aus der richtigen Betrachtung der rechtlichen Interessen ergeben ; teilweise werden auch die anerkannten Normen der Moral dazugerechnet". Insofern gilt auch der Begriff der „Sittenwidrigkeit" als rechtlicher Oberbegriff, der ein Verhalten oder eine Vereinbarung betrifft, „die dem Rechtsgefiihl der Rechtsgemeinschaft widerspricht".155 Im Kontext der Diskursethik von Jürgen Habermas ist diese Praxis problematisch. Denn die Subsysteme haben sich aus jenen Bereichen herauszuhalten, wo es um die symbolische Reproduktion von Lebenswelt geht: soziale Funktionen, Verhaltensweisen, Fragen der Sittlichkeit. Andererseits sind die möglichen Straftaten „Notzucht" bzw. „Vergewaltigung" sowie „Mord" nur über einen Diskurs zu ahnden, der die Geltungsansprüche jener Handlungen pro153 B. Schlieben-Lange: Linguistische Pragmatik. Stuttgart/Berlin u.a. 1979. S. 124 154 Ebd. S. 123. Die Autorin bezieht sich hier auf Th. Viehweg: Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechtswissenschaitlichen Grundlagenforschung. München 1974. S. 111 155 H. G. Russwurm/A. Schoeller: Österreichisches Rechtswörterbuch. A.a.O.
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blematisiert. Indem aber über den institutionellen Weg das „im kommunikativen Handeln angelegte[n] Rationalitätspotential[s] sukzessive freigesetzt wird", kommt es implizit zur „Wertgeneralisierung". Der gerichtliche Kontext bürgt für die Neutralität der Verallgemeinerungen lebensweltlicher Vorstellungen und formuliert sie aus. Er teilt Strategien und Zwecke der Handlungen mit und implementiert sie als rechtmäßig oder unrechtmäßig im lebensweltlichen Kontext der „anerkannten Handlungspraxis". Diese „Evolution von Recht und Moral" mit „Schrittmacherfunktionen" 156 werde ich nun exemplarisch anhand der Bearbeitung der konkreten Autostoppersituation sichtbar machen. Denn die Berechtigung der instrumentalen und kommunikativen Handlungen der jungen Autostopperinnen und dem „Karosserieinhaber" (8) werden in Drachs „Untersuchung" durch „topische Argumentation" expliziert. So wird im Protokoll als „Alltagswissen" ausformuliert, dass junge Autostopperinnen bewusst weibliche Reize einsetzen und Autofahrer von ihnen sexuelle Gegenleistungen erwarten können. Dass die Mädeln trotzdem ziemliche lange auf die Mitfahrgelegenheit warten müssen, wird mit folgenden Erwartungshaltungen begründet: Denn dies lag „wohl" daran, dass „die Vorhergehenden Eile hatten, weibsmäßig versorgt waren oder durch Aufnahme der beiden für sich Unannehmlichkeiten, vielleicht sogar Erpressungen vorhersahen" (ebd.). Den Stech Viehhändler Joseph Thugut behinderten keine dieser drei Gründe, weshalb er seinen Wagen anhält und die Anhalterinnen einsteigen lässt. Konsequent und „sittlich" beginnt er mit der „Übung, die dem Gemeingebrauche gegenüber jüngeren Autostopperinnen entspricht" und lässt seine freie Hand zwischen die Schenkel der neben ihm Sitzenden eindringen [...] sei es, um herauszufinden, ob sie so beschaffen war, wie er sich das nach ihrem sonstigen Eindruck vorstellte, sei es, daß er mit dieser Geste bereits eine Einleitungshandlung zu späterer weiterer Betätigung setzen wollte (ebd.).
So klar formuliert der Protokollführer nicht normiertes Rechtsempfinden aus. Er rationalisiert es und importiert nur beim „Gemeingebrauche" die altmodische Dativendung -e in die Rechtssprache, in der überkommene Sprachformen gut aufgehoben sind. Außerdem bekommt der Satzteil durch das -e auch auf 156 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. A.a.O. Bd. II. S. 232
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sprachlicher Ebene den Charakter einer verbreiteten und traditional verbürgten Sichtweise. Durch die Umformulierung entsteht aber keine „Deformation durch elitäre Abspaltung der Expertenkulturen von den Zusammenhängen kommunikativen Alltagshandelns"157, und es findet keine „Ablösung von überlieferten normativen Verhaltensmustern"158 statt: Die sexuellen Handlungen im „Autostoppermilieu" werden bloß als „instrumentales Handeln" eingestuft, das „sich nach technischen Regeln" richtet, „die auf empirischem Wissen beruhen". Dieses Handeln entspricht explizit „anerkannter Alltagspraxis": Es ist Gemeingebrauch. Der systemische Verdienst des Rechtsdiskurses besteht demnach in der Verortung und Versprachlichung lebensweltlicher Handlungsmuster. Dass diese nicht hinterfragt werden, wo sie doch durch diesen und ähnliche Prozesse institutionalisiert werden, ist ein zentrales Problem von Rechtsverfahren, die Albert Drach Schritt fiir Schritt als diskriminierende entlarvt. Denn sie vermögen jenen habermasschen kategorischen Imperativ zu umgehen, nach dem jede „Maxime zum Zweck der diskursiven Prüfung ihres Universalitätsanspruchs allen anderen" vorgelegt werden muss. Dabei müsste es - der habermasschen Diskursethik nach - darum gehen, „was alle in Übereinstimmung als universale Norm anerkennen wollen".159 Weil es sich hier aber nicht um eine gesetzliche Normierung handelt, sondern bloß um die Anwendung nicht problematisierter lebensweltlicher Vorstellungen in der Welt der Institution, wird auch keine Ubereinstimmung angestrebt. Von der Behörde wird lediglich der konkrete Fall nach einer als anerkannt ausgegebenen Werteskala bemessen, um die Richtigkeit des sozialen Handelns beurteilen zu können: Damit reagiert der Stechviehhändler bei den Sexualakten auf (eventuell bewusst eingesetzte) Reize, auf die er nur schwerlich hätte anders reagieren können (und dürfen!), oder er reagiert auf Einladung der Mädeln, die er ihnen nicht abschlagen wollte (und sollte!). Zugleich reagieren die Mädeln unkorrekt auf diese „Übung", ungewöhnlich hinsichtlich des „Gemeingebrauchs", forschungsfeindlich auf den Ermittlungsversuch, unsozial auf die „Geste" sowie destruktiv auf die „Einleitungshandlung".
157 Ebd. S. 488 158 Vgl. ebd. S. 268f. 159 J. Habermas: Kommunikatives Handeln und Moralbewußtsein. A.a.O. S. 77
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3 Die Terminologisierung der Vergewaltigungen Wie sich der Staat an lebensweltlichem Gut vergreift, und zwar im Sinne der habermasschen „Kolonialherrn", und welche Umdeutungen und Umwertungen das zur Folge hat, zeigt Drach auch in der Terminologisierung alltäglicher und sinnlicher Begebenheiten. Durch die eigenwillige Art dieser Tranformation ergibt sich eine gewisse Annäherung zwischen lebensweltlicher und Systemperspektive. In den Begriffen, die der Protokollant in geübter Ausreizung aller herrschaftlicher Legitimationen für die Vergewaltigungen der zwei Frauen heranzieht, lässt sich diese Engfuhrung gut nachvollziehen. Die Vergewaltigung Esmeraldas wird via Rechtssprache als neutraler Sachverhalt geschildert. Der „Beischlaf" (11), ein „allgemein veralteter Begriff", der quasi nur mehr im Rechtswesen überlebt hat160, wird als „Sache" und „Tätigkeit" bezeichnet, die durch einen „anhaltenden Zustand" (llf.) motiviert und durchfuhrbar ist. Besonders durch das Verb „vollziehen" wird ausgedrückt, dass der Stechviehhändler bloß etwas „an" einem Dritten durchfuhrt, leistet bzw. in die Tat umsetzt. Im gerichtlichen Kontext rührt diese Bezeichnung zudem an die rechtliche Dimension, in der der Handelnde in die Nähe eines „vollziehenden", exekutierenden Organs rückt. Damit wird ausgedrückt, dass Joseph Thugut durch den Geschlechtsakt quasi einen Anspruch durchsetzt bzw. etwas an einem Objekt vollstreckt: Er vollzieht an Esmeralda den Beischlaf.161 Das einzig Regelverletzende dieser sexuellen Handlung - das Wort Vergewaltigung kommt ja gar nicht vor - ist im Adjektiv „unehelich" ausgedrückt, jedoch kann dieser Umstand keine Rechtsfolgen auslösen, weil es sich in diesem Verfahren nicht um eine Scheidungsangelegenheit handelt. Davon abgesehen wird im Protokoll immer wieder expliziert, wie verständnisvoll Frau Thugut und andere „normale" Frauen mit ihren untreuen Gatten umgehen. Dass der „Karosserieinhaber" ausdauernd ist und schließlich zu seinem Orgasmus findet, weist ihn als potenten Kerl aus, der jedenfalls sein Recht als fähiger Mann mehr als korrekt, auf konventionelle Weise und keineswegs als kranker Triebtäter ausübt. 160 Vgl. Der kleine Wahrig. A.a.O. 161 Vgl. ebd. sowie H. G. Russwurm/A. Schoeller: Österreichisches Rechtswörterbuch. A.a.O.
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Ganz anders beschreibt der Erzähler die Vergewaltigung Stellas, bei der er sich weniger auf die Sprache seines Subsystems verlässt, sondern in mehrerer Hinsicht auf den impliziten lebensweltlichen Wissensvorrat Bezug nimmt. Sodann drückte er deren nach ihrer Erklärung aufgestellte Beine nieder und warf sich in seinem von seiner Tätigkeit an Esmeralden noch anhaltenden Zustand auf Stella, die ihm, wie sie behauptete, die Sache nicht erleichtern wollte [...]. Immerhin verschaffte er sich schließlich insofern Gehör, als es ihm gelang, mit seinem hierzu geeigneten Organ in Stellas Schoß einzudringen, w e n n auch nicht, darin die für die Abreaktion nötige Zeit zu verbleiben, denn das Mädel machte sich offenbar die verworrene Körpersituation im Wagen zunutze, um sich des von ihm auf natürlichem W e g hergestellten Zusammenhangs von Person zu Person zu entledigen [...] (12)
Hier, erst hier kommt es aus Sicht des Protokollanten zu einer Beleidigung des allgemeinen Rechtsempfindens, dem allerdings nicht der Mann, sondern die Frau zuwiderhandelt, welche damit selbst zur Täterin avanciert. Denn das Anliegen Thuguts - die Durchsetzung eines Rechts und die Durchfuhrung einer Tätigkeit - wird nicht etwa von vornherein mit körperlicher Gewalt erzwungen (durch den Akt des Niederwerfens), sondern ergibt sich durch ein fehlgeschlagenes Kommunikationsangebot: Thugut hatte vergeblich versucht, sich Gehör zu verschaffen, d.h. Beachtung oder Aufmerksamkeit zu finden.162 Dadurch wird die körperliche Macht Thuguts zu einem Ausweg aus der kommunikativen Ohnmacht und die körperliche Ohnmacht Stellas eine Folge ihres kommunikativen Machtmissbrauchs. Auf Basis der lebensweltlichen Vorstellung, nach der „normale" Frauen gutmütige und wohlwollende Zuhörerinnen sind - d.h. Gehör, Aufmerksamkeit, Beachtung schenken -, wird Stella hier als regelverletzend, und zwar als sozial abartig, dargestellt. Dies gilt umso mehr, als das Anliegen des Stechviehhändlers durch das Adverb „immerhin" und die Konjunktion „insofern" plötzlich überhaupt nicht mehr in sexueller Befriedigung zu liegen scheint. Denn wenn er sich „immerhin [...] schließlich insofern Gehör" verschaffte, als es ihm gelingt, das Mädel sexuell in seine Gewalt zu bringen, bedeutet dies, dass er zuerst auf etwas anderes 162 Vgl. Der kleine Wahrig. A.a.O.
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oder auf mehr aus war und dass er sein Ziel kommunikativ, vielleicht sogar verbal durchzusetzen versucht hat. Das heißt, seine Absicht, auf sich „aufmerksam zu machen", erreicht er „wenigstens" „in dem Maß",163 dass er Stella vergewaltigt. Genaugenommen bedeutet das aber, dass das eigentliche Handlungsziel gar nicht der Geschlechtsverkehr war! Thugut konnte nur einen Teil davon durch den sexuellen Akt realisieren, der dadurch zu einem Mittel degradiert wird, noch dazu zu einem minderen. Welche Mittel es noch gegeben hätte, vor allem aber, welche Mittel optimaler gewesen wären, bleibt offen. Gericht und Protokollant fragen nicht nach. Als sicher gilt nur, dass Thugut versucht hat, kommunikativ Beachtung zu erlangen. Mit dieser Darstellung wird klar gemacht, dass Stella - wer nicht hören will, muss fühlen - selbst für das Mittel verantwortlich ist, das Thugut anwenden musste, um seinen Zweck zu erreichen bzw. ein Einverständnis zu erzielen. Zudem wird der Geschlechtsverkehr selbst als Werkzeug einer verständigungsorientierten Handlung ausgegeben und nicht auf einer anderen - strategischen, instrumenteilen - Ebene festgesetzt. Weil das Mädel aber bei den vorangegangenen Kommunikationsangeboten versagt hat, bei den sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen, muss der Mann in die Sphäre der Natur überwechseln, wo das Mädel „normal" veranlagt sein könnte. Doch Stella wird nicht nur als sozial abartig dargestellt, sondern auch als widernatürlich, und verletzt also nicht nur soziale Regeln, sondern auch die Gesetze der Natur. Das wird dadurch ausgedrückt, dass der sexuelle Akt in jedem Fall als natürliche Angelegenheit gilt. Für diese Deutung setzt der Autor das Adjektiv „geeignet" ein, mit dem das „Organ" des Mannes als natürliches Werkzeug bezeichnet wird und einschlägigen Gebrauch nahelegt. Es ist „passend, infirage kommend, verwertbar"164, „gegeben, berufen, ideal, wie geschaffen für, richtig, recht, goldrichtig, angemessen, auserwählt, erprobt, ideal, zweckmäßig"165. Dass es einen strafbaren Tatbestand, wie er im juristischen Fachbegriff der „Notzucht" bzw. „Vergewaltigung" definiert ist, nicht geben kann, zeigt der Protokollant auch, indem er die Vergewaltigung als einen „auf natürlichem
163 Vgl. ebd. 164 Vgl. ebd. 165 Vgl. Duden. Die sinn- und sachverwandten Wörter. A.a.O.
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Weg hergestellte [n] Zusammenhang von Person zu Person" bezeichnet. Damit ist im Geschlechtsakt die optimale Verknüpfung des Animalischen und genuin Menschlichen ausgemacht. Nicht bloß tierisch und keineswegs unzüchtig wird gehandelt, nachdem nicht etwa irgendwelche Körper irgendwie zusammengehängt werden: sondern von Personen wird eine „Verbindung einzelner Teile"166 zustande gebracht. Die Teile passen zusammen und ergeben ein Ganzes. Das heißt, dass durch die Vergewaltigung naturkonform (über den Weg) und mittels Arbeitskraft (über die Herstellung) eine Beziehung (Zusammenhang) zwischen Menschen (Personen) realisiert wird, was sowohl dem Primat des Natürlichen Genüge tut als auch den sozialen und kulturellen Gewohnheiten entspricht. Zusammenfassend leistet Thugut in den sexuellen Gewaltakten folgende Arbeit: Er verwirklicht - eine rechtskonforme Sache (er vollzieht sie) - eine soziokulturelle Interaktion (er stellt Zusammenhänge zwischen Personen her) und - einen gelungenen Sprechakt (er verschafft sich Gehör) Hierfür bedient sich der Akteur: - seiner Körperkraft (er wirft Stella nieder) - seiner Arbeitskraft (er stellt etwas her) - seiner Vernunft und kommunikativen Kompetenz (er wechselt Strategie und Ebene der Kommunikation) - seiner Bescheidenheit (er begnügt sich mit einem kleineren bzw. alternativen Erfolg) - der Naturkraft (er nimmt den natürlichen Weg) - seines Verstandes bzw. seiner sozialen und körperlichen Kompetenz (er benützt das geeignete Organ). Betrachtet man die solcherart dargestellten Handlungen nach den Geltungsansprüchen, die nach Habermas bei jeder kommunikativen Handlung durchgesetzt werden müssen, so ergibt sich eine gleichfalls gelungene Verständigung. 166 Vgl. Der kleine Wahrig. A.a.O.
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Die Ansprüche müssen erst gar nicht diskursiv ausverhandelt werden. Durch den juristischen Kontext erhalten sie sogar legitimen Charakter, und zwar sowohl jene Ansprüche, die sich auf die subjektive, die soziale Welt, als auch die, die sich auf die objektive Welt beziehen. 1. Thugut hat sich verständlich ausgedrückt. Es ging um die Gemeinsamkeit des wechselseitigen Verstehens, indem er sein Handlungsziel gegenüber Stella und Esmeralda eindeutig machen kann. 2. Er gab etwas zu verstehen: Es ging um die Gemeinsamkeit des geteilten Wissens, indem er das Ziel seiner Handlungen offengelegt hat. 3. Er machte sich dabei verständlich. Es ging um die Gemeinsamkeit des gegenseitigen Vertrauens, indem seine kommunikative Absicht als wahrhaftig dargestellt wird und die Mädeln ihm diese auch glauben. 4. Er hat sich mit den Partnerinnen verständigt. Es ging um die Gemeinsamkeit des Miteinander-Ubereinstimmens, indem sie freiwillig derselben Handlung angehören. (Die Freiwilligkeit ist sicherlich problematisch, wird aber vom Protokollanten immer wieder als solche konstatiert.)167 Lässt der Protokollant Thuguts Handlungen also dem ideal konzipierten Handlungsraster entsprechen, obwohl sie zugleich unmissverständlich als Vergewaltigung dechiffrierbar sind, wird das Potenzial ausgestellt, das Drach für die neuralgischen Punkte des Themas zu nutzen versteht. Das gewalttätige, machistische Denken des Protokollanten wird als allgemeingültiges Wissen vorausgesetzt und in Fachsprache realisiert. Dem Täter wird kommunikative, also eine auf Einverständnis ausgerichtete Absicht unterstellt, und seine Handlungen werden in jeder Hinsicht nachvollziehbar gemacht. Umgekehrt ergeht es dem Opfer, das in jeder Hinsicht zum Täter avanciert, was ebenfalls in der Terminologie zum Ausdruck kommt: Indem sich Stella aus dem „Zusammenhang" befreit, widersetzt sie sich der rechtlichen, kulturellen, sozialen Konvention und der Natur.168 Damit steht ihre Schuldigkeit, Abartigkeit, Asozialität und Dummheit fest. Weil Drach noch dazu das Gericht zur Institutionalisierung dieses Wissens heranzieht, jene Ebene also, die besondere Möglichkeiten der Diskursivität und
167 Vgl.J. Habermas: Was heißt Universalpragmatik? In: K.-O. Apel (Hg.): Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt 1976. S. 176 168 Vgl. Duden. Die sinn- und sachverwandten Wörter. A.a.O.
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emanzipativer Kontrolle beinhaltet, kann diese Passage, wenn nicht der gesamte Text, als Parodie auf die habermasschen Ideale gelesen werden. Für die Urteilsfindung ist diese Darstellung des Sachverhalts in doppelter Hinsicht relevant. Einerseits wird das „konkrete Ereignis" implizit einem Tatbestand zugeordnet, der für Thugut - sollte er noch leben - kaum „Rechtsfolgen" auslösen kann. Es gilt als unwahrscheinlich, dass es sich um „Notzucht" bzw. „Vergewaltigung" handelte. Andererseits aber werden durch die verwendeten Begriffe indirekt sehr wohl Rechtsfolgen eingeklagt: und zwar für Esmeralda und Stella. Denn auf ihre „schädliche Neigung" wird durch die Lexik bereits hingewiesen, die immerhin einen „Erschwerungsgrund" oder einen „Strafschärfungsgrund" bewirken kann.169 Konsequenterweise versucht denn auch das Gericht weitere Hinweise auf „gleichartige verwerfliche Beweggründe oder auf den gleichen Charaktermangel" 170 ausfindig zu machen, und recherchiert in der Vergangenheit der Angeklagten.
4 Über die Legitimierung juristischer Sexualchroniken Warum bei einer Mordanklage ausgerechnet Vielfalt und Besonderheiten sexueller Handlungen relevant sein sollen und deren Rekonstruktion und Beurteilung im Mittelpunkt der Arbeit allerhand bürokratischer Herrn steht, wird im Protokoll nicht direkt begründet, lässt sich aber als Suche nach dem Tatmotiv verstehen. Dabei wird interessanterweise gerade das vordergründige Motiv als irrelevant angesehen: Nachdem die sexuellen Handlungen Josef Thuguts nicht als Vergewaltigung referiert werden, scheidet sie als Beweggrund für den Mord aus. Ohne dieses naheliegende Motiv der Notwehr oder der Rache für die Gewaltakte ist jedoch keines mehr in Sicht. Also wird mikroskopisch nach einer „abnormen" Veranlagung der Angeklagten geforscht. Damit dient der gerichtliche Diskurs weniger der Uberprüfung der Wahrheit, als vielmehr der richtigen, berechtigten Handlungen der Angeklagten in ihrem gesamten Leben vor dem Hintergrund einer normierten sozialen Welt. Zu die169 H. G. Russwurm/A. Schoeller: Österreichisches Rechtswörterbuch. A.a.O. S. 63, 182 und 199 170 Ebd. S. 182
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sem Zweck wird eine penibel recherchierte Chronik erstellt. Dass sie in Form einer sexuellen Laufbahn rekonstruiert wird, liegt daran, dass den Angeklagten keine andere Laufbahn zugestanden wird. Indem sie weder beruflich noch politisch reüssieren und ihre persönliche oder intellektuelle Person ausgeblendet wird, ist ihr Verhalten in allen diesen Bereichen irrelevant. Nur das Agieren ihres Körpers ist von Interesse, und nur daran wird versucht, abnorme Handlungen abzulesen. Beinahe die Hälfte des Textes macht dieser Sexualbericht aus, der zynischerweise als Einleitung zweier Biographien bezeichnet wird. Sie mündet zwingend in das „Hauptleben" der Angeklagten: in die kurzen Episoden Vergewaltigung, Mord (?) und Prozess sowie in ein langes Dasein im Gefängnis. Dass Gericht und Protokollführer so vorgehen, ist keine literarische Erfindung. Es ist rechtskonform, nach der „kriminellen Gesinnung" von Tätern zu ahnden,171 die sich z.B. als „Charaktermangel" ausweisen kann. Schließlich solle das „einschlägige Vorleben die Eignung zu den begangenen Straftaten" herleiten sowie „deren Begehungsart" aufhellen (35). Etwas weit in seiner Rechtsauslegung geht der juristische Diskurs ä la Drach auf den ersten Blick, wenn selbst „sittenkonforme Handlungen" strafverschärfende Folgen haben. Dennoch lässt sich selbst für dieses Rechtsverständnis eine rechtskonforme Basis finden. Denn wenn das Delikt nicht erklärt und motiviert werden kann, dann gibt es keine Milderungsgründe, und das höchste Ausmaß der Strafe muss veranschlagt werden. 172 Von diesem juristischen Standpunkt aus wird verständlich, dass „sogar der Nährboden für eine andersartige Veranlagung", d.h. „etwas, das voranging [und] mit dem Verbrechensgeschehen in auffallendem Widerspruch stünde", erst recht gegen die Mädel verwendet werden müsste (ebd.). Dass diese juristischen Recherchen insbesondere bei weiblichen Angeklagten notwendig und praktikabel seien, folgt wiederum einem verbreiteten frauenfeindlichen Vorurteil und, so der Protokollant, ausdrücklich dem Rechtsempfinden der Rechtsgemeinschaft: Gerade bei Weibspersonen, hinsichtlich welcher Philosophen und Dichter mitunter die unmittelbare Anschauung der Vernunft in Zweifel stellten, ist nach all-
171 Ebd. S. 182 172 Ebd. S. 198 und 136
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gemeiner Ansicht rege Verstandesarbeit zum eigenen Nutzen vorauszusetzen und kann daher mit gutem Grund moralische Haltung verlangt oder nötigenfalls erzwungen werden (ebd.).
Damit weist sich der Protokollführer, der im Übrigen nicht der Ankläger ist, als juristisch vorgehender Sachbearbeiter aus. Er erklärt sich von der Selbstverantwortlichkeit der Mädel überzeugt und tritt als Verfechter allgemeiner Moralvorstellungen auf, der gern und gut von Weisheiten anerkannter Bildungskapazitäten zu abstrahieren weiß. De jure geht er nicht strategisch vor: Er agumentiert auf der Grundlage einer „allgemeine [n] Ansicht". Sehr wohl aber argumentiert er de facto instrumentell, indem er die Mädeln für die Institutionalisierung dieser problematischen Werte benützt. Zugleich interpretiert er „moralische Haltung" als rational begründet - indem sie durch „vorhandene Verstandesarbeit" „verlangt" werden könne - und verlagert sie damit in die Welt des Systems. Aus dieser monologisierten Perspektive sind alle noch so privaten Umstände oder Vorfalle rechtsrelevant und auch die Einhaltung ungeschriebener Gesetze, lebensweltlicher Regeln, Sache des Systems.
5 Die fachsprachliche Amtsbehandlung von Kindheitssexualität und Liebesabenteuern
Also stellt sich die Frage, wie das Liebes- und Geschlechtsleben der Mädeln dargestellt wird und dabei für die Anklage Relevanz gewinnt. Da der Autor seine Urteile und Begründungen vor allem in der Lexik ausdrückt, gilt es zu prüfen, welche Begriffe der Protokollführer, der die Herrschaft über die Terminologie überhat, für Neugierde, Lust, Leidenschaft und Liebe heranzieht und inwiefern er dadurch Stella und Esmeralda „Normalität" zugesteht oder nicht. Besonders aufschlussreich erscheint mir die sprachliche Bearbeitung der vorpubertären „Doktorspiele" und der jugendlichen Abenteuer. Anders als in manchen US-amerikanischen Bundesstaaten ist das Ausleben von Kindersexualität zwischen Minderjährigen und der Geschlechtsverkehr zwischen Jugendlichen nicht verboten. Und dennoch: Obwohl diese Praktiken gesetzlich erlaubt sind, verletzen sie mitunter moralische und religiöse Grund-
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haltungen, und dies umso mehr, als der Text in den 60er-Jahren in Österreich spielt und nicht in den etwas aufgeklärteren Jahrzehnten danach. Auf welche Seite wird sich demgemäß der drachsche Protokollant schlagen ? Auf die der geschriebenen oder auf die der ungeschriebenen Gesetze ? Auf die des bürokratischen Subsystems oder auf die verbreiteter lebensweltlicher Werthaltungen ? Das Dilemma, das aus der Doppelstruktur der beiden Dimensionen entsteht, ist ein genuin juristisches Problem: Es gehört zur Aufgabe des Gerichts, dem Gesetz Genüge zu tun und „Rechtsgefuhle der Rechtsgemeinschaft" in die Erhebung der Sachverhalte einzubeziehen. D.h.: Zwar können nicht normierte Handlungen, die lebensweltliche Vorstellungen verletzen, nicht direkt Rechtsfolgen auslösen, jedoch sind diese „Umstände" bei der „Strafbemessung zu berücksichtigen".173 Insofern darf und muss das Gericht im „Vorleben" der Angeklagten sehr wohl nach „verwerflichen Beweggründen" fahnden, „heimtückische, grausame Handlungsweise[n]" eruieren sowie ganz generell „die kriminelle Gesinnung eines Täters" feststellen174 bzw. seinen Lebenslauf bezüglich „Sittenwidrigkeiten" durchforsten.175 Da jedoch diese Arbeit nur „nach freiem Ermessen" der Beamten geleistet werden kann, unterminiert sie jegliches Diskursideal. Für den Berufsanwalt und Schriftsteller Albert Drach stellt sie eine zentrale Thematik dar, die nur als Systemkritik lesbar ist: Das Macht- und Missbrauchspotenzial, das hier für die Behörde, aber auch für lebensweltliche Instanzen entsteht, ist enorm. So bezeichnet der Protokollführer als ersten „nachteiligen Vorfall" Stellas einen Streit des siebenjährigen Mädchens, bei dem es dem gleichaltrigen Anton Wipfinger mit einem zwei Zentimeter dicken Roßkastanienast „auf den Hinterkopf [schlug], weil er es nicht zulassen wollte, daß sie mit einer Eidechse aus Papiermache spielte". Nicht genug damit, dass hier aus einem Zweig ein gefahrlicher Ast wird, dass eine Auseinandersetzung in diesem Alter oft genug körperlich geführt, hier aber zu einer „schädlichen Neigung" wird: Der Protokollführer, der Irrelevantes nicht erwähnen will, schließt explizit aus, „daß Wipfinger bereits damals im Zuge der Auseinandersetzungen ihrer Mädchenehre
173 Vgl. e b d . S. 63 174 E b d . 175 E b d . S. 190
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nahegetreten war" (37f.). Damit stellt der Schreiber klar, dass Stella schon als Kind als ein sexuelles Objekt wahrzunehmen ist. Tatsächlich um die Verletzung der Mädchenehre geht es einige Jahre später, als die beiden zwölfjahre alt sind: Denn es werde von ihnen berichtet, daß Wipfinger die Stella auch an Stellen entkleidete, die nicht mehr dem Spielbedürfnis Unmündiger dienten, und dort zumindest Einschau hielt, ohne daß sie aus einem sonst von Natur vorhandenen Abwehrbedürfnisse ihn daran gehindert hätte, geschweige denn, daß sie damals wie seinerzeit aus eigentumsfeindlichen Gründen wiederum mit einem Holzscheit oder Kastanienast zugeschlagen hätte (38).
Damit die Zwölfjährigen für diese Handlungen zur Verantwortung gezogen werden können, wird extra darauf hingewiesen, dass es sich hier um eine rechtsrelevante Angelegenheit handelt, obwohl die beiden noch lange nicht vierzehn Jahre alt sind. Dabei wird Mindeijährigen vom Gesetz erst ab diesem Alter „Mündigkeit" zugestanden. 176 Auch daran, dass der Junge nur mit dem Nachnamen bezeichnet wird, lässt sich die Strategie ablesen, die Handlungen der beiden in der Erwachsenenwelt zu verorten, damit sie juristische Relevanz gewinnen und im konkreten Fall einen „Strafverschärfungsgrund" ergeben. Wie wird nun aber die Verwerflichkeit der Handlungen begründet? Zum einen wird sie daran festgemacht, dass die Kinder Bedürfnisse haben und befriedigen, obwohl sie ihnen altersgemäß nicht zustehen würden. Zum anderen verspürt Stella ausgerechnet jenes Bedürfnis nicht, das das „natürliche" wäre, nämlich erotische Spiele zu verwehren. Das wird als Zeugnis für Stellas Widernatürlichkeit und Ehrlosigkeit verwendet und dokumentiert - wie im Vergewaltigungsfall - ihre Abartigkeit: einerseits auf ihre innere, andererseits auf die soziale Welt bezogen. Bemerkenswert ist, dass der Protokollführer dasselbe explizite und implizite Urteil über zwei gegensätzliche Handlungen fallt: Es zeuge gleichermaßen von abnormem Verhalten, dass sich Stella gegen Wipfinger nicht, als auch dass sie sich gegen Thugut sehr wohl gewehrt hat. Zugleich macht der Schreiber klar, dass männliche Personen - ab dem mündigen Alter zumindest - bei se176 Ebd. S. 137
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xuellen Handlungen nur nach Naturgesetzen und dem Sozialkontrakt gemäß handeln, ja sich dabei auch wissenschaftlichen Experimenten widmen, gegen die nichts einzuwenden ist. So hält der Kindheitsfreund „Einschau", wobei der Protokollant mit der fachsprachlichen Kreation, der Substantivierung des Verbs „hineinschauen", besonders intim wird. Wie Wipfinger will auch Thugut einige Jahre später testen, ob die Vorstellung mit der Realität zusammenpasst, indem er Stella zwischen die Schenkel greift, „um herauszufinden, ob sie so beschaffen war, wie er sich das nach ihrem sonstigen Eindruck vorstellte" (8). Ahnlich wird auch die sexuelle Nötigung des Aushilfslehrers Hieronymus Elfgleitner als Forschungshandeln dargestellt: „Durch Griffe zwischen ihre Schenkel [...] entnahm der hilfreiche Lehrer dort nach mannigfachem Suchen nur eine Handprobe" (126). Neben den naturwissenschaftlichen dient dieser Akt auch pädagogischen und karitativen Zwecken: Denn der Mann wird in diesem Zusammenhang als „hilfreicher Lehrer" bezeichnet, von dem das Mädchen mittels sexueller Annäherungen „Studienbeihilfe" annimmt, die allerdings dann nicht er ihr, sondern sie ihm „gewährt" (ebd.). So wird auf allen Ebenen das ideale Verhalten der Männer notwendig mit schändlichen und schädlichen Handlungen der Frauen und Jugendlichen verknüpft. Der Kontrast zwischen Optimum und Verwerflichkeit wird dann am größten, wenn die Männer über „Handproben", „Einleitungshandlungen" oder „Einschau" hinausgehen. Mit raffinierten Sprachschöpfungen wird dies in der Rekonstruktion des romantischen Liebesabenteuers von Stella und Paul ersichtlich gemacht. Die beiden werden nach geheimen Stelldicheins (mit allen romantischen Implikationen wie Internat, Leiter, Nacht und rauschender Regen) ertappt, graben sich unterirdisch einen Gang, richten sich im Klosterkeller ein Liebesnest ein und entfliehen schließlich mit Motorrad und Zug nach Italien. In den Worten des Protokollanten bleiben von Romanze und Abenteuergeist jedoch nur mehr unzüchtige Sachverhalte übrig. Gefühle und Triebe werden als physikalische und chemische Fakten referiert und bilden implizit die Grundlage für die moralische Verurteilung. So erfahren wir, dass es sich anfanglich nur „um Mund- zu Mundbenetzung handelte" (44), weil Paul Pieperl vorerst durch „die durchdringende Feuchtigkeit" (43) davon abgehalten wurde, „ein etwa für ihn übriges Mädchen als Beute zu beanspruchen und hinzunehmen. Nach seiner späteren Mitteilung sei er vom ersten Blick an in Stella verliebt gewesen, und das habe ihn gehindert, sie anzugehen wie eine beliebige andere" (ebd.). Im Kel-
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Abb. 13: wenn es sich auch nur um Mund- zu Mundbenetzung handelte Albert Urach
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ler schließlich „trafen aneinander die kriechenden Körper der jungen Leute mit Schmutz, Staub und Erde verunreinigt" (48), wo es schließlich zur „Sprengung der Virginität" (ebd.) kommt. Blutspuren auf dem Handtuch konnten hinterher Kennerinnen Aufschluß geben [...], daß in der abgelaufenen Zeit eine vorher völlig intakt gewesene Frauensperson offenbar unwiederbringliche Einbuße an ihrer Unversehrtheit gegen einen vergänglichen ersten Genuß eingetauscht hatte [...] Danach [mußte] auch noch eine Flucht mit dem Verursacher und Nutznießer der Veränderung des Naturzustandes besagter kurzfristigen Klosterinsassin stattgehabt haben [...] (49),
bei der immer wieder „die Geschlechtsorgane in wechselseitige Beziehung gerieten" (51). Diese Zitate mögen genügen, um zu zeigen, dass der Mann als Jäger (Beute), Bauer und Techniker (Veränderung eines Naturzustandes) oder Mensch (Nutznießer eines Naturzustandes) ausgegeben wird und die Frau komplementär dazu als Tier, Objekt (das kaputtgehen kann) oder Naturalie (die gezüchtet und konsumiert gehört). Zugleich wird ersichtlich, dass trotz dieser Aufteilung gerade der Bauer, Jäger, Techniker und Mensch (d.h. der Mann) in allen sexuellen Belangen bloß natürlich, recht und richtig handeln kann, während sich das Tier, das Objekt, die Naturalie (die Frau) schuldig macht: weil sie Naturgesetze verletzt, moralische Werte untergräbt und kulturelle Begebenheiten missachtet. Interessant ist, dass der Protokollant wiederum dieselben Urteile aus gegenteiligem Verhalten zieht: Bei den Gewaltakten hätten die Frauen an sich den Beischlaf vollziehen lassen, den Geschlechtsakt erleichtern, Gehör schenken, im Zusammenhang verbleiben sollen - hier, bei den Liebeserlebnissen, verhält es sich gerade umgekehrt: Die Frauen müssten ihre Mädchenehre retten, sich nicht erbeuten, angehen, sich nicht verunreinigen, benutzen und demolieren lassen. Damit handeln sowohl die vergewaltigten als auch die liebenden Mädchen gleichermaßen „unsittlich" und verletzen da wie dort berechtigte Erwartungshaltungen. Dadurch, dass der Protokollant ihre Abartigkeit bei jeder (sexuellen) Gelegenheit belegt, wird ihre perverse Veranlagung festgeschrieben. Dass er für eine solche Beweisführung das sogenannte „dramaturgische Handeln" aussparen muss, die Gefühle der Mädchen, ihre Leidenschaften, ihre
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Ängste und damit den ganzen Komplex der inneren Welt, liegt auf der Hand. Indirekt demontiert er aber auch die Aussage- und Beweiskraft derart unpräziser und unpräzisierbarer Phänomene, indem er sichtbare und naturwissenschaftlich nachprüfbare Fakten heranzieht: Nässe, Küsse, Schmutz und Entjungferung können als objektive Kriterien angesehen werden und ermöglichen als Konstituenten den Prozess der ,,wechselseitige[n] Annäherung zwischen Sachverhalt und Rechtsanwendung" 177 . Entgegen dem idealen Diskurs von Jürgen Habermas wird hier also die Frage der Wahrhaftigkeit nicht aufgerollt! Anders als bei der juristischen Verarbeitung der Vergewaltigung werden die einvernehmlichen sexuellen Handlungen als tatsächlich beabsichtigt angesehen, die im Sinne aller Beteiligten durchgeführt werden. Keine Strategie wird unterstellt, wie etwa beim Verhalten der Mädeln in der Autostoppersequenz. Selbst die Frage nach der Verständlichkeit der Handlungen wird hier nicht thematisiert. Nur die Wahrheit bezüglich Höhepunkt - der Entjungferung - ist von Interesse und wird mittels Beweisen und Zeugen sicherzustellen versucht. Das heißt: Bei der sexuellen Laufbahn geht es für das Gericht einzig und allein darum, zu klären, inwiefern die Angeklagten soziale Defizite aufweisen bzw. unsittliche Veranlagung haben. Dabei überschreitet der Text die Grenze zwischen Lebenswelt und System durch den juristischen Kontext (des Verfahrens, des Kriminalprotokolls) und durch die Sprache, indem sie sich durch die Integration ins System der lebensweltlichen Angelegenheiten bemächtigen. Die Frage ist nun: Welches Instrumentarium findet hierfür Verwendung und inwiefern geht Drach über fachsprachlichen Usus hinaus, um den gerichtlichen Diskurs als einen kolonialistischen zu entlarven ? Am auffälligsten ist die Substantivierung von Vorgängen. Die Akteure treten, wie etwa bei der „Mund-zu-Mund-Benetzung" (44) oder der „Sprengung der Virginität" (48) zugunsten des Geschehens in den Hintergrund. Außerdem können dadurch die Liebeserlebnisse in Tatbestände aufgegliedert werden, die funktional sind, und die Liebenden als Handwerker oder wissenschaftliches Personal auftreten. Mit Nominalisierungen gelingt es, die verliebten Jugendlichen hinter ihren Körperteilen verschwinden zu lassen - wenn die Geschlechts177 Vgl. Theodor Viehweg: Topik und Jurisprudenz. München 1974. S. 90
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Organe in wechselseitige Beziehung treten - oder das Erlebnis auf die physische Wirkung des Liebesakts zu reduzieren, wie beim Ausdruck „Einbuße an ihrer Unversehrtheit". Neben den Nominalisierungen sind im Bericht über das romantische Abenteuer noch zahlreiche andere Merkmale fachsprachlicher Lexik zu finden: * Funktionsverbgefiige, wie Aufschluss geben, in Beziehung geraten * fachsprachlich häufige Wortbildungsmuster, wie — Nomen auf -er, wie Verursacher, Nutznießer, Kenner(innen) — vielgliedrige Zusammensetzung, wie Mund-zu-Mund-Benetzung — Mehrwortbenennungen, wie kurzfristige Klosterinsassin, wechselseitige Beziehung — Adjektive auf -bar, wie offenbar * Formen aus anderen .Subsystemen', wie Kennerinnen, Sprengung, Mund-zuMund, Verursacher * Internationalismen, wie Virginität Trotz dieser auffälligen fachspezifischen Merkmale ist es nicht so, dass der Erzähler ausschließlich Fachbegriffe einsetzt. Viele Begriffe sind lediglich nach wissenschaftlichem Bauplan konstruiert und täuschen Objektivität und Kompetenz bloß vor. So wird in keiner Fachsprache fiir den „Kuss" der Begriff „Mundzu-Mund-Benetzung" verwendet. Genausowenig wird der Vorgang der Entjungferung von Wissenschaftlern oder Ärzten als „Sprengung der Virginität" bezeichnet. Neben diesen lexikalischen Kreationen lässt der Sprachvirtuose Albert Drach seinen Protokollanten auch auf umgangssprachliche Begriffe zurückgreifen, womit der entscheidende Bezug zur nichtwissenschaftlichen Leserschaft und auch zur Lebenswelt hergestellt wird. So ist zu lesen, wie Stellas Freund sie nicht „angehen" wollte wie eine „beliebig andere". Dieser Ausdruck ist für den Duden und den Kleinen Wahrig wohl zu umgangssprachlich, da er in dieser Bedeutung dort gar nicht vorkommt. Genauso ist die „Beute" als Bezeichnung für ein weibliches Sexualobjekt durchwegs im vulgären Sprachgebrauch zu verorten. Wie einem religiösen Text entnommen wirkt hingegen die Beschreibung der „kriechenden Körper", die durch „Schmutz, Staub und Erde verunreinigt" „aneinander trafen".
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Durch diese Wortschatzkreativität entlarvt der Autor seinen Schreiber als strategischen Kämpfer für alle hegemonialen Diskurse in Lebenswelt und System: die des Gesetzes und der Naturwissenschaften, die der Stammtischgesellschaft und der Kirche. Dass sich diese Sprache mit ihrem definitorischen Duktus beinahe mit Immanuel Kants Formulierungen zur Ehe deckt - dem „wechselseitige [n] Gebrauch, den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorgan und Vermögen macht"178 -, zeigt jedenfalls, auf welche hehre Tradition eine derartige Sprachbehandlung von Liebe und Sexualität zurückgeht. Um in der Verschränkung der lebensweltlichen und systemischen Perspektive nicht seinen Expertenstatus zu riskieren, muss sich der Protokollant auf der Ebene des Satzbaus ausschließlich auf fachsprachliche Mittel beschränken. Nur dadurch kann er seine Legitimität erhalten, bei der Einverleibung der lebensweltlichen Sichtweise ungestört vorankommen, sich dezidierte Begründungen für die Institutionalisierung ersparen und bis auf weite Strecken Widerspruch vermeiden. So lassen sich in den wenigen oben zitierten Sätzen, die das Liebesabenteuer beschreiben, keine umgangssprachlichen, dafür aber alle für Fachsprachen typischen syntaktischen Merkmale belegen: - valenzspezifische Verbformen mit unbelebtem Subjekt, wie „es handelt sich um", „es gibt Aufschluß", „statthaben" - Nominalisierung von Verben und Adjektiven, wie „Feuchtigkeit", „Aufschluss", „Einbuße" - Satzglieder anstelle von Gliedsätzen, wie „nach seiner späteren Mitteilung" statt „wie er später mitteilte" oder es handelte sich „um Mund- zu Mundbenetzung" statt „es handelte sich darum, dass ein Mund den anderen benetzte" - Attribute anstelle von Attributsätzen, wie „intakt gewesene Frauensperson" statt „Frauensperson, die intakt gewesen war" oder „Verursacher und Nutznießer der Veränderung besagter kurzfristiger Klosterinsassin" statt „derjenige, der den Naturzustand der Frau, die damals für kurze Zeit Klosterinsassin war, verändert, verursacht und genossen hatte" - sowie die besonders häufigen Verwendungsformen des Verbs in der 3. Person sowie Passiv oder Passivsynonyme. 178 Vgl. I. Kant: Metaphysik der Sitten. Stuttgart 2004. S. 125, vgl. ebenso S. 126-128
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- Der Modus ist, wenn der Schreiber direkt Aussagen referiert, im Konjunktiv. Ansonsten dominiert, wie in den Fachsprachen üblich, der Indikativ. - Das Tempus ist protokollgemäß in der Vergangenheit gehalten, nachdem es sich hier um eine Rekonstruktion von Geschehen handelt, die einige Jahre zurückliegen. Mit diesem Satzbau agiert der Protokollführer durchwegs rechtskonform und seiner Aufgabe gemäß. Er nützt dabei vordergründig auch die fachspezifischen Vorteile, die ihm diese sprachlichen Mittel in die Hand legen: So lassen sich z.B. durch das erste entscheidende Merkmal - die Zunahme von Nominalgruppen bzw. der Verzicht auf Gliedsätze - möglichst viele Informationen auf engem Raum unterbringen; durch das zweite syntaktische Kennzeichen - den intensiven Gebrauch von Passiv und Passivsynonymen - wird betont, dass sich die Rechtssprache am Vorgang, am Fall und nicht an der konkreten Person orientiert; der Verzicht auf die Ichform demonstriert das Unbeteiligtsein des Protokollführers, der Konjunktiv stellt klar, was nur Aussagen Dritter wiedergibt. Dass dieser rationelle und sachliche Duktus, wie er sich über die Syntax ausdrückt, in Drachs Text nur Mittel ist, um strategisches Handeln zu verdecken, konnte in vielen Einzelheiten nachgewiesen werden. Das Buch entlarvt somit das gefahrliche Potenzial bürokratischer Sprache, in der diskriminierende Vorstellungen gut unterzubringen sind. Das, was vordem über Handlungskoordination und Strategien zustandegebracht wurde - nämlich zärtliche, leidenschaftliche und gewalttätige „Zusammenhänge von Person zu Person" - , wird im Rechtsdiskurs durch „die funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen" säuberlich ins System integriert179. So konnten zahlreiche „schädliche Neigungen" festgemacht und die sexuelle Vergangenheit der Angeklagten durch die Berücksichtigung eines sexistischen Rechtsempfindens rechtsrelevanter Tatbestand werden. Ein Motiv für den mysteriösen Mord ist gegeben. Da die perverse Veranlagung im Urteilsfeld als „strafverschärfend" gilt, kann zudem „das Höchstmaß der angedrohten Strafe um die Hälfte" überschritten werden.180
179 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. A.a.O. Bd. II. S. 225fF. 180 Vgl. H. G. Russwurm/A. Schoeller: Österreichisches Rechtswörterbuch. A.a.O. S. 182 und 199
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6 Kolonialisierung auf allen Ebenen
Albert Drachs „Untersuchung an Mädeln" kann also als vielschichtige Antwort auf die habermasschen Theorien gelesen werden. Das Buch exemplifiziert und spezifiziert diverse Annahmen des Philosophen, es widerspricht ihnen aber auch und offenbart problematische Aspekte seiner Theorie. Vor allem über linguistische Analysen konnte gezeigt werden, wie Drach neuralgische Punkte des Gerichtsdiskurses freilegt, der wegen der Integration lebensweltlicher Werthaltungen keineswegs idealen Bedingungen folgt oder aber aufgrund seiner eigenen Regeln ihnen gar nicht folgen kann. Die kolonialistische Besitznahme der Lebenswelt durch Mediatisierung wird auf vielfaltige Weise vorgeführt. Sie ist besonders auffallig, weil die Verrechtlichung in Bereiche vordringt, wo die Sozialintegration auf systemische Organisation nicht umgepolt werden kann. Besonders eklatant wirkt sich der Vorstoß bei der fachsprachlichen Amtsbehandlung von Kindheitssexualität und Liebesabenteuern aus (vgl. Kap. 5). Sanfter, aber umso unverdächtiger betreibt der Protokollant die Funktionalisierung, wenn es direkt um strafrelevante Sachverhalte geht. Dann bedient er sich - wie anhand des 1. Satzes gezeigt wurde - mittels lexikalischer und syntaktischer Kunstgriffe mannigfacher argumentativer Strategien, um den Kolonialherrn als Herrscher zu implementieren, ihn nicht unbeliebt zu machen und allfallige Rebellionen zu verhindern. Auch das Ideal, Fragen der Sittlichkeit auszublenden, wenn Lebenswelt diskursiv ausverhandelt wird, kann ex negativo als bedeutend angesehen werden. Besonders irritiert im Bericht der Vergewaltigung, dass das Ideal nicht nur verletzt wird, sondern die massiven Verletzungen selbst wie ein Ideal kolportiert werden (vgl. Kap. 3). Allerdings wird offensichtlich, dass ihm in der behördlichen Praxis gar nicht immer gerecht werden kann, womit Drach ein grundsätzliches Dilemma des Rechtsdiskurses sichtbar macht. System und Lebenswelt bleiben nicht nur stark ineinander verwoben, sie müssen es teilweise auch sein. Dies konnte einerseits bei den verbreiteten Vorstellungen von Autostoppersexualität gezeigt werden, die die Argumentation des Gerichts stützen (Kap. 1, 2), andererseits anhand der Legitimierung juristischer Sexualchroniken, in denen soziale Angepasstheit geprüft wird (Kap. 4). Durch die sprachlichen Überlagerungen institutionell gebundener und ungebundener Sprechhandlungen erwirkt Drach eine Monopolisierung der Perspek-
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tive. Damit wird der Kolonialisierungsprozess beschleunigt und zugleich verdeutlicht. Dass ihn der Autor statt durch Kommentare und Interpretationen vor allem durch eine Vielfalt lexikalischer und syntaktischer Kunstgriffe vorführt, zeigt nur umso mehr, wie raffiniert sich das System implementiert. Er fördert aber auch ganz grundsätzliche Probleme des Rechtsdiskurses zutage, die notorisch und zwangsläufig die habermasschen diskursethischen Maximen verletzen. So demonstriert Drach, wie der perlokutionäre Anteil der Sprechakte - die Wirkungsabsicht - dem illokutionären Gehalt - der Bedeutung des Gesagten - entgegengesetzt sein kann: Was der Protokollant als Handlungsimplikation sachlich als neutrales Anliegen präsentiert, wird über schräge und vieldeutige Definitionen und Satzkonstruktionen, in denen das strategische Handeln zum Ausdruck kommt, untergraben (vgl. Kap. 1, 3 und 5). Gerade die Abweichungen von fachsprachlichen Texten - durch Ungenauigkeiten, Uberanwendung ihrer Prinzipien oder Importe aus anderen Diskursen - offenbaren, wie der Rechtsdiskurs, der Protokollant und die referierten männlichen Zeugenaussagen lediglich vortäuschen, auf Einverständnis abzuzielen. Ihr Ansinnen ist vergeblich. Drach entlarvt den illokutionären Gehalt der Aussagen als irrelevant und lässt allerorten Wirkungsabsicht und Strategie durchschimmern. In vielen Facetten macht er deutlich, wie groß das Diskriminierungspotenzial der bürokratischen Sprache ist und wie gering die Möglichkeiten sind, es zu verringern oder überhaupt nur zu durchschauen. Noch in einem weiteren Punkt belegt das Buch, inwiefern das Diskursideal im Rechtskontext nicht verwirklichbar sein kann. Das Problem ist, dass die Geltungsansprüche Wahrheit und Richtigkeit nicht so „rigoros" trennbar sind,181 wie es Habermas in der Theorie möglich ist. Denn kaum betritt das System die Welt der „guten Sitten" oder der „anerkannten Handlungspraxis", wird auch die Frage der Wahrheit neu gestellt. Dies konnte vor allem anhand der Legitimierung der juristischen Sexualchroniken (Kap. 3) sowie anhand des klärenden Rechtsdiskurses gezeigt werden. Im Besonderen zeigt der Autor, wie das Protokoll im Hinblick auf das kommunikativ erzielbare Einverständnis an der universalen Kategorie der Wahrhaftigkeit scheitert. In einer idealen Kommunikation mag sie als gegeben, weil unabdingbar für das Gelingen, vorausgesetzt werden: Im Strafverfahren - und hier 181 P.-L. Völzing: Begründen, Erklären, Argumentieren. A.a.O. S. 70
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Abb. 14: Hierzu war vor allem klarzustellen, daß Stella offenbar einer sachgemäßen Behandlung durch den Harald Puppinger von Anfang an kaum moralischen, geschweige denn leiblichen Widerstand entgegenzusetzen wußte Albert Drach
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vor allem in den Vernehmungen und Rekonstruktionen des Tathergangs - ist es aber gerade sie, die zur zentralen Problemfrage emporgehoben wird. Gerade dieser Geltungsanspruch kann aber am allerwenigsten und nie zur Gänze festgestellt werden.182 Damit verliert aber jeder Prozess ganz grundsätzlich die Möglichkeit, sich an einem absoluten Ideal zu orientieren. In Anliegen und Grundlagen, wo beide, Habermas und Drach, ihre Arbeiten überhaupt ansetzen, herrscht Ubereinstimmung: Beide sichern der Sprache, die als vielschichtige Handlung aufzufassen ist, den höchsten Stellenwert zu. Nur über sie sind kommunikative und instrumentale Handlungen sinnvoll durchzufuhren und nur über eine Korrektur ihrer Mechanismen könnten Werte wie Gerechtigkeit durchgesetzt werden. Dass dafür eine Verstärkung (Drach) oder zumindest Sicherung (Habermas) der lebensweltlichen Dimension notwendig ist, heben beide als gewichtige und dringende Voraussetzung hervor. Einer Paradoxie der Diskursethik kann damit aber nicht entgangen werden. Unbewusste Wissensvorräte und ungenaue Wertvorstellungen werden nach Habermas über Diskurse und letztlich das System abgeschafft. Weil es um die Ubereinstimmung aller geht, müssen die Werte zudem rationalisiert werden. Der Lebenswelt, die es aber doch in wichtigen Bereichen zu erhalten gilt, ist damit der Kampf angesagt. Aus diesem Dilemma hat sich die Literatur einen sanften Ausweg geschaffen. Wenn der literarische Text auch nicht so ziellastig und nachhaltig ist wie gesetzliche Normen, so steht dennoch dafür, dass er andere Themen realisieren kann und die Mechanismen der Sprache nicht nur spürbar macht, sondern auch in viel differenzierterer Weise bloßlegt. Drachs Protokoll schafft es, Fragen auch dort aufzuwerfen, Diskurse dort anzuregen, Unmut dort zu erzeugen, wo handlungstheoretische und bürokratische Analysen nicht vordringen können: und zwar dort, mitten in der sozialintegrativen Welt, die oft gern, und nach der Lektüre des Kriminalprotokolls wohl umso lieber, ohne „Expertenkulturen" auskommt. Demnach kann Drachs Text - im Unterschied zur Habermas-Theorie - auch als praktischer Beitrag zur Erhaltung der lebensweltlichen Dimension gesehen werden, die von der Leserschaft Satz für Satz hinter Syntax, Lexik und strategischer Argumentation vor allem dort, wo sie bedroht ist, wahrnehmbar bleibt. 182 E b d . S. 63
c EXISTENZIELLE KÄMPFE ZWISCHEN SYSTEM UND LEBENSWELT Konrad Bayer: Kurze Texte Er verurteilte das Fahrrad, und das Fahrrad wurde gehängt. [...] Die Hinrichtung selbst habe ich nicht gesehen, da ich ein sehr empfindlicher Mensch bin und einen äußerst reaktionären Magen besitze.
Flann O'Brien Albert Drach hat mit seinem Text ein entscheidendes Diskursideal ad absurdum gefuhrt: An der Verfahrensfrage allein entscheidet sich nicht der emanzipative Status einer Norm. Er zeigt, wie anerkannte Handlungspraxis, jahrhundertealte Vorurteile durch und im Institutionalisierungsprozess bloß juristisch abgesichert werden. Damit gewinnen lebensweltliche Autoritäten auf der einen und juristisches Personal auf der anderen Seite einen immensen Spielraum. Die Aspekte des Einzelnen, ja der Einzelne selbst, erweisen sich als wegrationalisiert. Nur im Leseakt findet sich das Individuum - in aller Einsamkeit - wieder. Konrad Bayer rollt diesen Prozess umgekehrt auf. Uber den zutiefst individualistischen Zugang hält er System und Lebenswelt außen vor. Alle Ordnungen, Regeln, Werte und Gesetze reiben sich am Widerpart von Einzelpersonen und verlieren ihre Logik oder Legitimität. Dies zeigt der Autor in verschiedenen Sphären: Das Individuum versucht, sich in System und Lebenswelt zu behaupten, in belebter und unbelebter Natur, in privater, gesellschaftlicher und offiziöser Umgebung. Die Selbstbehauptung findet über Sprache und in sprachlosem Handeln, auf bürokratische und unbürokratische Weise statt. Bayer thematisiert sie in Toten- und Traumwelten, in Medien- und Stadtlandschaften. Naturgemäß ist radikale Selbstbehauptung nicht an Konsens, Verständigung, ja nicht einmal an Einverständnis orientiert. Stattdessen wird das Ich als totale Einheit installiert und, damit es vor jeder Vereinnahmung geschützt ist, aus den Kontexten herauspräpariert. Die Gefahren des Kontakts, der Gruppe, des Zusammenhangs versucht Bayer einzudämmen durch den plötzlichen Abbruch der Texte, durch literarisches Stückwerk auf losen Notizzetteln, die nicht ein-
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geheftet werden; er verlagert den Schauplatz in das Totenreich oder löst Einverständnisse, Beziehungen, Gemeinsamkeiten via Mord. Das heißt aber deshalb keineswegs, Macht und Profite auszuschalten. Genausowenig wird ein Rückzug ins Private angetreten oder eine biedermeierliche Freiheit bemüht, der ein individuell facettenreicher Umgang mit Gütern und Accessoires genügt. Im Gegenteil: Das System hat Einzug zu halten in jedem Einzelnen und sodann einen offiziellen Status zu erlangen. Um sich behaupten zu können, muss es gegen Moral und Konventionen immunisiert werden. Der bescheidene gemeinsame Nenner, auf den die Anliegen Bayers und Habermas' gebracht werden können, ist, dass dem Willen des Einzelnen Geltung verschafft werden soll. Allerdings ist dieser Willen bei Habermas über konsensuelle Prozesse in den Institutionen zu etablieren, während bei Bayer ständig am Dissens gearbeitet werden muss. Die zweite Gemeinsamkeit zwischen Habermas und Bayer liegt im Primat der Sprache begründet, die bei Willensfindung und Willensbehauptung als Protagonist fungiert. Nur über sie ist sowohl Konsens als auch Dissens herbeizufuhren und zu installieren, wenn auch Bayer bei mangelndem Erfolg Sprache durch körperliche Gewalt ergänzt haben will. Wie der Dichter - ein ebenso überaus enhaltsamer „Lebensweltler" wie der Wissenschaftler - bei seiner Arbeit am Ideal vorankommt und wieweit er die Vorteile des Systems bei seinen Anliegen zu nutzen vermag, werde ich nun an einigen Texten zu zeigen versuchen.
1 Die „Holde des Unsagbaren": Jenseits von systemischer Statik und der dynamischen Lebenswelt.
SEIN Lachen. S. 23f.183 Blättert man im Werk Konrad Bayers, trifft man auf lose Texte und einsame Protagonisten und hat ähnliche Wanderschaften vor sich, wie sie vom Autor geschildert werden. Dabei kommt man weniger voran in Landschaften oder der Klärung der Lage, sondern wird ständig aufgehalten, durchgeschleust oder hinausgeworfen. Am schärfsten ist diese Auslieferung an die Welt vielleicht in 183 Alle Texte sind dem Gesamtwerk entnommen, das Gerhard Rühm herausgegeben hat: K. Bayer: Sämtliche Werke. Wien 1996
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einem frühen Text - den Bayer 1949 mit 17 Jahren geschrieben hat weil keine Menschen, sondern bloß deren Töne unterwegs sind. Das ist tödlich. Der Schrei des Sterbenden, der „weiter läuft" und „über Gedanken" „stolpert", „rollt keuchend zur einsamen Mühle./Und atmet. Und klopft." Dem Müller, der ihn sieht und wartet, kann der Schrei nichts anhaben, er lacht. „Lacht ein schauriges einsames Lachen. Lacht es hinaus durchs Fenster./SEIN Lachen." Dieses „hält sich" und trifft erst auf den Amtmann, dann auf Menschenmassen und lässt sich zuletzt auf einer einsamen Person nieder, die im Wald unterwegs ist. „Unten stirbt der Wanderer. Auf seinem Antlitz hockt SEIN Lachen." Der Autor gestaltet die sozialen, kommunikativen Welten als selbstständige Riesenräume, wo die Individuen - kaum charakterisiert durch etwas Menschliches - tot zusammenbrechen. Den drei bayerschen Prototypen der Gesellschaft - dem Staatsdiener, den ununterscheidbaren Teilchen der Masse und dem einsamen Wanderer - fugt die Lebenswelt dieselben Wunden zu. Alle sind gleichermaßen bedroht und ihr ausgeliefert, die Reaktionen jedoch sind unterschiedlich : Der einsame Wanderer leidet und versucht zu fliehen. Die Masse ergibt sich traurig. Nur der Mann vom Amt bewahrt Ruhe und bleibt cool. Dieses Bild der Gelassenheit ist umso bestürzender, als Bayer den Amtmann auf die Straße stellt, wo er „steht" und „auf ewiges Leben" wartet, obwohl der Autor alles nur Denkbare an Grauen aufzubieten versucht. Denn das schaurige, einsame Lachen des Müllers ist „untragbar des Auges, mit zerrissenen Därmen und ekelerregenden Häuptern ... Fratzen; Scheußlichkeit". Der wartende Staatsdiener zeigt keine Reaktion. Er rast nicht herum, er schaut nicht einmal weg, er hält dem Blick, dem „Untragbaren", stand. „Gross sind die Augen des Amtmanns", schreibt der Autor. Gross, rein und verwundert. Dann steigt das Grauen in seine Augen. / Steigt und wird gross. Das Grauen. / Doch der Amtmann lacht. Lacht mit vom Grauen verzerrten Antlitz. / Lacht, lacht, lacht. / Lacht und stirbt. / Lachend.
Damit enthebt sich der Beamte noch als Sterbender der leidvollen Umgebung, wo alle anderen im Unterschied zu ihm „mit traurig einsamen Blicken" sterben. Zugleich unterscheidet er sich auch vom zweiten Einzelnen, seinem „lebensweltlichen Pendant", das, statt an der Straße zu stehen, durch die Natur streift.
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Der Wanderer zeigt verschiedene Reaktionen: Er versucht wegzukommen, ist innerlich keineswegs ruhig, sondern voller Angst und zittert. So finden und packen ihn [die Töne des Lachens] mit ihren Schlingen aus Draht und Meerschaum. Scharf wie Gedanken, lauernd hinter Gräbern und sich spiessend in den Netzen, gespannt zwischen den Armen des Waldes, grausam greifend nach furchtsamen Seelen. Holde des Unsagbaren.
Erst hier, wo es das einzelne Leiden, die bewusste Angst des Wanderers gibt, kann Bayer den Sprachkonkurs zum Thema machen. Ja er wird sogar zu einem Raum, zu einer „Holde", fiir dessen Territorium naturgemäß ein Wort erfunden wird. Nimmt man die Bedeutungen des Adjektivs „hold" und der phonetisch verwandten „Halde" zu Hilfe, so entsteht eine zwiespältige Atmosphäre, die zwar anmutig, jedoch auch unwirtlich und leblos ist. Dieser Ort ist detjenige, um den das Werk Bayers zu kreisen scheint, den er ausdifferenziert und zu erforschen trachtet. Indem er „die Holde" nicht nur erwähnt, sondern auch ständig versucht, das Unsagbare zu sagen, durchleuchtet er das unwegsame, tabuisierte Terrain. Wenn Menschen nicht in Systemen und sozialen Welten integriert, weder in staatlichen, wirtschaftlichen noch in gesellschaftlichen oder geselligen Verbänden verflochten sind, wird das Schändliche dieser Ordnungen erkennbar. Zugleich wird ersichtlich, dass nur ihnen, den radikal vereinzelten Personen, die „Holde" zugänglich ist. Umgekehrt gilt entsprechend, dass das Unsagbare von Sprache dort, wo es Regeln, Schriften, Uniformen oder Gruppen gibt, gar nicht wahrgenommen wird. Insofern desavouiert Bayer ausgerechnet dort, wo Habermas seine ethisch einwandfreien Handlungskoordinaten ansetzt, jegliche Möglichkeit von Kommunikation. Während sie in der Handlungstheorie in gemeinsamen Prozessen (auch optimal) realisiert werden kann, ist das für Bayer ebendort unmöglich. Ja die Beteiligten bemerken oft gar nicht, dass es kein kommunikatives Handeln geben kann. In seiner expressiven Form, in der viele Handlungen und Empfindungen in grellen, knappen Bildern verdichtet sind, bietet „SEIN Lachen" das plastischste Bild vom Beamten und dem bürokratischen Eigensinn. Zugleich werden diverse Fragen aufgeworfen:
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- Wie ist das System, hier versinnbildlicht durch den Amtmann, beschaffen und welche Funktionen werden ihm zugeordnet ? Wird es auch durch andere Repräsentanten oder Repräsentationen charakterisiert? - Was für Folgen hat die Panzerung und Abgeschiedenheit des Amtmannes für die Lebenswelt und insbesondere für die kommunikativen Handlungen? - Gilt die Trennschärfe und Undurchlässigkeit auch umgekehrt, d.h. kann auch von der Lebenswelt nicht ins System eingedrungen werden ? - Ist der Typus Amtmann universal gedacht oder geografisch, historisch verortbar? Anhand denkbar unterschiedlicher Texte Konrad Bayers soll nun diesen Fragen nachgegangen und gezeigt werden, wie viele originelle und bestürzende Antworten darauf in der radikalen Schreibweise zu finden sind.
2 Ein Plädoyer für Dissens und Missverständlichkeit: Jenseits der Überlebensfähigkeit des Systems und des lebensweltlichen Zusammenhangs der 50er-Jahre. (Dicht gedrängt sitzen die Menschen). S. 50-52 Eine ähnlich typisierte Gesellschaft wie im vorigen Text lässt Bayer in einem kurzen Prosatext aus den frühen 50er-Jahren zusammentreffen. „Dicht gedrängt" befinden sich arme, ängstliche Menschen auf einem alten Peripheriebahnhof und versuchen wegzukommen. Herausgehoben aus der Masse sind lediglich zwei Personen: Der eine ist Schalterbeamter, macht wiederum einen Fixpunkt aus und bleibt, wie der Amtmann im Gedicht, angesichts der Dramatik sonderbarerweise völlig gelassen. Er arbeitet angestrengt und gewissenhaft, „schwitzt [...] und fahrt sich von Zeit zu Zeit mit seinem karierten Taschentuch über seinen fetten Hals". Der zweite, der von der Masse differenziert wird, ist ein hübscher, blonder Jüngling, der sich verliebt und der als einziger großzügig ist und Geld verschenkt. Schließlich springt er „über die weisse Graniteinfriedung über die Geleise" und wird damit wohl zu einem weiteren Exempel für den Typus des „einsamen Wanderers".
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Bis auf diese Einteilung in Schicksalsgemeinschaft, Staatsdiener und „Wanderer" bleibt der Text überaus uneindeutig. Unmöglich ist es, die dort vorkommenden Menschen in Lebende, Sterbende und Gestorbene ordnen zu können: „Tote sitzen herum" und „betrachten" und „blicken", aber gibt es auch Lebende am Bahnhofsvorplatz? Der hübsche blonde Junge „ist schon einmal gestorben". Die anderen also nicht ? Sind die vielleicht bloß tot, aber gar nicht gestorben ? Jedenfalls bleibt unverständlich, warum der Jüngling gerade deshalb, weil er „schon einmal gestorben ist", nichts mehr Schlimmes zu befurchten hat, den anderen aber sogar „das Entsetzen [...] aus ihren Augen" tropft. Offen bleibt ebenso, ob der Schalterbeamte, der vielleicht zugleich Bahnhofsvorstand ist, auch schon tot ist und ihm die Verwaltung der Mitverstorbenen obliegt. Oder lebt er doch und wird gerade deshalb zum einzigen, der so emotionslos, so wenig lebendig ist ? Ebenso undechiffrierbar ist der Text dort, wo es um die Motive für die Angst und Massenflucht geht: Denn die Leute „wissen nicht, wovor sie sich furchten". Sie haben alle Angst, aber sie wissen nicht wovor. Sie haben diese grosse steinerne Stadt verlassen, aber sie wissen nicht weshalb. Sie sind geflüchtet, davongelaufen im Nachthemd, haben alles unterbrochen, alles verlassen. Sie wissen nicht, warum sie bei diesem Vorortbahnhof stehen, sie haben ihre grossen Bahnhöfe im Zentrum. Sie stehen bei diesem Vorortbahnhof mit den morschen Schwellen und verbogenen Geleisen und wissen nicht worauf sie warten. Vor zirka sechzig Jahren ist die letzte Garnitur ausgefahren.
