Das Interview in der französischen Presse: Geschichte und Gegenwart einer journalistischen Textsorte [Reprint 2010 ed.] 9783110925975, 9783484340534

With reference to the French press, this study is the first of its kind to portray the historical development of the jou

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German Pages 273 [276] Year 2004

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Table of contents :
Einleitung
I. Theoretische Grundlagen und methodischer Ansatz
1. Textsorte und Texttradition
2. Begriff und Typologie der Textsorte Interview
2.1 Kommunikationssituation Interview
2.2 Interview-Typologie
3. Beschreibungsmodell für eine historische Interviewanalyse
3.1 Paratext
3.2 Textmuster und Dialogstruktur
3.3 Metakommunikation
4. Qualitäten des Textkorpus und übergreifende Ergebnisse
II. Historische Begriffsanalyse zeitgenössischer Interview-Bezeichnungen
1. Interview
2. Entrevue
3. Visite
4. Interrogatoire
5. Enquete
6. Conversation und Entretien
7. Reportage
III. Historische Textanalyse: Typen und Entwicklung des Presseinterviews
1. Die Anekdote des Soldaten Mamour
1.1 Revolutionsberichterstattung im Courrier de Versailles
1.2 Ein Interview mit dem Soldaten Mamour
1.3 Exkurs: Zum Begriff der Anekdote in der Presse
2. Besuche und Porträts
2.1 Die Indiskretionen des Adrien Marx
2.2 Reporter im Dienst von Information und Aktualität
2.3 Aufbau und Funktion des Textmusters Visite
2.3.1 Ein Besuch beim Senator Boissy
2.3.2 Ein Besuch beim Karikaturisten Gavarni
2.3.3 Ein Besuch beim Schriftsteller Veuillot
2.4 Die Besuche des Adrien Marx zwischen Innovation und Tradition
3. Zum Verhältnis von Interview und Reportage
3.1 Zwei journalistische Handlungskonzepte in zeitgenössischer Sicht
3.2 Tradition und Ursprung der Reportage
3.3 Qualitäten und Merkmale der Textsorte
3.4 Aufbau und Funktion der Reportage
3.4.1 Ein Besuch der Opernbaustelle
3.4.2 Reportage oder Interview?
3.4.3 Eine Fahrt mit der ersten Eisenbahn
4. Zeuge im Verhör
4.1 Journalistische Ermittlungen im Mordfall Troppmann
4.2 Die Gerichtsberichte des Henry Marsey
4.3 Aufbau und Funktion des Textmusters Interrogatoire
4.4 Juristisches Verhör und journalistisches Interview
5. Zur Tradition der Visite
5.1 Ein Besuch bei Emile Zola
5.2 Differenzierung und Kontinuität von Interview-Besuchen
6. Innovation und Mischung
6.1 Interviews zur Sache
6.2 Mischung von Visite und Interview
7. Fiktion und Fälschung
7.1 Totengespräche und imaginäre Interviews
7.2 Journalistische Authentizität versus literarische Wahrheit
8. Interviews in Serie
8.1 Die Enquete als journalistische Umfrage
8.1.1 Zum Verhältnis von Interview, Umfrage und Statement
8.1.2 Exkurs: Die Enquete des Jules Huret und ihre Wirkung
8.1.3 Ausdifferenzierung und Wandel der Enquete
8.2 Kurz-Interviews mit Experten
8.3 Interview-Inflation im Spiegel zeitgenössischer Satire
Schlussbetrachtungen
Quellen und Literatur
Anhang
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Das Interview in der französischen Presse: Geschichte und Gegenwart einer journalistischen Textsorte [Reprint 2010 ed.]
 9783110925975, 9783484340534

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MEDIEN IN FORSCHUNG + UNTERRICHT Serie A Herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier und Erich Straßner Band 53

Martin Kött

Das Interview in der französischen Presse Geschichte und Gegenwart einer journalistischen Textsorte

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-34053-3

ISSN 0174-4399

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Hanf Buch- und Mediendruck, Pfungstadt Buchbinder: Industriebuchbinderei Nadele, Nehren

Un bon sujet d'interview Du moins, je vois tres nettement les docteurs de l'avenir utilisant ces curieux interviews pour des theses en Sorbonne. Maurice Barres, LA PRESSE 1890

- Was? Was wollen Sie? - Ganz sanft ein bisserl interviewen... - Das ist gar die abscheulichste Mode, die wir jetzt den Amerikanern nachäffen... - Ich äffe sie nicht den Amerikanern, sondern den Franzosen nach. Hermann Bahr 1894

Interviewer, gewerbsmässiger Aushorcher, ist ein Journalist, der Tagesgrössen zu besuchen hat und sie im allgemeinen oder über dieses und jenes, was der Redaktion oder dem Interviewer selber interessant erscheint, ausfragen soll, um darüber zu berichten. Richard Wrede 1902

Inhalt

Einleitung

l

I. Theoretische Grundlagen und methodischer Ansatz 1. Textsorte und Texttradition 2. Begriff und Typologie der Textsorte Interview 2.1 Kommunikationssituationinterview 2.2 Interview-Typologie 3. Beschreibungsmodell für eine historische Interviewanalyse 3.1 Paratext 3.2 Textmuster und Dialogstruktur 3.3 Metakommunikation 4. Qualitäten des Textkorpus und übergreifende Ergebnisse

11 11 18 18 24 29 30 33 38 39

II. Historische Begriffsanalyse zeitgenössischer Interview-Bezeichnungen .... 1. Interview 2. Entrevue 3. Visite 4. Interrogatoire 5. Enquete 6. Conversation und Entretien 7. Reportage

51 53 61 67 72 76 80 85

III. Historische Textanalyse: Typen und Entwicklung des Presseinterviews .... 1. Die Anekdote des Soldaten Mamour 1.1 Revolutionsberichterstattung im COURRIER DE VERSAILLES 1.2 Ein Interview mit dem Soldaten Mamour 1.3 Exkurs: Zum Begriff der Anekdote in der Presse

91 91 91 93 95

2. Besuche und Porträts 2.1 Die Indiskretionen des Adrien Marx 2.2 Reporter im Dienst von Information und Aktualität 2.3 Aufbau und Funktion des Textmusters Visite 2.3.1 Ein Besuch beim Senator Boissy 2.3.2 Ein Besuch beim Karikaturisten Gavami 2.3.3 Ein Besuch beim Schriftsteller Veuillot 2.4 Die Besuche des Adrien Marx zwischen Innovation und Tradition...

98 99 102 109 109 113 116 118

VIII 3. Zum Verhältnis von Interview und Reportage 123 3.1 Zwei journalistische Handlungskonzepte in zeitgenössischer Sicht... 123 3.2 Tradition und Ursprung der Reportage 126 3.3 Qualitäten und Merkmale der Textsorte 129 3.4 Aufbau und Funktion der Reportage 133 3.4.1 Ein Besuch der Opernbaustelle 133 3.4.2 Reportage oder Interview? 136 3.4.3 Eine Fahrt mit der ersten Eisenbahn 140 4. Zeuge im Verhör 4. l Journalistische Ermittlungen im Mordfall Troppmann 4.2 Die Gerichtsberichte des Henry Marsey 4.3 Aufbau und Funktion des Textmusters Interrogatoire 4.4 Juristisches Verhör und journalistisches Interview

144 144 146 147 151

5. Zur Tradition der Visite 5.1 Ein Besuch bei Emile Zola 5.2 Differenzierung und Kontinuität von Interview-Besuchen

155 156 165

6. Innovation und Mischung 6.1 Interviews zur Sache 6.2 Mischung von Visite und Interview

170 170 178

7. Fiktion und Fälschung 7.1 Totengespräche und imaginäre Interviews 7.2 Journalistische Authentizität versus literarische Wahrheit

186 186 197

8. Interviews in Serie 8.1 Die Enquete als journalistische Umfrage 8.1.1 Zum Verhältnis von Interview, Umfrage und Statement 8.1.2 Exkurs: Die Enquete des Jules Huret und ihre Wirkung 8.1.3 Ausdifferenzierung und Wandel der Enquete 8.2 Kurz-Interviews mit Experten 8.3 Interview-Inflation im Spiegel zeitgenössischer Satire

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Schlussbetrachtungen

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Quellen und Literatur

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Anhang

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Einleitung

1. Das Interview zählt heute zum festen Inventar journalistischer Textsorten und ist in der modernen Praxis als gängige „Darstellungsform" in allen Medien präsent. So wird die Befragung von Experten, Politikern oder Prominenten in Radio, Femsehen, Zeitung und seit neuerer Zeit zudem im Internet gepflegt. Die Anfange des Interviews, das zugleich eine zentrale Recherchemethode darstellt, liegen in der Presse und damit im ältesten der journalistischen Medien, wo sich der Frage-AntwortDialog im 19. Jahrhundert als Texttradition herausbildete und habitualisierte. Dieser Prozess, der in der vorliegenden Arbeit am Beispiel der französischen Presse und auf der Basis eines umfangreichen Textkorpus analysiert wird, ist erstmals Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung. Im Sinne einer Textsorten-Geschichte sollen Entstehung und Entwicklung des journalistischen Interviews sowohl aus linguistischem als auch aus pressehistorischem Blickwinkel untersucht werden. Aus dieser doppelten Perspektive und mit Hilfe eines interdisziplinären Ansatzes, der die methodischen Konzepte der Textlinguistik in einem eigenen Beschreibungsmodell bündelt und die Ergebnisse der publizistischen Forschung berücksichtigt, wird die historische Entwicklung einer zentralen journalistischen Texttradition in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Wird das journalistische Interview in dieser Arbeit vorrangig unter sprach- und medienwissenschaftlichen Gesichtspunkten untersucht, so ist an dieser Stelle zudem auf die in der Forschung bisher vernachlässigte literaturwissenschaftliche Bedeutung dieser journalistischen Texttradition hinzuweisen (Ueding 1992ff., Bd.4: 538). Wie neuere Textsammlungen eindrucksvoll dokumentieren, diente das Interview prominenten Schriftstellern bereits im 19. Jahrhundert als wichtiges Sprachrohr. So formulierten nicht erst Jean-Paul Sartre oder Thomas Mann, sondern bereits Jules Veme und Emile Zola im Gespräch mit journalistischen Interviewern ihre literarästhetischen Auffassungen. Insbesondere vor dem historischen Hintergrund der für die französische Presse des 19. Jahrhunderts charakteristischen „Symbiose" von Literatur und Journalismus (Requate 1995: 106ff.) spielen Interviews mit prominenten Schriftstellern eine zentrale Rolle in der Geschichte der journalistischen Textsorte.1

Siehe die Interview-Sammlungen von Thomas Mann (Hansen/Heine 1983), Jules Verne (Compere/Margot 1998) und Emile Zola (Speirs/Signori 1990). Die Bedeutung, welche die Interviews von Jean-Paul Sartre für sein literarisches Werk besitzen, war bereits Gegenstand einer eigenen Untersuchung (Boulo 1992).

Da in der älteren Forschung zur Pressegeschichte traditionellerweise die Entwicklung der Presse als soziale und wirtschaftliche Institution im Vordergrund stand (Bellanger u.a. 1969-76; Livois 1965; Albert 71993), wurde der historische Wandel der journalistischen Textprodukte und ihrer sprachlichen Merkmale eher vernachlässigt. Erst in neuerer Zeit lässt sich in Frankreich eine Hinwendung zu einer „Geschichte des Journalismus" beobachten, welche die Entwicklung des Berufsstandes stärker in den Mittelpunkt rückt und insbesondere die der Professionalisierung vorausgehende Veränderung des journalistischen Textangebots im 19. Jahrhundert thematisiert.2 Zwar wird in der aktuellen französischen Presseforschung zunehmend auf die Herausbildung neuer Darstellungsformen wie Reportage, Interview und Enquete eingegangen, doch lassen die pressehistorischen Arbeiten, denen in der Regel die sprachwissenschaftliche Perspektive fehlt, eine theoretisch fundierte Begriffsbestimmung ebenso vermissen wie die Analyse konkreter Textmuster. Stattdessen wird allgemein die These einer „Amerikanisierung des französischen Journalismus" vertreten, wonach sich im Zuge eines informationsorientierten Nachrichtenjournalismus amerikanischer Prägung seit 1880 neue Textformen in Frankreich ausbreiteten. Wenn demgegenüber zugleich der Einfluss einer spezifisch französischen Pressetradition betont wird, so unterbleibt letztlich jedoch eine genaue Analyse dessen, was Reportage, Interview oder Enqußte auszeichnet und was diese Textformen in der historischen Praxis voneinander unterscheidet: Si attribue au joumalisme americain innovation du reportage et de ('interview, les journalistes francais surent y porter leur marque. Moins attacho au fait qu'au mot, le reportage ou l'enquSte a la fran9aise ne se contente pas de information brute, mais introduit dans article une part d'interprotation, de subjectivito, de croation. (Feyel 1999: 124)

War die Pressegeschichte damit in sprachlicher Hinsicht lange Zeit „so gut wie unerforscht" (Burger 21990: 7), so liegen inzwischen auf Seiten der deutschen Sprachwissenschaft neuere Studien zur historischen Entwicklung vor. Nachdem sich die Textlinguistik, die neben anderen Gebrauchstexten auch die journalistischen Textsorten insgesamt (Lüger 21995; Lebsanft 1997) oder im Einzelnen (Müller 1988; Rodrigues 1996) behandelt, in der Vergangenheit meist auf die synchrone Betrachtung beschränkt hatte, wurde auf romanistischer Seite von Anja Hrbek (1995) eine diachrone Untersuchung zur italienischen Pressesprache vorgelegt, die neben allgemeingeschichtlichen Fakten insbesondere die Entwicklung der journalistischen Textsorten darstellt. Allerdings bleiben die Ergebnisse im Einzelnen aufgrund eines - gemessen an der Größe des Zeitraums - relativ dünnen Textkorpus fragmen-

Wandel und Professionalisierung des franzosischen Journalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert behandeln Delporte (1999 und 1995), Ferenczi (1996) und Martin (1997); vgl. Palmer (1983) und Voyenne (1985). Auf Seiten der deutschen Journalistik stellte Blöbaum (1994: 58f.) fest: „Eine historisch ansetzende Analyse, die Darstellungsformen wie Nachricht, Bericht, Reportage oder Kommentar nicht als gegeben hinnimmt, sondern nach Entstehungsbedingungen, Funktion und Leistungen der Formen fragt, gibt es nicht." Zuletzt untersuchte Pöttker (2000) die Anfange der Reportage, wahrend Grzella/Pfingsten (unveröffentlichte Studien- und Diplomarbeit 1993 und 1994) einen theoretischen Vorentwurf und eine quantitative Analyse zur Genese des Interviews in den USA und Deutschland präsentierten.

tarisch. So kann die Autorin in vier Jahrhunderten italienischer Zeitungsgeschichte für das Interview lediglich zwei sehr späte Textexemplare aus dem Jahre 1895 nachweisen (Hrbek 1995: 24S-247).3 Wenn die Arbeit von Hrbek in der Tat „une vaste fresque historique sur Involution des genres journalistiques" präsentiert (Große 2001: 23), so steht jedoch eine Geschichte der einzelnen journalistischen Textsorten, wie sie bereits Albert (1972: 275ff.) gefordert hat, nach wie vor aus. Um diese Lücke für das Interview zu schließen, wird in der vorliegenden Arbeit auf neuere methodische Ansätze der Textlinguistik zurückgegriffen. Insbesondere das theoretische Konzept der „Diskursbzw. Texttraditionen", das von den Romanisten Coseriu (31994) und Koch (1997) systematisiert und von Wilhelm (1996) gewinnbringend auf die der Presse unmittelbar vorausgehende Tradition der Flugschriften angewendet wurde, soll für die Domäne des Journalismus genutzt und entsprechend ausgearbeitet werden. Die neueren Forschungstendenzen der Sprach- und Medienwissenschaft ergänzend, beabsichtigt die vorliegende Untersuchung eine Textsorten-Geschichte, welche die Herausbildung und Habitualisierung des Interviews in der französischen Presse darstellt. Indem mit Hilfe exemplarischer und methodisch fundierter Einzelanalysen die historischen Typen und Etappen dieser zentralen journalistischen Texttradition untersucht werden, soll einerseits eine historisch begründete InterviewTypologie entworfen und andererseits die Verwandtschaft des Interviews mit den benachbarten Texttraditionen Enquete, Porträt und Reportage aufgezeigt werden. Grundlage der Textanalyse (Kap. III), deren historische Perspektive ein adäquates theoretisches Konzept erfordert und einen offenen Interviewbegriff voraussetzt (Kap. 1.1 und 1.2), bilden ein eigenes Beschreibungsmodell (Kap. 1.3) sowie ein umfangreiches Textkorpus (Kap. 1.4), dessen Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegt und das zudem deutliche Ausblicke bis in die moderne Praxis erlaubt. Eine zweite Säule dieser Arbeit bildet die historische Begriffsanalyse (Kap. II), welche die zeitgenössischen Interview-Bezeichnungen untersucht und der Textanalyse ergänzend vorausgeht, indem sie Hypothesen über die historische Entwicklung der Texttradition aufstellt. Diese werden in Form eines „Interview-Spektrogramms" veranschaulicht und in der anschließenden Textanalyse überprüft und differenziert. Insgesamt soll in dieser Untersuchung neben den sprachlichen Fakten der Textrealität stets auch das Bewusstsein der Sprecher, das sich in sprachreflexiven Äußerungen manifestiert, in die Analyse mit einbezogen werden (Kap. 1.3). Eine herausragende Rolle kommt in diesem Zusammenhang der Satire zu: Sie ergänzt die zeitgenössische Interview-Kritik, indem sie jene Merkmale der journalistischen Handlungsform überzeichnet, die in der Wahrnehmung der Sprecher als typisch galten. Neben metakommunikativen Äußerungen im Allgemeinen gibt die kritische Satire somit in besonderem Maße Auskunft über die historische Interviewpraxis und deren Wandel (Kap. III.8.3).4 Die Entwicklung journalistischer Text- und Handlungsformen war auch Gegenstand des Tübinger DFG-Projekts zur „Sprache der ersten deutschen Wochenzeitungen im 17. Jahrhundert" (Fritz/Straßner 1996; vgl. Schröder 1995; Fritz 2000). Mark Twain führte 1874 in dem satirischen Text An Encounter with an Interviewer vor, wie der Befragte ein Interview ad absurdum führen kann, indem er gegen die universellen Konversationsmaximen (Grice 1975) verstößt (Twain 1992, Bd.l: 583-587; Budd 1977).