Wenn K. Bayer zwar diese zentralen Fragen offen lässt, so gibt er doch entscheidende Hinweise darauf, in welcher Zeit und an welchem Ort er die Handlung positioniert haben will. Spezifische Verletzungen (ein amputiertes Bein, eine tödliche Schusswunde) legen nahe, dass es einen Krieg gegeben hat oder gibt. Durch die Währung, die Groschen, wissen wir, dass es sich hier um einen österreichischen Bahnhof handelt, der keine Monarchie mehr vernetzt und genauso wenig zur Ostmark gehört. Andererseits wird die Zeit, in die die Menschen flüchten möchten, als Kaiserzeit ausgewiesen, indem erwähnt wird, dass sechzig Jahre lang keine Garnitur mehr ausgefahren ist. Damit könnten die Flüchtlinge auch aus beiden Weltkriegen inklusive Zwischenkriegszeit stammen. Jedenfalls sind sie jeden Alters und aus verschiedenen Schichten und setzen sich aus Fet-
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ten („Ariern"?) und „Ausgemergelten" (KZ-Häftlinge?) zusammen. Erwähnt werden ein Bettler, eine alte Großmutter mit Schnürstiefel, „ein kleines Mädchen mit einer verknitterten blassblauen Schärpe im Haar", ein früherer Selbstständiger mit ernsthaft geschnittenem schön gewelltem Haar, „flachshaarige Schwestern", ein „gutgekleidetes älteres Ehepaar" und ein kräftiger Kerl. Alle, die jemals im Dienste des Staates gestanden sind, weisen nazigenehme Merkmale auf: Der Beinamputierte hat „graublaue Augenflecken", der Jüngling, der wohl im Krieg gefallen war, ist blond. Beim Beamten - mit Mütze, Uniformrock, schwarzer Hose „an glänzenden Knöpfen mit Hosenträgern" mit kariertem Taschentuch und fettem Hals wird der Autor schließlich ganz eindeutig: „Er hat eine grosse weisse und gerade Nase." Diese also ganz gut als österreichische Nachkriegsgesellschaft erkennbare Menschenmasse, die aus Toten und Uberlebenden besteht, versucht ängstlich und hektisch wegzukommen: jeder für sich und doch alle auf dieselbe Weise. Bayer beschreibt die Flucht sehr drastisch: Er montiert die Menschen zu unwirtlichen Landschaften, wenn sich junge Männer „durch dieses Gewirr von verkarsteten Mütterschultern und Fettbäuchen durchzukämpfen" versuchen. Als „der Vorstand mit seiner Mütze" die Tür öffnet, erweist sich die Landschaft wie durch Satan in eine Ordnung gebracht: „Bewegung kommt in die Masse. Es ist eine Schlange in diesen stinkenden Pferdeschwanz eingeflochten." Schließlich nehmen die Leute selbst animalische Züge an. „Sie drängen wie die wilden Tiere, die Kinder weinen, die Mütter heulen wie hysterische Wölfinnen und die Männer hasten mit angstverzerrten Gesichtern zu einem dunklen Knäuel, der sich vor dem Häuschen balgt." Gegenüber diesen Farben und dieser Lebendigkeit der „Untoten" verkümmert das kleine Bahnwärterhäuschen mit seinem Beamten zu einem starren toten Punkt. Das Groteske der Staatsmacht, das Bayer dabei herausarbeitet, resultiert aus der Opposition zwischen den beiden Polen: Das System, das seine Leute auf dem Gewissen hat und auch als Verstorbene weiterverwaltet, gilt als tot. Ungeachtet dessen hockt darin der Staatsdiener als einziger Vertreter und Symbol des Uberlebens und fuhrt seine Arbeit aus. Er verkauft Fahrkarten für Zugfahrten, die es nicht geben kann, weil die Gleise verbogen sind. Also setzen die Massen auf eine Infrastruktur, die ihnen bekannt ist, die ihnen aber nichts nutzt und nur das letzte Geld aus der Tasche zieht. Jeder Einzelne klammert sich an
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diese Hoffnung, die vom Staat auch nicht zerstört wird. Im Gegenteil. Routine und Tradition werden bis ins letzte Detail beibehalten: die Uniform des Beamten, der Vermerk auf der verschlossenen Tür „Fahrkartenausgabe. Komme sofort", die Bitte, Kleingeld vorzubereiten, die Ordnung, die gewahrt wird, selbst wenn es auf den Betrag nicht ankommt: Selbst vier fehlende Groschen sind zu wenig, „Kommen Sie wieder, wenn Sie den Rest aufgetrieben haben". Auch die (toten) Menschen tradieren die Formen. Sie stellen sich an, drängeln sich, kaufen die Fahrkarten und ärgern sich wie immer: „So eine Schweinerei, immer diese Schwierigkeiten." Sie tradieren Grundwerte wie innerfamiliäre Solidarität und Verteidigung des Eigentums. Keiner gibt die vier Groschen her, die der dreiköpfigen Familie fehlen. Diejenigen, die das Geld hätten, „haben es vergessen. Die es nicht vergessen haben, werden es nicht hergeben." Nur das blonde hübsche Kriegsopfer - „ihm scheint die Sonne in den Magen" - schenkt einer Familie das fehlende Geld, auch wenn sich der Jüngling jetzt selbst keine Fahrkarte mehr bezahlen kann. Mit dieser bruchlosen Fortfuhrung traditioneller Ordnungen und Werte zeigt Bayer, wie der Zusammenhang stets derselbe bleibt und reflexartig dieselben Handlungen hervorruft. Alle sind festgenagelt. Bis auf den Verliebten handeln alle vorprogrammiert. Deshalb ist auch kein Diskurs nötig. Und er ist auch gar nicht möglich: Denn wo Gewissheit über Nichtwissen herrscht, da kann auch gar nichts problematisiert oder geklärt werden. In einer Zeit, in der eine einzige kollektiv getragene Ordnung dominiert, die sowohl durch das System als auch von der Lebenswelt vehement verteidigt wird, nämlich im Osterreich der 50er-Jahre, haftet der Konventionalität etwas schrill Absurdes an, was Bayer hervorragend auszudrücken versteht. Er zeigt, wie im Konsens gegenüber Althergebrachtem die entscheidenden Geltungsansprüche bezüglich Wahrheit und Richtigkeit verschüttet, jedoch nicht ausgemerzt werden. Die Tradition unterdrückt die Sinnfrage, die Standortfrage, die Fragen nach dem Glück und der Solidarität. Sie beherbergt Ängste und Bestien, die sich zusammenrotten. Die staatlichen Institutionen, die auf Tradition und Perfektion bauen, bilden den Anziehungspunkt. Sie haben überlebt und überleben, selbst wenn sie lange Zeit brachgelegen haben, dezentriert sind und ihre Gebäude vermorscht, mit Moos bewachsen sind und die Tür „ein Spinnwebennetz kleiner Flechten" ist. Reflexartig bewegen sich die Menschen darauf zu.
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Nach den Kriegsjahren kehren sie arm und panisch und „dicht gedrängt" zurück in jenes Land, das nunmehr wieder mit Groschen handelt. Tote und Lebende kehren damit in die Geschichte zurück. D.h. Gegenwart und Vergangenheit, Selbstverständnis und Hoffnung werden in der kaiserlichen Zeit gesucht. Mit Fluchtgepäck versuchen sich alle genau dort wieder Eintritt zu schaffen, wo „der Ordnung halber" alles geopfert wird und wo „die Ordnung [...] unbedingt gewahrt werden [muss]". Wer den Eintritt nicht bezahlen kann, wird selbst von den Toten „aus den Augenwinkeln" heraus als „Aussätziger" betrachtet. Schließlich könnte er als Zurückgelassener die Zwischenzeit, die Jahre zwischen 1914 und 1945, wieder heraufbeschwören. Aber ist denn das System über die sechzig Jahre tatsächlich nur gealtert, vermorscht, bemoost und verbogen worden ? Trägt es die Wunden der Zeit sichtbar mit sich wie die Leute ihre Kriegsverletzungen, Ängste, das Entsetzen und die Armut? Nein! Eine kleine Investition gibt es, an der sich die neue Zeit, der Aufbruch, die österreichische Nachkriegsmentalität festmachen lässt. Es ist die Fassade (des Bahnwärterhäuschens). Denn: „Der Verputz ist neu."
3 Der Luxus der Systemwelt: Jenseits von Logik und Zweckrationalität
(Ich wandere). S. 39-41 Aus dem Jahr 1953 findet sich unter Bayers Texten eine weitere Schilderung lebendiger Toter in einem vom System regulierten, stabilisierten Reich. „Ich wandere auf einer in die Ewigkeit fuhrenden Strasse". So beginnt die Erzählung, in der schon bald klar wird, dass diesmal ein Beamter die Rede fuhrt. So erwähnt er mit sinnloser Präzision, dass die rostigen Konservenbüchsen „zu Bergen von 32.784 Stück" gestapelt sind. Zudem taucht seine „Uhr mit der Silberkette" auf die in einem späteren Text Lieblingsobjekt des gelynchten Amtmannes ist (vgl. Kap. 5). Höhere Schulbildung hat die Ich-Figur auch hinter sich, die einen verwesenden Jugendfreund trifft, der selbst im Tod noch getötet werden kann: Den Erzähler „langweilen [...] diese ewigen Gymnasialgeschichten. Um ihn abzulenken, habe ich ihn erwürgt." Als Beamter kennt der Protagonist aber nicht nur Fadesse und prekäre Ablenkungsmanöver, sondern ist auch an fixe Arbeitsrhythmen und Stresslosig-
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keit gewöhnt. So beginnt er mit äußerster Gemütsruhe - „es wird Zeit" - ein „Abendgrab" auszuheben. Die Fertigstellung dieser Aufgabe verschiebt er auf den nächsten Tag, als sich plötzlich die Arbeitsbedingungen verschlechtern. Weil er das Fortpflanzungsorgan des Fuchses als Pressluftbohrer einsetzt, explodiert der kleine Fuchs „mit unanständigem Getöse". Welcher Beamte kann schon unter solchen Umständen eine Arbeit zu Ende bringen ? Vielleicht könnte man der Ich-Figur auch einen anderen Beruf zuordnen, zumal sie „schreckliche Angst" hat und auf Wanderschaft geht. Aber die Furcht vermag sie nur gepaart mit Langeweile wahrzunehmen und die Zielorientierung ist typisch verquer und kontraproduktiv: Direkt führe die Straße ins Jenseits, zugleich gelange man aber auch nach Klagenfurt. Besonders irritiert, dass der Beamte Eigeninitiative zeigt und kreative Lösungen sucht und findet. Welcher Staatsangestellte kommt schon auf die Idee, einem schlafenden Fuchs die Rute auszureißen und sie so weit in die Erde zu bohren, dass man „mit Hilfe der Mondanziehung wieder an die Oberfläche geschleudert" wird ? Verrät sich mit diesem Technikverständnis ganz banal amtsheimische Skurrilität? In jedem Fall zielt der Lösungsansatz auf die bürokratischen Kriterien der Regelhaftigkeit und Wiederholbarkeit ab, wenn dadurch „das Spiel [...] von neuem" beginnen kann. Außerdem wird diese Grabaushebung lakonisch damit gerechtfertigt, dass es sich bloß „um das bekannte System des Pressluftbohrers" handle. Bekannt ist, dass strikte Anwendungen von althergebrachten Systemen und Regelungen gerade im administrativen Bereich zu sonderbarsten Auswüchsen fuhren können, gerade wenn es dabei zu Berührungen mit lebensweltlichen Komponenten kommt. Schließlich outet sich das Ich selbst als Amtmann, wenn es die Erzählung mit einer typischen Textsorte aus dem Reich der Bürokratie, nämlich mit seinem beruflichen Curriculum, unterbricht 184 : Ich war bis zu meinem 74. Lebensjahr Friedhofsbeamter und habe mangels anderer Befähigungen modische Accessoires aus Hirnschalen in handwerklichem Betrieb hergestellt. Nicht protokollierte Firma. Geniesst in der Branche guten Ruf 184 Vgl. zu dieser Textpassage auch S. Zeiger: Von Beamten, Dorfpolizisten und den Händen des Ministers für öffentliche Arbeiten. Poetik der Bürokratie bei Konrad Bayer, Thomas Bernhard, Georg Paulmichl und N. C. Käser. In: (= Studia austriaca, Nr. 15) Mailand 2007. S. 41-58, hier S. 45ff.
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und gilt als seriös und korrekt. In letzter Zeit wurden Zahlungen allerdings nur mehr in gebrauchten Zahnstochern geleistet. Eberhard Hirnschall & Co. warnt die bevorzugten Kranzschleifenhändler vor dem Hereinbruch des 11. und 26. Juli. Seit Abiaufmeines Existenznachweises bin ich freischaffender Vertreter für Zigarettenautomaten.
Dass der Beamte seinen Lebenslauf ausgerechnet dann vergegenwärtigt, wenn er in Gedanken versunken ist - nach diesem beruflichen Abriss „erwacht" der Beamte wieder aus seinen Gedanken zeigt nicht nur, wie intus er sein Ordnungsraster hat. Das bürokratische Schema wird in der Tiefenflächenstruktur verortet, während der Gang in die Ewigkeit zur realen Geschichte wird. Die „Gedanken", die im nicht ganz wachen Zustand das Hirn passieren, bleiben dem Curriculum, den Daten und Zahlen vorbehalten. Die expressionistische Erzählung aber, in der dem Protagonisten „die Einöde [...] mit ihrem stumpfen Atem in den Halswirbel" bläst oder „die korallene Sonne" geschleift wird, referiert bewusstes Erleben. Krasser kann System und Erlebniswelt nicht ineinander verschränkt werden. Wie im vorigen Text erzielt der Autor umso abstrusere Wirkungen, als mitten in einer unvorstellbaren, grauenhaften Welt das System unverändert erhalten bleibt: dort exakte Fahrpreise, hier exakte Lebensdaten, dort der uniformierte Schaltermann, hier der tüchtige Friedhofsbeamte; dort der Bahnhof, hier der Friedhof; dort die organisierte Flucht aus dem Totenreich, hier die organisierte Reise aus dem Leben. Immer reagieren mitten im großen Leiden der Staat und seine Diener herkömmlich. Selbst wenn die Lebenswelt erschüttert und zerbrochen ist, wenn das Leben unordentlich und unvorhersehbar geworden ist, stellt der Staat Rahmen zur Verfügung und bleibt mit seinen Ordnungsparametern unerschütterlich. Damit wird die Entwicklungslinie, die von Habermas linear gedacht wird, korrumpiert. Seine Institutionen sind nämlich modern und bauen nach wie vor auf der postkonventionalen Entwicklungsstufe auf. Die Lebenswelt bei Bayer hat aber an Rationalisierung verloren und platziert sich im System wie in einem Skelett der Zukunft. D.h.: Die Kolonialisierung durch das System fuhrt nicht zum Ende von Lebenswelten, sondern das System wird erst durch den Zusammenbruch lebensweltlicher und moralischer Ordnungen zum Kolonisator. Dieser ist willkommen. Um dem Elend oder dem Chaos, vor allem aber der Ver-
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gangenheit zu entkommen, nützt man die vom Staat zur Verfügung gestellten Stütz- und Eckpunkte, seine Infrastruktur, seine zeitlichen Raster, sein Personal. Während vormoderne Verwaltungsstrukturen an die neuen Situationen angepasst werden müssten, hält das bürokratische Gerüst den veränderten Inhalten stand. Es funktioniert. Es läuft. Es setzt sich fort, auch wenn es keinen Sinn mehr hat. Sein Medium, nämlich die Macht, hat das System nicht verloren. Es übt weiterhin Gewalt aus und herrscht über die Toten. Die Macht erweist sich als umso drastischer, als das wirtschaftliche Subsystem und sein Medium geschwächt sind, wie im kurzen autobiografischen Abriss klar wird. Nicht nur drohen den Kranzschleifenhändlern Verluste, weil die Kriegstoten weniger werden. Wohl in Anspielung auf die Vermarktung von Menschenteilen in der NS-Zeit schreibt der Autor auch, dass die modischen Accessoires aus Hirnschalen nicht mehr mit Geld bezahlt werden. So gewinnt die symbolische Welt an Gewicht, die sich der Staat zunutze machen kann. Jetzt ist es aber nicht mein Anliegen, die absurden Vorkommnisse in möglichst viele realistische umzudeuten. Das Absurde selbst, nämlich das Abwegige, Widersinnige185 bzw. das, was „mißtönend" und „dem gesunden Menschenverstand" widerspricht 186 , entlarvt die Einwegigkeit und das Sinnige, die harmonische Eintracht und die eindimensionale Logik der österreichischen Nachkriegszeit. Ich denke, dass die frühen Texte Konrad Bayers insofern vehement historisch sind und den zur Schau gestellten wohligen Konsens demaskieren. Zugleich aber sind sie unangenehm aktuell, weil sie die Geborgenheit im staatlichen Gehäuse bloßstellen und die Unmenschlichkeit und Zeitlosigkeit von Bürokratie aufdecken. Der Staat und seine Diener decken gemeinsam mit dem Volk jede noch so gemeine Lüge und ermöglichen kollektive Verdrängungsakte. Wenn es in den 50er-Jahren Massenmorde waren, so sind es inzwischen Massenausgrenzungen, die unter unwahrscheinlich schönen Tönen mit derselben Hetze vorangetrieben werden. Durch den glatten, sauberen, höflichen Akt organisiert der Beamte für Abschiebeangelegenheiten, so „seriös und korrekt" wie Bayers Friedhofs- und Schalterbeamte, den Aufbruch in die neue Zeit und zugleich den Abbruch zur alten. Er garantiert Erinnerungs- und Gewissensverlust.
185 Vgl. Der kleine Wahrig. A.a.O. 186 Vgl. Duden. Das große Fremdwörterbuch. A.a.O.
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Abb. 15: Ich war bis zu meinem 74. Lebensjahr Friedhofsbeamter und habe mangels anderer Befähigungen modische Accessoires aus Hirnschalen in handwerklichem Betrieb hergestellt. Konrad Bayer
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Den Höhepunkt, der bürokratische Beharrlichkeit und absurde Lösungsansätze auf geniale Weise verbildlicht, setzt Bayer an den Schluss der Kurzgeschichte, in dem es um das Ab- oder Nachleben des Friedhofsbeamten nach „Ablauf" seines „Existenznachweises" geht. Abgesehen davon, dass er ähnlich den herzmanovskyschen Beamten a.D. wieder Geld zu verdienen versucht - hier mit Zigarettenautomatenhandel - wird er selbst zum Objekt fremder Machenschaften. Weil die zwei Täter dabei aber nicht amtsmäßig handeln und, da sie Arbeiter sind, auch nicht so handeln könnten - müssen sie scheitern. Den beiden Arbeitern gelingt es nicht, dem sterbenden oder toten Beamten ein Brett mit roter Lampe an den Schädel zu hängen. „Glücklicherweise sind die Nägel aus Blei und fallen schon nach dem ersten Schlag als Scheiben zu Boden." Obwohl die beiden bis in die Nacht hinein daran laborieren, bleibt der Eingang in den Kopf verschlossen: Der Schädel des Staatsdieners ist härter als Blei. Auch im Angesicht des Todes steht dem Beamten kein Schlusslicht zu. Dass er auch selbst nicht recht vorankommt und weder Klagenfurt, die Vergangenheit noch die Ewigkeit erreicht, bringt den Wanderer und Beamten nicht aus der Fassung. Beide Typen - Wanderer und Beamte - sind bekanntermaßen am Weg und weniger am Ziel interessiert. Das stößt auch die Leserschaft nicht vor den Kopf, die daran gewöhnt ist, dass man ins Hirn der Behörde genausowenig vordringen kann wie in die Ewigkeit. Die beiden Kerle allerdings nervt die Sinnlosigkeit ihrer Bemühungen, und sie glotzen sich hasserfiillt und höchst verwundert an. Ihre schwieligen Handflächen sind von Arbeit und Sonne ganz zerrissen und mit bläulich verfärbten Eiterkratern übersät, aus denen sie ununterbrochen Brausepulver saugen. Während sie arbeiten, stürzen kleine Springbrunnen hervor, die einen schmutzigen Rand auf ihren Armen zurücklassen.
Facettenreich schreibt Bayer den Unterschied zwischen Beamten und Arbeitern fest: Nur Letztere ziehen sich Verletzungen zu und nur sie werden mit dem Scheitern nicht fertig. Bar jeder Alternative und jedes „Skurrilitätspotentials" versuchen sie bis tief in die Nacht ihren Auftrag zu erfüllen. Arbeiter sind keine Beamten: Sie haben keinen fixen Dienstschluss und Aufträge sind termingerecht auszufuhren! Ihre Tätigkeit zeichnet sich im Körper ein und sie verlangt Ergebnisse. Körpereinsatz und Erfolgsdruck sind bekannt. Angesichts
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der Umgebung und des Auftrags ist ihre Diesseitsorientiertheit denn doch bestechend. Da ergeht es dem Friedhofsbeamten nach „Ablauf" seines „Existenznachweises" bedeutend besser. Konfrontiert mit dem lästigen verwesenden Freund, tötet er, um die Kommunikation abzubrechen. Konfrontiert mit „unanständigem Getöse", verschiebt er die Arbeit auf den nächsten Tag. Und konfrontiert mit der Schrift „Nur für Grossnichten" befreit er sich schnell von der Beklemmung, weil er „weiss, dass es einen Ausweg" fiir ihn gibt. Er nimmt eine Pose ein, die Selbstsicherheit und Tatkraft verspricht, und verschwindet: „Ich stütze meinen rechten Arm in die rechte Hüfte und entschlüpfe durch das so entstandene Loch."
4 Die Utopie des verstaatlichten Einzelkämpfers: Contra Gesellschaft und Geselligkeit, (einmannstaat) S. 17 Was Bürokratie in den frühen 50er-Jahren für Beamte und Bevölkerung bedeuten könnte, macht Konrad Bayer in diesen frühen Texten ziemlich deutlich. Er legt deren konsensschaffende Kraft bloß, indem er das System in absurder, grotesker Umgebung walten lässt. Und er verweist auf die junge Kriegsvergangenheit, die nur mithilfe althergebrachter Institutionen und Amtsmenschen zu verdrängen ist. Dabei bleiben der Einzelne, der Wanderer, die Veränderung, die Bewegung, das Bewusstwerden, ja das Bewusstsein auf der Strecke. Gegen diese Verluste hat Bayer auf einem Notizzettel die Utopie eines Einmannstaates entworfen, in der der Mensch nur mehr als Einzelperson fungiert. Alles, woraus Lebenswelt oder System entstehen könnte, wird de facto und de jure abgelehnt. So muss auch das Pamphlet selbst auf einen Zettel hingeworfen sein, sodass es sich in keinen Block fugen und zwischen keine Vor- und Hintergedanken einordnen lässt. Auch Gerhard Rühm, des Autors Freund und Herausgeber des Nachlasses, gibt Bayers theoretischen Abriss im Vorwort statt im Werkteil wieder und knüpft daran beschwichtigend mit folgenden Worten an: „dazu im gegensatz hatte er [Bayer] ein starkes mitteilungsbedürfnis und zeigte sich seinen engsten freunden stets verbunden." Ähnlich entschuldigt Horst Stowasser Individualanarchisten wie Max Stirner und versucht die Schreckensherrschaft der Individuen durch einen Blick hinter die
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Theorie auf die Persönlichkeit der Autoren zu entschärfen, wenn er schreibt, dass in „Wirklichkeit [...] auch die Individualanarchisten meist nichts weiter als nette und durchaus sozial verantwortungsvolle Leute mit hohen Ansprüchen an ihre eigene Ethik" wären.187 Scheinbar können befreundete oder wohlgesinnte Interpreten derartig radikal formulierte Utopien nicht für sich stehen lassen, sondern müssen deren Wahrhaftigkeit am erstbesten, und zwar an der privaten Harmlosigkeit ihrer Verfechter infrage stellen. Im Gegensatz dazu möchte ich Bayers individualanarchistischen Ansatz - wie er in den besprochenen Texten, vor allem aber in seinem politischen Entwurf zum Ausdruck kommt - als Antwort auf seine Zeit, aber auch als vorwegnehmende Kritik der jungen kritischen Theorie lesen. Wie Stirner mit seinem Individualdogmatismus ein Tabu in der restaurativen Epoche um die vorige Jahrhundertmitte verletzt, so bricht auch Bayer rund 100 Jahre später mit seinem „einmannstaat" mit der kollektiven Aufbau- und Friedenssehnsucht, mit der Gruppensolidarität seiner Schriftstellerkollegen, mit der Eintracht zwischen Staat und Gesellschaft und mit der kultivierten Familienidylle. Die einzigen zwei Säulen, auf die er baut, sind das vereinzelte Individuum und - was ebenso wichtig ist - die bürokratische Struktur. Wenn es in den zuvor besprochenen Prosastücken die Straßen, die Bahnhöfe, die Schalter- und Friedhofsbeamten, Curriculum und Amtsschilder waren, die trotz existenzieller und logischer Brüche für Kohärenz und Verständlichkeit der Texte sorgen, so tritt im „einmannstaat" der ganze legislative Bereich hinzu. Nicht mehr der Wanderer, sondern der verbuchte, belegte Einzelne begibt sich auf Wanderschaft und ist mit Statuten und Rechten versehen. Dieser hat Rücksicht zu nehmen auf zwischenstaatliche Abkommen und auf Gesetze, die vorab zu klären sind. So notiert Bayer, wenn er die Konstitution des Einmannstaates vorlegt, als allererstes: „(besprechung mit einem Völkerrechtler)". Aber auch in allen anderen Belangen gelten gesatztes Recht und festgeschriebene Regeln: Sorgfaltig wird die „revolte des einzelnen, legalisiert", d.h. in den Machtapparat eingeordnet. Das Territorium wird zu einem „durchzugsgebiet": „(wie durch belgien)". Auch die Auseinandersetzungen zwischen den Staaten werden geregelt : „im kriegszustand (recht des kaperns)/,alle' privilegien nimmt sich jeder' Staat im kriegszustand/kriegserklärung an alle länder der erde." 187 Vgl. H. Stowasser: Freiheit pur. Die Idee der Anarchie, Geschichte und Zukunft. Frankfurt 1995. S. 191
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Damit wird in einem maximal konfliktgeladenen Areal mit permanent sich drehender, legalisierter Gewaltspirale ausgerechnet aktionistische Kraft kriminalisiert, „Aktionismus" ist verboten. Der Text steht also in direktem Gegensatz zu den spontanen Auftritten der „Wiener Gruppe", an denen auch Bayer teilgenommen hat. Alle Gewalt gilt es in bürokratische Ordnung überzuführen und zu legitimieren. Das Ziel liegt selbstverständlich nicht in der Stärkung der herkömmlichen Staatengebilde, aber deren Methoden und Strukturen bleiben erhalten: So soll der Entmachtung des Einzelnen als Staat mit schärfsten Mitteln vorgebeugt werden. Dafür hat der Autor die totale Institutionalisierung im Sinn. In der Terminologie von Jürgen Habermas heißt dies, dass alle nicht institutionell gebundenen Sprechakte abgeschafft werden sollen und damit auch alles zum Verschwinden gebracht wird, was kommunikative Handlungen und Lebenswelt betrifft. So einfach lässt sich Lebenswelt aber nicht abschaffen, und es ist in der Tat aufschlussreich zu sehen, wo der Autor deshalb besonders schwerwiegende Tabuverletzungen plant und zu legalisieren vorhat. Dass in allererster Linie jene, die einem nahe stehen oder nahe kommen könnten, verlässlich auf Distanz zu halten sind, leuchtet ein. Für die „versuchende[n] anhänger" genügt es jedoch, die Statuten zu präzisieren: „keine partei der man beitreten kann, sondern so etwas ähnliches wie ein volk". Mit Herzensverbundenen muss jedoch radikal Schluss gemacht werden: „erschiessung der freunde!! (nicht nur feinde, gibt zu wenig her)". Freundschaften sind nicht in institutionalisierten Strukturen zu finden, zu halten, zu beenden. Genauso schwer tut sich der Einmannstaatler mit Materialbeschaffung und sexueller Befriedigung. Während „requirierung" (Beschlagnahmung für Heereszwecke)188 institutionell und legal durchführbar ist und in Bayers Staatskonzept integriert wird, hat der Autor die Handlungen „plünderung" und „Vergewaltigung" mit Fragezeichen versehen: Gelten diese Gewaltakte doch selbst für kriegsführende Staaten oft als Tabu. Schließlich entziehen sie sich dem staatsbürokratischen Reglement und sind nicht institutionalisier- und kontrollierbar. Vielleicht erscheint es dem jungen Autor, der in seinem „einmannstaat" den „einefraustaat" möglicherweise nicht mitdenkt, als problematisch, die weibliche Bevölkerung als Freiwild zwischen den Staaten zu implementieren. Wie lästig 188 Vgl. Duden. Das große Fremdwörterbuch. A.a.O.
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und überflüssig sie bei den wichtigen Angelegenheiten ist, so sie überhaupt vorkommt, wird im Übrigen in mehreren seiner Texte deutlich gemacht (vgl. weiter unten „qui&qua" oder „die einbahn"). Dasselbe gilt im Übrigen für Kinder und Minderjährige, für die das radikale Konzept keine Zeile übrig hat. In dieser Hinsicht zeigen sich Parallelen zwischen Bayer und Drachs Protokollanten. Beide versuchen, nicht völlig legitimierte Ordnungen mittels Machtmedien zu reproduzieren, auszuformulieren und zu legalisieren. Sie versuchen, das Unvorhersehbare, Spontane und Kommunikative zu beseitigen. Das ist ihnen umso wichtiger, als die sinnliche Seite weder das Autorenich von Konrad Bayer noch den emsigen Gerichtsangestellten Albert Drachs loslässt und ein ungeheurer Zeitverlust in Kauf genommen wird, auch wenn die Präzision der autoritären Gesetze und Lebensweltregeln mitunter verlustig geht. Warum Konrad Bayer aber überhaupt an der Ausrufung der neuen Staatskonstitution interessiert ist, deutet er nur an. Klar wird, dass es kein höchstpersönliches Anliegen ist. Außerdem wird deutlich, dass er keinesfalls dem Ansinnen anderer Einmannstaaten zuvorkommen darf. So ist der Text durchwegs spannend aufgebaut und durchläuft verschiedene Phasen. Der Beginn ist mit dem Satz „ich sitze und nähe meine fahne" durchwegs erzählerisch angelegt. Wie Kafkas „Poseidontext" („Poseidon saß an seinem Arbeitstisch und rechnete.", vgl. oben) ist die Erzählung mit dieser Einleitung aber auch schon an ihr Ende gekommen. Während aber Kafka daraufhin durchwegs prosaisch den Arbeitsalltag Poseidons schildert, notiert Bayer bruchstückhaft und systematisch. Wenn bei der Meeresverwaltung das, was immer schon so war und immer so sein wird, zur Rede steht, dann geht es um Sachverhalte und Darstellungen und nicht zuletzt um eine lebensweltliche Perspektive. Der „einmannstaat" hingegen setzt sich mit der Konstitution von etwas Zukünftigem und Möglichem auseinander und möchte ausgerechnet den gesamten lebensweltlichen Ballast loswerden. Das, was bei Kafka schon gemacht ist und stets wieder gemacht wird, muss Bayer erst in Gang bringen. Deshalb kann der eine großzügig über die Gründe der Arbeitsbedingungen hinweggehen, während sich der andere - zwar lückenhaft, aber doch - sofort damit auseinandersetzt. In abgebrochenen Sätzen und Notizen findet sich gleich nach dem ersten Satz mit der Begründung für seine Tätigkeit, das Fahnennähen, die Begründung für die Utopie.
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ich habe erkannt, dass ich ja letztenendes / (sich deklarieren, kann ich das, geheim, exilregierung.) / glaubenskrieg, für eine Überzeugung, ein ideal kämpfen, sollte keine frage der quantität sondern der qualität sein, also auch immer gegen alle.
Bayer teilt seine „Erkenntnis" zwar nicht mit und verrät vorerst weder seinen Glauben noch sein Ideal. Jedoch thematisiert er Fragen der Legalität („sich deklarieren, kann ich das") und benennt die vernünftigste Form („geheim, Exilregierung"). Damit ignoriert er die Praxis der inhaltlichen Auseinandersetzung und prescht sogleich mit formalen Akten und Gesetzen vor, die sogleich fiir alle Einzelnen Gültigkeit haben. Dieses Primat der Institutionalisierung ist in Bayers Text auch auf formaler Ebene vorzufinden. Konsequent setzt er nach den ersten Zeilen statt des privaten Ich infinite Formen ein, die schließlich einem distanzierten „er" und „man" Platz machen. Auf die inhaltliche und stilistische Formalisierung folgt schließlich das Motiv für die Staatenneubildung: die Erkenntnis, das Ideal und die Uberzeugung. So notiert Bayer: die ganze weit ist durchzugsgebiet. auf der suche nach lebensraum? nein, glaubenskrieg (...)189> kämpf für ideal, wenn einer erkennt, dass er gegen alle steht, müsste er sich dann nicht aufmachen und es tun.
Lückenhaft, aber doch, verrät der Autor hier das, was den Glauben ausmachen, um welche Erkenntnis und um welches Ideal es gehen könnte: Es ist die Position des Einzelnen, der allen gegenübersteht. Mit dieser Verortung der Person - die reif ist für das Gehäuse des Einmannstaates - wird der vorherige Satz, „dass ich ja letztenendes", zu einer Erkenntnis verallgemeinert. Es geht um das Ich und um jeden Einzelnen, der am letzten Ende, „schließlich", „eigentlich"190 zu allen anderen in Opposition steht. In dieser Position, an diesem Ort besteht die Gefahr, von herkömmlichen Lebens- und Systemwelten vereinnahmt zu werden. Ständig riskiert das Ich seine Einzigartigkeit und damit seine Würde. Um dieses Risiko auszuschal189 Unleserliche Textstellen wurden vom Herausgeber durch dieses Zeichen ersetzt. 190 Vgl. Der kleine Wahrig. A.a.O.
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ten, notiert Bayer verschiedene Aktivitäten, bei denen er auf die Mittel seiner natürlichen Gegner zurückgreift. Indem der Einzelne die Waffen der Allgemeinheit, seines Feindes Nr. 1, nützt, wird er selbst System und nimmt dessen Form und Sprache an. Die Waffen des Feindes Nr. 2, d.h. der Freunde, der Bekannten, der lebensweltlichen Verbundenheit, löscht er zusammen mit dem Feind selbst durch ständigen Krieg und Mord aus. Die erste Aktivität erschöpft sich demnach in Institutionalisierungsarbeit: Werte und Vorstellungen bekommen ihr Gehäuse, ihren Apparat, werden rationalisiert und systematisiert. Die zweite Aktivität betrifft den damit gesicherten Alltag, die Handlungen. Die erste ist Installation von Macht, die zweite Machterhaltung. Die erste betrifft die Männer, die sich „aufmachen": Zwar wird verschwiegen, wohin, jedoch werden Vorbereitungsaktivitäten bekanntgegeben: die „besprechung mit Völkerrechtler", das Nähen der Fahne, die Legalisierung der Revolte, die Definition von Rechten und Pflichten, das Aufstellen der Gesetze. In der zweiten Handlung „tun" sie „es". Was sie tun, bleibt wiederum ungesagt. Wichtig ist, dass auch hier die absolute Freiheit des Individuums gilt, das sich die Handlungen selbst aussuchen kann. Wie die habermasschen Subsysteme Wirtschaft und Staat haben sie die Möglichkeit, bei Bayer sogar das Recht, alles mit ihrem Medium zu durchdringen, zu kolonialisieren, was sich nicht auf ihre Medien umstellen lässt. Und wie dort, so ist auch hier die Vernichtung dessen, was sich nicht umstellen lässt, notwendig inkludiert. Die Einmannvölker behaupten ihre Macht, indem sie ihre „kriegserklärung an alle länder der erde" richten sowie Nicht-„Völkisches", Nicht-Staatliches (Frauen und Kinder) möglicherweise durch Vergewaltigungs- und Plünderungsakte unteijochen. Das bedeutet, dass sich Bayers Einmannstaaten nicht durch Frieden oder Konsens erhalten lassen, sondern nur durch Krieg. Dieser Universalkrieg verläuft nicht nur unter dem Schutz und nach den Regeln der Institution. Um den Staaten Einzigartigkeit zuzusichern, erhalten auch alle ihre präzise historische, geografische und gesellschaftliche Verortung: „daten: genaue zeit-ortsbestimmungen/rhythmen: gerüche, geschmack (essen), tasten/wiederholungen (listig einschmuggeln)". So wird der Einzelne mit seinen Angriffsmöglichkeiten, seinem Aufenthaltsort und seinen Daten fixiert. Selbst die feinsten sinnlichen Qualitäten werden erfasst und in ihrer Regelhaftigkeit, als Rhythmen, ausdifferenziert. Die Folge ist eine Serie totalitärer Staaten: jeder sich selbst durch die Hoheit des Bewusstseins ein Diktator über
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die Gesamtheit des Ich, über die Gefühle, das Unterbewusstsein, das kulturelle Kapital. Jeder wird für sich ein gläserner Mensch. Interessant erscheint hier die Thematik der Repetition: Wie bei den Rhythmen ergeben sich aus genauer Erfassung aller Daten Wiederholungen, die das Besondere beleidigen. Wenn der Rhythmus aber noch akzeptable Kohärenz schafft, so sind Wiederholungen unangenehm. Deshalb sind sie wohl auch nur ins System integrierbar, wenn sie listig eingeschmuggelt werden. Das bedeutet, dass nur mit strategischen Mitteln die Macht der Einzelvölker durchzusetzen und zu erhalten ist. Der Wahrheit und vor allem der Wahrhaftigkeit ist nur mit geschickter Täuschung 191 zum Sieg zu verhelfen. Keineswegs darf das Bewusstsein die Fadesse des Individuellen verdrängen! Aber es muss sie ihm ja auch nicht gerade direkt mitteilen: Mit raffinierter Methode kann die Wiederholung vielleicht doch schmackhaft gemacht werden. Das Totalitäre der bayerschen Einmannstaaten wird aber nicht nur in der bürokratischen Herrschaft des Ich über sich, das Es und das Uberich sichtbar, sondern vor allem in der Außenpolitik. Denn der Einzelne ist und kann kein friedlicher Staat sein: Schon prophylaktisch hat jeder alles rund um sich zu vernichten. Außerdem muss er im Kriegsfall „kapern" dürfen. Was aber kapert der Einzelne vom Einzelnen ? Eignet er sich tatsächlich bloß das Eigentum des anderen an, dessen Schiffe und Habseligkeiten ? Oder ist damit nicht vielmehr gemeint, dass er sich die anderen Individuen als ganze aneignen darf? Wenn Bayer konstatiert, dass der Kampf für ein Ideal keine Frage der Quantität sein „sollte", so mag auch eine Anhäufung von Material und Geld nicht im Sinne des Autors sein. Dann muss es bei Requirierung und Kapern darum gehen, die Qualität zu steigern. Und diese wird nicht im materiellen, sondern im kognitiven Reichtum des Einzelnen liegen. Daraus lässt sich schließen, dass durch das Kapern der Besiegte und Bekämpfte eingemeindet, dem Gewinner untergeordnet werden soll. Sklaven - womit wir wieder bei Webers bürokratischem Idealtypus wären - sind optimale Beamte und sichern die Macht am verlässlichsten. Gefahrlich sind Freunde und Feinde - hörige Personen aber nicht. Sie sind es, die radikalbürokratische Staaten am effizientesten verwalten. Sind soweit Bayers Notizen nachvollziehbar, so bedarf die letzte Zeile einer spezifischen Erklärung. Denn weshalb sollte der Einzelkrieger daran Interesse 191 Vgl. ebd.
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haben, „eine Stadt in die luft zu sprengen" ? Schützt er damit seine radikale Individualität? Erhöht er damit die Qualität des Ich? Wahrscheinlich ist diese Massenexekution der Vorstellung herkömmlicher, radikaler Staatsutopien geschuldet, die sich gern im leeren Raum entfaltet. Der neue Staat soll konkurrenzlos sowie vor jeder Belästigung sicher sein. Und - das leuchtet ein - durch die Sprengung ganzer Städte kommt man mit der Annäherung an dieses Ziel am schnellsten voran. Diese Lesart des Textes - jeder Einzelne gegen jeden Einzelnen - folgt den Prinzipien eines Individualanarchismus, wie ihn Stirner verfochten hat. Allerdings gibt es bei Bayer genug Anhaltspunkte dafiir, dass er seinen „einmannstaat" nicht für alle Individuen entworfen hat. So wie er versuchte, eine „conrad-bayer-zeitung" zu gründen, „die nur eigene texte und privatfotos enthalten sollte",192 so denkt er sich sein Staatskonzept vielleicht auch nur für seine Person und Persönlichkeit aus. Denn nicht jeder sollte seine Zeitung oder seinen eigenen Staat gründen, sondern nur jene, die gegen die Gesamtheit stehen und dies auch „erkennen". Während alle anderen herkömmliche Zeitungen publizieren und lesen sowie in herkömmlichen Staaten leben und herkömmlichen Parteien und Völkern angehören, so vermögen sich nur manche unter eigener Fahne mittels eigener Zeitung und eigenem Staat von der Masse zu distanzieren. Nur diese „Auserwählten" sind in der Lage, sowohl anderen Einmannstaaten als auch den Vielvölkerstaaten, Nationen und Ländern der Welt den Krieg zu erklären. Wenn einer dieser Individualstaaten z.B. Osterreich besiegt, hätte er das gesamte Staatsgebiet erobert und die darin lebenden Staatsbürger zur Verfügung: als zu Erschießende, als zu Vergewaltigende, als Sklaven. Offensichtlich zählen Krieg und Sieg zu den wichtigsten Anliegen: Infolge der damals entstandenen Abschreckungspolitik des Kalten Krieges wurde der Totale Krieg durch Aufrüstung denkmöglich gemacht und ermöglicht. Jedoch geht Bayer in seinem Entwurf noch einen entscheidenden Schritt weiter: Weil der Nationalstaat jederzeit in das Hoheitsgebiet des Einmannstaates einfallen kann, ist es ratsam, selbst zum Angriff überzugehen. Mit dieser Interpretation - einige wenige Einmannstaaten behaupten sich wider Welt und System - wäre bis zu einem gewissen Punkt die habermassche Diskursethik gerettet. Jeder Einzelne, ausgestattet mit dem emanzipativen Sta192 Vgl. G. Rühm: vorwort. In: Konrad Bayer. Sämtliche Werke. A.a.O. S. 9-19, hier S. 14
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tus, kann Handlungen wahrhaftig durchfuhren, tritt möglicherweise an die Öffentlichkeit (Bayer setzt hinter diese Zeile ein Fragezeichen), sichert sich institutionell ab und belässt die anderen, die in „Vielvölkerstaaten" beheimatet sind, unter anderen Fahnen, in ihrem Kosmos. Die Lebenswelten würden sich - dank der abgesonderten Einzelnen - ausdifferenzieren. Die Würde des einzigartigen Individuums - das sich der Einzigartigkeit bewusst ist - könnte erhalten werden. D.h., der Einzelne könnte mittels System einen wahrhaft herrschaftsfreien Status erlangen, einen viel wahrhaftigeren als durch alle diskursiven Prozesse hindurch, die eminent störanfällig sind. Allerdings geht das nicht ohne Kosten ab: Das Existenzielle an den Kämpfen, das stets Lebensgefahrdende, die erklärte Pflicht zum Töten, das Recht des Stärkeren, das sich durchsetzen müsste, das alles macht natürlich im selben Atemzug jeden emanzipativen Charakter zunichte. Man darfjedoch nicht vergessen, dass Konrad Bayer seinen Entwurf plötzlich abbricht, und zwar nicht zufällig an jener Stelle, wo es um die Zerstörung ganzer Städte geht. Und man sollte eine Beschäftigung mit Bayers Emanzipationsversuch mit der Lektüre des folgenden Textes fortsetzen. Dann wird ersichtlich, wie Bayer nicht nur mit System und Tradition der österreichischen Nachkriegszeit zu kämpfen hatte, sondern auch mit der eigenen politischen Kultur in der Wiener Gruppe.
5 Die Sehnsucht nach Herrschaftsfreiheit: Abseits von Mönchen, Matrosen, Rittern und Landsknechten qui & qua. schauspiel in aufzügen. S. 317-320 Vermutlich zwischen 1958 und 1964 begann Konrad Bayer ein Drama zu schreiben, in dem er unter chiffrierten Namen die revoltierende Wiener Gruppe interne Auseinandersetzungen fuhren lässt. Es ist bekannt, dass die Aktionen dieser Künstler sowohl für Osterreich einzigartig als auch im mitteleuropäischen Kontext in dieser Zeit ziemlich außergewöhnlich waren. Die Radikalität, mit der diese Gruppe in der Öffentlichkeit auftrat, schockierte, und der Staat reagierte mit seinem juristischen Machtapparat. Was im Z u s a m m e n h a n g mit meiner Arbeit hier allerdings von Interesse ist, liegt nicht im kulturhistorischen Wert des Textes, der an konkrete Spezifika dieser „Gruppenarbeit" erinnert. Interessant ist das Schauspiel als diskursiver Handlungsausschnitt, in dem die
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Rollen von Individuum, Gruppe, Lebenswelt und System neu ausverhandelt werden. Dass sich die Identität der „Kampfgefährten" (Wiener Gruppe) vor allem in der Ablehnung von Traditionen manifestiert, gilt nur solange, als es nicht um die eigene lebensweltliche Geborgenheit oder um die Stellung im System geht. So etwa liest sich in den Notizen (zur Weiterfuhrung des fragmentarischen Stücks), dass einer der Gruppe, nämlich „hans carl" (Artmann), nur mehr als „undurchsichtiger .verräter', jetzt' mitglied der ,gegenpartei"' auftreten soll. Gerhard Rühm, Herausgeber des Werks Konrad Bayers und damaliger Mitstreiter, erklärt dazu, dass sich H.C. Artmann „nach dem geradezu sensationellen erfolg seines ersten buches ,med ana schwoazzn dintn von der .wiener gruppe' merklich entfernt hatte und mit leuten umging, die uns oft suspekt waren".193 Das heißt, dass sich mit dem Erfolg und der Nähe zur Macht eine unverzeihliche Kluft zu den „Rebellen" auftut. Demselben Prozess werden im ausformulierten Text auch die engsten Gruppenmitglieder unterzogen, die als rupert (Friedrich Achleitner), arbogast (Oswald Wiener), claudio (Gerhard Rühm) und hans wurst (Konrad Bayer) auftreten. Die stete Arbeit am Zusammenhalt wird im Schauspiel diskursiv aufgerollt und unterschiedlich gewertet. Am klarsten treten die Positionen im Umgang mit der kapriziösen rosalia zutage. Während hans wurst die Frau Claudios für „das grösste übel seit ..." (Menschengedenken?) hält, fordert arbogast „nötige ehrfurcht", die man ihr entgegenzubringen habe. Weil sie „die frau eines freundes" ist, müsse sie „anständig" behandelt werden, „ich dulde keinen streit in unserem häufen". Mit diesen Sätzen gibt arbogast höchst traditionelle Muster vor und hält mit den Werten „nötige Ehrfurcht" und „Anstand" an einem herkömmlichen Umgang fest. Kritisiert wird diese traditionelle Grundierung nur von Bayer, der als hans wurst auch die hierarchischen Verhältnisse in diesem „Haufen" demaskiert und zurückfragt: „dulden ?" Was oft nur im Gespür des Außenseiters zutage tritt - und ein Hanswurst nimmt traditionellerweise abseits von Gesellschaft und Geselligkeit Position -, ist das Macht- und Beziehungsgefüge der Gruppe, die hier als Miniatur des bekämpften Apparats auszumachen ist. Nicht umsonst werden die drei Freunde in den Notizen als „seltsame Soldaten" sowie als „mönche??? matrosen??? ritter, landsknechte?" betitelt. Alle 193 Vgl. Anmerkungen. In: K. Bayer: Sämtliche Werke. A.a.O. S. 782
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diese Berufe bezeichnen Untertanen in durchorganisierten Systemen und erfüllen im Dienen und Gehorchen allein schon ihre wichtigste Aufgabe. Gemeinsam ist ihnen außerdem, dass sie abseits und jenseits von Frauen ihre Hauptarbeit verrichten und auch in anderen Belangen weitestgehend von Lebenswelt und Privatreich ferngehalten werden. Die Radikalität dieser Berufe liegt in ihrer Abgrenzung und spezifischen Absonderung, nicht jedoch in der Spektakularität von Positionen oder Persönlichkeiten. Dafür müssten wohl Rebellen, Revolutionäre oder Piraten auftreten, Propheten oder Kapitäne. Dass dem nicht so ist, wird im Text in der Lust an der Ein- und Unterordnung spürbar gemacht: Die „seltsamen Soldaten" arbeiten ständig an Sitten und Regelungen, um den unorganisierten, ungeregelten Status zu überwinden. Das Ordnungstrauma führt jedoch nicht nur dazu, dass Benimmregeln gegenüber zugehörigen Frauen festgelegt werden, sondern lässt auch Profilierungsversuche entstehen. Dagegen wehrt sich hans wurst, der aus dem Rahmen fallt und sofort als gruppengefährdend gilt. arbogast: [...] wir sind die ersten Streiter des königs./hans wurst: bist du davon überzeugt?/arbogast: du wagst es zu zweifeln? wenn es uns nicht schwächen würde, müsste man dir die freundschaft aufsagen, du verrätst den neuen könig./ hans wurst: was schert mich der könig./arbogast: ich warne dich.
Für das Verständnis bürokratischer Strukturen erweist sich der Disput zwischen den „Kampfgefährten" als äußerst aufschlussreich. Ja selbst noch in der Charakterisierung des Stücks - in den Anmerkungen Gerhard Rühms - spiegelt sich die unpolitische Lesart wider, die hans wurst nicht müde wird aufzudecken. „das literarisch eher harmlose bruchstück ist vielleicht psychologisch im hinblick auf die .wiener gruppe' in einem bestimmten Stadium ihrer internen beziehungen nicht ganz uninteressant." Hier hochbrisante Grundsatzfragen auf gruppendynamische Prozesse zu reduzieren, halte ich nicht nur für verfehlt, sondern auch für fade. Schließlich geht es um den wiederholten Versuch des Einmannstaatlers, das Medium Macht bloßzulegen, aufgrund dessen jeder „Mönch" und „Matrose" willig und blind seine Pflicht erfüllt. Für jeden von ihnen kommt nur ein formaler Austausch von Königen in Frage, weil Strukturen und Inhalte beibehalten werden sollen und nur die eigene Position verbessert gehört. Die Meuterei zielt nur auf den Kapitän, nicht auf den Admiral; die häre-
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tischen Mönche auf einen neuen Abt, nicht jedoch auf einen neuen Papst oder Gott. Und der Ritter bleibt so und so seinem Fräulein treu. Insofern versucht hans wurst bloß darzustellen, dass seinen Mitgefahrten eine Änderung des Systems gar kein Anliegen ist. In diesem Sinn ist auch arbogasts Antwort zu verstehen, mit der er der kritischen Frage - „seit wann verehrst du die könige?" - mit Bezug auf die Französische Revolution beantwortet: „ich verehre sie nicht, ich hasse sie. ich werde sie vernichten, sie beleidigen mich, ich verachte die könige. deshalb werden wir einen neuen könig haben, er wird mich achten, er wird mich bewundern, wir werden seine ersten Streiter sein." Nicht weil die Revolution ihre eigenen Kinder frisst, sondern weil die Revolution gar nicht als solche gemeint war: darin liegt das Peinliche, das hans wurst aufdeckt, und worin er sich von den „Kampfgefährten" in seiner ganz eigenen Radikalität unterschieden sieht. Das ist sicher kein psychologisches Problem, selbst wenn die politischen Aktivitäten auch durch die Eigenwahrnehmung der Akteure motiviert sind, „auserwählt" zu sein. In den Namen, die Bayer den Hauptstreitern verpasst, wird darüber Aufschluss gegeben, in welcher gesellschaftlichen und politischen Position ihre Besonderheit zu liegen hat. So ist Arbogast eine historische Figur, die strategisch, aber vergeblich Machtveränderungen bloß durch einen Kaiserwechsel bewerkstelligen wollte. Als römischer Reichsfeldherr wurde Arbogast von Kaiser Theodosius I. zum Berater Valentinians II. bestellt, den er vier Jahre später umbringen ließ und einem anderen - nicht aber sich selbst! - den Purpurmantel umhängen ließ: und zwar ausgerechnet einem Hofbeamten. Wenig später wurde Arbogast von Theodosius geschlagen, was dieser nicht mehr verkraftete, 394 n. Chr. beging er Selbstmord. Am selben römischen Kaiserhof wurde ein Jahr danach Claudius Claudianus als Dichter verdingt, der als „letzter großer lateinischer Poet" 194 für wirksame Propaganda sorgt. Oder steht der Name Claudio, den Bayer seinem Kollegen zudachte, doch eher für den ruhmreichen Kaiser Claudius, zumal dieser „sehr unter dem Einfluß seiner Gattinnen" stand, dessen letzte ihn sogar ermorden ließ?195 Nachdem aber die „Kampfgefährten" des hans wurst deklariert als Beherrschte ausgewiesen sind - für Achleitners Ubername könnte überhaupt 194 Vgl. Propyläen Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte. Berlin/Frankfurt. 1991. Bd. 4. S. 555 195 Vgl. Meyers großes Taschenlexikon in 24 Bänden. Mannheim/Wien u.a. 1983
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der Salzburger Mönch Rupert stehen gilt die Anspielung an den Hofdichter Claudius Claudianus wohl als plausibelste. Jedenfalls stehen alle für eine Art exklusive Untertanen, die in der Nähe der Machtspitze agieren, nur Hanswurst tritt als „Auserwähler" den eingewöhnten Machenschaften der Gesellschaft gegenüber und befindet sich jenseits jeder Machtpyramide. Im Sinne ihrer eigenen Ziele dürfen römische Feldherren, Propagandadichter und Mönchsbischöfe nicht zimperlich sein und sind gezwungen, an den traditionellen Strukturen festzuhalten. Ein Hanswurst hat hingegen Sinn und Sinnlosigkeiten eingespielter Verhaltens- und Verwaltungsmuster, Machtverhältnisse und Deutungsgewohnheiten zu demaskieren und ist für gewöhnlich nicht mit Mord und Totschlag beschäftigt. Deshalb sind die „seltsamen Soldaten" nur als gewalttätige „Lebensweltler" zu verstehen, und auserwählt sind sie bloß deshalb, weil sie in den ersten Reihen stehen oder stehen möchten. Hanswurst hingegen ist in einer gewissen Weise herausgewählt, außen-, draußenstehend und enthält sich jeder lebensweltlichen und systemischen Dimension. Aus dieser Perspektive heraus erscheint Bayers Dramaturgie, die „Hauptaktion" beiseite und das Schauspiel erst mit dem Zwischenstück beginnen zu lassen, in dem die komische Figur auftreten darf, angemessen. Die Heldentat ist vollbracht, die Kampfgefährten haben einen „amtmann" aufgehängt. Im Kontext der Wiener Gruppe drängt sich die Ähnlichkeit der Opferbezeichnung mit dem verräterischen Dichterkollegen Artmann auf. Diese Anspielung soll jedoch in meiner Lektüre außer Acht gelassen und der Gewaltakt als Angriff auf die Behörde gelesen werden. Dass das mörderische Vorhaben geglückt ist, scheint die Täter jedenfalls recht zufrieden zu stimmen. „arbogast: der amtmann wird an uns denken, das heisst sein rock wird an uns denken, wenn der wind durch den ärmel fahrt./Claudio: du hast recht, es war zeit, ihn einmal auszulüften." Demgegenüber bringt es hans wurst nichts, Machthaber und Nutznießer zu töten. Für die Realisierung seines Zwecks müsste er wenn schon alle Leute umbringen, weil sich noch im letzten ein Stückwerk Beziehungslust und Tradition verbirgt. Diesen Gedanken hat Bayer - wie bereits beschrieben - in seinem „einmannstaat" ausgebreitet. Als hans wurst maßt er sich aber keine Propagierung einer Alternativordnung an, sondern beschränkt sich auf kritische Fragen und Anmerkungen: „wir hätten seinen rock an den strick hängen können, damit wäre der reinlichkeit genug gewesen." Entledigt man nämlich den Amt-
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mann des Amtes, bleibt nur ein ganz gewöhnlicher Mann übrig, und das Amt ist wieder frei. Die „ersten Streiter des neuen Königs" brauchen allerdings den Beamtenposten, das Amt und die Uniform, um es nach dem siegreichen Umsturz neu, und zwar selbst zu besetzen. Der alte Verwalter muss weg, damit der neue drankommen kann. Dass ausgerechnet jener Kaiser, dem die beiden historischen Figuren Arbogast und Claudius verpflichtet sind, die Verwaltung reformierte und die erste amtliche Sammlung von Konstitutionen, den Codex Theodosianus, herausbrachte, vermag den Beamtenmord erst recht zu karikieren. Dass sich zudem unter den darin formulierten 900 Gesetzen fast jedes dritte mit Amtsvergehen von Beamten befasst,196 fugt dem Gewaltakt in Bayers Schauspiel wohl noch eine weitere ironische Note hinzu. Denn während die Herrscher die Bürokratie durch eine Flut von Gesetzen und damit auch mittels Bürokratisierung bekämpfen, frohlocken die loyalen Beherrschten, wenn sie einmal einen einzigen Staatsdiener unter die Erde gebracht haben. Insofern stehen sie - im Übrigen ähnlich wie der Einmannstaatler - auch in habermasschen Begriffen ihren Chefitäten und hans wurst als abgrundtief unmoralisch gegenüber, weil sie ihre Handlungsmaximen nicht danach überprüfen, wie sie sich mit den Mitmenschen vertragen. Die „seltsamen Soldaten" verwenden ihre „praktische Vernunft" lediglich „ethisch", worunter Habermas jene Fragen subsumiert, die nur die eigenen Werte und die individuelle Art der Lebensführung betreffen, hans wurst hingegen hinterfragt Positionen und interessiert sich für Motive, Legitimität und Sinn der Handlungen. Das ist natürlich gefahrlich für den Fortgang der Hauptaktionen, weshalb die „Mönche" mit Zurechtweisungen und kommunikativer Ausgrenzung drohen, „arbogast: schweig, das verstehst du nicht." Was aber Anliegen beider Seiten ist, hat mit Säuberung und Erfrischung zu tun: claudio konstatiert, dass es Zeit war, den Rock „einmal auszulüften". Auch hans wurst scheint es um die „reinlichkeit" zu gehen, die durch das Aufhängen der Uniform zu gewährleisten wäre. Bar jedes Entsetzens oder irgendwelcher emotionaler Reaktionen wird der Mord auch von hans wurst unter Sauberkeitsvorstellungen kommentiert. Diese vertragen sich denn auch mit dem kon196 Vgl. F. Ausbüttel: Die Verwaltung des römischen Kaiserreiches. Von der Herrschaft des Augustus bis zum Niedergang des Weströmischen Reiches. Darmstadt 1998. S. 195 und 180
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servativen Putsch der Hauptakteure ebenso wie mit der Verstaatlichung des Individuums bei Bayer. Sie sind notwendig, um das starre bürokratische Gerüst zu entstauben, nicht jedoch, um es zu modifizieren. So erweisen, ähnlich wie Jürgen Habermas, alle zusammen auf ihre Art denn doch einem klinisch rationalen Vollzug ihre Ehrerbietung. Auch die daraus resultierenden Handlungen sind einem gemeinsamen Ausgangspunkt verpflichtet, und zwar dem Recht der Einzelperson. Allerdings versucht es sich jeder ganz verschieden zu erkämpfen: die „matrosen" dadurch, dass sie Küchenjungen brauchen und einen anderen Kapitän sowie alternative Matrosenkollegen; hans wurst dadurch, dass er sich als Einzelner ständig abgrenzt und kompromisslos jede Untertänigkeit oder Gesellschaftskonvention ablehnt; und Jürgen Habermas, indem er die Werte aus dem kommunikativen Handeln ableitet, an dem jeder Bürger beteiligt ist. Mitarbeit fordert und praktiziert letztlich auch Konrad Bayer durch die Präsentation der diskursiven Praxis, selbst wenn sie in einem so schrägen Schauspiel zum Ausdruck kommt. Denn es gilt zu bedenken, dass trotz „Holde des Unsagbaren", trotz Dissensmaxime, Unsinnigkeitsluxus, ja trotz der kriegerischen Einmannstaatenlogik und allfalligen „Hanswurstiaden" der Autor Konrad Bayer seine Texte für Öffentlichkeit geschrieben hat und gerade durch die Missverständlichkeiten und den Bruchstückcharakter Auseinandersetzungen provoziert. Zu berücksichtigen ist, dass er stets mehrdeutige und wohl überarbeitete Texte präsentiert und sich mit den Abgrenzungen zur „Holde" beschäftigt, in minutiöser Feinarbeit allerorten Dissens konstruiert, Widersprüche wohl verortet und dem traditionellen Außenseiter gerade das zurückgibt, was ihn so lang überleben ließ: die kritische Stimme, die nur zwischen den großen Ereignissen zu hören ist und nur vordergründig zum Lachen ist. So kontert hans wurst denn auch auf arbogasts Befehl: „lass deine witze" mit einem Verweis auf den traditionellen Wissensvorrat, indem er sagt: „du weisst, dass ich witzlos bin." Radikale Traditionsbrüche, die Konrad Bayer mit seinem Individualanarchismus postuliert und mit seinen literarischen Formen realisiert, sind in seinen Texten eben in ein reichhaltiges kulturelles Gemeinschaftserbe eingebettet. Wie die Figur und der Charakter des Volkshelden „hans wurst", der mit der elitären Geschichtsfigur „arbogast" auf Konfrontation geht, so beschwört „qui & qua. schauspiel in aufzügen" schon durch den Titel Sprachkultur und literarische Tradition herauf. Im Text selbst wimmelt es von volkstümlicher Roman-
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tik, in der Könige, die „goldenen karossen" und die „silbernen schimmeln" in Erscheinung treten. Dass rosalia vom Märchenprinzen träumen darf und jene historischen Figuren zum Einsatz kommen, die „die letzte politische Reaktion des Heidentums" anführten (wie Arbogast) 197 oder den letzten vergeblichen Versuch unterstützten, das Römische Reich wieder zu vereinigen (wie Claudius Claudianus) 198 , ist im österreichischen Kontext der 50er-Jahre gewiss kein Zufall. Indem die Träume angesprochen, erinnert, herausgebrochen werden, fallt auf, wie lästig und hartnäckig sie sind, wie sie mit der Realität kollidieren und wie sie Machtgelüste provozieren, verdecken und dokumentieren. Analog zu den vorangegangenen Texten lässt Bayer ein romantisches Vergangenheitsbild einer unausrottbaren Seuche gleich überleben, in das man über lahmgelegte Eisenbahnarme, die Routiniertheit der Friedhofsverwaltung oder das Aufhängen von Amtmännern zurückzugelangen versucht. Damit kann er die kollektiven Begierden und zugleich die begehrte Kollektivität hinter einer künstlichen, traditionsreichen Fassade sichtbar machen. Diese stets neu und anders verputzte Außenwand beherbergt fragile, panische und machtgeile Personen, die ihre Authentizität ohne rückzufragen preisgeben. Gerade das Authentische der Individuen ist aber das Hauptanliegen Bayers, das er herauspräpariert und immer wieder kurz sichtbar macht. Mit eben diesen Schlaglichtern wird die Leserschaft übrigens ähnlich allein gelassen wie gegenüber den Interessenkartellen in den Texten Drachs, würde nicht ab und zu hans wurst als glaubwürdige Autorität dem einen oder anderen Gedanken Nachdruck verleihen.
6 Die Herrschaft der Einbahn: Legitimiert durch Gehorsamskultur, die einbahn. S. 433-436 Das Bild, das Konrad Bayer in den bisher analysierten Texten von der Bürokratie entworfen hat, charakterisiert sie vor allem in zweierlei Hinsicht: Erstens gilt sie als legale Apparatur, in der alle lebensweltlichen Bedürfnisse bis hin zu individualanarchistischen Utopien oder kollektiven Panikbewegungen geordnet und gesichert sind; in diesem Sinne bildet sie ein Gebäude, in dem selbst Ängste
197 Vgl. Propyläen. A.a.O. Bd. 4. S. 533 198 Vgl. ebd. S. 555
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und Massenmorde fein geborgen sind. Zum zweiten wird sie unhinterfragt mit Legitimität gleichgesetzt und hält insofern konkurrenz- und geschichtslos den Status quo aufrecht. Uberall dort, wo sich das bürokratische Subsystem Bahn bricht, sorgt es demnach für Kontinuität und Selbstverständlichkeit. Eben diese Verschränkung der beiden Werte Legalität und Legitimität, die im nicht problematisierten Status von Amtmännern und Verwaltung, Infrastruktur und Uniformen ihren sichtbarsten Ausdruck findet, wird von Habermas als Grundproblematik angesehen. Der Staat kann ja nicht gleichzeitig mit der Legalisierungsarbeit bereits Legitimität beanspruchen, diese könne auf Dauer nur durch radikal demokratische Verfahren gesichert werden. Was in den 90ern dem Philosophen als bedenklich entgegentritt - die Frage der Anerkennung der Regelungen und Gesetze etwa -, war dem Autor der Nachkriegszeit nichts weniger problematisch. Nur: Heute liegt das Problem offen zutage, und Präsenz sowie Handhabe des Staates werden gern kritisiert. In den 50er-Jahren hingegen war das Aufbaukollektiv mit der öffentlichen Hand und Nationsvorstellungen eng verbunden. Die Trennlinie, die lebensweltliche Vorstellungen und staatliche Leitlinien teilt, war verwaschener als niemals mehr danach. So gesehen stehen die 50er-Jahre, speziell in Osterreich, für ideale Übersetzungsarbeit lebensweltlicher Grundbedürfnisse in staatliche Maßnahmen und Rechtsnormen, deren Perfektion bloß durch die Perfektion der Verdrängungsleistungen noch überboten wurde. Wie ein Staat mit diesen Vertrauensvorschüssen auch ins Alltagsleben der Bürger eingreifen kann, ohne dafür infrage gestellt zu werden, zeigt Bayer in einem fragmentarischen Stück Prosa, wo „im zuge der allgemeinen verkehrsbestimmungen [...] die einbahnverordnung auch auf die fussgänger ausgedehnt" wird. Ohne die Sinnhaftigkeit zu hinterfragen oder einmal probeweise die neuen Regeln zu missachten, versuchen alle, sich bestmöglich mit der neuen Situation zu arrangieren. Die Bankangestellten, die nicht nach Hause gelangen, funktionieren innerhalb von Stunden den Arbeitsplatz in einen Wohnort um. Die Belegschaft des Gasthauses dezimiert sich zusehends, weil sie - einer nach dem anderen unterwegs, um den Zigarettenvorrat nachzufüllen - nicht mehr zurückfindet, gregor papp, dem „mitinhaber der firma g. und g. papp, Schreibmaschinen und Zubehör", gelingt es zwar, das Auto vor seinem Bürohaus anzuhalten, weil aber ein Lieferwagen vor dem Eingang abgestellt ist, muss er wenige Meter entfernt
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parken und kommt so nicht mehr an seine Arbeitsstätte zurück. Die Irrfahrten und Irrgänge der Bevölkerung zentrieren die Masse auf den Straßen, in denen jeder fiir sich dem Gesetz Genüge tut. Nur aus Versehen verstößt gregor gegen die Einbahnregelung, worauf „der polizist von der anderen strassenseite herüber[wedelt] und [...] über die strasse [ruft]: einbahn". Diese Geste und dieses Wort genügen, dass der Unternehmer „mit den anderen um die ecke" biegt. Was Konrad Bayer in diesem Fragment neben den Gehorsamsleistungen der Gesamtbevölkerung auch noch abhandelt, sind Eigenschaften wie Faulheit, Kundenunfreundlichkeit, Missgunst, Machtmissbrauch und Begriffsstutzigkeit, die er alle dem Typus des Beamten vorbehält. In kurze Sätze übersetzt Bayer hier literarisch, was er in einem anderen Text als fingierter Leserbriefschreiber in deftigen Bildern gegen diesen Berufsstand vorzubringen hatte. Die Begriffe „Herde von Idioten", „Schafsköpfe", „Idiotie", „blühender Kadavergehorsam", „Kotfresserei", „glanzlos glotzende geistlose Affen", „augapfeldrehende Würmer", „blöde Grausamkeit" etc. verknüpfen sich dort zu einer banalen Beschimpfung, die mit „Ein Nichtambitionierter" unterzeichnet ist.199 Im Prosatext „die einbahn" wird die Vier-Mann-Belegschaft einer Bank ebenso verunglimpft, ohne dass der Autor jedoch auf derart starke Begriffe angewiesen wäre. Selbst als klar wird, dass mit dieser Regelung Staat und Wirtschaft in den Ruin getrieben werden, beschäftigen sich die Beamten bloß mit ihrem privaten Uberleben. So versucht einer von ihnen, seine Angehörigen in der Arbeitsstätte unterzubringen, was die Kollegen naturgemäß empören muss. „esser die nichts leisten können", wird gemurrt, wobei längst klar ist, dass „Leistung" etwas ist, was den Beamten gänzlich fremd ist. Zudem wäre diese Art der Familienzusammenführung die einzig mögliche gewesen: Schließlich sind die Beamten gezwungen, im Haus zu bleiben, „weil sie sich darüber aus verschiedenen gründen im klaren sind, dass sie die Wanderung nicht aushalten würden, sie haben alle angst vor dem lebenskampf". Bis auf die verschärfte Kluft zwischen Bank- und Staatsbeamten scheint sich an diesem Bild bis heute kaum etwas geändert zu haben. Auch 50 Jahre später stellt man sich Behörden in einer ähnlichen Situation eher sesshaft und wohnlich in Amtern vor als mitten im Chaos auf den Straßen. So passt auch ins bis heute tradierte Beamtenklischee, dass einer von ihnen die Idee präsentiert, 199 K. Bayer: (Selbst auf gehobenen Beamtenposten). In: ders.: Sämtliche Werke. A.a.O. S. 33f.
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„einen Personenwagen zu entern" oder erzählt, „wie man in zügen wohnen wird". Vor allem dass es bloß eine „Idee" ist, von der „erzählt" wird, und nicht ein Aufruf oder gar eine Tat, zeigt, wie unbeweglich und unbewegt sich die Lebenswelt der Beamten damals wie heute darstellt. Was sich jedoch entscheidend verändert hat, ist die Kritik, die in einer derartigen Situation ausgesprochen würde, und zwar nicht nur von der Bevölkerung, sondern zumindest intern wohl auch von behördlichen Exponenten. Legalität ist längst nicht mehr mit Legitimität gleichzusetzen. Regelungen werden nicht ohne Weiteres als gültige akzeptiert, selbst wenn man sie vorsichtshalber befolgt. Was dieser Wandel bewirkt hat, stellt nicht nur ein Problem des Staates und seiner Behörden dar. Daraus ergibt sich auch die Chance für einen Demokratisierungsschub, wie J. Habermas festgestellt hat,200 falls nicht - wie das im Moment zu sehen ist - mit dem Totschlagargument der „Wirtschaftnotwendigkeit" jede fragwürdige Regelung nicht nur unhintergehbar, sondern auch gleich geheiligt wird. An dieser Stelle sei allerdings betont, dass es Konrad Bayer weitaus weniger um radikale Demokratisierung, als um radikale Individualisierung ging. Und die Herrschaft des Einzelnen setzt dem Subsystem Bürokratie anders zu als die Herrschaft des Volkes, wenn auch in beiden Utopien nicht an eine Abschaffung seines Mediums, ja nicht einmal seiner Grundprinzipien gedacht wird. Konrad Bayer versucht unter privater Fahne gegen den Strom der Einbahn anzukämpfen (vgl. die unveröffentlichten Notizen zur „einbahn", Literaturarchiv der ONB) und nur die herkömmlichen Beamtenröcke an den Nagel zu hängen. Habermas aber möchte unter Miteinbeziehung aller staatsbürgerlichen Kräfte jede Einbahnregelung systematisch unmöglich machen. Wer für welche Angelegenheit den Beamtenrock überziehen soll, muss nach ihm stets kommunikativ ausverhandelt werden, und keineswegs sind alle Beamtenröcke im Schrank zu verstauen. Genau zwischen diesen beiden Positionen sind heute zahlreiche sogenannte Beamtendiskussionen angesiedelt. Manchmal aber scheint es, als würden mit den Argumenten von Einmannstaatlern die Ziele emanzipativer Kräfte abgeschossen, um dann doch bloß Einbahnregelungen von größtem Ausmaß in Gang zu halten. Das heißt: Die Möglichkeiten des Einzelnen, die keinesfalls bürokratisch eingeschränkt werden dürfen, sehr wohl aber rechtsstaatlich ab200 Vgl.J. Habermas: Faktizität und Geltung. A.a.O.
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zusichern sind, werden als existenziell empfunden. Auf dieser Basis gewinnt der tüchtige Einzelne endlich die Chance, seinen Reichtum und seine Macht auszubauen und vielen anderen damit seine eigenen Werte und Regeln aufzuzwingen.
D DIE „PORÖSE" SCHNITTSTELLE Z W I S C H E N LEBENSWELT UND SYSTEM. EINE ZUSAMMENFASSUNG Jeder sein eigener Sektionsrat!
Heimito von Doderer Wenn für Jürgen Habermas das Rechtssystem als „Scharnier"201 zwischen Lebenswelt und System fungiert, das die beiden füreinander zugänglich macht, dann entsteht durch diese Interpretation ebendort eine äußerst spannende Gegend. Nicht zufallig ist das der Ort, wo auch die literarischen Anliegen gerne platziert werden. Ihn als derartige Schnittstelle gesehen und inspiziert zu haben, ermöglichte mir ganz andere Aspekte der Bürokratie aufzuzeigen, als es im ersten Abschnitt möglich war. Während Weber nämlich seinen Systemen bloß Untertanen zuordnete, durch deren Gehorsam und Ungehorsam der Stabilitätsgrad der Herrschaft festlegbar ist, gewinnt die Gesellschaft mit dem Ansatz von Habermas eine weitaus entscheidendere Stellung, ja gerät in Bewegung. Sie ist es, die die Legitimität durch ihre Werte mitbestimmt und zumindest durch kritische Hinterfragung an Bestand und Gestaltung der Gesetze mitwirkt. Und weil sich die Lebenswelt in kommunikativen Handlungen ausbildet und diese grundsätzlich auf Verständigungsorientierung aufbauen, ist im politischen Beitrag der Gesellschaft sogar die Emanzipation des Einzelnen angelegt. Dass diese kommunikativen Prozesse und die Ubersetzungsleistung des Rechtssystems in der Realität gar nicht immer radikaldemokratische Verhältnisse heranschaffen, kann nicht übersehen werden. Dass die Medien des Staates das Leben oft bloß erschweren, ohne auf die Bedürfnisse der Staatsbürger Rücksicht zu nehmen, scheint ebenso zum Alltagswissen jeder Rechtsgemeinschaft zu gehören. Für diese Missstände wird in aktuellen Debatten gern dem als „Bürokratie" bezeichneten Phänomen die Hauptverantwortung zugetragen. Habermas ist hier vorsichtiger. Nur durch Eingriffe in rein lebensweltliche Angelegenheiten wirke das Subsystem Bürokratie zerstörerisch. Ansonsten liege das Problem an der mangelnden Mitarbeit der Staatsbürger, die allein über die 201 Vgl. ebd. S. 77
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Mittel verfugen, Macht- (und Geld)medien auf vernünftige Art in die Schranken zu weisen. Schließlich ist es die Bevölkerung, die die Schwachstellen der Gesetze und Regelungen verspürt und durch ihre Anerkennung oder Ablehnung den gesellschaftlichen Bedürfnissen anzupassen vermag. In den literarischen Texten wird die Diskrepanz zwischen Lebenswelt und Bürokratie anders aufgerollt, wollen Schriftsteller doch nicht bei Fertigstellung ihrer Arbeiten eine widerspruchsfreie Utopie vorlegen. So treten sie mitunter näher an die poröse Stelle (zwischen Lebenswelt und System) heran, die zur Landschaft vergrößert, aufgelöst wird oder sich als klägliches Ergebnis expansiver Ansprüche präsentiert, welche sowohl diesseits wie jenseits der beiden Seiten gestellt werden. Aus den diversen Verstrickungen und Uberblendungen der Dimensionen ergeben sich vier Aspekte, die neuralgische Punkte des modernen Systems markieren und das ideale Modell der habermasschen Diskurstheorie in ein irreales Licht rücken. Zusammenfassend soll gezeigt werden, wie Bürokratie zum Komplizen lebensweltlicher Macht wird, wie Amtsmenschen sowohl als Bürokraten wie auch als Lebensweltler korrumpiert sind und scheitern, wie das System Bürokratie Misstrauen abschafft und wie Bürokratie als nationales Symbol zum Einsatz kommt und dennoch übertragbar zu sein scheint.
1 Komplizenschaft zwischen System und Lebenswelt Auf vielfaltige Weise wird in der Literatur die Abgeschlossenheit des bürokratischen Kosmos durchbrochen und zugleich gegenüber der Bürokratie die Feindschaft aufgekündigt, wie sie im Alltagsdiskurs massiv zum Ausdruck kommt. So krass die Ablehnung des Beamten und des Gesetzes, der Amter und des Staates in den literarischen Auseinandersetzungen auch zelebriert wird, die Texte zielen letztlich fast immer auf die Komplizenschaft ab, die die Lebenswelt mit dem bürokratischen System eingeht. Damit ist es aber auch nicht mehr primär die Bürokratie, die verhindert und quält. Plötzlich steht die Lebenswelt mit ihren verinnerlichten Werten und Traditionen auf dem Prüfstand, während der Apparat lediglich regulierend und multiplizierend wirkt. Wenn Funktion und Leistung des Subsystems ihres lebensweltlichen Kontaktes entbunden werden, gewinnt es an Zustimmung, ja geradezu an Anziehungskraft und konterkariert den wahren Feind: eine inhumane und blutrünstige Lebenswelt. Mit diesen Be-
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fanden wird auch gegen die Hoffnung auf eine erstrebenswerte Mitbestimmung lebensweltlicher Kräfte angeschrieben, die ja erst recht nicht Herrschaft und Bürokratie zu humanisieren vermöchte. So ergibt sich ein nicht unbedeutender Kontrast zwischen den Sichtweisen der analysierten Literatur und jener, die Jürgen Habermas etabliert hat. Zwar räumt auch der Theoretiker ein, dass sich im Staatsapparat oft genug normativ ungefilterte Interessenlagen nur deshalb durch [setzen], weil sie die stärkeren sind und sich der legitimierenden Kraft der Rechtsform bedienen, um ihre bloß faktische Durchsetzungsfahigkeit zu bemänteln. 202
Da jedoch das moderne Recht nicht nur „unter den .profanen' Druck der Funktionsimperative der gesellschaftlichen Reproduktion" gerate, sondern zugleich „unter der gleichsam idealistischen' Nötigung [stehe], diese zu legitimieren", könnte niemals lebensweltliche Kritik bis auf Weiteres ignoriert werden. 203 Davon unberührt blieben naturgemäß koloniale Formationen: Notorisch übersah die noch undemokratische Herrschaft diesen „Druck", fühlte sich nicht zur Legitimation genötigt, sodass sich etwa des Kaisers Wien bei Joseph Roth in fernen Provinzen tatsächlich als Fremdkörper festsetzt. Nicht zuletzt deshalb können dort selbst zarteste Invasionen des bürokratischen Subsystems ganze Landstriche ruinieren. Wie Naturkatastrophen wirken sich ihre ordnenden, ausdifferenzierenden Aktivitäten aus. Wie passiert das? Zuerst beraubt die Kolonialmacht die herkömmlichen Autoritäten ihrer ursprünglichen Gewalt. Die schlauen und skrupellosen unter ihnen durchschauen jedoch schnell die neuen Mechanismen der Macht, besetzen darin Schlüsselstellen und verschmelzen den lebensweltlichen Hausgebrauch mit dem systemischen Haushalt zu einem mafiosen Bau. Integere Autoritäten dagegen sind unter der Doppelherrschaft von Staat und „Mafia" zur Flucht gezwungen, landen im Gefängnis oder auf dem Friedhof. Die Bevölkerung verliert damit nicht nur wichtige sozialintegrative Kräfte. Sie wird zudem gleich unter zwei fremde Systeme gezwungen. Aufgerieben zwischen den sich teilweise widersprechenden Autoritäten unterwirft sie sich der fernen Macht nur soweit deren Sanktionen wirksam sind. Der veränderten Haus-
202 Ebd. S. 59 203 Ebd.
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macht gehorcht sie hingegen durchaus respektvoll und demütig. In diesem doppelten Unterwerfungszwang werden kommunikative Autonomie, traditionelle Werte und alltägliche Ordnungen, die von den ländlichen Autoritäten zugleich geschützt und verstümmelt werden, auf ein bedenkliches Maß reduziert. Weil diese Pervertierung lebensweltlicher Mechanismen durch die wirtschaftliche und rechtliche Globalisierung ausgerechnet in unserer hochmodernen Zeit zu einem neuen Höhepunkt gelangt ist, entpuppt sich Roths Text längst wieder als zutiefst aktuell. Nicht nur die marktwirtschaftliche Vernetzung, sondern auch die Politik diverser internationaler Institutionen verschafft sich ähnlich selbstbewusst und zugleich ähnlich kurzsichtig - vor allem was die Nachhaltigkeit der Imperative und der Kontrolle betrifft - Zugang zu Reichtum und „Krisenherden" auf der ganzen Erde. Von den prekären Wechselwirkungen zwischen wirtschaftlichem, bürokratischen Fortschritt und lebensweltlichem Eigensinn kann man sich ein Bild machen, wenn man des armen Eichmeisters Amtshandlungen und die von ihm Amtsbehandelten unter die Lupe nimmt. Weil die spezifische Verschränkung der Machtformen stets Ausdruck von je verschieden ausdifferenzierten Systemen ist, stellt sich die Komplizenschaft zwischen Amts- und Lebenswelt in den österreichischen 50er-Jahren völlig anders dar. Hier arbeiten sich nicht Institutionen und Bevölkerungsspitzen, sondern Institutionen und die Bevölkerungsmehrheit in die Hände. Die kollektive Verdrängung, die Sehnsucht nach Routine und unhinterfragbaren Regelungen sowie die Vermassung, die den Einzelnen jeder Verantwortung enthebt, ist Anliegen beider Seiten. In verstörenden Bildern entlarvt Konrad Bayer die damalige Verballhornung bürokratischer Ordnung und lebensweltlicher Interessen, deren Auswirkungen noch in den heutigen Debatten verspürbar sind. So zeigt er, wie die auf die Fußgänger ausgedehnte „Einbahnregelung", die den nationalen und individuellen Stillstand zur Folge hat, gelassen hingenommen wird. Symptomatisch erscheint es ebenso, wenn sich Tote und Lebende als österreichische Menschheit um Fahrkarten für einen Zug raufen, der gar nicht mehr ausfahren kann, weil die k.k. Provinzen nicht mehr existieren. Einverständnis zwischen Bürokratie und Lebenswelt besteht auch darin, die morsche Substanz aller Struktur und Infrastruktur unberührt zu lassen und sich mit frischem Verputz zu begnügen. Das kommt dem starren System genauso entgegen wie der kollektiven Sehnsucht, statt der Traumata der Vergangenheit etwas Nettes und Putziges, jedenfalls etwas Präsentables sichtbar zu machen.
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Dass darunter die alten Wunden eitern, macht Bayer in drastischen Bildern klar. Nicht zufallig erinnert jene beliebte kollektive Verdrängungs- und Behübschungspraxis, die der Autor in seinen frühen Texten in beklemmender Art darstellt, an jenen Konservativismus, der bis heute neurotisch fixiert geblieben zu sein scheint. Nationale Schulterschlüsse, wie im österreichischen Jahr 2001 gegen die EU-Sanktionen, scheinen die Massen ähnlich „dicht gedrängt" am ewiggestrigen Peripheriebahnhof zusammenzutrommeln, wie die Nachkriegsgesellschaft in Bayers Prosastück. Da wie dort versammelt sich ein Gutteil der Bevölkerung, um den neuen Verputz ihrer Nation zu feiern. Von Staat und Recht, und hier speziell vom Anerkennungspool der Legalität, versuchen aber auch jene zu profitieren, die gegen die konkreten Machthaber oder gegen Machthaber überhaupt stehen. So liquidieren die einen den Amtmann und erfreuen sich an der Durchlüftung des Beamtenrocks, in den sie beizeiten neue bzw. ihre eigenen Amtsleute zu stecken gedenken. Die anderen, respektive Hans Wurst und Konrad Bayer, versuchen die Stärke und Macht der Bürokratie in das Individuum selbst zu verlegen und ein für allemal seine Legitimität abzusichern. Nicht unwichtig erscheint in dieser Utopie des Einmannstaates die unberührbare, distanzierte Position des Beamten, durch die das labile Subjekt seine klaren Grenzen findet. Als Jürgen Habermas Anfang der 90er-Jahre seine „Diskurstheorie des Rechts" verfasste, mag eine derartige Komplizenschaft längst fremd erschienen sein. Spätestens seit den 70er-Jahren wird die Bürokratie (wieder) von verschiedenen Standpunkten aus angegriffen. Inzwischen hat sich die Abneigung eher noch gesteigert und die kollektive Akzeptanz verstärkt auf das zweite Subsystem verlagert, dem quasi eine Legitimitätshoheit zugestanden wird: der Marktwirtschaft. Insofern mag die Vorherrschaft des Kapitals heute jene Rolle einzunehmen, die ehedem Bayers Bahnhöfe und Friedhofsverwaltungen, Einbahnregelungen und Behörden innehatten. Der lebensweltliche Vertrauensvorschuss, der damals dem Staat entgegengebracht und heute der Marktwirtschaft eingeräumt wird, war und ist immens. Jedoch kann das Manko an Legitimität, das heute Staat und Amtmann verzagen lässt, durchwegs auch als Chance verstanden werden: Die „Scharnierfunktion" des Rechts tritt als zentrales demokratiepolitisches Potenzial wieder ins Visier der Öffentlichkeit. Schließlich sind auch Markt und Geld nicht immun gegen das Rechtssystem, und der Einsatz der Bürokratie, d.h. der staatlichen Macht, ist nur dann sinnvoll und von län-
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gerfristigem Erfolg, wenn lebensweltliche Bedürfnisse und Vorstellungen nicht ständig verletzt werden. Diese Schnittstelle wahrzunehmen, dazu verleiten Bayers Texte allemal. Aber auch der Wunsch, sie unbedingt durchlässig zu halten, wird angesichts seiner Prosa dringlich. Er tritt umso heftiger in den Vordergrund, als der junge Autor die Kluft provokativ verschlossen hält. Die gewonnene Einheit wird nicht gefeiert: Statt in kompletten, harmonischen wird sie in zerfransten Textfragmenten mehr bloß- als ausgestellt. Genau daraus ziehen seine Arbeiten auch heute noch ihre besondere Wirkkraft. So nahe Traumarbeit ihren Psychosen kommt, treten nämlich Bayers Bruchstücke an die ideologischen Pathologien heran, die in der heutigen mitteleuropäischen Realität vielleicht nicht selten zu finden sind. Komplizenhaft, wenn auch auf ganz anderer Ebene, gestaltet sich die Beziehung zwischen Bürokratie und Lebenswelt auch in Albert Drachs Kriminalprotokoll. Allerdings erweisen sich dort die zwei Welten als derart ineinander verwoben, dass eine monopolistische Herrschaft entsteht, die nicht mehr absetzbar zu sein scheint. Was dem Mordprozess an Routine und Beweisen fehlt, wird solange mit lebensweltlichen Vorurteilen aufgefüllt, bis das Gericht seine Richtigkeit und die herrschenden Vorstellungen ihre Berechtigung erhalten. Jede Seite steuert ihre Mächte und Mechanismen bei, sodass die Ordnung unhintergehbar wird. Die Stelle, die von Habermas als durchlässiger Ort bezeichnet wird, hat sich aufgelöst, indem sie sich in beide Welten ausgedehnt hat. So fallt die Domäne der Lebenswelt mit der Domäne der Staatsgewalt zusammen. Dadurch, dass hier derart rigoros „bemäntelt" wird und sich ständig „Männer" zu etwas veranlasst fühlen (s.o.), kann Albert Drach die Sicht auf die Kolonialisierung ganz anders freilegen, als eine wissenschaftlich erarbeitete Utopie sie zu sehen vermag. Fraglos werden alle Anlässe, die aus Frauenkörpern bestehen, genutzt und in der nachträglichen Darstellung einer ebenso frauenverachtenden Logik, nämlich jener der Prozessführung, angepasst. Damit multipliziert sich der Nutzen der Stärkeren, der aus den Kolonialisierungsaktivitäten gezogen wird. Sollte es hier überhaupt ein Scharnier (zwischen Lebenswelt und Bürokratie) geben, dann ist es derart geölt, dass die Bewegung nicht mehr auszumachen ist. Die Legitimität beruht auf dominanten Werten und Vorstellungen und bleibt, weil sich nur die Sprechgewöhnten äußern können, gesichert. Damit ist sie aber nicht mehr anzweifelbar. Für die Leser hingegen stellt sie sich ebenso neu wie penetrant.
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Und doch erweist sich die Bürokratie nur vordergründig als Ziel der Kritik. Vor allem ist es die Dominanz der lebensweltlichen Autoritäten, die die Misere zu verantworten hat. Solange dort nicht neue Verhältnisse entstehen, jagen Kolonialherrn wie eh und je und bleiben durchs bürokratische Mäntelchen immun. So wird bei Drach durch die Verallgemeinerung lebensweltlicher Interessen Herrschaftssicherung betrieben. Dort aber bestätigt das literarische Exempel die habermassche These zur Logik der kommunikativen Vernunft: die unter ungeheurem Aufwand sogar von den mächtigsten Diskursfuhrern der Gesellschaft - nämlich dem Rechtspersonal - zumindest vorgespiegelt werden muss. Angesichts gängiger Bürokratiekritik werden in den literarischen Auseinandersetzungen Drachs und Bayers die Erklärungen für das Legitimitätsproblem des Staates und in geringerem Maße des Rechtssystems verschoben. Die Ursachen für die Ablehnungen der Bürokratie werden nicht primär in der Abkoppelung von Expertenkulturen, in der Abgehobenheit von Verwaltungsimperativen, ja nicht einmal in der Kolonialisierung von Lebenswelten ausgemacht. Stattdessen gründet ein Gutteil der negativen Seiten der Verwaltung im Ubertrag problematischer Gewohnheiten, Sitten und Werten in die Welt des Systems, wodurch diese - zu „bemäntelten" Urteilen erstarkt - den schwachen Gruppen oder oppositionellen Kräften siegreich entgegentreten. Die legalisierten Vorstellungen erweisen sich als gar nicht rationalisiert und sind damit von der Bevölkerung auch gar nicht kritisierbar. Beinahe spiegeln sich diese perfektionierten Täuschungsmanöver im alltäglichen Diskurs, der oft nur auf das Bürokratische und die Macht des Bürokratischen - seine Gelassenheit, Dauerhaftigkeit, Unantastbarkeit - fokussiert und über formale Kritik nicht hinaus kommt. So ist es nicht verwunderlich, dass engagierte Literatur um diese Komplizenschaft kreist und Versuche unternimmt, sie punktuell oder systematisch sichtbar zu machen.
2 Beamte zwischen System und Lebenswelt „Gleichsam hinter deren Rücken", so Habermas, könnten die Handlungen der Interaktionsteilnehmer koordiniert w e r d e n : und zwar von den Steuerungsmedien der beiden Subsysteme: von Geld und Macht. 204 Indem „der lebens204 Ebd. S. 58f.
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weltliche Kommunikationskreislauf [...] dort [unterbrochen wird], wo er auf die für umgangssprachliche Botschaften tauben Medien Geld und administrative Macht stößt"205, ist es möglich, moderne Gesellschaften systemisch ohne kommunikativen Aufwand zu integrieren. Andererseits sei die lebensweltliche Kommunikation selbst wiederum auf Geld und administrative Macht angewiesen, um „ihre Botschaften für alle Adressaten verhaltenswirksam zu operationalisieren".206 Der entscheidende Weg zur Verankerung der Medien verläuft über rechtliche Institutionalisierung, die lebensweltlich überprüfbar ist. Weil nämlich, so Habermas, jeder Spezialdiskurs im Prinzip in Umgangssprache „übersetzt" werden kann, und - so Probleme auftauchen - auch übersetzt wird, könne sich heute weder Wirtschaft noch Staat gänzlich über die Lebenswelt hinwegsetzen. Mit diesen Grundannahmen sagt Habermas der Konzeption autopoetischer Systeme den Kampf an und schreibt die grundsätzliche Wichtigkeit von Demokratie fest, die in operablen Kommunikationsprozessen realisierbar sei. Auch literarische Verarbeitungen sind Teil dieser Prozesse und Hinterfragungen, entlarven die lebensweltlichen Uberprüfungsleistungen allerdings in mehrfacher Hinsicht als dürftig. So hält denn auch kaum der Begriff der Ubersetzung, viel eher handelt es sich um eine Entstellung. Ebenso führt die Operationalisierung der lebensweltlichen Botschaften oft genug zu chaotischen Zuständen oder dezimiert ausgerechnet jenes Potenzial, das dadurch realisiert werden sollte: das demokratisch emanzipative der Individuen und Gruppen. Andererseits wird in den literarischen Texten lebensweltliche Kommunikation nie komplett ausgeblendet. Die Auseinandersetzungen mit den hinterrücks waltenden „systembildenden Mechanismen", die ohne „kommunikativem Aufwand über das Bewußtsein der Interaktionsteilnehmer" Koordinationsarbeit leisten,207 bergen jede Menge Überraschungen: Der durch die administrative Macht verursachte Kreislaufkollaps der Kommunikation wird immer wieder erfolgreich verhindert. Ich halte die literarischen Verarbeitungen von Bürokratie, von staatlichen Machtmedien sowie hinterrücks koordinierenden Mechanismen für äußerst
205 E b d . S. 78 206 Ebd. 207 E b d . S. 59
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erkenntnisreich, weil Literatur Umgangssprache und Spezialcodes (von Verwaltung und Recht) gleichermaßen durchleuchtet. Ermöglicht wird dies vor allem, wenn jene „poröse" Schnittstelle unter die Lupe genommen wird, wo System und Lebenswelt aufeinandertreffen. Wie oben durch die Komplizenschaft von Werten, sind es hier die Staatsbediensteten, die Regelsetzungen tendenziell monopolisieren und die Grenze zwischen den Dimensionen verwischen. Schließlich haben sie an beiden Seiten Anteil. Nicht zufallig werden im Alltagsdiskurs die (von administrativen Mächten verursachten) Unterbrechungen des Kommunikationskreislaufes durch ein breites Feld von Witzen und Schmähungen aufgefüllt, deren Objekte stets die Beamten sind. Als Symbole des Staates und als einzig greifbarer Teil der Bürokratie sind sie es, an denen die Wut ausgelassen wird und auf die jede Verantwortung übertragen wird. Andererseits konstituieren die Staatsbediensteten eine spezifische Lebenswelt, die mit deijenigen der Mitbevölkerung nur teilweise zusammenfallt. Selbst heute, wo Beamte keine Uniformen mehr tragen und ähnlichen Arbeitsbedingungen zu gehorchen haben wie Angestellte, bilden sie in ihrem eigenen, ganz sicherlich aber im Selbstverständnis der Nicht-Beamten einen speziellen, etwas altmodischen Kosmos mit ausgeprägter Regelungssucht. Ähnlich den Zuschreibungen von Mentalitäten, die auf ganze Völker zuzutreffen haben, grenzen diese Charakterisierungen die Amtmänner in pauschaler Art und Weise ein. Nicht zufallig muss Joseph Roth in seinem „Beamtenroman" schreiben, dass auch der Eichmeister ein Mensch sei. So geschieden von der Bevölkerung wie der imperiale Staatsdiener ist der Nachkriegsbeamte nicht mehr. Dennoch gehört er zu einer zweiten Sorte Mensch, und Konrad Bayer belässt keinen Zweifel daran, dass sich diese Spezies vor allem durch ihre Lebensfremdheit von der Masse der Bevölkerung unterscheidet. In den oben untersuchten Texten der drei Autoren ist es neben dem Wachtmeister Slama nur ein einziger Staatsbediensteter, der sich Zugehörigkeit zur Welt (der Sinne, der Moral, der Beziehungen) zu verschaffen versteht, ohne dadurch seinen Job, seine Gesundheit oder sein Leben zu riskieren. Und dies gelingt Drachs Protokollführer nur, indem er seinen Spezialcode eng an hegemoniale lebensweltliche Vorstellungen bindet und der topischen Argumentation den Vorzug einräumt. So sind die Beamten, die k.k. Organe des Kaisers in Zlotogrod, die sterbenden und toten Amtmänner in den Fragmenten Bayers und die Spezialisten im Gerichtsprozess Albert Drachs dazu verdammt, in einer Art Zwitterwelt zu le-
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ben, zwischen Lebenswelt und System. Sie fuhren Doppelexistenzen und versagen in der einen oder anderen, meist überhaupt in beiden. Wo sie als Meister des Voyeurismus Anteil an der Lebenswelt nehmen, bleiben sie ihr nach außen hin stets distanziert gegenüber. Aus diesem Konflikt resultieren entscheidende Einflüsse auf das Leben der Bürger, das dadurch keinesfalls besser wird. Außerdem ist dadurch auch jene Ordnung, die als die starrste und dauerhafteste gilt - die bürokratische - , unerlässlich Störungen ausgesetzt. Risse und Brüche werden verursacht, die den Fokus der literarischen Texte bilden. Ja, es lässt sich durchaus die These vertreten, dass erst durch die Schadhaftigkeit Blicke auf das Ganze freigegeben werden. Das heißt: Nur über Dysfunktionen legen die Autoren bürokratische Welten offen, nur über Fehler und Abweichungen fördern sie Perfektionswut, Rationalität, Mechanismen zutage. So bringt die schöne Zigeunerin Euphemia den Eichmeister aus der Fassung, was im „Satz" kulminiert: „Wer regiert eigentlich die Welt." Für den loyalen Beamten, der mit dem ihm fremden Gefiihl der Verliebtheit konfrontiert wird, stellt sich nämlich das Walten des Staates plötzlich nur mehr widersprüchlich dar. Als ebenso entlarvend erweist sich das Selbstverständnis der bayerschen Beamten gegenüber der Welt, wenn sie plötzlich mit „Lebenskampf" konfrontiert werden, selbst von abstrusen Einschränkungen betroffen sind - „nur für grossnichten" - oder wenn sie sich als Einzelpersonen zu verstaatlichen trachten. Erschreckend durchsichtig werden auch Zusammenhänge zwischen Jurisdiktion und Lebenswelt, wenn Albert Drach einen Mordprozess ohne gängige Voraussetzungen stattfinden lässt: wenn die Leiche, Beweise, Motive oder herkömmliche Rechtswidrigkeiten fehlen. Stattdessen wird der Tatbestand des Mordes von der Rekonstruktion romantischer Liebesabenteuer oder dem Tragen von Miniröcken abgeleitet. Umso besser wird der Spezialcode des Rechts übersetzbar und die Machtfülle sichtbar. Die Unterbrechung des Kommunikationskreislaufes ist erfolgreich verhindert.
3 Vom richtigen und falschen Leben in der Bürokratie Man kann die Bedeutung der literarischen Bürokratiekritik aber auch damit begründen, dass die habermasschen Geltungsansprüche gänzlich anders problematisiert werden als in der Umgangssprache. Zwar ist der Literatur ebenso die
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Abb. 16: es kann ein Augenblick kommen, da steht plötzlich ein unbekannter Paragraph auf, und wenn es nicht auf den Paragraphen ankommt, so erwacht zum Beispiel eine ungeahnte Leidenschaft in einem Beamten Joseph Roth
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Offenheit und Übersetzbarkeit von Spezialcodes zu eigen, jedoch „übersetzt" sie durch Verstellung und Entstellung und betreibt diese Umarbeit nicht, wie das in der Alltagskommunikation passiert, auf Kosten der Komplexität. Konkret bedeutet dies, dass im literarischen Diskurs weder der Anspruch auf Wahrheit gestellt wird noch nach Verständlichkeit im alltäglichen Sinn. Durch äußerst „unwahre", zutiefst missverständliche Schilderungen und Schlüsse treten stattdessen die Fragen nach Richtigkeit (in einer sozialen Welt) und Wahrhaftigkeit (in Bezug auf die innere Welt) in den Vordergrund. Nicht nur das: Diese letzten Geltungsansprüche fallen ab und an ineinander zusammen, weil die Werte der Gesellschaft und Tradition derart verinnerlicht wurden. Damit dominiert die soziale Welt auf prekäre Weise das Individuum und untergräbt dessen eigene Vorstellungen. So wie die Komplizenschaft zwischen herrschenden Werten und Normen durch die angebliche Neutralität und Objektivität der bürokratischen Struktur und des Rechtssystems verdeckt wird, so verbirgt sich hinter angeblich unhinterfragbaren Vorstellungen und Gesetzen gern die Ursache für pathologische und kollektive Selbstverleugnung. Das heißt: Ein Gefühl, das ich für echt halte, verdanke ich dem Anpassungsdruck an moralische Werte, die mein eigentliches Gefühl und die Bedingungen dafür verschütten. Insofern entlarven die untersuchten Texte das, was für gewöhnlich als wahrhaftig empfunden wird, als etwas, das lediglich richtig ist im lebensweltlichen Zusammenhang. Damit wird die Gefahr expliziert, Wünsche und deren Erklärungen zu verdrängen, weil sie als etwas nicht Anerkanntes bzw. als illegale Bedürfnisse verspürt werden. Joseph Roth hat in seinem Text diese Zwangslage anhand eines Beamten in vielen Facetten vorgeführt und zusätzlich durch Brüche in der Erzähllogik veranschaulicht. Die Widersprüche, treten sie erst einmal an das verdrängende Individuum heran, sind nicht mehr aufzulösen und infizieren stattdessen jeden Wert und Status. Damit gelingt es dem Autor - auf Kosten der Wahrheit und Verständlichkeit -, von bürokratischen Ordnungen in vormodernen Gegenden verursachte Paradoxien freizulegen, an denen die dort agierenden Staatsdiener und die ansässige Bevölkerung leiden. Wesentlich größere Verletzungen führt Albert Drach den herkömmlichen Geltungen Wahrheit und Verständlichkeit zu, wenn er in einer parodierten protokollarischen Sprache einen unkonventionellen Prozess dokumentiert. Nur durch diese Verfremdungsarbeit an Lebenswelt und am Objektivitätstrauma von Recht und Gesetz kann er Bürokratie als herkömmlichen Machthaushalt
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entlarven, der der Lebenswelt nicht abgewandt oder ihr entgrenzt ist, sondern vielmehr starke traditionelle Interessen befriedigt. Gerade durch die Ausreizung der sprachlichen Mittel und die ständige Abweichung vom juristischen Spezialdiskurs kann Drach die Ansprüche der Richtigkeit und Berechtigung als stete Verwechslung mit Fragen der Wahrhaftigkeit enttarnen und umgekehrt. So werden etwa sexuelle Aktivitäten nicht als Triebbefriedigung, sondern als Gemeingebrauch charakterisiert: Ein wahrhaftiges Gefühl wird als rechtmäßiges dargestellt. Noch weiter in seiner Anspruchslosigkeit gegenüber Verständlichkeit und Wahrheit geht Konrad Bayer und stößt dadurch in den tabuisierten Gehegen lebensweltlicher und bürokratischer Ordnungen am weitesten vor. Egal wie sinnlos oder brutal Handlungen und Regelungen auch sein mögen, durch die Masse und deren Gehorsam gelten sie als brauchbar und notwendig und werden mit echter Zustimmung abgegolten. Das bürokratische Subsystem erweist sich in diesem Sinnzusammenhang als altbewährtes Gemäuer, hinter dem Tote sowie Schuld und Verantwortung wie Müll abgelagert werden können. Je mehr sich nämlich der literarische Diskurs von herkömmlichen Spezialdiskursen entfernt, desto größer werden die Schwierigkeiten für eine „Ubersetzung" in die Umgangssprache. Das heißt aber auch, dass eine Entschlüsselung oder Umsetzbarkeit von Anliegen immer weniger möglich wird. Das, was reibungslos und präzise sein will oder vielmehr das, was Berührungen friktionsfrei macht und Unberechenbares, Unordentliches reinigt - die bürokratischen Ordnungen nämlich -, wird ausgerechnet durch Reibung und Chaos, Bewegung und Schmutz sichtbar gemacht. Das, was den Fehler abschafft, wird im Fehler ausgestellt. Die Abweichungen demaskieren die Norm. Diese Freilegung ähnelt auf den ersten Blick den Enthüllungen bürokratischer Missstände in Anekdoten aus dem privaten Alltag. Allerdings wird dort die Amtswelt von jeglicher Lebenswelt rigoros geschieden und eine einfache Dichotomie zwischen bürokratischen und unbürokratischen Mechanismen hergestellt. Die Frontlinie ist klar. Mit dem Pathos des Entdeckers werden unrichtige Anwendungen von Regelungen oder unberechtigte Maßnahmen von Beamten ausgemacht und in einer fremden Welt verortet. Der geschärfte Blick auf die Fehler im Apparat legitimiert jedoch zwangsläufig die gigantische Maschinerie, die den Leuten ja bloß nicht präzis oder perfekt (bzw. bürokratisch) genug ist. Gleichzeitig werden die dominanten Motive verleugnet, die in der
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Lebenswelt wurzeln und zahlreiche Vorschriften oder Urteile erst motivieren. Einbahnregelungen für Fußgänger könnten den Bedürfnissen der Nachkriegsgesellschaft entsprechen, die einer klaren Richtung angehören möchte und alles gesetzlich verboten haben will, was einem im Strom entgegenschwimmt. Genauso scheint etwa das Verlangen, Minirock tragende Autostopperinnen legal „untersuchen" zu dürfen auf spezifische lebensweltliche Interessen zurückzugehen. Im Alltagsdiskurs wird jedoch all das exklusiv der Amtswelt zugeeignet, was Konrad Bayer in seinem wohl alltagskommunikativsten Text mit „blöder Grausamkeit" und „blühendem Kadavergehorsam" kennzeichnet.208 Stattdessen sei die lebensweltliche Grausamkeit weniger blöd, weil genießbar, und der Gehorsam trage nicht derart schöne Blüten. Die Grenze zwischen Bürokratie und Lebenswelt wird also in aller Schärfe gezogen: Überschneidungen, Anziehungskräfte oder Parallelen werden rigoros ausgeblendet. Literatur aber, die statt mit Entdeckerpathos Abweichungen auf dem fernen bürokratischen Planeten zu präsentieren, mit Erfinderlust irdische Brüche und Zusammenhänge herausarbeitet, macht nicht zuletzt deutlich, wie und warum bürokratische Verwaltungskultur ein derart hartnäckiger Gegner werden konnte. Sie zeigt auch, wie schwierig es sein mag, sich diesem Feind zu stellen, der sich stets von der Lebenswelt nährt und zugleich den direkten Zugang zu ihr verbaut.
4 Von der Universalität nationalbürokratischen Eigensinns
Auch wenn die Bürokratie noch so verselbstständigt ist, immer bildet die Charakteristik der porösen Stelle zwischen System und Lebenswelt ein Spezifikum, das einen Staat mit seinen Bürgern zu einer bestimmten Zeit von anderen unterscheidet. In diesem Zusammenhang erscheint besonders der k.k. Beamtenapparat als etwas Skurriles, da er in den zeitgenössischen europäischen Nationalstaaten in dieser Art und Dichte nicht denkbar gewesen wäre. Schließlich ist das moderne bürokratische System andernorts über die Erfahrungen und Wirkungen der Französischen Revolution halt- und festsetzbar gewesen, die für eine politische Identität der Bürger sorgte. Dabei war das Nationalbewusst208 K. Bayer: (Selbst auf gehobenen Beamtenposten). A.a.O. S. 33f.
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sein, das mit der republikanischen Gesinnung verschmolz, zwar nicht konstitutiv, hatte aber „eine katalysatorische Funktion". 209 Dieser Beschleunigungseffekt fiel in Osterreich weg. Kein literarisch oder wissenschaftlich vermittelter Nationalismus begründete „eine kollektive Identität", wie sie „für die in der Französischen Revolution entstandene Staatsbürgerrolle .funktional' gewesen ist."210 Damit lässt sich begründen, warum die österreichischen Kräfte aus Wissenschaft und Literatur im 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein andere Gewalten des Zusammenhangs zu erfinden oder verstärken versuchten: das Herrschaftsgeschlecht, die Beamten oder späterhin Osterreich als Tourismusund Schifahrernation.211 Claudio Magris benennt die Suche als Arbeit am habsburgischen Mythos, andere Literaturwissenschaftler sehen die österreichische Beamtokratie als Humanitas mit Weltverbesserungstendenzen oder aber als strukturelle Gewalt, die die Literatur als Ordnung oder gar wie ein kollektives Trauma dominiert.212 Mit dem Forschungsansatz von Jürgen Habermas werden die Fragen aber andersherum aufgeworfen, ist er doch an der Universalität der Bedingungen und Möglichkeiten für Staat und Gesellschaft interessiert. So ist der Blick Richtung Bürokratie weniger auf nationale Kostbarkeiten abgestellt, sondern ganz generell auf das Medium Macht sowie die Bedürftigkeit der Lebenswelt, die zwar historisch und geografisch variieren, strukturell aber überall gleiche Entwicklungs- und Funktionsmöglichkeiten enthalten. Mit dieser Perspektivik können denn auch in Joseph Roths Roman über eine spezifische Gegend zu Monarchiezeiten Mechanismen herausgearbeitet werden, die durchwegs auch andernorts zu beobachten sind. Zum einen wird dort Geschichtliches konkretisiert und gezeigt, wie der Einzug der Bürokratie in den Randbezirken der österreichischen Monarchie behindert wurde, weil der altmodische Vielvölkerstaat ohne nationale Katalysatoren
209 J . Habermas: Faktizität und Geltung. A.a.O. S. 636 210 Ebd. 211 Vgl. W. Straub: Willkommen. Literatur und Fremdenverkehr in Österreich. Wien 2001 212 Siehe Einleitung; vgl. C. Magris: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. A.a.O.; J. P. Strelka: Im Takte des Radetzkymarsches...: der Beamte und der Offizier in der österreichischen Literatur. A.a.O. oder J . Vogel: Portable poetics oder: „Kennst Du das Wörtchen Ordnung nicht?" A.a.O.
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auskommen musste. Ebenso facettenreich wird die Kollision des Machtmediums der k.k. Zentrale mit dem Eigensinn der lebensweltlichen Strukturen in der „fernen Monarchie" dargestellt sowie die brisanten Ladungen, mit denen das Machtvakuum aufgefüllt wurde. Zum anderen weist dieser Kampf zwischen imperialem Amt und Bevölkerung, wie ihn Joseph Roth in „Das falsche Gewicht" beschreibt, strukturelle Ähnlichkeiten mit anderen kolonialen und faschistischen Bürokratisierungen auf. Man denke nur an die Entstehung der süditalienischen Mafia (die erst später ihre Vorherrschaft mit dem politischen Rom teilen musste) oder an die bürokratischen Gebietseroberungen faschistischer Nationalstaaten, die durch Amter und Personal kulturell abweichende Landstriche einzugemeinden versuchen. Nicht zuletzt lässt sich das Drama des Eichmeisters und der Zlotogroder Bevölkerung auch in Hinsicht auf hochmoderne UNO-Strukturen, Eu-Behörden oder „NATO-Interventionen" lesen, die mit ihren Maßen und Gewichten ebenso häufig am Eigensinn lebensweltlicher Strukturen scheitern. Auch hier gilt, dass die Kolonialherren oft lieber mafiose Strukturen in Kauf nehmen oder ein Land verwüsten, als die sozial- und systemintegrativen Kräfte, die sie vor Ort antreffen, zu respektieren. Jürgen Habermas hat mit seiner Interpretation (des Geldes und) der administrativen Macht, die „über die Köpfe der Beteiligten hinweg [zu einem] wirksamen Medium der gesellschaftlichen Integration geworden" ist, grundsätzlich und übernational den „systemischen Eigensinn" beschrieben.213 Dieser hat sich, wenn auch historisch ungleichzeitig, im modernen Europa überall durchgesetzt. Die genuinen Unterschiede der Bürokratien, die von den Staatsbürgern allerorten gerne zu Makrodifferenzen verzerrt werden, liegen demnach nicht in den systemintegrierenden Folgen des Staates, sondern verbergen sich in dessen Konkurrenzform: „der über Werte, Normen und Verständigung laufenden, also durch das Bewußtsein der Aktoren vermittelten ,Sozialintegration'"214. So verlagert sich mit Habermas denn auch die Ebene der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Bürokratie auf den „Eigensinn" der Lebenswelt und das heißt auf traditionell gewachsene Strukturen, kulturelle Eigenheiten, Kommunikation. Seit 1945 kann man in den westlichen Demokratien auch nicht mehr von auto213 J. Habermas: Faktizität und Geltung. A.a.O. S. 643 214 Ebd.
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ritärer bürokratischer Gewalt reden, nachdem sich der Staat prinzipiell gegenüber der Bevölkerung zu rechtfertigen hat. Legalität muss erst legitim gemacht werden und muss insofern in der Lebenswelt verwurzelt sein. Also gewinnt die Bevölkerung, die Staatsbürgergemeinschaft, eine maßgebliche Rolle und hat Verantwortung mitzutragen, von der sie im Zlotogrod der k.k. Monarchie noch ausgeschlossen war. Zudem dürfen sich die Beamten nicht mehr groß und glänzend präsentieren, sondern müssen im Hintergrund verbleiben bzw. als Dienstleistungsschwarm der Bevölkerung, heute den „Kunden und Kundinnen", zur Verfugung stehen. Dieses Verständnis der Bürokratie setzt sich in Osterreich spätestens in der Nachkriegsgesellschaft durch, was dadurch erleichtert wurde, dass die modernen Verwaltungsstrukturen dem Verdrängungsimpuls der Bevölkerung entgegenkamen. Konrad Bayer hat diese Zusammenhänge in seinen Texten vorgeführt. Selbst in abstrusesten Situationen sorgen Amtmänner und Ämter für Kontinuität und ermöglichen der befreiten Ostmark, wieder an der Vorkriegszeit anzuknüpfen. Mit Währung und Uniform, räumlichen und zeitlichen Strukturen befriedigt die Bürokratie kollektive Interessen und weist die Welt als einheimische aus. Damit kann die neue Macht ihre Legalität in der Bevölkerung verankern. Neben der System- ist auch für die Sozialintegration gesorgt. Jedoch ist es kaum möglich, diese Verzahnung von Verwaltung und Verdrängung als rein österreichische Spezialität zu verkaufen. Denn auch Brüche in anderen Ländern werden für gewöhnlich mithilfe bürokratischer Ordnungen gekittet und neu verputzt, sodass die Staatsbürger leichter eine neue Zugehörigkeit akzeptieren. Nach anstrengenden Epochen - Kriegen, Revolutionen, Umbrüchen - verfallt für gewöhnlich jede Gesellschaft etwas in Lethargie und lässt sich gern mit herkömmlichen Strukturen entlasten und mit bürokratischen Sicherheiten verwöhnen. Konrad Bayer thematisiert in seinen Texten diese Sogwirkung der Legalität, geht aber noch einen Schritt weiter. Er bringt nicht nur die harmonische Durchdringung bürokratischer und lebensweltlicher Strukturen zum Vorschein, sondern erweitert die staatliche Absicherung auch für das gekränkte Subjekt. Ja, er zeigt sogar, wie das Machtmedium auf den innersubjektiven Verkehr konzentriert werden könnte, um das Gewaltmonopol der Außen-, der sozialen und der Staatswelt zu brechen. Wenn aber Recht und Gesetz in Kleinststaaten komprimiert sind, ist der Bürokratie Tür und Tor geöffnet. In den vom Staat gereinig-
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ten Beamtenrock schlüpft fröhlich die private Person. Welcher Nationalität sie angehört, mag für die Fahne und ihr Selbstverständnis von Bedeutung sein - auf ihre Rechte und Pflichten wird sie sich jedoch nicht auswirken können. Wie hervorragend Normen und Werte, Rechts- und Triebwelt zusammenspielen, wird auch in Albert Drachs Protokoll sichtbar, wo eine herrschende Ideologie, nicht aber ein ausformuliertes Gesetz angewandt wird. So werden die allfalligen „Untersuchungen" von Mädeln stets in der Praxis und vor Gericht durchgeführt. Landschaft und Personal muten zwar österreichisch an, jedoch müssten sowohl die Lebenswelt der Provinz als auch deren Stereotype durchwegs auf andere Gegenden übertragbar sein. Stattdessen ist es die Art der literarischen Verarbeitung, die vielleicht für eine austriazistische Tradition stehen könnte und hierzulande für eine ganze Reihe von Astehtiken seit der Moderne charakteristisch ist: dass die Sprache selbst Prozess führt und zum schärfsten Kontrahenten der Mädeln avanciert. In ihrer vorgespiegelten Eindeutigkeit nützt sie der Autoritätssicherung und in den dahinter verborgenen Aussagen der strategischen Implementierung gewisser moralischer Ansichten, die unangenehm nahe gebracht werden. Die staatliche Institution und die staatlichen Diskurse „bemänteln" solcherart die alltäglichen Untersuchungen an den Mädeln. Indem die Bemäntelung Schritt für Schritt vorgeführt wird, kristallisieren sich Muster und Qualität der Alltags- und Gerichtspraxis überaus deutlich heraus. Weil der Überwurf nicht wie angegossen passt, kommen die lebensweltlichen Vorurteile penetrant zum Vorschein. Sie allerdings sind erst recht nicht genuin österreichischer Provenienz.
III.
BÜROKRATIE ALS Z U C H T M E C H A N I S M U S MIT VARIATIONEN (Michel Foucault)
die schafe wurden zur landplage erklaert. bald wurden sie in ihrer grenzenlosen dummheit dieser rolle diesem von amts wegen verliehenen titel gerecht. n.c. kaser
1 Bürokratie als normender und normalisierender Prozess
Wenn es in dieser Arbeit darum geht, die bürokratische Kultur zu erforschen und deren unermessliche Produktivität auszumachen, liegt es nahe, sich auch auf die Arbeiten Michel Foucaults einzulassen. Indem dieser den Weg Max Webers umkehrt und zur Diagnose der Moderne über Dokumente und Programme vorstößt, vermag er tiefer in den Alltag einzudringen, Unebenheiten und Brüche wahrzunehmen, als es dem Heidelberger Soziologen möglich war. Während nämlich Weber die Genese der sozialen und politischen Praxis in Idealtypen zu fassen versucht und dabei von Herrschaftsformen ausgeht, konzentriert Foucault den Blick auf die Unterdrückten und auf Details der „Zuchtprogramme", um die Macht in ihren mikrophysikalischen Strukturen sichtbar zu machen.215 Dabei werden Zeit- und Raumordnungen, Gesten und Körper, ja das Individuum selbst, Objekt und Träger der herrschenden Diskurse, denen sich der Einzelne nicht zu entziehen vermag. Die Vermachtungskonzeption wird geradezu auf den Kopf gestellt, indem Foucault postuliert, dass die „Macht von unten" kommt 216 und in Diskursen sowie Praktiken die Subjekte erst hervortreibt.
215 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt 1994. S. 38 216 Ders.: Der Wille zum Wissen (= Sexualität und Wahrheit, Bd. 1), Frankfurt 1998. S. 115
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Bürokratie als Zuchtmechanismus
Eine der wichtigsten Strategien der Macht seit der Aufklärung sieht Foucault in der Disziplinierung. Sie werde nicht nur durch humanistische Diskurse, sondern oft auch durch unscheinbare Ordnungen realisiert und schreibt sich in Verhaltensweisen und Selbstaussagen jedes einzelnen Individuums ein. Dazu gehört die Zwangsausübung, die über die Vorgänge der Tätigkeiten genauer wacht als über das Ergebnis und die Zeit, den Raum, die Bewegungen bis ins kleinste codiert. Diese Methoden, welche die peinliche Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauernde Unterwerfung ihrer Kräfte ermöglichen und sie gelehrig/nützlich machen, kann man die „Disziplinen" nennen. 217
Dass der Philosoph bei seinen Arbeiten über die Disziplinen kaum auf den Begriff der „Bürokratie" zurückgreift und jenen des „Rationalitätsprozesses" ablehnt, liegt daran, dass er die Herrschaft und die Macht von ihren Auswirkungen aus analysieren will. Nur über sie könne auch auf all das, was als Unwirkliches, als unwahr ausgerottet wird, fokussiert werden. Logik und Notwendigkeit dieser Entwicklung, ja den Entwicklungs- und Fortschrittsgedanken überhaupt, lehnt er ab. Selbst die für gewöhnlich als positiv angesehenen Effekte der Aufklärung und der Humanwissenschaften stellt er infrage. Denn der Mensch, von d e m man uns spricht und zu dessen Befreiung man uns einlädt, ist bereits ein Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine „Seele" w o h n t in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers. 218
Es versteht sich von selbst, dass eine derartige Sicht den Anliegen von Jürgen Habermas diametral entgegengesetzt ist. Zwar werden in beiden Philosophien Gefahren und Gewalttätigkeit in Institutionen und moderner Verwaltungspraxis geortet, jedoch ähneln sich „Kolonialherrn" und Kolonialisierungen, wie sie von den beiden Wissenschaftlern ausgemacht werden, kaum. Funktionsweise 217 Ders.: Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 175 218 Ebd. S. 42
Bürokratie als normender und normalisierender Prozess
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und Ausmaß der Bürokratisierung, ja selbst die Orte, an denen diese ausfindig gemacht werden, erweisen sich je nach Ansatz als völlig verschieden. Während bei Habermas die moderne Gesellschaft durch Bürokratie nur begrenzt kolonialisierbar ist, wird bei Foucault kontinuierlich disziplinare Macht realisiert, zu der auch die bürokratische gehört, und zwar in Körper und Geist. Dort, wo Habermas die Chance zur Emanzipation jedes Bürgers ausmacht, sieht Foucault disziplinare Produktivität bzw. „durchgängige Zwangsausübung" 219 . Und dort, wo der Diskursethiker Möglichkeiten sieht, dass die Individuen in die Geschäfte der Mächtigen eingreifen, wie etwa über das Rechtssystem und die Alltagskommunikation, entdeckt Foucault einen Beweis für die Korrumpiertheit und Unfreiheit des Menschen. Ausgerechnet die habermassche Lebenswelt ist für Foucault seit dem 18. Jahrhundert nicht nur Ausgeburt von Disziplinarstrategien, sondern verlässlicher Produzent von Machtprozessen und selbst die „demokratische" Verrechtlichung eine zwanghafte, zerstörerische Angelegenheit. Insofern geht es Michel Foucault um die Institutionen und deren Disziplinartechniken: um das Gericht und das Strafsystem, die Schule und den Staat. Hier wird den Menschen die Ordnung nicht wie Zuchtobjekten verpasst, indem sie sie formt und durchdringt. Sie sind selber produktiv und haben sich über Norm-, Normierungs- und Normalisierungsarbeit selbst in Machtproduzenten verwandelt. Angesichts dessen, dass herrschende Diskurse und Praktiken die gesamte Gesellschaft durchdringen, lassen sich davon exkludierte Brennpunkte kaum finden, auch nicht für jene, die sich frühere Forscher für ihre ganz eigene Position ausbedungen haben. Ohne für sich ein Objektivitätspodest zu beanspruchen, erarbeitet sich Michel Foucault jedoch durch die Kreation verschiedener Tabus und die Einhaltung diverser Distanzen Raum für seine Diagnosen: durch Suspendierung von Begriffen wie „Tradition", „Einfluss", „Entwicklung" oder „Mentalität", durch Veränderung der Forschungsziele, die statt auf Feststellung historischer Wahrheiten auf „Erfahrungen" aus sind, durch die Analyse wenig beachteter Zeitdokumente und Programme und nicht zuletzt dadurch, dass er sich selbst von Etikettierungen befreit und fordert, Philosophen müssten wieder Journalisten werden. Für den Ansatz dieser Arbeit sind diese Ecksteine von besonderer Brisanz, da gerade die „Beamtenliteratur" auf den genannten 219 Ebd. S. 175
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Bürokratie als Zuchtmechanismus
herkömmlichen Paradigmata, insbesondere auf Tradition, Mentalität und historischer Wahrheit, aufbaut, sich jedoch damit, oft gegen ihren Willen, selbst ironisiert oder infrage stellt. Wenn ich bisher anhand Webers Idealtypen und des diskursethischen Ansatzes von Habermas Ideologie und Ästhetik vor allem in Abweichungen und Störungen herausgearbeitet habe, wird es in diesem Abschnitt um jene bürokratischen Techniken und Praktiken gehen, die, zumindest auf den ersten Blick, reibungsfrei funktionieren. Grundlage hierfür sind Michel Foucaults Erkenntnisse, die er in seinem Buch über die Straf- und Kontrollpraktiken präsentiert.220 Sie werden hier anhand des Selbst- und Fremdverständnisses geprüft, wie es als wesentlicher Bestandteil einer bürokratischen Kultur manchmal beinahe unsichtbar im Amtsalltag, in Lebensläufen und Körpern realisiert wird, wie es Normierung in kleinsten Facetten konstituiert und wie es jene Macht produziert, die letztlich dem Staat und der Wirtschaft zufallen. Die Frage ist nun, wie auch der methodische Zugang Foucaults für meine Untersuchungen nutzbar gemacht werden kann, zumal der Forscher der Literatur in seinen Schriften sehr unterschiedliche Orte zugewiesen hat. Zum einen hat er formuliert, dass literarische Texte, weil historisch nicht verifizierbar, nicht als „Erfahrungen" verallgemeinert werden könnten, im Gegensatz zu den diversen Schriften aus den Archiven, zu denen er selbst Untersuchungen zu Sexualität, Klinik und Gefängnis anstellte.221 Andererseits hat er exemplarische Texte und Kunstwerke sehr wohl dazu genutzt, um Epochenbrüche zu erläutern222, oder hat sie als exterritorialen Standpunkt ins Visier genommen, in dem sich die Sprache des Wahnsinns finden lässt223. Interessant für meine Fragestellungen in diesem Abschnitt, der sich ausschließlich Literatur von Beamten bzw. Exbeamten oder literarischen Bearbeitungen von bürokratischem Material widmet, ist jedoch v.a. Foucaults später
220 Ebd. 221 Vgl. ders.: Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori. Frankfurt 1997. S. 24 222 In: ders.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaiten. Frankfurt 1974 223 In: ders.: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt 1973
Bürokratie als normender und normalisierender Prozess
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Aufsatz über den „infamen Menschen" 224 , der zum Lieblingssujet der Literatur avanciert sei. Wie die Literatur als Kunstgriff die Fabel als „Fabelhaftes" abgelöst habe, so gehe es inzwischen statt um das Unwahrscheinliche um das Unscheinbare. Indem sie das Winzige, Verborgene, das Verbotenste, Skandalöseste ans Licht zerrt, nehme sie zwar nicht einen Standpunkt außerhalb der Macht ein, um vielleicht Machtverhältnisse zu kippen, weil sie Teil des großen Zwangssystems [ist], wodurch das Abendland das Alltägliche genötigt hat, sich zu diskursivieren; aber sie nimmt darin einen besonderen Platz ein: verbissen das Alltägliche unterhalb seiner selbst zu suchen, die Grenzen zu durchbrechen, brutal oder hinterlistig die Geheimnisse zu lüften, die Regeln und die Codes zu verschieben, das Uneingestehbare sagen zu machen, so wird sie danach streben, sich außerhalb des Gesetzes aufzustellen oder zumindest die Last des Skandals, der Überschreitung oder der Revolte auf sich zu nehmen. 225
Foucault gewinnt diese Sicht auf Literatur anhand archivierter Gefangnisbriefe des frühen 18. Jahrhunderts, die er sowohl als „Novellen" als auch als „Arbeit der Macht an den Leben" zu lesen vorschlägt226. Wenn allerdings diese „Lettres de cachets" unvermittelt sind und nur durch Zufalle „zu sonderbaren Dichtungen geworden sind"227, dann unterscheidet sich die „Beamtenliteratur", Texte von Beamten über Bürokratie, die hier untersucht werden sollen, davon wesentlich, insofern die Veröffentlichung beim Schreiben meist mitgedacht war. Zugleich entbehrt ihnen jeglicher „Glanz", alle „Pracht" und „Heftigkeit"228. Eigentlich stellen sie genau umgekehrt zu Foucaults lettres Versuche dar, aus dem Glanzlosen und Banalen Einzigartigkeit zu ziehen und mit der literarisierten Selbstentblößung die stete Demütigung des Unsichtbar- und Austauschbarseins zu kompensieren. Aber genau dieser Gegensatz kann für die vorliegende Bürokratieanalyse nutzbar gemacht werden. Sie soll zeigen, wie die Beamtenliteratur die nor224 Ders.: Das Leben der infamen Menschen. In: ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt 2003. S.314-335 225 226 227 228
Ebd. S. 334 Vgl. ebd. S. 314 und 335 Vgl. ebd. S. 315 Vgl. ebd. S. 323
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Bürokratie als Zuchtmechanismus
menden, normierenden, normalisierenden Mechanismen thematisiert, anhand welcher Arrangements und Bilder die Mikrophysik der Macht aufgedeckt oder verschleiert werden. Für die Untersuchung werden formal eher unspektakuläre Texte herangezogen, die mehrheitlich von Amtsdienern mit aller Liebe zum Detail verfasst worden sind: z.B. ein Beamtenbestseller, eine literarische Reaktion auf ein persönliches Steuerproblem oder autobiografische Verarbeitungen des k.k. Beamtenalltags. Im letzten Teil hingegen beschäftige ich mich mit zwei Büchern Heimrad Bäckers, der mittels zeitgeschichtlicher Dokumente aus der Ära des Nationalsozialismus die Macht des Bürokratiediskurses als Macht von unten vielleicht am nachdrücklichsten auszustellen vermag. Gerade weil er auf Fiktionalisierung verzichtet und im Anhang auf die Quellen der Zitate verweist, kann er über das exemplarisch Identifikatorische hinausgehen und das Ausmaß des Systems zumindest ahnbar machen.
2 Bürokratie als genuin bürgerliche Lebenspraxis
Nicht von ungefähr erlebte die Bürokratisierung der Verwaltung einen immensen Aufschwung, als statt feudaler Amtsinhaber immer mehr Personal aus den bürgerlichen Klassen rekrutiert wurde. Dadurch musste nicht nur der Staatsdienst neu gesehen und geordnet werden, sondern bürgerliche Werte reüssierten als genuine Amtstugenden: Fleiß, Ordnung, Pünktlichkeit, Bescheidenheit, Ruhe und Pflichterfüllung.229 Zugleich erstarkten in der bürgerlichen Schicht bildungs- und ausbildungsspezifische Kapitalsorten. Indem in den Unterricht des Verwaltungspersonals neben Tanz-, Fecht- und Reitkünsten auch juristische Themen eingebunden wurden (beginnend ab 1745) und das Rechtsstudium innerhalb von Jahrzehnten die typisch adelige Ausbildung, die privater Natur war, ersetzte, muss nun von Verbürgerlichung und Bürokratisierung zugleich gesprochen werden. Denn der beachtliche Aufstieg der Bewertungskultur, die Aufwertung von Qualifikationen und Titeln sowie die Verschulung der Universitäten hatten nicht nur eine penible AusdifFerenzierung von Ebenen und Querverbindungen in der Gesellschaftsstruktur zur Folge: Im Jurastudium, ja beim 229 W. Heindl: Gehorsame Rebellen. A.a.O. S. 329 und 124
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Studieren überhaupt, sind spezifisch bürgerliche Qualitäten gefragt und deren Diskurse hatten revolutionierende Konsequenzen für die Verwaltung. Wie im Bereich der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und universitären Institutionen lassen sich ähnliche Strukturierungsprozesse auch in anderen Sphären des gesellschaftlichen Lebens belegen. Bürgerliche Wertorientierungen werden generalisiert. Die räumliche Scheidung von Arbeits- und Privatwelt, in Amtshaus und Wohnung, Kollegenschaft und Familie setzt sich gleichermaßen durch wie die penible AusdifFerenzierung der Zeitstrukturen. Nach präzis festgelegten Einheiten sortiert sich das Beamtenleben in Essensund Frischluftzeiten, Mittagspausen und Urlaubswochen sowie in Arbeitsstunden und Dienstjahre, Zeiten für Parteienverkehr und Behördeninterna. Mit dieser Verdichtung bürgerlicher Ordnung in behördlichen und privaten Strukturen ist auch deren symbolische Reproduktion angekurbelt worden. Beginnend mit der Zeit der Aufklärung lassen sich der Siegeszug des Bürgertums sowie die Verbreitung seiner Werte wie Bildung, Fleiß oder Ordnung nachvollziehen.230 Auch hier erweisen sich die bürokratischen Prinzipien der Berechenbarkeit und Reglementierbarkeit als geradezu geniale Katalysatoren der bürgerlichen Feldzüge. Dass dabei Aktenkundigkeit und Schrift nicht nur zweckhaft und dienlich sind, sondern wesentlich dazu beitragen, auch der Zukunft Herr zu sein, beweist wiederum, dass im bürgerlichen Feld mit bürokratischen Strukturen nur Gewinne einzuheimsen sind. Diese historischen Entwicklungen, die sich zu Zeiten Maria Theresias als sanfter Beginn, im josephinischen Jahrzehnt als radikaler Ausbau und in der 60-jährigen Herrschaft von Kaiser Franz Joseph vor allem als Einfrierung des Status quo belegen lassen, sind auch nach 1918 nicht abgebrochen. Schon allein dadurch, dass an die berufliche Qualifikation des Beamtenstandes immer höhere Anforderungen gestellt wurden oder Tugenden wie Fleiß, Ordnung, Ruhe, Pflichterfüllung noch lange zum staatsdienerlichen Selbstverständnis gehörten, konnte der Produktionsmotor bürgerlicher Werte im 20. Jahrhundert eher noch beschleunigt werden. Vor allem aber durch die gigantische Aufstockung des Personals - 1841 ca. 135.000 Beamte für 35 Millionen Einwohner, 1990 300.000 für 7 Millionen Österreicher - werden Bürgertugenden und Bürokratisierung in einem rasanten Tempo verbreitet und vertieft. 230 Vgl. ebd. S. 331f.
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Die Frage, die sich hier nun stellt, ist, in welchen Details sich die Mikrophysik der bürgerlichen Macht, die durch Techniken definierte „politische und detaillierte Besetzung des Körpers"231 niederschlägt, wo sie produktiv wird und welche Mechanismen und Ordnungen sie installiert. Dafür erweist sich der zentrale Ort, von dem die Disziplinierung ausgeht, wo selbst diese auch am tiefsten greift, literarisch zugleich als der zugänglichste: die Behörde und deren Verkörperungen, die Beamten. Schließlich wurde die Disziplinierung gerade dort, wo die Bürokratisierung am nachhaltigsten gewirkt hat, auch außeramtlich reproduziert : und zwar in zahlreichen literarischen Texten über das Beamtenleben, die oftmals autobiografische Züge tragen. Die amtlichen Schreibgewohnheiten entpuppen sich als Motor für literarisches Arbeiten, der mit Lust in Gang gesetzt wird. Die folgenden Analysen dienen dem Nachweis facettenreicher Produktion von Bürokratie, die über zeitliche und räumliche Strukturierung, Hierarchisierung und Naturalisierung, Sinnstiftung und Verschönerung geleistet wird. Wenn Michel Foucault behauptet, dass die Macht nicht bloß zerstört und verwüstet, sondern auch produktiv ist, dann lässt sich diese Feststellung anhand der behördlichen Lebenswelt vielseitig belegen. Im Reich der Beamtenschaft ist Bürokratisierung nicht auf bloße Reduktion von lebendiger Arbeit, kreativen Kräften oder Spontaneität beschränkt, sondern bringt durch die ungeheure Disziplinierung durchwegs einen neuen Typus und neue Modi hervor. Auf Gesten und Aktivitäten, die präzise in zeitliche und räumliche Einheiten geordnet sind, basieren „innovative" Lebensweisen und Verhaltensmuster, die auch jenseits des Amtes auszumachen sind. Diese neuen Formen sind heute vielfach internalisiert und beinahe unsichtbar, während Teile davon mittlerweile schon wieder altmodisch anmuten. Jedenfalls zeugen die Auseinandersetzungen in der Literatur von den Brüchen mit Vor- und Alternativformen, die auch als Machtfragen decodiert werden können. Die Frage ist nun, wie über die Praktiken und Spielregeln im Amtsbetrieb das Bewusstsein organisiert sein kann und welche Möglichkeiten davon favorisiert werden: und zwar in Bezug auf Subjektivierung und Machtverfahren, auf Selbst- und Fremdbestimmung in den verschiedenen Diskursen, die die Wahrnehmungsweisen der Beamten und Behördengänger als einzig mögliche 231 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 178
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etablieren und die verlässlich reproduziert werden. Als Grundlage soll hierfür die Genealogie der Macht herangezogen werden, die Foucault anhand der Institutionen des Militärs, der Medizin, der Schule und der Industrie erarbeitet hat, wie sie sich zukunftsweisend am Beginn der Moderne (bis 1830) herauskristallisierte. Wenn die Kunst der Verteilungen, die Kontrolle, Organisation und Abrichtung in der Verwaltung, wie sie in den literarischen Texten zutage treten, wesentlich von Foucaults Ergebnissen abweichen, so kann im Kontrast zwischen seinen Typisierungen und jenen in der Literatur angelegten die vielerorts erfahrene absonderliche Stellung der Behörde nachgewiesen werden, die ihren eigenen Anspruch und ihren öffentlichen Diskurs immer wieder konterkariert.
A ÖKOLOGIE UND
GENETIK
Texte über den Beamtenalltag von Gustav von Festenberg, Alexander Lernet-Holenia, Friedrich Kleinwächter, Anselm Eder, H e r m a n n Ungar und Autobiografien von k.k. B e a m t e n Über das Tote am Beamtenhafen wird gelacht, nicht aber über das Lebendige, wie es sich unter dem Toten fortschleppt. Heiko Michael Hartmann 1 Minute für Minute: programmiert
Literarische Auseinandersetzungen mit der Welt der Beamten sind oft minutiös in zeitliche Schemata eingebunden und bloß innerhalb vieler kleiner Rahmungen zugänglich gemacht. Das Leben des Staatsdieners wird in genau festgelegte Sequenzen geschnitten und als solche Ordnung durch diverse Ausbruchversuche und gegenüber alternativen Lebensweisen konturiert. Vom Tagesablauf, Jahreslauf bis hin zum Lebenslauf wird in verschiedensten Texten ein derart übereinstimmendes Raster entworfen, als ob die Amtsträger, zu Zutaten degradiert, ein immergleiches Rezept realisieren würden. Selbst Privatgespräche, Liebesangelegenheiten oder Gefiihlsausbrüche sind von den Autoren präzise in die vorgegebenen Rhythmen eingearbeitet und werden, falls sie den zeitlichen Ordnungsrahmen sprengen, als Störung identifiziert sowie - manchmal samt der Figur des Beamten - aus dem Text entfernt. So entspricht das behördliche Schema von Zeit und Reihenfolge der Ordnung der Texte selbst, sodass sich Konturen einer bürokratischen Poetik abzeichnen. Als Paradebeispiel hierfür untersuche ich einen Roman Gustav von Festenbergs, der vierundzwanzig aufeinanderfolgende Stunden eines ganz gewöhnlichen Tages im Leben eines mittleren Beamten nacherzählt.232 Akribisch beschreibt der auktoriale Erzähler alle Handlungen, Gedanken und Gefühle seines Helden und integriert dessen Privat- und Berufsleben. Vom Aufstehen - „Franz 232 Gustav von Festenberg: Ein Tag wie alle. Roman. Wien/Hamburg 1939
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Taxenbach ist aufgewacht" (9) - bis zum Einschlafen - „Seine Seele hat ihn verlassen" (281) - wird der unspektakuläre Tag chronologisch nachvollzogen. Essen, Toilette, Wege, Aktenbearbeitung, Parteienverkehr, soziale Kontakte mit der Mutter, dem Freund, Vorgesetzten und Kollegen werden in Minuten- und Zentimeterpräzision ausgeschildert. Mit besonderer Sorgfalt transkribiert der Autor auch Gedanken, Gefühle, Wünsche, Träume, die nicht nur die Sehnsucht nach einer Geliebten betreffen, sondern auch banale Tätigkeiten begleiten. Wenn der Titel des Textes, „Ein Tag wie alle", vom Vorhaben kündigt, anhand 24 Stunden ein ganzes Leben zu veranschaulichen, dann wird im Nachtrag des Romans umgekehrt dazu die Bedeutsamkeit aller einzelnen Empfindungen und Begegnungen für das Leben hervorgehoben. In einem Vergleich zwischen dem Heute und dem Morgen verbirgt sich das existenzielle Anliegen des Autors, der seinen Roman mit folgenden Sätzen schließt: Ja, alles wird sein wie heute. Und dennoch anders. Denn Franz selbst wird morgen ein anderer sein als heute, so wie er heute ein anderer war als gestern./Und darin liegt der Sinn und Wert des Lebens. Nicht ob es verworren und wild oder klar und ruhig verläuft, nicht ob es von außen her strahlend erscheint oder finster, sondern daß in dem kleinen vergänglichen Geschehen des Tages das große Unvergängliche geschieht: daß der Mensch sich selber findet (ebd.).
Mit diesen Sätzen rechtfertigt der Erzähler jene Lebens- und Arbeitsweisen von Beamten, wie sie gängigen Klischees entsprechen und wie sie detailreich in seinem Text zugänglich gemacht werden. Und er tröstet all jene Leser, die im identifikatorisch angelegten Roman sich selber wiederfinden mögen. Zudem wird der Beschreibung dieser Stunden und dieses Lebens über die Definition des Protagonisten als Held (vgl. 7 und 281) sowie durch den Genreverweis „Roman" ein besonderer Status zuerkannt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich prosaische Vorhaben wie dieses ähnlich poesieverdächtig an die Bändigung von Naturkräften heranmachen wie der schärfste Kritiker dieser Programmierung, Michel Foucault, wenn dieser schreibt: Man liest die zerstreute Zeit zusammen, um sie in den Scheuern des Nutzens einzufahren und sie gegen alle Winde zu schützen, die wehen, wo sie wollen.