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2. Die publizistische und auf den US-Journalismus fixierte Forschung zum Interview, die sich bisher auf einzelne Aufsätze zum Thema beschränkt und noch keine wissenschaftliche Einzeluntersuchung zur Geschichte dieser Darstellungsform vorgelegt hat, konzentrierte sich in der Vergangenheit auf die Suche nach dem vermeintlich „ersten" Interview der Pressegeschichte (Schudson 1994: 566). Als solches wird bislang die Befragung der wichtigsten Zeugin in einem spektakulären Mordfall betrachtet, die der Journalist und Gründer des NEW YORK HERALD, James Gordon Bennett (1795-1872), im April 1836 nach dem Vorbild einer polizeilichen Vernehmung durchführte und als wörtliches Frage-Antwort-Protokoll in seiner Zeitung veröffentlichte. Das Bennett-Interview - „the first formal interview ever to be published" (Carlson 1942: 161) - erschien am 16. April 1836 in einer Serie von Beiträgen, die der HERALD, der sich auf die Berichterstattung über polizeiliche Ermittlungen und Gerichtsverhandlungen in Kriminalfällen spezialisiert hatte, der Ermordung einer jungen Prostituierten namens Ellen Jewett widmete. Aufgrund dieses historischen Einzelfundes gelten der von Bennett maßgeblich geprägte Sensationsjournalismus, dessen Publikumserfolg bereits damals auf dem human-interestEffekt und dem Gegenstandsbereich von sex and crime basierte, sowie die in dieser Zeit in den USA entstehende populäre Penny Press, deren prominentester und prototypischer Vertreter der NEW YORK HERALD war, in der publizistischen Forschung als Wiege des journalistischen Interviews (Haller 21997: 21-26; Dovifat 1927: llOf.; Grzella/Pfingsten 1993; Nilsson 1971; vgl. Turnbull 1936; Dittmar 1961). Doch muss die bisherige Annahme, nach der das Bennett-Interview und die amerikanische Presse der 1830er Jahre den Ursprung des journalistischen Interviews markieren, revidiert werden. Denn einem bisher wenig beachteten Hinweis folgend (Labrosse/Re'tat 1989: 172f; Große 2001: 24), wird im Rahmen dieser Arbeit erstmals ein Text aus der französischen Tagespresse des Jahres 1789 vorgelegt und als ein frühes Exemplar des journalistischen Interviews identifiziert (Kap. III. l). Allerdings ist diese Untersuchung nicht primär darauf ausgerichtet, das früheste Textexemplar aufzuspüren. Denn die Suche nach dem vermeintlich ersten Interview verdeckt die wichtigere Frage, unter welchen historischen und soziokulturellen Bedingungen sich die journalistische Texttradition entwickelt hat: This search for an individual inventor naively assumes a great man theory of history and neglects to ask why the interview should have emerged, when and where it did. The institutional and cultural acceptance of the interview, as opposed to its birth, has not been the subject of any published research at all. On this fundamental transformation of how news is written, historians of journalism have been silent. (Schudson 1994: 566)5

Die Suche nach dem „Erfinder" des Interviews beschäftigt nicht erst die moderne Forschung. Bereits 1890 glaubte Maurice Barres, der selbst zahlreiche Interviews verfasste und in mehreren Zeitungsartikeln seine „Theorie" der journalistischen Texttradition formulierte (Kap. III.7), in der Person des Abbo Edgeworth de Firmont (1745-1813) den Vater des Interviews entdeckt zu haben: Les beautes de ['interview (Le Figaro, 22.8.1890, S.l). Der Legende nach soll der Priester zu Louis XVI. im Augenblick dessen Hinrichtung die anschließend in der Presse kolportierten Worte gesprochen haben: „Fils de saint Louis,

Vor diesem Hintergrund soll der methodische Ansatz dieser Arbeit dazu dienen, die historische Entwicklung zu analysieren und darzustellen, in der sich das Presseinterview als journalistische Texttradition herausgebildet und als fester Bestandteil eines differenzierten Textsorten-Inventars etabliert hat. Dabei werden journalistische Textsorten nicht als das Produkt einer spontanen Innovation und einer individuellen Schöpfung, sondern als historisch wandelbare Phänomene begriffen, die wie andere kulturelle und soziale Traditionen im Rückgriff auf bewährte Muster entstehen und sich im stetigen Wechsel von Innovation und Tradition weiterentwickeln. Vor dem kriminalistischen Hintergrund des „Ellen Jewett Murder Case" (Carlson 1942: 143-167) und des damit verbundenen Bennett-Interviews erschien das polizeiliche Verhör bisher als historisches Vorbild der journalistischen Befragung (Ueding 1992ff, Bd.4: 534; Nilsson 1971: 713; Brady 1976: 222-225). Diese Hypothese wird in der vorliegenden Untersuchung anhand eines vergleichbaren Falles der französischen Pressegeschichte differenziert und zugleich in ihrer historischen Bedeutung eingeschränkt. Danach ist das juristische Verhör weder das einzige soziale Handlungsmuster, noch die zentrale Tradition, die dem journalistischen Interview zugrunde liegt (Kap. III.4). Es wird sich vielmehr zeigen, dass die Herausbildung der journalistischen Texttradition, deren Anfange in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts fallen, in erster Linie auf eine in der französischen Gesellschaft beheimatete Gesprächs- und Besuchskultur zurückzuführen ist (Kap. III.2 und III.5). Trotz des Bennett-Interviews von 1836 ist auch für die amerikanische Presse davon auszugehen, dass sich das Interview erst im Laufe der 1860er Jahre und im Zuge eines neuen Informationsjoumalismus als eigenständige Texttradition etablierte: „the interview as accepted journalistic practice cannot be traced before the 1860s" (Schudson 1994: 565). Ein prominentes Beispiel bilden die Interviews mit Präsident Andrew Johnson, der während seiner Amtszeit (1865-1869) mindestens zwölf Mal einen Zeitungsreporter zu einem persönlichen und zur Veröffentlichung bestimmten Gespräch empfing (Pollard 1947: 413-429). Auch der Umstand, dass der ursprünglich aus dem Französischen entlehnte Ausdruck interview erstmals im Jahre 1869 in seiner spezifisch journalistischen Bedeutung in der englischsprachigen Presse belegt ist (OED 21989, Bd.8: 3; vgl. Schudson 1994: 569), lässt den Schluss zu, dass sich das Interview in dieser Zeit zu habitualisieren begann (Kap. II). Insgesamt ist das journalistische Interview nicht isoliert zu betrachten, sondern in Wechselwirkung mit anderen soziokulturellen Traditionen und vor allem mit historisch benachbarten Texttraditionen wie Reportage (Kap. III.3) und Enqu6te (Kap. III.8). Anhand einer amerikanischen Interview-Karikatur lässt sich die historische Nähe von Interview und Reportage skizzieren und damit eine zentrale Ausgangshypothese dieser Arbeit formulieren. So charakterisierte die satirische Wochenzeitung PUCK im Jahre 1877 die „Kunst des Interviewens" als neue journalistische Handlungsweise und schilderte unter dem Titel The great American interviewer in montez au ciel!" (Thiers 1865/66, Bd.l: 436). In seiner Darstellung des Ereignisses vom 21. Januar 1793 interpretiert Victor Hugo (1950: 23-28) die Szene als Erfindung zum Zwecke royalistischer Propaganda (vgl. Maurin, Bd.l: 59). Doch selbst wenn diese Ansprache der Wahrheit entsprechen sollte, so erfüllt sie in keiner Weise die kommunikativen und situativen Bedingungen des journalistischen Interviews (Kap. 1.2.1).

insgesamt zwölf Einzelbildern die Vorgehensweise eines Journalisten auf der Suche nach Informationen (Mott 31965: 435; 444): Ohne Erlaubnis und über geheime Wege wie den Hintereingang, das Fenster oder den Kamin verschafft sich der Interviewer Zutritt zum privaten Bereich anderer Menschen. Einmal ins Haus eingedrungen und mit Bleistift und Notizheft bewaffnet, befragt der Journalist, der auf diese Weise einem detektivischen „Schnüffler" gleicht, die Dienstboten, durchsucht Schränke und spioniert durch Schlüssellöcher, bevor der ungebetene Besucher per Fußtritt hinausgeworfen wird. Indem die Karikatur die zeitgenössische Entwicklung des US-Journalismus kritisiert - „keyhole journalism" und „the invasion of privacy by prying reporters" (Mott 31965: 444) -, stellt sie zugleich einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Handlungsmuster des Interviewers und dem eines anderen Journalisten-Typus her. Denn die Merkmale der satirisch überzeichneten Darstellung, die ausschließlich den primären Handlungsprozess der Gewinnung, nicht aber den sekundären Vorgang der Vermittlung von Information beschreibt (Kap. 1.2), entsprechen generell dem Reporter, der mit Block und Bleistift in der Hand vor Ort recherchiert. Da der Interviewer in der zeitgenössischen Wahrnehmung somit als spezieller Typus des Reporters erscheint, lässt sich vermuten, dass die Handlungsformen Interview und Reportage nicht nur unmittelbar miteinander verwandt sind, sondern dass die erste aus der zweiten entstanden ist und sich dann als eigene Texttradition herausgebildet hat. Daher wird das historische Verhältnis von Interview und Reportage mit Hilfe der Begriffs- und Textanalyse untersucht (Kap. II und Kap. III.3).

3. Den unmittelbaren historischen Kontext dieser Untersuchung, welche die Geschichte des Interviews in der französischen Presse fokussiert, bilden die fundamentalen Veränderungen, welche die Zeitungslandschaft und der Journalismus in Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfuhren: die der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung entsprechende Industrialisierung und Demokratisierung der Presse einerseits und die Professionalisierung des journalistischen Berufsstandes andererseits. Da im Folgenden detailliert auf die dem Textkorpus zugrunde liegenden Zeitungen und ihre publizistische Bedeutung eingegangen wird (Kap. 1.4), soll der historische Wandel der französischen Presselandschaft hier lediglich kurz skizziert werden. Obwohl die Gründung der Tageszeitung LA PRESSE im Jahre 1836 insofern eine bedeutende publizistische Innovation darstellt, als sie den Preis des Jahresabonnements um die Hälfte senkte und damit neue Leserschichten innerhalb des gehobenen und mittleren Bürgertums erschließen konnte, sollte die Presselandschaft erst im Jahre 1863 revolutioniert werden: Mit seinem niedrigen Preis und einem „attraktiven" Inhalt markiert der PETIT JOURNAL die Entstehung der populären Massenpresse in Frankreich (la presse populaire ä grand tirage), in deren Folge die Tageszeitung zu einem allgemeinen Konsumgut avancierte. Denn dank des technischen Fortschritts und neuerer Verfahren in Herstellung und Vertrieb wurden Auflage und

Reichweite der Tagespresse seit 1871 stetig vergrößert. Der Höhepunkt des goldenen Pressezeitalters (l'äge d'or de la presse) war 1914 erreicht, als vier große Tageszeitungen (les quatre grands) eine Gesamtauflage von vier Millionen Exemplaren erzielten: Depuis la fin du Second Empire l'industrialisation de la presse s'acce*lorait grace aux possibilitos ouvertes par les rotatives (en 1880, la maison Marinoni en avait dejä installo 80 en France), ä l'extension du rtseau des chemins de fer et de celui du telographe olectrique, du succes de la presse un sou et de la vente au numoro dans les classes sociales les moins favorisoes. Les premieres annoes de la III. Ropublique furent marquees par une nette accol&ation de cette industrialisation. (Albert 1972: 165f.)

Begleitet und unterstutzt wurde die Entstehung der Massenpresse durch die politischen Umwälzungen in Frankreich, die nach dem Sturz des Second Empire eine zunehmende Demokratisierung der Gesellschaft und schließlich die Liberalisierung der Presse bewirkten. Nach jahrzehntelangem Kampf gegen restriktive Zensurbestimmungen wurde die Pressefreiheit schließlich gesetzlich garantiert: „En 1881, la Rdpublique fonde le regime de presse le plus liböral d'Europe, sinon du monde." (Delporte 1999: 29; vgl. Albert 71993: 68).6 Das Gesetz vom 29. Juli 1881, das auch die Plakatierung öffentlicher Gebäude reglementierte und deshalb bis in die heutige Zeit auf französischen Häuserfassaden mit der Aufschrift defense d'afficher dokumentiert ist, löste die willkürliche Presse- und Zensurpolitik des Kaiserreichs ab. Während die Herausgabe einer universell informierenden Tageszeitung bis zum Ende des Second Empire aufgrund der hohen finanziellen Auflagen und rechtlichen Sanktionen ein unkalkulierbares Risiko darstellte,7 hob die Loi du 29 juillet 1881 jede Form staatlicher Reglementierung auf. Die Pressefreiheit von 1881 markiert zugleich die Geburtsstunde des modernen Berufsjournalismus in Frankreich, da die Journalisten in der Folge von Industrialisierung und Liberalisierung der Presse ihr Metier zu organisieren begannen. Wie die Belle Epoque (1871-1914) das goldene Zeitalter der Presse repräsentiert, so stehen die Jahre von 1881 bis 1936 für die Professionalisierung des Journalismus, die sich in der Bildung von Berufsverbänden, der Einrichtung journalistischer Ausbildungsstätten und der Aufstellung beruflicher Kodizes manifestierte (Martin 1997: 119-157 und 197-230; Ferenczi 1996: 243-261): «L'äge d'or de la presse» est done aussi une opoque heureuse pour le journalisme, puisque c'est le moment celui-ci se constitue en profession, gagnant ainsi, sous influence d'un vigoureux mouvement associatif, une dignito qu'il n'avait jamais eue. En deTmissant luiInhalt und Bedeutung des Gesetzes vom 29. Juli 1881, das einer ersten charte professionnelle gleichkommt, erläutert ausführlich Delporte (1999: 19-42). Wortlaut der Gesetzesartikel in Avenel (1901: 566-584). Jede Zeitung, die im weitesten Sinne Über wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorgange berichtete (questions de societe), wurde als politisch eingestuft (journal politique versus Journal litteraire) und hatte als solche drei Auflagen zu erfüllen: Vor dem ersten Erscheinen musste eine offizielle Genehmigung beantragt (autorisation prealable) und eine dem Erscheinungsrhythmus entsprechend hohe Kautionssumme hinterlegt werden (cauttonnement). Ferner musste von jedem gedruckten Exemplar eine Steuer von bis zu sechs centimes abgeführt werden (droit de timbre). Darüber hinaus war jede Zeitung stets der Gefahr eines temporären oder absoluten Verbots ausgesetzt für den Fall, dass die Zensurbehörde den Inhalt beanstandete (Martin 1997: 16-18).

meme ses limites, par I'entremise de ses associations, il affirme une fonne d'autonomie ä egard du pouvoir politique. (Martin 1997: 156) Cette autonomie, le journalisme va la conquorir, au fil des annees, en se detachant difficilement - des deux secteurs auxquels il est lid: la politique et la litterature. (Ferenczi 1996: 17)

Die Gründung zahlreicher Verbände, in denen sich Journalisten seit Beginn der 1880er Jahre zur Vertretung gemeinsamer Interessen — insbesondere der Regelung des Berufszugangs - zusammenfanden, spiegelt das Bewusstsein einer kollektiven Identität und damit ein neues berufliches Selbstverständnis wider, das sich nach Jahrzehnten journalistischen Einzelkämpfertums und polemischer Auseinandersetzungen einzustellen begann (Delporte 1995: 37-39; Martin 1997: 121-149). Mit dem Ziel, journalistisches Grundwissen festzulegen und qualifizierten Nachwuchs heranzubilden, wurde 1899 nach amerikanischem Vorbild die erste französische Journalistenschule in Paris gegründet (die zweite folgte 1924 in Lilie). Zum Ausbildungsprogramm der Ecole superieure de journalisme zählten von Beginn an neben Vorlesungen zu Pressegeschichte, Presserecht und internationaler Zeitungslandschaft so genannte cours professionals de redaction, in denen auch die zeitgenössischen Text- und Handlungsformen behandelt wurden (Ferenczi 1996: 252-257; Avenel 1901: 5). Allerdings wurden hier ebenso wenig wie in den nach 1920 aufkommenden Lehr- und Handbüchern explizite Techniken des Schreibens, sondern eher allgemeine Ratschläge vermittelt. Zudem waren die Bemühungen um journalistische Ausbildung oft polemischer Kritik ausgesetzt, die Journalismus nicht als erlernbares Handwerk, sondern als angeborene Begabung versteht: L'idoe que le journalisme ne s'apprend pas reste profondoment ancroe dans Fesprit meme de ceux qui rodigent ces livres [...] et cherchait vainement, par exemple, de regies d'interview, d'enquete, de rddaction d'un papier, de rhotorique journalistique. (Delporte 1999: 277)

Gleichwohl war die Ausbildung des journalistischen Nachwuchses (la formation professionelle) eines der Hauptanliegen der ersten Journalisten-Gewerkschaft (Syndicat national des journalistes), die bereits im Gründungsjahr 1918 professionelle Verhaltensregeln in einem code moral formulierte und somit die Pflege eines journalistischen Berufsethos (deontologie) begründete (Delporte 1995: 48-51). Die Bemühungen um die Bildung eines eigenständigen und unabhängigen Berufsstandes erreichten schließlich ihren Höhepunkt, als 1935 ein in Europa einzigartiges Berufsstatut (statut professionnel) verfasst und 1936 der Presseausweis für Journalisten (carteprofessionnelle) eingeführt wurden (Delporte 1995: 57-65). Indem sich der französische Journalismus seit 1881 als autonomer Berufsstand zu konstituieren begann, lockerte sich allmählich das „symbiotische Verhältnis" zu Politik und Literatur und die „Tätigkeit des Journalisten bekam ein eigenständiges Profil" (Requate 1995: 116).8 Denn wie die Zeitung in der Folgezeit der Revolution von 1789 vorrangig als Instrument politischer Auseinandersetzung und Meinungs-

Wie Requate (1995) so betont auch Ferenczi (1996: 19-^6) das besonders enge Verhältnis zu Politik und Literatur, das den französischen Journalismus seit seinen Ursprüngen prägte: „[cette double origine] des deux univers dont sont issus les journalistes: celui de la littorature et celui de la politique" (24).

kundgäbe diente, so galt der französische Journalist bis 1870 als komme de lettres (Martin 1997: 120) - als Schriftsteller, der sein Geld als Zeitungskritiker oder durch die Veröffentlichung seiner Werke im Feuilleton verdiente. Da jedoch gerade in Frankreich ein strikt reglementierter und „geschlossener" Berufsstand weder beabsichtigt, noch mit dem freiheitlichen und individualistischen Selbstverständnis vereinbar war und ist (Ruellan 1993),9 sollte sich die besondere literarische Tradition des französischen Journalismus trotz aller Bestrebungen nach Emanzipierung und Professionalisierung auch nach 1881 personell und ideologisch fortsetzen (Feyel 1999: 124f; Requate 1995: 110-116; vgl. Kap. III.7.2 in dieser Arbeit).10 Gleichwohl ging der skizzierten Professionalisierung ein qualitativer Wandel des Journalismus voraus, der sich seit 1860 abzeichnete und sich damit parallel zur Entwicklung der Massenpresse vollzog. Beeinflusst durch die USA und verstärkt durch die Agenturdienste wurde der traditionelle Meinungsjoumalismus allmählich durch einen auf Aktualität und Information ausgerichteten Nachrichten] oumalismus abgelöst, der zudem neue Textformen wie Reportage und Interview hervorbrachte. Cette logique de la professionnalisation, qui va de pair avec le doveloppement de genres nouveaux tels que l'enquete, le reportage, l'interview, est en rupture avec ceüe du joumalisme d'idoes, politique ou litteraire, ce joumalisme «parisien» jusque-lä dominant. (Ferenczi 1996: 237) Entre 1863 et 1881 nalt une voritable presse d'information, abondante, bon marcho, bien informee et relativement diversifioe. [...] L'information, qu'elle soit l'enonce du fait brut redigo ä l'usage d'une depeche tolographique, ou qu'elle prenne la forme plus litteraire du reportage, sera opposee au commentaire, et ä la chronique: la presse d'infomiation ä la presse d'opinion. (Palmer 1983: 13f.)

Dieser qualitative Wandel vom Meinungs- zum Informationsjournalismus spiegelt sich auch in den beiden wichtigsten Journalistenromanen des 19. Jahrhunderts wider: Obwohl der Protagonist in beiden Fällen ein junger Mann aus der Provinz ist, der nach Paris geht und dort mit zweifelhaften Methoden seinen sozialen Aufstieg im Journalismus verfolgt, entwerfen Balzacs Illusions perdues von 1843 und Maupassants Bel-Ami aus dem Jahre 1885 zwei ganz unterschiedliche Porträts des Berufs, indem sie den jeweils zeitgenössischen Journalismus dokumentieren. So steht dem traditionellen journalisme politique et litteraire der postrevolutionären Ära in der Dritten Republik ein „neuer" Journalismus amerikanischer Prägung gegenüber. Die Ausbreitung dieses nouveau journalisme, der die Leser mit aktuellen Informationen überhäufe, statt mit literarischen und politischen Reflexionen zu bedienen, sollte zum Kernpunkt der zeitgenössischen Pressekritik werden. Das in diesem Zusammenhang von Emile Zola häufig verwendete Schlagwort der information a outrance - so in seiner Etüde sur le journalisme von 1889 - nimmt den modernen Begriff der „Informationslawine" vorweg:

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10

Ruellan (1993) hält der strukturalistischen These, nach der sich der Journalismus im 19. Jahrhundert zu einem funktionalen System entwickelt habe (vgl. Blöbaum 1994), das freie und individuelle Moment des Berufs entgegen, dessen Konstituierung der Autor daher als „professionalisme du flou" beschreibt. Bezeichnenderweise war es der Schriftsteller Emile Zola, der 1893 die französische Delegation auf dem ersten Internationalen Journalisten-Kongress in London leitete.

10

La est la formule nouvelle: ('information. C'est information qui, peu ä peu, en s'otalant, a transformo le joumalisme, tuo les grands articles de discussion, la critique litteraire, donne chaque jour plus de place aux dapoches, aux nouvelles grandes et petites, aux proces-verbaux des reporters et des interviewers. (Zola 1966-70, Bd.12: 644)11 Speziell zum Interview und entgegen zahlreicher Kritik an dem von den Zeitgenossen beobachteten journalistischen Wandel stellte jedoch der Pressehistoriker Henri Avenel im Jahre 1900 fest: Une chose est certaine, c'est que le public goüte de plus en plus Finterview, et que Finterview, discretement employoe, sert au developpement des informations premises qui sont plus que jamais une n£cessite pour notre esprit. (Avenel 1900: 824) Wie und in welchen Formen sich das journalistische Interview als neue Texttradition in der französischen Presse herausgebildet und entwickelt hat, wird die vorliegende Untersuchung verdeutlichen.

Der Schriftsteller, der in den ersten Jahren seiner Karriere selbst als Journalist arbeitete und literarische Kolumnen verfasste (Kap. III.2 und III.5.1), verwendete den Begriff information a outrance mehrfach, um die zeitgenössische Entwicklung des Journalismus zu kritisieren - so auch in den Vorreden zu den Veröffentlichungen seiner literarischen und journalistischen Kollegen Emile Blavet und Charles Chincholle im Jahre 1889 (Zola 1966-70, Bd. 12: 646-652).

I. Theoretische Grundlagen und methodischer Ansatz

Wer die Anfänge der Textsorte Interview untersucht und historische InterviewTypen identifizieren will, ist mit dem grundsätzlichen methodischen Problem konfrontiert, das jede diachrone Betrachtungsweise von Textsorten mit sich bringt. Denn nicht nur das journalistische Interview als Sache, sondern auch seine begriffliche Bestimmung und sprachliche Bezeichnung unterliegen dem historischen Wandel: Wie ist es also möglich, historische Interview-Exemplare ausfindig zu machen, wenn sich die Vorstellung dessen, was ein Interview sei, stetig verändert? Einen Ausweg aus diesem „Dilemma" (Pöttker 2000) soll das theoretische Konzept der „Text- bzw. Diskurstraditionen" (Koch 1997) aufzeigen, das unterschiedliche Ansätze aus Literaturwissenschaft und Linguistik miteinander verbindet. Eine auf diesem Konzept basierende Untersuchung zur (Früh-)Geschichte des Presseinterviews verfolgt eine doppelte Perspektive: Sie versteht sich als romanistischer Beitrag zur Erforschung einer zentralen journalistischen „Darstellungsform" und zugleich als Entwurf einer historisch orientierten Genretheorie innerhalb der Kommunikations- und Medienwissenschaften. Auf dieser theoretischen Grundlage, die im Folgenden dargelegt wird, sollen anschließend ein für die historische Betrachtung adäquater Interview-Begriff bestimmt und ein eigener methodischer Ansatz für eine historische Textanalyse vorgestellt werden, der sich der Kategorien einer pragmatisch ausgerichteten Text- und Dialoganalyse bedient und von einer semantischen Begriffsgeschichte flankiert wird (Kap. 2 und 3). Ein im Rückgriff auf die historische Realität entwickelter Interview-Begriff bildet die Grundlage für die Erhebung eines historischen Textkorpus (Kap. 4).

l. Textsorte und Texttradition Wenn von philologischer Seite Texte klassifiziert und systematisch beschrieben werden, fallen je nach Ausrichtung und Teildisziplin die unterschiedlichsten Begriffe, die miteinander konkurrieren und sich zum Teil überlagern. So ist wahlweise von Textsorte oder Texttyp, von Gattung oder Genre sowie von Diskurstradition oder Texttradition die Rede. Während sich die Literaturwissenschaft mit literarischen Gattungen beschäftigt, versucht die Textlinguistik, alltagssprachliche Gebrauchstexte unter dem Begriff Textsorte zu klassifizieren. Dabei ist dessen Definition innerhalb der Textlinguistik keineswegs einheitlich: Entsprechend der literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie, die zwischen dem genre historique als einer sozialen Institution einerseits und

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dem genre theorique als einem wissenschaftlichen Ordnungsbegriff andererseits unterscheidet, bezeichnet der Begriff Textsorte entweder eine empirisch überprüfbare Größe oder eine definitorisch gesetzte Klasse von Texten. Als „defmitorisches Konstrukt", das allein für den Textwissenschaftler existiere, hat Wilhelm (1996: 11) den Begriff Textsorte bestimmt und in Gegensatz gestellt zur historischen Gattung als einer „von den Kommunikationsteilnehmern selbst wahrnehmbaren und benennbaren Größe". Der dichotomischen Gegenüberstellung eines theoretischwissenschaftlichen und eines empirisch-„realexistierenden" Textbegriffes, die im Falle Wilhelms aus einem durch den Gegenstand verursachten Dilemma resultiert, soll hier nicht gefolgt werden.1 Unter Textsorte verstehe ich eine Klasse von Texten, die sich aufgrund der Kombination gemeinsamer sprachlicher Merkmale und Handlungsmuster definiert (vgl. Vater 1992: 160f). Neben einer spezifischen Textstruktur, die als Bündel von Merkmalen und Regeln auch normierende Wirkung besitzt und sowohl Produzenten als auch Rezipienten von Texten als Orientierung dient, werden Textsorten in der Regel einer dominierenden Textfunktion zugeordnet (Brinker 41997: 132). Vor dem handlungsorientierten Hintergrund der Sprechakttheorie, wonach Texte das Produkt einer zielgerichteten sprachlichen Handlung darstellen, kann die Textfunktion als standardisierte und institutionalisierte Sprecherabsicht interpretiert werden. Für die journalistische Textproduktion hat sich hierbei die Unterscheidung von informations- und meinungsbetonten Textsorten etabliert (Lüger 21995: 59-76; NoelleNeumannu.a. 1994:94). Da es oft nicht möglich ist, alle journalistischen Textsorten eindeutig einem der beiden Intentionstypen zuzuordnen, wird in der Forschung zunehmend von einer dichotomischen Trennung von Information und Meinung abgerückt. Diese entspricht der normativen Unterscheidung zwischen Nachricht und Kommentar, die nach 1945 zwar vom deutschen Journalismus aus England übernommen wurde („facts are sacred, the comment is free"; Dovifat/Wilke 61976, Bd.l: 83f), die in der journalistischen Praxis jedoch oft nicht konsequent realisiert wird und zudem in Frankreich keine Tradition besitzt. Deshalb empfiehlt es sich, die Intentionstypen „informieren" und „Meinung äußern" als Pole einer Skala mit fließenden Übergängen zu betrachten. Die Mitte kann ein champ transitoire bilden (Große/Seibold 1994: 38) oder die „Analyse" als dritten Intentionstyp präsentieren: Demnach ist Information der Bericht über Tatsachen, Analyse das Aufdecken von Zusammenhängen zwischen Tatsachen und schließlich Meinung das Beurteilen von Tatsachen, das zu Folgerungen und handlungsweisenden Vorschlägen führt. (Lebsanft 2001:300)

Wilhelm, der die Entwicklung italienischer Flugschriften im Cinquecento sowohl unter sprachgeschichtlicher als auch unter texttypologischer Hinsicht darstellt, steht vor dem Problem, dass seinem Gegenstand kein eigenes zeitgenössisches Konzept entspricht und der spätere Begriff Flugschrift ein weites Spektrum verschiedenster Einzelgattungen umfasst. Der Autor behilft sich, indem er die „Textsorte Flugschrift" als wissenschaftliches Konstrukt beschreibt. Problematisch daran ist, dass die Flugschrift als Vorläufer der periodischen Presse ein in der historischen Realität durchaus existierendes Medium darstellt und sich vorrangig durch materielle Merkmale definiert (Wilhelm 1996: 45f). Zur Ambivalenz des Textsorten-Begriffs in der Linguistik siehe Koch (1997: 53).

13 Zwar wird hier an der grundsätzlichen Unterscheidung von Information und Meinung festgehalten.2 Dennoch bietet das Konzept einer fließenden Skala den Vorteil, verschiedene Arten der Informationsvermittlung und des Textaufbaus als weitere Kriterien in einer Textsorten-Typologie zu berücksichtigen. Typologie journalistischer Textsorten3

objektiv

I

N

F

O

R

M

A

T

I

O

N

hierarchisch thematisch expositorisch

Nachricht, Meldung Bericht: Ereignisbericht Hintergrundbericht

la nouvelle, la breve / le filet

dialogisch szenisch chronologisch

Umfrage4 Interview Porträt Reportage

Penquete interview le portrait / le profil le reportage

argumentativ persuasiv satirisch

Kommentar Leitartikel Kritik / Rezension Glosse

le commentaire l'oditorial la critique le billet

subjektiv

M

E

le compte rendu / le recit analyse

I

N

U

N

G e

mak

Die Kategorie „Analyse", die Lebsanft (1997 und 2001) vor dem Hintergrund der spanischen Zeitungspraxis einführt und aus den dort geltenden Redaktionsstatuten ableitet, scheint für die französische Praxis weniger geeignet, da der Ausdruck analyse dort eine eigenständige Textsorte bezeichnet (Große/Seibold 1994: 42f), die im Deutschen dem Hintergrundbericht (La Röche U1988: 149-152) oder der „Problemdarstellung" (Lüger 2 1995: 118-122) entspricht. Meiner Ansicht nach unterscheiden sich Reportage und Porträt von der Nachricht weniger durch die .Analyse" als vielmehr durch eine szenische Darstellung und die subjektive Perspektive des Berichterstatters. Verzeichnet sind die zentralen Textsorten des deutschen und französischen Journalismus, deren Begriffe und einzelsprachlichen Bezeichnungen häufig nicht deckungsgleich sind: Während im Deutschen der Ausdruck Nachricht durchaus als Textsorten-Bezeichnung üblich ist, gilt dies nicht für das französische Äquivalent nouvelle. Dagegen unterscheidet die französische Journalistik mehrere Spielarten der Meldung wie la breve und le filet, Gleiches gilt für den deutschen Bericht (Voirol 1990; Martin-Lagardette 1994; vgl. Große/Seibold 1994). Der deutsche Begriff der Umfrage entspricht nicht eins-zu-eins der Enquete, die zwar wie die journalistische Umfrage eng mit dem Interview verbunden ist, die jedoch eine eigenständige und spezifisch französische Textsorte darstellt (Voirol 1990: 51 f.; MartinLagardette 1994: 88-93).