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Die Macht tritt der Zeit sehr nahe und sichert sich ihre Kontrolle und ihre Ausnutzung. 233
Allerdings veranschaulicht bei Festenberg die minutiöse Beschreibung des Tages mit der Referenz auf Monate und Dienstjahre nicht nur die „Ökonomie der Tätigkeiten"234, sondern auch eine genuine Ökologie des Daseins. Das gelingt ihm, weil die Formen der Ökonomie - aus lateinisch oeconomia, „gehörige Einteilung", aus griechisch oikonomia, „Haushaltung, Verwaltung" - ökologisch kompatibel sind: Das Zeitmanagement fußt auf den „Wechselbeziehungen zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt" und wird als „ungestörter Haushalt der Natur" ausgegeben235. Interessanterweise wendet der Autor die „Ökonomie der Tätigkeiten" v.a. auf private Angelegenheiten in Amts- und Freizeit an, während die darauf aufbauende Ökologisierung auch die behördlichen Praktiken betrifft, die aus dem Amtmann ein natürliches, selbstbewusstes Wesen machen. Bewerkstelligt wird die Naturalisierung der modernen Zeitorganisation durch den Einsatz verschiedener Mittel: indem der auktoriale Erzähler wie selbstverständlich kleinste Zeiteinheiten nachzeichnet, durch den überschwenglichen Einsatz von Vergleichen aus dem Reich der Natur und der Mythen sowie durch radikale Typisierung, die die Amtsträger als gesonderte Menschengattung ausweist. Wie charakterisiert der Autor nun die dominanten Zeitstrukturen seines Beamten ? Die ritualisierten Handlungen werden den ganzen Tag über vollzogen, sind in Richtung Vergangenheit gewandt und werden tendenziell etwas in Verspätung realisiert. Nicht verzögert, sondern sogar verfrüht, scheint lediglich der erste Moment erlebt zu werden, das allmorgendliche Munterwerden. Stets wacht der Romanheld vor der Zeit mit feinen Empfindungen auf, die er aus der Kindheit kennt: „das Gefühl der Seelöwen [...], wenn sie überströmt von Wasser, das Fell schwarz und glänzend von Nässe, aus der Tiefe des Bassins auftauchen, ernst und erstaunt, und mit den Augen in die Sonne blinzeln, ehe sie wieder
233 M. Foucault. Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 206 234 Ebd. S. 207 235 Vgl. Stichwort Ökologie im Duden. Das Große Fremdwörterbuch. A.a.O.
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verschwinden" (9). Einige wohlige Träumereien später „spürt" Franz Taxenbach, „wie der Schlaf abebbt. Es ist wie nach einer Überschwemmung, wenn die Sträucher emportauchen, die Zäune, die Marksteine und die gewöhnlichen Steine auf der Straße" (13f.). In diesen Bildern wird jedoch nicht seine Jugend heraufbeschworen - Rückblicke aufJugendalter und Pubertät späterer Beamten scheinen überhaupt eine literarische Rarität zu sein -, sondern seine vorige Arbeitsstelle bei einer Behörde in einer größeren Stadt. Genaugenommen sind es deren festgelegte Rhythmen und Zeiten, die hier über Vergleiche naturalisiert und in kontinuierliche Naturprozesse transformiert werden. Abweichungen wären krankhaft und würden mit den Naturgesetzen im Widerspruch stehen. Auch wenn der Beamte die Stelle inzwischen gewechselt hat und von der Stadt aufs Land gezogen ist: Der Körper, seine „Natur", hat sich noch nicht auf die neuen Zeiten, die neue „Natur" umgestellt. Nach präzisen Ritualen, die ordnungsgemäß durchgeführt werden - von Franz Taxenbach selbst, seiner Mutter und der Köchin -, wird das Frühstück absolviert, und zwar „alles in einer bestimmten Reihenfolge". Nur so werden die Gefühle des Beamten befriedigt, und das Essen kann ihm „Behagen" bereiten. Denn nicht daß er es besonders liebte zu essen. Aber er liebte es, alles genau so zu finden, wie er es erwartet. Keine Enttäuschung, keine Überraschung. Jeden Morgen das gleiche, das ist es, was er will (18).
Wie beim geordneten Ablauf in der Früh, so hält Taxenbach an diesem zufallig ausgewählten Tag auch die peniblen Zeitstrukturen auf dem Weg ins Büro ein, bei der Behördenarbeit, der Mittagspause, dem Nachmittagsschläfchen und den Amtsstunden am Nachmittag. Warum ? Könnte dieser Beamte der mittleren Stellung nicht einmal früher in die Arbeit gehen, auf den Nachmittagsschlaf verzichten oder auch nur das Frühstück - Brote, Eingemachtes, Ei - in einer anderen Reihenfolge zu sich nehmen? Nein, derartige Abweichungen werden vom Erzähler explizit ausgeschlossen, indem er seine Beamtenfigur in einer vorhersehbaren Welt verortet, der dieser nur gewachsen ist, wenn er selbst stereotyp wird. Dann braucht er gar keine Abwechslung mehr, die er sowieso nicht haben könnte. Dann braucht er Gleichförmigkeit, die für ihn existenziell ist und die er schätzen lernt (ebd.).
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Abb. 17: Dieser Franz ist kein Mensch, der die äußere Abwechslung sucht. Wie hielte er auch sonst dieses abwechslungslose, gleichförmige Leben aus und fühlte sich noch wohl dabei? Gustav von Festenberg
So garantiert der willkürliche, künstliche Ablauf den „ungestörten Haushalt der Natur". In ihr wird die natürliche Person, das heißt jene, die den Gesetzen dieser „Natur" folgt, mit Behaglichkeit und Wohlgefuhl belohnt. Die Anpassung an die Dispositionen des Amtsalltags sowie deren Übertragung auf das private Leben erweisen sich als umso nützlicher, als sich der Held am exemplarischen Tag im Osterreich der Zwischenkriegszeit befindet. Auch der Autor erspart sich mit der Konzentration auf kleinliche Regelungen einer Einzelperson die Aus-
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einandersetzung mit der brisanten Zeit, ja liefert mit seinen Vergleichen eine Rechtfertigung fiir die Kontinuität der behördlichen Praxis. Nicht von ungefähr ist der Roman im ersten Kriegsjahr 1939 in einem österreichisch-deutschen Verlag herausgekommen. Festenberg liegt nicht nur die Naturhaftigkeit präziser Zeiteinteilung am Herzen, die er mit zahlreichen Vergleichen zum Ausdruck bringt. Es geht ihm auch um den Sieg der Natur über die Technik, respektive den Sieg des Menschen über seine Erfindungen. So funktioniert Franz automatisch pünktlicher und perfekter als jedes Gerät oder technisches Hilfsmittel. Während nämlich die goldene Firmuhr der Mutter nachgeht (28), die Kirchturmuhr zu spät geläutet wird (147) und es von der Sparkassa gar „einen unordentlichen Schlag" tut (149), kann sich Franz Taxenbach auf seinen Körper verlassen. Er wacht stets nach dem Mittagsschläfchen um Punkt halb zwei auf, egal ob er nun ausgeschlafen ist oder müde. Das verblüfft sogar ihn, obwohl - so der Erzähler - „im Grunde [...] nichts Wunderbares dabei [ist]. Franz trägt keine Uhr. So hat er gelernt, selbst die Zeit zu teilen. Entfernt man ein Sinnesorgan, übernehmen die anderen seine Funktionen" (162f.). Mit diesem Vergleich geht Festenberg noch einen Schritt weiter. Neben der Zeitorganisation, die als Naturangelegenheit etabliert wird, erfahrt auch die Uhr ihre Neokategorisierung als Körperteil. Der Mensch ist, wenn lernwillig, dazu fähig, Maschinen in sich selbst heranzuzüchten und zu naturalisieren. In einen natürlichen Kreislauf integriert werden aber nicht nur die zeitlichen Sequenzen, sondern auch die Bewegungen und deren Abfolgen, Geschwindigkeit und Dauer. In der Früh etwa, weil gerade „neugeboren", bewegt sich Franz mühsam, selbst wenn er nur ans Fenster treten muss (33). Nach der halbstündlichen Morgentoilette, durch die er „mit dem ganzen Körper [erwacht]", wird er automatisch beschleunigt. Dass er beginnt, sich mit der „Außenwelt" zu beschäftigen, „zeigt sich am besten darin, daß er anfängt sich zu beeilen" (35). Genauso ergeht es ihm, wenn er das Amt um 12 Uhr verlässt (144), während er im Gegensatz dazu bei seinen Amtsgeschäften weder Hast noch Eile zu kennen scheint. Höhepunkt des Gegensatzes dazu sind die Momente nach der Mittagspause, wenn er, am Schreibtisch eingetroffen, „fünf, zehn Minuten" regungslos verharren muss (164). Wie bei den privaten und intimen Beschäftigungen werden auch Zeitpunkt und Tempo der Aktenarbeit auf natürliche Prozesse und innere Rhythmen zu-
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rückgefiihrt, in die sich Franz Taxenbach äußerst umsichtig einfindet. Stets gegen Mittag kündigt sich diese Beschäftigung, eingebettet in ein Naturereignis, an. „Allmählich breitet sich Klarheit in ihm aus, öffnet die geheimnisvolle Knospe in ihm ihre Blätter." Das ist der Moment, in dem der Beamte alles „rasch" „erledigen" möchte, „um dann, wenn das innere Licht aufgeht, sich ganz seinen eigenen Gedanken hingeben zu können" (167). Aber mit der Erledigung wird es nichts, denn es handelt sich zu dieser Tageszeit bloß um eine erste Kontaktaufnahme, um einen „Augenblick, in dem Franz die Anwesenheit dieser Akten sozusagen bewusst wird. Er schaut sie an, wie sie ihn anschauen." Erst nach dem Treffen mit dem Freund, dem Essen mit der Mutter, dem Nachmittagsschlaf dem Verharren am Schreibtisch und der Zeitungsübergabe kommen ihm die Akten wieder ins Bewusstsein. Zu dieser Tageszeit setzen sie ihn regelrecht unter Druck, indem sie ihm wie „Ertrinkende" vorkommen, die Hilfe „verlangen" (194). Dieses Gefühl spürt Taxenbach ebenso körperlich wie die Anstrengung, die er für Weg und Treppe aufwenden muss. Der Widerstreit zwischen diesen beiden Herausforderungen endet zuungunsten der „Ertrinkenden", obwohl deren Hilferufe immerhin „beinahe" dazu geführt hätten, „daß er seine Schritte beschleunigte". Aber die Erschöpfung hindert Franz selbst daran, „er sinkt vor seinem Schreibtisch zusammen" (ebd.). Genau dieser Umgang mit Zeit bzw. körperlicher und seelischer Anspannung ermöglicht es letztlich, dass die Produktivkräfte des Beamten überhaupt aktiv werden können. Wie von Geisterhand wird Franz für diesen Zweck von allen Beschwernissen und Dunkelheiten befreit, allerdings nicht, um sich völlig seinen eigenen Gedanken hingeben zu können (167), sondern den Akten. Oder sind „seine eigenen Gedanken" dann doch die Akten ? Inzwischen hat jemand in seinem Inneren das Licht angezündet. Es beginnt in ihm hell zu werden. Immer um diese Zeit wird es hell in Franz. Eine innere Sonne erscheint am Horizont seines Bewußtseins, eine Sonne des Willens, und geht auf. [...] Erarbeitet (194).
Immerhin gelingt es ihm in dieser produktiven Phase, die hier von 15.08 Uhr bis 15.30 Uhr anhält, 11 Akten zu erledigen, sodass er sich eine halbe Stunde vor Amtsschluss wie stets der notwendigen Entspannung widmen kann. Angesichts derart internalisierter Zeitordnung wird auch klar, wie Taxenbach die eintrudelnden Parteien erleben muss, die sich in verstörender Unregelmä-
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ßigkeit einfinden und den geordneten Ablauf durcheinanderbringen. Festenberg macht verständlich, wie brutal Behördengänger das sanfte Gleichgewicht stören und die behördliche Ökologie gefährden. Diese immerwährende Gefahr und Belastung durch Parteienverkehr sowie die intensiven Aktenbearbeitungen fuhren dazu, dass der Amtsalltag für den Beamten mittlerer Stellung bis weit in die Freizeit nachwirkt. Erst zwischen 5 oder 6 Uhr, wenn er längst zu Hause ist, kann sich der Beamte davon befreien. Ähnlich dem Mythos der Künstler, die, mit inneren Sonnen und Lichtern ausgestattet, mitunter in weniger als einer halben Stunde ihr ideales Werk ausführen und vollenden, wirkt der Schöpfüngsakt beim Beamten als körperliche und geistige Erschöpfung noch nach: Bloß weiß der Maler nicht, wie lange und schon gar nicht, um welche Uhrzeit der Geniestreich gelingen wird. Bei Franz ist das anders. Er weiß nicht nur, wann er produktiv ist, sondern auch, wann er wieder voll und ganz jedes Amtsgedankens entledigt ist. Nach Dienstschluss und Teestunde mit seiner Mutter beginnt sich der Privatmensch, einem Göttervater gleich - und zwar jenem gleich, der sich brav nicht am Aufstand der Titanen beteiligte - zu zeigen. Denn: Immer ist es um diese Stunde so mit Franz. Sein eigentlicher Tag ist zu Ende. Aber das Tägliche, das Beschäftigte, Geschäftige, das Außere und Äußerliche muß langsam verebben, daß sein Eigenstes, sein Ich, emporsteigen kann, so wie aus dem bewegten vielwelligen Meer, aus den purpurnen Höhlen auftauchend Okeanos das Haupt erhebt. Und es wird still (221).
Zur Gänze erledigt ist die Arbeit des Tages aber erst am nächsten Morgen zwischen Aufstehen und Frühstück, indem der Beamte das Kalenderblatt entfernt. Wenn dieses Ritual in der Küche bedeutungslos ist, wo Taxenbach das Blatt aus purem Ordnungssinn abreißt, so wird derselbe Akt in seinem Zimmer zu einer „symbolischen Handlung", durch die „der vergangene Tag vergangen [wird]. Und der neue Tag beginnt. Den vergangenen Tag legt er auf den Schreibtisch vor dem Fenster" (30, 24f.). Der Einsatz des Pars pro Toto veranschaulicht schön die Hoheitsgefühle des Protagonisten. In seinem Leben wird eben weniger Staatsordnung realisiert als mit Natur- und Göttergewalt Zeit verwaltet. Ähnlich den irdischen und außerirdischen Kosmen verlangt diese Tätigkeit ein lückenloses Kontinuum, das nicht abreißen darf: weil „nichts bleibt", alles entgleiten will und das bereits Erreichte jeden Tag aufs Neue erobert und verteidigt
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werden muss (vgl. 222). Deshalb gilt es die Zeit „gegen alle Winde zu schützen, die wehen, wo sie wollen" (Foucault, s.o.): Das kann nur mit einem ungeheuren Disziplinierungsaufwand und unumschränktem Gehorsam geschehen. Allerdings zeigt sich im Amtstag Taxenbachs, dass es weniger um Kontrolle und Ausnutzung der Zeit geht, als vielmehr darum, den Status quo einzufrieren und die Zukunft der Gegenwart unterzuordnen. Hier wurzelt der Kern des Konservatismus, dem jedes bürokratische System, auch jenes, das revolutionäre Ideen zu institutionalisieren versucht, zum Opfer fallt. Hier wurzelt aber auch die private Misere, der Beamte auf Lebenszeit nur schlecht entkommen. So plant Franz Taxenbach auch seine Beziehungsverhältnisse gemäß der „Teilung der Zeit" (s.o.) straff und exakt voraus und hält sich konsequent nach diesen Vorgaben. Das Aufeinandertreffen der Freunde, Bekannten und Kollegen findet immer zur selben Zeit und im selben Rhythmus statt. Deshalb hält Franz sogar an der Gewohnheit fest, dass ihm täglich wie zu einem fixen Termin die Zeitung gebracht wird, obwohl er sie gar nicht liest. Die vorgesehenen Kontakte zu festgelegter Zeit dominieren schon Stunden vorher jegliche Kopf- und Gefuhlsarbeit. Wegen des Postboten, der jeden Tag innerhalb der unveränderten Frist zu ihm ins Büro kommt, fuhrt Franz schon im Vorhinein einige wichtige Denk- und Gefuhlsoperationen durch, die ihn von Akten und genuiner Amtsarbeit abhalten: Bevor die erwarteten Briefe einlangen oder auch nicht, ist er immer ganz in Gedanken an vergangene Lieben versunken. Ebenso regulierend auf die Behördengeschäfte wirkt sich die Freundschaft mit einem Großgrundbesitzer aus. Beinahe eine Stunde sind alle Energien und Gedanken an das bevorstehende Treffen mit ihm gebunden: und das jeden Tag, zur gleichen Zeit, mit derselben Dauer. So fuhrt die Ökonomisierung des Gesamtlebens des Beamten Taxenbach weniger zur „Akkumulierung, Einholung, Totalisierung und Ausnutzung der Zeit und der Tätigkeit im Endresultat", wenn man dabei die „Tauglichkeit des Individuums"236 als Staatsdiener meint. Eine „Tauglichkeit des Individuums" wird aber vom Autor durchwegs postuliert, sofern das Dasein des Privatmenschen gemeint ist. Im Gleichklang mit den Rhythmen der Natur und störungsfrei platziert in gesellschaftlichen Zusammenhängen schafft die zeitliche Disziplinierung reibungslose Abläufe zwischen Bewusstem und Unbewusstem, Privatem 236 M. Foucault. Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 206
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und Öffentlichem. Das Endresultat, auf das diese Zeitordnung kontinuierlich hinausläuft, ist dementsprechend weniger auf Kapitalisierung und Machtzuwächse ausgerichtet, als an Unveränderbarkeit und Wiederholung interessiert. Indem Tag für Tag das Immergleiche perpetuiert wird, lässt sich Zukünftiges beherrschen und Geschichte abschaffen. Wenn der Erzähler in Abgrenzung zu seinem Protagonisten manchmal auf Rhythmen und Zeiteinteilungen von Vorgesetzten und Untergebenen eingeht, so begründet er die genuinen Unterschiede zur Zeitordnung seines Protagonisten mit Herkunft oder Positionierung in der Amtshierarchie. Der Vorgesetzte steht immer um 6 Uhr auf, taucht um Punkt neun seine Feder ein und ist zu ungewohnten Zeiten mit Akten beschäftigt. „Aber wer kann denken, daß jemand um halb elf Uhr vormittag mitten in einer wichtigen Arbeit ist" (98), denkt Franz. Während der Chef regelmäßig dienstlich unterwegs ist, verlassen die kleinen Beamten nur nach Dienstschluss das Amtshaus. Auch innerhalb des Gebäudes wechseln sie die Zimmer selten und erledigen ihre subalternen Tätigkeiten beinahe ausschließlich am Schreibtisch. Zwischen 11 und 12 Uhr verrichten alle dieselbe Denkarbeit und fallen sodann demselben Beschleunigungseffekt anheim: Den ganzen Vormittag ist Ruhe, keinem fallt es ein, zu kommen, denkt Franz, aber wie es zwölf Uhr ist, werden alle lebendig. Eine Geschäftigkeit wird vorgetäuscht, als ob man sich nicht losreißen könnte, als ob diese Mittagspause ein Opfer wäre, zu dem man sich widerwillig entschließt. Und dabei weiß Franz, daß nicht nur er an seinem Schreibtisch, sondern auch Beisl an seiner Maschine und Danninger hinter seinen Folianten seit einer Stunde an nichts anderes mehr denken wie an den Augenblick, in dem sie weggehen können (143).
Eine ähnliche Zäsur quer durch die Ränge vereint den Alltag der Beamten gegen Dienstschluss. Jeder Beamte arbeitet vorsorglich der Schnittstelle zwischen Arbeit und Freizeit entgegen. In der letzten halben Stunde wird die Zeitung organisiert, es wird auf- und abgegangen, in die Sonne geblinzelt und geniest, Laden werden auf- und zugestoßen, der Schreibtisch wird geordnet, Vorbereitungen für die Uberstunden werden getroffen. So differieren Tätigkeiten und Bewegungen der Beamten, Regelmäßigkeit und Regelhaftigkeit bleiben jedoch dieselben.
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Wenn Festenbergs Roman auf den ersten Blick die Thesen Foucaults zu belegen scheint, finden sich bei genauerer Betrachtung wesentliche Widersprüche zur Theorie. Beispielsweise widerspricht der Text Foucaults Behauptung, dass „Serien von Serien installiert" und jedem „entsprechend seinem Niveau, seinem Dienstalter, seinem Grad die ihm zukommenden Übungen vorgeschrieben" werden. 237 Schließlich kreieren sich Taxenbach und Kollegen selbst ihre Übungen und, da die meisten davon mit Amtsarbeit wenig zu tun haben, ihr eigenes Reich privater Vorschriften und Strukturen. Außerdem wird „die Möglichkeit einer detaillierten Kontrolle und pünktlichen Intervention (einer differenzierenden, korrigierenden, strafenden, ausschaltenden Intervention) in jedem Moment der Zeit" 238 ziemlich rigoros verspielt. Nirgends im Behördenalltag des kleinen österreichischen Städtchens Erdlingen kann eine „,Dynamik' der steten Entwicklungen" ausgemacht werden, die durch die „neuen Unterwerfungstechniken" die ,„Dynastik' der überragenden Ereignisse" verdrängt habe 239 . „Fortschritt" und ,„evolutive' Geschichtlichkeit" 240 sind in Diagnosen der Zeit, wenn sie auf das Innenleben der Behörden fokussiert sind, nicht denkbar. Es ist etwas anderes, was dort sichtbar wird, etwas Bescheidenes und dennoch enorm Produktives, das im „Teilen der Zeit" und dem Übungskatalog der Beamtenschaft hervorgetrieben wird: Die Beamten garantieren die Statik der bestehenden Rhythmen und Verhältnisse. Sie etablieren Wirklichkeitssinn und mauern mit jedem Tag gegen den Gedanken, dass alles ganz anders, j a dass etwas auch nur ein kleines bisschen anders sein könnte. Ahnliche Verarbeitungen des bürokratischen Zeitmanagements finden sich in verschiedener Beamtenprosa, das sich auch in der Poetik niederschlägt. Allerdings wird dort mehr Rücksicht auf Spannungselemente genommen, sodass mitunter das „ökologische System" zu kippen droht. Das gilt etwa für die 1922 publizierte Kurzgeschichte „Der Bankbeamte" von Hermann Ungar, 241 der auf wenigen Seiten die verlorenen Chancen auf eine 237 Ebd. S. 204f. 238 Ebd. S. 206 239 Ebd. S. 207 240 Ebd. 241 H. Ungar: Der Bankbeamte. In: ders.: Der Bankbeamte und andere vergessene Prosa. Paderborn 1989. S. 22-29
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sinnvolle und herausfordernde Arbeit sowie im Kontrast dazu das nivellierende Beamtendasein beschreibt, wodurch alle Facetten des Lebens negativ affiziert sind. Auch hier okkupiert die Regelhaftigkeit jede Empfindung und Wahrnehmung, sofern es um die Zeitorganisation des Protagonisten geht. Allerdings wirkt sich die Disziplinierung im Unterschied zu Festenbergs Taxenbach auf den Ich-Erzähler katastrophal aus. Ein Grund hierfür liegt wohl darin, dass der Protagonist aus finanziellen Gründen an seinem Studium scheiterte und also bloß aus einer Niederlage heraus Beamter geworden war. Eine andere Ursache wird in seiner Position ausgemacht. Da er einer subalternen Schicht angehört, hat er nur fade Schreibarbeit zu erledigen. Dazu kommt, dass ihn das zeitliche Schema, in das seine Bewegungen und Tätigkeiten mit minütlicher Präzision eingeordnet sind, von der übrigen Gesellschaft absondert und ihn fast aller Träume, jeglicher Alternatiworstellungen und jeder Beziehungsfahigkeit beraubt. Mit Gustav von Festenberg gesprochen werkt hier ein fremder Typus im Reich des Beamten. Er hat gar keine Chance, glücklich zu sein - wie auch Franz Taxenbachs Freund, der Großgrundbesitzer, im Amt fehl am Platz wäre und zugrunde gehen würde. Die Dramatik der Lebenssituation präsentiert Hermann Ungar vor allem durch die Form. Nach der peniblen Beschreibung des seriell ablaufenden Alltags kommt der Erzähler auf verloren gegangene Chancen und tragische Ereignisse zu sprechen, ohne Stil, Tempus oder Modus zu wechseln. Vor allem durch das konsequente Festhalten am Präteritum wird die Regelmäßigkeit und Statik selbst auf Glanzpunkte im Leben oder „Unterbrechungen" der Routine übertragen, wie etwa auf das Begräbnis des Vaters. Damit erscheint das Leben des Beamten als gleichermaßen fremdgefuhrt wie unabänderlich und manipuliert jegliche Rückschau. Weder Zweifel noch Auswege sind denkmöglich. Selbst wenn die Misere in der armen Kindheit wurzelt, im gestörten Verhältnis zum Vater und im plötzlichen Tod eines gewichtigen Förderers: Der spätere Beamte kann nicht einmal in einer Auseinandersetzung oder Klärung seiner Lage alternative Möglichkeiten ausmachen. Die Disziplinierung hat ihn völlig entwurzelt und seiner Persönlichkeit beraubt. In der Bank wurde ich in kurzem ein anderer. Alles zerfloß an meiner Tätigkeit. Regelmäßigkeit, Pünktlichkeit, die unausweichliche Gewißheit des nächsten Tages zerstörten mich. Ich ging auf in Tätigkeiten, die meine Zeit zerlegten (27).
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Der bürokratische Alltag, der in den immergleichen Prozeduren verankert ist, verwandelt das ursprüngliche, strebsame Subjekt in eine gescheiterte Existenz. Sie ist Inbegriffjener Beamtenfiguren, die mit der Ordnung, den Zeit zerlegenden Tätigkeiten, verschmelzen. Durch die Infiltration in das Private, ja Unbewusste werden alle prinzipiellen Scheidungen zwischen Person und Arbeitskraft, Freizeit und Dienstzeit verwischt. Alles, was das Lebendige - Beziehungen, Außerordentliches, Abwechslung - ausmacht, wird suspendiert. Nicht nur die Innen-, sondern auch die Außenwelt wird von allen Umwelteinflüssen gesäubert und im Gegensatz zu Taxenbachs Wahrnehmungsvarianz eindimensional. Bei Ungar verliert alles an Kontur und Geschichte: Passanten, Gebäude oder Gespräche Dritter. Und das, was nur in Variation erfahrbar ist, wie das Wetter, eine Laune oder das Alter, ist in einem negativen Stadium fixiert. Lediglich das Regelhafte, das Immergleiche bleibt wahrnehmbar und kann decodiert werden. Die Straßen, durch die ich morgens ging, boten täglich das gleiche Bild. An den Geschäften wurden die Rolläden hochgezogen. Vor den Türen standen die Commis und warteten auf ihre Chefs. Täglich traf ich die gleichen Menschen, Schulmädchen und Schuljungen, verblühte Kontoristinnen, schlechtgelaunte Männer, die in ihre Büros eilten. Ich schritt unter ihnen, den Menschen meiner Tageszeit, eilig, achtlos und unbeachtet als einer der ihren (22).
Weil die Erinnerungen des Protagonisten verloren, seine Träume auf die Amtsarbeit betreffende Albträume reduziert und seine Persönlichkeit sowie seine Beziehungen zerstört sind, muss er in einer bild- und vorstellungslosen Welt existieren. Konsequent bleibt auch Ungars Sprache auf sachliche Begriffe beschränkt. Den Preis, den der Beamte - mit durchwegs autobiografischen Anspielungen - für den reibungslosen Ablauf, für das Gleichgewicht bezahlt, ist hoch. Arbeitstechnisch gesehen hat er allerdings den Beamten in Festenbergs Roman einiges voraus. Er trifft immer pünktlich ein, arbeitet Minute für Minute an seinen Bögen und hat nicht einen einzigen Tag in seinem langjährigen Beamtenleben gefehlt. Keine zeitstrukturierende Marotte stört die Erledigung von Amtsgeschäften, nie würde Ungars Bankbeamter wie der Schreiber Danninger (ein Amtskollege von Franz in Festenberg 201) die Uhr vorstellen, um rechtens früher aus dem Amt gehen zu können. Insofern treffen Foucaults Diagnosen der modernen Zeitorganisation, die auf Ökonomisierung von Tätigkeiten abzielt,
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weit eher auf die Behörde in der Kurzgeschichte Ungars zu als auf das Amt in Erdlingen und auf die Mehrheit literarischer Verarbeitungen des Themas. Denn entweder behandelt Beamtenprosa zwar sehr strukturierte, jedoch höchst verschwenderische Praktiken oder sie zeigt, wie eifrige, d.h. äußerst untypische Amtmänner einer anderen Ordnung folgen und von der Behörde sabotiert, entlassen oder zumindest bei Aufstiegen übergangen werden. Exemplarisch wird dies anhand klassischer Verwicklungen diverser Amtsleben in Friedrich Kleinwächters Beamtenbestseller der Nachkriegszeit mit dem Titel „Bürokraten"242 vorgeführt, der sich aus der Perspektive der Ministerialbehörden mit dem Niedergang der Monarchie beschäftigt. Gegen dieses drohende Ende versuchen zwei Protagonisten des „heiteren Romans" (Untertitel) anzukämpfen, sie scheitern jedoch schon vor aller Aktivitäten an internalisierter „Beamtenkultur" : Präziseste Anpassung an die behördliche Struktur ist notwendig, um überhaupt im Amt verbleiben zu können. Konstitutiv dafür scheint auch eine ähnliche Zeitstruktur zu sein, wie sie bereits bei Festenberg sichtbar wurde. Abgerichtet auf zeitliche Kategorien wie Dienstschluss und Dienstaltereinheiten, spezialisiert auf Laufbahnarbeiten sowie programmiert auf die notorische Unveränderbarkeit des k.k. Staates entstehen Lebensweisen, die strengstens reglementiert sind. Sichtbar gemacht wird dieser Kosmos in einer Art Entwicklungsroman. Ein junger, aussichtsreicher Beamter voller Ideale, Max von Birkenau, schlägt eine unkonventionelle Richtung ein, indem er sich in die Provinz versetzen lässt, um die längst festgelegte Zukunft der Monarchie - nämlich deren Abgesang - aufzuhalten. Uber Kapitalfehler, wie das Amtsarbeiten nach Dienstschluss und das Hintanhalten üblicher Beziehungsaktivitäten, wird er als Störfaktor identifiziert und fast aus dem Betrieb katapultiert. Nur weil der alte, weise Ministerialrat Roeger in Jugendzeiten ähnliche Fehler begangen hatte, räumt er dem jungen Beamten eine zweite Chance ein. Als Ex-Idealist wird der junge Birkenau schließlich doch noch mit einem guten Gehalt, einem guten Posten und einer guten Partie abgegolten. Mit dem privaten Happy End ist auch die Ordnung im Beamtenapparat wiederhergestellt. Ähnlich entwickelt Alexander Lernet-Holenia den Plot im Roman „Das Finanzamt"243, auch wenn der Autor im Gegensatz zu Kleinwächter kein Beamter 242 F. F. G. Kleinwächter: Bürokraten. Ein heiterer Roman aus dem alten Österreich. Wien 1948 243 A. Lernet-Holenia: Das Finanzamt. Aufzeichnungen eines Geschädigten. Hamburg/Wien 1955
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ist und das Buch dem Anliegen folgt, die Staatsangestellten ganz generell zu verunglimpfen. Dennoch entwirft er Bilder der Amtswelt, die kaum von jener Kleinwächters abweicht. Außerdem ähnelt sich auch die Thematik, insofern die Geschichte rund um einen Andersdenkenden und dessen Schwierigkeiten kreist. Statt jedoch den Staat politisch und übernational retten zu wollen, ist es das Anliegen des Protagonisten Lernet-Holenias, die Staatskasse zu füllen. Charakterisiert wird der Sonderweg des wirtschaftlich denkenden Hofrates, der ihn bereits über Strafversetzung in die Provinz gebracht hat, auch im abweichenden Umgang mit Dienstzeiten und Tätigkeitsabläufen, die einerseits zu Mehrarbeit, andererseits zu mehr Einnahmen der Behörde fuhren. Außerdem setzt der Außenseiter Fantasie und Courage ein, wodurch er eine ganze Menge an Gepflogenheiten und Rhythmen durcheinanderbringt. Seine wiederholten Alleingänge bleiben nicht ungestraft. Auf Veranlassung eines Privatunternehmers wird er schließlich durch die ministeriale Bürokratie gestoppt. Nur dank besserer Einsicht, respektive Anpassung, und mithilfe der regen Machenschaften seiner weiblichen Familienmitglieder entgeht er der Einweisung in eine Anstalt. So werden in allen Texten Verstöße gegen die Zeitordnung konsequent geahndet und mit aller Härte sanktioniert: durch soziale Achtung, Versetzungen, Störungen in der Laufbahn, Psychiatrierung, Titelentzug. Allerdings ist zu bedenken, dass die Zeitordnung, die perfektionistische Optimierung der Zeit, im behördlichen Alltag nur dann zwingend ist, wenn sie entweder das hierarchische Gefüge oder das staatspolitische Wesen betrifft. Nur was den Status quo in Amt und Staat betrifft, verträgt weder Zufall, Kritik noch Fantasie. So hängen die Strafmaßnahmen bei Unpünktlichkeit, Unregelmäßigkeiten und Überstunden davon ab, ob es um private Abenteuer und Marotten oder um Modifikationen im Apparat geht. Wenn auf erstere mit viel Verständnis reagiert wird, ja sie sogar als notwendige Bestandteile des Beamtenlebens ausgewiesen werden und sozusagen einen Uberlebensmechanismus darstellen, werden zweitere samt Protagonisten bei kleinsten Anzeichen eliminiert. Bis über den Tod hinaus hält in Paul Kornfelds Roman „Blanche oder das Atelier im Garten" 244 die Kränkung der Beamtenwelt an, die ihr ein hoher Beamter zugefügt hatte. Mit seinen Nachlässigkeiten und seinem Wahnsinn, sei-
244 P. Kornfeld: Blanche oder Das Atelier im Garten. München 2000. S. 60
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ner „entsetzenerregenden Ehrlichkeit, in abgründiger Natürlichkeit"245 hatte er nämlich auf das System selbst abgezielt. So wird er auch posthum, als physische Ursachen für seine Ausfalle geltend gemacht werden, nicht rehabilitiert, und die Gattin bleibt ohne Witwenpension zurück. Hätte er aber bei ministeriellen Sitzungen Tinte getrunken oder wäre er in den Amtsräumen als Schmetterlingfänger unterwegs gewesen, dann hätte er im Nachhinein garantiert seinen Titel zurückbekommen und die Witwe würde über eine großzügige Pension verfugen.246 Einem ähnlichen Verständnis folgend kann sich ein alter Minsterialbeamter in einem Kurztext Anselm Eders247 honoriger Erfolge erfreuen, als er seine Veränderungskonzepte als Wahnideen abtut, und darf daraufhin sogar die psychiatrische Klinik verlassen (24). Die Verstöße gegen die temporale Disziplin hängen untrennbar mit Widerständen gegen räumliche Ordnungen zusammen. In sie sind Denken und Handeln der Beamten mindestens genauso differenziert einsortiert wie in zeitliche Sequenzen. Die Strukturen sind umso intensiver in unterschiedlicher Beamtenprosa verarbeitet, als über die örtlichen vor allem auch soziale und symbolische Geografien erstellt werden. Schon allein deshalb sind die Arbeitskraftleistungen der staatlichen Angestellten ungeheuer produktiv. In den literarischen Texten sind es die Realisierungen dieser Teilungen, die viele intellektuelle und handwerkliche Ressourcen der Beamtenschaft aufbrauchen. Im Folgenden soll diese Organisationsarbeit sowohl in ihrer ökonomischen Zielgerichtetheit als auch in der bereits untersuchten Ökologisierung von Lebensweisen analysiert werden.
2 Die Geografie der Bürokraten: verorten und klassifizieren
Foucaults „Herstellung einer vollständig nutzbaren Zeit"248 kann im Beamtenalltag nur in einem anderen Bereich als dem ökonomischen Früchte tragen bzw. funktional sein: als Ordnung, die Erniedrigung, das Immergleiche fröhlich zu 245 Ebd. S. 60 246 Ebd. S. 59 247 A. Eder: Caltha palustris: ein österreichisches Entdeckermärchen. In: ders.: Osterreichische Amts- und Heimatmärchen. Wien/Klosterneuburg 1998. S. 13-24 248 M. Foucault. Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 193
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ertragen. Genauso indirekt nutzt das zeitlich wohlsortierte Leben demjenigen, der dafiir die Gehälter auszahlt: dem Staat. Als eigentümliches Personal mit undurchschaubaren Praktiken verschafft und garantiert es der Staatsmacht eine Sphäre, in die die Behördengänger nicht einzudringen vermögen. Das Eigentümliche ihrer Disziplinierung kann vielmehr als gut angelegtes Staatseigentum angesehen werden, an das die Bürger nicht herankommen. Dies gilt umso mehr, als die behördliche „Qualität der Zeitnutzung" nicht auf dem foucaultschen Prototypen des abgerichteten Menschen beruht, der einer „ununterbrochenen Kontrolle", dem „Druck des Aufsehers", ausgesetzt ist und der „aller Quellen von Störung und Zerstreuung" beraubt ist. Im Gegenteil: Penibel installierte Rituale garantieren vorhersehbare Momente von Störungen und Zerstreuungen, kontroll- und druckfreie Zeiteinheiten, wodurch zwar der Körper umso mehr mit Zeit durchdrungen wird, sich aber zugleich „aller minutiösen Kontrollen der Macht" zu entziehen vermag.249 Zugleich kann man sich schwerlich diszipliniertere Menschen vorstellen als die in der Literatur konstruierten Beamtenfiguren. Als Paradebeispiele höchst „gelehriger Körper" sind sie nicht nur von Zeitsequenzen und Rhythmen durchdrungen, sondern realisieren ebenso exakt die „Kunst der Verteilungen": in Klausur, Parzellierungen, als inkorporierte Funktionsstellen und Rangträger.250 Diese Geografie beamteten Lebens bestimmt nicht nur die Unterteilungen im Amt, sondern ebenso die Privatwohnung, immergleiche Wege zwischen diesen Eckpunkten sowie regelmäßige Treffen in immer denselben Häusern mit derselben Klientel. Kunstvoll verteilen sich die Staatsdiener zudem in einem hierarchischen Raum, in dem die Bewegungen vorgegeben sind und über Veränderungen von Funktion und Rang auch der Wechsel der Örtlichkeit vorhersehbar ist. Allerdings mangelt es auch hier an herkömmlichen Profiten für den Zuchtmeister, den Staat und die Nation, weil die „Effizienz der Bewegungen", die „Steigerung der Kräfte des Körpers", die „Nutzbarmachung einer Gesamtheit verschiedener Elemente" auf etwas ganz anderes aus ist als in Militär und Gefängnis, Schule und Internat. Die „Mikrophysik der Macht"251, die in den Beamtentexten sehr deutlich wird, scheint in ihren zentralen Institutionen wie
249 Vgl. ebd. S. 193-195 250 Ebd. S. 173-191 251 Ebd. S. 178
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Ministerien und Verwaltungsämtern sowie in den Beamtenwohnungen anderen Gesetzen zu gehorchen als in ihren peripheren, wo sich vor allem Bürger aufhalten. Auf genuine Weise nützt sie der Macht dennoch: Die Trennung zwischen Staatspersonal und Zivilbevölkerung kann umso nachhaltiger garantiert werden. Einige Beispiele aus den Verteilungskünsten der Beamtenfiguren entlang den foucaultschen Ordnungskriterien sollen die Logik der Macht im Reich der Bürokratie veranschaulichen.
A) DIE VIELFALT DER „KLAUSUR" ALS KLÖSTERLICHE ABSCHOTTUNG 252
„Die bauliche Abschließung eines Ortes von allen anderen", in diesem Fall des Amtes, gehört zu den wichtigsten Neuerungen der Bürokratie. Dort, wo keine Eichmeister nach Zlotogrod oder keine Finanzbeamte auf griechische Inseln verschickt werden, wie bei Joseph Roth oder bei Herzmanovsky-Orlando, rotieren die Amtsgeschäfte zum allergrößten Teil in Gebäuden fern jedes öffentlichen Blicks. Bis auf den Parteienverkehr, bei dem subalterne Beamte in klar abgetrennten und zugewiesenen Räumlichkeiten Ansuchen entgegennehmen, bleiben diese Orte den gewöhnlichen Behördengängern verschlossen. Die Außensicht oder Froschperspektive, die der Bevölkerung dadurch aufgezwungen wird, verstärkt das ohnehin virulente Gefühl, es mit unnahbaren Instanzen zu tun zu haben, egal, ob das Gebäude unschmuck in Stadtrandbezirken oder imperial im Zentrum der Metropole liegt: Dort, wo die Entscheidungen fallen bzw. die entscheidende Unterschrift gegeben wird, dort kommt der Normalsterbliche nicht hin. Umgekehrt interessiert es den Staatsdiener kaum, sich mit der Kluft oder der Schwelle auseinanderzusetzen, die die Beamtenschaft von den Behördengängern trennt. In den fiktiven Beamtenbiografien werden die Amtmänner oft von der Straße zur Treppe oder gleich zum Schreibtisch geführt, als ob die Fassade für sie nicht existieren würde. Nur, wenn sich das Gebäude durch besondere Hässlichkeit auszeichnet oder es sich um grandiose Architektur handelt, wird einer Beschreibung ein kleiner Platz eingeräumt. Gustav von Festenberg etwa nennt das ländliche Amtsgebäude aufgeblasen, das alle Häuser überrage und das 252 Ebd. S. 181-183
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den Gesamteindruck des wohlgeformten Platzes [überragt]. Daß es sogar höher ist als das Herrenhaus, hat ihm die Ungnade des verstorbenen Grafen zugezogen. Wie in einem Melodram alle schwarzen Eigenschaften sich auf den Bösewicht und alle lichten sich auf den Helden vereinen, so vereint dieses häßliche Haus alle Amter des Ortes und Bezirkes in sich (42).
Mit diesem Vergleich zieht der Autor zwischen der modernen bürgerlichen Bürokratie und der patrimonialen Verwaltung eine scharfe Grenze und trennt auch werthierarchisch klar zwischen den zwei Herrschaftssystemen. Mit der vielleicht irrtümlich gewählten Formulierung, dass das Amtshaus nicht nur höher sei als die anderen Häuser, sondern sogar den „Gesamteindruck" überrage, wird auch die symbolische Dominanz ausgedrückt. Die Zeiten der adeligen Hoheiten sind mit deren Geschmack endgültig vorbei: Die moderne Zeit mit ihren Zentralisierungstendenzen vereinigt prahlerisch alles Unschöne in sich selbst. Wie anders macht sich demgegenüber das Wiener Finanzministerium aus, sowohl in der Beschreibung Kleinwächters als auch in jener von Lernet-Holenia, wo dem realistischen, dokumentarischen Duktus gemäß auch historische Daten zum Ansitz einfließen. Der „heitere Roman" des Beamtenbestsellerautors wird gar mit der Beschreibung dieses Ortes eingeleitet, indem der Erzähler gleich zu Beginn von der Kärntnerstraße, „der Hauptverkehrsader der Inneren Stadt Wiens", „in die beschauliche Stille der Vergangenheit" einbiegt. Hier steht der Palast, den Prinz Eugen von Savoyen sich vom größten Barockbaumeister, Johann Bernhard Fischer von Erlach, hatte erbauen lassen. Seit 1754 im Besitz des Staates, diente er zur Unterbringung verschiedener Behörden, bis er schließlich dauernder Sitz des Finanzministeriums wurde (5).
Bei Lernet-Holenia dient die Beschreibung des Gebäudes zur zweiseitigen Abgrenzung. Zum einen veranschaulicht sie den harschen Kontrast zum Provinzamt : Der notorische Steuerhinterzieher bemerkt lakonisch, dass er das ländliche Amtslokal schon dadurch als solches identifiziert hätte, weil ,„es so häßlich ist'" (59). Zum anderen bringt der Autor den Gegensatz zwischen imperialem Bauwerk und den ärmlichen Wohnungen der dort Beschäftigten zur Sprache (vgl. 103 f.). Weil bei Lernet-Holenia keine korrupten, auf finanziellen Eigenvorteil bedachten Staatsdiener vorkommen, verschärft sich der Kontrast zwischen
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gesellschaftlicher Position und finanzieller Situation. Dass dieses Ungleichgewicht äußerst unangenehme Menschen hervorbringt, hat der Autor mit einem ganzen Roman darzulegen versucht. Ahnlich geht es auch in der Behörde des Teufels zu, die im „Amtsmärchen" von Anselm Eder 253 in einem ganz unscheinbaren Gebäude untergebracht ist. Schon zu Lebzeiten des Amtsrats Haberdipfls war es im Zentrum der Stadt gestanden, er hatte es aber nie wahrgenommen. „Es war unauffällig, aber sehr solide gebaut" (58). Umso wirksamer ist der TarnefFekt. Im Gegensatz zum Ministerium geht es dort nämlich äußerst technokratisch zu. Die Innenarchitektur ist eine perfekte Realisierung faschistoider Machttechniken, Räumlichkeiten und Personal sind auf klinische Sauberkeit abgestellt. Ironischerweise fuhrt die Putzpedanterie schließlich dazu, dass in der Betonwand des Hochsicherheitsgebäudes ein Loch klafft, die Flucht aus der geschlossenen Anstalt ermöglicht wird und der tote Beamte samt neuer Geliebter „heim ins Ministerium" wandern kann (61fF.). In diesen wenigen Stellen zeigt sich ein breites Spektrum von Klausuren: Ämter, die hässlich und auffallig sind, Ämter die unscheinbar, aber umso gefährlicher sind; Ämter, die die Vergangenheit heraufbeschwören und konservieren, sowie Ämter, die ihrer armseligen Bediensteten spotten. So bunt die Palette der Kriterien auch anmutet, immer macht die Außenhaut des behördlichen Gebäudes eine scharfe Trennlinie aus und produziert diesseitige und jenseitige Welten: Beschaulichkeit contra Rationalität, Gegenwart contra Vergangenheit, Chaos contra Ordnung. Hinter der Fassade gelten andere Regeln, überleben alte Jahrhunderte, laborieren fremde Wesen. Für die Beamten, selbst wenn sie sich nur sechs Stunden pro Tag im Amt aufhalten, ist die Behörde Hauptort des Lebens, der sie zu Typen ihres Standes abrichtet. Dass die Figuren ihr Amtsdenken auch dann nicht abschütteln, wenn sie zu Hause sind, lässt sich anhand zahlreicher Stellen der Literatur dokumentieren. Denn zur Klausur „Amtsgebäude" gibt es allerorten die Klausur des Privatzimmers, der Privatwohnung, die den Amtsraum verzerrt wiedergibt. „Die Stätte der Disziplinar-Montonie wird behütet", schreibt Michel Foucault, und man kann diese Stätte durchwegs in den Freizeiträumen der Beamten wiederentdecken.
253 A. Eder: Haberdipfls Heimkehr: ein ausfuhrliches österreichisches Amtsmärchen. In: ders.: Osterreichische Amts- und Heimatmärchen. A.a.O. S. 38-63
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Dass die private und berufliche Ordnung der Amtsmenschen so viele strukturelle Analogien aufweist, hat vielleicht auch mit dem Junggesellenleben der Staatsbediensteten zu tun, das ihnen in der Literatur gerne und wortreich zugeschrieben wird: vom voyeuristischen Staatsbediensteten wie dem pensionierten Amtsrat Zihal Doderers254 bis hin zu Kornfelds unglücklich verliebtem Bibliotheksbeamten Müller-Erfurt255, vom kleinen Kanzleibeamten Malej in Roseis Beamtenroman256 zum Hofrat Dr. Winkler in Schnitzlers „Professor Bernhardi"257, von Gogols armem, fleißigem Titularrat Akakij Akakijewitsch258 bis hin zum skrupellosen ehemaligen Zolleinnehmer, dem Protagonisten der „Toten Seelen" Pawel Iwanowitsch Tschitschikow259. Auch in den hier ausgewählten Texten wimmelt es von unverheirateten Beamten, deren Diszipliniertheit in den Privaträumen groteske Züge annimmt. Hermann Ungars Ich-Figur etwa lebt ohne Frau als Untermieter einer Witwe in einem kleinen Zimmer, in dem er die peinlichste und gewohnte Ordnung [verlangte]. Die Zeitung mußte täglich genau auf demselben Fleck am Tisch liegen, und zwar parallel zu den Tischkanten. Meine Pedanterie ging so weit, daß es mich erregte, wenn die Gardinenschnüre nicht gerade ausgerichtet und in ihrer Verlängerung auf dem Fensterbrett nicht im rechten Winkel abgebogen lagen (27f.).
Einen anderen, wenngleich ebenso kompromisslosen Ordnungssinn legt Franz Taxenbach an den Tag, wenn es um sein Zimmer daheim geht. Zwar lebt er mit Mutter und Dienstpersonal in einem geräumigen Haus, sein eigentliches Reich zu Hause beschränkt sich aber auf einen kleinen Raum mit Bett, Sofa, Schreibtisch und Toilettecke. Da er keine, nicht die kleinsten Veränderungen erträgt, haben sich dort allerhand Dinge angesammelt, die für Außenstehende
254 H. v. Doderer: Die erleuchteten Fenster, oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal. Roman. München 1966 255 P. Kornfeld: Blanche oder das Atelier im Garten. A.a.O. 256 P. Rosei: Bei schwebendem Verfahren. Stuttgart 1993 257 A. Schnitzler: Professor Bernhardi. In: ders.: Professor Bernhardi und andere Dramen (= Das dramatische Werk, Bd. 6). Frankfurt 1984. S. 127-253 258 N. Gogol: Der Mantel. In: ders.: Der Mantel. Die Nase. Erzählungen. Stuttgart 1997. S. 3-43 259 Ders.: Die toten Seelen. Roman. München 1998
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chaotisch durcheinanderliegen. Tatsächlich hat aber alles seinen exakten Ort - selbst den Morgenmantel lässt der Beamte immer „auf eine ganz bestimmte Stelle des Bodens" fallen (30f.). Schon daran kann man erkennen, dass die liebevolle Sorgfalt, die Taxenbach fiir seine Ordnungsvorstellungen aufwendet, aus seinem Zimmer einen Ort des Rückzugs und der Geborgenheit macht. Dem Kanzleibeamten Haberdipfel hingegen gilt das Untermietszimmer nicht als Zuhause. Als er von den Toten aufersteht, fuhrt ihn sein erster Weg ins Amt. Der Erzähler erklärt: „Da er Zeit seines Lebens unverheiratet gewesen war, erschien ihm das Büro als der einzige Aufenthaltsort, der sich logischerweise jetzt anbot"260 (43). Die hier gelieferte Begründung ist zweifelsohne interessant, wenn man bedenkt, dass die Erzählungen Anselm Eders am Ende des 20. Jahrhunderts publiziert wurden, zu einer Zeit also, da das Singledasein längst zur freiwillig gewählten und verbreiteten Lebensform geworden ist. Traut man einem ledigen Beamten etwa keine heimelige, autonome Privatsphäre zu? Andererseits kann mit Eders „österreichischen Amtsmärchen" vor privater Selbtständigkeit nur gewarnt werden, weil die Beamten abseits der Behörde stets in grobe Schwierigkeiten geraten. In seinen Texten finden sich Amtsmenschen, die auf der romantischen Suche nach einer Dotterblume oder der Liebe amtsuntauglich werden und in der psychiatrischen Anstalt261 oder im Gefängnis landen: „Wegen der Unmittelbarkeit" mit einer Gabel tief, aber „bedächtig" in den rosa Oberschenkel einer Restaurantbesucherin hineinzustechen, bringt auch kein Glück und beendet prompt die erfolgreiche Laufbahn eines weiteren Protagonisten 262 (31). Nur jener brave, durch und durch organisierte Beamte Haberdipfl, der es bis zum Lebensende nicht schafft, sich an Schlamperei und Ineffizienz anzupassen, erhascht, zumindest als auferstandener Toter, etwas Liebesglück, ohne dabei sein Amt missen zu müssen. Kanzleirat und Sekretärin flüchten und richten es sich bequem „in einem Aktenschrank mit der Aufschrift .ERLEDIGT' [ein]. Es roch nach Kaffee und nach altem Papier, und sie waren einig: Wer tot ist, hat mehr vom Leben" 263 (62f.). 260 A. Eder: Haberdipfls Heimkehr: ein ausfuhrliches österreichisches Amtsmärchen. A.a.O. S. 24 261 Ders.: Caltha palustris: ein österreichisches Entdeckermärchen. A.a.O. 262 Ders.: Wegen der Unmittelbarkeit: eine Geschichte von späterer Liebe. In: ders.: Caltha palustris: ein österreichisches Entdeckermärchen. A.a.O. S. 25-31 263 Ders.: Haberdipfls Heimkehr. A.a.O.
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Damit zeigen Eders Geschichten jene höllischen Konsequenzen, die den unpässlichen, unangepassten Beamten blühen, während der klassische Amtsprotagonist in der östereichischen Literatur um diese Auswirkungen weiß und gerade deshalb alles tut, um nicht aus der Rolle zu fallen. Wie ein Mönch wandelt er zwischen Amt und Privatzimmer hin und her, ohne die vielfältigen Beziehungen und Versuchungen in sein Leben integrieren zu können. Abgeschottet in der einen und anderen Klausur fristet er ein Leben, das dem Höheren gewidmet ist: dem Kaiser, dem Staat, den Akten oder der Allgemeinheit. Damit die Mitmenschen zu Passanten degradierbar sind und als Konstanten im Fortlauf des Immergleichen wahrgenommen werden können, ist härteste Arbeit an Ordnung und Statik vonnöten. Nicht wesentlich anders ergeht es den wenigen verheirateten Beamtenfiguren. Bar jeglicher Zärtlichkeit, Erotik oder Entwicklungsmöglichkeit scheinen die Beamtenpärchen genauso pedantisch wie der Beamtensingle bloß den immergleichen Alltag zu reproduzieren. Die einzige Beziehungsarbeit, die allerdings umso intensiver angegangen wird, zielt auf die Laufbahnen des Staatsdieners und seiner Kinder ab und schafft klar begrenzte Freiräume. Die vielfaltigen Bewegungen im komplexen Gefuge von Rangordnungen, die daraus resultieren, werden weiter unten abgehandelt. Dass es aber an dieser symbolischen Mobilität liegt, die das klösterliche Leben in den abgeschlossenen Räumen derart konsequent fiihrbar, ja erträglich macht, sei hier vorweg erwähnt. Jedenfalls garantiert bürokratische Ordnung Macht und Einfluss umso beständiger, je säuberlicher die Staatsdiener von den anderen Untertanen geschieden sind. Am besten ist, wenn die Beamten wie eine unnahbare Masse den Bürgern gegenüberstehen. Dasselbe gilt für die Amtshäuser. Niemals betretene Gebäude können eine geheimnisvolle Aura ausstrahlen, die eine ideale Projektionsfläche für die Ängste der Bürger darstellen kann. Wie Fremdkörper bilden diese über das Land verstreuten Gebäude oder aufgestockten Etagen nackte Zeichen von Macht, die die Bevölkerung an ihr Untertanendasein mahnen. Neben diesen Profiten nach außen lassen sich auch behördenintern machttechnische Vorteile nachweisen. Die an ein eingezäuntes Dasein gewöhnten Beamten sind vor Infiltrationen und Gewissensbissen geschützt und damit eher bedingungsloser Sachlichkeit und Gesetztestreue fähig.
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B) DIE D O M Ä N E DER „ P A R Z E L L E " MIT ÜBERTRITTSSUCH"P 6 4
Wenn die räumliche Abschottung der Amter vor allem Distanz und Hoheitsgefalle zwischen Beamtenschaft und Zivilbevölkerung herstellt, so betrifft das „Prinzip der elementaren Lokalisierung", mit dem der Raum „noch viel feiner und geschmeidiger" „bearbeitet" wird, die Bürger nur auf ihren sporadischen Amtswegen. Die Staatsdiener hingegen reproduzieren diese Ordnung immerhin an jedem Wochentag über mehrer Stunden. Wo, wenn nicht in Amtern, wird die „Parzellierung" quer durch alle Hierarchien bis ins Detail durchgeführt, sind Räume und Plätze für einzelne Personen so genau festgelegt ? „Jedem Individuum seinen Platz und auf jeden Platz ein Individuum", schreibt Foucault über diese Disziplinarmethode, mit der die Personen präzise im Raum verteilt werden. Und dennoch scheint auch diese Maßnahme in der österreichischen Behörde andere Auswirkungen zu haben als jene, die der französische Philosoph ihr zuschreibt. Denn wird damit in den Amtern tatsächlich eine „Antidesertions-, Antivagabondage-, Antiagglomerationstaktik" realisiert ? Handelt es sich in den Verwaltungsgebäuden in der Tat um „eine Prozedur zur Erkennung, zur Meisterung und zur Nutzbarmachung", wie es in den Kasernen, Fabriken und Schulen der Fall sein mag? Es erscheint mir sinnvoll, die fiktiven Beamtenbiografien anhand dieser Fragen zu lesen, um festzustellen, was durch die feinsinnige Verteilung der Bediensteten in den Amtern produktiv wird, welcher Art die dadurch geleisteten Arbeiten sein können, was für Machtprofite dabei herausschauen und wer sie sich nutzbar zu machen vermag. Beamte als literarische Figuren machen sich ihre Parzelle zur Heimat, zumindest zu einem heimeligen Zweitwohnsitz. In ihrem Zimmer bzw. an ihrem Schreibtisch richten sie es sich liebevoll und zumeist äußerst pedantisch ein und leisten dafür eine ganze Menge händische Arbeit. Als Rückzugshöhle angeeignet, können von dort aus aufregende Expeditionen gestartet werden. Unmissverständlich bezeichnet Gustav von Festenberg das Amtszimmer seines Helden als „Hafen", womit er ausgerechnet ein Bild einsetzt, das in Zusammenhang mit der Ehe verwendet wird. Und dennoch - oder gerade deswegen? - kann der Amtmann es nicht mit „seinem lieben Zimmer zu Hause" verglei2 6 4 M . F o u c a u l t : Ü b e r w a c h e n u n d Strafen. A . a . O . S. 183f
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Abb. 18: Ja, darin liegt eigentlich das ganze Geheimnis der Amtsführung, daß man die Leute beruhigt. [...] Franz hält es sich selbst zugute, daß er eine Art hat, die die Menschen mit den unausbleiblichen Härten des Amtslaufes versöhnt.
Gustav von Festenberg c h e n . Z u viele D i n g e l a g e r n i m B ü r o , die sich „ n i c h t v e r w a n d e l n " lassen u n d w i e „Steine u m h e r [liegen]": dieser übergroße Schreibtisch mit den schwarzen und roten Gesetzesbüchern, dieser braune weiche Schrank und die kahle Garnitur aus gebogenem Holz [...]. Sie werden immer tote Stellen bleiben ohne Resonanz, gelbe Flecken in dem Auge des Raumes. Aber Franz hat sich ihnen gegenüber geholfen, ähnlich wie die Bienen sich helfen gegenüber einem Fremdkörper in ihrem Stock. Sie überkleiden ihn ganz mit Wachs, so daß er ein Teil ihres Reiches, Wesen von ihrem Wesen wird (58). D i e s e E i n v e r l e i b u n g d e r Parzelle w i r d keinesfalls als b e l a n g l o s e s H o b b y a n g e s e h e n o d e r kultisch motiviert. D i e H a n d l u n g folgt j e n e n Strategien, die d a s Ziel
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verfolgen, dem „ruhigen Dasein" gewachsen zu sein, und sie kann durchwegs als existentieller Akt angesehen werden. Schließlich geraten selbst kleine Wege durch das Amt, auf denen der Abenteurer auf „zwei, drei Menschen" trifft, zur „reinen Odyssee" (57). Demgegenüber bilden die vier selbstausgewählten Bilder an der Wand überlebensnotwendige Bestandteile, die dem Beamten helfen, „sich selbst aus den wesensfremden Verbindungen zu lösen, sich frei zu bekommen und zurückzuziehen auf das eigene Innere, mit einem Wort, sich zu konsolidieren" (59). Die Dramatik der Situation, der viele Beamte ausgesetzt sind, spitzt sich dennoch zu, weil die Amtszellen weder vor Vagabondage noch vor Agglomeration schützen. Im Gegenteil: Die Bewegung im Amt ist Teil der Arbeit und eine ungeheure Herausforderung für die Staatsdiener. Ständig geht es darum, die Räume der anderen zu durchschreiten, Akten zu transportieren oder Kollegen und Klienten in Empfang zu nehmen. Jeder kennt das Problem der Parteien, ausgerechnet den zuständigen Beamten in seinem Raum nicht anzutreffen. Aber um Machtstrategien, die gegenüber den Untertanen eingesetzt werden, geht es keineswegs: Nicht um den Klienten auszustellen, begeben sich die Beamten auf Wanderschaft durch die Ämter, sondern aus zwanghaften Zeitvertreibungsbedürfnissen und als Folge oder Realisierung des Funktions- und Ranggefuges. Die Fortbewegungskunst wird insbesondere in Friedrich Kleinwächters „Bürokraten"-Roman in vielen Facetten nachvollziehbar gemacht, der zur Hälfte im mondänen Büro des Ministerialrats und Vorstands des Währungsdepartements Dr. Hans von Roeger spielt. Dort wird der hohe Beamte immer gerade dann von der Arbeit abgehalten, wenn er sich den Akten zuwendet: weil die Amtskollegen wandern, weil er selbst oder weil seine Gedanken wandern. Die erste Unterbrechung erfolgt per Telefon. Der Anrufer, Ministerialrat Grimmendorf, äußert seine Verwunderung über ein Ansuchen des jungen Beamten Birkenau. Auch Dr. Roeger versteht es nicht und muss nach dem Anruf „kopfschüttelnd einigemal im Zimmer auf- und abgehen" (7). Sodann beordert er über den Amtsdiener Wenzel Zapletal den jungen Ministerialkonzipisten Dr. Max von Birkenau zu sich, um herauszufinden, warum dieser von Wien nach Kärnten versetzt werden will. Bis dieser eintrifft, gelingt es dem Minsterialrat nicht, seine Aktenlektüre fortzusetzen, weil er die Gedanken nicht darauf konzentrieren kann.
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Als Birkenau wieder weg ist, ergeht es dem „Aktenarbeiter" auch nicht besser. Zuerst wird Roeger dadurch abgelenkt, dass er sich einige wichtige Gedanken über die Gedanken selbst macht, die Umständlichkeit reflektiert, mit der „die Leute manche Sachen behandeln" und „wie sie aus Leben Papier, viel Papier zu machen verstehen" (22). Sodann langt der nächste „Vagabund" aus dem Ministerium ein, der Finanzkommissär der Finanzlandesdirektion Linz, Dr. Erich Runzel, um höchstpersönlich Akten vorbeizubringen, Arbeitseifer vorzutäuschen sowie nebenbei einen statusbewussten Tausch seines Schreibtischs zu organisieren (25). Noch während dieses Besuchs gibt es die nächste Unterbrechung - vom „Vorzimmerpintsch" des Ministers per Telefon worauf Roeger prompt den nachgefragten Akt überfliegt, unterschreibt und dem anwesenden Runzel mitgibt. Dieser hatte sich bereit erklärt, „eigenhändig die Departements ab [zu] laufen", und wird also noch eine Weile auf Wanderschaft sein. Dabei darf man die verquere Formulierung des „eigenhändig Abiaufens" durchwegs als Schlüsselbegriff für das Amts leben verstehen, insofern selbst Fußmärsche im Handarbeitskatalog verortet werden. Nachdem sich der Besucher wieder auf den Weg gemacht hat, muss Dr. Roeger ein weiteres Mal auf- und abgehen, wird aber auch diesmal in seinen Gedanken unterbrochen. Der Ministerialrat Pretthauser, Vorstand des Personaldepartements, ist zu Roeger unterwegs, um ihn als Komplizen flir einen unlauteren Postenschacher zu gewinnen. Und zuletzt kommt noch jemand in privater Angelegenheit im Büro von Dr. Roeger vorbei. Es ist Lilly Freiin von Mönningen, die einzige Tochter des Sektionschefs im k.k. Ministerium des kaiserlichen und königlichen Hauses des Äußeren. Da sie ein „seltener Besuch" ist, können „alle Akten der Welt liegen bleiben", schreibt der Erzähler (43) ganz so, als ob sie schon in Bewegung geraten wären. Nach einem letzten Telefonat aus dem Büro des Ministers wegen der bereits nachgefragten dringlichen Angelegenheit beugt sich Roeger endlich „über den Akt, in dessen Lektüre er heute so oft unterbrochen wurde" (66). Auch hier formuliert Kleinwächter euphemistisch: Roeger konnte nicht unterbrochen werden, da er gar nicht mit der Arbeit angefangen hatte. Im 3. Kapitel, vier Wochen später, kehrt der Schauplatz des Erzählens wieder in Roegers Büro zurück, wo der Beamte wieder vor einem „Stoß dringen-
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der Akten" sitzt. Diesmal aber gibt er nach dem langen Besuch des Birkenau, bei dem es nicht zuletzt um dessen Rückversetzung nach Wien geht, dezidiert Anweisung dafür, nicht mehr gestört zu werden (195). Nur so kann sich der Ministerialrat vor „Vagabunden" und Zusammenballungen schützen, vor den Heimsuchungen verschiedener Ausformungen von Odysseus. Damit kann auch bei Kleinwächter die Parzellierung der Ämter nicht als Installation „nützlicher Kommunikationskanäle" angesehen werden, durch die andere, nicht der Macht dienliche, unterbrochen würden. Zutreffen kann die Zuschreibung nur, sofern man der intensiven Beziehungsarbeit selbst einen Nutzen zuspricht, durch den die vielen Lücken und Pausen der Aktenlektüre aufgewogen werden könnten. Ganz im Argen liegt es in den fiktionalen Ämtern jedenfalls mit Foucaults Kontrollmechanismus, der durch die Lokalisierung gewährleistet werde. Schließlich geht es in der Literatur keinesfalls darum, „Anwesenheiten und Abwesenheiten festzusetzen und festzulegen", „das unkontrollierte Verschwinden von Individuen" oder „ihr diffuses Herumschweifen", „ihre unnütze und gefahrliche Anhäufung" zu unterbinden. Gegenteiliges ist schon eher der Fall. Die Frage ist hier nun, warum sich die Behörde in der österreichischen Literatur ganz anders organisiert. Welchen Zweck hat es, dass die Beamten herumschweifen und sich zu Grüppchen häufen ? Um alternative Strukturen zu implementieren und den Staatsdienst zu sabotieren oder die Macht zu unterlaufen ? Nein. Es sieht ganz danach aus, dass sie damit genau jene Ordnungen reproduzieren, für die sie angestellt sind: den immer gleichen Staat seinen immer gleichen Weg gehen zu lassen, das Gewicht der Zentrale zu stärken und die Provinzen zu schwächen, Rangordnungen als unumstößlich zu etablieren und sie zu naturalisieren sowie nicht zuletzt sich als Beamtenschaft grundlegend von der nicht-beamteten Welt abzusondern. Zugleich trifft Foucaults Vergleich des Disziplinarraums mit der Zelle der Klöster sehr wohl auf die Ämter zu, weil da wie dort die Einsamkeit von Körper und Seele geradezu zelebriert wird. Dazu kommt, dass die sparsame Beweglichkeit eine Schwächung des Körpers bewirkt, der weder Energien für Leidenschaften noch für Selbstverteidigung freizusetzen imstande ist. Ungars Beamten schmerzen die Füße noch Tage nach der Fahrt im überfüllten Zug, weil sie „solche Anstrengung nicht gewohnt" waren (28). Auch Franz Taxenbach verbringt sein Leben ohne jede sportliche Betätigung und muss sich nach jedem Gang
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durchs kleine Provinzamt sitzend ausruhen. Und wenn der Herr Hofrat und Amtsdirektor in Eders Alpendrama seit Jahren auf einer Alm Urlaub macht, so zeugen noch seine „müden, aber regelmäßigen Schritte [n] über die Stiegen hinauf in den Oberstock"265 von der „Taxinomie"266 im Amt (32f.). Diese Taxen, „durch äußere Reize ausgelöste Bewegungsreaktion von Organismen"267, folgen zwei noch subtileren Raumordnungen, in der sich die Personen je nach Funktion und Rang positionieren. Nur über diese beiden Parameter und die dabei vorhandene Platzierungslust ist die Topografie der Amtsangestellten nachzuvollziehen, die nach außen hin bloß skurril und willkürlich anmutet.
C) HEIMATGEFÜHLE IN „FUNKTIONSSTELLUNGEN" 268
Die Räume in den Ämtern sind von Amtswegen durchschnitten und durchkreuzt, die nicht für Personen, sondern für verschiedene Akten angelegt sind. Sie sind es, die die wahren Protagonisten des Amtsalltags darstellen und denen die Staatsdiener untergeordnet sind. Nach genau festgelegten Regeln werden sie diktiert, geschrieben, abgeschrieben, herumgetragen oder verschickt. Wenn es in einer Fabrik die Ware ist, um deren Produktionsschritte die Arbeiterschaft räumlich angeordnet ist, so sind es in der Verwaltung die Aktenläufe, die die Plätze der Beamten festlegen. Allerdings weicht die „Disziplin" in der behördlichen Produktion wesentlich von der kapitalorientierten Produktion ab: Zum einen ist für die Amtsläufe das Tempo kaum relevant und Beschleunigung eine Frage der Ausnahme, zum anderen wird in der Behörde die „Variable der Arbeitskraft - Stärke, Schnelligkeit, Geschicklichkeit, Ausdauer" wenn, dann höchstens privat geahndet. Nur in Anekdoten und informellen Kollegengesprächen wird sie „beobachtet, charakterisiert, eingeschätzt, verrechnet" und bisweilen „dem dafür Zuständigen berichtet". Bezüglich des kreativen Umgangs mit dem Amtsweg hat sich bereits in Kleinwächters „Bürokraten"-Roman gezeigt, wie über ministeriale Anweisung 265 A. Eder: Die Almheimat: ein romantisiertes Alpendrama. In: ders.: Österreichische Amts- und Heimatmärchen. A.a.O. S. 32-37 266 Vgl. ebd. Foucault verwendet diesen Begriff, um die Verteilung der Individuen im Raum als geregelte zu charakterisieren. 267 Duden. Das große Fremdwörterbuch. A.a.O. 268 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen. S. 184-187
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einer der Akten vorgezogen und ein schnellerer Durchgang ermöglicht werden kann. Der Finanzkommissär bringt den Akt höchstpersönlich zum Minsterialrat, der ihn sofort revidiert. Damit er sodann auch unverzüglich durch die Engpässe gelangen kann - Sektionschef und Einsichts vorschreibungen -, bietet sich Dr. Runzel „devotest vorgebeugt" an, „selbst die Departements ab [zu] gehen und in kurzem Wege die Unterschriften der Herren Referenten ein [zu] holen". Allerdings kann Dr. Runzel, der „eigenhändig die Departements" abläuft, nicht verhindern, dass der Akt dann „einen Monat auf dem Marmortischl im gelben Salon beim Minister liegen" bleibt (30). Vor allem aber desertiert durch die derart erwirkte Beschleunigung mindestens ein Beamter von seinem Platz, wodurch andere Aktenläufe wohl gebremst werden - zumindest bis zum eingeschobenen Arbeitssonntag. Zudem kostet das Vagabundieren noch viel weitere Zeit, weil die aufeinandertreffenden Beamten Beziehungs- und Laufbahnarbeit erledigen: Gerüchte weitergeben, Zukunftspläne durchgehen oder von privaten Verhältnissen erzählen. So freizügig mit dem Tempus umgegangen wird, so wenig variabel erscheinen Reihenfolge und Abiaufschritte. Nicht einmal der Minister nimmt es sich heraus, auf manche Unterschrift zu verzichten, die an immer denselben Orten - Funktionsstellungen - gegeben wird. Der Amtsweg ist heilig, auf dem die Akten schneller oder langsamer unterwegs sind, Verkürzungen oder Schleichwege sind nicht denkbar. Weniger unumstößlich sind die Wege in einem Text, der beinahe hundert Jahre später spielt: Die Abweichung von der Regel, die Anselm Eder in seinem österreichischen Entdeckermärchen 269 thematisiert, geht über reine Beschleunigungseffekte hinaus. In einer nicht näher bestimmten Sache wird an den Amtsoberrevidenten Gustav Obermeier-Prczystikal herangetreten, weil über einen Herrn Moser interveniert worden war; „andernfalls wäre die Angelegenheit den Instanzenweg gegangen" und gar nicht zu Prczystikal vorgedrungen. Dieser ersten Intervention folgen zwei weitere, eine auf höchster und die andere auf allerhöchster Ebene, um schließlich „im abgekürzten Instanzenzug mit Hilfe amtsinterner Sondervereinbarungen endgültig und doch unauffällig beigelegt" zu werden (13 und 17). Man kann sich lebhaft vorstellen, wie zeitintensiv derartige Abkürzungen und Abweichungen sein mögen und mit welcher Kunst hier desertiert, vagabundiert und agglomeriert wird. Von der schönen verre269 A. Eder: Caltha palustris: ein österreichisches Entdeckermärchen. A.a.O.
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chen- und kontrollierbaren Fließbandordnung kann in derart kreativen Abläufen keine Rede mehr sein. Auch im „Finanzamt"-Roman Lernet-Holenias stehen die schöpferischen Qualitäten der Beamtenwelt im Zentrum der Geschichte. Entgegen den gesetzlichen Bestimmungen treibt hier der Hofrat Attenöder auch jene Steuern ein, die durch die Auflösung der Straffinanzämter eigentlich nichtig geworden sind. Weil jedoch die alltägliche Steuerhinterziehung niemals im gesamten Umfang geahndet werden könne, sieht es der Finanzbeamte als seine Pflicht an, auch dort abzukassieren, wo er nicht mehr befugt ist. Aber selbst die Steuerhinterziehung soll nach Meinung des Unternehmers Ortlieb auf staatliches Betreiben zurückflihrbar sein: Denn auch die Behörde selbst, ja diese sogar in erster Linie, glaubt nicht im mindesten, daß jemand ein solcher Narr sein könnte, „wirklich" all das zu zahlen, was er zu zahlen hat. Sie, die Behörde, rechnet vielmehr damit, daß jeder die Steuern soweit wie möglich hinterzieht; und daher setzt sie die Steuersätze so hoch an, daß sie schon mit dem Bruchteil zufrieden sein kann, den man selbst bei aller Gerissenheit nicht zu hinterziehen vermag (21).
Nach dieser Auffassung könnte das Amt wichtige Funktionsstellen wie die Fahndungs- und Bestrafungsbehörden einsparen. Die Abschaffung der Straffinanzämter kann sicher als Schritt in diese Richtung interpretiert werden. Kreative Amtmänner, wie Attenöder, gehen jedoch noch ein Stück weiter. So eruiert und besteuert der Finanzbeamte auch ausländische Einkünfte, selbst wenn er damit den gesetzlichen Rahmen sprengt (23). Allerdings halten die Behördengänger und vor allem die Steuerzahler, ja insbesondere die Steuerhinterzieher, an Kriterien und Gebräuchen, selbst an lästigen Gewohnheiten fest, die ihnen als Eckpunkte ihres eigenen Zeit- und Finanzmanagements dienen. Deshalb ist ein ungewöhnlicher Beamter [...] noch weit ärger als ein gewöhnlicher. Ein Beamter nämlich tut seine Pflicht nur dann auf erträgliche Art und Weise, wenn er äußerstenfalls eben diese seine Pflicht und auch sie nur so langsam und unwillig wie möglich tut (50).
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Attenöder aber, als Kopf einer „Art SS des Steuerunwesens" bezeichnet (28), paare Fantasie mit Beamtentum: Seine Spezialität wird als „Husarenstreich" charakterisiert, weil er in „geheimste Distrikte" vorprescht, auf die Knie zwingt, Unsummen entreißt und wieder verschwindet, bevor die Opfer irgendetwas begriffen haben (vgl. 50f.). Insofern expandiert auch hier ein Diener von seinem Schreibtisch aus und variiert die vorausentschiedenen Wege der Akten. Zugleich steht er für Reduktion und Sparsamkeit, indem er einem Mathematiker gleich dafür plädiert, die einzelnen Falle anhand einiger Formeln „im Sinne eines verkürzten Verfahrens" abzuhandeln (56). Als ein derartiger Rationalisierer steht er ausgerechnet jenen im Weg, die im Privatreich des Kapitals genau denselben Prinzipien folgen. Damit Attenöder die durchdachte Rationalisierung auch verwirklichen kann, setzt er sich nicht nur über Kompetenzen hinweg, sondern beschleunigt auch Amtswege in eigener Sache und zeigt, dass er durchwegs über wirtschaftliche Fähigkeiten verfugt. „Unter Vermeidung des Dienstweges" (92) begibt er sich von der Provinz direkt ins Finanzministerium nach Wien. Dort allerdings erwartet ihn die nächste Enttäuschung. Die Staatsspitze arbeitet nämlich längst mit dem großen Kapital zusammen. So gelangt der kleine Beamte zwar zum Finanzminister höchstpersönlich, obwohl er keinen Amtsdiener kennt, was für den Unternehmer, den Kontrahenten Ortlieb, unabdingbare Voraussetzung ist (93). Zugleich mit Attenöder und Ortlieb langt jedoch auch eine „Abordnung der Industriellen" ein (131). Zwischen all den Generaldirektoren und dem Minister, an dieser „Funktionsstelle" höchster Ebene, verläuft die Mission des Finanzgenies Attenöder, der dem Staat finanziell nutzen wollte, endgültig im Sand. Damit offenbart sich selbst in derart beamtenkritischer Literatur, wie die „Variablen der Arbeitskräfte" in den Behörden ausgerechnet durch wirtschaftliche Interessen zu Konstanten fixiert werden. Diese Interessen sind es auch, die die Funktionsstellen in den Ämtern durcheinanderbringen. Zugleich wird offensichtlich, dass nur im Pakt mit kapitalistischen Größen Einflussmöglichkeiten auf die Behörden bestehen. Von diesem Machtpotenzial haben die vielen kleinen Behördengänger wenig Ahnung. Für sie stellen die „codierten Räume" mit den ihnen zugeteilten Beamten bloß Instanzen dar, denen sie völlig ausgeliefert sind. Das hängt insbesondere mit den durch die Marottenkultur gepflegten Variablen zusammen.
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Wenn die Amtskollegen damit wie mit unumstößlichen Gewissheiten umgehen können, erweisen sie sich für die Bürger als völlig undurchschaubar. Zwar weiß jeder um die Kreativität der Beamten, im Bedarfsfall sind die Variablen jedoch weder einschätz-, zuorden- noch berechenbar. Durch die fehlenden Deutungsmöglichkeiten hat auch eine Beschwerde wenig Sinn oder Aussicht auf Erfolg. Entdeckte Mängel bei der Geschicklichkeit, Schnelligkeit oder der Ausdauer von Beamten müssen privat von einzelnen Bürgern aufgearbeitet werden. So ist es auch nicht verwunderlich, dass viele Veröffentlichungen in Zeitungen und Büchern Amtsbegebenheiten als persönliche Erfahrungen und dabei gern als Schmankerln präsentieren. In der Anekdote dominiert der Zufall. Wenn Behördengänger Glück haben, gelangen sie an einen Franz Taxenbach, der „das ganze Geheimnis der Amtsführung kennt": Es gehe darum, dass „man die Leute beruhigt" und „mit den unausbleiblichen Härten des Amtslaufes versöhnt" (Festenberg 94f.). Wenn sie aber Pech haben, geraten sie an seinen Untergebenen, der schwerhörig ist und auf Sätze antwortet, die er sich frei zusammenreimt (vgl. 103ff.). Wenn Parteien Glück haben, denken sie im richtigen Moment daran, dass der Beamte mittlerer Stellung „Eigenmächtigkeiten" nicht mag, und würden sich nicht ohne Aufforderung niedersetzen oder den Hut auf eine Ecke des Schreibtischs legen (118). Oder sie erraten zumindest, an welcher Tür sie zu „kratzen" haben, das heißt, wo genau sie „vorsichtig und schüchtern an die Tür klopf[en] oder an der Klinke rühr[en]" sollen (115). Amtsintern verkomplizieren sich die Codes, nach denen sich die Individuen in den einzelnen Bereichen bewegen, weil auch der Ubergang von Parzelle zu Parzelle genauestens geregelt ist. Wer wen zuerst zu grüßen hat, aufstehen oder sitzen bleiben muss, wird detailreich in den fiktionalen Beamtenbüchern abgehandelt. Kleinste Bewegungen und Gesten sind gemäß den Funktionsstellen ritualisiert und lassen sehr schön erkennen, wie elaboriert die Kunst der Disziplinierung ist. Und dennoch bleibt der Umgang damit offen, variabel und kreativ, sodass sich in den beschriebenen Amtern ein maschinelles Treiben nicht ausmachen lässt. Fantasiereich wird eine ungeliebte Geste umgangen durch Raumvermeidung, Blicke an die Decke - oder zumindest minimiert: Die Stimme wird gesenkt. Das demonstriert, in welch winzigen Details die Machtverhältnisse reproduziert werden. Das zeigt aber auch, dass die Disziplinen bis zu einem gewissen Grad wenigstens abgewandelt und sanktioniert werden können (vgl. v.a. Festenberg, aber auch Kleinwächter und Lernet-Holenia). Je-
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denfalls kann angenommen werden, dass sich die Rituale bei jenen Beamten verselbständigen, die keine genuine Amtsarbeit zu leisten haben. Das könnte beispielsweise aufjene Angestellten zutreffen, deren „Hauptaufgabe darin besteht, die Schlüsselzahl der polnischen Beamten dieses Ministeriums vollzumachen" (Kleinwächter 146). Sie sind möglicherweise ausgefeilter bei Handlungen, deren Funktion sich darauf beschränkt, präsent zu sein - „Das Hiersein ist eigentlich seine Hauptbeschäftigung." (Festenberg 50) -, oder bei ähnlichen Anwesenheitspflichten. So wirft der für den Samstagvormittag herbestellte Beamte einen demütigen Blick nach oben, obwohl der Minister gar nicht da ist und statt Auskünfte zu benötigen, am Semmering sein Wochenende genießt (Kleinwächter 85). So variabel Verhaltensweisen und Gesten der Beamten in der Literatur auch sind, die Implementierung findet mit größter Sorgfalt statt. Sie dient als Unterfutter für das Plätzchen, an dem sich der jeweilige Bamte seine kleine private Heimat einrichtet, dortselbst die Hoheit erlangt und verteidigt sowie für das behördliche Umfeld wiedererkennbare Eigenheiten entwickelt, die den Verkehr beschleunigen oder bremsen. Die Kollegen wissen, wer wann Fehler macht, wo die Akten für gewöhnlich lange verweilen (Festenberg) oder bei wem sie sich „Kopfzerbrechen" machen müssen, um „höflich abzuwimmeln" (Kleinwächter 85). Für sie entsteht ein Kosmos von Arbeitskraftkonstanten mit Codierungen, die nicht der Ökonomisierung dienen, sondern der letzten und wichtigsten Verteilungskunst im Raum: der Hierarchie.
D) G E B O R G E N H E I T IM „ R A N G "
Man würde sich vergeblich fragen, warum die Disziplin in der öffentlichen Verwaltung funktioniert und expandiert, sich über Jahrhunderte tradiert und fortentwickelt, wenn man nicht auf das wichtigste Verteilungsprinzip zu sprechen kommen würde: auf die Rangklassen. Unverständlich bliebe, warum sich ein Sechstel, ein Fünftel der Bevölkerung beinahe klösterlich abschottet, sich in Parzellen splitten lässt oder den Codierungen gemäß den Stellungen - Stallungen - brav unterwerfen sollte. Weder kann die Treue zum Staat oder die Liebe zur Nation eine derartige Vielfalt an Subordination und Angepasstheit produzieren noch erscheint es möglich, dass eine derart große Masse an Menschen von sich aus derart gefügig und gehorsam ist. Die sogenannte Beamtenmentalität, die
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die Amtsmenschen zu reproduzieren haben, müsste viele von ihnen aus den Behörden desertieren lassen, zudem früher das Gehalt ziemlich gering war und heute das Prestige äußerst dürftig ist. Warum taten und tun sie das nicht? Wie kann ein Franz Taxenbach wohlig glücklich sein, wenn er langsam seine „Art abstreift" und nichts mehr infrage stellen kann, wie es für ihn üblich war ? Warum bleibt Dr. Roeger im Ministerium, wenn er seine Arbeit als sinnlos ansieht und sich von jedem Idealismus wehmütig verabschieden musste? Was hat ein kleiner Beamter in einer Bank verloren, die ihn völlig zerstört, und warum bleibt er trotzdem Jahrzehnte dort tätig? Und wie kann der Kampfgeist eines Hofrats überleben, durch den er bereits degradiert worden war und der ihn beinahe in eine geschlossene Anstalt gebracht hätte? Selbst wenn manche Erzähler um Sympathie und Verständnis für ihre Protagonisten werben, die Entwicklung zum Amtstyp vollzieht sich in allen Texten stets unter Zwang und nur unter größten Schmerzen. Die Person wird transformiert, verschüttet oder abgestreift. Das Resultat der Wandlung ist eine Karikatur der Persönlichkeit. Franz Taxenbach, den es verdrießt, wenn er mit Amtstitel angesprochen wird (49), diszipliniert sich und seine gesamte Umgebung in kleinsten Einheiten und dezimiert alle Veränderungs- und Entscheidungsmöglichkeiten auf zoologische Kriterien. Der Ministerialrat Roeger verzichtet auf Frauen ebenso wie auf Rettungsversuche der untergehenden Monarchie und kompensiert dieses Manko mit viel nutzloser Arbeit. Ungars Bankbeamter ersetzt Ideale und Zukunftspläne mit der Realisierung von Regelmäßigkeiten, an denen er zugrunde geht. Und der Hofrat aus Lernet-Holenias Finanzamt überträgt alle seine Energien auf sinnlose Eingriffe in die Wirtschaftswelt. Weil er seine Potenziale transformiert und nicht verdrängt, ist er auch der Einzige, der nicht das Gefühl hat, dass ihm das Leben davonläuft oder abhanden gekommen sein könnte. Und dennoch erscheint auch sein Dasein als abgeschottetes, abgekoppeltes, das nur mit viel Aufwand zu ertragen ist. Es stellt sich also durchwegs die Frage, weshalb sich die beamteten Individuen derart untertänig in Räumen und Zimmerecken verteilen lassen. Eine Ursache dafür liegt wohl in der Struktur selbst, die die Amtswelt ausdifferenziert und darin ein rudimentäres Eigenleben ermöglicht. Das betrifft die „Klausur" und die internen Einteilungen der Ämter, durch die jeder einzelne Beamte zwar einem Platz zugeordnet wird, sich dort aber durchwegs persönlich einrichtet. Nicht unwesentlich scheint dabei die Spezialisierung auf Tätig-
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Abb. 19: Wir sind durch Generationen für etwas anderes gezüchtet. Gustav von Festenberg
keiten, die außerhalb des Amtes nicht gefragt sind. Das heißt, dass Beamte nach einer gewissen Zeit, und zwar einer Zeit der Abrichtung und Zurichtung, gar nicht mehr die Möglichkeit haben, woanders zu arbeiten. So konstatiert etwa Ministerialrat Dr. Roeger, dass er als Arbeitsloser „nicht einmal einen Hausmeisterposten finden" könnte. Zwar wäre jede Bank glücklich über einen so hohen Ex-Staatsdiener, nicht aber, weil er etwas „vom Finanz- und Währungswesen versteh[t]". „Der Staatsdienst verpatzt uns für einen solchen Beruf", sagt Roeger, weil „wir die Dinge immer vom Standpunkt der Allgemeinheit angehauen], haben tausend Bedenken, wo der andere senkrecht auf seine Tasche losdenkt." Den Beamten würde jegliche Ellenbogentechnik fehlen, ja
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eine entsprechende Haut, um sich durch die anderen durchzudrängen. [...] Wir sind nicht für den Kampf ums tägliche Brot geschaffen. Man hat uns eine besondere Empfindlichkeit gegen alles Unfaire, Häßliche anerzogen, die schon durch Dinge verletzt wird, über die der praktische Mensch nur lachen kann. Wir sind durch Generationen für etwas anderes gezüchtet (49f.).
Wer aber ist flir diese Zucht verantwortlich, ja hängt sie überhaupt vom Staat ab, von Macht und Obrigkeiten ? Entsprechend den Erkenntnissen Foucaults, der auch auf Begriffe der Tierhaltung zurückgreift, lassen sich in den Texten feinere Verteilungskünste nachweisen, nach denen die Zuchtobjekte selbst an ihrer Abrichtung arbeiten. Das wichtigste System, das die moderne Beamtenschaft in den Ställen hält, sind genuine Rangordnungen. Nur über die Bewegungen in diesem pyramidalen Gefiige ist die Statik der Behörde zu gewährleisten, nur über die darauf zurückgehenden diffizilen Gesten und Intrigen scheint der behördliche Haushalt reproduziert werden zu können. Sogar derart einsame und tragische Gestalten wie Ungars Bankbeamter vermögen die bedrückenden Perpetuierungen des Immergleichen bloß auszuhalten, weil sie in Laufbahnen denken - selbst wenn sie, gewöhnt an Gewohnheiten, gar nicht mehr bemerken, dass sie festsitzen und nie aufgestiegen sind. So fußt die Statik des Systems auch auf bloß imaginärem statt auf realem Fortkommen. Zuchtprogramm und Individuum werden am Leben gehalten. Die Reflexion darüber setzt erst im literarischen Erzählen ein, im knappen Resümee eines ganzen Lebens: Ich habe die ganze Zeit nicht darüber nachgedacht, daß im Grunde die Hoffnungen, die ich an meine Laufbahn knüpfte, sich nicht erfüllt haben. Man hatte mir geweissagt, daß ich es bei meinen Anlagen durch Fleiß und Ausdauer zu einer leitenden Stellung in meinem Beruf bringen könne. Ich hatte diesen Gedanken vergessen. Ich vergaß ihn in all den kleinen Tätigkeiten, in die meine Zeit von Anbeginn zerlegt war (22).
Es ist interessant, wie Hermann Ungar hier die Statik der Position mit der Statik seiner Innenwelt parallel fuhrt und im Alltag verloren gehen lässt. Die „Hoffnungen" und die Weissagung werden zu einem Gedanken, zu etwas Rationalem, Rationalisierbarem, das man vergessen kann und nicht wie ein Gefühl verdrängen müsste. Das Verschwinden des Individuums wird durch die Wandlungen der ge-
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reihten Wörter ebenso ausgedrückt wie über den Tempuswechsel: vom Perfekt über das Plusquamperfekt zum Imperfekt, der signalisiert, dass die Handlungen definitiv abgeschlossen sind: Erinnerung ist nicht möglich. Die Reduktion des emotionalen und göttlichen Begriffs (Hoffnung und Weissagung) auf das Nomen „Gedanken" unterstützt die Antiklimax: weder Leistungen der Gefühle oder des Unterbewussten noch natürliche äußere Kräfte können den Aufstieg bewerkstelligen - der Beamte ist auf einen Gedanken angewiesen, den er nicht mehr hat. Der Hort des Ranggefiiges funktioniert allerdings längst nicht überall gleich. Nicht jeder Beamte „vergisst" seine Position im Amt, an der er eingefroren ist. Selbst wenn es aussichtslos ist, die Stellung zu wechseln, wird über diffizile Bemühungen, die täglich aufs Neue angestellt werden, die Rangordnung hinterfragt, und sei es auch nur in symbolischen Gesten. Das schönste Beispiel dafür hat Gustav von Festenberg ausgestaltet, wenn sich sein Held mit dem Ritual des Grüßens auseinandersetzt. Schon auf der Straße dient diese Konvention dazu, „Freundlichkeit" und „eine gute Dosis Leutseligkeit" auszudrücken, wenngleich es nur „äußere Schicht [ist], die grüßt und lächelt". Die Art und Weise des Grußes drückt den Abstand aus, so der Erzähler, der seinem Protagonisten äußerst wichtig ist (37). Im Amt sind die Distanzen verschieden, relational und über ein Register von Ritualen eingeübt. Nicht immer aber halten sich die Angestellten brav an die Rangordnung, sondern bedienen sich mitunter ausgetüftelter Strategien, um sie unterlaufen zu können. Den Chef zuerst zu grüßen ist dem Sekretär Edlacher kein Problem. Beim Stellvertreter Franz Taxenbach, den er nicht als Vorgesetzten anerkennen will, ist das ganz anders: Zudem [dieser] in keiner Weise Respekt einflößend [ist]. Also läßt man es darauf ankommen. So hat sich schweigend in umerklichem Kampf ein bestimmtes Zeremoniell herausgebildet. Kommt Edlacher im Laufe des Vormittags in das Büro Franzens, dann grüßt er zuerst. Kommt Franz zu ihm ins Büro, dann grüßt Franz zuerst. Soweit ist die Sache in Ordnung,
kommentiert der Erzähler (53f.), der als Anwalt seines Protagonisten jede konfliktvermeidende Regelung unterstützt. „Kompliziert wird die Lage nur, wenn sie einander auf neutralem Boden [...] treffen. Dann spielt Edlacher den Beschäftigten, Franz den Zerstreuten, und sie gehen grußlos auseinander" (54).
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So werden die Beamten zu Schauspielern. Die Drastik dieses Wandels wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Protagonisten es sind, die nun zu Schauspielern werden: Es sind keine Individuen, sondern bereits zu Typen disziplinierte Figuren, die bereits eine Rolle internalisiert haben. Umso herausfordernder ist es, plötzlich einen Auftritt zu haben und wieder etwas anderes spielen zu müssen. Durch die spontan auftretende Situation wird das Spielen enorm erschwert. Dementsprechend beherrschen es die Amtskollegen nicht perfekt. Manchmal kommt es im grauen Bereich vor, dass der Sekretär seinen Vorgesetzten grüßen muss, weil er zu spät den Arbeitsamen mimt. Prompt bessert Taxenbach den Fehler aus. Er schlüpft in die Rolle des Erstaunten, der den Untergebenen zu spät bemerkt hätte. Damit entschärft er den Konflikt und gibt dem Untergebenen die Möglichkeit, die Situation in dessen Sinn zu interpretieren. Edlacher kann sich denken, dass der Vorgesetzte zuerst gegrüßt hätte, wäre er nicht dermaßen zerstreut. Jetzt könnte man annehmen, dass mit dieser diffizilen Regie eine alternative Ordnung installiert wird, die den Beteiligten einen abwechslungsreicheren Alltag bescheren würde. Man könnte denken, dass diese minutiösen Abweichungen von den dominanten Ritualen eine angenehme, ja beinahe lustvolle Atmosphäre schaffen würden. Dem ist aber nicht so: Taxenbach ärgert sich über diese Strapazen. Schon allein weil er „vormittags so wenig Widerstandskraft" hat, muss er solchen brisanten Momenten ausstellen. Trotz der Anstrengungen, die die Ausweichmanöver kosten, versucht er tagtäglich den neutralen Boden zu meiden (ebd.). Treffen die beiden Beamten dennoch plötzlich zusammen, so kann Franz aus dem Zorn des Sekretärs, der nicht in Deckung gehen konnte und zuerst grüßen musste, keinen persönlichen Gewinn ziehen. Schon die vergiftete Atmosphäre, die Disharmonie, wird als persönliche Niederlage empfunden (vgl. 99). Umso naheliegender müsste es also sein, die Sache überhaupt aus dem Weg zu räumen, z.B. durch eine direkte Aussprache. Doch eine derartige Problembewältigung scheitert an der „ Natur" des Beamten. Mit viel Verständnis für seinen Protagonisten schreibt der Erzähler, dass Franz „kein Mensch der Tat" sei. Zwar fühle er Widerstände und verbrauche deshalb viele Energien, er sei aber zugleich paralysiert und könne keine Vorstöße machen, zumal er immer auch seine Stellung verteidigen müsse. „Und alles geht weiter wie bisher." Dass dieses „Weiter-wie-bisher" „Inbegriff der amtlichen Lebensweisheit ist", eine These, die der Erzähler als rhetorische Frage in den Raum stellt (56), hängt
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mit der diffizilen Verteilungsordnung innerhalb der Behörde zusammen. Nur über Knochenarbeit an Zeremonien, Ritualen und Selbstbehauptungen ist die Präsenz im Amt auszuhalten, das Taxenbach als „Gruft" empfindet (123), als Stätte fern der „Freiheit" und des „Lebens" (72). Im Amt immerzu mürrisch zu sein kann nur ertragen werden, wenn man dafiir im liebevoll gepflegten Blumengarten kindlich verschämt lachen kann, wie Danninger (71f.). Ausgleichsund Uberlebensstrategien sind typisch für die Beamtenschaft in der Literatur. Dort, wo sich eine „Fülle von Leben, Leiden, Kampf und Kraft" „in vorschriftsmäßig geformten, bis zur Sinnlosigkeit versachlichten Sätzen" verbirgt, wo sich „diese öden Formeln [...] wie Staub über alles farbige Leben legen" (62), anmutige Bauern zu erratischen Blöcken und Findlingen werden (87), beschämt mit amtlichen Floskeln ins Amtliche „herabgeglitten" werden muss (ebd.), ja dort, wo kleine Privatbriefe längst verworrener und feierlicher formuliert werden, als es in der Amtssprache üblich ist (51), dort ist es notwendig, zumindest die Beziehungsverhältnisse zu verfeinern. Nicht dass man sich im Amt tatsächlich nahe kommen möchte, aber es wird Wert daraufgelegt, den Vorgesetzten schmeichlerisch mit „Baron" anzusprechen, statt mit dem ihm verhassten „Kommissär" (54). Es ist wichtig, „wie von ungefähr" Türen zu öffnen, um die Beiläufigkeit eines Zimmerwechsels anzudeuten (105) oder im ungeheizten Sitzungszimmer zu verweilen, damit es nicht so aussieht, „als ob" man vom „wilden Lärm" herbeigerufen worden sei (108). Wie fragil die Welt des sich darstellenden Personals ist, zeigt Festenberg in einem kurzen, aber ausgefallenen Aufeinandertreffen vom Beamten Franz und einem Polizisten (68fF.). Um „die Stille ringsum, das Warten, die immer gleichen Geräusche" zu übertönen, verletzt Franz Taxenbach hier plötzlich die eingespielte Ordnung. Dazu genügen zwei Fragen an den Gendarmen, „,Wie gefallt es Ihnen in Erdlingen ? Haben Sie viel zu tun ?'", und das Gleichgewicht zwischen den Personen ist erschüttert. Die banalen Erkundigungen unterbrechen nicht nur den akustischen Trott, sondern zerstören auch jene Distanz, die durch die Etikette normalerweise gewahrt bleibt. Durch den privaten Vorstoß verflüchtigt sich die amtliche Atmosphäre: Die „unpersönliche Schicht [ist durch] eine leicht hingeworfene Frage schon zertrümmert". Erregt von der Situation wird der Gefragte nicht nur gesprächig und erkundigt sich daraufhin nach dem Haarwuchsmittel des Beamten - Taxenbach hat ihn mit seinen zwei Fragen auch von allen Disziplinierungen des Körpers befreit: Der Gendarm neigt den
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Kopf „die Schultern geben nach, die Arme erwachen. Durch den ganzen Körper geht ein Atemzug der Befreiung". Die Augen bekommen einen Glanz, die „zusammengepreßten Lippen öffnen sich", er lächelt. Die Stimme wird viel tiefer und die Sprache „ist am besten Wege, barfuß dem Dialekt in die Arme zu laufen". Die Zertrümmerung der „unpersönlichen Schicht" ist allerdings nicht von Dauer. So schnell und einfach sie zerstört wurde, kann sie auch wieder repariert werden und hinterlässt dabei nicht einmal Narben. Mit einer kleinen Geste von Franz, der seine Hand in Türrichtung ausstreckt, wird der gesamte Prozess rückgängig gemacht. Der Gendarm tritt einen Schritt zurück, „das Gesicht verschließt sich. Die Gestalt wird straff, die Schultern breiten sich aus", die „fremde Stimme" redet wieder Schriftdeutsch (ebd.). Die Rangordnung ist wiederhergestellt, die in vielen Körperdetails ausgedrückte Funktionsstellung ist wieder da, die Distanz zur Außenwelt und zwischen den Personen an üblicher Stelle eingerastet. Niemand wird beanstanden, dass die Spielregeln, die auch zahlreiche Regeln für den Körper beinhalten, für kurze Zeit verletzt worden sind. Aber angenehm ist solcherart für den Franz nicht. Die Auszeit exponiert die Individuen als Vogelfreie, sodass die Beamten schon selbst darauf achten, deren Dauer in engsten Grenzen zu halten. Die „Macht", der Michel Foucault die Triebfeder und den Nutzen der Disziplinen zuschreibt, gehört hier nur indirekt zu den Kreateuren der Netze, die die Relationen bestimmen. Profitieren kann der Staat dennoch: weil das disziplinierte Beamtenheer selbst vom Grau der Institution abfärbt, sich schon allein dadurch in eine Instanz verwandelt und als derart lebensfremder Block nicht mehr zugänglich ist. Amtsintern aber wird durch die Verteilung im Ranggefüge viel Energie abgezogen, weil jede Position nur provisorisch festgelegt ist und ein Gutteil des behördlichen Kreativitätspotenzials an Strategien für den individuellen Aufstieg gebunden bleibt. Friedrich Kleinwächter hat den privaten Taktiken der Beamten und Beamtengattinnen einen ganzen Roman gewidmet und demonstriert, wie fantasievoll in die Verteilung und Zirkulation der Körper im „Netz der Relationen" eingegriffen werden kann (vgl. Foucault). Da gibt es den bereits erwähnten Dr. Runzel, der seinen Körper neben Uberstundenarbeit und Fußmärschen durchs Ministerium besonders im Zimmer des
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Vorgesetzten fordert: Leise öffnet er die Tür, schließt sie „lautlos", „macht eine tiefe Verbeugung und bleibt bei der Tür stehen". Auf Einladung des Ministerialrats tritt er mit leicht gebeugtem Rücken näher und setzt sich vorsichtig auf den Fauteuil neben dem Schreibtisch. Er sitzt nur mit einer Hälfte seiner Kehrseite auf dem Rand des Fauteuilsitzes. Das eine, das der sitzenden Hälfte der Kehrseite angehörende Bein ist im Knie rechtwinklig gebogen, auf den Boden gesetzt. Das andere Bein, im Knie nur leicht gebogen und weit nach hinten gestreckt, berührt nur mit der Fußspitze den Boden. Der Kopf ist mit einer leichten Wendung nach rechts gebeugt, wodurch es ihm ermöglicht wird, zu Roeger, trotzdem dieser sitzt, em-
porzublicken (22f.). Disziplin wird abverlangt bei der Lautstärke und den taktilen Fähigkeiten, Rückenverkrümmungen und Rückgratverdrehungen sind notwendig. Disziplin ist gefragt beim Hantieren, Bewegen, Strecken, Beugen und Blicken. Im Gegensatz zu diesem jungen Beamten öffnet Ministerialrat Pretthauser „geräuschvoll" die Tür und setzt sich „breitspurig" in den Fauteuil (35). Dennoch verfolgen beide Besucher mit ihren gegensätzlichen Inszenierungen der Bewegungen und Geräusche dieselben Zwecke. Beide wollen aufsteigen, beiden geht es darum, „Vordermänner" loszuwerden, weshalb sie emsig vagabundieren und agglomerieren und eine spezifische Gestik, Mimik sowie diffizil graduierte Körperbewegungen und Lautstärken einsetzen. Die Wahl der Mittel hängt von den Positionen in der Hierarchie ab. Bei der Suche nach Komplizen agiert der tiefer Positionierte unterwürfig, der höher Gestellte laut und dramatisch. Dass die Initiativen für die Karriere bestenfalls bereits bei Amtsantritt zum Einsatz kommen, lässt der Erzähler den jungen Runzel selbst berichten. Gleich zu Anfang habe er sich „den Status hergenommen und alle Vordermänner bis hinauf zu den Sektionschefs angestrichen ..., die seiner Meinung nach ,amovabel' wären". Daraufhin hat er versucht, unter den Jungen Verbündete zu finden und durch „Herumreden" die Stellen langsam „anzubohren". „Das braucht Zeit, bis es so wirkt. Aber die haben wir ja", konstatiert der Finanzkommissär. Nebenbei muss man attraktive Stellen außerhalb des Amtes finden, die die scheidenden Vordermänner annehmen können und wollen, sowie „stärkere" Kollegen ausfindig machen, die ebenfalls an deren Abgang interessiert sind.
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Die Verfolgung dieser Strategie fuhrt zu zahlreichen Bewegungen und Wanderschaften in der Behörde. Häufig bringt sie den Kämpfer auf unterer Ebene mit einem Kämpfer auf höherer Ebene zusammen. Wenn er nicht im Personaldepartement unterwegs ist, hält sich Runzel also im Büro seines Verbündeten, des Ministerialrates Pretthauser, auf. (Soviel zur Antidesertions-, Antivagabondageund Antiagglomerationstaktik moderner Amtsdisziplin.) Jedenfalls versucht Pretthauser, Runzeis Verbündeter aus den höheren Rängen, ebendort Freiräume zu schaffen. So will er den Klagenfurter Finanzdirektor loswerden, um einen eigenen Vordermann auf den freien Platz in Kärnten abzudrängen und ihn in Wien loszusein. Dazu ist ihm nicht jedes Mittel recht. Den Einsatz von Rattengift lehnt er explizit ab, allerdings könne er auch nicht „auf s Absterben [...] warten. [...] Deshalb muß man halt schauen, die Leut' lebend wegzukriegen." Wie aber kann man einen Kollegen zum Abdanken bewegen, der nicht in Pension gehen will, zehn Jahre jünger ausschaut, als er ist, „sein Werk'l tadellos" führt, ja sogar bei der Bevölkerung beliebt ist ? (Und „das will was heißen bei einem Finanzdirektor.") Trotzdem könnte sich über einen Komplizen vor Ort „schon etwas finden lassen, was nicht in Ordnung ist. Es gibt ja kein Amt, wo nicht ein paar Schlampereien oder Dummheiten vorkommen." Aufgebauscht und verzerrt müssten diese Mängel sodann an den Minister weitergeleitet werden, der von der Provinz, respektive Klagenfurt, keine Ahnung habe. Zusätzlich könne man dem scheidenden Vordermann den Abgang mit einem Orden schmackhaft machen (36ff.). Obwohl diese Strategie an zwei nicht korrumpierbaren Beamten scheitert, kommt sie in modifizierten Rollen doch zum Einsatz, als man in Klagenfurt den idealistischen Birkenau loswerden will. Schließlich hat dieser durch seine Versetzung in die Provinz zum Unverständnis aller Beteiligten auf Karriere verzichtet und bringt durch seinen Wechsel obendrein die Rangordnung vor Ort durcheinander. Um ihn, den in Kärnten nicht eingeplanten Vordermann, aus dem Verkehr zu ziehen, wird er gemeinsam mit dem korrekten Roeger als Urheber jener Intrige präsentiert, die eben erst an ihnen beiden gescheitert war. So versuchen die karrierebewussten Wiener Pretthauser und Runzel im Verbund mit den Kärntner Kollegen, die zwei störenden Beamten loszuwerden. Abgesehen davon, dass das Vorhaben auf kreativer und solidarischer Planung beruht, zeigen die Intriganten auch Flexibilität, wenn sie plötzlich die Rollen vertauschen. Damit die Falschmeldung über den Gerüchtestatus hinaus einen
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offiziellen Charakter erlangt, halten sich die Täter aber auch an altbekannte Amtsdisziplin. Ganz nach „bureaukratischen Regeln" wird das konspirative Treffen (nach Dienstschluss) inszeniert. Um eine möglichst hohe Dichte an Amtlichkeit zu erwirken, folgt der Einleitungsrede eine Rede „des Referenten der Sache", in der das Zahl- und Zeitreglement persifliert wird, indem unbestimmte Adverbien als Platzhalter fungieren. Mit dem Erlaß des k.k. Finanzministeriums vom so und so vielten, Zahl so und so viel, ist der Ministerialkonzipist Doktor Max von Birkenau zum Finanzsekretär bei der hierortigen Finanzdirektion ernannt worden (169).
Darauf folgt eine „gründliche Sachverhaltsdarstellung". Zwischenrufe wie „Figurant, Ministerialgigerl, Tepp und so weiter", geschweige denn Ausdrücke wie „Saujud'! jüdische Sauerei !Jud' dreckiger! O-beiniger! Aussa muß er ¡Jüdische Dreckseele!" entsprechen zwar nicht sachlicher, zentralstaatlicher Etikette, demaskieren jedoch über die ländliche Direktheit die da wie dort verbreitete Gesinnung. Nach Ordinalzahlen geordnet werden sodann Indizien für die semitische Abstammung des Finanzsekretärs angeführt, worauf vom Vorsitzenden „feierlich" die „Wechselrede" eröffnet wird. Gegen Ende der Zusammenkunft ist es schließlich soweit, dass Schritte erwogen, Ergebnisse beschlossen und Maßnahmen gesetzt werden. Bezüglich jenes Beamten, der bei der Versammlung als Einziger wagte, nachzufragen, wird entschieden, mit ihm jeden privaten Verkehr abzubrechen. Wegen dem „ziemlichen Anhang" seiner Familie und dem „Mordstratsch in der Stadt [...]: Natürlich Finanzbeamte!" soll nichts Schlimmeres gegen ihn unternommen werden. Gegen Birkenau will man dafür umso gründlicher vorgehen: mit einer vertraulichen Verständigung eines Hofrats, einem „ausfuhrlichen Memorandum" zur Information der Abgeordneten, einer Intervention beim Minister und „eventuell" einer „Interpellation im Reichsrat". „Mit der Durchfuhrung dieser Maßnahmen wurde ein Komitee von drei Leuten betraut" (170ff.). In dieser Sequenz der Maßregelung macht Friedrich Kleinwächter ersichtlich, wie selbst in den freien Stunden kreativ und diszipliniert zugleich an den Rangordnungen gebastelt wird, und zwar nicht bloß an Ein- und Anpassung, sondern auch an Änderungen der zukünftigen Platzierung. Nicht unwichtig sind bei diesen Transaktionen Herkunft und Familienstand. Schließlich ist es
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kein Zufall, dass ausgerechnet die zwei unkorrumpierbaren Beamten nicht nur begütert sind und über einen brauchbaren Namen verfugen, sondern dass sie auch ledig sind. Nur deshalb, so wird kolportiert, können sie es sich leisten, die „vierte Rangsklasse" nicht mehr zu „erleben" (37f.). Hätten sie eine Familie, müssten sie als Haushaltsvorstand ständig daran arbeiten, ihre Position und damit die finanzielle Situation der Ehefrau und der Kinder zu verbessern. Aber nicht nur der Beamte, auch seine Gattin und Hausfrau hat stets für Positionsverbesserungen zu kämpfen. Beachtlichen Nutzen zieht sie daraus, wenn sie für hohe Amtsträger, Offiziere und Adelige regelmäßig Jours und Soupers veranstaltet. Dort werden Anekdoten erzählt, Spiele gespielt und ganz nebenbei wichtige Kontakte gehalten und hergestellt. Die etikettenreichen Treffen sind Vorarbeiten für den Aufstieg des Gatten und die standesgemäße Verheiratung der Töchter. Erbarmungslos erklärt die Ehefrau des Sektionschefs, dass dieser Verkehr nicht dezimiert oder auf sympathische Personen beschränkt werden kann. „Aber, Ferdinand! Du weißt doch, daß das nicht geht. Entweder man gehört zur Gesellschaft oder man gehört nicht zur Gesellschaft" (220). Weil an dieser Dichotomie eine ganze Reihe an Unterschieden festgemacht wird, darf die Tochter nur jenen Birkenau heiraten, der nicht in die Provinz abgestiegen ist, sondern mit Aufstiegschancen im Ministerium sitzt. Ahnlich wie für die Eltern gibt es auch für die Beamtentöchter kaum Möglichkeiten, Rituale und Rangordnungen zu missachten. (Beamtensöhne scheinen in der Literatur keine maßgebliche Rolle zu spielen.) Das bedeutet, dass sie die Leute bei den Jours - ähnlich den Nationen der k.k.Monarchie - nicht „wirklich kennen [lernen]" (dürfen) (155), dass sie sich dort auf den angemessenen Plätzen und bei den Festen in den zugewiesenen Zelten niederlassen müssen. Die an fixen Wochentagen immer zur selben Zeit abgehaltenen Treffen verlangen von jedem Anwesenden, dass er sich treffsicher platziert: Das Herrenzimmer mit Bridgetischen ist für ältere Herrschaften und Honoratiorengrüppchen, die Sitzecken sind für die Jugend und die Salonecken für Ministerialräte vorgesehen. Unerträglich, wenn eine vierundzwanzigjährige Tochter nicht in die Jugendecke, sondern an einen Bridgetisch möchte (151f.). Auch der Ablauf ist penibel vorprogrammiert. Beim Frühlingsfest mit dem Erzherzog als Gast gibt es gar eine Planung nach Minuten, die zuvor genauestens geprobt gehört: vier Uhr siebzehn dies, eineinhalb Minuten für das, viereinhalb Minuten für was anderes (208f.).
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Die Organisation dieser Freizeitverpflichtungen obliegt den Beamtengattinnen, die den hohen Amtmännern nicht nachstehen, wenn es um die ranggemäße Verteilung der Individuen im Raum geht. Ahnlich sind sich die Ehepartner auch beim notorischen Kräftemangel. „Von Haus aus" verfugen die Beamtenfrauen über keine Energie, und so sie ausnahmsweise irgendwann vorhanden war, wird sie ihnen später „durch die ganze Erziehung ausgetrieben". Unfähig für alle Tätigkeiten, die in erwerbstätiger Arbeit anfallen, können sie als Mädel nur zwischen einer standesgemäßen Heirat entscheiden oder dem Status eines „überflüssigen Möbel [...], das allen im Weg steht und von allen beiseite geschoben wird". So konstatiert die Tochter des Sektionschefs: Wenn's für uns was gäbe, dem man sich ganz widmen könnte, irgendeine Aufgabe, der man sein Leben weihen könnt', kein Mensch könnt' mich zum Altar bringen. Aber wir haben eine Mauer um uns herum, hinter der wir zu Menschen aufwachsen, die zu nichts anderem gut sind als zu sogenannten Damen (108f.).
So finden wir Klausur und Parzellierung, Funktionsträger und Rangordnung auch im Alltag der Töchter und Gattinnen, die selbst dann noch Disziplinierung fordern, wenn die Väter und Gatten die Tendenz zeigen, ihre Freizeit etwas lockerer zu gestalten. Die Härte und Konsequenz der Frauen hängt mit der Diskrepanz zwischen strengen Repräsentationspflichten und dem relativ niedrigen Startgehalt der Beamten zusammen. Die Ehefrauen sind für Ansehen und Aufstieg ihrer Gatten mitverantwortlich, können der ersten Aufgabe aber nur gerecht werden, wenn die zweite hervorragend erfüllt wird. Aber gerade für die Beamtenkarriere war bis in die Zwischenkriegszeit hinein gehobenes Prestige unabdingbare Voraussetzung. Die Situation ist also prekär. Weil mit dem Aufstieg der Ehemänner auch ein finanzieller Anstieg einhergeht, diese vertikalen Bewegungen allerdings nur mit privaten Zurschaustellungen von Wohlstand und „Sittlichkeit" erfolgen können, sind die Frauen der Beamten ständig damit beschäftigt, auf Schein ein zukünftiges Sein aufzubauen. Dazu kommt, dass in den oberen Schichten auch Unternehmer und Juristen zu den Freunden gehören (müssen), die über ganz andere Einkommen verfugen. Diesem Gefalle müssen sich die braven Beamtengattinnen regelmäßig aussetzen, um ihren Männern nicht den Weg in eine höhere Rang- bzw. Gehaltsklasse zu verbauen. Ebenso eifrig ist den Kindern ein standesgemäßer Start zu verschaffen,
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um ihnen ein Dasein als „Möbel" zu ersparen. Neben dem Geld ist dafür auch Disziplin vonnöten. „Man ist das, wofür man von der Gesellschaft genommen wird", konstatiert die Frau des Sektionschefs Mönningen (72). Deshalb darf sich ihre Tochter auch nicht im Stadtpark verabreden, wo sich die Dienstboten treffen (197), es sei denn, die Beamtenkarriere des möglichen Zukünftigen gilt als gesichert (202). Die Beamtengattin in Lernet-Holenias Roman, der einige Jahrzehnte später, nach dem 2. Weltkrieg, spielt, wird genauso aktiv, wenn es darum geht, die Töchter vorteilhaft unterzubringen. Dafür sucht sie höchstpersönlich die Behörden, ja sogar das Ministerium in Wien auf. Allerdings ist es der Hofrätin weitaus wichtiger, dass der Schwiegersohn über Finanzen als über soziales oder kulturelles Kapital verfügt. Sie möchte die Töchter vor den ärmlichen Verhältnissen einer Finanzbeamtengattin bewahren. Das Problem, von dem sie aufgerieben wird und das sie ihren Kindern ersparen möchte, liegt im Kontrast zwischen Standesgefühl und Gehaltszettel. Dem gesellschaftlich relativ hochstehenden Umfeld können nur die Ehefrauen der höchsten Beamten gerecht werden, die anderen dürfen nicht einmal zeigen, wie wenig Geld sie zur Verfügung haben. Für die Männer stellt sich die Situation etwas anders dar. Für sie ist der Aufstieg nämlich keine unumstößliche Notwendigkeit. Zwar führen Laufbahnschritte durchwegs zu einem angenehmeren Amtsalltag, allerdings scheint sich auch die Arbeit mit den Akten zu vermehren. Die Einsicht ins Getriebe wird größer, jedoch nicht die Macht, etwas zu verändern. Mit der Karriere wird also v.a. ein klarer Blick auf die Komplexität der Unveränderlichkeit gewonnen, was das Leben nicht unbedingt angenehm macht. Wenn der Ministerialrat Roeger über seine Arbeit klagt, ist denn auch nur insofern Idealismus zu verspüren, wenn er vom Gemeinwohl, und das heißt vom Wohl des Staates, spricht. Er diene nicht „wegen dem lausigen Gehalt", wegen Karriere oder Titel oder Orden („verschiedenen Spinat"), er gehöre auch nicht zu jenen Käuzen, „denen das Aktenerledigen überhaupt Spaß macht", so Roeger. Und er habe keine Frau, der jedes gesellschaftliche Vorwärtskommen ein Anliegen sei. Stattdessen diene er, um mitzuhelfen, den Staat „zu festigen, ihn weiterzubringen". Aber dieser noble Zweck ist im k. und k. Staat nicht einzulösen. Roeger weiß, dass er nur Arbeiten an einem einstürzenden Gebäude verrichten kann und sagt: ,„Ich reparier' oben am Dach herum und unten gehen die Fundamente auseinander'" (90f.).
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„Durchlavieren" und „Fortwursteln als letzte österreichische Staatsweisheit" sind Techniken, die selbst Beamte wie er stets realisieren müssen (92, 97). Damit geraten alle, egal ob Idealisten oder Rangartisten, in einen unangenehmen Konflikt, den sie immer wieder von Neuem in ihren Alltag integrieren müssen: Platziert in höchst diffizilen Zeit- und Raumordnungen und umgeben von penibel sortiertem Zahlen- und Datenmaterial, gilt es, schlampig und ziellos Arbeit zu tun. Denn jene Beamte, die es anders versuchen, die außer dem „Kopfzerbrechen" der höheren Beamten auch Handlungen setzen, müssen mit allen persönlichen Konsequenzen scheitern: Birkenau, der die Peripherieländer an die Zentrale binden möchte, Lernet-Holenias Hofrat, der die Kassen des Finanzministeriums füllen will, Anselm Eders Kanzleirat Haberdipfl, der die Korruption anklagt, oder der Amtsoberrevident desselben Autors, der die Energiefrage lösen könnte. Zu bezahlen sind die Sonderwege mit Drohungen, auf der Psychiatrie zu landen, oder mit dem Aufenthalt in geschlossenen Anstalten, mit Degradierungen oder Versetzungen, mit sozialer, privater Achtung in Kollegenschaft und Familie. Auch in Texten Paul Kornfelds, Joseph Roths oder Herzmanovsky-Orlandos fuhren Sonderwege der Amtmänner in den Abgrund, Sonderwege, die in Texten anderer Autoren erst gar nicht möglich werden: bei den Beamten Kafkas, Konrad Bayers, Doderers oder Karl Kraus', weil sie gar nicht auf die Idee kommen, sich als Helden von Tragödien zu etablieren. So bleiben die Wege der Staatsbediensteten vorgezeichnet und vorhersehbar: als Abwege, die aus der Behörde und dem (Amts)leben hinausfuhren oder als Bahnen zwischen Wohnung und Amt, zwischen den Zimmern der Behörde, in der hierarchischen Geografie und privaten Laufbahn. Wie die Beamten dort unterwegs sind, in welchem Tempo, in welcher Körperhaltung, mit welchen Pausen diese je individuellen Gangarten, Steh- und Sitzvermögen eingeübt werden, ist das, was die Amtmänner nicht nur tauglich hält für den immergleichen Alltag, sondern auch tauglich macht für die Literatur. Es dokumentiert vielleicht das, was der späte Foucault als „Lebensstile" bzw. „Subjektivierungen" bezeichnet hat, die nicht zwingenden, sondern fakultativen Regeln gehorchen.270 Zugleich offenbart sich in dieser Kunst, sich spezielle Gänge und Bewegungsmodi einzutrainieren, jene „Mikrophysik der Macht", die wesentlich von den Ordnungen
270 Vgl. G. Deleuze: Das Leben als Kunstwerk. In: ders.: Unterhandlungen. 1972-1990. Frankfurt 1993. S. 136-146
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Foucaults abweicht: durch die Systematisierung und Regelhaftigkeit von Intrige und Vagabondage, die strukturelle Entökonomisierung der Amtsgeschäfte und durch die regulierte Schwächung zentraler Kräfte: des Körpers, des Denkens und der Leidenschaften. Auch die Literarisierung der Beamtenerfahrung, die Inszenierung der Amtswelt für Leser, die weitgehend ohne stilistische Neuerungen und Besonderheiten auskommt, zeigt, wie machtdurchdrungen die Subjektivierungsvorstöße sind. Die meisten Texte bewegen sich formal brav auf altbekannten Pfaden. Die geregelten Schreibwelten korrespondieren mit dem geregelten Alltag der Protagonisten. Auch mit dem ihrer Autoren ? Und welche Intention verfolgen sie dann ? Im Folgenden sollen, auch mit Blick auf ausgewiesene Beamtenautografien, Überlegungen zu den Schreibmotivationen der Beamtenschriftsteller angestellt werden.
3 Bürokratische Gewinne und Verluste durch Beamtenprosa Was treibt Staatsangestellte dazu, sich literarisch zu betätigen und ihre eigenen Abrichtungsprozesse anhand fiktiver Protagonisten darzustellen ? Hat es damit zu tun, dass die gelehrigen Körper durch die Zerlegung der Zeit und die „Zuchtpolyphonie der Disziplinarübungen"271 selbst zu Lehrkörpern werden wollen, um „die Form der Stetigkeit und des Zwanges" 272 auch andernorts zu verbreiten ? Oder wollen sich die von der bürokratischen Ordnung mit winzigen und unscheinbaren Verfahren verfertigten Individuen273 vor einer Öffentlichkeit erklären ? Tatsache scheint, dass die freizeitschreibenden Beamten gerade das herausfordert, was sie von anderen Disziplinargruppen unterscheidet: die mangelhafte „Ökonomie", die physische Schwächung, die Tugend der Müßigkeit, die Chronik der Störungen, die Hemmnisse des Fortschritts ... Vielleicht resultiert die Schreibmotivation aus dem Bedürfnis, diese amtsspezifischen Praktiken zu rechtfertigen ? Aus der in diesem letzten Teil analysierten Beamtenliteratur lassen sich jedenfalls drei Bemühungen herauskristallisieren: Disziplinierung als Subjekti-
271 M. Foucault: Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 198 und 205 272 Ebd. S. 208 273 Ebd. S. 220
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vierung begreifbar zu machen, Rettungsversuche der Dynastik anzustellen sowie Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Aufgrund der thematischen und formalen Entscheidungen der Autoren scheinen es vor allem diese Ziele zu sein, deretwegen die Beamten fiktionale Texte verfassen, in denen die behördliche Welt mit ihren mannigfachen Disziplinierungen ausgestellt ist. Für Recherche und Analyse der Schreibmotivationen sollen auch die 1998 veröffentlichten Autobiografien tschechischer k.k. Beamter herangezogen werden.274 Begründen lässt sich diese Ausweitung vielfaltig. Möglich ist sie, da es, so die Herausgeberin Pavla Vosahlikovä, im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen ungeheuren Aufschwung an verschriftlichten Lebenserinnerungen gegeben habe, dessen „fleißigste Autoren" unter den franzisko-josephinischen Beamten zu finden seien. Und es bedarf keiner scharfsichtigen Beobachtungsgabe, um markante Ähnlichkeiten mit den Texten Kleinwächters oder Festenbergs zu entdecken. Im Gegenteil: Bisweilen scheinen die fiktionalen Darstellungen kaum getarnte Autobiografien abzugeben, die immer derselben Dramaturgie folgen. Da wie dort werden historische Zäsuren (wie jene von 1914, 1918,1934 oder 1938) gern ignoriert oder geografische Grenzen verwischt, sodass die literarischen und autobiografischen Texte über weite Strecken sonderlich zeit- und ortlos anmuten. Dieselben Protagonisten fristen dasselbe Leben, egal, ob sie einem kleinen Osterreich, einer Republik, einem faschistischen Regime oder der Monarchie und dem Kaiser verpflichtet sind. Die Analogie der beiden Textsorten fußt auch auf eingestreuten Anekdoten und einer ähnlich wirksamen Situationskomik. Allerorten verkommt (oder avanciert) das, was die Beamten kämpferisch oder angriffslustig in Artikeln publizierten,275 zu humoresken Partikeln eines abgeschotteten Großfamiliendaseins. Man kann etwas von diesen Zusammenhängen in der respektvollen Verwunderung einer Beamtentochter erahnen, wenn sie über die Vorliebe des Vaters für Operetten und Komödien spekuliert: Vielleicht suchte er in ihnen ein Gegengewicht zur Ernsthaftigkeit seines Berufs, vielleicht entsprang das seiner angeborenen Neigung zur Fröhlichkeit, denn er
274 P. Vosahlikovä (Hg.): Von Amts wegen. K.k. Beamte erzählen ( = Damit es nicht verlorengeht..., Bd. 37). S. 9 275 Vgl. ebd. S. 35
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konnte in den Momenten der Zerstreuung und Erholung von den Pflichten lustig sein.276
Indem hier von „Gegengewicht" bzw. „Momenten" die Rede ist, wird auf die Priorität der Amtsgeschäfte verwiesen und die Fröhlichkeit als Ausnahme bzw. als genetisches Überbleibsel ausgegeben. „Ernsthaftigkeit" und „Pflichten" fördern die Lust aufheitere Augenblicke, die aber nicht den Alltag infrage stellen, sondern nur davon ablenken oder zerstreuen sollen. Dieser Grundzug ist in allen fiktiven und nichtfiktiven Beamtengeschichten vorzufinden. Immer neigen sie eher dem Komödiantischen zu - als tragische Figuren werden die Beamten, denen es dem Selbst- und Fremdverständnis nach an Größe und Besonderheit mangelt - kaum gestaltet. Die persönlichen Erinnerungen, konstitutive Bestandteile meist linearer Lebensläufe, gewinnen ihren Charme und Witz aus dem Kontrast zwischen Regel und Anekdote, Wiederholung und Ausnahme. Ebenso augenfällig sind die beinahe unscheinbaren Variationen der einzelnen Praktiken, über die den Beamten Profil verschafft wird. Autobiografische Alltagsbeschreibungen ähneln hierin vor allem den Schilderungen Festenbergs und Kleinwächters. Einerseits wird allerorten rücksichtslos an kleinsten Details festgehalten, sei es was Uhrzeiten, Essensgewohnheiten oder das obligate Mittagsschläfchen anbelangt, sei es was die Regelmäßigkeit der Freizeitstunden mit Programmpunkten, Spaziergängen und Treffpunkten betrifft. Andererseits sind da wie dort die penibel eingehaltenen Rituale nur in ihren Abweichungen zu Kollegen festzumachen. Und allerorten verweist das zeitlich festgelegte Moment auf das Ganze der Laufbahn, die Parzelle auf den Staat, der Tag auf das Leben. Im Gegensatz zu den fiktionalen Texten muten die Zusammenhänge, wie sie von den Autobiografen hergestellt werden, immer etwas schwerfallig an. Verglichen mit den literarischen Texten zeigen sie noch weniger Mut zur Lücke, wenn sie vom Amtsantritt bis zur Pensionierung jahr für Jahr das Besondere der Routine und der Vorkommnisse ausformulieren. Umständlich werden die raren Abweichungen vom zeitlichen Schema argumentiert. So fasst der Vermessungsbeamte mit 20-jähriger Distanz wie folgt vier uninteressante Jahre zusammen:
276 J. Matiegka/L. Matiegkovä: o.T. In: ebd. S. 293-332, hier S. 332
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Mein Dienst in den Jahren 1909 bis 1913 war wahrscheinlich gänzlich normal, ohne alle Aufregungen, denn mir fällt auf daß mir trotz intensiven Nachdenkens aus dieser ganzen Zeit, bis auf zwei fast bedeutungslose Begebenheiten, nichts im Gedächtnis hängen geblieben ist, was der Erwähnung wert wäre.277 Zugleich gewinnen diese persönlichen Darstellungen durch das Weglassen aller Dekoration, durch den Verzicht auf Vergleiche und Wortspiele etwas Karikatureskes. Die wenigen Rückgriffe auf Metaphern und Wortwitz muten u m s o fremder und unfreiwillig komisch an. So schreibt der Kartograf über einen bestechlichen Vorgesetzten im besetzten Bosnien: Lange wußte man davon nichts, aber dann kam man auch dahinter, daß er die Schulden mit den zugehörigen hohen Zinsen in Form von Remunerationen zurückzahlte. Das war allerdings ein starkes Stück. Deshalb verschwand er auf einmal wie der Dunst in der Morgensonne./Damit konnte die bosnische Verwaltung vortrefflich umgehen.278 Wenn selbst die Ausnahme nur spärlich mit Vergleichen veranschaulicht wird, fehlen sie bei der Regel fast völlig. Nur selten k o m m e n Bilder romantischer Landschaften zum Einsatz, angesichts derer schon die Idee einer Veränderung als Naturkatastrophe erscheint. Regelhaftigkeit und Kontinuität fuhren nicht nur zu Behaglichkeit und Wohlbefinden, sondern sind auch im ökologischen Gleichgewicht. Aus der Chronik der Familie Matiegka, die „einer BeamtenDynastie" „entstammt", zitiere ich die Schilderung des alltäglichen Zusammentreffens : Sie setzten sich dann alle um den kleinen Tisch unter dem Nußbaum zusammen, die Damen häkelten ein wenig, die Männer rauchten, und dabei plätscherte das Gespräch über Gegenwart und Vergangenheit, wie wenn ein Bächlein über die Steine murmelt. Das Wort führte Frau Kozlikovä, die ungeheuer witzig war. Sie war wirklich eine Meistererzählerin.279
277 J. Base: o.T. In: ebd. S. 179-243, hier S. 217 278 Ebd. S. 193f. 279 J. Matiegka. A.a.O. S. 309
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Diese Kombination von Regeldasein und Humor, Plätschern, Murmeln und Witz, scheint denn auch typisch zu sein für die meisten Texte über den Beamtenalltag, auch wenn die einen auf diesen Zusammenhang explizit hinweisen müssen, die anderen hingegen, die die Nacherzählung als Roman veröffentlichten, ihre Dramaturgie weitgehend darauf aufbauen. Inwiefern die emsigen Autoren durch ihre Arbeiten bürokratisieren oder Bürokratie unterlaufen, soll nun anhand der drei erwähnten Motivationskomplexe untersucht werden.
A) DIE A R B E I T A N DISZIPLIN U N D Z E R S T R E U U N G
Wie ein direkt proportionales Verhältnis scheint sich der Abrichtungsprozess des Beamten zu dessen Schreibarbeit zu verhalten. Die Texte sind umso geordneter und homogener strukturiert, je regelhafter und regelmäßiger das referierte Beamtenleben war. Die Autoren setzen ihre Disziplinierungsarbeit in ihrer Freizeit an Schreibtischen fort, wo sie - ähnlich der Kinder- und Altenarbeit zu Beginn der Aufklärung - als „billige Arbeitskräfte" „niemandem zur Last" fallen können 280 . Sie reproduzieren die „Kleinlichkeit des Regelments", das oft entgegen den foucaultschen Annahmen bar jedes weltlichen Inhalts ist sowie jenseits jeglicher ökonomischen oder technischen Rationalität" 281 liegt. Als „Mikroskop des Verhaltens"282 geben die Schreibenden allerdings nicht nur Blicke frei auf feinste Details der Ab- und Zurichtungen, sondern beheben mit ihrer literarischen Tätigkeit auch die Mängel, die die Kontrolle beim Amtshaushalt aufweist. Notorische Intrigen oder Abweichungen von Zeitordnungen, die sich amtsintern der Mikrojustiz entziehen, werden im Roman ganz allgemein, in der Autobiografie namentlich an den Pranger gestellt. Die Überwachung, die aufgrund der Beziehungsnetze immer wieder gestört ist, kann erst im literarischen Raum gehörig durchgeführt werden. Der foucaultsche „Beobachtungs-, Registrier- und Dressurapparat", der in der Behörde wegen unzähliger Rangarbeiten, Blindstellen und Tabus niemals wie in Schule, Militär oder Gefängnis funktionieren kann, wird in der erzählten Geschichte installiert. Die Ergebnisse
2 8 0 M . Foucault: Ü b e r w a c h e n und Strafen. A.a.O. S. 213 281 Ebd. S. 180 282 Ebd. S. 2 2 4
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Abb. 20: Der Dienst verlief immer im selben Rhythmus, und nur, wenn ein- oder zweimal im Jahr irgendeine normative Vorschrift einging, unterbrachen wir in den späteren Nachmittagsstunden die alltägliche Arbeit. Jan Base
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werden ausgewertet. Kompetente Erzähler in der Ich- oder Er-Form ordnen die Staatsangestellten in einen Kosmos von Normen, in den die Beamtenfiguren variantenreich eingepasst werden. Weichen die Kollegen der Protagonisten vom Wertempfinden der Autoren ab, wird das Fehlverhalten abgeurteilt. Die auktorialen Erzähler in den Romanen Friedrich Kleinwächters und Gustav von Festenbergs zeigen immer wieder, wie zwar den Vorgesetzten im Amt, nicht aber ihnen selbst Störungen und Fehlleistungen entgehen. Die Schilderung der Mängel im personellen Haushalt der Behörde verfolgt humoristische Zwecke und dient zugleich der Profilierung des Protagonisten. Für gewöhnlich realisiert dieser sowohl im Amt als auch privat jenes Maß an Disziplin, das vom Autor als „natürlich" ausgewiesen wird. Der beamtete Held übt Nachsicht gegenüber den großen politischen Problemen des Staates und ist sich der Vergänglichkeit seiner Person sowie der Unvergänglichkeit seiner Stelle bewusst. Er verhält sich nach oben gehorsam, nach unten gutmütig und zu den Gleichgestellten gelassen bis verärgert. Seine Dienstbeflissenheit wird stets positiv bewertet, selbst wenn die Weisungen als völlig sinnlos angesehen werden. Wie die Helden Festenbergs und Kleinwächters erfüllt auch jedes Beamten-Ich in den Autobiografien die ihm zugewiesenen Aufgaben pflichtgemäß, wenn auch der zeitliche Rahmen viel Spielraum lässt. Der Bezirkskommissär Antonin Böhm hält an den peinlichen Aufmärschen der Zensurbehörde fest - um fünf Uhr früh durch sechs Amtspersonen mit Gendarmen in einer Redaktion aufzutauchen - , auch wenn sie niemals Erfolg zeigen. Die behördliche Konfliktlösungsstrategie fasst er wie folgt zusammen: Später wurde ich mit dem Redakteur bekannt, und da bat er mich immer, daß ich allein kommen und diese Parade zu Hause lassen solle. Ich konnte mir [!] aber nicht helfen, weil ich den gegebenen Befehl ausführen mußte. Der Herr Redakteur Opletal ließ sich dann irgend etwas zu Schulden kommen und wurde infolgedessen - zu unserer großen Freude - aus Pilsen ausgewiesen. 283
Wie in den Beamtenromanen ersichtlich wurde, verfügen die Staatsdiener vor allem über Zeit. Je mehr sie zerteilt ist und zerschneidet, desto gelassener scheint der Umgang mit den großen Einheiten zu sein: mit Dienstjahren, Laufbahnen 283 A. Böhm: o.T. In: P. Vosahlikovä (Hg.): Von Amts wegen. A.a.O. S. 77-110, hier S. 93
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und Jahrzehnten, in denen der immergleiche Alltag perpetuiert wird. Weil die Zeit längst in den „Scheuern" der Behörde eingefahren und in unzähligen Fragmenten situiert ist, erweisen sich die Beamten beinahe immun gegen die „Winde, die wehen, wo sie wollen" (Foucault, s.o.). Änderungen werden wie Schicksalsschläge angenommen und selbst da, wo sie einen Mehraufwand erzwingen, Schritt für Schritt ohne Hektik in die eigene Arbeit integriert. Wie ein Gegenmodell zur modernen Marktwirtschaft, aber auch zu den foucaultschen Disziplinen macht sich letztlich der überlegte Umgang mit Neuerungen aus, der in den Amtern mit Etikette gepflegt wird. Der behördliche Wandel funktioniert so, wie sich Tier- und Pflanzenwelt an veränderte Klimabedingungen anpassen. Ähnlich den fiktionalen Szenarien schildert der Vermessungsbeamte Jan Base, wie „der Dienst [...] immer im selben Rhythmus [verlief], und nur, wenn ein- oder zweimal im Jahr irgendeine normative Vorschrift einging, unterbrachen wir in den späteren Nachmittagsstunden die alltägliche Arbeit". Dann wird das Schreiben „Satz für Satz, langsam, bedächtig und mit gebührender Betonung" pausierend zwischen den Absätzen vorgelesen sowie sofort ausführlich diskutiert. Dieser Prozess dauert so lange, „bis der Inhalt völlig verdaut" ist, um die Anweisung sodann, anhand von Plänen und Schriften, noch einmal „praktisch" durchzugehen. Ganz nach den foucaultschen Erkenntnissen kommt es zu einer Einverleibung der Vorschriften, für die hier der Stoffwechsel zuständig ist. Allerdings wird diesem Prozess der Verdauung gerade das eingeräumt, was den „modernen Disziplinen" abgeht: nämlich Zeit. Dass „in Anbetracht des heutigen Arbeitstempos" „ein solches Verfahren anachronistisch" anmutet, stellt der Autor dieser Lebenserinnerungen selbst, und zwar bereits in den 50er-Jahren, fest und warnt vor den katastrophalen Auswirkungen der Beschleunigung.284 Statt Verdauung gibt es Durchfall. So drängt sich hier - und parallel dazu bei den literarischen Texten - eine Sicht auf den behördlichen Umgang mit Zeit auf der im Vergleich zu aktuellen Praktiken der Privatwirtschaft psychische Bedürfnisse nicht ignoriert und so um einiges ertragbarer zu sein scheint. Beamte machen Pausen vor Erschöpfung, wenn der penible Vorgesetzte endlich den Raum verlässt, und das Personal bleibt „mindestens zwei Stunden regungslos mit starren Augen sitzen"285 ; Beamte 284 J. Base. A.a.O. S. 191f 285 Ebd. S. 192
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Bürokratie als Zuchtmechanismus
vermerken bezüglich politisch brisanter Zeiten banal, dass „man auch in den Amtern in der allgemeinen Aufregung wenig arbeitete"286 oder sie registrieren steigende „Arbeitslust", wenn die „nicht fertigen Formulare weniger wurden", die Tätigkeit also dem Ende zugeht287. Dementsprechend werden die Beamten vor allem durch „undisziplinierte" Umstände in der Politik und undisziplinierbare Gefühle wie Erschöpfung, Aufregung oder Lust an ihren Platz gebunden. Dabei zeigt sich, dass ausgerechnet in den Arbeitspausen der „Charakter dieser Disziplinarmacht" am besten reproduziert wird. Die Unterscheidungen der disziplinierten Amtspersonen zu anderswo disziplinierten Menschen werden von den Beamtenautoren vielfaltig herausgearbeitet: das Fehlen des Gesundheitsimperativs288 wird konstatiert, die nicht „ausnutzbare [n] und durchschaubare [n] Körper"289, die mangelhafte Kalkulierbarkeit der Verhaltensweisen oder Aufenthaltsorte der Individuen290 sowie die zahlreichen Hemmnisse der „Evolution als Fortschritt"291. Diese Besonderheiten fordern die ganz spezifische Herausbildung einer Amtsdisziplin, die die Verfasser im Kontrast zu abnormen Beamten oder Personen aus anderen Berufskreisen detailliert vorführen. Dass diese Ab- und Zurichtungen nicht nur lustig sind, wird keineswegs verschwiegen. Neben den braven, unbestechlichen Protagonisten verfallen zahlreiche ihrer Kollegen, die allesamt Nebenfiguren sind, der Spielsucht, dem Alkohol oder ganz einfach der Lust der schnellen Liebe. Das geht soweit, dass der korrekte, respektvolle Staatsdiener - der Autobiograf - erst aufatmen kann, wenn das damenlose Beamtenheer seinen kolonialistischen Stützpunkt am Balkan verlässt, weil dann die ortsansässigen Töchter im „geruhsamen Städtchen" wieder unbehelligt spazieren gehen können. 292 Im präsentierten Lebensmonument des Beamten kommt derart nicht vor. Die Autobiografen erinnern nicht nur die amtliche Diszipliniertheit, sondern würdigen auch die private, ja körperliche Disziplinarkunst. Zu den schönsten Dokumenten staatsdienerlicher Sorgfalt gehört hier der Hinweis auf die täg286 287 288 289 290 291 292
Ebd. S. 223 Ebd. S. 219 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 223 Vgl. ebd. S. 174 Vgl. ebd. S. 176 Vgl. ebd. S. 207 Base. A.a.O. S. 215f.