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Wie das Schaubild verdeutlicht, lässt sich neben den beiden traditionellen Klassen (informations- versus meinungsbetonte) eine dritte Gruppe journalistischer Textsorten identifizieren, deren dominierende Textfunktion ebenfalls die Vermittlung von Informationen ist, die sich aber von Nachricht und Bericht vor allem durch eine stärker subjektive, an die Person des Berichterstatters gebundene Art der Präsentation unterscheiden. Danach bilden Reportage, Porträt, Interview und Umfrage bzw. Enqueue im modernen Journalismus eine Gruppe benachbarter Textsorten. Dabei wird diese Arbeit zeigen, dass sich diese Verwandtschaft historisch begründen und herleiten lässt. Insgesamt bilden die Intentionstypen Information und Meinung lediglich die Pole des heutigen journalistischen Textsorten-Repertoires. Darüber hinaus lässt sich die Textfunktion im Einzelfall weiter differenzieren: „einen Sachverhalt darstellen", „eine Person porträtieren", „die Haltung einer Person präsentieren" etc. Wenn in dieser Arbeit also von der „Textsorte Interview" die Rede ist, dann handelt es sich selbstverständlich insofern um einen wissenschaftlichen Ordnungsbegriff, als Texte dieser „Sorte" nach bestimmten Kriterien systematisch klassifiziert und beschrieben werden sollen. Zugleich aber bildet die Grundlage der wissenschaftlichen Beschreibung das Presseinterview, wie es in der historischen Realität existiert und bis in die heutige Praxis von Journalisten produziert und von Lesern rezipiert wird. Vor diesem Hintergrund liefert der von Koch systematisierte Begriff der Diskurstraditionen, der sowohl literarische Gattungen als auch alltagssprachliche Gebrauchstexte umfasst, ein theoretisches Konzept, das die unterschiedlichen Ansätze auf eine gemeinsame Basis stellt sowie die literaturwissenschaftliche und linguistische Terminologie vereinheitlicht. Wenn hier stattdessen der bereits von Coseriu geprägte Terminus Texttradition vorgezogen wird, dann aus zwei Gründen: Zum einen ist der in Mode gekommene Begriff Diskurs in den verschiedensten Disziplinen in unterschiedlicher Weise belegt und erscheint daher unscharf. Zum anderen hat sich Text zur Bezeichnung sowohl mündlich als auch schriftlich realisierter Produkte sprachlicher Handlungen bewährt. Von zentraler Bedeutung aber ist der Begriff Tradition, denn er weist einerseits auf den historischen Wandel hin, dem die Merkmale und Normen bestimmter Textgebilde unterliegen, und betont andererseits den kulturell-sozialen Aspekt: Texttraditionen stellen nach Koch (1997: 71) „lediglich einen Sonderfall kultureller Traditionen" dar, wie sie etwa in der Kunst, Religion oder Musik existieren. Zwar sind der Roman, die Reportage oder die Predigt ebenso wie die jeweilige Einzelsprache, in der sie realisiert werden, historischer Veränderung unterworfen. Doch gehören sie zugleich kulturellen und sozialen Gemeinschaften an, von denen sie getragen und geprägt werden. Damit handelt es sich um historische Traditionen, die quer liegen zu den Einzelsprachen und sich parallel, aber prinzipiell unabhängig von diesen entwickeln. Das Verhältnis von Einzelsprache und Texttraditionen hat bereits Coseriu (31994: 46-54) dargestellt, der beide Phänomene im Gegensatz zur universalen Sprechtätigkeit und zum individuellen Text der historischen Ebene zurechnet und hier eine grundsätzliche „Autonomie der Texttraditionen" konstatiert (Wilhelm 1996: 12). Darauf bezieht sich Schlieben-Lange (1983), wenn sie im Rahmen der „Traditionen des Sprechens" eine eigene „Geschichte der Texttraditionen" fordert.

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Eine solche Herangehensweise steht jedoch vor dem Problem, dass die heute als typisch betrachteten Merkmale einer Texttradition keineswegs mit denen historischer Exemplare übereinstimmen müssen. Im unmittelbaren Vergleich zwischen einem modernen Interview aus der Tageszeitung LE MONDE und einem historischen Textbeispiel, wie es in deren direktem Vorläufer LE TEMPS in den 1880er Jahren erschienen ist, lassen sich auf den ersten Blick nur schwer Gemeinsamkeiten erkennen: Während der moderne Beitrag ein differenziertes Titelgefüge mit funktional festgelegten Elementen aufweist (die Dachzeile nennt den Namen sowie die soziale Funktion des Befragten, und die Hauptzeile präsentiert eine als wörtliches Zitat gekennzeichnete Äußerung der interviewten Person), steht dem historischen Beispiel statt einer individuellen Überschrift ein Rubriktitel voran. Vor allem aber fehlt dem historischen Text das für das moderne Interview typische alternierende FrageAntwort-Spiel. Stattdessen konstituiert sich der „Textkörper" aus dem Wechsel von discours und redt, d.h. die Wiedergabe direkter und indirekter Rede ist - einem literarischen Prosatext entsprechend - in eine monologische Erzählstruktur eingebettet. Trotz der erheblichen Unterschiede der sprachlichen und gestalterischen Merkmale des schriftlichen Produktes sind doch beide Textexemplare einer gemeinsamen Texttradition zuzuordnen, da ihnen eine besondere — in ihren historischen Bedingungen jedoch ebenfalls wandelbare - primäre Kommunikationssituation zugrunde liegt (Kap. 2.1). Der Extremfall, dass zwei zeitlich weit voneinander entfernte Texte in keinem (einzigen) Merkmal übereinstimmen, aber dennoch eine historische Einheit bilden und derselben Texttradition zuzurechnen sind, lässt sich mit Hilfe des von Wittgenstein geprägten Begriffs der „Familienähnlichkeit" erklären. Danach können zwei konkrete Objekte durchaus in allen beschreibbaren Merkmalen divergieren und dennoch über eine ununterbrochene Kette ähnlicher Gegenstände miteinander verbunden sein:5 In einer historischen Perspektive entspricht die so definierte Familienähnlichkeit, die eine . immediate Ähnlichkeit nicht voraussetzt, der von Saussure beschriebenen identite diachronique von zwei durch eine Reihe von Zwischengliedern miteinander verbundenen, aber möglicherweise völlig verschiedenen Einheiten. (Wilhelm 1996: 16) Die diachronische Identität einer Gattung kann also unter Umstanden nur über Familienähnlichkeiten oder prototypikalische Effekte vermittelt sein [...]. Wir müssen damit rechnen, dass am Ende einer Filiation eine erheblich andere diskurstraditionelle Realität steht als am Anfang. (Koch 1997: 26)

Eine solche Traditionskette, die in (unbewusster) Anlehnung an eine Grundidee der historischen Sprachwissenschaft aus vielen „Mittelgliedern" besteht (Schlegel 1808), lässt sich wie folgt veranschaulichen (Koch 1997: 60; vgl. Wennerberg 1998: 47f.):

Mit seinem Konzept der Familienähnlichkeit setzt Wittgenstein der Definition von Begriffen durch Merkmalsoppositionen ein sprachliches Wissen entgegen, das auf einem komplizierten Netz von Ähnlichkeiten sowie auf unscharfen Bildern mit verschwommenen Rändern basiert; der rein analytischen und „digitalen" Logik des Aristoteles stellt der moderne Philosoph ein bildhaftes und „analoges" Wissen gegenüber, das mit hinweisendem Erklären und „prototypischen" Vertretern operiert (Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§ 65-71 in: Lange 1998: 167ff).

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ABCD BCDE CDEF DEFG EFGH

Da das Konzept der Familienähnlichkeit, das Wittgenstein am Beispiel der Definition des Begriffs „Spiel" demonstriert, eben keine endliche Menge von Merkmalen annimmt und keinen unabdingbaren Definitionskern voraussetzt, ermöglicht es, auch randständige Vertreter als miteinander verwandt und als Mitglieder derselben Gattung zu identifizieren. Für eine historische Betrachtungsweise bedeutet dies, dass die Anfangsglieder einer sich konstituierenden Texttradition ausgemacht werden können. Auf dieser theoretischen Basis kann auch ein „Besuch ohne Fragen", als der sich der Text Une demi heure chez M. Veuillot aus dem Jahre 1866 darstellt, als frühes Exemplar des journalistischen Interviews beschrieben werden (Kap. HI.2.3.3). Wie jeder sprachliche Wandel, bei dem immer auf etwas Bestehendes und Bewährtes zurückgegriffen wird, entstehen auch Texttraditionen nicht aus dem Nichts, sondern entwickeln sich im stetigen Wechsel von Innovation und Tradition. Nach Koch entstehen Texttraditionen als Antwort auf neue kommunikative Bedürfhisse, die aus sozialem, kulturellem oder technischem Wandel resultieren. Dabei werden in der Regel nicht völlig neue Formen der Kommunikation kreiert, sondern bereits vorhandene aufgegriffen und den neuen Bedingungen angepasst: Häufig werden traditionelle Textmuster beibehalten und Elemente, die ihre ursprüngliche Funktion verloren haben, „umfunktioniert" oder ästhetisiert. Neben diesem grundsätzlichen „Konservatismus" entsteht aber auch Neues, wie Koch (1997: 61-71) in drei alternativen Entwicklungsprozessen aufzeigt. So können sich in linearer Form aus alten Texttraditionen neue und eigenständige herausbilden („Ausdifferenzierung"), aus zwei parallel bestehenden Texttraditionen können einzelne Elemente entlehnt und für eine dritte genutzt werden („Mischung") oder schließlich können sich zwei unterschiedliche Traditionen ab einem bestimmten Zeitpunkt einander annähern und sich gegenseitig bedingen („Konvergenz"). Da Texttraditionen prinzipiell unabhängig von der jeweiligen Einzelsprache existieren und von übereinzelsprachlichen, sozialen Gemeinschaften getragen werden, ist eine Untersuchung zur Entstehung und Entwicklung des Interviews in der französischen Presse nicht in dem Sinne misszuverstehen, als bestehe per se eine auf das Französische beschränkte Interview-Tradition. Allerdings schließt die übereinzelsprachliche Existenz journalistischer Textsorten keineswegs aus, dass für einzelne Sprachgemeinschaften bestimmte Formen und Verfahren typisch sind (Lebsanft 1997: 366ff). So dient diese Arbeit dem berechtigten Interesse, im Falle des Interviews zu untersuchen, „wie das Französische mit seinen einzelsprachlichen Mitteln die Anforderungen einer bestimmten Diskurstradition umsetzt" (Koch 1997: 51). Es soll untersucht werden, in welcher Form und ggf. mit welchen Besonderheiten die von der „Diskursdomäne" Journalismus getragene Texttradition Interview

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in der französischen Presse realisiert wird.6 Als Vergleichsmaßstab dienen die bisherigen Forschungserkenntnisse zur Interviewentwicklung in Deutschland und den USA. Insofern sollen die in dieser Arbeit analysierten einzelsprachlichen Fakten nicht absolut, sondern stets in „diskurstraditioneller Perspektive" betrachtet werden. Dabei ist eine Untersuchung zum Presseinterview, das wie jede Texttradition zwar ein „sprachbezogenes", aber kein rein sprachliches Phänomen darstellt (Koch 1997: 56), zwangsläufig auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftsbereichen angewiesen. So werden neben sprachwissenschaftlichen Fakten insbesondere neue Forschungsbeiträge aus der Journalistik sowie der Presse- und Literaturgeschichte herangezogen. Das Interview zählt heute neben anderen „Darstellungsformen" wie Bericht, Reportage oder Kommentar zu einem standardisierten Repertoire journalistischer Textsorten, das sich im Laufe der Zeitungsgeschichte herausgebildet hat (Fritz 2000: 198; Lebsanft 2001: 299-302). Für das Interview bedeutet dies, dass die heute als typisch betrachteten Merkmale keineswegs mit denen historischer Texte übereinstimmen müssen. Darüber hinaus haben sich sowohl der Begriff dessen, was Journalisten und Zeitungsleser in aller Welt unter „Interview" verstehen, als auch die im Französischen gebräuchlichen Bezeichnungen für diese Texttradition seit den Anfangen im 19. Jahrhundert verändert. Ausgangspunkt für die Suche nach historischen Textexemplaren, die als frühe Formen der Textsorte Interview identifiziert werden sollen, ist zunächst der moderne Begriff. Vor dem Hintergrund der heutigen journalistischen Praxis gilt es, die wesentlichen Merkmale des Interviews zu bestimmen und anschließend mit historischen Pressetexten zu vergleichen. Dabei müssen Ausprägung und Kombination einzelner Merkmale präzisiert und der historischen Praxis entsprechend differenziert werden. Zugleich ist aus onomasiologischer Perspektive danach zu fragen, mit welchen Ausdrücken die zeitgenössischen Sprecher die neu entstehende Textsorte bezeichneten. Die pragmatisch-linguistische Textanalyse wird daher flankiert von einer Wortund Begriffsgeschichte, die im wechselseitigen Ineinandergreifen von semasiologischer und onomasiologischer Betrachtungsweise die Entwicklung zentraler Interview-Bezeichnungen untersucht und Hypothesen über die Geschichte dieser journalistischen Textsorte ermöglichen soll (Kap. II): Vom heutigen Ausdruck interview ausgehend, sind zunächst die Merkmale des damit bezeichneten modernen Begriffs zu bestimmen. In einem zweiten Schritt gilt es, die historische Textrealität zu betrachten und nach Gebilden zu suchen, welche diese Merkmale aufweisen oder zumindest anderen Exemplaren im Sinne Wittgensteins ähnlich sind. Schließlich müssen diejenigen Ausdrücke, welche die zeitgenössischen Sprecher für diese Textgebilde benutzten, gesucht und in ihrer historischen Bedeutung bestimmt werden. Von hier aus lassen sich Hypothesen über Merkmale und Typen von Interviews formulieren, wie sie in der historischen Praxis existiert haben. Dieser stetige Wechsel von semasiologischen und onomasiologischen Verfahren soll letztlich dazu dienen, Die „Diskursdomäne" hat gegenüber dem häufig in strukturalistischer Perspektive verwendeten Terminus „System" den Vorteil, dass er in Kontext mit dem Begriff Tradition keine feste und unwandelbare Struktur suggeriert, sondern ein von handelnden Subjekten getragenes und tradiertes Geflecht von Regeln und Mustern voraussetzt, das sich im stetigen Wandel befindet (vgl. Journalismus als soziales System, Blöbaum 1994).

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das „Dilemma" einer historischen Textsortenbetrachtung zu überwinden. Wie wichtig das von Baidinger (1990) dargelegte methodische Zusammenspiel von Wort- und Begriffsgeschichte ist, lässt sich auch aus der Perspektive des Historikers begründen:7 Eine Begriffsgeschichte muß [...] alternierend mit dem semasiologischen Zugriff auch onomasiologisch arbeiten; d.h. die Begriffsgeschichte muß ebenso die Vielzahl der Benennungen für Sachverhalte registrieren, um Auskunft darüber geben zu können, wie etwas auf seinen Begriff gebracht wurde. (Koselleck 1979: 30)

Eine Definition der Textsorte Interview, die vom modernen Begriff ausgeht und zugleich die historische Perspektive im Blick hat, muss möglichst weit gefasst und zu den Rändern hin offen formuliert werden. Denn die Bestimmung eines Textsortenbegriffs mit empirisch überprüfbaren Merkmalen bildet die Voraussetzung und die Grundlage für die Erhebung eines historischen Textkorpus.

2. Begriff und Typologie der Textsorte Interview Auf der Suche nach den Anfängen der Texttradition Interview darf der moderne Begriff nicht unmittelbar auf die historische Realität übertragen werden. Stattdessen ist ein möglichst weiter Interview-Begriff anzulegen, der auch besonders frühe Textexemplare mit einbezieht und zugleich die für das Interview spezifische doppelte Kommunikationssituation berücksichtigt. Wie diese in der journalistischen Praxis des 19. Jahrhunderts im Einzelnen bedingt war, gilt es anschließend mittels einer pragmatisch orientierten Textanalyse zu präzisieren. Darüber hinaus kann die unterschiedliche Ausprägung zentraler Merkmale - wie die kommunikative Absicht des Interviewers oder die Wahl von Person, Ort und Gegenstand - als Kriterium für eine historische Interview-Typologie dienen.

2. l Kommunikationssituation Interview Für das journalistische Interview wird grundsätzlich zwischen der generellen Methode des Recherchierens und der besonderen „Darstellungsform" unterschieden (Noelle-Neumann u.a. 1994: 105). Doch ausgehend von der handlungstheoretischen Prämisse, dass sprachliche Kommunikation eine zielgerichtete Handlung darstellt, sind Interview oder Reportage mehr als bloße Formen der Darstellung - wie der in der Publizistik gebräuchliche Begriff irrtümlich suggeriert. Vielmehr handelt es sich um komplexe und konventionalisierte Sprachhandlungsmuster, die sich sowohl Das Verhältnis von Semasiologie (Bedeutungslehre) und Onomasiologie (Bezeichnungslehre) veranschaulicht Baidinger in Anlehnung an Saussure anhand eines Dreiecks von Wortkörper (signifiani), Begriff (signifie) und Sache (Baidinger 1990: 9): „Semasiologie und Onomasiologie ergänzen sich somit: die Semasiologie untersucht die Verbindungen eines Wortkörpers mit verschiedenen Begriffen; die Onomasiologie untersucht die Verbindungen eines Begriffes mit verschiedenen Wortkörpem."

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durch einen primären Prozess der Informationsgemnnung als auch durch einen sekundären Prozess der Informationsver/wtf/tmg konstituieren. In der Praxis bedeutet dies, dass ein Bericht, eine Reportage oder ein Interview jeweils spezifisch andere Anforderungen an die journalistische Recherche stellt und sich der Journalist bereits vorher überlegen muss, welche Handlungsform er zu welchem Zweck wählt. Wie im Laufe dieser Untersuchung zu zeigen ist, handelt es sich bei den frühen Textexemplaren von Interview und Reportage im 19. Jahrhundert letztlich um eine besondere Art von „Rechercheberichten", die den spezifischen Prozess der Datenerhebung vor den Augen des Lesers aufdecken. Die Journalisten schildern darin ausfuhrlich, an welchem Ort und aufweiche Weise sie die Informationen gesammelt und mit welchen Personen sie dabei gesprochen haben.8 Auf dem skizzierten doppelten Handlungsprozess beruht die für das journalistische Interview etablierte Differenzierung in eine primäre und eine sekundäre Kommunikationssituation (Ecker u.a. 1977: 18f.): Dem in der Zeitung erscheinenden Text, den ein einzelner Journalist oder eine kollektive Redaktion an ein disperses Lesepublikum adressiert (Sekundärsituation), liegt ein reales Gespräch zwischen Interviewer und Interviewtem zugrunde (Primärsituation). Erst aus dieser Kombination konstituiert sich die Textsorte Interview. Während die primäre und sekundäre Kommunikationssituation im Falle des Presseinterviews zeitlich getrennt liegen, fallen sie beim live-gesendeten Radio- oder Fernsehinterview zusammen. In jedem Fall aber findet die Kommunikation im Dreieck zwischen Journalist, seinem Gegenüber und dem Publikum statt. Denn die beiderseitigen Äußerungen von Interviewer und Interviewtem sind nicht allein auf den unmittelbaren Gesprächspartner bezogen, sondern - im Wissen um die Veröffentlichung - zugleich an den Zeitungsleser gerichtet („Mehrfachadressierung"):9 Publikum

Interviewer

·^

^

Interviewter

Die gegenseitige sprachliche Interaktion von Interviewer und Interviewtem stellt sich in der heutigen Praxis als ein institutionalisierter mündlicher Frage-AntwortDialog dar, dessen Handlungsmuster genau festgelegt und durch eine asymmetrische Rollenverteilung gekennzeichnet ist: Während allein der Journalist die Privilegien In Anlehnung an die Ergebnisse von Hrbek (1995), die am Beispiel der GAZZETTA DI MANTOVA die Textsorten-Entwicklung in der italienischen Presse untersuchte und dort für das Jahr 1895 erste Belege für das Interview präsentieren konnte, bezeichnet Große (2001: 19) den „Interviewbericht" (recit-interview) als historische Vorstufe des modernen Zeitungsinterviews. Bucher (1999: 225) benennt die Mehrfachadressierung als ein spezifisches Merkmal von Mediendialogen insgesamt. Burger (21990: 44) unterscheidet beim Interview (parallel zur Differenzierung von Primär- und Sekundärsituation) zwischen dem „inneren" und dem „äußeren" Kommunikationskreis (vgl. Bucher 1999: 217 und 1994b: 484f).

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besitzt, das Gespräch zu eröffnen und zu beenden, Fragen zu stellen, das Rederecht zu vergeben und die Themen zu bestimmen, beschränkt sich die Rolle des Befragten darauf, Antworten zu geben. Unabhängig von der sozialen Rangverteilung besitzt der Interviewer die Gesprächsdominanz und damit einen höheren „situativen Status" als sein Gegenüber (Burger 21990: 58f). Wie für jede dialogische Kommunikation gilt auch in der primären Interviewsituation das von Grice (1975) formulierte universelle Grundprinzip der Kooperation. Danach sind die Dialogpartner am Erfolg der gemeinsamen sprachlichen Interaktion interessiert, über deren Spielregeln gegenseitiges Einvernehmen herrscht.10 Zugleich aber können die Einzelinteressen der Gesprächsteilnehmer divergieren und gegenläufig sein. Die für monologische Texte durchaus sinnvolle Bestimmung einer dominierenden Funktion oder Intention, die von der kommunikativen Absicht des Sprechers ausgeht, erscheint daher für dialogische Texte problematisch. Aus diesem Grund hatte Lüger (1977: 34f.) das Interview ursprünglich als „bizentrierte" Textsorte klassifiziert, die sich - dem alternierenden Frage-AntwortSpiel entsprechend - durch den Wechsel von appellativer einerseits sowie informations- und meinungsbetonter Intention andererseits auszeichne.11 In der Tat begegnen sich im Interview zwei Parteien mit unterschiedlichen Zielen: Der Intention des Journalisten steht das grundsätzliche Interesse des Interviewten gegenüber, der seine persönliche Meinung zu einem Thema darstellen und der Öffentlichkeit ein bestimmtes Bild seiner Persönlichkeit vermitteln will (Jucker 1986a: 71). Dennoch kann das Interview der Gruppe der informationsbetonten journalistischen Textsorten wie Nachricht, Bericht oder Reportage zugeordnet werden. Denn ebenso wie mit diesen Handlungsformen will der Journalist mit dem „Instrument" Interview den Leser über einen Gegenstand informieren, indem er Fakten und Meinungen Dritter vermittelt: Der Journalist, der für seine Berichterstattung die Kommunikationsform Interview wählt, verfolgt damit ein bestimmtes Informationsziel. Dazu sucht er den Interviewpartner aus und legt den zentralen Gegenstand des Gesprächs fest. Vor dessen Beginn muss sich der Interviewer überlegen, was er zum Zwecke der journalistischen Vermittlungsleistung von seinem Gegenüber wissen will und wozu der Interviewte sich äußern soll. Den Ausgangspunkt für eine beschreibende und verstehende Analyse des Interviews bildet somit die kommunikative Absicht des Journalisten, welche die Relation der befragten Person zum Gegenstand regelt. Das übergeordnete Ziel, das der Journalist im Interview verfolgt, besteht darin, ein Informationsbedürfhis zu bedienen und ein Wissensdefizit zu überwinden, das weniger beim Journalisten selbst vorhanden sein muss, sondern vielmehr von diesem auf Seiten des Lesers vermutet wird. Im Interview formuliert der Journalist 10

Die „Spielregeln" des modernen Interviews fasst Holly (1993: 169-71) anschaulich zusammen. Später sollte der Autor die eigens für das Interview kreierte Klasse der „bizentrierten" Texte aufgeben und stattdessen zwischen dem informierenden Sachinterview und dem Meinungsinterview unterscheiden (Lüger 21995: 124f. und 141-44). Zur Kritik an Lüger siehe Burger (21990: 322f). Die „bizentrierten Texte" gehen ursprünglich auf Große (1974) zurück, der allerdings in neuerer Zeit das Interview am Beispiel der französischen Presse in ein champ transitoire zwischen information und opinion einordnet (Große/ Seibold 1994: 36 und 46f; Große 2001: 32f).

21 seine Fragen stets stellvertretend für den Leser. Darüber hinaus gehört es in der modernen Praxis zu einer guten Vorbereitung, dass der Interviewer die Antworten auf zentrale sachliche Fragen und die grundsätzliche Haltung seines Gegenübers bereits vor dem eigentlichen Gesprächstermin recherchiert hat. Damit ist das Interview ein vor den Augen und im Hinblick auf das Interesse des Lesers inszenierter Dialog, in dem der Leser als dritter Kommunikationspartner zu jeder Zeit präsent ist. Die primäre Kommunikationssituation Interview lässt sich zusammenfassend als ein öffentliches Zwiegespräch charakterisieren, das für und vor Publikum aufgeführt wird: Der Interviewer, der stellvertretend für das Publikum mit dem Interviewten interagiert, veranlasst sein Gegenüber zu sprachlichen Äußerungen, um auf diese Weise das Publikum über einen Gegenstand zu informieren. Dabei fordert der Interviewer seinen Gesprächspartner auf, sein Wissen und seine Position zu einem Gegenstand mitzuteilen. Der Interviewte kommuniziert seinerseits über den Interviewer mit dem Publikum, vor dem er seine Position überzeugend darlegen will und sich ggf. gegen die vom Interviewer (stellvertretend) vorgebrachten Einwände argumentativ rechtfertigen muss.12 Zugleich ist generell davon auszugehen, dass der Interviewte ein von ihm gewünschtes Bild seiner Person vermitteln will. Im Falle des Presseinterviews findet zwischen der Primär- und der Sekundärsituation ein Prozess statt, in dem das gesprochene Wort redaktionell bearbeitet und in einen schriftlichen Zeitungsartikel übertragen wird. Aufgrund dieses für das Presseinterview konstitutiven Medienwechsels ist der im Laufe des Gesprächs produzierte Text keineswegs mit dem anschließend veröffentlichten Sprachgebilde identisch; letztlich handelt es sich sogar um zwei verschiedene - einen primären und einen sekundären Interviewtext. Indem der Text sprachlich gereinigt und dem Schriftstandard angepasst wird, gehen große Teile der mündlichen Ausdrucksweise verloren. Gleichzeitig werden Elemente der Mündlichkeit bewusst beibehalten oder hineinredigiert, um die Authentizität der Primärsituation zu reproduzieren - oder besser: zu „konstruieren" (Burger 21990: 60f.). Denn die besondere publizistische Leistung des Interviews besteht schließlich darin, die Äußerungen des Befragten als beglaubigtes Wortdokument zu übermitteln. Zugleich aber steht fest, dass das gedruckte Interview keine Abbildung des ursprünglichen Dialogs im Maßstab einszu-eins darstellt und dessen unverfälschte Wiedergabe zumindest unter sprachwissenschaftlichem Aspekt immer eine Fiktion bleiben wird. Aufgrund des „medialen Sprungs" ordnet Koch (1997: 57) das Presseinterview konzeptionell stärker der Distanz- als der Nähesprache zu.13 Das Privileg des Interviewers zur Dialogsteuerung beruht weniger auf seiner „Neutralität" (vgl. Holly 1993: 175-179) als vielmehr auf seinem Informationsauftrag, der ihn verpflichtet, im Interesse des Lesers bestehende Gegenpositionen stellvertretend vorzubringen. In Erweiterung der Kreuzklassifikation von Soll (31985) unterscheidet Koch in puncto Schriftlichkeit und Mündlichkeit nicht nur danach, ob ein Text phonisch oder grafisch realisiert wird (medialer Aspekt), sondern auch danach, ob er nähe- oder distanzsprachlich konzipiert ist (konzeptioneller Aspekt). Auf diese Weise lassen sich verschiedene Textsorten auf einer Skala zwischen Nähe und Distanz anordnen („Nähe-DistanzKontinuum" nach Koch/Oesterreicher 1990: 17-19). Die These, dass „das Interview und das abgedruckte Zeitungsinterview zwei verschiedene Diskurstraditionen" seien (Koch 1997: 57), erscheint allerdings problematisch. Denn das Rundfunkinterview stellt eine

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Die Kriterien der redaktionellen Bearbeitung, die das Interview in der journalistischen Praxis erfährt, werden - unabhängig von speziellen Redaktionsstatuten einzelner Zeitungen wie den Libros de estilo der spanischen Tageszeitung EL PAIS (Lebsanft 1997) - in den einschlägigen Handbüchern beschrieben; so z.B. „Textredaktion geformter Interviews" (Haller 21997: 342-349) und „La redaction de l'interview: choisir, reconstruire, habiller" (Montant 1995: 51-57). Martin-Lagardette (1994: 102f; 106) rät in seinem journalistischen Lehrbuch, die Äußerungen des Befragten möglichst originalgetreu, nicht aber Wort für Wort, sondern sinngemäß wiederzugeben. Im Idealfall, so der Autor, soll der Interviewte erkennen, dass er es anders gesagt, aber genauso gemeint habe. Zu der auch in Deutschland üblichen Praxis, den Interviewtext vor der Veröffentlichung vom Befragten gegenlesen und autorisieren zu lassen, empfiehlt der französische Journalistenausbilder, dies nur auf ausdrücklichen Wunsch zu tun, um nachträgliche Änderungen oder die Rücknahme ganzer Äußerungen zu verhindern.14 Da sowohl die Bedingungen der primären Interviewsituation als auch die „sekundären" Textmerkmale dem historischen Wandel unterliegen, kann für die Realität des 19. Jahrhunderts weder ein institutionalisierter Frage-Antwort-Dialog zwischen Journalist und Befragtem, noch eine bestimmte Art der Textpräsentation angenommen werden. Eine Definition des Begriffs Interview, die sich auf die Festlegung einer bestimmten Anzahl von Sprecherwechseln beschränkt (Haller 21997: 133f.; Grzella/Pfmgsten 1994: 30f.) oder ein asymmetrisches Rollenverhältnis zwischen Fragesteller und Antwortgeber voraussetzt, greift daher in jedem Fall zu kurz. Ebenso ist die Frage, in welcher sprachlichen Form die beiderseitigen Äußerungen wiedergegeben werden, zunächst offen zu lassen. Denn weder ist der Textaufbau ausschließlich auf das alternierende Wechselspiel von Frage und Antwort festzulegen („streng gestaltete Form"), noch müssen die Redebeiträge des Journalisten als Fragesätze erscheinen. Vielmehr sollte eine historisch orientierte Definition der Kommunikationsform Interview möglichst weit gefasst und zu den Rändern hin offen formuliert werden. Ausgehend von der ursprünglichen Bedeutung des Anglizismus interview, der etymologisch auf den französischen Ausdruck entrevue zurückgeht (Kap. II), liegt eine face-to-face Begegnung zwischen einem Journalisten und (mindestens) einer weiteren Person vor. Für die historische Praxis ist davon auszugehen, dass der Journalist die Person zum Zweck einer sprachlichen Interaktion an einem bestimmten Ort aufsucht und zu Äußerungen über einen Gegenstand motiviert. Ziel ist es, die beiderseitigen Äußerungen anschließend in einem Zeitungsartikel zu veröffentlichen. Im Gegensatz zum literarischen Dialog, der ebenfalls ein verschriftlichtes Gespräch mit einer doppelten kommunikativen Konstellation darstellt (Schwitalla 1983: 921), liegt dem Presseinterview in jedem Fall ein reales Gespräch zugrunde (vgl. Kap. III.7). moderne technische Variante derselben historischen Texttradition dar, die in ihrer Primärsituation grundsätzlich phonisch realisiert und nähesprachlich konzipiert ist. Richtig ist aber, dass der „mediale Sprung" des Presseinterviews dazu führt, dass der Interviewtext eine konzeptionelle Veränderung in Richtung Schrift- bzw. Distanzsprache erfährt. Das generelle Recht am eigenen Wort und die juristischen Konsequenzen ftir das journalistische Interview erläutert Auvret (1994: 101-106).

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Allerdings ist nicht jedes in der Zeitung wiedergegebene Gespräch zwischen einem Journalisten und einer weiteren Person zwangsläufig ein Interview: Mit Beginn der 1860er Jahre finden sich in der französischen Presse zunehmend Artikel, in denen der Autor einzelne Sequenzen von Dialogen in direkter oder indirekter Rede referiert, die er zufällig mitgehört oder an denen er sich spontan beteiligt hat. So berichtet ein correspondent des PETIT JOURNAL im Jahre 1863, wie ihm während einer Eisenbahnfahrt ein Mitreisender ein Zugunglück schildert. Im Gegensatz zum Interview stellen solche „Gelegenheitsdialoge" keine vom Journalisten ausgehende und intendierte sprachliche Handlung dar: Quelques jours avant mon arrivo dans le Midi, j'avais rencontro sur la route de Paris a Bordeaux, a la gare de Poitiers, un jeune notaire du dopartement de la Gironde. Je ne le vis d'abord qu'ä la sortie du tunnel et apres avoir traverso le Ciain. C'est ici, me dit-il, qu'il y a quelques annees eut lieu un bien terrible accident. J'y otais, repliqua un voyageur, enfonco dans un coin du wagon. J'attendais des details de Tun ou de l'autre de ces messieurs quand le train s'arröta. (Le Petit Journal, 27.2.1863, S.2)15

Wenn hier grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass der Journalist sowohl die Begegnung als auch die sprachliche Interaktion beabsichtigt und veranlasst, so kann jedoch die für das moderne Interview idealtypische Dominanz des Interviewers und die daraus resultierende Asymmetrie zwischen einem agierenden Fragesteller und einem reagierenden Antwortgeber nicht vorausgesetzt werden. Vielmehr wird diese Rollenkonstellation als Ergebnis einer Entwicklung betrachtet. Damit muss zunächst offen bleiben, wer in der historischen Realität das Interview eröffnet und beendet, wer die Themen steuert und das Rederecht vergibt. Wie der unmittelbare Vergleich eines modernen mit einem historischen Interview gezeigt hat, sind Presseinterviews des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen durch einen ausfuhrlichen Erzählerkommentar gekennzeichnet, der die eigentliche Gesprächswiedergabe (discours) in eine insgesamt monologische Textstruktur (redt) einrahmt. Diesen „Lesedialogen", in denen der Journalist die primäre Gesprächssituation schildert und die beiderseitigen Äußerungen wiedergibt, kann also durchaus eine dominierende Textfunktion zugeordnet werden, die sich aus der kommunikativen Absicht des journalistischen Autors ableiten lässt. Angesichts des für das Presseinterview universell typischen Prozesses der Verschriftlichung muss insbesondere für die historische Realität ein hoher Grad an redaktioneller Bearbeitung angenommen werden. Selbst wenn - wie noch zu zeigen ist - eine wortund wirklichkeitsgetreue Wiedergabe des ursprünglichen Gesprächs häufig von den Verfassern angestrebt und explizit beteuert wird, so bürgt für die Authentizität doch allein die Person des Journalisten, der mit seinem Notizblock das gesprochene Wort in der face-to-face Situation festgehalten hat. Das elektronische Aufnahmegerät, das

Der chroniqueur des PETIT JOURNAL zitierte regelmäßig Passagen aus spontanen Alltagsdialogen (Petit Journal, 10.2.1866, S.3): „Chacun a eu, comme moi, l'occasion d'entendre un dialogue du genre de celui-ci, plein de sens et d'une conclusion des plus logiques." Bereits 1837 gab die Tageszeitung LA PRESSE eine kurze Redesequenz zwischen einem Polizisten und einer Frau wieder, die ein Journalist zufallig mit angehört hatte (La Presse, 12.7.1837, S.2). Auch der FIGARO präsentierte seinen Lesern regelmäßig „Gelegenheitsdialoge", wie sie z.B. der Theater-Kritiker während einer Aufführung oder in der Pause vom Publikum aufschnappte (Le Figaro, 28.11.1866, S.lf).