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liehe Morgengymnastik (nach dem „damals so beliebten Müllerschen System"). Durch die damit antrainierten Regelmäßigkeiten ordnen sich sogar die „Steinchen der Gallenblase so an, dass sie nie den Abfluss der Galle verstopften, und niemals macht sich dann die bekannte Gallenkolik bemerkbar, die die Krankheit verraten hätte"293. Beinahe könnte dieses kleine autobiografische Versatzstück als Sinnbild der letzten kaiserlich königlichen Jahrzehnte stehen. Wahrscheinlich kann man es aber auch als entlarvende Metapher modernster internationaler Bürokratien verstehen, deren Probleme stets verschleppt und intern nicht wahrgenommen werden. Demgegenüber erleben Behördengänger den Alltag sehr wohl kolik- und schmerzhaft, ihr Leiden wird aber, wie in den Beamtenbüchern, kaum zur Kenntnis genommen. Verborgen und zugedeckt - wie durch die optimale Organisation der Gallensteinchen - wird in den Beamtentexten aller Art nämlich ausgerechnet die Basis des Apparats, auf der das System aufbaut, jener Zweck, der den Befehlenden komplementär gegenüberliegt: die Befehlsempfanger. Als sporadisch auftauchende lästige Faktoren, allerseltenst als kleine, moralische Korrektive, treten die Untertanen mit den Behörden in Beziehung. Jedoch bleiben nicht ihnen, sondern den internen Verbindungen der Bürokraten die umfangreichen und wesentlichen Textpassagen vorbehalten. Auch in der Dramaturgie dienen die Behördengänger eher einer zarten Färbung des Beamtenalltags und kommen nicht in den spannendsten Passagen vor. Meist sind sie zu Störefrieden degradiert - des Beamtenalltags wie des Erzählverlaufs - und evozieren das Ideal einer Behörde ohne Parteienverkehr. Trotzdem scheint es die Untertanen irgendwie zu brauchen. Denn ganz wie bisher kann das Amtsvolk nicht weitertun, wenn es, wie in Loznica, „keine lebendige Seele" vorfindet, da die Bevölkerung mit dem serbischen Heer weggezogen war. [...] Von uns Zivilisten hatte nur der Bauingenieur ein wenig Arbeit, der mit einem Trupp Arbeitern, die aus Bosnien hergebracht worden waren, den Morast von den Straßen wegräumen ließ. Wir übrigen warteten, bis die Bevölkerung zurückkehrte, denn ohne sie hatten wir nichts zu verwalten. 294
293 Ebd. S. 225 294 Ebd. S. 219
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Bürokratie als Zuchtmechanismus
Biografische und autobiografische Beamtenliteratur verengt den Blick auf die Behörde derart, dass die Staatsdiener zu Seiltänzern werden: Wandelnd zwischen den Abgründen der Uberforderung (Disziplin, Parteienverkehr, Rangkämpfe) und der Unterforderung (im Maximalfall Nichtstun), riskiert jeder Beamte halsbrecherische Abstürze: dem Spiel, dem Schnaps, den Frauen zu verfallen, korrupt, depressiv, gewalttätig oder wahnsinnig zu werden. Umsichtig und konsequent muss das Gleichgewicht gehalten werden. Jede kleinste Veränderung könnte die Konstruktion zum Einsturz bringen oder ganze Seilschaften in den Abgrund stürzen. Den schmalen Grat der Machbarkeit und Bewältigbarkeit herauszustellen, scheint - bei aller Ironie - wichtiges Anliegen der schreibenden Beamten zu sein. Wie gegen Modifikationen im behördlichen Reich angetreten wird, machen die Autoren im Kampf gegen die „Dynamik" und die absteigende Individualisierung295 deutlich. In diesem Bemühen, mit dem sie vehement persönliche Freiräume und Abweichungen einfordern, widersetzen sie sich radikal jedem bürokratischen Selbstverständnis.
B) R E T T U N G S A K T I O N E N DER D Y N A S T I K
Wenn Michel Foucault davon schreibt, dass die modernen Disziplinartechniken auch die literarischen Genres verändert haben, so unterscheidet er dabei zwei verschiedene Auswirkungen. Zum einen werde die „.Erinnerungsgeschichte' der Chroniken, Genealogien und Urkunden, der Reiche und der Taten" - die „Dynastik" - abgelöst durch die .„Dynamik' der steten Entwicklungen", die sich mit den „neuen Unterwerfungstechniken" durchzusetzen beginnt. Zum anderen bedeutet diese Veränderung weniger einen Wandel als vielmehr eine Umkehrung der Verhältnisse, indem „die Disziplinarprozeduren [...] die Schwelle der beschreibbaren Individualität herabsetzen]", 296 die Individualisierung „absteigend" [wird]: je anonymer und funktioneller die Macht wird, um so mehr werden die dieser Macht Unterworfenen individualisiert: und zwar weniger durch Zeremonien als durch Überwachungen; weniger durch Erinnerungsberichte als durch Beobachtungen; nicht durch Genealogien, die auf Ah-
295 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 207, 248 296 Ebd. S. 247
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nen verweisen, sondern durch vergleichende Messungen, die sich auf die „Norm" beziehen; weniger durch außerordentliche Taten als durch „Abstände". In einem Disziplinarsystem wird das Kind mehr individualisiert als der Erwachsene, der Kranke mehr als der Gesunde, der Wahnsinnige mehr als der Normale.297
Die „Formierung einer Disziplinargeseilschaft" würde, so Foucault, auch durch mannigfaltige Veränderungen in der Literatur bezeugt, die „vom Epos zum Roman, von der Großtat zur heimlichen Besonderheit, von den langen Irrfahrten zur inneren Suche nach der Kindheit, von den Kämpfen zu den Phantasmen" wechseln. „Den Platz des Ritters Lanzelot nimmt der Gerichtspräsident Schreber ein", formuliert Foucault spitz,298 und es scheint in der Tat nicht schwer zu fallen, speziell aus der Beamtenliteratur ein schönes Personal zusammenzustellen, das diese These bestätigt. Allerdings gibt es eine Menge Techniken, durch die die Zeit der Vormoderne heraufbeschworen wird. „Schreber" will seine Stellung als Ritter Lanzelot behaupten. Vergleiche mit Großtaten, Irrfahrten, Kämpfe regen dazu an, die Amtswelt als abenteuerliche Gegend wahrzunehmen. Beamte rasen mindestens ebenso unternehmungslustig durch die Behörde wie seinerzeit Ritter durch die Lande. Die Schilderung von Rangkämpfen will an mittelalterliche Duelle und mythologische Götterzwistigkeiten erinnern. Trickreiche Alltagshandlungen werden als „außerordentliche Taten" ausgegeben, brave Beamte als Kämpfer. Weil die schreibenden Beamten eine Vorliebe für die Norm hegen, die es ihnen gestattet, ausgerechnet den biedersten Amtmann am diffizilsten zu individualisieren, am schillerndsten zu gestalten, ist es er, der als Held gefeiert wird. Am scheiternden, kranken, perversen Staatsdiener schreiben sie schnell vorbei. Die verbleibende spärliche Erlebnis- und Ereignisdichte wird sorgfaltig mit Analogien aus Geschichte und Landschaft auszugleichen gesucht. Die vor allem mit Vergleichen realisierten Rückgriffe auf kulturelle Werte und Naturschauspiele wirken oft komisch, jedoch werden sie nicht immer ironisch eingesetzt. Andere Formen hinwiederum unterstreichen das Anliegen der Beamtenautoren, ihre Amtswelt als vormodern interpretieren zu lassen. So strotzen die Texte 297 Ebd. S. 248 298 Vgl. ebd. 207 und 246ff.
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vor Genealogien, die Geschichte, und zwar die familiäre und die nationale, als naturbedingten Prozess konstruiert. Statt die Kindheit psychologisch aufzuarbeiten, wird sie höchstens erwähnt, um der Genese des Beamtengeschlechts zu gedenken. Ins Detail gehen die Texte jedoch immer erst, wenn das Amtsleben beginnt. Mit dem Kontrast zwischen Bürokratie und Tradition, Dynastik und Dynamik, der sich dort zeigt, gehen sie gelassen um und tun so, als ob Bürokratie und Dynamik keine ernstzunehmenden Konkurrenten wären. Selbst bei noch so feinen, bürokratischen Präzisierungen - wenn Platzierungen von Gegenständen, Individuen, Uhrzeiten oder Andeutungen von Blicken und Gesten in Millimeter- und Minutenpräzision vorgenommen werden - scheint es den Beamtenautoren darum zu gehen, für das Gedächtnis zu schreiben und das Messbare auf gewachsene Tradition und Kulturhoheit zurückzuführen. Auch amtskritische Autoren wie Lernet-Holenia, der sich mit seinem Roman für eine private Steuerangelegenheit rächen wollte, gestalten ein historisches Szenario, in dem der engagierte Amtmann als Husar agiert. Und die kurzen Geschichten Anselm Eders, die als „Amtsmärchen" präsentiert werden, zeigen, wie sich ein Beamter nach dem anderen wagemutig ins Reich der Wirtschaft oder der Leidenschaft vorwagt.299 Dass der brave Franz Taxenbach Tag für Tag „Odysseen" erleben darf, muss natürlich im Kontext seiner Persönlichkeit ironisch gelesen werden, allerdings wird er in Vor- und Nachwort dezidiert als „Held" seiner Dynastie gefeiert. In der Tat ließe er sich problemlos in die Ahnengalerie der Minsterialbehörden einreihen, die Friedrich Kleinwächter in seinem „Bürokraten"-Roman so liebevoll charakterisiert. Auch in den Autobiografien werden Dynastien aufgerollt und Zeremonien geschildert. Falls der Staatsdiener „in der Hast des Beamtenlebens" nicht die Zeit findet, „Familiengeschichten zu erzählen", übernehmen Töchter, Gattinnen und Enkel die Rekonstruktion von Laufbahn und Chronik. Überall reüssieren die Beamten als eifrige Diener des Staates, die „allesamt ordentliche und ehrwürdige Leute" gewesen sind.300 Der Glaube an die Dynastik geht so weit, dass sich das Beamtengeschlecht - wie in der fiktionalen Literatur - nicht nur gestisch, sondern auch physiogo-
299 A. Eder: Österreichische Amts- und Heimatmärchen. A.a.O. 300 F. Markovä-Jeräbkovä: o.T. In: P. Vosahlikovä (Hg.): Von Amts wegen. A.a.O. S. 333-361, hier S. 334
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nomisch als solches auszeichnet. So verrät sich etwa das Oberfinanzratsmäßige durch das „feingeschnittene, bürokratische Gesicht mit kleinen, durchdringenden Augen".301 Um Stand und Ansehen durch ein „von der einheimischen Bevölkerung völlig abgesondertes, selbständiges Ganzes"302 zu erhalten, gab es allerorten Beamtenkasinos, eigene Konsumgemeinschaften und private Jours, wo die „bürokratischen Menschen" mehr oder weniger unter sich waren und ihr Geschlecht reproduzieren konnten. Selbstverständlich lauern allerorten Gefahren, die „den festen und nach außen hin [!] imposanten Damm"303 sprengen können. Die Beamtenschaft riskiert ständig, in der Masse der Bevölkerung aufzugehen. Dagegen treten die Protagonisten und die Autoren als deren bedingungslose Anwälte unermüdlich an. Neben den Infizierungen durch disziplinäre Abweichungen gilt es auch, die familiären Verbindungen standesgemäß rein zu halten. Auf Kriegsterritorium - so der Vermessungsbeamte Jan Base - hätten sich ledige Beamte „aus Mangel an Mädchen der eigenen Gesellschaftsschicht, mit der erstbesten dieser Frauen" eingelassen : „Dienstmädchen, Kellnerinnen, Ladenmädchen, Sängerinnen und sogar auch Zirkusartistinnen" wurden „hochgestellte ,Damen'".304 Was sich durch sie veränderte, kann nur erahnt werden, weil der Prozess der „Proletarisierung" in der Geschichte der Ahnengalerie keinen Raum findet. Die Invasionen der „erstbesten dieser Frauen" ins Land der Beamtenschaft sind nicht zu verschriftlichen, denn, so Base, „was sich dann in den .Salons' der Crème von Sarajevo abspielte, in welchem Ton man dort sprach, entzieht sich jeder Beschreibung".305 Mit solchen Aussparungen lässt der Chronist das Reich der Administratoren unbeschadet bestehen. Wie die private Nivellierung, so wird auch berufliches Fehlverhalten nicht gern zur Sprache gebracht. Beschrieben werden lieber jene Staatsdiener, die auf die „Anerkennung der Leute durch schlichte Bewunderung" zählen konnten, eine Kritik an den anderen „eignet sich nicht fürs Papier".306 301 J. Base. A.a.O. S. 197 302 Vgl. z.B. ebd. S. 231, 234, aber auch F. Kleinwächter: Bürokraten. A.a.O. u.a. 303 J. Base. A.a.O. S. 208 304 Ebd. S. 233 305 Ebd. 306 Ebd. S. 196
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Dasselbe gilt für unangenehme politische Ereignisse und Zäsuren, die den Autor verstummen lassen. So kann selbst der Weltkrieg nicht für die Nachwelt erinnert werden, weil er aus dem Gedächtnis des Vermessungsbeamten gestrichen ist. In den fiktionalen Texten zeigt sich diese Zensur, indem der Amtsalltag über den Wechsel der verschiedenen Herrschaftsformen hinweg konstant bleibt. Wenn in manchen Texten eine zeitliche Einordnung deshalb schwierig ist, konzentrieren sich andere ganz einfach auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die dokumentierte Lücke zwischen 1914 und 1918 in der Laufbahn des Vermessungsbeamten mag die Geschichtslosigkeit vielleicht auf markanteste Art darzustellen. Weil er „gleich von Anfang an zum ganzen Krieg eine so negative Einstellung hatte", nahm er ihn, wie eine allgemeine Erscheinung, fast nicht zur Kenntnis. [...] Und daher habe ich keine Kriegserinnerungen, im wahrsten Sinne des Wortes. Nur eine durch Worte nicht erklärbare Bitterkeit blieb mir am Grund meiner Seele von alldem, was ich erlebte, bis zum heutigen Tag, obwohl ich es nun schon verstehe.. ,307
So wird die behördliche Welt als lückenhafte, aber bruchlose Ahnengalerie dokumentiert, ihren Typen etwas Farbe und ein klein wenig Blut verliehen sowie das Erinnerte mit einem Hauch von Unsterblichkeit überzogen. Die Statik der Dynastik wird selbst in jenen Zeiten hervorgekehrt, in denen andernorts nicht nur ihr Abgesang gefeiert wird, sondern das Reich selbst verloren geht. Indem jedoch Erworbenes als Erbangelegenheit betrachtet wird, ist der behördliche Block genau dort verwundbar, wo er - in den Worten Jan Bases - „proletarisiert" oder „amorph" wird. Die erste Gefahr schreibt der Vermessungsbeamte neben der Kriegsnot jenem Umstand zu, dass die jüngeren Beamten „aus dem einfachen Volk" stammten, die niemand mehr in der Etikette „drillte".308 Das zweite Phänomen, das „das bosnisch-herzegowinische Katasteramt schließlich so tief" sinken ließ, resultiert nach Jan Base aus dem gegenseitigen Verhältnis der Kollegen, die „aus lauter Scheu und Rücksichtnahme nicht zu
3 0 7 E b d . S. 226E 3 0 8 E b d . S. 23Of.
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festen Formen gelangen konnten"309. Dort aber, wo die Beamtenschaft nicht formvollendet zueinanderfindet, ist ihre Einheit und mit ihr die Stärke des Staates nicht mehr zu garantieren. Zu den formalen Regeln gehören sowohl strenge Sitzordnungen nach Rangklassen, selbst in den Beamtenkasinos, auf deren Einhaltung zumindest die herkömmlichen Beamtengattinnen sorgten310, als auch die „Kanzleigenauigkeit" im privaten Haushalt, an die sich alle Familienmitglieder - auch bei Widersinnigkeit - zu halten haben.311 Zur Arbeit an der Einheit gehört aber auch der stets zur Schau zu tragende Respekt gegenüber den älteren, ranghöheren Beamten, denen jede Veränderung so taktisch untergejubelt werden muss, dass die Vorgesetzten das Gefühl haben, alles wäre beim Alten geblieben.312 Mit diesen Forderungen formuliert der Vermessungsbeamte der k.k. Zeit dieselben Anliegen wie Kleinwächter rückblickend in den 50er- oder Festenberg für die 20er-Jahre. Ebenso finden sich Parallelen zu Hermann Ungars Beamtem zu Beginn oder Anselm Eders Beamten zu Ende des 20. Jahrhunderts. Notwendig für den Erhalt des Beamtengeschlechts scheint aber auch die Pflege jenes Andenkens zu sein, das an das gemütliche Dasein seiner Protagonisten nur gespickt mit allerhand Pikanterien und Skurrilitäten erinnert. Gerade durch die strengen Regeln und genauen Vorschriften wird als Pendant dazu das humoreske, anekdotische Detail geliebt. Dieses ist es auch, auf dem die verschiedenen Texte aufbauen, das sie bekömmlich und viele Protagonisten liebenswert macht. Wo diese Passagen auch die behördliche Disziplinierung verraten, erhalten sie satirische Züge. Dass die Beamten als Anhänger eines Donquichottismus reüssieren, ist vermutlich ein nicht erwünschter Nebeneffekt. Ein interessanter Vergleich zwischen Beamten- und Tierwelt, der durch das vergleichende Adverb „demgegenüber" an Schärfe gewinnt, kann als gutes Exempel für die freiwillig, unfreiwillige Komik gelten. Jan Base schildert vergnügt, wie der österreichische Staat jedem Beamten in Sarajevo ein Schwein vermachte. Da sich die moslemische Dienerschaft weigerte, solche Tiere überhaupt nur anzurühren, musste sich jeder Amtmann das ausgeloste Schwein selbst nach Hause führen. 309 Ebd. S. 229 310 Ebd. S. 231 311 J. Matiegka. A.a.O. S. 308 312 J. Base. A.a.O. S. 288
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„Dazu ist noch zu bemerken", so Base, daß in der Kriegszeit alle Beamten in der Öffentlichkeit in Uniform mit Degen und weißen Handschuhen auftreten mußten. Demgegenüber waren die Schweine gänzlich verwildert, gewöhnt an die Ruhe und Einsamkeit des Waldes, ausgelaufen, ganz sehnig, von Fett keine Spur.313
Allenthalben geht es in den Texten nicht nur um die Rekonstruktion und Dokumentation der Beamtendynastik, sondern auch darum, dem Reich der Beamten Farbe zu verpassen oder das Grau in seiner Feinstruktur sichtbar zu machen. Dafür sind auch Vergleiche zwischen Amtsleuten und Schweinen anstellbar. Durch die komödiantische Gestaltung, garniert mit Naturschauspielen, historischem Pathos und mythologischen Vergleichen, kann sich das Buch vom Leben der darin vorkommenden Figuren jedenfalls auf feine Art unterscheiden. Indem es damit auch an der Kontinuität gewisser Disziplinen arbeitet - und das über allfallige und fundamentale Brüche des Staates hinweg -, leistet es seinen Beitrag für den Erhalt des Status quo. Wenn sich dieser auch fundamental von Foucaults disziplinierter Moderne unterscheidet, kann er jedoch mitnichten als unbürokratisch bezeichnet werden.
C) Ö F F E N T L I C H K E I T S A R B E I T
Zuletzt soll noch jener Tätigkeitsbereich angesprochen werden, der besonders die Schreib- und Publikationslust gehorsamer Beamter anzuregen scheint. Distanziert von Kollegen und Bürgerschaft sind sie als Zielscheibe von Kritik und Häme besonders geeignet. Wenn sie ihre Arbeit und Zurichtung beschreiben, versuchen sie den Schmähungen ihre unkorrumpierte Haltung und ihren Fleiß entgegenzusetzen, was nicht selten erst recht wieder das Klischee des schrulligen Amtmannes bedient. Dass sie zudem Lücken im Disziplinarsystem zu schließen versuchen, ist ebenfalls ernste, aber vergebliche Liebesmüh. Aber ihre ehrliche Haltung und tiefe Uberzeugung gegenüber der administrativen Bedeutsamkeit für Staat und Bürger scheint sie gegenüber Misserfolg und Scham 313 Ebd. S. 224
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Abb. 21: Wir übrigen warteten, bis die Bevölkerung zurückkehrte, denn ohne sie hatten wir nichts zu verwalten. Jan Base
immun zu machen. Interessant ist, dass ausgerechnet diese Autoren, für die Diskretion ein Dogma zu sein scheint, Story und Anekdoten auf der Preisgabe von Behördeninterna gründen. Sie schildern kleinliche Regelungen, Laufbahnarbeiten oder Realisierungen großer Entwürfe in kargen Klausuren. Durch indiskrete Details werden die Praktiken in ihrer Regelhaftigkeit nachvollziehbar gemacht. Besonderes Augenmerk gilt jenen, die den Dienst verständnisvoll und korrekt versehen und mit ihrer Diszipliniertheit den ständigen Versuchungen von Korruption und Schlamperei standhalten. Öffentlichkeitsarbeit durch penibel zusammengetragene Einzelheiten des Amtsalltags zu leisten, um der Behörde wieder Reputation zu verschaffen, das scheint ein wichtiger Schreibanlass der Autobiografen zu sein. Zugleich soll damit coram publico jener Lohn eingefordert werden, der noch aussteht: die symbolische Auszeichnung oder der Aufstieg in eine höhere Rangklasse. „Betrübt" ist etwa Antonin Böhm, weil fast ausschließlich die Wiener Beamten mit Schmuck bedacht werden und man in den annektierten Gebieten, „wie
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gewöhnlich, leer ausging. Nun ja, für Orden bin ich halt auf einem unglücklichen Planeten geboren."314 Ahnlich interpretiert der Vater Luisa Häloväs die mangelnden Auszeichnungen, weshalb er nach vierzig Dienstjahren sehr enttäuscht [ist]. Er hatte unermüdlich gearbeitet, war in jeder Hinsicht gerecht und ehrlich. Obwohl er nichts erwartete, ärgerte ihn doch, daß ihm von oben keine Anerkennung zuteil wurde, und das wohl deshalb, weil er immer ein Tscheche blieb.315
Auch Eduard Bazika leistet in Tag- und Nachtarbeit Außerordentliches, als er die Gegend für das junge Kaiserpaar dekoriert. „Jedoch bedankte sich von keiner Seite irgendjemand, und so nahm ich mir als Dank die eigene Zufriedenheit."316 Weniger bescheiden gibt sich Jan Base, der sich „unendlich hintergangen und erniedrigt vor [kommt]", als er nach dem ersten Dienstjahr nicht einmal in die elfte Rangklasse aufrückt, „von der zehnten ganz zu schweigen". Wenn man bedenkt, wie die finanzielle Lage bei den subalternen Beamten aussah, wird verständlich, dass sich der Vermessungsbeamte vornimmt, „diese zehnte Klasse respektive deren Einkommensäquivalent unbedingt zu erreichen",317 ja der Kampfgeist kann durchwegs auf existenziellen Gründen beruhen. Nicht nur, dass das Gehalt äußerst bescheiden und viele Monatsmieten unerschwinglich waren, die Staatsdiener mussten auch standesgemäß gekleidet sein, in einer ansehnlichen Gegend wohnen und Dienstpersonal einstellen.318 Selbst wenn sich Standeszwänge und finanzielle Lage nach 1918 entschärft haben, scheint die Strategie der behördlichen Subjustiz in den Beamtentexten bis heute erstaunlich unverändert geblieben zu sein. Noch immer weicht sie wesentlich von den Disziplinartechniken Foucaults ab: So tiefgreifend die zeitliche und räumliche Disziplinierung bei Behörden auch wirken mag, durch 314 315 316 317 318
A. Böhm. A.a.O. S. 104 L. Hälovä: o.T. In: P. Vosahlikovä (Hg.): Von Amts wegen. A.a.O. S. 267-292, hier S. 279 E. Bazika: o.T. In: ebd. S. 113-150, hier S. 118f. J. Base. A.a.O. S. 182 Vgl. P. Vosahlikovä: Amter und Beamte unter Franz Joseph I. In: dies. (Hg.): Von Amts wegen. A.a.O. S. 7-40, hier S. 22ff.
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strukturelle Mängel im Kontroll- und Anerkennungssystem konzentriert sich der motivationale Schwerpunkt auf Rangkämpfe. Als korrigierende Maßnahme hat sich im österreichischen Staat bis heute hin die Verleihung von Titeln und Orden erhalten, womit allerdings erst recht das Disziplinarsystem unterlaufen wird. Wenn Michel Foucault schreibt, dass „die Anordnung nach Rängen und Stufen [...] die Abstände markieren, die Qualitäten, Kompetenzen und Fähigkeiten hierarchisieren", sie „aber auch bestrafen und belohnen" soll,319 wird deutlich, dass die Willkür von Auszeichnungen - wie in den Texten dargelegt - bürokratische Disziplin gefährdet. Gerade Eigeninitiativen, die auf private Karrieren abzielen, werden dadurch gefördert. Und sie tun der Behörde nur selten gut. Nachdem in den Darstellungen des Amtes weder die „Mikro-Justiz der Zeit (Verspätungen, Abwesenheiten, Unterbrechungen)" noch jene „der Tätigkeit (Unaufmerksamkeit, Nachlässigkeit, Faulheit)" funktioniert, sondern nur jene „des Körpers (.falsche' Körperhaltungen und Gesten, Unsauberkeit) [und] der Sexualität (Unanständigkeit, Schamlosigkeit)"320, klaffen im Herzen des bürokratischen Systems gefahrliche Lücken. Diese sind es denn auch, die via Öffentlichkeitsarbeit und durch brave Diener des Staates geschlossen werden wollen: durch die Darstellung persönlicher Tugenden, in Abgrenzung zu Fehlverhalten von Kollegen, aber auch durch die Naturalisierung abweichender Praktiken. Mit dieser Schreibarbeit holt sich klassisch normiertes Staatspersonal Auszeichnung oder mindestens das Verständnis einer Leserschaft, die ob der Eindeutigkeit der Texte und Zuschreibungen dem jeweiligen Ansinnen nur zustimmen kann. Dass es bei dieser Öffentlichkeitsarbeit bisweilen auch um die Anprangerung behördlicher „Missstände" geht, nicht nur bei amtsfernen Autoren, sondern auch bei schriftstellernden Beamten, wird vor allem bei der Frage nach der Verantwortlichkeit deutlich. Im Konflikt zwischen dem Pflichtbewusstsein des Befehlsempfangers und dem idealistischen, kreativen „Selbstdenker" kulminiert eine der wesentlichen Problematiken klassischer bürokratischer Systeme. Als eine wichtige Ursache hierfür wird in der Literatur die Geheimkultur ausgemacht, die aus der hierarchischen Struktur oder örtlichen Abschottung ebenso wie aus den strategischen Allianzen für die Laufbahnarbeiten resultiert. 319 M. Foucault. Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 234 320 Ebd. S. 230
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Der technische Beamte Bazika schreibt, dass er nicht wusste, was „sie" mit ihm „vorhatten",321 der Vermessungsbeamte Base erzählt davon, wie die „durchdringenden Änderungen [...] immer und überall über lange Zeit hinweg ein tiefes Amtsgeheimnis zu sein [pflegen], und so gab es in den Amtern viel leeres Gerede darüber, was sich anbahnte"322. Gemeinsam mit den Beamtenprotagonisten können die Leser nur spekulieren, wenn es um Versetzungen, Aufstiege oder bevorstehende Verordnungen geht, die unmittelbar den Alltag der Beamten betreffen. Die Allianz mit dem Leser, die über identifikatorische Schreibweisen und den Verzicht auf das Amtsdeutsch angeregt wird, verwischt die klare Grenze zwischen Bevölkerung und Amt. Stattdessen zielen die Beschreibungen auf Verständnis ab und erinnern an die Lage der Bürger, die selbst oft unwissend bleiben und, ohne einen Uberblick zu haben, den behördlichen Maßnahmen und Mechanismen ausgeliefert sind. Dass es mehr um ein gemeinsames Leiden und Ertragen geht, erkennt man daran, dass Lösungsvorschläge nur sehr spärlich zu finden sind. Uberhaupt scheint Kreativität im Umgang mit Problemen nicht besonders erfolgreich zu sein, und in den Texten wird davon sowohl den Behördengängern als auch der Beamtenschaft dringend abgeraten. So bleibt als Grundtenor der Beamtenbücher, banal und schockierend, der Wille zur Konservierung des Status quo. Schließlich müsse das, was im Alltagsdiskurs unter dem Begriff Bürokratie verstanden wird - Gehorsam, Obrigkeitsdenken, penible Regelungen, pedantischer Vollzug, mangelhafte Transparenz beibehalten werden. Selbst wenn sich die Amtsleute Feinde machen, als „unproduktiv" gelten und Unverständnis oder Spott ernten, bleiben die Beamtenautoren den Strukturen treu verhaftet und belegen die Sinnhaftigkeit moderner administrativer Praktiken: Entweder zeigen sie, dass „Bürokratie" auch in den kleinen Ausläufern und Dimensionen notwendig sei, oder sie legen dar, inwiefern sie selbst Opfer sind, welche Bremsfaktoren notwendige Modifikationen blockieren und warum dann doch alles so weitergehen müsse wie bisher. Auch die Unwirtschaftlichkeit der Behörden wird gemeiniglich als sine qua non ausgegeben. Dass Ökonomisierungsversuche aber nicht nur an Vorgesetzten, sondern auch an begüterten Privatpersonen scheitern können, dieser Zu321 E. Bazika. A.a.O. S. 135 322 J. Base. A.a.O. S. 197
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sammenhang wird in der Literatur des gesamten Jahrhunderts gern als Wesenszug der Moderne herausgestellt: weil die reichen Leute weniger Steuern zahlen wollen, Beamte ausnutzen und unter Druck setzen oder selbst noch kleinlicher sind als die Diener des Staates. In der dreitausendseitigen Autobiografie eines Gerichtsadjunkten findet sich eine der seltenen Textstellen, in der ein Beamter, umgekehrt wie normalerweise, einer konkreten Regelung zuwiderhandelt, um einer allgemeinen Anweisung zu folgen. Mit unverhohlener Sympathie für den kleinen Schreiber schildert der Autor, wie dieser den Aufruf des Ministerpräsidenten zu Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Beschleunigung ernst nimmt. Statt von je 20 Beklagten einen lächerlichen Entschädigungsbetrag einzufordern, schickt er die Gesamtrechnung jenem Privatmann unter ihnen, der am reichsten ist. Damit versucht er Postspesen und Arbeitskräfte einzusparen und eine Sache zu beschleunigen, die schon ein halbes Jahr gelegen ist. Der Rechnungsempfanger klagt prompt, weshalb der Ökonomisierungsversuch auffliegt und die Existenz des Schreibers gefährdet wird. Noch im „Fiebertraum" sieht der kleine Beamte, wie zwanzig Briefträger im Regen und Schlamm zu zwanzig Orten eilen, wie darüber zwanzig Leutchen fluchen, die statt fünfzig Heller eine Krone und sechzig Heller bezahlen, und wie der Maurer, der zwanzigmal fünfzig Heller bekam, dem Briefträger dafür aber zwanzigmal fünfzig Heller für die Zustellung zahlen mußte, die Maurerkelle nahm und dem armen Briefträger den Kopf abschlug .. ,323
Zwar kristallisiert sich das Gewaltpotenzial nur im Unterbewussten heraus - in jedem Fall aber leisten solche Textstellen Öffentlichkeitsarbeit. Indem sie den Zwang schildern und die Notwendigkeit, ihm ausgeliefert zu sein, fordern sie Verständnis ein. Verstanden werden soll die Amtstätigkeit als Aufopferung, die fiir die Kontinuität notwendig ist. Allenthalben sind die Texte darauf ausgerichtet, zu zeigen, warum Regelungen, Verhaltensweisen, Gesten so und nicht anders sind und unverändert beibehalten werden. Eindrücklich machen die Autoren klar, wie störend Parteienverkehr und vagabundierende Beamte sind, wie notwendig Loyalität gegenüber 3 2 3 F. P r o c h ä z k a . A.a.O. S. 7 3 - 7 6
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dem Staat ist - aus persönlicher oder herrschaftlicher Perspektive. Sie geben Blicke hinter die Fassade frei, sodass unbegründete Befehle schlagartig logisch werden. Der Katalog der behördlichen Subjustiz wird plötzlich einsichtig. Dass die Autoren auch Kritik anbringen, Mechanismen anprangern, die ihnen unangenehm sind, versteht sich von selbst. Schließlich versuchen sie doch - trotz oder gerade durch die Schilderung marottendurchsetzter, oftmals qualvoller Lebensbedingungen - noch, den „bürokratischsten" Staatsdiener als natürlichen Menschen aus dem Geschlecht der Beamten darzustellen: als schwierige, anders funktionierende, aber dennoch liebevolle und zu Unrecht verschmähte und gequälte Persönlichkeit. Zu diesem Zweck entschlüsseln die Autoren amtsinterne Codes und geben Blicke in geheimnisvolle Zonen preis, die gewöhnlichen Behördengängern nicht zugänglich sind. Und doch dient die Beamtenprosa der Konsolidierung der Zweifrontengesellchaft. Die Freigabe administrativer Geheimnisse fuhrt nicht zur Komplizenschaft zwischen Beamten und Staatsbürgern: Je konkreter die Regelungen und je facettenreicher der behördliche Alltag ausgeschildert ist, desto definitiver wird die Behörde als geschlossene Gesellschaft von Individuen und von anderen Räumen abgegrenzt. Durch die Schreibarbeit der Beamten wird jedenfalls weniger eigenes Leben geordnet als das geordnete Leben zum Eigenen und Besonderen gemacht. Als Versuche, minutiöse Subjektivierungsweisen zu installieren und zu klären, als Ansammlungen facettenreicher Anpassungspraktiken können diese Texte gelesen werden. Statt „individuelle Besonderheiten [zu] reduzieren", werden sie liebevoll herausgearbeitet. Aus der „Gliederung" wird nicht „die größtmögliche Wirkung gezogen", sondern auf ihrer Basis eine Aura hergestellt, die auf „Messungen der Quantitäten" weitgehend verzichtet. Die Bewegungen werden nicht „analysiert", sondern in einen Kosmos integriert, der harmlos und plätschernd, friedlich und konsequent bleibt324 und sich jeglicher Ökonomisierung entzieht. Insofern wirkt die Beamtenliteratur positiv auf die Kontinuität der Beamtenordnung und naturalisierend auf die bürokratischen Prozesse, und zwar vor allem aufjene, die sich in großem Stil den klassischen Disziplinarkünsten entziehen. Ausgerechnet dort aber wird das behördliche Eigenleben nicht nur angreifbar, sondern auch beschaulich und vielfaltig. 324 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 191
B Ö K O N O M I E UND PERFEKTION Heimrad Bäcker: nachschrift und nachschrift 2325 Ich erkenne bloß die ungeheuren Vorteile der Schlamperei. Die Schlamperei hat schon Tausenden von Menschen das Leben gerettet. Bertolt Brecht Konventionelle Prosa vermag, wie sichtbar wurde, einiges zum Verständnis des Lebens in der Behörde beizutragen. Gerade durch die peniblen Berichte über Gestik und Taktik, über zeit- und raumgebundene Verpflichtungen werden Disziplinartechniken in vielen Details sichtbar gemacht. Auf der Basis traditioneller erzählerischer Muster und unter Verzicht verwaltungssprachlicher Elemente verliert die bürokratische Ordnung jedoch Ausmaß und Künstlichkeit. Absurdeste Disziplinarordnungen werden naturalisiert, nur weil sie verbreitet sind und deshalb als normal und natürlich angesehen werden. Sie werden in Anekdote und Satire durchwegs unterhaltend präsentiert und lediglich als konsequente Eckpunkte nachvollziehbarer Praktiken dargeboten. Ganz andere Zugänge ermöglichen demgegenüber die Mittel der konkreten Poesie, die durch den direkten Einsatz bürokratischer Sprache den Kontrast zwischen Masse und Individuum, Mensch und Maschine thematisieren können. Zugunsten von Struktur- und Ordnungseinsichten verzichtet sie auf Identifikationsangebote, die das Leben der Disziplinargeseilschaft als wiedererkennbare, zutiefst menschliche und natürliche Lebensform ausgeben. So können in konkreten Texten eher Funktionen und Mechanismen der Bürokratie transparent gemacht werden, und zwar über die gewöhnliche Rezeption hinaus, während in traditioneller Prosa historische und soziologische Versatzstücke - über Biografíen klischeehafter Amtspersonen etwa - in ein bekanntes Weltbild einsortiert bzw. einsortierbar sind. 325 Heimrad Bäcker: nachschrift. Graz/Wien 1993 und ders.: nachschrift 2. Graz/Wienl997. Die Bände werden hier mit I und II zitiert.
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Mit der Konzentration auf „poesiewidriges" Material, wie Zahlen oder Aktenvermerke, provoziert die konkrete Poesie Störungen der eingeübten Lesart, statt diese zu bedienen, obwohl die eingebrachten Formen aus anderen Kontexten sehr wohl bekannt sind. Gerade bei der Beschäftigung mit Bürokratie sind aus diesen Irritationen beachtliche Gewinne zu ziehen. Weil die „Nachschriften" Heimrad Bäckers dazu zwingen, sich den bürokratischen Phänomenen ohne Narration und Metaphorik zu stellen, wodurch für gewöhnlich naturalisiert und verniedlicht, verschönert oder dämonisiert wird, muss dieses Werk zu den außergewöhnlichsten und bedeutendsten Beiträgen bürokratischer Poesie gezählt werden. Dem Autor gelingt es, behördliche Disziplin und Amtssprache auszustellen, ohne das Ausmaß zurechtzustutzen; er vermag ebenso - bei Verzicht auf kohärent und lebensnah aufbereitete Schicksale - die Bürokratie in einem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang auszustellen und deren Taxonomie penibel auszudifferenzieren. Die Lektüre der „Nachschriften" ermöglicht Erfahrungen mit dem bürokratischen Spracharsenal, der Wirkmächtigkeit von Schriftstücken und der Nachhaltigkeit von Kategorisierung und Terminologisierung, Spezialisierung und Funktionalisierung, indem aufjene Bestandteile bürokratischer Organisation zurückgegriffen wird, die für sie konstitutiv sind und die in den prosaischen Sätzen für gewöhnlich verlustig gehen. Die Besonderheit der bäckerschen Texte liegt jedoch nicht nur darin, dass sie sich von der Bürokratieliteratur mit ihren - wenn auch oft gestörten - identifikatorischen Angeboten und deren narrativem Charakter abheben. Die Einzigartigkeit zeigt sich auch im Unterschied zur dokumentarischen Literatur, indem Bäcker radikal aufjegliches außerdokumentarische Material verzichtet und alle verwendeten Materialien in wissenschaftlicher Manier nachweist. Andererseits setzt er sich auch von jener poetischen Arbeitsweise mit Schrift- und Lautbild ab, wie sie in der konkreten Poesie dominiert, indem er zwar deren Textverfahren nutzt, Sprache jedoch zu einem Instrument macht. Außerdem ist und bleibt die außersprachliche Wirklichkeit stete Referenz und zwanghafte Folie, egal wie reduziert das Ursprungsdokument ausgestellt ist. Brisanz erhalten Bäckers „Nachschriften" vor allem durch das Thema, den nationalsozialistischen Ausrottungsprozess, in dem Gewalt und Grausamkeit bislang ihren Höhepunkt erreicht haben. Allerdings veranschaulichen viele Texte allgemeine Strukturen und Muster, die auch in aktuellen Ordnungsver-
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suchen der Staatsapparate als zutiefst problematische auszumachen sind. Dass Bäcker, v.a. im zweiten Band nicht immer eindeutig macht, ob der Text von Tätern stammt oder wissenschaftlicher Aufarbeitungsliteratur der Nachkriegszeit entnommen wurde, verstärkt diese Lesart auf unangenehme Weise.
1 Verteilung d e r Individuen im R a u m
Jene Disziplinarmethoden, die die örtliche, geografische Organisation der Menschen bezweckt, werden in Bäckers „Nachschrift" auf verschiedenen Ebenen dargestellt: Zum einen wird die „Kunst der Verteilungen"326 über die verschiedene Herkunft der Texte und die Unterschiede der Textsorten sichtbar gemacht. Der Autor entnimmt die Zitate aus ortsgebundenen Verordnungen, lokalen Zeitungen, behördlichen oder privaten Briefen, aus den Archiven oder von den Wänden der Konzentrationslager, aus Tabellen der Beamten, von Tagesordnungen der Führung sowie aus den protokollierten Aussagen bei den Nürnberger Prozessen und der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Holocaust. Damit wird der Ausrottungsprozess von verschiedensten geografischen und hierarchischen Punkten aus dargestellt, die von Wien nach Auschwitz, von der Wohnung zur Fabrik, vom kleinen Büro des Beamten zur Machtzentrale, von den Baracken zur Leichengrube fuhren. Von allen Ecken des Deutschen Reichs, aber auch von allen Bereichen der Konzentrationslager zitiert Bäcker Stimmen und Formulierungen, Sätze und Zahlen. Die raumordnenden Imperative dringen bis in kleinste und privateste Orte vor und befehlen die Trennung aller Individuen: Wie der Autor anhand einer Vergehensliste verdeutlicht, gelten die Verordnungen für die gesamte Bevölkerung und betreffen Geschäfte, Freizeiteinrichtungen, öffentliche Räume, Wohnhäuser und Ehebetten (vgl. I/12f.). Damit wird die totale Erfassung der damals lebenden Menschen, die totale Durchforstung nach Opfern und die totale Organisation des Massenmordes auf bestechende Weise sichtbar gemacht. Zum anderen erfasst Bäcker die Totalität des Holocaust dadurch, dass er der strategischen Aufteilung aller Menschen in zwei Kategorien nachgeht, jener mit 326 Vgl. M. Foucault. Überwachen und Strafen. A.a.O. Kapitelüberschrift. S. 181
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und jener ohne Lebensrecht. Nach dieser Differenzierung zeichnen die Texte penibel den Weg der Opfer in den Tod und darüber hinaus nach. So drückt sich die Chronologie der Ausrottung vor allem durch die laufende Einschränkung und Verengung der Tatorte, aber auch durch die radikale Dezimierung der Täter aus. In den vier Phasen, die die Ausrottung streng geordnet durchläuft, legt der Autor einen Prozess offen, mit dem vielleicht auch das aktuelle Unbehagen bei Ausländerdebatten oder der Weltordnungspolitik etwas erhellt werden kann.
A) KATEGORISIEREN
Wo es erst um die Vorbereitungen zur Voraussetzung der Massenmorde geht, zitiert Bäcker Texte, die auf die Zweiteilung der Menschen und die gegenseitige Abgrenzung abzielen. Die „Nachschrift I" zeichnet auf den ersten Seiten die Arbeit an der Kategorisierung und Identifizierbarkeit nach. Dort geht es um die Angst, den Judenstern nicht zu tragen (1/7), um die Verordnungen zur Kennzeichnung der Wohnung (1/9); es finden sich Aufzählungen der Wiener Parkanlagen und Grünzonen mit der abschließenden Weisung „als ausflugsgebiet verboten" (1/10) und Listen mit Dienstleistungen, öffentlichen und privaten Fortbewegungsmitteln ... (1/15). Zu lesen ist aber auch eine zweiseitige Aneinanderreihung von „Delikten" aus den „Tagesnachrichten" und „Gerichtsurteilen der Gestapo", in dem die Verfeinerung der Kategorisierung sowie die stete Vergrößerung der Opfergruppe sichtbar wird. Denn dort scheinen nicht nur jene als Gesetzesbrecher auf, die ohne freie Entscheidung Opfer sind und sich als solche nicht an die entsprechenden Regelungen halten („weil sie sich im prater aufgehalten haben", „weil er mit deutschblütigen personen freundschaftlichen verkehr unterhielt"), sondern auch Menschen, die widerständig sind und erst durch ihr Verhalten der Opferkategorie der Nationalsozialisten zufallen: weil im letztgenannten geschäft einer jüdin 1 kg keks verkauft wurde/weil sie versucht hat, dem landesgerichtspräsidenten eugen israel stein eine größere menge lebensmittel zu überbringen [...] (I/12f.)
Im Gegensatz zu diesen Dokumenten zivilen Ungehorsams wird in keiner Textstelle - auch in dieser Liste nicht - auf Denunziationen bzw. auf die frei-
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willige tüchtige Mitarbeit der Bevölkerung hingewiesen. Die einzige Seite der zwei Bände, die sich eindeutig auf die individuell entscheidbare Beteiligung der Bürger bezieht, legt nahe, dass die private Unterstützung des Regimes nur dann vorhanden war, wenn mit Geld belohnt wurde, „die kopfprämienaktion" (11/59), diese zwei Wörter zitiert Bäcker zentriert am oberen Rand der leeren Seite und spezifiziert im Anhang: „Kopfprämie (in steigender Höhe) für die Meldung noch nicht erfaßter holländischer Juden". Nach dem Stand der Forschung sollen große Teile der Bevölkerung nicht nur an der Ausgrenzung beteiligt gewesen sein, sondern viele hätten entscheidende Mithilfe geleistet und Regelungen der Nürnberger Gesetze denunzierend und handelnd vorbereitet.327 Es ist ratsam, sich dieser Tatsachen zu vergegenwärtigen, wenn man in den Bann der Poesie Bäckers gezogen wird und allzuschnell antibürokratische Reflexe verspürt. Schließlich hat der Autor seinen konzentrierten Blick auf ein ganz anderes Thema gerichtet. Ihm geht es um das System und nicht um die Lebenswelt, um das Grauen der Ordnung und der Gesetze und nicht um ein Individuum und dessen Verantwortung. Dementsprechend erscheint in den „Nachschriften" der Ausgrenzungsprozess als angeordnete Verteilung der Personen im Raum, für die höchstens eine Befehlselite zuständig und verantwortlich ist, während die Bevölkerung und die subalternen Beamten ihren Pflichten nachkommen, so entscheidend ihr Gehorsam auch gewesen sein mag. Während H. Bäcker nach den Texten der sogenannten Rassentrennung in der „Nachschrift I" mit den Aufzeichnungen der Deportationen fortfahrt, setzt der zweite Band bereits mit Dokumenten aus den Ghettos und den Massenmorden ein, wo ebenfalls wiederholt behördliche Antworten auf Fragen der Kategorisierung zitiert sind. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt die totale Vernichtung der Opfer wahrscheinlich noch nicht feststand, wählt Bäcker ausschließlich jene Texte aus, die eindeutig darauf abzielen. Die konsequent durchgehaltene Bruchstückordnung sowie die Regulierungsakte bezüglich Ausnahmen und Einzelfallen beschwören immer wieder das Totalitäre des Holocaust herauf. Bestes Beispiel hierfür ist der Text auf den Seiten 14 und 15 (II), bei dem der Autor aus Inhaltsverzeichnis und Anhang einer historischen Arbeit von 1993 neun Mal 327 Vgl. z.B. L. Rees: Die Nazis. Eine Warnung der Geschichte. München/Zürich 1997. S. 73ff„ oder R. Gellately: Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Paderborn 1993
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das Wort „(fotokopie)" und daneben eine steigende dreistellige Zahl (von 153 bis 173) untereinander ordnet, wobei die Zahlen erschreckenderweise Lücken aufweisen. Das zeigt, dass die Uberschaubarkeit des Schreckens nur scheinbar ist, weil die Vorstellungskraft versagt. Dass der Nachwelt nur Ausschnitte zugemutet werden, die selbst von verzerrender Verkleinerung sind, kann jedoch nur deshalb seine grauenvolle Wirkung entfalten, weil eine Einzelregelung beigefügt ist. In der fünften Zeile wird die Ordnung nämlich durch einen Satz unterbrochen, der vom linken Blatt in die Kolonne der rechten Blattzeile einsortiert ist, der da lautet: „in den häusern zurückgelassene kinder wurden sofort im getto auf dem hofe exekutiert 157" (II/14f.). Auch wenn dieser Text aus der wissenschaftlichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen zitiert, wird durch die grafische und repetitive Struktur die Tötungspraxis als geordneter, bürokratischer Prozess ausgewiesen. Nicht zuletzt kann nachvollzogen werden, wie schwierig es war, dem Ausgrenzungsprozess und der Vernichtung zu entgehen. Neben diesen drastischen Beleg in bürokratischer Schreibweise stellt der Autor Sätze von Befehlsempfangern, die auch ungenaue Anordnungen als klare Vernichtungsbefehle interpretieren. So zitiert Heimrad Bäcker etwa aus dem Brief eines Kommandanten, in dem er die Sinnhaftigkeit eines Befehls anzweifelt, weil er ihn als Befehl zum Mord interpretiert: weiber und kinder in die sümpfe zu treiben hatte nicht den erfolg, den er haben sollte, denn die sümpfe waren nicht so tief, daß ein einsinken erfolgen konnte
(n/8). In der historischen Forschung gibt es zahlreiche Auseinandersetzungen mit diesem Befehl, weil er Ausrottungsabsichten der Nazielite bereits Ende Juli 1941 dokumentieren könnte. Es gibt aber auch Auslegungen, dass er gar nicht auf Mord abzielte.328 Dass es Heimrad Bäcker im Gegensatz dazu darum geht, das totale Vernichtungsziel der Nazis von Anfang an festzuschreiben, zeigt er durch Auswahl und Präsentation des Materials. Der Eindruck entsteht, dass alle Stellen von Anfang an der Vernichtung entgegengearbeitet haben, die bürokratisch festgelegt war und ebenso bürokratisch durchgeführt wurde. Auch durch die räumliche An328 Vgl. L. Rees zusammenfassende Darstellung in: Die Nazis. A.a.O. S. 228f.
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Ordnung der durch römische Ziffern abgeteilten Kapitel im Band II wird der Prozess als konsequent durchgeführter Plan ausgewiesen, bei dem die Ausdifferenzierung der Opfergruppe der erste Schritt der Vernichtung ist. In diesem Sinn ist es nur folgerichtig, wenn der Autor auf Texte aus den umstrittenen Alternatiworschlägen der Nazis verzichtet, wie etwa der Deportation der Juden nach Mauritius. Ebenso fehlen Dokumente aus den Arbeitslagern: Die deportierten Menschen enden ausschließlich in Konzentrationslagern und Kliniken. Mit dieser Auswahlentscheidung lässt Bäckers Werk auch aktuelle Kategorisierungspraktiken in anderem Licht erscheinen, wie sie etwa in der Zuwanderer- und Asylantenpolitik oder in der Recherche nach Migrationshintergründen in der letzten, vorletzten oder vorvorletzten Generation angewandt werden. Wie eine derartige behördliche bzw. wissenschaftliche Behandlung zu Diskriminierungen führen kann, ist im aktuellen österreichischen Nationalratswahlkampf zu sehen. Vor allem aber zeigt der Autor, dass die penible Sortierung in anerkanntere und weniger anerkannte Menschengruppen immer schon Teil einer Misshandlung ist und zugleich immer nur ein erster Schritt bleibt.
B) DEPORTIEREN
Als zweiten Schritt im Vernichtungsprozess wählt Bäcker Aufzeichnungen über die Transporte. Sie veranschaulichen vor allem die quantitative Dimension des Verbrechens. Deshalb ändern sich in diesen Abschnitten auch die präferierten Textsorten. Sie enthalten mehr Zahlen und Nummerierungen, Klauseln und Abkürzungen oder sind überhaupt darauf beschränkt. Während bei der Vorbereitung der Deportationen noch öffentliche Anordnungen zitiert werden, die z.B. dafür sorgen sollen, dass die Ofen in den verlassenen Wohnungen nicht mehr brennen (1/17) oder dass die Schlüssel zurückgelassen werden (1/19), wird die Organisation der Transporte immer mehr durch geheime oder verklausulierte Weisungen charakterisiert. Wenn zuvor in den zitierten Akten noch einzelne Namen, Berufsbezeichnungen oder ein- bis zweistellige Opferzahlen aufscheinen, verschwinden bei den Texten der Deportationen Namen und Kennzeichen der Opfer in gigantischen Zahlen. Zugleich verlieren sich die eh schon spärlichen Handschriften der Täter immer mehr in anonymen Aufzeichnungen, indem sie vermehrt auf Zahlen, Abkürzungen und vorgegebene Terminologisierungen beschränkt bleiben.
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So findet sich unter dem Titel „ z ü g e d a v i d " die Auflistung der Deportationszüge von „Da 202" bis „Da 218". Die Bezeichnung ist ausgesprochen zynisch, besonders wenn man bedenkt, dass sie als Tarnname nicht gut funktionieren kann und Rückschlüsse ermöglicht. Die hohen Zahlen und deren lückenlose Aneinanderreihung lassen aber darauf schließen, dass die Deportationen trotzdem schnell, problemlos und in erschreckendem Ausmaß durchgeführt wurden. Mehrere Texte geben auch dezidiert Auskunft über Verordnungen von Decknamen und Sprachregelungen sowie über die Pflicht der Geheimhaltung. Auch diese zitierten Dokumente gehören zum Alltagsarsenal aller bürokratischen Systeme. Indem Bäcker nur Teilsätze wiedergibt, wird diese Gemeinsamkeit betont (vgl. 11/28,11/53). Wie in Foucaults Strafinstitutionen radikalisiert sich hier die Spaltung in Beamte und Insassen, die dem Bürger nicht mehr in den Blick kommen. Eine kleine Tätergruppe organisiert fernab der Bevölkerung die „transportierung vonjuden" (vgl. 11/53) bzw. die „judenumsiedlung" (vgl. 11/28), die von ebenso subalternen wie hochdisziplinierten Menschen durchgeführt wird. Jene Bürger, die nicht als Opfer ausgewählt wurden, sind - folgt man der Logik der „Nachschrift" - spätestens ab diesem Zeitpunkt nicht mehr von den Maßnahmen betroffen und werden davon nicht mehr in Kenntnis gesetzt. Sie bleiben aber sehr wohl von diesem zweiten Schritt wesentlich tangiert. Gerade weil Bäcker das Ausmaß der Deportationen veranschaulicht, lässt er förmlich spüren, wie enorm die Lücken gewesen sein müssen, die gerissen wurden. Wie im ersten Kapitel durch die Kategorisierung, die Berufs- oder Aufenthaltsverbote demonstriert wurde, wie viel Raum und Positionen frei wurden, wird diese Leere hier noch einmal potenziert.
C) TÖTEN UND AUFRÄUMEN
Nach den Texten, die die Deportationen und den dabei in Kauf genommenen Tod vieler Menschen zum Inhalt haben, zeichnen die nächsten Abschnitte der „Nachschriften" jedoch nicht die Neubesetzung der leeren Orte nach, sondern verfolgen die weitere räumliche Verteilung der Opfer. Hier geht es vorerst um die organisierten Erschießungen und deren Tatorte sowie später um den Weg zu den Gaskammern und in die Verbrennungsöfen. Einerseits wird dieser Prozess durch die Zusammenstellung verschiedener Perspektiven vorgeführt, andererseits zeichnet
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Heimrad Bäcker diesen Weg auch in Einzeltexten nach (vgl. 1/47). Immer wieder muss der Leser diese Bewegungen in den Tod nachvollziehen, die manchmal beschleunigt, oft aber durch die Wiederholungen und das Anfuhren zahlreicher Details erbarmungslos verlangsamt sind. Tabellen, Weisungen und Anfragen vermitteln direkt und indirekt die Standorte der Opfer und dokumentieren ihre letzten Schritte. Nicht nur durch Zahlen- und Datenmaterial werden die quantitative Dimension des Verbrechens und der sachliche Zugang dazu verdeutlicht. Auch Prosasätze, in denen kleine widrige Umstände geschildert werden, inklusive der tüchtigen Beseitigung des Problems, vermitteln das Ausmaß und den technischen Blick auf die Vernichtung. Durch die Engführung auf ein Detailproblem und die Spezialisierung auf Tatorte wird der Kontrast zwischen massenhaft Ermordeten und einzelnen Mördern und Helfern besonders deutlich herausgearbeitet. die hinrichtungswand im hof von block 11, die mit korkplatten als kugelfang verkleidet war, sei abgerissen worden, der unterhalb dieser wand liegende sand sei abtransportiert worden, da er bis in eine tiefe von zwei metern mit blut durchtränkt gewesen sei (11/135).
Mit der Passivkonstruktion im Konjunktiv, in der korrekterweise die indirekte Rede wiedergegeben wird, kann gut verschwiegen werden, wer hier gedacht und gewerkt hat. Jedoch wird klar, dass hier viele Menschen getötet wurden und wenige wieder aufgeräumt haben. Die Organisation funktioniert wie bei den Morden in den Gaskammern: An kleinen für viele Morde adaptierten Orten wird stets an der technischen Pefektionierung laboriert. Die Registrierung der Arbeiten verweist auf spätere und andere Massenmordpraktiken und ist von den Schreibern wohl als Anregung fiir ähnliche Situationen und als Dokumentation im Sinne eines Personal- und Materialmanagements gedacht. Das obige Zitat stammt aus dem „Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945". Wie dieses veranschaulichen noch andere Texte Sektion und Gliederung der Toten und Leichenteile. Die Verteilung im Raum betrifft die gesonderten Wege der Leichen, Goldzähne und Körpersäfte, wobei der Autor durch die Anordnung innerhalb der Dokumente den Umgang damit sichtbar macht, der sich in nichts von der Behandlung diversesten Materials unterscheidet: Alles wird zum Objekt, ist gleichgewichtet, gleichgewertet und wird gleich registriert.
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16 räum für Sägemehl 17 räum für stroh 18 leichenstapel 19 blutabflußrinne 20 abfallgrube (1/87)
Ausschnitte aus penibel oder rigoros gestalteten Plänen und Registern verzeichnen neben den Wegen der Toten auch die Wege der Wertsachen und Habseligkeiten. Dabei wird nicht nur die ökonomische Denkweise offengelegt, sondern wiederum auch das Ausmaß erfahrbar gemacht. Gerade durch die Kombination dieser beiden Dimensionen, die nur über zutiefst bürokratische Organisation realisierbar ist, werden die Täter als sachliche, kalte Routiniers entlarvt. Beim Lesen dieser Texte entgeht keiner einem zutiefst unbehaglichen Gefühl. aus den magazinen des effektenlagers, genannt „kanada", die sich hinter dem lagerabschnitt Bllf zwischen den krematorien III und IV befinden, werden leere Kinderwagen weggebracht, sie werden auf dem weg, der von den krematorien zum bahnhof fuhrt, in reihen zu je fünf wagen geschoben; der abtransport dauert über eine stunde (11/141)
Abgesehen davon, dass jedes Täterdokument selbst den fiktiven Weg vom Geschehen zum Papier nachzeichnet - manchmal mehr, manchmal weniger deutlich -, sind große Teile der „Nachschriften" ausdrücklich dem Zusammenhang zwischen Tod und Todesregister gewidmet. Die Spanne zwischen Mord und Dokumentation ist auch räumlich, trennt die Schauplätze. Allerdings verdeutlicht Bäcker immer wieder, dass - einmal abgesehen von der Befehlsebene - an beiden Orten größte Verbrecher auszumachen sind, die nur in seltensten Fällen - wie die selbst tötende und dokumentierende Arztin (vgl. 11/227) - ein- und dieselbe Person sind. Immer verrät der Sprachgebrauch die Ausrichtung auf Vernichtung. Meist sind die Texte nur ganz kurz und füllen lediglich einen kleinen Teil der Seite. Eine Ausnahme bildet die sich über neunzehneinhalb Seiten (11/102-121) erstreckende Aneinanderreihung von Zigtausenden Morden in den Gaskammern.
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[. . .] in der gaskammer des krematoriums II werden 3000 frauen getötet/die übrigen menschen werden in den gaskammern getötet/in der gaskammer des krematoriums II werden 2000 jüdische männer, frauen und kinder getötet/in der gaskammer des krematoriums III werden 3000 jüdische männer, frauen und kinder getötet/die übrigen 800 menschen werden in der gaskammer des krematoriums III getötet/in der gaskammer des krematoriums III werden 3000 jüdische männer, frauen und kinder getötet/die übrigen menschen werden in der gaskammer des krematoriums III getötet/die übrigen menschen, darunter 79 männer, werden in den gaskammern getötet [...] (II/120f.).
Durch das Adjektiv „die übrigen" wird die Totalität des Vorhabens ersichtlich, und, da es so oft wiederholt wird, auch unüberlesbar und sinnlich erfahrbar gemacht. Die Passivkonstruktion ermöglicht das Verschweigen der Täter und betont den sachlichen Zugang zum Mord. Die Mischung aus präzisen und ungenauen Angaben hingegen verweist weniger auf eine schlampige, unkoordinierte Verwaltung, sondern auf die Adressaten dieser Registrierung: Es war nicht notwendig, manchmal aber wohl wirksam, gewisse Details einfließen zu lassen. Da es bei vielen Dokumenten offensichtlich auch um die Anerkennung durch die Nazielite und schließlich den Führer ging, sind einige Besonderheiten wohl auch der einzelnen Schreibkraft zuzuschreiben, die ihre Tüchtigkeit unter Beweis stellen wollte. Im Anhang der zitierten Stelle ist in der „Nachschrift" zu lesen, dass „das Ungefähre vieler Zahlen des Kalendariums [...] den troglodytischen Vorgang von Transport, Selektion, Vernichtung" spiegelt. Diese Bemerkung halte ich für bedenklich. Gerade im Ausrottungsprozess erwiesen sich die Nazis als unübertroffene Organisatoren, denen bestimmte Entscheidungen, Reihenfolgen und Daten im Hinblick auf das „Endziel" gar nicht wichtig sein durften. Ansonsten wäre die Vernichtung viel langsamer vor sich gegangen und schon viel früher bekannt geworden. Gerade diese Haltung, Ungenaues zuzulassen und auf Perfektion zu verzichten, bezeugt im Unterschied zur alltagssprachlichen Bedeutung des Begriffs Bürokratie keinen Mangel, sondern höchstes technisches Kunstwerk. Die „Nachschriften" enthalten beides: Klare, direkte, eindeutige Informationen, die keine Freiheiten gestatten, sowie offene Anweisungen und Formulierungen, die dem Schreiber eine gewisse Wahl ermöglichen. Exemplarisch für ersteres ist eine fast leere Seite, die durch einen vertikalen Strich in zwei
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Hälften geteilt ist: Über der einen Spalte steht „GETÖTET", über der anderen „ N I C H T GETÖTET" (11/29). Im Unterschied zu dieser ziemlich offenen Formulierung gibt es viele Texte, die die Morde nicht nachvollziehbar machen oder als natürliche Tode uminterpretieren lassen: Anweisungen für Formulierungen (vgl. 11/53, 207), Zitate aus den Registern („gestorben gemeldet") (1/91), aber auch eine Liste, die Gründe für die Morde, „Diagnosen", vereint, aus denen der Dokumentator auswählen kann (11/176). Die Bandbreite der fiktiven Wege vom Geschehen zur Registratur ist beachtlich. Nicht einmal die Reihenfolge vom Mord zur Todesnachricht muss eingehalten werden. So wird in Bäckers Texten auch die umgekehrte Richtung dokumentiert, wenn die „(meldepflicht für Selbstmordversuche)" angeordnet wird (1/70) oder von Opfern selbstverfasste Todesnachrichten mit Zeit- (vgl. 1/115) oder Ortsangabe (1/114) zu lesen sind. Außerdem zitiert der Autor aus einer Regelung, die Registrierungsfehler berichtigt: allerdings nicht am Papier, sondern in der Realität! w e n n der blockschreiber irrtümlicherweise eine nummer mit d e m vermerk „verstorben" versieht, kann solch ein fehler später einfach durch die exekution des nummernträgers korrigiert werden (11/124)
Gerade in diesen Sätzen bewähren sich die Mittel der Konkreten Poesie: Sie stellen eine Verbindung vom Geschehen zur Amtswelt und ihren Papieren her statt wie in fiktionalen Texten zu einer fiktiven Roman- und Lebenswelt. Die Identifikationsmöglichkeiten des Lesers sind wie im Behördenleben der Bürger gebrochen und verzerrt. In der herkömmlichen Prosa widersteht selbst der disziplinierteste moderne Mensch den fachsprachlichen Partikeln, die dort Fremdkörper bleiben und meist bloß komisch wirken. Vom Unbehagen in Amtern und im Umgang mit Amtspapieren ist dort nur mehr wenig zu spüren. In Texten wie der „Nachschrift" wird die Macht der Behörde schmerzlich bar jeder Ironie vorgeführt. Sie wird in jener bürokratischen Form veranschaulicht, die ob ihrer Reduziertheit Zusammenhänge mit der heutigen Welt herstellt, und ist wegen des makabren Themas auch nicht humorvoll aufzulösen. Dass Fehler in der Verwaltung möglich sind, gehört zum Erfahrungsschatz aller Bürger. In der Literatur werden sie normalerweise von der Behörde hartnäckig ignoriert und weitergeführt (vgl. insbes. den ersten Abschnitt). Dass sich die Staatsbürger mit ihnen arrangieren müssen, weil ein Akt nicht so einfach
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abgeändert wird und durch die Akkumulation von neuen Vermerken nur die Fehler der Behörde dokumentiert würden, hat auch Herzmanovsky-Orlando anhand von zwei realen Begebenheiten herausgearbeitet. Der irrtümlich für tot erklärte Käfermacher muss zwar Steuern zahlen, gilt aber weiterhin amtlich für tot. Nie jedoch käme die Behörde auf die Idee, das Problem durch Mord aus der Welt zu schaffen (vgl. oben). Bei Bäcker hingegen wird der Fehler weder ignoriert noch delegiert, sondern die Wirklichkeit dem falschlich gesetzten Vermerk angepasst. Dies eröffnet neue Perspektiven der Macht. Vordergründig wird auf die Exaktheit der Papiere Wert gelegt und Mord als einfacher hingestellt als die Korrektur eines Wortes. Das hat aber nichts mit amtlichem Perfektionismus zu tun, weil der Tod aller KZ-Häftlinge Ziel der Nazis war. Abgesehen von sadistischen Motiven, auf die die Regelung möglicherweise auch zurückzuführen ist, folgt sie einer wirkungsvollen Strategie totalitärer Systeme. Wie in Herzmanovsky-Orlandos Tarockei, aber auch in Kafkas Romanwelten, ist absoluter Gehorsam nur dann zu gewährleisten, wenn die herrschaftliche Gewalt fiir Untertanen und Opfer undurchsichtig und unberechenbar bleibt. Im Gegensatz zu den Opfern gibt es für die Täter in den „Nachschriften" nur indirekte Zeugnisse für die organisierte und geplante Verteilung im Raum: Fast entsteht der Eindruck, als ob sie sich immer auf dem optimalen Platz befanden, der dann über ihre Handlungen in den amtlichen Schriften dokumentiert wird. Keine Texte weisen auf angeordnete Veränderungen ihrer Standorte hin und schon gar nicht auf Mängel oder Fehlbesetzungen. Ebenso fehlen alle Hinweise auf Konkurrenzkämpfe oder Auseinandersetzungen im hierarchischen Feld. Außer der Führungsinstanz sind alle Täter gleichgestellt und unterscheiden sich nur in ihrer Funktionsstellung, nicht aber durch ihre symbolische Position. Somit erscheint - ganz im Gegensatz zu anderen Beamtentexten - die räumliche Organisation optimal verwirklicht, geradezu als geniale Realisation der foucaultschen Disziplinarmethoden. Dies trifft noch auf einen weiteren Punkt zu: Bäcker verdeutlicht, wie hervorragend die Geheimhaltung des Holocaust organisiert ist. Die Vernichtungsprozesse verschwinden langsam und kontinuierlich aus dem öffentlichen Bewusstsein. Je weiter die Ausrottung fortschreitet, desto kleiner wird der Täterkreis, desto weiter entfernen sich die Tatorte von den Lebensräumen der Bevölkerung. Sprachliche Regelungen schaffen eine weitere Distanz zum Bewusstsein
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der Bevölkerung. Der Leser allerdings wird mit den Opfern und Tätern auf jene Wege geschickt, auf denen die Vernichtung der Millionen von Menschen planvoll vorbereitet und durchgeführt wird. Mit verschiedensten Bildern und Texten zum Thema ausgestattet, bleibt vor ihm nichts unentzifferbar oder verborgen.
D) R I C H T E N
Seinem Thema entsprechend stoppt Heimrad Bäckers Werk nicht an jenem Zeitpunkt, als die Alliierten in den Konzentrationslagern eintreffen. Er schreibt auch die rechtlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Tätern aus der Nachkriegszeit nach und verwendet dazu Material aus Gerichtssaal, Gefängnis und wissenschaftlichen Publikationen. Mit dieser Herkunft der Dokumente kehrt das dokumentierte Geschehen in den öffentlichen Raum, in die Zentren des ehemals Deutschen Reiches zurück. Während in der „Nachschrift I" durch das gesamte Buch Zitate aus der Nachkriegszeit eingestreut sind, hat sie der Autor bei seinem zweiten Band am Ende konzentriert. Uber Zitate aus den Nürnberger Prozessakten vollzieht sich die räumliche Zusammenfuhrung einiger weniger Täter und weniger überlebender Opfer. Wie schon in den Abschnitten zuvor wird der Massenmord als große Organisation dargestellt, in der einzelne Täter mit Detailaufgaben betraut waren, über die hinaus sie keine Verantwortung zu tragen hatten. Auch im Nachfeld der Vernichtung erfüllen alle Täter optimal ihre Rolle als Staatsdiener, ganz im Sinne des idealtypischen Beamten der Bürokratie (vgl. Max Weber), „mir oblag lediglich die durchführung der tötung" (11/170), zitiert Bäcker und demonstriert die Eigenwahrnehmung des Täters als Pflichterfüller sachlicher Angelegenheiten auch im fachsprachlichen Duktus der passivischen Konstruktion und der Nominalisierung. Ob die Angeklagten darüber hinaus noch etwas wahrgenommen oder gedacht haben, erfahren wir nicht. Wie in folgendem Verhör delegiert der Autor Fragen an den Leser, der über die Offenheit der Texte zum Objekt der Befragung avanciert. Er muss selbst in die Rolle des Angeklagten schlüpfen und die letzte Antwort geben: wissen sie etwas von der schwarzen wand ? nein. wissen sie etwas von der kiesgrube ?
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nein. wissen sie etwas vom block 11 ? nein. wußten sie etwas von den gaskammern ? nein. haben sie die lodernden flammen gesehen? (1/55)
In tragischem Einklang mit dem dokumentierten (vorgeblichen ?) Unwissen und Unglauben mancher Tätertexte stehen die meisten Opfertexte. Bezeichnenderweise entstammen sie jeder Phase der Vernichtung: Sie wurden in den Ghettos, während der Deportationen, in den Konzentrationslagern und der Nachkriegszeit geschrieben. Bäckers „Nachschriften" sind demnach ein dringender Aufruf an alle Teile der Bevölkerung und zugleich eine praktische Übung, den eigenen Wahrnehmungsbereich zu erweitern: über die begrenzten Funktionsstellen, aber auch über schonende Tabuzonen hinaus. Die veränderten Perzeptionsmöglichkeiten drängt das Werk bei der Lektüre selbst auf. Insbesondere dort, wo der wissenschaftliche und rechtliche Diskurs zitiert wird, werden Bäckers Bücher unangenehm aktuell. Sie bedienen sich desselben sprachlichen Duktus und damit ähnlicher disziplinarer Techniken wie die Texte der Vernichtungszeit, womit der Autor eine brisante Kontinuität der Kriegsüber die Nachkriegszeit bis heute herstellt. Bisweilen machen sich die Klägerdokumente wie ein Echo der Verteidigung aus, wenn der Autor zitiert: eine teilnähme an mordtaten oder quälereien über den bestimmungsgemäßen betrieb des Vernichtungslagers hinaus wurde ihm nicht angelastet (11/201)
Mitunter verweist Bäcker durch Montage und Auslassungen bei den wissenschaftlichen und rechtlichen Texten der Nachkriegszeit auf dieselben Sprechweisen und Strukturen, ja auf dieselben Grundhaltungen. Manche Texte, würden sie nicht zwischen eindeutig der Nachkriegszeit zuweisbaren Zitaten stehen, könnten leicht für NS-Dokumente gehalten werden. So etwa beim Auszug aus dem Gerichtsurteil der Nürnberger Prozesse, wo es um die Verurteilung der 12 Massenmörder geht (vgl. 11/210). Ebenso zynisch sind die Zitate aus dem
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wissenschaftlichen Diskurs, der mit mathematischen Methoden „historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz" nachweist (vgl. 11/222). Bei folgendem Text ist gar nicht festzustellen, ob er den Archiven der nationalsozialistischen oder wissenschaftlichen Publikationen der Nachkriegszeit entstammt, d.h. ob er dem Zweck der Ausrottung oder deren Aufarbeitung diente oder gar nichts mit dem Holocaust zu tun hat. unausgeglichene werte beobachtete tote ausgeglichene werte rechnungsmäßige tote unterschiede zwischen beobachteten und berechneten toten unausgeglichene Sterbenswahrscheinlichkeiten beobachtete tote ausgeglichene Sterbenswahrscheinlichkeiten
rechnungsmäßige tote unterschiede zwischen beobachteten und berechneten toten schlußkurve (1/125) Uberraschend klärt sich über die Herkunft des Zitats im Anhang zumindest der Zweck der Berechnung: „Sterbetafeln des Deutschen Vereins fiir Versicherungswissenschaft, Heft XXXX." So findet im letzten Teil eine Entwurzelung mehrerer Texte statt. Um die Kontinuität der bürokratischen Verfahren in den Vordergrund zu stellen, spart Bäcker alles aus, was Motiv und Ort des Autors verraten könnte. Mit anderen Worten: Als inhuman wird das bürokratische System selbst ausgemacht, innerhalb dessen Ordnung kategorisiert, gerichtet und getötet wird. Auf der letzten Seite des zweiten Buches, gesondert präsentiert als einziger Text des Kapitels XII, stellt der Autor jedoch wesentliche Unterschiede zum Naziregime aus: rund um die uhr saß ein Wachposten in der zelle und hinter der zellentür ein zweiter, der durch das guckloch seinen drinnen sitzenden kameraden beobachtete, um
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sich zu vergewissern, daß keinerlei kontakt zwischen häftling und Wächter in der zelle entstand, dieser zweite Wächter wurde seinerseits beobachtet durch einen dritten posten, der hinter der nächsten tür, dem ausgang, saß (11/236). Dieses Zitat stellt einen Kontrapunkt zu vielen vorangegangenen Texten dar, weil hier eine Mehrzahl an Posten eine Einzelperson absondert und nicht umgekehrt. Und doch ist die Art dieser räumlichen Anordnung höchste bürokratische Kunst: Die Kontrolle funktioniert hierarchisch gestaffelt und ohne zeitliche und räumliche Unterbrechungen, die Zuständigkeiten der Wachen sind verschieden und manifestieren sich in ihrer örtlichen Verteilung. Weil dieser Text an das Ende des zweiten Bandes gesetzt ist, in dem die Zitate nach einem chronologischen Muster angeordnet sind, steht er flir Gegenwart und Ausblick. Durch die räumliche Perspektive, die der Text von innen nach außen Schritt für Schritt erweitert, wird diese Lesart verstärkt. Der Schauplatz wechselt vom kleinsten Punkt zu den stufenweise angeordneten Beamten und verharrt an der Schwelle zur Öffentlichkeit, zur Welt. Was sich dort, hinter dem Ausgang, abspielt, wird nicht mehr zur Sprache gebracht. Die Verteilungen draußen können gemäß des internen Musters weitergedacht werden. Zugleich drängt sich aber auch die Vorstellung auf, dass sich mit dem dritten Wächter - der immerhin sitzt statt steht - das strenge Reglement lockert und freie Bewegungen nach und nach (wieder) möglich werden. Der Inhaftierte (Eichmann) wird samt dem Kontrollpersonal zum winzigen Punkt, an den sich die „Nachschrift" der Vernichtung zurückzieht. Jedenfalls wird auch in diesem Text über Disziplinierungsmaßnahmen - Anonymisierung, Funktionalisierung und Verteilungsoperationen - Wert und Würde der Individuen untergraben. Zugleich wird der Sieg des Systems veranschaulicht. Die bürokratischen Praktiken nämlich, nicht der Häftling Eichmann, überleben.
2 Ökonomische Produktivität
Der Zeitrahmen, den Bäcker bei der Auswahl der historischen Dokumente steckt, ist ein grundlegend bürokratischer: Er beginnt mit der organisierten Ausgrenzung und reicht bis zu den organisierten Prozessen gegen die Täter nach dem Krieg. D.h., es geht nicht um die Ideologie der Massen, Manipula-
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tion, Hass, Angst, Trauma oder Trauer, sondern um Herrschaftsinteressen, die sachlich durchgeführt werden. Innerhalb dieses Rahmens zitiert der Autor von der Täterseite beinahe ausschließlich Dokumente der Verwaltung. Dementsprechend bleiben gefühlsgesteuerte sowie punktuelle Aktionen gegen die Opfer sowie private Überlegungen oder Bedenken der Täter ausgespart. Nur selten, wenn es um die Funktionstüchtigkeit des Apparats oder die Ökonomisierung der Morde geht, tragen die Dokumente mitunter Andeutungen individueller Züge. Ein Detail - ein Wort, eine Formulierung, eine Kommentierung - demaskiert den Täter als tüchtiges Teil, das nicht nur Pflichten erfüllt, sondern den Prozess mit eigenem Engagement vorantreibt. Es verrät, dass er mit Lust oder Genugtuung seine Aufgabe erfüllt. teilweise kamen täglich 10.000 einheiten angefahren, das tempo bestimmte nicht ich; ich konnte nur eines machen, ich konnte es in so eleganten bahnen wie nur möglich fließen lassen (11/55)
Der Sprachgebrauch charakterisiert den Sprecher (das Zitat stammt aus Tonbandaufzeichnungen) als loyal und sachlich, aber auch als zynischen Techniker. Systemkonform verhält er sich, indem er die gigantischen Zahlen rundet, weil eine Präzisierung nicht notwendig ist. Ebenfalls systemkonform verzichtet der Täter auf direkten Sprachgebrauch, weil die Adressaten Bescheid wissen, und spricht von „einheiten". Aufschlussreich ist in diesem Zitat aber vor allem der vierte Hauptsatz, in dem das Objekt unbestimmt bleibt. Das Pronomen kann kaum auf das Tempo verweisen, auf das es grammatisch passen würde, aber nicht semantisch. Da der Sprecher im Konzentrationslager verortet wird, spricht er auch nicht von der Deportation, sondern von der Weiterleitung zum Massenmord oder überhaupt ganz allgemein vom Ausrottungsprozess, von der Durchführung der „Endlösung". Diese diffuse Referenz des Pronomens, die in jedem Fall etwas zutiefst Grauenvolles ist, muss nun mit einer naturhaften Metapher („fließen") und einem Adjektiv mit positiver, kultureller Bedeutung zusammengebracht werden, mit „elegant". Zur Bedeutung des Adjektivs „elegant" steht im „Wörterbuch der deutschen Sprache": „fein, gewandt, harmonisch" bzw. „kultiviert, gepflegt".329 Indem der Sprecher angibt, einen natürlichen Pro329 Vgl. Der kleine Wahrig. A.a.O.
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zess zu zivilisieren, wird das Ansinnen und seine Rolle legitimiert. Der Sprecher ist nicht nur indirekt für die Kultur zuständig, sondern wird auch selbst - um es überspitzt zu formulieren - kulturell tätig. Dass er hiermit ein Selbstverständnis ausdrückt, das auch von höchster Befehlsebene goutiert wird, ist schon einige Seiten zuvor durch ein Zitat Himmlers belegt: sehen sie doch zu, ob sie nicht einen mann bekommen, der in einer genialen und künstlerischen weise dieses ganze leistungssystem in allen lagern entwickelt
(1/40). Liest man Seite um Seite der „Nachschriften" erfahrt man, dass sich eine ganze Menge solcher gewünschter Männer und Frauen gefunden haben, die nicht nur an der Entwicklung, sondern auch an den steten Weiterentwicklungen des Ausrottungssystems laborierten. Uber Aussagen und Schriftstücke weist der Autor tatkräftige, selbstbewusste Individuen an unterschiedlichen Orten aus, die ihre unterschiedlichen Aufgaben immer gewissenhaft und manchmal auch eifrig erledigen. Die Texte dokumentieren den Fortschritt, die Beschleunigung der Tätigkeiten oder referieren Probleme und Engpässe samt Lösungs- und Optimierungsvorschlägen. Durchsetzt sind diese Schriftstücke mit Weisungen oberer Instanzen, die eine bestimmte Begriffswahl verordnen oder korrigierende Maßnahmen setzen. Der Eindruck, dass die Techniker und Beamten nur widerwillig am Holocaust beteiligt sind und ihre eigene Existenz an die Zerstörung der Existenz der Opfer geknüpft ist, kommt nicht auf. Die Täter tun oft mehr als notwendig und erweisen sich nicht nur als brav und korrekt, sondern auch als ausgesprochen tüchtig. Sie sind auf den Faktor Arbeitskraft reduziert, der optimal ausgereizt wird. So zeigt Bäcker, wie einzelne Individuen an dieser Optimierung durch den Austausch von Materialien (vgl. 11/87, 125) oder auch durch logistische Vorschläge arbeiten (vgl. 1/27, 56 oder 11/166). Rationalisiert wird nicht nur der Tötungsprozess, sondern auch die Verwertung, und zwar die materielle und die wissenschaftliche. Im folgenden Text wird ersichtlich, dass der Schreiber dafür nicht nur Mord akzeptiert, sondern auch eine Steigerung der Morde favorisiert. Das Dokument ist an den Anfang des Kapitels VIII gestellt, das aus dem medizinischen Diskurs der Nationalsozialisten zitiert:
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wenn ihr all diese menschen umbringen werdet, dann nehmt doch wenigstens die gehirne raus, daß das material benutzt werden kann, sie fragten mich: „wieviele können sie untersuchen?" und so sagte ich ihnen: „eine unbegrenzte zahl, je mehr, desto besser." ich gab ihnen fixative, gefäße und kästen und instruktionen für die entnähme und fixierung der gehirne (11/155)
Um die Vernichtung und die Verwertungsarbeiten zu erleichtern und zu beschleunigen, sind auch die Opfer selbst planvoll eingesetzt. Nicht nur durch die räumlichen Verteilungen (s.o.), sondern auch durch ihre Mitarbeit. Verschiedene Texte dokumentieren, wie die Opfer sägen (vgl. 11/13), ihre Kleidungsstücke ordnen müssen (vgl. 11/10) oder dazu angehalten werden, selbst ihre Todesnachrichten zu verfassen (vgl. 1/115). Indem Heimrad Bäcker also Täter- und Opferdokumente gleichwertig positioniert und ofFenlegt, wie alle in den Vernichtungsprozess integriert und funktioneller Bestandteil der Organisation sind, verstärkt sich deren maschineller Eindruck. Offensichtlich wird, dass es Bäcker um das organisierte Netzwerk und dort wiederum um Knotenpunkte geht, auch wenn durch die Arbeit der dort tätigen Menschen nur kleinste Aufgaben verknüpft werden. In dieser Darstellung wird die Ausrottung zu einem Produktionsprozess, bei dem wie in einer Fabrik an der zeitlichen Optimierung, Entsorgung sowie Verwertbarkeit gearbeitet wird. Wie in den schönsten Träumen von Managern wird rund um die Uhr gearbeitet (vgl. 1/28). Ruhe- und Feiertage sind suspendiert (vgl. 11/32). Zur Rationalisierung gehört auch die sprachliche Reglementierung für die Buchführung: sei es durch die Verordnung von Tarnbegriffen, die dafür sorgen, die Vernichtung ungestört durchführen zu können, sei es durch Abkürzungen und Sammelbegriffe, die die Ordnung in den Listen mit verknapptem Arbeitseinsatz ermöglichen. Besonders deutlich wird die ökonomische Ausrichtung, wenn präzise Daten plötzlich in unbestimmte Termini übergehen und damit ausgerechnet das unterlaufen wird, was den Sinn des Dokuments auszumachen versprach: das Bürokratische, das penibel und übertrieben Ordnende im verbreiteten Wortsinn des Begriffs. So endet die ausführliche Aufzählung unterschiedlichster Wertgegenstände, Kleidungsstücke und Privatgegenstände, zwischen die der Satz „kann von lublin und auschwitz gegen Vergütung aus haushaltsmitteln entnommen werden" montiert ist, abrupt mit „usw." sowie der Anordnung „zeit- und personalraubende kleinliche Wertfeststellungen können
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Abb. 22: ghettos in dem von deutschen besetzten osteuropa, erschießungen im freien und die Zahlenangaben zu auschwitz sind auf das nächste hunderttausend gerundet, andere kategorien auf das nächste fiinfzigtausend. Heimrad Bäcker
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unterbleiben" (II/140). Aber diese Montage bezeugt nicht sinnlose Penibilität der Einzelnachweise oder Inkohärenz des Unternehmens. Gerade die Komposition des gesamten Textes verdeutlicht, dass das „Management" äußerst funktionstüchtig war, indem es einerseits die Sinnhaftigkeit von Genauigkeit, aber auch deren Grenzen vorfuhrt, andererseits Verwertungs- und Rationalisierungsgedanken anstellt, die umsetzbar sind. Ganz in diesem Sinn lässt sich mit dem „Fortschritt" der Vernichtung auch eine Ökonomisierung der behördlichen Arbeit feststellen. Bäcker verdeutlicht diese Qualifizierung durch Zitate aus Anordnungen der Führungsetage, die die Morde immer weniger genau registriert haben wollen: „ein zeichen, ein wort, ein kleines kreuz neben einem namen genügte" (1/80). Neben den raren Texten, die von eventuell möglichen Uberlebenschancen berichten, „z.B. grabowskis kutscher" (11/172), oder in ein- oder zweistelligen Zahlen das Ausmaß der Uberlebenden dokumentieren (11/195), werden schließlich nicht einmal mehr für die Anzahl der Toten präzise Angaben verlangt. In der Anordnung, sie zu runden, je nach „Kategorie" auf das nächste Fünfzig- oder Hunderttausend (1/65), zeigt sich, wie die Täter mit dem Gigantischen des Ausmaßes rationell umzugehen wussten. Zu diesen Maßnahmen betreffs Rationalisierung der Verwaltung kommen Weisungen, die zeigen, dass auch die Geheimhaltung eine immer kleinere Rolle spielt. Ganz offen wird über „Ausrottupgserleichterungen" geschrieben, ein Wort, das Bäcker als einzelstehendes Wort in Großbuchstaben wie einen Titel platziert (11/88). Auch die Gründe für die Morde oder für deren Angaben werden schamlos offengelegt: „es genügte jetzt die diagnose: alt, krank, jüdisch, priester, kommunist, Sozialdemokrat zur tötung" (11/176). Anordnungen, die enorm verkürzt sind oder die zahlreichen Abkürzungen, die in einem anderen Kontext als der „Nachschrift" nicht entschlüsselbar wären, zielen ebenso statt auf Geheimhaltung auf Einsparungen beim Personal ab. So werden über die herausgeschnittenen Textdokumente verschiedener Autoren unterschiedliche zeitliche Eingriffe in die Verhaltens-, Arbeits- und Denkgewohnheiten bezeugt. Während sich die Opfer als „vorläufig" lebend wahrnehmen (vgl. 1/50) oder an ihren nahenden Tod nicht glauben können, laborieren die Täter in den verschiedenen Funktionsstellungen immer effizienter. Bis auf einen einzigen Text, in dem sich ein kleiner Beamter über die hohen Sterbezahlen in Auschwitz wundert (vgl. 11/197) - dieses Täterdoku-
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ment der Unsicherheit, „Kleinlichkeit" und Fehlorganisation steht fiir sich allein und wirkt wie ein Zitat aus einem anderen Buch stellen die „Nachschriften" ein einzigartiges Dokument der Bürokratie in der Literatur dar. In den oben untersuchten Texten habe ich keine Beispiele für eine Ökonomisierung der Zeit oder für eine derartige Optimierung der Disziplinartechniken gefunden; das „Produktionsziel" war nirgendwo optimal verwirklicht, meist gar nicht einmal verwirklichbar. Umso schlimmer, wenn ausgerechnet bei der Durchfuhrung des Massenmordes Bürokratie perfekt zu funktionieren schien und wirtschaftliche sowie wissenschaftliche Interessen der Nazis optimal mit der Massenvernichtung verknüpft waren. Umgekehrt gilt jedoch auch, dass in den „Nachschriften" der Blick auf den Holocaust auf diesen Fokus verengt wird: Es geht nicht um Demütigung oder Hass, sondern um Ökonomie. Demonstriert wird, wie der Prozess des Tötens ziel- und aufgabenorientiert erledigt wird und nicht, warum er in Gang gesetzt wurde.
3 Die Legitimität des Gehorsams
Indem Heimrad Bäcker in seinen „Nachschriften" einzelne Täter des Ausrottungsprozesses ausdifferenziert, stellt sich immer wieder die Frage nach Gehorsam und Pflichterfüllung bzw. Widerstand und Befehlsverweigerung. Laut Foucault basiert die bürokratische Herrschaft, die modernen Disziplinartechniken, nicht nur auf Funktionalisierung, räumlichen und zeitlichen Ordnungsmechanismen, sondern auch auf der hierarchischen Überwachung, der normierenden Sanktion und der Prüfung.330 In den „Nachschriften" finden sich keine dieser „Mittel der guten Abrichtung". 331 Genausowenig lassen Zitate auf eine funktionierende Mikrojustiz schließen. Fehler bei den Aufzeichnungen oder der Reihenfolge der Morde werden zwar erwähnt, aber im Nachhinein für legal befunden (vgl. 11/124). Die Weisungen, die der Autor zitiert, bleiben oft sehr allgemein. Verschiedenste Anordnungen der Nazielite lassen beachtliche Spielräume für das Personal offen. Einzig relevant scheint die Zahl der Toten zu sein. Darauf nehmen vor 330 M. Foucault: Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 220-250 331 Ebd. Kapitelüberschrift: S. 220
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allem Texte der Befehlsempfanger Bezug, wenn sie Erfolgsaussichten durchgeben (vgl. 1/58), niedrigere Totenzahlen zu rechtfertigen versuchen (vgl. 1/52) oder technische Verbesserungsmaßnahmen dokumentieren (z.B. 1/56 oder 11/87). Wenn aber Befehle ungenau bleiben, die Durchfuhrung nicht präzisiert wird und Fehlleistungen nicht sanktioniert werden, muss die Motivation für den Gehorsam der Täter auch jenseits der bürokratischen und marktwirtschaftlich orientierten Herrschaft liegen. Und es muss eine starke Motivation sein, nachdem die Täterschaft als eine Masse von Individuen ausgewiesen wird, die, jeder auf seiner Funktionsstelle, erstaunlich einheitlich an der Beschleunigung der Ausrottung arbeitet. Die Prüfung, die das Personal auf bestimmten Positionen im hierarchischen Raum verortet, wird ersetzt durch Erfolge, wie es in ökonomischen Betrieben üblich ist. Nur wird beim Holocaust nicht das Kapitalwachstum honoriert. Viele Beispiele dokumentieren die Arbeit an jener Erfolgsrate, die lediglich am quantitativen Zuwachs an Toten gemessen wird. Hindernisse und Probleme werden verzeichnet, um deren Lösung anzuregen. Oft sind diese Textstellen mit Vorschlägen kombiniert oder dokumentieren bereits behobene Schwachstellen im System. Bäcker zitiert aus Bestellungen für Schläuche der Gaskammern (vgl. 1/56), Materialverbesserungen bei den Tragbahren der Toten (11/125), größeren Schwingtüren (11/87) oder überhaupt nur das Wort „ausrottungserleichterungen" (11/88). In jedem Dokument werden Schreiber und Täter, deren Arbeit dokumentiert wird, als funktionstüchtige Glieder der Vernichtungsmaschinerie präsentiert. Abgesehen davon, dass die Schriftstücke auch als Anleitungen für ähnliche Aufgaben, für andere Konzentrationslager dienlich sein konnten, zeigen andere persönliche Interessen der Schreiber: Sie wollen Anerkennung und Lob. Abweichendes Verhalten der Täterschaft hingegen kommt in den zwei Bänden nicht vor. Schließlich taugte es nicht als dokumentarisches Material für die Ausrottung und noch weniger für Rückmeldungen an die Führung. Und weil die „Nachschriften" - von der Täterseite - nur subsumieren, was die Nazis selbst als Erfolgsgeschichte ansahen, fehlen jegliche Hinweise aufbewusst herbeigeführte Störungen, Sabotageakte, Ungehorsam. Hätte es bei den Tätern Probleme gegeben, die sich nicht durch Mord aus der Welt hätten schaffen lassen, müssten sie in Schriftstücken dokumentiert sein. Ich weiß nicht, ob Heim-
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rad Bäcker auf solche gestoßen ist und sie bewusst nicht in seine „Nachschrift" aufgenommen hat. Auch bei den Opfern spielt die Mikrojustiz keine Rolle. Die Gründe dafür werden allerdings schonungslos aufgedeckt. Die totale Unterwerfung unter penibelste Anweisungen war die einzige Möglichkeit, nicht denunziert oder sofort getötet zu werden. Die Versuche, sich den Befehlen zu widersetzen, hatte eher zur Folge, dass man vor den anderen umkam. Die wenigen Versuche, dem Tod zu entkommen, die Bäcker zitiert, bringen angesichts der totalen Vernichtungspolitik nur die Hoffnungslosigkeit und das Scheitern zum Ausdruck. Der Vorschlag eines Rabbis, die Zehnjährigen zu retten, indem man ihnen von den Alten und Kranken Lebensmittel lassen soll, bekommt durch zahlreiche andere Texte eine zutiefst tragische Dimension. Es ist im Übrigen das einzige Zitat, in dem sich ein taktisches, geplantes Vorgehen der Opfer manifestiert. In allen anderen Opfertexten wird, wenn überhaupt, nur individueller punktueller Widerstand dokumentiert. Damit steht den wenigen straff organisierten Mördern eine Vielzahl an einzelnen Privat menschen gegenüber. Auf ihre Disziplinierung wurde deshalb besonderer Wert gelegt - schon kleinste Zuwiderhandlungen wurden geahndet. So zitiert Bäcker eine Liste mit unterschiedlichen Fehlhandlungen und dokumentiert nicht nur, aufgrund welcher Anlässe gestraft oder getötet wurde. Vielmehr wird offenkundig, dass sich die KZ-Häftlinge des Lagers Mauthausen an die menschenunwürdigen, penibelsten Regelungen gehalten haben müssen, weil es sonst ein solches Verzeichnis nicht geben könnte: „langsames verlassen des bettes, den strohsack nicht richtig geglättet, die decke nicht richtig zusammengelegt, zu langsam den bettenbau vollzogen" oder „beim abendappell das mützen ab und mützen auf nicht besonders exakt durchgeführt/spät in den block zurückgekehrt, sich in Unterhose ins bett gelegt, während der nachtruhe im bett gesprochen" (vgl. 1/73). Der willkürliche Umgang der Täter mit „undisziplinierten" Opfern liegt darin, dass die Vorschriften kleinlich und unpräzise zugleich sind. Der Gehorsam der Häftlinge wird damit noch stärker motiviert. Das heißt, prophylaktischer Gehorsam wird zur Notwendigkeit. Als Hauptursache für die Widerstandslosigkeit macht Bäcker jedoch die Einstellung der gesamten Opfergruppe zum Holocaust aus. Unabhängig vom zeitlichen und räumlichen Kontext der Dokumente, die aus Privatwohnungen, Ghettos, KZs und der Nachkriegszeit stammen, wird fast immer dieselbe Sicht eingenommen: Niemand kann an die Vernichtung glauben.
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So zeigen die „Nachschriften" den Holocaust als Prozess, der nicht auf Zuchtprogrammen beruht. Durch das absolute Ziel, eine klar definierte Gruppe von Menschen auszurotten, müssen die Opfer nicht im Sinne Foucaults diszipliniert oder „gezüchtet" werden, sondern haben wie Waren auf dem Fließband zu funktionieren. Auch die Täter arbeiten wie in einem ökonomischen Betrieb und nicht wie in einem staatlichen Disziplinarsystem. So ist es auch eher die Tabelle als der Roman, die zahlenerfassende Chronik statt die Chronik der Ereignisse, die die Tragweite der Handlungen nachvollziehbar macht. Ereignisse, Innenleben, Schilderungen haben hier keinen Platz mehr. Kein Gerichtspräsident Schreber findet Eingang in diese Geschichte. Die Protagonisten sind weitgehend namenlos. Kein Erzähler dirigiert, erklärt oder beschönigt. Damit gelingt es Bäcker, die Macht der Masse darzustellen, an die das Individuum seine Verantwortung delegieren kann. Erst nach dem Krieg hätten die Menschen die Möglichkeit, ihre Namen zurückzubekommen. Von den Toten gibt es aber so viele, dass sie in Bänden und Nachforschungen untergehen und erst recht wieder nur als Nummern aufscheinen. Einzelne Täter namentlich herauszugreifen würde auch dem bürokratischen Prinzip widersprechen, das Bäcker auszustellen versucht. Ich gehe vom unterliegenden Einzelnen aus, dem die Fratze des Kollektivs gegenübersteht. Der Einzelne unterliegt den großen Gewaltmächten und ich mache seine Stimme hörbar,
formuliert der Autor in einem Interview von 1995.332 Durch Auswahl und Positionierung der Zitate wird dieser Anspruch, wie ich zu zeigen versucht habe, in vielfacher Weise eingelöst. Und dennoch wird die einfache Opposition durch einzelne Texte und Wörter unterwandert. Einzelne Individuen aus der Tätergruppe werden in ihrer Tatkraft, ihrem Eifer, wohl auch in ihrer Ordnungslust als Katalysator des Vernichtungsprozesses entlarvt. Zudem wird in weiten Teilen sichtbar, wie der einzelne Schreiber, Techniker und Mörder einer Masse von Opfern gegenübersteht. Der Autor zeigt, dass er mit der Macht
332 J. Veichtlbauer/St. Steiner: Heimrad Bäcker. „Die Wahrheit des Mordens". Ein Interview. In: Heimrad Bäcker ( = Die Rampe. Hefte für Literatur. Porträt). Linz 2001. S. 85-88, hier S. 86
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bei der Auslegung diverser Befehle und Regelungen immer so umgeht, dass der Ausrottungsprozess beschleunigt wird. Durch seine Auswahl demonstriert Bäcker auch, dass dem Einzeltäter Verlangsamung, Behinderungen oder Milde nicht den Tod bringen würden, dass sie ihm kaum seine Position kosten würden, dass er vielleicht nur mit weniger Anerkennung auskommen müsste. Demgemäß wäre Bäckers Aussage zumindest insoweit zu ergänzen, dass auch dem Kollektiv eine Fratze gegenübersteht: die des Einzelnen. Die großen Gewaltmächte unterliegen nicht nur dem Gehorsam, sondern sind auch auf die Tüchtigkeit des Einzelnen angewiesen. Die persönlichen Freiräume der Täter liegen in der Spanne zwischen korrekten Handlungen und Eigeninitiative, auf die nicht die herkömmliche Staatsbürokratie, sondern die Marktwirtschaft gestützt ist: Der von Bäcker sichtbar gemachte Ausrottungsprozess baut, wie gezeigt werden konnte, auf Okonomisierung und ist auf Motivation aus diesem Bereich angewiesen. So zeigt Bäcker in den Dokumenten der Täter, wie fleißige Beamte oder Techniker durch Anfragen, Bestellungen, Auslegungen oder Formulierungen den Massenmord nicht nur legitimieren und beschleunigen, sondern eigentlich erst ermöglichen.
4 Die Arbeiten des Dichtens und Lesens
Wie Konrad Bayer arbeitet Heimrad Bäcker mit Lücken, Abbrächen und fehlenden Kontexten. Bei Bayer können die inneren und äußeren Bezüge wegen Widersprüchen im Text nie endgültig oder einstimmig hergestellt werden. Seine Prosa, wie oben untersucht, ermöglicht zwar verschiedene Ergänzungen und Sinngebungen, im Leseprozess müssen sie jedoch ständig revidiert werden. Der Rezipient kann sich jedenfalls mit einiger sinnlicher und rationaler Lust in den inhaltlichen und historischen Zusammenhängen bewegen. Dem Leser der „Nachschriften" fehlen diese Freiheiten völlig. Automatisch werden die Lücken mit Wissen gefüllt. Der Kontextualisierung, die von den persönlichen Erfahrungen mit Holocaustbildern geprägt ist, entkommt keiner. Sie ist umso entsetzlicher, als geradezu reflexartig Fotos, Szenen oder Stimmen des nationalsozialistischen Wahnsinns erinnert werden. Grundlage für diesen Zwang, Zusammenhänge herzustellen, sind die mediale und wissenschaftliche Aufbereitung des Holocausts sowie Materialien, aus denen Bäcker zitiert. Wie der Massenmord, so sind auch die verwendeten For-
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mulare, Anordnungen, Tabellen jedem Leser in ihrer Form und Systematik aus dem privaten Amtsalltag vertraut. Bürokratische Ordnung funktioniert zudem nach rationalen Mustern und lässt für gewöhnlich aus Ausschnitten auf eine Totalität schließen. Die Strukturen sind bekannt und die Inhalte stets systematisch geordnet, insofern vorhersehbar und repetitiv. Verstärkt wird die einspurige Rezeption, die niemals auf Identifikation baut, durch die gekonnte Auswahl der Texte und deren Zusammenstellung sowie durch die bibliografischen Quellenangaben. Mit verschiedenen Techniken verstärkt Bäcker diesen außerordentlichen Zwang zur Kontextualisierung: - Er setzt nur selten Punkte an das Ende des Zitats und präsentiert das Material in Majuskeln oder in konsequenter Kleinschreibung. Dadurch wird jeder Text gleichgewichtet und den vorangestellten oder folgenden Zitaten nähergestellt. Der Charakter des herausgebrochenen Stücks wird verstärkt, der auf den Rest des Dokuments sowie auf die Totalität der Massenvernichtung verweist. - Manchmal eliminiert der Autor in Aufzählungen jegliche Interpunktionszeichen, wodurch zwischen den angeführten Vergehen, Morden, Anordnungen die Distanz aufgehoben wird: Die Details werden zu einem grauenvollen Klumpen verdichtet. Zugleich gehen dem Leser die Atempausen verloren, er muss sich der Konzentrationsbewegung anschließen. - In Wiederholung und Variation (kleine Abweichungen, Steigerung) wird der bürokratische Formelcharakter ebenso beibehalten. Der Mechanismus wird erfahrbar und drängt unfreiwillig Ergänzungen auf. Nicht nur das: Weil aus den Listen meist Mittelteile zitiert werden, wird der Leser dazu gedrängt, sie zu vervollständigen bzw. fortzuschreiben. - Ein anderes Mittel, mit dem Bäcker die unausweichliche Kontextualisierung erarbeitet, ist die Präsentation der Ausnahme. Auf die Regel schließt der Leser automatisch. - Ahnlich geht der Autor vor, wenn er Nebenhandlungen, Abseitiges, ins Zentrum des Blattes rückt, was beständig auf das Hauptgeschehen, den Massenmord, verweist. Zugleich eliminiert er jeden Raum und Gedanken sowie jede Tat, die zum Ausrottungsprozess im Widerspruch stünden oder von diesem nicht erfasst wurden.
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- Die ständige Präsenz der Bilder des Holocaust wird evoziert durch zumeist sachliche Termini, ökonomische Abkürzungen und vierteilige Zahlen, die von den nationalsozialistischen Beamten sorgfaltig kategorisiert und tabellisiert wurden. Unweigerlich wird nicht nur mit den ungeheueren Verbrechen abgerechnet, sondern das bürokratische Wesen an sich an den Pranger gestellt. Man kann sich durchwegs auch Dichtungen vorstellen, die mit zeitgenössischen Schriftstücken aus den Archiven der Ausländerbehörde oder dem Amt für Jugend und Familie arbeiten. Bäckers Werk hebt sich aber auch in einer anderen Hinsicht von allen anderen literarischen Verarbeitungen von Bürokratie ab und weist dabei Ähnlichkeiten mit Foucaults Erkenntnissen auf, der der institutionellen Disziplinierung immer auch einen ökonomischen Antrieb und Profit zuschrieb. Bei Brandstetter, Kafka, Herzmanovsky-Orlando, bei Joseph Roth, Konrad Bayer sowie den Beamtenautoren wird behördliche Wirtschaftlichkeit nur in ihrem Gegenteil, als Unwirtschaftlichkeit, thematisiert. Wie oben dargestellt, sind es gerade ökonomische Ineffizienz oder Fehler im System, die es reproduzieren und die Macht stärken. Die Bestialität der nationalsozialistischen Ausrottung fußt hingegen gerade auf der betriebswirtschaftlichen Durchfuhrung, ja die Vernichtung ist, wie die „Nachschriften" nahelegen, nur durch die beständige Ökonomisierung durchfuhrbar! Dies erscheint mir eine der wichtigsten „Erfahrungen" zu sein, die in Bäckers Werk angelegt sind. Andererseits sind auch Abweichungen zu den Disziplinarsystemen Foucaults auszumachen, vielleicht handelt es sich dabei aber nur um die Darstellung eines bereits perfektionierten Systems. Denn Mikrojustiz ist nicht mehr notwendig. Durch den übersteigerten Antrieb der Täter, ihre Arbeit bestmöglich zu machen und darzustellen, sowie durch die Bereitschaft, persönlich für Erfolg und Misserfolg einzustehen, wird die Kontrolle obsolet. Weil die Vernichtung der gesamten Opfergruppe einziges und einmaliges Ziel ist, fehlt auch das herkömmliche Funktions- und Ranggefüge. Jeder Täter arbeitet in seinem Bereich für denselben Zweck und motiviert sich mit hohen Todeszahlen, wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Profiten. Uber das Ziel hinaus, das die Täter arbeitslos machen würde, wird nicht gedacht. Der Endsieg stellt demnach eine Zäsur und eine Zensur dar.
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Auszumachen sind auch Ähnlichkeiten zwischen den Anliegen des Philosophen und Dichters. Beiden geht es um historisches Material, das es zu verwerten gilt, und beide konzentrieren sich auf die Archive der Macht. Heimrad Bäcker spart überhaupt alle Dokumente der nichtorganisierten Beteiligung am Massenmord aus, ebenso die persönlichen Aufzeichnungen der Täter, wodurch der Holocaust zu einem von Spezialisten organisierten Unternehmen wird. Bekannt ist, dass die Nazis bei Kriegsende zahlreiche Beweise vernichtet haben, weshalb viele Schriftstücke fehlen, insbesondere auch solche, die die individuelle Beihilfe der Bevölkerung belegen sowie private Dokumente aus den NSKreisen. Außerdem kam die Forschung über die Mitarbeit von Privatpersonen bei Ausgrenzungen und Vernichtungen erst in den 80er-Jahren in Gang. Es ist augenscheinlich, dass die „Nachschriften" durch die Aussparungen bzw. die Auswahl den überindividuellen Rahmen nicht sprengen und in einem solchen lassen sich auch Foucaults Arbeiten verorten. Weder beim einen noch beim anderen ist das Private Ausgangspunkt oder Thema. Beide versuchen, über Einzeldokumente Mechanismen und Formen abzuleiten, die vom Individuum reproduziert werden. Es sind die Zwänge, nicht das Spektrum an Möglichkeiten, die sie ausstellen. Nach der archivarischen Arbeit und den Auswahlverfahren trennen sich jedoch die Arbeiten von Forscher und Dichter. Während ersterer analysiert und erklärt, beginnt Bäcker zu konzentrieren und zu verdichten. Seine Methode der Abbräche und Leerstellen setzt sich ebenso von den Mitteln seiner Quellen wie der literarisch und amtlich schreibenden Behörden ab. Auch wenn Bäcker Mehrdeutigkeiten ausräumt und durch den Erfahrungshorizont der Leser die Kohärenz der Texte gewährleistet ist, bleibt die Lektüre ein emotionaler Akt. Selbst für jene, die kaum etwas vom Holocaust wissen, sorgen Einzeltexte für eine eindeutige Entschlüsselung, die nie nur rational ist. Letztlich liegt auch hierin, wie auch bei den anderen besprochenen Texten, die besondere Bedeutung der Literatur gegenüber wissenschaftlichen Arbeiten.
c B Ü R O K R A T I E ALS DISZIPLINARE EINE
HERAUSFORDERUNG.
ZUSAMMENFASSUNG Die Gefahr der Verbindung mit großen Dingen hat die sehr unangenehme Eigenschaft, daß die Dinge wechseln, aber die Gefahr immer gleich bleibt.
Robert Musil 1 Bürokratie als Kräfteverhältnis Michel Foucault hat die Macht statt als Form als unförmiges Element konzipiert und sie als Kraft und Kräfteverhältnis gedacht, die die Bürokratie als einen gewichtigen Teil davon in Bewegung setzt. Statt über klare Kriterien, Gehorsam oder Grenzziehungen zu nichtbürokratischen Dimensionen, konstituiert sich bürokratische Macht erst mit den einzelnen Disziplinierungshandlungen der Akteure. Jeder, der ein Formular ausgibt oder ausfüllt, der eine Verordnung erstellt oder ihr folgt, der der Auseinandersetzung mit dem Amt freiwillig oder unfreiwillig entgegensieht - alle laborieren an der Macht. So richtete sich in diesem Abschnitt der Blick auf Bürokratie, der Blick auf Texte von Beamten oder der Blick auf Konkrete Literatur, die die Teilhabe der Behörden und Bürger an Schriftstücken ausstellen, auf das Ziel der Machtkonstitution. Da die Kräfte nicht frei beeinflussbar sind, sodass jeder nach seiner Art und Uberzeugung darauf einwirken könnte, sondern sie zwingenden Regeln folgen, ging es in den Analysen um die Ursachen für den Zwang sowie die Spezifik der Reglements. In der Beamtenliteratur wird der Zwang gern auf genetische oder natürliche Ursachen zurückgeführt, wodurch die Unfreiheit gleich doppelt abgesichert ist: durch die praktische Realisierung und die diskursive Begründung, in der ein Schein von Natürlichkeit konserviert wird. Dass die Abrichtung alternativlos und unhinterfragbar ist, kommt in den schön geschlossenen und eindeutigen Beamtentexten besonders gut heraus. Schon in der Auswahl der erzählten Zeit mit quasi notorischer Referenz auf die Spanne zwischen Beginn und Ende eines Beamtenlebens wird die Unausweichlichkeit der Dressur herausgearbeitet, wobei
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Bürokratie als Zuchtmechanismus
das Ende der Disziplinierung statt mit der Pensionierung nur allzugern mit dem Tod der Protagonisten zusammenfallt oder überhaupt suspendiert wird, da sie auf die Erben übergeht. Darin zeigt sich, wie zwanghaft die Disziplinarmacht im Sinne Michel Foucaults wirksam ist. Zugleich wird deren Charakter verdeutlicht: denn „es geht ihr weniger um Ausbeutung als um Synthese, weniger um Entwindung des Produktes als um Zwangsbindung an den Produktionsapparat".333 Besonders eindrucksvoll arbeitet Heimrad Bäcker diese Eigenschaft der Disziplinarmacht heraus, indem er Äußerungen aus verschiedensten Perspektiven so aneinander montiert, dass weder zeitliche noch räumliche Abstände zur Tötungsmaschinerie denkbar sind und ein immer konzentrierterer Blick auf die Vernichtung aufgezwungen wird. Zugleich verdeutlichen die „Nachschriften", dass der Blick auf Details die Aktivitäten in ihrer Unermesslichkeit auszustellen vermag: eine Zahl oder ein Nebensatz, eine Kolonne von Kürzeln oder Berufsbezeichnungen, eine kleine Materialfrage oder eine Rundungsanordnung. Ebenso wird auch bei den Opfern über die „Listen der aufmerksamen .Böswilligkeit'"334 deren zwanghafte Einordnung in den geregelten Ablauf der Vernichtung dargestellt. In den Aufzeichnungen über den Umgang mit den Gütern der Ermordeten bis hin zu ihren Körperteilen und Körpersäften wird der Holocaust auch als wirtschaftliches Unternehmen begreifbar gemacht, in das noch viel mehr Personen, auch die Bevölkerung des Deutschen Reiches, eingebunden sind.335 Sie profitiert nicht nur von den freigewordenen Posten und Wohnungen, sondern selbst noch von den Gebrauchsgegenständen und Habseligkeiten, die aus den KZs in die Welt der Uberlebenden zurücktransportiert werden. 336 „Im Detail auf der Stelle zu treten und auf Kleinigkeiten zu achten"337, um die „Mikrophysik der Macht" aufzudecken, diese Vorgangsweise Foucaults erwies sich auch bei der Analyse der Beamtentexte als notwendig und überaus aufschlussreich. Indem der Blick auf das große Ganze darin sowieso keine besondere Rolle spielt und wenn, dann nur, um das vergebliche zweifelhafte Be-
333 M. Foucault: Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 197 334 Ebd. S. 178 335 Vgl. S. Zeiger: Wider die Macht des autorisierten Blicks. Die Arbeit am Wissen in Alexander Kluges „Schlachtbeschreibung" und Heimrad Bäckers „Nachschrift". In: (= treibhaus.Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre, Bd. 3) München 2007. S. 39-64 336 Vgl. ebd. 337 M. Foucault: Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 178
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mühen darzustellen, zeigt sich die Beamtenprosa gerade in ihrer minutiösen Aufdeckung der zeitlichen und räumlichen Disziplinierung als unermesslicher Fundus. Ob die Erzählung um die Bewegungen im Amtszimmer oder im hierarchischen Raum kreist, sich innerhalb Tages- oder Dienstzeitrhythmen abspielt oder die Kunstfertigkeit anzuklopfen, zu sitzen, zu grüßen oder zu frühstücken referiert, immer verrät die Präzision der Beschreibung den Charakter der Abrichtung. „Für den disziplinierten Menschen ist wie für den wahren Gläubigen kein Detail gleichgültig - nicht so sehr, weil darin ein Sinn verborgen ist, sondern weil es der Macht, die es erfassen will, dazu Gelegenheit bietet", schreibt Michel Foucault338, und nichts zeugt eindrucksvoller von der Erfassungskunst der modernen Macht als das oftmals liebevoll zur Schau gestellte Zurichtungsritual niedriger und hoher Staatsdiener in den untersuchten Beamtentexten. Zugleich wird über die Besetzungen der Körper, die sich in winzigen Bewegungen und Tempi manifestieren, auch der fundamentale Unterschied zu klassischen Zurichtungen moderner Macht ausgestellt. Wenn Michel Foucault von der „Ökonomie und Effizienz der Bewegungen" 339 spricht und die Ausnutzbarkeit der disziplinaren Fortschritte als Kriterium der modernen Macht bezeichnet, dann könnte man vermuten, dass jene Verformung, wie sie sich in den Beamtentexten herauskristallisiert, noch prämoderner Gestalt ist. Kerstin Stüssel weist in ihrer Arbeit über Beamte und Literatur auf „die zunehmende Historisierung und Musealisierung von Bürokratie" hin, weshalb von verschiedener Seite das langsame Schwinden des bürokratisch Amtsmäßigen vermutet werde.340 In diesem Sinne wäre es denkbar, dass der allerorts beschriebene Beamte mit seinen ökonomiewidrigen Praktiken am Aussterben sei. Zweifelsohne kann dies nicht für die „infinitesimale Gewalt über den tätigen Körper"341 gelten, die in so vielen Details die modernen „Mittel der guten Abrichtung" 342 bloßlegt. Ich glaube aber auch nicht, dass die bürokratische Vorgehensweise, wie sie die fiktionale Literatur vorführt, vom Ende der Amtswelt zeugt, bloß weil sie scheinbar ohne Sinn ist. Vielmehr kann sie aus einer machtgeleiteten Perspektive durchwegs als produktiv angesehen werden. Die Macht erfasst ihre 338 339 340 341 342
Vgl. ebd. S. 179 Vgl. ebd. S. 175 Vgl. K. Stüssel: In Vertretung. A.a.O. S. 5 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 175 Vgl. ebd. Titel. S. 220
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behördlichen Akteure total, gerade indem sie sie in anderen Kräfteverhältnissen arbeiten lässt. Die Schwächung des Körpers, die Bindung an Dinge und ans Leblose, die Desertions- und Agglomerationstaktik oder die regelmäßigen Abweichungen von Abläufen bezeugen vielfaltig, wie die Macht ihre Amtsdiener nutzt. Die Zwangsbindung an den Apparat, von der Foucault schreibt, ist auf diese Art und Weise am idealsten verwirklicht. So manche Textpassage, in der ein Beamter von diesen amtstypischen Disziplinierungen abweicht, zeigt, wie schnell dieser als Gefahr identifiziert und aus dem Apparat entfernt wird. Wenn Heimrad Bäcker auch ganz andere Ablichtungen sichtbar macht, nämlich solche, die sehr wohl von Ökonomisierung und wirtschaftlicher Profitabilität zeugen, liegt dieser Unterschied einerseits in der Auswahl und Bearbeitung der Texte begründet. Andererseits lässt sich die ausgestellte ökonomische Perfektion der Disziplinarmacht, die allen aktuellen Forderungen nach schlanker und billiger Verwaltung nachkommt, auch auf die Spezifik des Ausrottungsprozesses zurückfuhren, die ganz andere Bedingungen für die Administration schuf: - Beim Holocaust ging es um eine einmalige Tätigkeit mit klarem Ende. Außerdem musste der Massenmord in aller Geschwindigkeit durchgezogen werden. Demgegenüber hat gewöhnliche Amtsarbeit kontinuierlich zu verlaufen und ist am Prozess und an Nachhaltigkeit, keinesfalls an Tempo interessiert. - Viele Täter hatten wohl ein anderers, kein modernes Verhältnis zur Herrschaft, das jedenfalls auch traditionaler bzw. charismatischer Natur war. Dementsprechend versuchten sie ihre Befriedigung nicht (bloß) in der Tätigkeit zu finden, sondern auch in Anerkennung. Demgegenüber erwarten sich moderne Beamte von höchster Ebene kein Lob für ihre Routinearbeit und müssen sich anderweitig für ihre Tätigkeiten motivieren. - Tätigkeiten und Zusammenarbeit waren im Kontext des Holocausts auf vielfache Weise neu. Insofern erforderte dieser Eigenständigkeit, Flexibilität und ganz andere Planungsarbeit. Im Gegensatz dazu sind die meisten behördlichen Abläufe eingespielt und Änderungsvorschläge - noch dazu von unten - eher unerwünscht und schwer umsetzbar. - Die schnelle und koordinierte Arbeit am Massenmord war Voraussetzung dafür, dass er in diesem (gewünschten) Ausmaß stattfinden konnte. Bei ge-
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wohnlicher Amtsarbeit muss nicht jeder Auftrag erfüllt werden, es gibt auch willkommene Verjährungsfristen. Außerdem verstärkt die Undurchschaubarkeit der Anwesenheiten und Abwesenheiten die Kluft nach außen und diszipliniert die Behördengänger. Wichtig bei der Durchfuhrung des Massenmordes war aber nicht die Disziplinierung der Unbeteiligten, sondern deren Distanzierung vom Geschehen. - Die Kontrolle funktionierte im Holocaust über die gelieferten Zahlen; Engpässe und Dysfunktionen wurden sofort weitergeleitet. Im gewöhnlichen Behördenleben funktioniert die Mikrojustiz v.a. über unmerkliche Disziplinierungen, ohne dass Vorgesetzte sich einmischen müssten. Dies gelingt deshalb, weil nicht die Tätigkeiten bemessen werden, sondern die Einordnung ins hierarchische, zeitlich und räumlich wohlstrukturierte Disziplinarsystem. Hier leisten die Amtsdiener ihre schwierigste und wichtigste Arbeit, die im Eingriff in ihre Persönlichkeit und in ihrer Abschottung gegenüber der nichtbeamteten Welt viel mehr der militärischen als der ökonomischen Zurichtung zu ähneln scheint. - In Zeiten wirtschaftlicher Not ist der Druck, ökonomisch zu haushalten, größer. Auch er muss im Zusammenhang mit der Verwertungspraxis rund um den Holocaust mitgedacht werden. Durch die hier formulierten Unterschiede wird verständlich, warum gerade die Holocaustbürokratie effizient, ökonomisch, reibungslos funktionieren konnte und musste. Zentrale Merkmale sind hierfür: Ergebnis- statt Prozessbezogenheit, Geschwindigkeit statt Wiederholbarkeit, resultatbezogene Belohnung statt Sicherheitsgarantie, mitunter personales statt sachliches Arbeitsverständnis, Innovation statt Konservierung, Funktionalität statt Disziplinierung bzw. Auserwähltheitspathos statt Ersetzbarkeitsgarantie. Mit diesen Oppositionspaaren lassen sich durchwegs auch einige der Unterschiede zwischen den „Nachschriften" und der untersuchten Beamtenprosa charakterisieren. Zwar geht es da wie dort um das Gleichgewicht der Kräfte. In herkömmlichen Behörden ist es jedoch zu erhalten, in den „Nachschriften" immer wieder erst herzustellen. Das Ziel der Kraft als eine „den Bewegungszustand eines Körpers ändernde Größe"343 unterscheidet sich fundamental: Bei Bäcker ist es das nationalsozialis343 Vgl. Der kleine Wahrig. A.a.O.
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tische „Endziel", in der Beamtenliteratur v.a. das Erhalten eines Status quo und das persönliche Dabeibleiben bzw. Vorankommen. So unterscheidet sich auch die Disziplinarmacht in ihrer ökonomischen Perspektive, je nachdem, ob der Bewegungszustand der Körper von individuellen oder kollektiven bzw. unveränderbaren oder veränderbaren Größen, wie Mord oder Profit, abhängt.
2 Bürokratie als Evokation des Individuums
Neben dem Zwanghaften und Detailbearbeitenden des Disziplinarsystems, das noch die geringste Bewegungs- oder Haltungsdressur für die Macht tauglich und ihr dienlich macht, selbst wenn nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, gibt es noch ein weiteres totalisierendes Element, das die moderne Unterwerfung charakterisiert: die Lückenlosigkeit. Diese Lückenlosigkeit ist in räumlicher und zeitlicher Dimension zu denken und betrifft auch die Konstruktion des Individuums. Einerseits zwingt die Normalisierungsmacht zur Homogenität, andererseits wirkt sie individualisierend, da sie Abstände mißt, Niveaus bestimmt, Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nutzbringend aufeinander abstimmt. Die Macht der N o r m hat innerhalb eines Systems der formellen Gleichheit so leichtes Spiel, da sie in die Homogenität, w e l c h e die Regel ist, als nützlicher Imperativ und als präzises Meßergebnis die gesamte Abstufung der individuellen Unterschiede einbringen kann. 344
Folgt man den Literaturanalysen, scheint in den Beamtenbüchern sowohl die Homogenisierung wie auch die Individualisierung realisiert zu werden. Durch die Eigenheiten der Disziplinierung, die die Amtsmenschen auf andere, nichtsdestoweniger zwanghafte Art dressiert, scheint es einerseits eine spezifische Norm zu geben, die auf besonders unausweichliche Art Körper und Geist formt. Andererseits wirken die zahlreichen Bücher, mit denen Beamte und Ex-Beamte ihr Protagonistenindividuum herauskristallisieren, wie ein verzweifeltes Bemühen der Gegenwehr. Aber handelt es sich hier überhaupt um eine Gegenwehr? 344 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 238
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Womöglich verbirgt sich hier ein Paradox, das dem Behördenmenschen in seiner Ausflucht entgegensteht. Wie ist das Bemühen der Protagonisten zu verstehen, rund um die Mittagspause oder angesichts des störenden Parteienverkehrs unterschiedlichste Strategien der Zerstreuung und Abwehr zu etablieren? Sind das kleinliche Reglement, die persönlich gestalteten Rituale, die Kunst des Gehens und Innehaltens überhaupt Formen von Individualisierung? Eine interessante Beobachtung ist jedenfalls, dass alle Kriterien, die Foucault zur „absteigenden" Individualisierung zählt - Überwachungen statt Zeremonien, Beobachtungen statt Erinnerungsberichte, Messungen statt Genealogien mit Ahnenverweisen, „Abstände" statt außerordentliche Taten345 -, dass alle diese gesteigerten Individualisierungsprozeduren in der Beamtenprosa keine Form annehmen. Mit großem Gestus oder bescheidenem Aufbegehren wird statt modern traditionell geordnet und verortet, sodass am Ende die Individuen penibel vermessen sind, jedoch keineswegs nach modernen Kriterien. Trotzdem ist in allen Texten der von Foucault konstatierte Wandel des literarischen Diskurses erkennbar, der statt auf spürbare Weise den allzu sichtbaren Glanz der Kraft, der Gnade, des Heldentums und der Stärke kundzutun, [...] sich auf die Suche nach dem [macht], was am schwierigsten zu erkennen ist, nach dem Verborgensten, dem, was sich am schlechtesten sagen und zeigen lässt, und schließlich dem am stärksten Verbotenen und dem Skandalträchtigsten.346
Dass den Beamtenautoren der Skandal dabei nur klein und bescheiden gerät, liegt an der Verletzlichkeit der Ordnung, die bereits durch geringste Abweichungen erschüttert wird. Dass zudem das Verborgenste nicht intim ist oder aus dem Unterbewussten gezaubert wird, erklärt sich aus der abgeschotteten Welt und dem Selbstverständnis von Distanz und Diskretion, wodurch bereits das Nachbarzimmer oder Eigenheiten des Vorgesetzten tabu sind. Und in der Tat ist das Eigenleben der Behörden sehr schwierig wahrzunehmen und einzuschätzen. Wenn Neobeamte angesichts des Eigensinns zahlreicher Phänomene
345 Vgl. ebd. S. 248 346 Vgl. M. Foucault: Das Leben des infamen Menschen. In: ders.: Schriften zur Literatur. Frankfürt 2003. S. 314-335, hier S. 333f.
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verblüfft sind, vermag dies einiges der behördlichen Anders- und Fremdheit auszudrücken. Wie aber kann die Eigenart dieser Existenzweisen hinsichtlich der Macht und ihrer Akteure verstanden werden? Wäre es nicht möglich, dass die Beschreibungen von Zeremonien, Genealogien oder Taten, die das Verborgenste und Skandalöseste des behördlichen Eigensinns zeigen, nicht doch manchmal etwas davon sichtbar machen, was Foucault in der letzten Schaffensperiode beschäftigte : nämlich Subjektivierungen oder Widerstandspunkte, die fakultativen Regeln folgen und „die die Existenz als Kunstwerk hervorbringen, Regeln, die zugleich ethisch und ästhetisch sind und Existenzweisen oder Lebensstile bilden"347 ? Vielleicht könnten vereinzelte, aber zentrale Textpassagen der Beamtenliteratur statt als Dressur vielmehr als Subjektivierungsweisen gelesen werden, als „Individuierung, die ein Ereignis charakterisiert (eine Stunde des Tages, einen Fluß, einen Wind, ein Leben...)", als „Intensitätsmodus" oder „spezifische Dimension, ohne die man weder über das Wissen hinausgehen noch der Macht widerstehen könnte" 348 ? Dazu würden möglicherweise ärarische Eigenwilligkeiten in Lernet-Holenias Roman gehören, vor allem aber Handlungen der Amtmänner Anselm Eders und Tagesabschnitte des mittleren Beamten Franz Taxenbach. Kann sein, dass auch die Art der Gelassenheit von Kleinwächters Haupthelden dazugezählt werden könnte oder so manche mühsam rekonstruierte Erinnerung der tschechischen Beamten, insbesondere Jan Bases. Wenn die Frage nicht entschieden werden kann, welche Weise und Form von Individualisierung im Einzelnen zutage tritt - bei Bäcker fehlen Subjektivierungsweisen völlig. Auch der Umgang mit der Lücke und der Freiraum ist ein anderer. Beides gibt es nur mehr im poetischen Verfahren. Durch den Verzicht auf alles Identifikatorische wird auch der Leser dieser Konzentration ausgesetzt. Leere und Lücke werden derart thematisiert, dass sie jeden Freiraum suspendieren. Sie zeigen, wie problematisch die Naht- und Bruchlosigkeit ist. In jedem Leseakt muss jede Lücke geradezu zwanghaft geschlossen werden und beraubt insofern auch den Leser jeder Deutungs- und Assoziationsfreiheit. Aus den heraufbeschworenen Holocaustbildern kann er nicht wählen. Sie gleiten nahtlos ineinander über. Das Individuum wird nicht 347 Vgl. G. Deleuzes: Das Leben als Kunstwerk. A.a.O. S. 142 348 Ebd. S. 143
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evoziert: weder bei den Schreibern noch beim Autor. Aber vom Leser wird es schmerzlich vermisst. Ganz in einen anderen Zusammenhang werden die minutiös recherchierten Handlungen der Beamtenliteratur gerückt, egal ob sie disziplinärer oder subjektivierender Eigenart sind. Angesichts des aktuellen Dogmas des ökonomisch Nützlichen, wie es seit einigen Jahren immer mehr Diskurse durchzieht, mag die zeitraubende Marotte, das kultivierte Durchatmen, der unproduktive Gang durch die Gebäude usf. jedenfalls etwas von einer Existenzweise erahnen lassen, die dem Amtmann trotz ungeheuren Disziplinaraufwandes mehr Freiraum zu ermöglichen scheint als dem tüchtigen Angestellten in der Privatwirtschaft. Dass dieser Freiraum den Bürgern, die vielleicht auf einen Bescheid warten, wiederum Freiraum kostet, soll nicht unerwähnt bleiben.
3 Bürokratie als Schreibmotivator
Zuletzt gilt es noch jener Frage nachzugehen, die sich in den ersten beiden Abschnitten viel leichter beantworten ließ: die Frage nach der Schreibmotivation. Angesichts bedingungsloser Bereitschaft zu Gehorsam und demütigender Herrschaftserfahrungen, die die Sehnsucht nach traditionalen oder charismatischen Ordnungen provoziert (vgl. den Weberteil), kann die Auseinandersetzung mit Bürokratie deren Sogwirkung reflektieren und die Kreuzungspunkte mit Alternativformationen herausarbeiten. Im Spannungsfeld binärer Dimensionalität können Unausweichlichkeit und Paradoxie bearbeitet und demokratische oder ethische Defizite elaboriert werden (vgl. den Habermasteil). Unter dem Blickwinkel produktiver Disziplinarkunst, die weder verordnet noch jenseits einer imaginären Grenze zum Bürger hin angesiedelt, sondern in der Schreibperson selbst wirksam ist, erscheinen die Schreibanlässe verworrener. Geht es in der Tat um Entblößung eigener Dressurakte - oder doch, wie oben angesprochen, um die gelungene Kunst, sich daraus bisweilen freizuspielen ? Geht es um die verwehrte Anerkennung eines emsigen Arbeitslebens oder doch um die Anklage minutiöser Demütigungen ? Folgt man einer weiteren bemerkenswerten Ansicht Foucaults, dann agiert der moderne Mensch auch dann noch im Spannungsfeld der Macht, wenn er vermeintlich selbstbewusst sein eigenes Leben schreibt.
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Da die Macht mit Sicherheit locker und leicht niederzureißen wäre, wenn sie nichts anderes tun als überwachen, ausspionieren, überraschen, verbieten und bestrafen würde; aber sie stachelt an, ruft hervor und bringt hervor; sie ist nicht einfach nur Auge und Ohr, sie macht handeln und sprechen.349
Zweifellos ist dieser Hang zum Agieren in vielen Texten nachvollziehbar. Gerade in den Beamtentexten ist er in beachtlichem Ausmaß und erstaunlicher Offenheit verwirklicht. Das heißt, die Leser wohnen einer zweifachen Produktivität bei: jener des Handelns und jener des Sprechens. Dabei werden beide Charakteristiken, die Foucault der Disziplinarmacht zuschreibt, sichtbar: sowohl die Dominanz der Indiskretion als auch jene der Diskretion.350 Unters belletristische Mäntelchen gesteckt können auch solche Mechanismen und Erlebnisse verarbeitet und publik gemacht werden, die normalerweise verschwiegen werden, um die Kontinuität der Bürokratie zu sichern. Die Literazität ermöglicht es außerdem, das Banale und Gewöhnliche als Besonderheit, ja als Abenteuer zu präsentieren. Das Leben in Demut und Zwang wird geadelt. Damit die Überhöhung nicht von vornherein ironisch ankommt, muss der größtmögliche Abstand zu den bürokratischen Sprachformen gehalten werden, die die Regularität und damit deren Schreiber bloßstellen würden. So wundert es nicht, wenn gerade in diesen Texten auf auffallige Weise alle Inhalte von Akten sowie Nummerierungen und Zahlen fehlen. Bis auf seltenste Ausnahmen kommt auch nichts vor, was administrative Sprache ganz generell kennzeichnet : deren definitorischer und imperativer Charakter sowie deren syntaktische und stilistische Eigenheiten wie „Synonymenscheu und Variationsarmut, die den Eindruck der Formelhaftigkeit hervorrufen, Bevorzugung von Substantiven, Genitivreihungen, komplizierte syntaktische Fügungen, Aufgabe der Endstellung des Verbs"351. Im Gegensatz zu zahlreichen spannenden literarischen Versuchen, Bürokratie über die Bearbeitung ihrer Sprache zu hinterfragen, was in diesem Buch exemplarisch bei Drach, Bayer, Bäcker oder HerzmanovskyOrlando gezeigt wurde, bleiben die Texte Festenbergs, Kleinwächters oder Lernet-Holenias sonderlich frei von der amtlichen Zeichenwelt. Damit offenbart
349 M. Foucault: Das Leben der infamen Menschen. A.a.O. S. 332 350 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 229 351 W. Dieckmann: Sprache in der Politik. Heidelberg 1975. S. 92
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sich diese Literatur auch insofern im Kontrast zu Foucaults Erkenntnissen, dass sie, wie vor dem 18. Jahrhundert, „Monument für ein künftiges Gedächtnis" und nicht „Dokument für eine fallweise Auswertung" sein will.352 Wenn die Beamtentexte manchmal eher unwillkürlich die hohe Disziplinarkunst transparent machen, zielt Bäckers Textmontage ganz direkt darauf ab. Diametral der Beamtenliteratur entgegengesetzt sind seine Arbeiten auch insofern, als die private und persönliche Zurichtung kaum zur Sprache kommen, sondern sich alle Tätertexte konsequent auf die berufliche Arbeit der Schreiber beschränken. Wenn also die Beamtenliteratur manchmal Entschuldigungen und Rechtfertigungen für mangelhafte Aktenbearbeitung liefert, weil sie das triste oder schwierige Dasein der Staatsdiener ausstellt, so gibt es bei Bäcker keinen Deut an Entschuldigungsmöglichkeit. Der gnädige Blick ins Wohnzimmer der Täter, wo der eine und andere liebvoll eine Frau oder einen Hund liebkost, wird nicht gestattet. Zugleich ist auch die Schreibmotivation Bäckers eine andere. Selbst wenn es ihm ebenfalls darum geht, gegen das Vergessen anzuschreiben, ist dieses Anliegen v.a. gegen mögliche Gefahren in Gegenwart und Zukunft gerichtet. Immer wieder sorgt er für die Einsicht, dass so etwas Schreckliches wie der Holocaust noch und wieder möglich sei, da die Gesellschaft nach wie vor bürokratisch organisiert ist. Und hier findet sich auch die Ergänzung zur These, wie sie im Titel formuliert wurde: Bürokratie funktioniert nämlich nicht nur insofern als Antriebsfeder fürs Schreiben, als man ihr, vergeblich, aber doch, zu entgehen versucht. Bürokratie erweist sich auch dort als starker Motivator, sich literarisch mit ihr zu befassen, wo es um ihre Sprache und Ordnungen, um ihre disziplinare Vehemenz und Vielfalt, ja um ihre paradoxe Sonderstellung im Reich der Macht geht, die ihr noch im 20. Jahrhundert ein altmodisches Antlitz verpassbar macht und zugleich ermöglicht, modernste Leistungen zu vollbringen und grauenvollste Ideologien umzusetzen.
352 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen. A.a.O. S. 247
SCHLUSSBETRACHTUNGEN
Wut und Witz der Wörter ist ein Kampf mit System. Lena Krainz
Wenn die Aussagen verschiedener Diskurse über Bürokratie eher über Oppositionspaare zueinander in Beziehung gesetzt werden können - rational-irrational, ökonomisch-unökonomisch, berechenbar-unberechenbar, demokratietauglich-totalitär -, so zeigt die Literatur, wie gerade das Bestehenlassen der Gegensätze und die daraus resultierenden Widersprüche aufschlussreiche Erkenntnisse zum Phänomen der modernen Verwaltung liefern können. Die Poetiken machen es in unterschiedlichen Bereichen der Behörden und der Lebenswelt als künstliche Ordnungskräfte sichtbar, die mit anderen Ordnungen und Kräften kollidieren oder in sie eingehen. Aber selbst dort, wo die Bürokratie als natürliche Ordnung implementiert wird und die traditionelle Poetik nicht zu stören vermag, lassen sich spannende Blicke auf erstaunliche Disziplinarisch niken gewinnen. Im Folgenden soll nun versucht werden, dominante Aspekte des literarischen Bürokratiediskurses herauszugreifen und dabei Besonderheiten gegenüber den theoretischen Arbeiten, gegenüber dem Alltagsdiskurs sowie als Poetik der Bürokratie auszumachen. Dabei wird zu zeigen sein, wie die Aussage des Generals Stumm von Bordwehr - „Es ist alles viel komplizierter, Herr Sektionschef"353 - von der Literatur verschiedentlich belegt werden kann.
353 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek 1988. S. 1099
Literatur versus Theorie : Entbürokratisierung versus Bürokratisierung
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1 Literatur versus Theorie: Entbürokratisierung versus Bürokratisierung Wenn sich dieses Buch dem literarischen Diskurs über Bürokratie widmet und dazu drei verschiedene theoretische Ansätze heranzieht, so nicht deshalb, um anhand fiktionaler Texte soziologische oder philosophische Thesen zu verifizieren oder zu falsifizieren. Vielmehr dient der interdisziplinäre Ansatz dazu, bei der literaturwissenschaftlichen Untersuchung auf Begriffe und Strukturen rückgreifen zu können, die in der Bürokratieforschung erarbeitet wurden, statt auf die alltagsgebräuchliche Sichtweise angewiesen zu sein. Die Theorien wurden dazu verwendet, das Feld der modernen Verwaltung gegenüber verschiedenen Alternativordnungen abzustecken sowie die Perspektiven auf die Bürokratie zu variieren, sowohl zu erweitern als auch zu konzentrieren. Genausowenig ging es darum, zwischen theoretischem und literarischem Diskurs ein konkurrierendes Verhältnis zu konstruieren und die jeweiligen Erkenntnisse gegeneinander auszuspielen. Sehr wohl interessierte mich jedoch, wo und wie die fiktionalen Texte die soziologischen Ordnungen sprengten und welche anderen Perspektiven dadurch eröffnet wurden. Hier soll nun anhand der grundlegenden Differenz zwischen wissenschaftlichen und literarischen Arbeiten der Beitrag der Literatur zu Ausbau oder Rückbau von Bürokratie skizziert werden. Dabei soll gezeigt werden, dass die Prosaarbeiten schon per se Teil eines Entbürokratisierungsdiskurses darstellen, sich aber auch darüber hinaus weniger mit dem Prozess der Verstaatlichung als mit Destaatlichungsversuchen auseinandersetzen.