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in der heutigen Praxis eine „Sicherungskopie" des mündlichen Gesprächs liefert, existierte im 19. Jahrhundert noch nicht. Darüber hinaus liegen Auswahl, Reihenfolge und sprachliche Form der Redewiedergabe sowie deren Einbettung in seinen Text allein in der Hand des Journalisten. Zusammenfassend lässt sich die Grundkonstellation der Kommunikationssituation Interview für eine historische Betrachtung wie folgt beschreiben: Im Zuge einer zielgerichteten Handlung, die vom Journalisten initiiert und intendiert ist, sucht dieser eine Person an einem Ort auf und motiviert sie zu Äußerungen über einen Gegenstand in der Absicht, einen Zeitungsartikel zu verfassen, der die beiderseitige Interaktion referiert und somit Elemente der Primärsituation transportiert. Wie diese Kommunikationssituation in der historischen Praxis im Einzelnen bedingt ist und auf welchen Handlungsmustern sie basiert, muss letztlich aus den Texten rekonstruiert werden. Dazu sollen mit Hilfe einer pragmatisch-linguistischen Analyse die sprachlichen Mittel untersucht werden, mit denen der Journalist die persönliche Begegnung vor Ort schildert und die gemeinsame Interaktion mit dem Interviewpartner wiedergibt. Im Kontrast zur meist „streng gestalteten Form" des modernen Zeitungsinterviews sind insbesondere die Arten der Redewiedergabe und die Funktion des Erzählers von Interesse. Auf welche Weise der skizzierte Medienwechsel zwischen primärer und sekundärer Kommunikationssituation vollzogen, d.h. mit welchen sprachlichen Mitteln das mündliche Interview-Gespräch in einen schriftlichen Zeitungstext transponiert wird, soll die Textanalyse verdeutlichen. Darüber hinaus kann die unterschiedliche Ausprägung zentraler Merkmale - wie die Intention des Interviewers, der Textaufbau oder die Wahl von Ort, Person und Gegenstand - als Kriterium für eine historische Interview-Typologie dienen.

2.2 Interview-Typologie Die historische Perspektive bleibt in allen bisherigen Ansätzen zur Klassifikation des Interviews unberücksichtigt.16 Die wichtigste Einteilung, die sich - leicht modifiziert - sowohl in den gängigen journalistischen Praxis-Handbüchern als auch in den wissenschaftlichen Darstellungen aus Publizistik und Linguistik wiederfindet, ist die von Netzer (1970) vorgeschlagene „grobe Gliederung". Danach lassen sich alle denkbaren Varianten der Textsorte entweder dem Interview zur Sache oder dem Interview zur Person zuordnen: Ich halte deshalb die einfachste Gliederung für die sinnvollste: wenn wir nämlich nur zwischen dem Interview zur Sache und dem Interview zur Person unterscheiden. Beim ersten kommt es darauf an, was jemand sagt, beim zweiten ist es wichtig, -wer etwas sagt. (Netzer 1970: 32; Hervorh. im Orig.)

Dass der Gegenstand des Interviews das distinktive Kriterium dieser Klassifizierung bildet, wird jedoch selten klar definiert und explizit thematisiert. So wird im Falle des Interviews zur Person implizit vorausgesetzt, dass die Person des Befragten (und keine andere) Gegenstand des Interviews sei.

Das gilt auch für den neuesten Überblick von Schröder (2001: 1722).

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Der Typologie-Ansatz von Ecker u.a. (1977: 25f.) basiert auf der grundlegenden Erkenntnis, dass „das Interview immer Gegenstände und Sachverhalte in Beziehung zu Personen präsentiert". Ohne sie so zu benennen, differenzieren die Autoren zwischen einem sachzentrierten und einem personenzentrierten Interview, bei dem entweder die Person des Befragten oder die behandelten Themen austauschbar seien, sowie einem dritten Typ, bei dem eine Sache „in totaler Verschränkung mit der Person" thematisiert werde. Die von Netzer entlehnten Merkmale zur Sache und zur Person erscheinen hier als Pole einer Skala, auf der alle Interviews nach der Relation von Thema und Person angeordnet werden könnten. Nach Haller (21997: 145-151), der in seinem Praxis-Handbuch dieser Einteilung explizit folgt und sie terminologisch festlegt, steht im personenzentrierten Interview (auch: Personenporträt) der Interviewte im Mittelpunkt des Gesprächs, während das gegenstandszentrierte Interview ein Ereignis oder Sachverhalt zum Thema habe. Als dritten Typ identifiziert der Autor das verschränkte Interview, das den „inneren Zusammenhang zwischen Person und Sache" fokussiere und die Ansichten und Einschätzungen des Interviewten zu einer Sache thematisiere. Quer zu dieser Ordnung liegen weitere „Typen" von Interviews, die in der Publizistik sowie der Linguistik beschrieben werden. Als Kriterien, die nicht immer klar definiert sind und sich häufig Überlagern, werden in den meisten Fällen die Intention des Interviewers oder die Person des Befragten zugrunde gelegt: das Meinungsinterview, in dem der Interviewer die persönlichen Meinungen seines Gegenübers zu einem Sachverhalt abruft und kritisch hinterfragt (La Röche "1988; Lüger 21995; Rodrigues 1996), das Sachinterview (Lüger 21995; Mast 1994), in dem Tatsachen über ein Thema vermittelt werden, sowie das kontroverse Interview (Friedrichs/ Schwinges 1999; Bell/Leeuwen 1994), in dem ein Politiker seine Positionen gegen Einwände des Interviewers rechtfertigen und verteidigen muss. Problematisch erscheint es, Interviews danach zu unterscheiden, ob in ihnen vorrangig Tatsachen oder Meinungen vermittelt werden. Zwar entspricht dies der gängigen Klassifikation journalistischer Textsorten insgesamt. Doch scheint es wenig plausibel, dass der Interviewer sein Gegenüber lediglich nach dessen sachlichem Wissen und nicht gleichzeitig nach dessen Meinung oder Einschätzung befragt. Aus diesem Grund ordnet Haller das so genannte „Meinungsinterview" dem verschränkten Interview unter. Auf romanistischer Seite wird das Meinungsinterview von Rodrigues (1996) beschrieben, die das Interview in der modernen spanischen Tagespresse unter sprachpragmatischer Perspektive untersucht. In Anlehnung an Searles Begriff der Intentionalität ist für die Autorin, die vom Interview zur Person, das informierende und das kritische Meinungsinterview differenziert, nicht die Person des Befragten oder das Thema des Interviews, sondern die Absicht des Interviewers entscheidend:17 Welche Interviewform der Interviewer wählt, hängt nicht in erster Linie davon ab, wen er interviewt, sondern was er mit dem Interview beabsichtigt. (Rodrigues 19%: 100; Hervorh. im Orig.)

Da die Autorin jedoch in ihrer empirischen Untersuchung für das kritische Meinungsinterview, in dem der Journalist die Position seines Gegenübers kontrovers hinterfragt, kein Beispiel vorlegen kann, gibt sie diese Kategorie wieder auf (Rodrigues 1996: 211).

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Auch Schwitalla (1979: 178-184), der das Politiker-, Experten-, und Star-Interview unterscheidet, klassifiziert die Textsorte nach dem „kommunikativen Ziel, das durch das Interview erreicht werden soll". Zwar referieren die Typenbezeichnungen auf die soziale Rolle des Interviewten, doch sieht der Autor mit Kontrolle, Wissenserweiterung und Selbstdarstellung jeweils eine andere Intention realisiert.18 Wenn schließlich Schröder (1984: 316-324), die das gesamte redaktionelle Spektrum der Tageszeitung LE MONDE texttypologisch beschreibt, als Subtypen einerseits das Interview zur Person ausmacht und andererseits das Spezialisten-Interview sowie das Minister-Interview als Unterformen des Interviews zur Sache identifiziert, dann spiegeln sich darin sowohl die Einteilung von Schwitalla als auch die Gliederung von Netzer wider. Als vorläufiges Fazit lässt sich festhalten: Weder Publizisten, noch Linguisten ist es bisher gelungen, eine homogene Systematik für eine umfassende Typologie des journalistischen Interviews zu entwerfen. Aufgrund der Vielzahl von Aspekten hält Hoffmann (1982: 14) eine systematische Klassifizierung für „ebenso zwecklos wie unmöglich". Dennoch kann aus textlinguistischer Perspektive die Gesamtheit der grundsätzlich möglichen Interview-Typen mit Hilfe eines Modells erfasst werden, das die doppelte Kommunikationssituation des Interviews berücksichtigt und den (sekundären) Interview-Text ins Zentrum stellt (Schaubild s.u.). Denn als sprachliches Produkt eines komplexen Kommunikationsprozesses bildet dieser den zentralen Gegenstand der textlinguistischen Analyse und ist - in Anlehnung an Bühlers „Organon-Modell"19 - in Beziehung zu setzen zu insgesamt sechs internen (5/6) und externen (1-4) Faktoren, deren Merkmale (in Klammem) unterschiedlich realisiert sein können (vgl. Lebsanft 1997 und 2001): Interview-Faktoren 3) Publikum 1) Interviewer

5) Aufbau

INTERVIEW

6) Sprache

2) Interviewter

4) Gegenstand

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Die Arbeit von Schwitalla entstammt dem Freiburger Forschungsprojekt zur gesprochenen Sprache, in dem der Versuch unternommen wurde, Textsorten auf allgemeine, nach universellen Merkmalen bestimmte „Redekonstellationstypen" zurückzuführen. Allgemeinsprachliche Phänomene wie Dialogsteuerung und Sprachverhalten wurden in den Arbeiten von Berens (1975), Schwitalla (1979) und Barba (1988) anhand von Rundfunkund Femsehinterviews untersucht (vgl. Hoffmann 1982: 36-42). Das häufig zitierte Modell Buhlers ist nicht als Kommunikationsmodell misszuverstehen. Vielmehr handelt es sich um ein eher statisches Sprachmodell, das die Funktionen des sprachlichen Zeichens in Relation zu den Grundinstanzen der Rede stellt (Sender, Empfanger, Gegenstände/Sachverhalte). Zum Organon-Modell und dessen Erweiterung durch Jakobson siehe Coseriu (31994: 71-92).

27 1) Der Interviewer (Anzahl) will über einen Gegenstand in einer bestimmten Weise (Stil) und mit einem bestimmten Ziel informieren (Intention). Dazu wählt er seinen Interviewpartner aus, den er an einem bestimmten Ort befragt. 2) Der Interviewte (Anzahl) repräsentiert eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe (Status) und steht in einer bestimmten Beziehung zum Gegenstand (Relation). Haller (21997: 152-167) nennt und typologisiert eine ganze Reihe potenzieller Interviewpartner: z.B. Experte, Politiker, Prominenter, Augenzeuge, Alltagsmensch etc. 3) Ein disperses Publikum ist Adressat des Interviewtextes. Je nach Art des Gegenstands kann das Interview bestimmte Gruppen und Interessen bedienen. 4) Gegenstand des Interviews kann die Person des Interviewten oder ein äußerer Sachverhalt sein (Person oder Sache), der aus einem bestimmten gesellschaftlichen oder natürlichen Bereich stammt (Art) und in einem bestimmten zeitlichen Verhältnis zur Gegenwart steht (Aktualitätsgrad). 5) Umfang und Aufbau sind neben der Intention wesentliche Kriterien einer Textsorte. So können bestimmte Bauteile und deren Anordnung ein für das Interview oder dessen Subtypen spezifisches Textmuster bilden (Vorspann, Wechsel von discours und redt bzw. von Frage und Antwort etc.). 6) Intention und Aufbau des Interviews werden mit bestimmten Mitteln der Sprache (Varietäten,20 Tempora, Gliederungssignale, Frage- und Antworttechniken etc.) realisiert. Zwar ergeben die unterschiedliche Ausprägung und Kombination aller Einzelmerkmale dieser sechs Faktoren, die es zudem erlauben, das Interview von benachbarten Textsorten wie Umfrage, Reportage oder Porträt abzugrenzen, in der Tat eine unüberschaubare Zahl potenzieller Interview-Typen. In der journalistischen Praxis sind jedoch bestimmte Konstellationen besonders häufig zu beobachten. So lassen sich nach der Relation zwischen Gegenstand und Interviewtem einerseits und der kommunikativen Absicht des Interviewers andererseits drei Grundtypen unterscheiden: 1. Das Experten-Interview ist ein sachzentriertes Interview, in dem ein unabhängiger Sachverständiger (meist ein Wissenschaftler) aufgrund seines Spezialwissens und seiner Fachkompetenz um sachliche Informationen und um seine fachkundige Meinung gebeten wird. 2. Das Prominenten-Interview ist ein personenzentriertes Interview, in dem die befragte Person selbst Gegenstand des Gesprächs ist, weil sie durch ihr Schaffen in der Öffentlichkeit bekannt ist (Schriftsteller, Schauspieler, Musiker, Modeschöpfer, Unternehmer, Politiker etc.). Thematisiert werden die Biografle, das Werk, die Ansichten, Vorlieben und Ziele der befragten Person. Der Journalist will die Person porträtieren, die sich ihrerseits selbstdarstellen möchte. 20

Neben der von Koch/Oesterreicher (1990) systematisierten Unterscheidung von Nähe und Distanz sind weitere Varietäten des sprachlichen Diasystems relevant. So können spezifische Berufs- und Fachjargons, regionale Dialekte oder die in einer bestimmten Altersgruppe gebräuchlichen Sprachcodes das journalistische Interview prägen.

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3. Das Politiker-Interview ist ein sachzentriertes Interview, in dem ein politischer Interessenvertreter oder Entscheidungsträger die Positionen seiner „Partei" i.w.S. (Partei oder Fraktion, Regierung oder Opposition, auch: die eigene politische Person) zu einem bestimmten Sachverhalt darstellen und rechtfertigen soll. In der Praxis zeichnen sich gelungene Politiker-Interviews dadurch aus, dass der Interviewer sein Gegenüber mit inneren Widersprüchen oder mit Gegenargumenten konfrontiert. Dies ist jedoch weniger als ein persönlicher „Zweikampf' zwischen Journalist und Politiker zu betrachten, sondern vielmehr als ein sachlicher Test, der zeigen soll, ob die jeweilige Position oder Entscheidung fundiert und effektiv ist.21 Diese drei Grundtypen sind auch in der modernen französischen Interview-Praxis häufig anzutreffen und lassen sich exemplarisch wie folgt skizzieren: 1. Das klassische Experten-Interview erscheint regelmäßig unter der Rubrik Trois questions a in der Tageszeitung LE MONDE. Diese auch in anderen Printmedien beliebte Kurzform („Aufbau" aus drei Fragen und Antworten) besitzt in LE MONDE immer eine Komplementärfunktion und ergänzt einen größeren Bericht in der Regel mit dem Spezialwissen und dem Fachurteil eines Experten. So soll z.B. der Gynäkologe und Autor einer wissenschaftlichen Fachstudie einen von der Regierung vorgelegten Lagebericht zum Schwangerschaftsabbruch junger Frauen erläutern und bewerten (Le Monde, 20.3.1999, S. 13). 2. Ein charakteristisches Beispiel für das personenzentrierte ProminentenInterview, das in der Regel als eigenständiger Artikel und in großer Aufmachung präsentiert wird, bildet ein Gespräch, das der FIGARO mit Isabella Rossellini führte: Die Schauspielerin wird aus Anlass der Veröffentlichung eines autobiografischen Buches über das Verhältnis zu ihren berühmten Eltern, über ihre Karriere als Mannequin, ihre Pläne für künftige Filme und ihre Beziehung zu Männern befragt (Le Figaro, 17.3.1999, S.31). 3. Ausführliche Politiker-Interviews finden sich regelmäßig in den großen Tageszeitungen: Im März 1999 soll der französische Europaminister Pierre Moscovici für LE MONDE den Rücktritt der EU-Kommission bewerten und die Position der Pariser Regierung zu diesem Ereignis darlegen (Le Monde, 18.3.1999, S.5). Daneben finden sich vereinzelt Interviews mit Alltagsmenschen, die durch ein wichtiges Ereignis in die Rolle des Augenzeugen oder Betroffenen geraten. Eine alltägliche Person kann auch als Vertreter eines bestimmten Berufs interviewt werden, wenn der Journalist diesen exemplarisch porträtieren will (Haller 21997: 152-167). Als ein „Sonderfall des Interviews" (Burger 21990: 89) kann die Umfrage betrachtet werden, in der „zum gleichen Thema eine ganze Reihe von Leuten an einem Ort befragt werden, wobei die Befragten von der Frage überrascht werden und keinerlei Möglichkeit der Vorbereitung haben". Sehr beliebt und insbesondere im Lokal-

Unter den Begriff „Politiker", der hier in Anlehnung an Hoffmann (1982: 15f.) möglichst weit ausgelegt werden soll, sind nicht allein Berufs- und Partei-Politiker zu verstehen, sondern alle legitimierten Interessenvertreter und Entscheidungsträger von Verbänden, Organisationen und Verwaltung, die im weitesten Sinn gesellschaftspolitisch agieren.

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Journalismus anzutreffen ist die Straßen-Umfrage, die zwar kein repräsentatives, dafür aber ein spontanes Stimmungsbild zu einem Sachverhalt liefert. Sie verstärkt zudem die so genannte „Leser-Blatt-Bindung", da hier „Menschen wie Du und Ich" mit ihren Ansichten in die Zeitung geholt werden, mit denen sich der Leser leicht identifizieren kann. Die in Frankreich meistverkaufte Tageszeitung LE PARISIEN22 präsentiert unter der Rubrik Voix express regelmäßig die Meinungen von Passanten zu aktuellen Themen: „Ce qui se passe aujourd'hui en Europe vous inqui£te-t-il?" (17.3.1999, S.3) oder „Faut-il bannir les films violents le dimanche soir ä la tele?" (28.11.1999, S.41). Wenn diese Form der Befragung ein Mittel darstellt, „um mehrere Personen in knappen Statements zu einem bestimmten Thema zu Wort kommen zu lassen" (Mast 1994: 192-94), dann bleibt allerdings zu klären, in welchem Verhältnis die Umfrage, in der eine Frage an mehrere Personen gestellt wird, das Statement als eine vom Journalisten eingeholte kurze Stellungnahme (Burger 21990: 75) und das Interview zu einander stehen. Wie die französische Entwicklung zeigt, handelt es sich um historisch eng verwandte Texttraditionen (Kap. III.8.1). Eine Interview-Klassifizierung, welche die diachrone Entwicklung dieser Texttradition und die Herausbildung historischer Typen berücksichtigt, liegt bisher nicht vor. Ein solcher Versuch wird in dieser Arbeit unternommen, indem frühe Interview-Formen identifiziert und mit modernen Typen in Beziehung gesetzt werden. Auf diese Weise soll es gelingen, Klarheit über die in der heutigen Praxis existierenden Formen zu erhalten und zu einer historisch fundierten Interview-Typologie zu gelangen, mit deren Hilfe sich die modernen Typen auf ihre Ursprünge zurückfuhren lassen. Die zentrale Frage dieser Arbeit aber lautet: Von welchen Regeln haben sich die Akteure in ihrem sprachlichen und äußer-sprachlichen Handeln leiten lassen und auf welche Traditionen haben sie zurückgegriffen? Ausgangspunkt sind die Textexemplare, aus denen die historische Kommunikationssituation rekonstruiert werden soll. Ziel der pragmatisch-textlinguistischen Analyse ist es, die Textmuster auf die ihnen zugrunde liegenden Handlungsmuster zu untersuchen und darüber hinaus anhand der metakommunikativen Äußerungen die Konzeption des journalistischen Handelns zu bestimmen. Die Basis dieser Untersuchung bildet ein eigenes Beschreibungsmodell, das im Folgenden dargestellt wird.

3. Beschreibungsmodell für eine historische Interviewanalyse Gegenstand der historischen Untersuchung zum Presseinterview sind die überlieferten und mit Hilfe eines weit gefassten Interviewbegriffs identifizierten Textexemplare. Die Analyse basiert auf den Methoden einer pragmatisch ausgerichteten Textlinguistik und greift insbesondere auf das Instrumentarium der Gesprächsanalyse zurück (Henne/Rehbock 31995; Fritz/Hundsnurscher 1994). Auf dieser Grundlage soll im Folgenden in enger Verschränkung von Theorie und Praxis ein Katalog von Kategorien aufgestellt und versucht werden, ein adäquates Beschreibungsmodell für eine historische Interviewanalyse zu entwerfen. Das Ineinander22

Zu den Auflagen der französischen Tageszeitungen siehe Kap. 4.

30 greifen von linguistischer Textanalyse und pragmatisch orientierter Dialoganalyse ist deshalb notwendig, da es sich um Texte handelt, die einerseits ein Gespräch wiedergeben, zugleich aber eine monologische Erzählstruktur aufweisen. Aufgrund seiner spezifischen Kommunikationssituation muss eine pragmatische Analyse des Presseinterviews neben der Textstruktur immer auch die primäre Gesprächsebene und die ihr zugrunde liegenden Handlungsmuster im Blick haben. So sollen zum einen die typischen Elemente oder Bauteile ausgemacht und - wenn möglich spezifische Textmuster historischer Interviews beschrieben werden. Zum anderen gilt es, die Regeln und Bedingungen der primären Interviewsituation zu rekonstruieren. Eine Untersuchung der mündlichen Dialogstrukturen des Presseinterviews steht dabei vor dem prinzipiellen methodischen Problem der historischen Gesprächsanalyse: Zwar transportiert der Zeitungstext eine reale sprachliche Interaktion, doch handelt es sich auch in diesem Fall um einen Lesedialog. Bei der Interpretation der sprachlichen Fakten ist daher stets zwischen dem journalistischen Anspruch auf authentische Informationsvermittlung einerseits und der Möglichkeit nachträglicher Stilisierung andererseits abzuwägen. Hilfreich sind hierbei insbesondere die metakommunikativen Äußerungen der Autoren, in denen diese Konzeption und Intention ihres sprachlichen und nicht-sprachlichen Handelns formulieren. Dieser Ansatz soll insgesamt dazu dienen, die spezifischen Traditionen aufzuzeigen, in denen das journalistische Interview steht, sowie die Handlungsmuster und Regeln zu verdeutlichen, an denen sich die ersten Interviewer orientierten. Ziel ist es, die Entwicklung der Texttradition Interview in der französischen Presse in ihren historischen Etappen und Typen darzustellen (Kap. III).

3.1 Paratext Wenn Funktion und Aufbau von Pressetexten bestimmt werden sollen, muss grundsätzlich zwischen dem Text und dessen redaktioneller Präsentation oder „Einbettung" (Burger 21990: 61) unterschieden werden. Setzt sich dieser redaktionelle „Paratext" (Wilhelm 1996: 93f.; vgl. le peritexte editorial, Genette 1987: 20-37) in der modernen Zeitungspraxis aus einer Vielzahl von Elementen zusammen, so ist für die historische Realität des 19. Jahrhunderts die Differenzierung zwischen der Überschrift und dem Textkörper maßgebend, die der konzeptionellen Unterscheidung von „Kopf und Körper" innerhalb der Pressesprache entspricht und auf die Anfänge des Buchdrucks zurückgeht (Kött 2001). Als zentrale Elemente des redaktionellen Paratextes sollen in dieser Arbeit Überschrift, Vorspann und Ankündigungshinweise untersucht werden, die alle drei neben einer grundsätzlich informierenden auch kontaktherstellende und textsortenindizierende Funktion besitzen. Sie dienen dem Leser, dessen Interesse sie wecken und leiten sollen, zur Orientierung innerhalb des Informationsangebotes der Zeitung, das sie anzeigen und beim Namen nennen. Aus historischer Perspektive spielen diese paratextuellen Orientierungshilfen zudem eine wichtige Rolle für den Wandel von der linearen Ganzlektüre der Zeitung zu einer selektiven und ökonomischeren Lesegewohnheit, der für die französische Presse durch die Einführung einer ganz-

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heitlichen Seitengestaltung (mise en page) nach 1900 markiert wird (Guiry 1997: 107-111; Hrbek 1995: 277; Große 2001: 23f). Besondere Bedeutung besitzt in diesem Zusammenhang die Überschrift. Sie lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Text und zeigt dessen Inhalt an, sondern verleiht dem Zeitungsartikel zudem ein typisches Gesicht. Wenn nun bestimmte Typen von Überschriften mit spezifischen Merkmalen der Textgestalt korrelieren, kann von einer textsortenindizierenden Funktion gesprochen werden. Wie die folgenden Beispiele verdeutlichen, signalisiert die Überschrift dem Leser, um welche journalistische Textform es sich bei dem Beitrag handelt: 1. Pierre Moscovici. ministre delogud aux affaires europeennes «II me paraitrait pertinent d'attendre les olections europoennes pour nommer la nouvelle Commission» 2. La star se ddvoile dans un livre de souvenirs Isabella Rossellini: «Je suis prisonniere de mon image» L'actrice et top model se confie. «Je suis une menteuse! Mon pere et ma mere restent un mystere pour moi. J'ai peur de nuire aux films dans lesquels je joue.» 3. Indiscretions Parisiennes Une demi heure chez M. Veuillot 4. Une visite chez M. Emile Zola Während das moderne Presseinterview ein funktional differenziertes Titelgefüge aus Dachzeile, Hauptzeile und ggf. weiteren Unterzeilen aufweist, steht den frühen Exemplaren dieser Texttradition eine einfache Überschrift und/oder ein Rubriktitel voran. Wenn die Hauptzeile heute meist eine als wörtliches Zitat gekennzeichnete Äußerung des Befragten präsentiert (Beispiele l und 2), ist für das 19. Jahrhundert davon auszugehen, dass die individuelle Überschrift des Interviews - sofern vorhanden - generell den Gegenstand und also das „Ereignis" benennt, über das im Text berichtet wird (3 und 4).23 Im Falle früher Interviews ist daher zu untersuchen, wie die Journalisten die von ihnen im Text referierte primäre Handlungssituation bezeichneten und auf welche vertrauten Ereignistypen sie dabei zurückgriffen. Die Überschrift dient somit als vorrangige Quelle für eine historisch-semantische Analyse der zeitgenössischen Ausdrücke für das Interview (Kap. II). Ob sich die sprachlichen Bezeichnungen von Texttraditionen „tendenziell konservativ" und zeitlich stabiler verhalten als die dahinter stehende „Gattungsrealität" (Koch 1997: 59), ist am Beispiel des Interviews zu prüfen. Der Vorspann, der in der französischen Pressesprache chapeau (auch: chapo) genannt wird, ist ein in der modernen Praxis typografisch hervorgehobener Einleitungstext, der dem eigentlichen Haupttext voransteht (Meissner 1992: 123-127). Sowohl seine typografische Markierung als auch seine spezifische Funktion lassen den Vorspann eher dem Titelgefüge und damit dem Kopf als dem Textkörper zurechnen (Kött 2001). Entgegen vielen Darstellungen (vgl. Große/Seibold 1994: 38)

Die Beispiele stammen aus: 1. Le Monde, 18.3.1999, S.5; 2. Le Figaro, 17.3.1999, S.31; 3. Le Figaro, 1.12.1866, S.l; 4. La Paix, 13.4.1880, S.2. In der „seriösen" Tageszeitung LE TEMPS (gegr. 1861) bilden individuelle Artikelüberschriften noch in den 1880er Jahren die Ausnahme und Rubriktitel wie Bulletin dvjour oder Chronique die Regel.

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ist der Vorspann nicht automatisch mit dem Lead-Satz gleichzusetzen, welcher ein funktionales Element der Textsorte Nachricht bildet und die so genannten W-Fragen beantwortet (La Röche U1988: 78-86). Während der Vorspann eines Berichts in der Regel tatsächlich in Funktion und Aufbau dem nachrichtlichen Lead entspricht, dient er im Falle einer Reportage häufig dazu, den Leser unmittelbar an den Schauplatz einer konkreten vom Reporter erlebten Handlungsszene zu führen. Inwiefern Presseinterviews des 19. und frühen 20. Jahrhunderts dieses Element aufweisen und ob es den Text eher faktenorientiert-thematisch strukturiert oder handlungsorientiertszenisch situiert, wird die Analyse zeigen. Hinweistexte, die auf der Titelseite einzelne Artikel aus dem weiteren Inhalt einer Zeitung ankündigen, sind aus der modernen Presse nicht wegzudenken, da sie eine zentrale Funktion erfüllen: Mit dem so genannten „Anreißer" (appel), der alleine oder in einer Inhaltsleiste steht, präsentiert die Redaktion in kurzen Worten ein ausgewähltes Textangebot und wirbt damit um das Interesse des Lesers (und Käufers). Indem der redaktionelle Hinweis den Leserkontakt herstellt, Kernpunkte des Inhalts nennt und auf den betreffenden Artikel „zeigt", ergänzt er die dreifache Funktion der Überschrift.24 Für die historische Praxis sind hier explizit metakommunikative Angaben zu Ort, Zeitpunkt und Gegenstand des Interviews, über die befragte Person und die Intention des Interviewers sowie solche Ausdrücke zu erwarten, mit denen die Zeitgenossen die neue Texttradition bezeichneten. In der französischen Presse lässt sich die redaktionelle Ankündigung in Form eines kurzen Inhaltsverzeichnisses und unter der Bezeichnung sommaire für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nachweisen (im FIGARO seit 1873).25 Diese Innovation erlaubte dem Zeitungsleser von nun an, von der ersten Seite unmittelbar zu einer der hinteren Seiten zu springen und dort auf den betreffenden Artikel zuzugreifen. Damit sollte erstmals die streng lineare Textanordnung (enßlage lineaire) überwunden und dem Leser eine alternative Rezeption ermöglicht werden. Indem er die Titelseite mit anderen Seiten „verlinkt", dient der sommaire gewissermaßen als „Navigationshilfe" und bildet somit eine historische Vorstufe des modernen Hypertext26 Insgesamt muss der einzelne Interviewtext immer im Kontext der Berichterstattung betrachtet werden. Zwar sind für das 19. Jahrhundert noch keine komplexen „Beitragskonstellationen" (Bucher 1986) oder ensembles redactionnels (Große/ Seibold 1994: 45f.) zu erwarten, die ein Gefüge verschiedener Textsorten bilden und ein Thema innerhalb einer Ausgabe auf einer oder mehreren Seiten behandeln. Da jedoch auch die Pressetexte des 19. Jahrhunderts aufgrund des universellen Prinzips der Periodizität in einem kontinuierlichen publizistischen Zusammenhang stehen, sollen jeweils die vorausgegangenen und folgenden Beiträge zum gleichen Thema 24

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Aufgrund seiner appellativen Funktion nennt Große (2001: 22f.) einen solchen Hinweistext appel und unterscheidet diesen in der modernen Praxis von einem ebenfalls auf der Titelseite platzierten Einleitungsartikel mit eher informierendem Charakter (article de presentation oder entree informative). Wenn auch sporadisch, so bediente sich der FIGARO dieser Form seit 1873 (Le Figaro, 7.3.1873, S.l). Ein ausführliches und nach Seitenzahlen gegliedertes Inhaltsverzeichnis findet sich im TEMPS des Jahres 1926 (Le Temps, 14.4.1926, S.l). Wie das Internet die journalistische Textgestaltung („Textdesign") im Medium Zeitung beeinflusst, verdeutlicht Bucher (1998); zur Funktion des Hypertext vgl. Jucker (2000).

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berücksichtigt werden. Wenn für die moderne Praxis zwischen eigenständigen und komplementären Beiträgen unterschieden wird, so erfüllt ein Interview dann komplementäre Funktion, wenn es einen anderen Artikel mit zusätzlichen Informationen ergänzt. Darüber hinaus sind außer den bereits erläuterten internen Ankündigungen auch externe Hinweise zu beachten, die auf Interviews anderer Zeitungen aufmerksam machen. Denn für eine historische Untersuchung besitzen solche Hinweise sowie Zitate und Übernahmen von Interviews einen hohen Stellenwert, da sie zum einen die Existenz dieser neuen Texttradition belegen und zum anderen eine weitere wichtige Quelle für deren sprachliche Bezeichnung und das zeitgenössische „Gattungsbewusstsein" darstellen.

3.2 Textmuster und Dialogstruktur Mit Hilfe eines pragmatisch-linguistischen Ansatzes sollen der Aufbau („Makrostruktur") der Interviewtexte analysiert und deren Bauteile auf ihre Funktion und thematische Entfaltung untersucht werden. Die forschungsleitenden Fragen lauten: Lässt sich in der Interview-Praxis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein textsortenspezifisches Textmuster erkennen? Welches sind die Handlungsmuster, die der primären und sekundären Kommunikationssituation zugrunde liegen? An welchen Regeln orientierten sich die Interviewer in ihrem journalistischen Handeln und auf welche Traditionen griffen sie zurück? Worin besteht die Innovation und wodurch ist sie motiviert? Grundsätzlich werden alle Korpustexte in Umfang (Zeilenzahl) und typografischer Präsentation bestimmt. Dem heutigen Block-Umbruch steht dabei die bis ins frühe 20. Jahrhundert übliche lineare Textanordnung gegenüber (Guery 1997: 107-111), wodurch die historische Zeitungslektüre auf der ersten Seite links oben (in der ersten Zeile der ersten Spalte) begann und auf der vierten und letzten Seite rechts unten (in der letzten Zeile der letzten Spalte) endete. Die so genannte „Bleiwüste" (grisaille) der Tagespresse wurde bis zur Einführung der Fotografie nur selten durch grafische Abbildungen unterbrochen.27 Ausgehend von der spezifischen Kommunikationssituation des Presseinterviews ist aus sprachwissenschaftlicher Sicht die Frage zu beantworten, wie der skizzierte Medienwechsel vollzogen, d.h. mit welchen sprachlichen Mitteln das mündliche Interview-Gespräch in einen schriftlichen Zeitungstext transponiert wird. Die sekundäre Kommunikationssituation des Presseinterviews stellt sich wie folgt dar: Der Erzähler berichtet dem Leser über ein reales Gespräch, das der Autor selbst oder ein anderer Journalist mit einer weiteren Person an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit geführt hat. Die zentrale Aufgabe der Textanalyse besteht deshalb darin, die sprachlichen Mittel zu untersuchen, mit denen der veröffentlichte Zeitungsartikel die primäre Handlungssituation und sprachliche Interaktion wiedergibt. Im Gegensatz zur modernen Form der streng gestalteten Alternanz von Frage und

Wahrend Zeichnungen vor allem in den satirischen Blättern wie LA CARICATURE (1830) oder in Magazinen wie L'ILLUSTRATION (1843) abgedruckt wurden (Guöry 1997: 82-87), entdeckte die Tageszeitung nach 1900 die Fotografie (z.B. Le Matin, 15.12.1904).