KLARHEIT VERSUS UNKLARHEIT
Zentral unterscheidet sich die Theorie von der Literatur, indem sie auf Widersprüchlichkeit und variable Konnotationen setzt. Eingebettet in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge erweist sich die fiktionale Bürokratie als komplizierte, nicht rational nachvollziehbare Ordnung und lässt die Leser mit rätselhaften Rückständen und Paradoxa allein. Die historischen und geografischen Referenzen, ja Erzählung, Plot und Handlungen bleiben gern uneindeutig bzw. scheinen unmotiviert, sodass die Leserschaft, statt mit klärenden Aussagen verwöhnt zu werden, mit zahlreichen Fragen konfrontiert wird. Auch dort, wo die Bürokratie reibungslos zu funktionieren scheint, die erzählerische Instanz
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Schlussbetrachtungen
ganz mit ihr zufrieden ist, wird die Leserschaft dramatischen und witzigen Absurditäten ausgesetzt. So bilden die Texte Inkohärenz und Intransparenz mit all den daraus resultierenden Machtzuwächsen ab und demontieren jegliche Illusion einer rationalen Durchdring- oder Erklärbarkeit bürokratischer Praxis. Diese Unklarheit mit ihrer Offenheit an Deutungsmöglichkeiten scheint nicht unwesentlich dazu beizutragen, dass der Literatur eine besondere Realitätsnähe anhaftet.
N O R M U N D NORMIERTE VERSUS A B W E I C H U N G U N D INDIVIDUEN
Statt wie in den Wissenschaften Normen und verallgemeinerbare Prozesse mit typisiertem Personal zu beschreiben, wird in der Literatur das Augenmerk auf Abweichung und Singularität gelegt. Durch diesen Fokus auf Individuum und Fehler konzentriert sich der literarische Diskurs gerade aufjene Stellen, an die die Theorien oft nicht herankommen. Diese Orte stellen sich jedoch nicht als exklusive Nischen oder Kuriosenkabinett dar, wo Ausnahmehandlungen vollzogen würden, sondern sie indizieren grundlegende Strukturen und Machtverhältnisse der Bürokratie. Die dort wirksame Dialektik der Unordnung und Ordnung bzw. der Störung und Funktion erweist sich fiir die Bürokratie nicht nur als produktiv, sondern auch als konstitutiv. Besonderes Interesse bezeugen die literarischen Texte dabei an der Bürokratisierung lebensweltlicher Angelegenheiten sowie an jenen Prozessen, die die Disziplinierung der Bürgerschaft und des Verwaltungsstabes jenseits konkreter Amtshandlungen betreffen. Dadurch wird die Problematik des Individuums in seiner Eigenschaft als Bürger und Arbeitskraft, als denkendes und fühlendes Mitglied der Gesellschaft veranschaulicht, das der bürokratischen Ordnung ausgesetzt und zugleich an deren Bestand und Erfolg beteiligt ist. Dass sich in dieser Perspektive verschiedene sozialwissenschaftliche Thesen und Kategorien als unbrauchbar oder zumindest fragwürdig erweisen, zeigt, wie notwendig die Literatur für das Verständnis von Bürokratie, insbesondere auch für das Leben in Bürokratien ist. Obendrein wirkt sie beruhigend: Den in der Theorie bisweilen geäußerten Befürchtungen einer nivellierten, disziplinierten und durchrationalisierten bürokratischen Gesellschaft setzt sie das Individuelle und die Abnormität entgegen, auf die die fortschreitende Bürokratisierung letztlich angewiesen sei. Die Maschine Mensch kann es auch im modernsten Staat und „Gehäuse" nicht geben.
Literatur versus Theorie: Entbürokratisierung versus Bürokratisierung
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Verallgemeinerbarkeit will in der Theorie jedoch auch darauf hinaus, dass die konstruierten Modelle und Prozesse nicht nur auf einen bestimmten Staat oder eine bestimmte Gesellschaft anwendbar sind. Die Literatur scheint mit Personal und umweltlichem Arrangement demgegenüber bloß Momentaufnahmen spezifischer Situationen und Personen zu bieten, die an konkrete Orte, Zeiten und Typen gebunden bleiben. Dieser Schein trügt. Durch die Referenz auf psychologische, mythische und gesellschaftliche Grundstrukturen, aber auch durch die Konzentration auf das individuell Besondere werden wie in der Theorie verallgemeinerbare Möglichkeiten und Unmöglichkeiten im Prozess der Entbürokratisierung aufgezeigt. Dabei bereichert das von der Literatur gewählte Augenmerk den Bürokratiediskurs entscheidend. Uber die Integration der Bereiche Sexualität, Sinnlichkeit, Sinne, über Familien- und Geschlechterverhältnisse u.a. fuhrt sie das, was in der Theorie gern vernachlässigt wird, ebenso wie die Relativität so mancher wissenschaftlich überzeugender Thesen vor. Vor allem aber begründet sie jene Widersprüche, die sich zwischen den schönen Theoriegebäuden funktionierender und ökonomischer Bürokratien und den im Alltag erlebten Behördenerlebnissen so oft auftun.
FUNKTIONALE SPRACHE VERSUS SPRACHENVIELFALT
Wichtigstes Mittel der literarischen Diagnose ist die spezifische Kombination von Fachsprache, verwaltungstypischen Textsorten und Abläufen mit anderen Sprachformen und Stilen, die unterschiedlicher nicht sein könnte. Während manche Autoren gänzlich auf die funktionale Sprache der Administration verzichten, um die behördlichen Helden als weltliche Protagonisten zu feiern oder zu desavouieren, setzen andere auf komplexe Wort- und Satzgefüge, Nominalisierungen, biografische Abrisse oder Aktenzeichen, um die traditionelle Erzählung und eingeübte Sichtweisen auf die Bürokratie zu stören. So wird die Kritik an System und Lebenswelt, Herrschaft und Gehorsam, Disziplin und Rebellion nicht wie in der Wissenschaft direkt ausgesprochen, sondern im Verzicht oder spezifischen Rückgriff auf bürokratische Prinzipien und Sprache mehr oder weniger unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: Das Gestaltungs- und Verunstaltungspotenzial der Bürokratie, deren klärende und demütigende Wirkungen werden ebenso vorgeführt wie zugrunde gelegte Werte und Haltungen der Behörden- und Lebenswelt. Damit nimmt die Literatur aber auch eine kriti-
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Schlussbetrachtungen
sehe Position gegenüber dem „objektiven" Duktus der Bürokratieforschung ein, die die zentralen Dimensionen der Gesellschaft ausklammert und andererseits gleich wie die Bürokratie so tun muss, als ob ihre eigenen Definitionen und sachlichen Abhandlungen das „Objektivierte", die ausverhandelte Welt, nicht schon von vornherein entstellt hätten. Diese Unterschiede zwischen Theorie und Literatur resultieren aus Fiktionalität und Literazität: Nur im literarischen Feld ist Uneindeutigkeit kein Mangel, werden exemplarisch über ein paar Figuren, über Abweichungen oder die Einzigartigkeit von Situationen weitreichende Bedingungen und Strukturen ausgeleuchtet, nur dort darf die Sprache selbst Prozess fuhren. Zugleich nehmen diese literaturspezifischen Eigenheiten auch im Bürokratiediskurs eine besondere Position ein. Sie liefern einen Entbürokratisierungsbeitrag, treten gegen den Formalismus, das System, die Ausblendung individueller Bedürfnisse an, gegen die Vorherrschaft der Sachlichkeit und Rationalität. Selbst wenn dadurch nicht nur das Unbehagen an der Bürokratie, sondern oft auch deren Anziehungskraft nachvollziehbar gemacht wird, stellt die Literatur schon als solche einen Entbürokratisierungsbeitrag dar, einen Rest Welt, der sich der Ausschließlichkeit rationaler Denkweise widersetzt, was man von den theoretischen Ansätzen nicht sagen kann.
VERSTAATLICHUNGSBEFUNDE VERSUS DESTAATLICHUNGSVERSUCHE
Aber Literatur stellt nicht nur einen Entbürokratisierungsbeitrag dar, sie thematisiert auch bevorzugt Entbürokratisierungsbemühungen. So wird in den hier untersuchten Texten die Richtung von Prozess und Ausdehnung der legalen Herrschaftsformen, des bürokratischen Systems und der modernen Disziplinierung meistens umgekehrt. Voraussetzung ist, dass diese Destaatlichungsversuche vor dem Hintergrund einer bereits weitgehend bürokratisierten Welt angestellt werden. Dabei kommen alle literarischen Mittel zum Einsatz: Die Bemühungen lassen sich sowohl auf lexikalischer und syntaktischer als auch auf narrativer Ebene nachvollziehen, wir finden sie im Plot, in Metaphern, im Arrangement der Figuren und deren Handlungen. Am auffalligsten ist der Einsatz mythischen Personals und mythischer Denkformen, wie Magie, Heiligungen, Rechtstypismus sowie Verfahrensweisen des Mythos, beispielsweise die Kreisschlüssigkeit, die Unbefragbarmachung, die Verwandlung oder die Ge-
Literatur versus Theorie: Entbürokratisierung versus Bürokratisierung
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nealogie.354 Durch sie wird die legale, rationale Ordnung karikiert und in ihren demütigenden, überraschenden Wirkungen nachvollziehbar. Zugleich gilt das mythische Denken als gelebter Widerstand, als hartnäckige Konkurrenz oder aber auch als Methode, die bürokratische Herrschaft, das bürokratische System und die bürokratischen Zuchtmechanismen fass-, erklär- oder rechtfertigbar zu machen. In jedem Fall erweisen sich die Destaatlichungsversuche als prekäre Angelegenheit. Sie fuhren nicht zu einem Rückbau moderner Institutionen und rationalen Denkens, sondern zu Konglomeraten, in denen die legale Herrschaft, das System oder diverse Disziplinarmechanismen an Kraft und Wirksamkeit gewinnen. Auch in den hier gewählten Theorien werden die Stabilität legaler Herrschaft und die Stärke moderner Institutionen und Mechanismen belegt. Allerdings setzen sie sich genau umgekehrt zur Literatur mit Verstaatlichungsprozessen auseinander, mit dem Prozess der Modernisierung von Verwaltung und Gesellschaft. Dieser läuft beachtlich störungsfrei und ist, wenn man so will, ziemlich unkompliziert. Wenn Max Weber dabei auf die dominante Legalisierung und Bürokratisierung fokussiert, durch die nach und nach traditionale und charismatische Herrschaftsformen ersetzt würden, legt Jürgen Habermas das Augenmerk auf die Institutionalisierung und Ausdifferenzierung der Lebenswelt. Michel Foucault hat sein Forschungshandeln auf noch kleinere Einheiten konzentriert und resümiert sein Anliegen folgendermaßen: [...] in jedem Fall habe ich die fortschreitende, gewiss zerstückelte, aber dennoch kontinuierliche Verstaatlichung stets kenntlich gemacht; die Verstaatlichung einer bestimmten Anzahl von Praktiken, Handlungsweisen und, wenn Sie so wollen, einer Gouvernementalität. Das Problem der Verstaatlichung steht im Zentrum der Fragen, die ich zu stellen versucht habe.355
Wenn im Unterschied dazu in den literarischen Texten das Problem der Destaatlichung bzw. der Entbürokratisierung vorgeführt wird, werden die Domi-
354 Vgl. H. Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt 1979 355 M. Foucault: Staatsphobie. In: S. Krasmann/Th. Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt 2000. S. 68-71, hier S. 69
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Schlussbetrachtungen
nanz und Hegemonie der Bürokratie anders begründet und haben andere Auswirkungen zur Folge. Je nach Ansatz kristallisieren sich dabei unterschiedliche Kräfte heraus, die den Prozess der Destaatlichung stören. Anhand Max Webers Typologie ließen sich die Staaten als Herrschaftskonglomerate mit bürokratischen, traditionalen und charismatischen Zügen herausarbeiten. Zugleich wurden verschiedenste Bemühungen sichtbar, den Staat zurückzudrängen: seine Beamten, seine Ordnung, seine Institutionen. Dabei stellten sich die legalen Herrschaftsprinzipien als besonders hartnäckig heraus. Ihre Stärke verdankt die fiktionale Bürokratie jedoch nicht jenen Attributen, die Weber ihr zuschreibt, der Sachlichkeit, Rationalität, Widerrufbarkeit usf. Genau umgekehrt erweist sich die moderne Herrschaft hinsichtlich ihrer Macht als umso genialeres Modell, als sie zur immer willkürlicheren, unberechenbareren Ordnung verkommt: durch müde, faule, verliebte, begabte oder ehrgeizige Figuren, durch Unpässlichkeit, Wetterverhältnisse, Lust auf Konsum oder Apokalypse. Bürokratisierungs- und Entbürokratisierungsprozesse bedingen sich gegenseitig und sorgen in einem dialektischen Verhältnis dafür, dass es zu keinem Stillstand kommt. Menschliche Unfähigkeit und Bequemlichkeit sowie ganz generell die vom modernen System ausgeblendeten Dimensionen emotionaler und individueller Varietät fuhren dazu, dass der Apparat ausgebaut und bürokratische Denkweisen gestärkt werden. Mit jeder quantitativen und qualitativen Ausdehnung von Bürokratie wachsen jedoch wiederum die Fehleranfalligkeit und Intransparenz, gleich wie irrationale Handlungen und emotionale Denkweisen zunehmen, was erst recht wieder Rationalisierungs- und Bürokratisierungsschübe auslöst. Mit dem zweidimensionalen Modell von Jürgen Habermas geraten die Wechselprozesse zwischen Lebenswelt und Bürokratie in den Mittelpunkt. Die Handlungsmöglichkeiten, die entstehen, erweisen sich jedoch anders als in der Theorie als prekär, weil System und Lebenswelt zum einen bis zur Aufspaltung von Persönlichkeiten, zum anderen zu parasitären Verflechtungen fuhren. Das System hat Ideen, Personen und Sprache völlig durchsetzt. Die Versuche, sich stückweise freizukämpfen, scheitern, egal ob dafür geredet oder getötet wird. So finden sich Bemühungen, in denen die Beteiligten konsensuell bzw. kommunikativ Bürokratie ausverhandeln oder solcherart gegen ihr kolonisatorisches Eindringen vorgehen können oder wollen, nur selten. Schon eher bedienen sich die Protagonisten bei ihren Destaatlichungsversuchen oder die Autoren bei
Literatur v e r s u s Theorie : Entbürokratisierung v e r s u s Bürokratisierung
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ihrer Bürokratiekritik der Sprache und der Mittel des Systems. Dabei werden einerseits die Macht und Attraktivität der Bürokratie zutage gefördert. Andererseits wird auch das prekäre Machtgefalle innerhalb der Lebenswelt herauskristallisiert, weil nur deren dominante Vorstellungen institutionalisiert und damit gestärkt werden. So stellen literarische Auseinandersetzungen mit Bürokratie nicht selten Appelle an die Lebenswelt dar, ihre Wertvorstellungen und Machtverhältnisse zu verändern. Zugleich demonstriert die Literatur, wie zerstörerisch die Bürokratie wirkt, wenn sie in widersetzliche Bereiche wie Tradition, Sinnlichkeit, Emotionalität und Individualität vordringt. Hier wird die habermassche Warnung vor Kolonisierungen der Lebenswelt sinnlich nachvollziehbar. Und fällt insofern auf fruchtbareren Boden ? Ganz anders erweist sich der Blick auf die Literatur, wenn Bürokratisierung mit Michel Foucault als feingliedriger Zuchtmechanismus ausgemacht wird. Die detaillierten Ordnungen in Zeit und Raum, die das Amtspersonal in Freizeit und Arbeit realisiert, werden auch in der Literatur als unausweichlich und beharrlich charakterisiert. Allerdings sind die Destaatlichungsversuche in den Prosaarbeiten der Beamtenautoren beinahe auf Naturalisierungsbemühungen beschränkt: Jegliche Disziplinierung wird als genetische oder naturhafte Angelegenheit betrachtet, die Texte sind dafür fast gänzlich von fachsprachlichen Kennzeichen bereinigt. So werden der moderne Staat und die Künstlichkeit der gemachten Ordnung zum Verschwinden gebracht, die Disziplierungen sind dafür aber nur umso besser zu sehen. Interessanterweise sind sie jedoch mit Foucaults Praktiken und Handlungsweisen weitgehend inkompatibel. Nimmt man seine Charakteristik der modernen Institutionen, nämlich Ökonomie und Zielorientierung als Parameter der Durchstaatlichung, könnte die Literatur, wo die Bürokratie auf Ökologie und Prozess gründet, auch insofern als Destaatlichungsbeitrag angesehen werden, würden ihre Kriterien nicht erst recht auf zeitlicher und räumlicher Disziplinierung beruhen. In experimentellen Texten - wie schon bei Drach so auch bei Heimrad Bäcker - werden diese Entbürokratisierungsbemühungen nicht vorgeführt, im Gegenteil. Allerdings wird in der Zuspitzung und Verdichtung des bürokratischen Vokabulars und dessen Funktionalität nur das menschenverachtende Potenzial der Bürokratie herausgestellt, sodass deren Abbau als dringliche Notwendigkeit Seite für Seite nachvollziehbar wird. Bei den literarischen Versuchen, den Staat und die Bürokratie zurückzudrängen, werden demnach gesellschaftliche Grundthemen problematisiert, wie In-
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Schlussbetrachtungen
dividualität, Sozialität, Liebe, Sexualität, die Konstruktion von Geschichte und Nation. Indem diese Bereiche verwaltet oder auch nur in Kontakt mit administrativen Prinzipien treten, stellen sich Bürokratie und Lebenswelt anders dar: Zum einen werden die Machtverhältnisse der Lebenswelt offengelegt, deren Wertvorstellungen aufgedeckt und gestärkt. So wird in den von der Literatur vorgeführten Destaatlichungsbemühungen vor allem eine Auseinandersetzung mit Werten und Machtverhältnissen geführt. Das heißt auch, dass Funktionabilität nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, gleichermaßen kann es keine Transparenz und Berechenbarkeit geben, die Hoheit rationaler Betrachtungsweise wird gebrochen. Z u m anderen wird sehr wohl auch die Bürokratie an den Pranger gestellt: einerseits, weil sie lebensweltliche Zustände zementiert, andererseits weil sie auf die obengenanten Grundthemen entstellend und entmündigend wirkt. Nicht zuletzt zeigt die Literatur, dass sowohl Bürokratisierung als auch Entbürokratisierung nur dann funktioniert und nachvollziehbar ist, wenn eben diese Grundthemen mitgedacht werden.
2 Literatur versus Alltagsdiskurs: Bürokratie als gesamtgesellschaftliches Dilemma versus Feindbildkonstruktion Neben diesen grundsätzlichen Gesichtspunkten, die sich in Abweichung zu den theoretischen Ansätzen herauskristallisieren, sollen nun auffallige Aspekte der österreichischen Bürokratieliteratur skizziert werden, die die symptomartige Alltagskritik in einen Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Diagnosen stellen lassen. Im Unterschied zum Alltagsdiskurs, der die bürokratischen Probleme und Spezialitäten bevorzugt im abgeschotteten Kosmos der Behörden lokalisiert, fokussiert der literarische Text auf Besonderheiten in Bürokratie und Lebenswelt und verfolgt sie in immer komplexer werdenden Strukturen. Mit der Störung als Kontrastmittel im gesamtgesellschaftlichen Umfeld (Behörde und Lebenswelt) macht die österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts die bürokratische Ordnung vor allem in Dilemmata sichtbar. Für die folgenden Thesen werden neben den untersuchten Texten auch andere Bücher der Autoren sowie Werke von Robert Musil, Odön von Horväth, Paul Kornfeld, Franz Werfet, Heimito
Literatur versus Alltagsdiskurs
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von Doderer, Ingeborg Bachmann, Jörg Mauthe, Thomas Bernhard, Gernot Wolfgruber und Peter Rosei herangezogen.
BÜROKRATISIERUNG ALS AUSGLEICHSSTRATEGIE
In vielen literarischen Texten werden Kontinuität und Expansion von Bürokratie als Ausgleichsstrategie gegen Herrschaftsdefizite entlarvt: gegen den mangelnden Zusammenhalt des Staates, militärische Niederlagen, die Schrumpfung Österreichs nach 1918 oder fehlende identitätsstiftende Bilder der Nation. Neben Bürokratisierungsschüben bedingen die Mängel auch den verstärkten Einsatz österreichspezifischer Konfliktlösungsstrategien: fröhliches „Fortwursteln", Schlamperei und kleine Intrigen. Dabei wird nicht nur auf Eigeninitiative der Staatsdiener und Willkür zurückgegriffen: Bürokratische Verwaltung mit ihren Eigenarten verliert ihre sachlich-technische Dimension und wird zum Traditionsgut hochstilisiert. Mit dem Verschnitt verschiedener Herrschaftsprinzipien werden die behördlichen Vorgänge für Außenstehende noch undurchschaubarer sowie unberechenbarer und demokratische Praktiken verunmöglicht. Rationalen Kriterien folgt der Verwaltungsstab nur mehr in seinen Machterhaltungsstrategien, auf die die labile Herrschaft und ihre schwachen Herrschaftsfiguren angewiesen sind. Dementsprechend werden mit den meisten Aufgaben der höheren Beamten Terraingewinne auf symbolischer Ebene bezweckt: Sie versuchen sich an absoluter Perfektion, der Zerstörung jeglicher Tradition, an der Erfindung nationaler Spezialitäten, der Rettung des Staates oder seines Bildes, an der Kolonisierung fremder Lebenswelten, der Verfremdung lebensweltlicher Angelegenheiten, der Weltherrschaft Österreichs, an der Kontaktaufnahme mit Göttern oder Zwergen. Obwohl fast alle Aufträge von vornherein zum Scheitern verurteilt sind, widmen sich die ranghöchsten Beamten, da in ein mondänes, finanziell gut abgesichertes Umfeld eingebettet, ihrer Arbeit meist mit ironischer Distanz und Leichtigkeit. Die experimentellen und kreativen Rettungsaktionen des Staates machen aus ihnen PR-Agenten der Nation.
F O R M A L I S I E R U N G IN A M T U N D FREIZEIT
In scharfem Kontrast dazu sind die unteren Beamten mit Formalisierungstätigkeiten eingedeckt und auf Konstanten der Nation reduziert. Nicht zufallig
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Schlussbetrachtungen
sind sie ständig von Elend, Einsamkeit und Armut bedroht und verfallen immer wieder der Depression und dem Alkoholismus: egal ob sie nur Schreibarbeit zu erledigen haben oder Widersprüche und Fehler kunstvoll in den Machthaushalt einbauen. Neben ihrer geisttötenden Routinearbeit sind sie mit Uberlebensstrategien, Ordnungstätigkeiten und der Erhaltung oft sentimentaler Träume beschäftigt. Mit der Disziplinierung ihrer privaten und amtlichen Tätigkeiten reproduzieren sie ihre eigene Verstümmelung und zugleich das Machtgefuge des gesamten Apparats. Nur in wenigen literarischen Texten über die Kriegs- und Nachkriegszeit, als die Unterwerfung unter das totalitäre Regime und später unter die kollektive Verdrängungspraxis die Gehorsamsleistungen in höchstem Maß gewährleistete, erscheint die Bürokratie als gut funktionierendes System. Nur dort gibt es Belege fiir Beamte als funktionale Teile des Apparats, die, wie die Bürger auch, nicht unter der modernen Verwaltung zu leiden scheinen. Das Osterreichische wird hier im Obrigkeitssinn und einer quasi pathologischen Konsenssehnsucht ausgemacht, die im maschinellen Kontinuum befriedigt wird. Warum sich trotz massiver Kritik, die sich auch in den Parteiprogrammen niederschlägt, Bürokratie als Garant für Immobilität erweist, wird in literarischen Texten auch auf Besonderheiten des Lebensstils und Psychogramms der Beamten zurückgeführt: Die klassische Beamtenfigur der österreichischen Literatur ist männlich und differenziert sich von den Nichtbeamten: durch mangelnde Sportlichkeit, funktionalisierte Bewegungen, penible Raum- und Zeitaufteilungen, Formalisierung der Alltagsbeschäftigung in Amt und Freizeit (Essen, Kontakte, Gedanken, Träume, Spaziergänge ...), Vorliebe für ordnende Tätigkeiten sowie Angst vor unvorhersehbaren Ereignissen und Veränderungen. Dominante Merkmale des Psychogramms der Beamtenfiguren sind zudem die verschämte Lust auf Abenteuer oder aber ein sentimentaler Hang zur Ehe. Egal in welcher Beziehung sie zu den Frauen stehen, der klassische Beamte der Literatur unterwirft sich seiner Vermieterin, Mutter, Geliebten und Gattin. Körperliche Gewaltanwendung ist den meisten Beamten in der Literatur ebenso zuwider wie das offene Austragen von Konflikten. Die Kommunikationsfahigkeit ist eingeschränkt und nimmt parallel zum Rang des Beamten ab. Unabhängig von seiner Position gilt, dass der Staatsdiener fiir jeden anderen Beruf völlig ungeeignet ist und an jedem amtsfremden Problem nur scheitern kann. Zahlreich sind denn auch die Ver-
Literatur versus Alltagsdiskurs
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Sicherungen, dass der Amtmann trotz allem ein Mensch sei, was nicht immer glaubhaft gemacht wird oder was auf ihn mitunter erst dann zutrifft, wenn er im Ruhestand oder tot ist.
IMMOBILITÄT U N D KONTINUITÄT
Immobilität und Kontinuität werden in den literarischen Texten als (oftmals österreichspezifische) Wesenszüge der bürokratischen Kultur ausgemacht. Die Unterschiede bei den Begründungen scheinen mit den ästhetischen Ansprüchen zusammenzuhängen. In Erzählungen mit konventionellem Stil werden die Existenz der Beamtenklassen und die Eigengesetzlichkeiten der Behörde auf natürliche Gegebenheiten zurückgeführt, die den Fortgang des Staates und das Leben seiner Betreiber bestimmen. Vor allem beamtete Autoren legen diese Sichtweise nahe und stützen sie durch Vergleiche mit Naturrhythmen, durch die Erstellung von Familienchroniken und genetische Argumente ab. In komplexeren Texten finden sich diese Auslegungen ironisch gebrochen. Der Beamte agiert als Don Quichotte in einem Staat, den es gar nicht (mehr) gibt, oder realisiert Ordnungen, die keine Gültigkeit haben bzw. jeder herkömmlichen Logik entgegengesetzt sind. Trotzdem lebt er nicht ohnmächtig in einer Parallelwelt, sondern perpetuiert seine eigene Macht und die des gesamten Apparats. Umso schärfer tritt die Verwaltungstradition als konstitutives Element der österreichischen Kultur zutage. In literarischen Texten mit experimentellen Techniken verschwimmt die Trennung zwischen den Dimensionen Bürokratie und Lebenswelt. Die Perpetuierung bürokratischer Ordnung wird auf Wechselwirkungen zwischen den Sphären staatlicher Macht und individueller bzw. kollektiver Bedürfnisse zurückgeführt. Von der Komplizenschaft zwischen Bürokratie und Lebenswelt profitieren Staat und lebensweltliche Autoritäten gleichermaßen. Veränderungs- und Auswegmöglichkeiten werden, wie Störungen auch, vom Apparat absorbiert. Gegen den gesamtgesellschaftlichen Konsens und den Verlust der emanzipatorischen, individuellen Kräfte setzen avancierte Autoren ästhetisch auf Dissens und Konflikt. Die Widersprüche, die durch Verzahnungen von amtlicher und privater Sphäre, bürokratischen Prinzipien und Lebensweltregeln entstehen,
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Schlussbetrachtungen
werden sprachlich und erzähltechnisch exponiert, aber nicht aufgelöst. Die bürokratische Kontinuität wird auf einen Motor zurückgeführt, der sich aus den Wechselwirkungen von Dysfunktion und Perfektion speist.
MACHT DES BEAMTEN UND OHNMACHT DES BEHÖRDENGÄNGERS
Das gestörte Verhältnis zwischen Beamten und Behördengängern wird im literarischen Diskurs meist nur indirekt über die Ausgestaltung der amtlichen Eigengesetzlichkeiten sichtbar gemacht. Wichtigste Technik der Autoren ist die Verarbeitung der Amtssprache, durch die die bürokratischen Prozesse als wundersam, entstellend oder kolonisatorisch ausgewiesen werden. Veranschaulicht wird die Macht der Behörden aber auch durch den (vorauseilenden) Gehorsam der Bürger, ihre naiven, vergeblichen Versuche, die Gesetzmäßigkeiten dieses Kosmos zu durchschauen oder sich ihm anzupassen: durch übertriebene Imitation des Amtsdeutschen, die hermetisch autonomen Bemühungen, auf den Widersinn von Bescheiden aufmerksam zu machen oder Informationen über die eigene Person zu erhalten. Geschützt werden die amtsinternen Prozeduren durch die penible Funktionalisierung der differenzierten Raumaufteilungen und Gegenstände, die die foucaultschen Erkenntnisse bis ins Detail zu belegen scheint: Klausurcharakter, Parzellierung, Aufteilung nach Funktionsstellungen und Rangordnung sichern die ständige Perpetuierung des Machtgefüges und damit der differenzierten Disziplinierungen. Allerdings weichen die Bewegungen innerhalb des Amtes bei den mittleren und höheren Beamtenfiguren wesentlich von den foucaultschen Beschreibungen ab: Statt der „Antidesertions- und Antivagabondagetaktik" zu unterliegen sind die literarischen Amtsdiener ständig unterwegs und für Außenstehende oder Kollegen oft nicht erreichbar. Wie die erstaunliche Autonomie der Beamten bei ihren Ortswechseln, fallt auch ihr beachtlicher Freiraum beim Umgang mit der Zeit auf. Daraus resultiert eine ganze Palette informeller Konventionen, die auch die historischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts unbeschadet überleben. Als Kernproblem wird in der Literatur insofern weniger das Unwissen über komplexe bürokratische Gesetze herausgestellt als die Unkenntnis amtsinterner Regeln samt Variablen: Arten und Eigenarten der Behörden und ihrer Arbeit. Die Konflikte zwischen Amts- und Lebenssphäre werden auch darauf zurück-
Literatur versus Alltagsdiskurs
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gefuhrt, dass die Behördengänger an Resultaten, die Beamten vor allem am Ablauf der bürokratischen Prozesse interessiert sind.
WANDLUNGEN
Bei allen Konstanten im literarischen Diskurs fallt doch ein Wandel ins Auge, der für das hier behandelte Thema bedeutsam ist. Während in den früheren Texten der Behörde eine undifferenzierte Masse von Völkern oder Untertanen gegenübergestellt wurde, wird seit den letzten Jahrzehnten immer mehr auf einzelne Bürger fokussiert, in deren Leben die bürokratischen Mechanismen gestaltend, korrigierend, zerstörend eingreifen. Wenn sich einige Autoren bis in die 50er-Jahre noch mit der Rettung des Staates und der Nationsfindung auseinandersetzten, kritisch und ironisch, bemühen sich die Schriftsteller seither immer mehr um die Rettung des Individuums. Vielleicht hängt dieser Paradigmenwechsel auch mit der Autonomisierung des literarischen Feldes zusammen : Statt amtsinterne Erfahrungen zu verwerten, wie die zahlreichen doppeltbeschäftigten Autorenbeamten der ersten Jahrhunderthälfte, müssen die jüngeren Schriftsteller auf ihre Erlebnisse als Behördengänger, vielleicht auch als Subventionsantragsteller zurückgreifen. Jedenfalls wird durch den allgemeinen Individualisierungstrend die Bürokratiekritik fundamental. Der Status der Beamtenschaft, das Dienen und der Staat werden generell hinterfragt.
R Ü C K W I R K U N G A U F DIE A D M I N I S T R A T I V E U N D P O L I T I S C H E P R A X I S
Indem dieses Buch ganz unterschiedliche Gründe und Gegengründe für die Bürokratisierung aufdeckt, gewinnt es beträchtliche Relevanz für die aktuellen Auseinandersetzungen mit Bürokratie. Das Unbehagen der Bürger wird nicht nur in ihrer Ohnmacht als Staatsbürger verortet, sondern auch in gesamtgesellschaftlichen Prozessen, im kollektiven Sicherheits- und Verdrängungsbestreben, im Individualisierungstrend wie im ungestillten Verlangen nach außerindividuellen Größen. Diesen Tendenzen sind auch die Staatsdiener ausgesetzt, die aber wegen des drohenden Prestigeverfalls nur umso hartnäckiger auf starre Kontinuität setzen. Die Bedürfnisse nach Charisma und gesellschaftlicher Integration können in außerstaatlichen Institutionen noch viel weniger befriedigt werden
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Schlussbetrachtungen
und Rückgriffe auf traditionaJe Prinzipien sind für EU-Behörden erst recht nicht praktizierbar. Da quer durch das Jahrhundert die Kluft zwischen Zentrale und Provinz zwar meist als funktional, immer jedoch als unüberbrückbar und erniedrigend gewertet wird, kann mittelfristig der Gehorsam gegenüber inner- und außerstaatlichen Behörden nur über dezentrale Mechanismen gewährleistet werden. Die Analyse der verschiedenen Texte zeigt auch, woran die Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien im Staatshaushalt scheitern muss, will man nicht zugleich auf vormoderne Praktiken der Willkür, auf charmante Autoritäten oder werbeträchtige Inszenierungen zurückgreifen und über das Gleichheitsprinzip großzügig hinwegsehen. Wenn Max Weber und Jürgen Habermas für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bürokratische Systeme als notwendige Bedingung ansehen, fokussieren literarische Texte eher auf deren totalitäre Kräfte und demokratische Defizite. Sie bestätigen allerdings indirekt diese These, indem sie mit dem Einsatz alternativer Herrschaftsmodelle zeigen, wie der moderne Rechtsstaat erst recht unterlaufen wird. Errungenschaften wie Demokratie, die verbreitete Absicherung des Lebensstandards oder das Einspruchsrecht werden abgebaut, wenn Bürokratie wieder durch feudale oder charismatische Formen ersetzt wird, was nicht immer der Ideologie kulturbeflissener Autoren widerspricht. Problematisiert wird die Entmündigung des Bürgers hingegen in einer Reihe anderer Texte, die sich mit dem emanzipatorischen Gehalt bürokratischer Herrschaft auseinandersetzen und deren Schwächen nicht nur in deren Mechanismen, sondern auch in lebensweltlichen Kontexten verorten.
DIE U T O P I E D E R E N T B Ü R O K R A T I S I E R U N G
Allfallige Forderungen nach rigorosem Bürokratieabbau werden im literarischen Diskurs damit als kaum realisierbare Utopien dargestellt. Dort wo die Verwaltung flexibel und ökonomisch funktioniert sowie auf individuelles Engagement baut, bekommt die Herrschaft charismatisch-traditionale und totalitäre Züge. Prinzipien der Gleichheit und Umverteilung werden vernachlässigt. Durch die stete Reproduktion symbolischer und realer Ordnungen im bürokratischen Alltag werden zudem auch jene nationalstaatlichen Interessen befriedigt, die auf langfristigen Bestand angewiesen sind. Zugleich ist auch der Bürger Träger
Literatur und Bürokratie: Skizzen zu einer Poetik der Bürokratie
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dieser oft unbewusst gestaltenden Ordnungen, die ihm nur beim konkreten Behördengang oder in Krisenzeiten bruchstückhaft vor Augen treten. Die Probleme mit staatlicher Bürokratie können auch nicht auf eine Frage der Öffentlichkeitsarbeit reduziert werden, weil es in einer Demokratie nicht genügen kann, propagandistisch zum Gehorsam zu verfuhren. Deshalb kann mittelfristig nur eine perspektivenreiche Auseinandersetzung mit dem bürokratischen Alltag und den Institutionen die für den Staat und die Staatengemeinschaften existenzielle Stabilität garantieren. Viele literarische Texte wecken hierfür Interesse und sind als Diskussionsgrundlage oft eher geeignet als mediengerecht präsentierte Politikeraussagen, die auf kurze Amtsperioden abzielen. Je weniger sich Beamte und Bürger mit Staat und Bürokratie auseinandersetzen, desto gefahrlicher wird das Gefühl der Ohnmacht, das in Ländern mit ausgeprägtem Untertanengeist wohl weniger zu kollektivem Ungehorsam gegenüber den Gesetzen führt, sondern viel eher antidemokratischen Führungspersonen massiven Zulauf bescheren wird.
3 Literatur und Bürokratie: Skizzen zu einer Poetik der Bürokratie
Aus meinen exemplarischen Analysen des literarischen Diskurses lassen sich jedoch nicht nur Befunde zur österreichischen Bürokratie formulieren. Interessant erscheint es auch, die literaturwissenschaftlichen Untersuchungen für eine Poetik der Bürokratie auszuwerten und zu zeigen, mit welchem literarischen Inventar die bevorzugten Perspektiven eingenommen und die dominierenden Aussagen zur österreichischen Bürokratie getroffen werden. Da jedoch die kleinsten gemeinsamen Nenner Nuancen der diversen Ästhetiken ausschließen, muss dieses Vorhaben skizzenhaft bleiben. Schon ein Nebensatz Albert Drachs, eine Wortschöpfung Herzmanovsky-Orlandos oder ein Komma bei Heimrad Bäcker weisen - wie gezeigt werden konnte - komplexe literarische Bearbeitungen auf und eröffnen mehrdimensionale Lektüren der Texte und der bürokratischen Welt. Und doch soll diese Zusammenschau zumindest ein Schlaglicht auf jenes Werkzeug werfen, mit dem die literarischen Texte unverzichtbare Beiträge zum kritischen Verstehen unserer modernen Verwaltung leisten.
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Schlussbetrachtungen
DER ANSPRUCH AUF REALITÄT
Egal ob über Verweise auf konkrete Begebenheiten, Regelungen oder den Rückgriff auf Verwaltungssprache - die Bürokratieliteratur scheint sich dagegen zu sträuben, ins belletristische Eck, ins Reich der Fantasie abgeschoben zu werden. Statt fantastische Rückzugwelten anzubieten, zeigen die Texte, wie sie sich an der bürokratischen Realität abarbeiten. Daten und Sachverhalte werden als bürokratische Versatzstücke einer realen Welt in die Erzählung montiert und verschaffen dem ganzen Text neben seiner Fiktionalität eine faktuale Dimension. Die Texte beteiligen sich damit an der Auseinandersetzung mit realen Verwaltungssituationen und brechen die Hoheit der amtlichen Schriftstücke, des Archivs und deren Deutungskonvention. Allerdings gilt dies nicht für realitätsnahe Lösungsansätze: So vielfaltig Strukturen und Interdependenzen mit ihren Auswirkungen herauskristallisiert werden, Auswege aus den Dilemmata fehlen.
UNIVERSALE TOPOGRAPHIEN
Die Referenz auf Realitätsnähe bis hin zu hergestellten Praxisbezügen zielt jedoch nicht auf lokale oder nationale Spezialprobleme ab, auch wenn die Behörden und Beamten meist in einem nationalhistorischen Kontext verortet sind. Da zugleich auch die Bedingungen für spezifische Ausformungen der Bürokratie offengelegt werden, können die literarischen Befunde zur öffentlichen Verwaltung in Osterreich durchaus auch flir Bürokratien anderer Länder spannende Erkenntnisse liefern. Dies gelingt über die Problematisierung jener Topografien, die für bürokratische Ordnungen charakteristisch sind: So erfahrt die Schnittstelle zwischen Außen- und Innenwelt der Behörden besondere Beachtung, sowohl als scharfe Grenze als auch in ihrer Durchlässigkeit. Sie dient als räumliche, sprachliche und strukturelle Markierung. Dabei eignet den Blicken hinter diese Linie, wie sie die Beamtenautoren oder Exbeamten eröffnen, etwas Exhibitionistisches, das auf das Voyeuristische oder das Verständnis der Leserschaft setzt. Innerhalb der Amtswelt werden hierarchische Längsabschnitte, zwischen der behördlichen Außen- und Innenwelt jedoch kleine Querschnitte gestaltet. D.h., in der bevorzugten Figurenkonstellation werden einander eher nahe-
Literatur und Bürokratie: Skizzen zu einer Poetik der Bürokratie
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stehende Vorgesetzte und Untergebene arrangiert, im Kontakt zur Außenwelt treffen kleinere Beamte mit einfachen Behördengängern oder aber Sektionschefs mit Wirtschaftsgrößen zusammen. Damit werden die für die bürokratischen Ordnungen konstitutiven hierarchischen Verhältnisse in ihren Mechanismen freigelegt. Auch durch die Peripherie als beliebtem Erzählort und der Zentrale als meist nicht versprachlichtem Fokus werden prototypische Machtverhältnisse der Bürokratie veranschaulicht. Zusätzlich konzentriert sich die Auseinandersetzung der Literatur auf jenen Raum, der diesseits und jenseits der Amtswelt, in Peripherie und Zentrale gleichermaßen heiß umkämpft ist. Indem die informell geregelte Lebenswelt mit all ihren emotionalen, traditionalen Werten bürokratisch ausverhandelt wird, entsteht eine Konfliktzone, die als universaler Ort der Auseinandersetzung gedeutet werden kann, auch wenn Art und Intensität des Konfliktes je nach Tradition variieren mag.
DER BÜROKRATISCHE DURCHSATZ
Statt dem Spiel mit anderen literarischen Werken dominiert im literarischen Bürokratiediskurs die Auseinandersetzung mit verschiedenen Textsorten. Dabei kommen neben dem Brief, der Predigt, dem Epos, dem Märchen ... eine Reihe Dokumente aus dem bürokratischen Feld zum Einsatz: die Liste, das Gesetz, die Verordnung, das Protokoll, der Lebenslauf u.a. Fast immer sind die literarischen Formen mit amtlichen Textsorten oder deren Charakteristika durchsetzt, die Erzählung wird durch sie durchbrochen oder verhindert sowie die weitgehende Bürokratisierung mit deren rationaler Deutungsmacht vorgeführt. Ein schönes Bild, ein Blick in die Landschaft, ein aufregendes Gefühl sind ohne staatliche Durchdringung nicht mehr denkbar. Etwas anders wird die vordergründig beschauliche Behördenkultur von den Beamtenautoren konstruiert. Wenn hier auf amtliche Textsorten weitgehend verzichtet wird, bleiben die Erzählungen jedoch trotzdem von bürokratischer Ordnung durchsetzt: Die Textorganisation beruht auf kleinsten Zeit- und Raumaufteilungen, auf peniblen unumstößlichen Abläufen und Vorgängen. Außerdem könnte man das Bürokratische auch in der gewissenhaften Arbeit dieser Autoren sehen, wie sie in ihren Schilderungen der Behörde alle Amts-
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Schlussbetrachtungen
spräche und Amtsarbeit entfernen und mit möglichst unbürokratischen Vergleichen ersetzen. Vielleicht kann man sogar die These wagen, dass in der Literatur mit der Nähe zur genuinen Verwaltungstätigkeit die funktionale, rationale Denk- und Sprechweise rapide abnimmt. So veranschaulichen die Aussparung wie der Einsatz bürokatischer Textsorten als ein zentrales Problem moderner Verwaltung, wie vielfaltig das individuell Besondere durch die amtsmäßige Behandlung und die Handlungsroutinen entstellt und bedroht wird. Zugleich geht ausgerechnet das verloren, auf was Bürokratisierung aus ist: Logik und Zweckhaftigkeit.
MYTHISCHE UND NATÜRLICHE HILFSKRÄFTE
So eröffnen viele fiktionale Bürokratien Blicke auf unglaubliche Handlungsweisen und Absurditäten, denen nichtsdestotrotz Realitätsnähe anhaftet und Allgemeingültigkeit bescheinigt wird. Die virulenten Fragen nach Sinn und Logik, die dabei aufgeworfen werden, bleiben nicht immer unbeantwortet. Neben Machtprofiten, die psychologischer und staatspolitischer Natur sind, werden implizite Erklärungszusammenhänge via mythischer Denkformen gestaltet. Bisweilen decken sie sich mit bürokratischen Charakteristika und verdoppeln sie, wie beispielsweise beim Primat der Ganzheit vor dem Einzelnen oder der Entwicklungslosigkeit. Andererseits kommen auch mythische Denkweisen zum Einsatz, die mit dem bürokratischen Selbstverständnis inkompatibel sind, wie etwa statt kausaler, rationaler Gründe finale Motivierungen, Aberglaube, Vorsehung oder Identität durch Analogien. Sie sind unausweichlich und stärken die Bürokratie insofern, indem sie ihr praktisch die ganze Welt eröffnen: die Welt der Götter, der Sinne und der Natur. Immense Bürokratisierungsschübe werden ausgelöst, die durch die Verflechtung mythischer Denkweisen und rationaler Strukturen auch oft widersprüchlich bleiben. Wo die Paradoxa nicht aufgelöst werden, sorgen sie jedenfalls für eine ganz besondere Realitätsnähe. Demgegenüber erweisen sich naturhaft-genetische sowie naturwissenschaftliche Erklärungen und Rechtfertigungen, die meist explizit als Vergleiche oder Vererbungsthesen zum Ausdruck kommen, als eindeutig. In jedem Fall findet im literarischen Text eine Verdichtung bürokratischer, mythischer und natürlicher Kräfte statt, die die Gewalt und Macht moderner Herrschaft ausstellen und jede Menge Motive hierfür liefern.
Literatur und Bürokratie: Skizzen zu einer Poetik der Bürokratie
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DER MÜNDIGE ADRESSAT MIT SINN FÜR HUMOR
Angesichts dieser widersprüchlichen Erklärungen, paradoxen Motivierungen sowie der Konkurrenz rationaler und mythischer Denkweisen stellt sich die Frage, an was fiir Adressaten diese Literatur gerichtet ist. Viele Texte stellen eine Herausforderung an die Lesenden dar, ja die Leserschaft wird zu Eigenständigkeit und Reflexion gezwungen. Wenn im Gehäuse der Bürokratie Beamte und Bürger Regeln zu befolgen haben und Nachfragen und Nachdenken kaum sinnvoll und nicht erwünscht ist, so spielen einige Autoren mit dieser Bequemlichkeit, indem sie naive Leseweisen anregen und stören oder überhaupt verunmöglichen. Ein Mittel hierfür ist die Lücke, die von den Lesern aufgefüllt wird, die Aussparung, die von ihnen ergänzt wird, was dann zu Verheerungen und Absurditäten führt. Ein anderes ist der Fehler, dessen Verfolgung als sachliches Ansinnen präsentiert wird, die sich aber in immer komplexeren Zusammenhängen verliert oder verhängnisvoll endet. So richtig wehren kann sich der Leser nicht. Seine Rolle als mündiger Adressat bleibt unbefriedigend und ist der Situation der Staatsbürger in unserer Gesellschaft nicht unähnlich. Die Bürokratieliteratur zielt aber noch in einem anderen Sinn auf die Alltagskompetenz moderner Untertanen ab. Sie will nicht zur Großtat anstacheln, sie führt nicht in die Freiheit. Aber sie wirkt dennoch befreiend, indem sie ein immenses Potenzial an Komik, Witz und Humor enthält.
DER OHNMÄCHTIGE ERZÄHLER
Die wichtigste Technik, die viele Autoren fiktionaler Bürokratieliteratur anwenden, um zu kritischem und unterhaltsamem Lesen anzuregen, ist die spezifische Erzählposition, in der der Erzähler als Handlanger, Sprachrohr oder Vertreter des bürokratischen Kosmos fungiert und zugleich traditionalen Ordnungen verpflichtet bleibt. Selbst bei besonderen Spannungsverhältnissen und Inkohärenzen bleibt er dem integrativen Ansatz treu. Niemals würde er angesichts der ungeheuren Widersprüche bekennen, selbst den Durchblick oder auch nur den Faden verloren zu haben. Die klassischen „Bürokratie-Erzähler" sind alle machtlos, gehen aber mit ihrer Ohnmacht verschieden um.
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Schlussbetrachtungen
In der experimentelleren Literatur sind sie äußerlich unbeteiligt, nehmen eine distanzierte Haltung zum Geschehen ein und lassen die Absurditäten unkommentiert. Bisweilen scheinen sie geradezu selbstvergessen. In jedem Fall decken sie Fehler und Widersprüche in ihrer Erzählung nicht auf - sie scheinen kaum interessiert, keinesfalls empathisch und nicht lernfahig zu sein. Ein solcher Erzählertypus verkörpert quasi ein Beamtenstereotyp: ein Mensch mit teilweise unnützen Teilkenntnissen ohne Begabung zum Überblick, fehleranfallig sowie anfallig für Scheinlösungen mit unbeteiligter und distanzierter Haltung zur Welt, jedoch Sicherheit demonstrierend auch angesichts absurdester Tatbestände. Er entspricht dem Klischee eines unteren Beamten, der angesichts der Absurditäten und der eigenen Machtlosigkeit abgestumpft und unmenschlich geworden ist. In der konventionelleren Beamtenliteratur weisen die Erzähler sehr wohl auf Unstimmigkeiten hin und belehren mitunter, jedoch bleiben auch sie gegenüber den Problemen und Widersprüchlichkeiten ohne Macht. Sie zeigen Verständnis und Mitleid für ihre Figuren sowie für die Situation und argumentieren, warum der Satus quo unausweichlich so bleiben wird. Keinesfalls geizen sie mit ihrem Wissen, das ob der herrschenden Verhältnisse als zeitlos gilt. Sie verkörpern eher das Stereotyp des hohen Staatsdieners.
GESTÖRTE ERZÄHLLÄUFE MIT TRAGISCHEM AUSGANG
Entsprechend diesen Erzähltypen sind auch die Erzählläufe durch die Konkurrenz verschiedener Denkweisen gekennzeichnet, wobei die bürokratische jedoch zu dominieren scheint. So werden krasse Brüche der Geschichte und der Narration durch bürokratische Ingredenzien gekittet, so es um Linearität und Konsens zu gehen hat. Andererseits wird oft für die Narration untypisch dem Gewohnten statt dem Ereignis der Vorzug gegeben. Entweder verläuft der Alltag derart routinehaft, dass dessen Schilderung ohne Entwicklung und Modifikationen auskommt. Oder es werden spannungsgeladene Sequenzen durch den Rückzug ins Institutionelle, in dessen Sprache, Textsorten, Verfahren, scheinbar aufgelöst oder beendet. Die Erzählung bleibt immer irgendwie gestört: weil sie abbricht oder Gebrochenes fragwürdig verknüpft oder weil es überhaupt keinen Verlauf gibt.
Literatur u n d Bürokratie: Skizzen zu einer Poetik der Bürokratie
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Das Ende der Erzählungen erweist sich meist als ähnlich prekär. Zum einen laufen fast alle Geschichten auf Tod und Tote hinaus, das Scheitern ist vorprogrammiert, egal ob es sich um bürokratische oder entbürokratisierende Bemühungen handelt. Andererseits sind Wiedergaben des Immergleichen auf Unendlichkeit aus. Wie bei skurrilen Vorfallen und Amtsfehlern, die den Charakter von Präzedenzfällen erhalten, stellt das Ende des Buches kein Ende dar oder keine Variation des bürokratischen Alltags in Aussicht.
POESIEWIDRIGE VERFAHREN UND
MATERIALIEN
Der tragische Unterton kommt jedoch nur selten und kaum ausschließlich zur Geltung. Durch die Kombination poetischer und bürokratischer Verfahren und Materialien sowie den daraus resultierenden Verfremdungseffekten entfalten die Texte vor allem einmal eine komische Wirkung. Dabei können sich die Autoren getrost auf das Hintergrundwissen ihrer Leser verlassen. Zugleich ist darin das kritische Potenzial vieler Texte angelegt, indem die Widrigkeiten im Durchdringen der verschiedenen Ordnungen und Normen zum Ausdruck gebracht werden. Wenn Bürokratie mit ihrem rationalen, verallgemeinernden Anspruch in die Lebenswelt expandiert, wird jeder idealisierende Blick auf die moderne Verwaltung trüb. Auch kann hier nicht von pathologischen Auswüchsen gesprochen werden, zumal diese Expansivkraft, auch wenn sie ruht, im System angelegt ist. Andererseits wird der Antrieb für die Bürokratisierung in der Lebenswelt ausgemacht, deren hegemoniale Mächte darauf aus sind, ihre Werte zu institutionalisieren und das Individuelle, Sinnliche, Uberraschende „in Ordnung zu bringen". So kann in der Literatur auch keineswegs eine Haltung nachgewiesen werden, die die Lebenswelt als Opfer gegenüber den Institutionen verteidigen würde. Sehr wohl aber machen verschiedene Texte ebendort unterdrückte, diskriminierte Personengruppen aus, denen durch die Institutionalisierung traditionaler Machtverhältnisse und Werthaltungen noch die letzten Chancen auf Gleichstellung und Freiheit verloren gehen. Als poesiewidrige Elemente kommen verschiedene bürokratische Verfahren zum Einsatz, wie beispielsweise Messungen, Standardisierung oder Berechnungen. Bei der Verwendung verwaltungstechnischer Materialien wird v.a. auf deren Syntax und Lexik fokussiert. Allerdings werden die amtlichen Versatz-
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Schlussbetrachtungen
stücke dadurch nicht unverständlich, sondern mehrdeutig. Viele literarische Texte unterwandern damit die Vorstellung von klarer und berechenbarer Bürokratie konsequent, die nur eine besondere intellektuelle Herausforderung für die Bürger darstelle. Stattdessen werden die mangelnde Treffsicherheit und die Vieldeutigkeit bürokratischer Begriffe und Satzbauten vorgeführt, die systemimmanent sind. Dadurch wird die Machtfrage neu aufgeworfen. Es stehen nämlich nicht mehr wenige Experten einer großen Gruppe von Laien gegenüber, die sich nur mit der Fachwelt und Fachsprache auseinandersetzen müsste. Das würde gar nichts nützen. Die Bürger, und letztlich auch die Beamten, müssen sich mit der Unzulänglichkeit und Undurchschaubarkeit des Systems, das von ihnen gespeist wird, abfinden. Bleibt also alles beim Alten? Dient die Poetik der Bürokratie bloß dazu, humorvoll die Unausweichlichkeit und Härte bürokratischer Ordnungsgewalt vorzufuhren? Wirken die Bürokratietexte der österreichischen Schriftsteller aufgrund der ihnen bescheinigten mangelnden Selbstbestimmung oder versöhnlichen Humanitas einfach bloß herrschaftsstabilisierend ? Nur wenn ein allgemeingültiges, ehernes Gesetz oder mythische Paradieslösungen erheischt werden, woran auch zahlreiche Beamtenfiguren gescheitert sind, werden die österreichischen Bürokratietexte in ihrer politischen Dimension fragwürdig. In ihrem Eigensinn und ihrer Varietät zeigen sich jedoch nicht nur die immensen Autonomiekräfte der Autoren. Darin äußert sich auch die Unversöhnlichkeit mit dem rationalen Deutungsprimat: Auf vielfaltige Weise wird das Recht auf bürokratiefreie Zonen und ein anderer Umgang mit dem Leben in und mit der Bürokratie eingeklagt.
4 Bürokratie und Forschung. Ein Ausblick Wenn zurzeit intensive Bestrebungen zu Liberalisierung und Entpragmatisierung zu beobachten sind, könnte vermutet werden, dass die bürokratische Ordnung an Bedeutung verliert. Vehemente Deregulierung und ungebremster Kapitalismus würden, so etwa Pierre Bourdieu, zu einem „Prozeß der .Rückbildung' des Staates" fuhren, 356 was einen Verlust an Zivilisation bedeute und
356 P. Bourdieu: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz 1998. S. 42
Bürokratie und Forschung
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aus demokratie- und gesellschaftspolitischer Perspektive äußerst bedenklich ist. Aber einerseits kommt auch die neoliberale Wirtschaft nicht ohne bürokratische Ordnung aus, andererseits wird gegen diese Tendenz auch schon mobil gemacht und eine Stärkung der staatlichen Kräfte und Institutionen eingefordert. Auch am Beispiel der Europäischen Union und der U N O ist zu sehen, wie intensiv sie sich moderner Verwaltungspraktiken bedient und wie bürokratisch regulativ sie bei Verordnungen, Ausgleichs-, Förder- oder juristischen Maßnahmen vorgeht und vorgehen muss. Das bedeutet aber auch, dass die Bürokratie längst zu einem transnationalen Phänomen geworden ist, das leicht über historisch kulturelle Eigenheiten hinweggeht. In diesem Sinn kann mein Buch nur am Beginn weiterreichender Forschung stehen. Einerseits sind die Ergebnisse hinsichtlich der beschleunigten Entwicklung Richtung Neoliberalismus zu befragen. Andererseits vermag es, weil konzentriert auf die österreichische Literatur eines Jahrhunderts, nur einen Ausschnitt des austriazistischen Bürokratiediskurses nachzuzeichnen, und es ist anzunehmen, dass andere Länder und andere Literaturen wesentlich anders mit ihren modernen Institutionen umgehen. So hat etwa Mappes-Niediek zahlreiche Unterschiede zwischen der deutschen und österreichischen Amtswelt herausgearbeitet, um zukünftige Einwanderer aus der Bundesrepublik vor gröberen Missverständnissen zu bewahren: Differenzen beim Devotismus, beim Rechtsverständnis, beim Staatsbild. Uber seine Erfahrungen in Österreichs Ämtern schreibt er: Alles ist möglich, wenn man nur will, alles ist verhandelbar - im zwischenmenschlichen Umgang ist das ein sympathischer Grundsatz. Im Umgang mit Behörden fuhrt er aber dazu, daß der Bürger sich dem Staat als Bittsteller nähert. Die Behörde ist zwar in der Regel milde und haßt es, wie deutsche Behörden es oft tun, einfach auf stur zu schalten. Aber sie legt Wert darauf, auch anders zu können. 357
Wenn man sich vor Augen hält, wie vielschichtig die Literatur die bürokratischen Prozesse zu durchleuchten versteht, wäre es wünschenswert, auch den 357 N. Mappes-Niediek: Österreich für Deutsche. Einblicke in ein fremdes Land. Berlin 2004. S. 149
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Schlussbetrachtungen
literarischen Diskurs anderer Länder zu diesem Thema zu befragen und mit den Ergebnissen hier zu vergleichen. Eine kleine Auswahl von nicht-österreichischen Texten, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, findet sich in der Bibliografie und kann als kleine Vorarbeit für zukünftige komparative Forschungsprojekte angesehen werden. Wenn der Blickwinkel auf die moderne Verwaltung wie hier ausgeweitet wird und auch Bürokratisierungsmechanismen oder Disziplinierungstechniken interessieren, sind sicherlich noch viele andere zu finden. Ratsam wäre es auch, jene Texte oder Passagen in die Analysen miteinzubeziehen, die sich vielleicht gar nicht vordergründig mit Beamten oder Behörden auseinandersetzen, sondern bloß in kleinen Details Bürokratisierung sichtbar machen, und sei es über die Karikierung der Verwaltungssprache. Für ein solches transnationales Vorhaben hat mein Buch erste Schritte gesetzt. Es führt das Forschungsdesiderat vor, indem es jede Menge Belege für die Relevanz des literarischen Bürokratiediskurses liefert, es bietet methodische Zugänge und Vergleichsfolien und harrt nun verschiedener Fortsetzungen in der Slawistik, Romanistik und in anderen Philologien. Die vorliegende Arbeit könnte aber auch für die Sozial- und Verwaltungswissenschaften von Interesse sein. Sie könnten jene Aspekte in ihr Forschungshandeln integrieren oder zumindest mitdenken, die im literarischen Diskurs zur Sprache gebracht werden: die weitreichenden Formalisierungstendenzen mit ihrem oft übersehenen kolonisatorischen Charakter, die vielfaltigen Auswirkungen von Immobilität und Kontinuität auch auf den Verwaltungsstab, die diskriminierenden und widerständigen Mechanismen in den Disziplinierungsprozeduren, die Tiefgründigkeit unökonomischer Verwaltungstätigkeit usw. Möglicherweise sind auch durch den Richtungswechsel - statt Verstaatlichungseffekte Destaatlichkeitsversuche zu untersuchen - Impulse für die Bürokratieforschung zu setzen. Darüber hinaus soll diese Arbeit auch zu verstärkter Interdisziplinarität anregen - zwischen den Politik-, Sozial- und verschiedenen Literaturwissenschaften. Lohnenswert wäre es sicherlich, die Bürokratiediagnosen der fiktionalen Texte auch mit anderen theoretischen Ansätzen zugänglich zu machen. Nicht zuletzt kann dieses Buch aber auch für die politische Praxis oder für jeden bürokratischen Alltag von Nutzen sein, indem es eine Vielfalt an Zugängen zum Thema eröffnet. Es zeigt, wie spannend die Ordnung gleich wie die
Bürokratie und Forschung
Abb. 23: „Nur für Grossnichten" lese ich beklommenen Herzens und weiss, dass es einen Ausweg für mich gibt. Ich stütze meinen rechten Arm in die rechte Hüfte und entschlüpfe durch das so entstandene Loch. Konrad Bayer
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Schlussbetrachtungen
Unordnung der Bürokratie ist, wie komisch oder beunruhigend es sein kann, sich mit ihren Phänomenen auseinanderzusetzen, und wie utopisch es ist, sich aus ihr einfach davonstehlen zu wollen.
LITERATURVERZEICHNIS Eine wesentlich ordnende Wirkung hat die Sache nicht.
Heimito von Doderer
Primärliteratur (Alt-)österreichische Literatur
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Sekundärliteratur
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Wenzel, Alfons: Zivilcourage im öffentlichen Dienst. München/Wien 1965 Wodak, Ruth: Sprachbarrieren. Die Verständigungskrise der Gesellschaft. Wien 1989 Wolff, Karl: Die Gesetzessprache. Wien 1952 Wunderlich, Dieter: Studien zur Sprechakttheorie. Frankfurt 1976 Wustmann, Gustav: Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen. 1966 Yergin, Daniel/Joseph Stanislaw: Staat oder Markt. Die Schlüsselfrage unseres Jahrhunderts. Frankfurt/New York 1999 Zach, Manfred: „Gauner, Pinsel, Chicaneure". Eine kleine Geschichte der Bürokratie. Tübingen 2003 Zeiger, Sabine: Von Beamten, Dorfpolizisten und den Händen des Ministers für öffentliche Arbeiten. Poetik der Bürokratie bei Konrad Bayer, Thomas Bernhard, Georg Paulmichl und N.C. Käser. In: (= Studia austriaca, Nr. 15. Hg.: Fausto Cercignani) Mailand 2007. S. 41-58 Zeiger, Sabine: Wider die Macht des autorisierten Blicks. Die Arbeit am Wissen in Alexander Kluges „Schlachtbeschreibung" und Heimrad Bäckers „Nachschrift". In: (= treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre. Bd. 3. Der Zweite Weltkrieg in erzählenden Texten zwischen 1945 und 1965) München 2007. S. 3 9 - 6 4
BILDNACHWEIS
Alexander Grübl, Abb. 1; Abb. 4; Abb. 5; Abb. 7; Abb. 8; Abb. 10. Andreas Zeiger, Abb. 11; Abb. 12; Abb. 13; Abb. 14; Abb. 15; Abb. 22; Abb. 23. © Votava, Abb. 3. ÖNB-Bildarchw, Abb. 6: Sign. US 8514; Abb. 9: Sign. D18123B.0; Abb. 17: Sign. 174356B; Abb. 18: Sign. D11222B; Abb. 19: Sign. 197767B; Abb. 20: Sign. E6/515; Cover: Detail von ebd. Sabine Zeiger, Abb. 2; Abb. 16; Abb. 21.
PERSONENREGISTER
Wäre ich nicht in die Bücher getaucht, in G e s c h i c h t e n und L e g e n d e n , in die Zeitungen, die Nachrichten, wäre nicht alles Mitteilbare aufgewachsen in mir, wäre ich ein Nichts, eine Versammlung unverstandener Vorkommnisse. (Und das wäre vielleicht gut, dann fiele mir etwas N e u e s ein!) Ingeborg Bachmann
Achleitner, Friedrich 218, 220 Aktaion 68 Aphrodite 65, 69 Arbogast 218-224 Artmann, H.C. 218, 221 Ausbüttel, Frank M. 222 Bachmann, Ingeborg 377, 411 Bäcker, Heimrad VII, XII, 27, 252, 327-356, 358, 360f„ 364, 366f„ 375, 383 Bänziger, Hans 12 B a s e j a n 307, 309, 311f„ 317-322, 324, 364 Bayer, Konrad VII, XI, 27, 123, 195-228, 232235, 237f„ 241f„ 245, 303, 353,355, 366, 393 Bazika, Eduard 322, 324 Benedikt 45, 52 Beninger, Werner 18 Bernhard, Thomas 9, 117, 377 Blumenberg, Hans 373 Böhm, Antonin 310, 321f. Bourdieu, Pierre 10,390 Brandstetter, Alois VII, IX, 27, 38, 40-59, 88, 104, 107f„ 110-112, 115, 122, 355
Braun, Peter 164, 167 Brecht, Bertolt 327 Brod, Max 88 Charon 65 Claudius Claudianus 220f., 224 Claudius 220 Cyparis 87 Deleuze, Gilles 303, 364 Dieckmann, Walther 366 Doderer, Heimito von 229, 276, 303, 377, 395 Drach, Albert VII, XI, 27, 123, 151-195, 212, 224, 234f„ 237f„ 240f„ 246, 366, 375, 383 Dürrenmatt, Friedrich 102 Eder, Anselm XII, 27, 256, 271, 275, 277f. 284f„ 303, 316, 319, 364 Eichmann, Adolf 343 Eisner, Kurt 37 Eugen von Savoyen 274 Festenberg, Gustav von XII, 19, 27, 256, 258,
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Personenregister
260f., 266-269, 273, 279f., 288f., 291, 293, 295, 305f„ 310, 319, 366 Fischer von Erlach, Johann Bernhard 274 Fleischmann, Gerald 16 Foucault, Michel VII, XII, 10, 25, 28, 247-252, 254f„ 257f„ 264, 266, 268, 271-273, 275, 279, 283f„ 292, 296, 303f„ 308, 311, 314f., 320, 322f„ 326, 329, 334, 349, 352, 355-360, 362-367, 373, 375, 380 Franz Joseph I. 70, 125, 142, 150, 253, 322 Freya 68 Gagern, Monika von 69 Gellately, Robert 331 Gogol, Nikolaj 59,276 Gottwald, Herwig 110 Grillparzer, Franz 71 Habermas, Jürgen VII, X, 10, 24, 117-126, 130, 134, 142f., 153-156, 170-174, 177-179, 187, 190-192, 196, 198, 205, 211, 214, 216, 222f., 225, 227, 229-231, 233-236, 238, 243f„ 248-250, 365, 373f„ 382 Hälovä, Luisa 322 Hanswurst 218-224, 233 Hartmann, Heiko Michael 256 Heindl, Waltraud 9, 252 Herzmanovsky-Orlando, Fritz von VII, IX, 27, 38, 59-88, 97f., 107, 109-115, 122, 208, 273, 303, 339, 355, 366, 383 Himmler, Heinrich 345 Hitler, Adolf 62 Horväth, Odön von 376 Janosch 114 Joseph II. 38, 40, 42, 253 Jupiter 38, 92, 94, 98 Kafka, Franz VII, X, 4, 9, 27, 38, 88-101, 104, 106f., 109-112, 114f„ 122, 212, 303, 339, 355 Kant, Immanuel 189 Käser, Norbert C. 247 Kilian, Manfred 12f. Kleinwächter, Friedrich F.G. VI, XII, 27, 256,
269f., 274, 281-284, 288f„ 296, 299, 305f„ 310, 316f., 319, 364, 366 Kornfeld, Paul 270, 276, 303, 376 Korth, Michael 18 Krainz, Lena 368 Kraus, Karl 303 Kreisky, Eva 9, 14 Lanzelot, 315 Lernet-Holenia, Alexander XII, 27, 256, 269f„ 274, 286, 288, 290, 302f., 316, 364 Lindgren, Astrid 114 Magris, Claudio 4, 243 Mappes-Niediek, Norbert 391 Maria Theresia 253 Markovä-Jeräbkovä, Frantiska 316 Matiegka.Jindrich 306f., 319 Matiegkovä, Ludmila 306 Mauthe, Jörg 125,377 Mayer, Helmut 17f. Metternich, Klemens Wenzel von 38, 61, 110 Musil, Robert 40, 357, 368, 376 Napoleon I. 37, 62 O'Brien, Flann 195 Odysseus 283 Okeanos 263 Pleterski, Friederun 18 Poseidon X, 38, 88-100, Ulf., 212 Prochäzka, Frantisek 325 Rees, Laurence 331f. Reiners, Ludwig 166 Rosei, Peter 276, 377 Roth, Joseph VII, X, 27, 123, 125-151, 231f„ 237, 239f., 243f„ 273, 303, 355 Rühm, Gerhard 196, 209, 216, 218f. Russwurm, Heinz G. 161, 170f., 174, 179, 190 Schlieben-Lange, Brigitte 171 Schmidt-Dengler, Wendelin VII, IX, 13, 114 Schnitzler, Arthur 276
Personenregister
Schoeller, Alexander P. 161, 170f„ 174, 179, 190 Schreber, Daniel Paul 315, 352 Schrodt, Richard 113 Steiner, Stephan 352 Stirner, Max, 209f. 216 Stowasser, Horst 209f. Straub, Wolfgang 243 Strelka, JosephP. 4f., 243 Stüssel, Kerstin 106, 359
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Viehweg, Theodor 171, 187 Vogel j u l i a n e 5, 11, 13, 243 Völzing, Paul-Ludwig 156, 166, 192 Vosahlikovä, Pavla 305, 322 Wagner, Hildegard 164 Walser, Martin 151
Ungar, Hermann XII, 27, 256, 266-269, 276, 283, 290, 292, 319
Weber, Max VII, IX, 9f., 23f., 28-37, 41-43, 46-48, 59, 66f., 77f., 89f„ 92f., 100, 102-104, 106, 108, 112, 114, 117-119, 121f., 132, 215, 229, 247, 250, 340, 365, 373f„ 382 Weinheber, Josef 88 Weiss, Walter 4 Welan, Manfried 2, 8f. Werfel, Franz 376 Wiener, Oswald 1,218, Wolfgruber, Gernot 377 Wustmann, Gustav 166
Valentinian II. 220 Veichtlbauer, Judith 352 Venus 71
Zach, Manfred 18 Zeiger, Sabine 204, 358 Zeus 71,92
Theodosius I. 220,222 Torberg, Friedrich 66, 113 Tschernutter, Heinz 17f. Tucholsky, Kurt 29
DIE AUTORIN
Sabine Zeiger, geboren in Bruneck (Italien), arbeitet als Literaturwissenschaft lerin in Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Telefon, Bürokratie und Staat.
Reihe Literatur in Österreich 1938-1945
Handbuch eines literarischen Systems Band 1 Uwe Baur, Karin Gradwohl-Schlacher
band 1
Steiermark 2 0 0 8 . 170 x 2 4 0 m m . 3 7 6 S. G e b . ISBN
978-3-205-77809-7
Mit dem Band Steiermark beginnt die Edition einer flächen-
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