34 Antwort konstituiert sich der Text des historischen Presseinterviews vorrangig durch den Wechsel von Erzählerkommentar (redt) und Redewiedergabe (discours). Vor diesem Hintergrund sind insbesondere Funktion und Perspektive des journalistischen Erzählers zu analysieren: Wie ist die Dialogwiedergabe in den Text eingebettet? Ist der Autor des Zeitungsartikels identisch mit dem Interviewer vor Ort und inwiefern ist dieser im Text präsent? Eine Handlungsschilderung aus der subjektiven Perspektive eines Ich-Erzählers, der sich als journalistischer Berichterstatter vor Ort präsentiert, könnte dabei als Indiz für eine unmittelbare historische Verwandtschaft mit der Texttradition Reportage gewertet werden. Als wichtige Kategorien der Textanalyse sind Anfang und Ende auch im Falle des Presseinterviews in besonderer Weise zu beachten. Wenn ihre Gestaltung einerseits im Hinblick auf die Einbettung der Primärsituation interessant ist, so können zudem standardisierte sprachliche Äußerungsformen wie z.B. feste Eingangs- und Schlussformeln als Indiz für eine beginnende Habitualisierung und Professionalisierung gewertet werden. Für die Textgestaltung insgesamt soll neben den bekannten Verfahren deskriptiver, narrativer, explikativer und argumentativer insbesondere zwischen thematischer und szenischer Textbildung unterschieden werden: Im Gegensatz zu einer thematischen Darstellung, die aus publizistischer Perspektive als situationslose und faktizierende Vermittlung von Informationen zu charakterisieren ist, wird als szenisch eine detaillierte Handlungsschilderung verstanden, in der die beteiligten Personen wie Figuren auf einer Bühne agieren. Neben der chronologischen Abfolge einzelner Handlungssequenzen ist die direkte Personenrede als dialogisches Handeln das typische Kennzeichen einer als „szenisch" zu bezeichnenden Darstellung. Passagen, die eine solche Art der Textbildung aufweisen, sind insofern von besonderem Interesse, als sie die Bedingungen der primären Interviewsituation wiedergeben. Für die Frage, wie der ursprüngliche Dialog in den Zeitungstext eingebettet wird, sind vor allem die Mittel der Redewiedergabe von Bedeutung. Dabei geben redebezeichnende Verben wie demander, interroger und repondre nicht nur über den illokutionären Aspekt einer einzelnen Äußerung Auskunft; vielmehr charakterisieren sie die Dialogstruktur insgesamt. Der eigentliche Gesprächsverlauf wird nach den Kategorien der Dialoganalyse untersucht. Dabei sollen die grundlegenden Phasen Eröffnung, Mitte und Beendigung sowie der Gegenstand und die möglichen Unterthemen des Gesprächs bestimmt werden. Letztlich gilt es, das Rollenverhältnis und eine eventuelle Dominanz eines der Gesprächsteilnehmer festzustellen und auf diese Weise die Dialogsituation insgesamt zu beschreiben. Entgegen der Privilegierung und Gesprächsdominanz des Journalisten in der modernen und standardisierten Interviewsituation ist für die historische Praxis im Einzelnen zu untersuchen, welche sozialen und situativen Bedingungen die gegenseitige Interaktion der Gesprächspartner bestimmen. An die historischen Textexemplare sind jeweils die folgenden Fragen zu richten: Wer eröffnet und beendet das Gespräch? Wer vergibt das Rederecht? Wie und von wem werden neue Themen eingeführt? Wer dominiert und steuert den Dialog insgesamt? Ein wichtige Rolle zur Beantwortung dieser Fragen spielen die so genannten „Gliederungssignale": Gesprächswörter wie alors, enfin oder bien, die unabhängig von ihrer lexikalischen Bedeutung textgliedernde Funktion besitzen, markieren in der gesprochenen Sprache als Eröffhungs- und Schlusssignale insbesondere den

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Sprecherwechsel (Gülich 1970; Koch/Oesterreicher 1990). In schriftlichen Dialogtexten dienen sie zudem als stilistische Mittel zur Signalisierung von Mündlichkeit. Für das Presseinterview des 19. Jahrhunderts muss dabei offen bleiben, ob die im Text erscheinenden Gesprächswörter bereits in der mündlichen Primärsituation verwendet wurden oder ob der Journalist sie nachträglich als textgliedernde und Mündlichkeit anzeigende Signale hinzugefügt hat. In fiktiven Interviews (Kap. III.7.1) erfolgt die Verwendung von Gesprächswörtern in jedem Fall mit der Absicht, ein mündliches Gespräch zu stilisieren und damit den Eindruck von Authentizität zu erwecken. Für eine pragmatisch orientierte Analyse des journalistischen Interviews ist es wichtig, dessen typische Handlungsmuster zu beschreiben. Dabei ist es allerdings methodologisch problematisch, mündliche Dialogstrategien, die ein Phänomen der gesprochenen Sprache darstellen, in Presseinterviews und damit an verschriftlichten Gesprächen zu analysieren, deren ursprüngliche Äußerungen nachbearbeit wurden. Daher muss das dialogische Handeln der Gesprächsteilnehmer, wie es sich im Text widerspiegelt, als Konstrukt des journalistischen Autors betrachtet und zwischen stilisierter Mündlichkeit und angestrebter Authentizität eingeordnet werden.28 Welchen „dialogischen Sinn" (Bucher 1994a; 245) eine Äußerung im Interview besitzt, kann nur im unmittelbaren kommunikativen Kontext, also innerhalb der funktionalen Einheit einer Frage-Antwort-Sequenz ermittelt werden. Da sich der pragmatische Wert einer Frage nicht an der syntaktischen Äußerungsform (Entscheidungs-, Ergänzungs- oder Alternativfrage), sondern an der konkreten Funktion im Dialog ablesen lässt, müssen die Äußerungen des Interviewers formal keine Fragesätze darstellen, sondern lediglich als Fragehandlung interpretierbar sein. Vor diesem Hintergrund soll in der hier beabsichtigten historischen Analyse lediglich auf zwei Handlungsstrategien exemplarisch eingegangen werden, die für das moderne journalistische Interview charakteristisch sind: die geladene Frage und das kritische Nachhaken. Während die erste meist initiierende Funktion besitzt, ist die zweite Technik insofern respondierend, als sie das zuvor Gesagte aufgreift. Die Strategie der „geladenen Frage" (Bucher 1993) besteht darin, die eigentliche Frage mit einer in der Frageeinleitung verpackten Unterstellung (Präsupposition) zu verknüpfen und den Partner auf diese Weise auf eine Voraussetzung festzulegen, die zu diesem Zeitpunkt des Gesprächs noch nicht ratifiziert wurde. Spannung erzeugt die in der Fragevoraussetzung enthaltene Behauptung („Ladung"), wenn sie für den Befragten imagebedrohend und inakzeptabel ist und dieser sie deshalb zurückweisen muss. Da der Interviewte jedoch zugleich aufgefordert ist, das von Grice (1975) formulierte Kooperationsprinzip zu beachten und die Frage zu beantworten, steht dieser vor einem Dilemma: Wenn er die Frage ohne weiteren Kommentar beantwortet, bestätigt er automatisch die Präsupposition und nimmt eine Image-Schädigung in Kauf; verweigert der Interviewte hingegen eine Antwort, verstößt er gegen die Spielregeln des Interviews (Bucher 1993: 100-105; Schrott 1999: 343).

Dialogstrategien sind mehrfach anhand von Radio- und Femsehinterviews untersucht worden, da diese die sprachliche Interaktion unverändert (Live-Sendung) oder nur wenig bearbeitet (Aufzeichnung) transponieren (Berens 1975; Schwitalla 1979; Hoffmann 1982; Holly 1993; Eiche 2000).

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Mit Hilfe „geladener Fragen", die den „kontroversen" Charakter politischer Interviews ausmachen,29 lockt der Journalist sein Gegenüber aus der Reserve und verhindert, dass der Interviewte lediglich vorgefertigte Äußerungen zur Selbstdarstellung präsentiert. Dabei handelt es sich weniger um einen „Zweikampf', bei dem der Journalist seinen vermeintlichen Gegner in die Falle locken und zur Strecke bringen will. Vielmehr dient auch die „geladene Frage" dem generellen Informationsziel und ist wie jede Interviewäußerung mehrfachadressiert: Einerseits konfrontiert der Journalist seinen unmittelbaren Gesprächspartner mit kritischen Einwänden sowie inhaltlichen Widersprüchen und testet, wie dieser vor Publikum darauf reagiert. Zugleich liefert der Interviewer dem Publikum die zum Verständnis und zur Einordnung des Frage-Antwort-Spiels notwendigen Fakten und vertritt stellvertretend die Argumente der nicht anwesenden Parteien. Wenn das politische Interview in exponierten Einzelfällen und im Medium Fernsehen tatsächlich den Charakter eines zur Unterhaltung inszenierten Schaukampfes (Confrontainmeni) trägt, so besteht das vorrangige Ziel dieser journalistischen Handlungsform dennoch darin, dass „ein kritischer Interviewer durch geladene Fragen und entsprechende weitere Züge zu verhindern sucht, dass ein Politiker die Gelegenheit des Fernsehauftritts zu unkontrollierter Propaganda nutzt" (Holly 1993: 192; vgl. Hoffmann 1982: 17f.). Das Konzept der „geladenen Frage" macht den grundsätzlichen Interessengegensatz von Interviewer und Interviewtem deutlich: Während der Journalist insbesondere den Politiker auf möglichst weit reichende Voraussetzungen festlegen will, ist dieser bemüht, seinen künftigen Handlungs- und Entscheidungsspielraum nicht zu sehr eingrenzen zu lassen (Bucher 1999: 226). Generell bleibt dem Befragten neben der totalen Antwortverweigerung die Möglichkeit, entweder die unangenehme Festlegung zu umgehen, indem er die Frage selbst umformuliert, oder die Präsupposition offen anzufechten und erst dann die eigentliche Frage zu beantworten.30 Wenn der Interviewer eine Frage für nicht ausreichend informativ oder nicht klar genug beantwortet hält, dann kann er aufgrund seiner Gesprächsdominanz mit einer Nachfrage auf einer klärenden Antwort bestehen. Allerdings ist nicht jede Nachfrage automatisch als kontrovers zu interpretieren oder auf Dissens und Widerspruch ausgerichtet. Stattdessen sollte grundsätzlich zwischen der Technik des informativen und des kritischen Nachhakens differenziert werden (vgl. Jucker 1986b: 187-92; Rodrigues 1996): Im ersten Fall fokussiert der Journalist entweder einen einzelnen thematischen Aspekt der vorangegangenen Antwort, fordert die Erläuterung eines Fachausdrucks oder fragt eine prägnantere Formulierung ab. Im zweiten geht es dagegen darum, den Befragten nach einer (gezielt) ausweichend formulierten Antwort auf eine Position festzulegen. Indem der Journalist den Antwortspielraum einengt

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Zur Funktion imagebedrohender Fragen in Politiker-Interviews siehe Jucker (1986a: 9498) und Holly (1993), der die beiderseitigen Dialogstrategien in politischen Femsehinterviews am Beispiel von Fritz Pleitgen und Helmut Kohl verdeutlicht (vgl. Bucher 1994b: 486f). Mögliche Antwortstrategien, mit denen der Interviewte auf „geladene Fragen" offensiv reagieren kann, beschreibt Holly (1993) an dem exponierten und in Teilen amüsanten Beispiel von Altkanzler Helmut Kohl, dem es streckenweise gelingt, seinem Gegenüber Fritz Pleitgen die Gesprächsfuhrung zu entreißen und dessen journalistische Unabhängigkeit explizit anzuzweifeln (184-192).

37 und auf einer klaren Aussage insistiert, erfüllt er den Auftrag des Publikums und setzt dessen Anrecht auf vollständige Information gegenüber dem Befragten durch. Während das informative oder klärende Nachfragen eine generelle Gesprächstechnik darstellt, ist das kritische Nachhaken ebenso wie die geladene Frage kennzeichnend für den Typus des kontroversen Politiker-Interviews. Als sprachliche Mittel sind hier die so genannten „Abtönungs- oder Modalpartikel" von besonderer Bedeutung, da diese einer einzelnen Äußerung ihren „dialogischen Sinn" verleihen und der sprachlichen Interaktion eine bestimmte Richtung geben. Sowohl die Strategie der geladenen Frage als auch die Technik des kritischen Nachhakens sind als questions pointues (Montant 1995: 38f.) in der modernen Praxis des französischen Presseinterviews präsent, wie die folgenden Passagen aus zwei Politiker-Interviews exemplarisch belegen. Im ersten Fall konfrontiert der Interviewer gleich zu Beginn des Gesprächs den damaligen französischen Bildungsminister Claude Allegre mit einer breiten Ablehnungsfront von Lehrern und Gewerkschaften und fordert sein Gegenüber zu einer persönlichen Meinungsäußerung auf. Allerdings erkennt der Minister die seine Person bedrohende „Ladung": Statt auf die eigentliche Frage („Ca barde?") einzugehen und damit die beiden in der Frageeinleitung enthaltenen Voraussetzungen automatisch zu bestätigen, weist der Minister zumindest die erste Behauptung, dass sich der geplante Lehrerstreik gegen seine Reform richte, explizit zurück. Mit seinem Ausruf („De grace, ne mölangez pas tout!") verstärkt der Politiker seinen Protest und legt die Strategie des Interviewers offen (Le Parisien, 15.3.1999, S.3): - Les instils se mettent en grove ce lundi et les syndicate annoncent pour samedi une grande manifestation dirigee contre vous. Ca barde? - De grace, ne melangez pas tout! La grave de ce lundi est lancee par deux syndicats qui ne sont pas hostiles aux riformes de l'ocole.

Das zweite Beispiel zeigt, wie Edith Cresson der Eingangsfrage, welche die Politikerin auf eine klare Position festlegen soll - entweder Bestätigung oder Negierung der persönlichen Verantwortung am Rücktritt der Europäischen Kommission - auf klassische Weise ausweicht: Sie sei weder als einzige angeklagt, noch allein verantwortlich. Nach einem kleinen Zugeständnis, das von der konkreten Situation abzulenken versucht und auf ihre generelle Amtsführung überleitet („c'est vrai, ma gestion est parfois ipingloe"), erklärt die Politikerin, ihr politisches Mandat insgesamt erfüllt zu haben: „Mais je n'ai pas failli ä ma mission." Damit gibt sich der Journalist jedoch nicht zufrieden und hakt kritisch nach: Indem er mittels der Abtönungspartikel done explizit auf die vorangegangene Antwort verweist und diese auf den konkreten Sachverhalt bezieht, versucht der Interviewer, eine klare Aussage zu erhalten. Diese zweite Frage ist gegenüber der ersten enger formuliert und fokussiert somit den akuten Vorwurf, dessen Zurückweisung sie explizit unterstellt. Zwar versucht Cresson erneut, die gegen sie gerichtete Position inhaltlich abzuschwächen, um ihre eigene zu stärken. Doch ist die Politikerin diesmal gezwungen, sich auf ein „Nein" festzulegen und damit ihre Verantwortung zu bestätigen (Le Parisien, 17.3. 1999, S.2): - Avez-vous le sentiment d'avoir une responsabilito particuliere dans la (Emission collective de la Commission?

38 - Je ne suis pas la seule accusoe dans cette affaire. Selon la conclusion du comite d'experts la Commission est collectivement responsable des dysfonctionnements. C'est vrai, ma gestion est parfois opinglöe. Mais je n'ai pas failli a ma mission.

- Vous rofutez done les accusations du comito d'experts? - Non, bien sür. Mais elles sont tres excessives, sans Stre injustifioes. II y a eu des fautes.

Die hier skizzierten und für das moderne kritische Interview charakteristischen Dialogstrategien können sicherlich nicht für die historischen Anfänge dieser Texttradition vorausgesetzt werden. Zumal in zahlreichen Untersuchungen zu Radio- und Fernsehinterviews betont wird, dass sich das kontroverse Politiker-Interview erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgebildet habe (Schwitalla 1986; Jucker 1986b; Bell/Leeuwen 1994). Doch gerade vor diesem Hintergrund erscheint es reizvoll, am Beispiel der französischen Presse zu untersuchen, zu welcher Zeit und in welcher Weise sich Dialogstrategien entwickelten, die sich als Anzeichen einer kritischen Interviewpraxis werten lassen. Als moderner Vergleichsmaßstab sollen das Konzept der geladenen Frage und die Technik des kritischen Nachhakens dienen, da diese als Ausdruck eines professionalisierten und unabhängigen Journalismus in Kontrast zu einem servilen Verlautbarungsjournalismus gelten können. Insgesamt soll die historische Textanalyse folgende Leitfragen beantworten: Wie lassen sich die Handlungsmuster beschreiben, an denen sich die Interviewer des 19. und frühen 20. Jahrhunderts orientierten, und welche kommunikative Absicht verfolgten sie in ihrem Handeln? Wenn sich letztere einerseits als im Text realisierte Intention ermitteln und aus der Relation von Person und Gegenstand ablesen lässt, so können darüber hinaus die explizit vom Journalisten formulierten Ziele und Qualitäten aus so genannten „metakommunikativen Äußerungen" gewonnen werden.

3.3 Metakommunikation Wenn es darum geht, Entstehung und Entwicklung der Texttradition Interview zu untersuchen, sind Äußerungen, in denen die zeitgenössischen Journalisten die Konzeption ihres sprachlichen Handelns reflektieren, von besonderer Bedeutung. In Anlehnung an den Begriff der Metasprache sollen hier als Metakommunikation solche Äußerungen der Sprecher verstanden werden, in denen diese ihr sprachliches und außersprachliches Handeln verbalisieren sowie Absicht und Motivation ihres Handelns formulieren. Aus diesen expliziten Handlungserläuterungen und „Intentionserklärungen" (Wilhelm 1996: 25f.) können die Regeln und Muster abgelesen werden, an denen sich die Interviewer in ihrem journalistischen Handeln orientierten. Darüber hinaus kann das historische „Gattungsbewusstsein" abgeleitet und die Frage beantwortet werden, inwiefern sich die zeitgenössischen Journalisten bewusst waren, dass sie eine innovative Handlungsform ausübten und eine neue Texttradition begründeten. Die Leitfragen zur Analyse der Metakommunikation lauten: Wie beschreiben und benennen die Journalisten ihr sprachliches und nicht-sprachliches Handeln? Welche Absichten verfolgen sie in ihrem Handeln und was ist ihre Motivation? Worin sehen die Journalisten die Qualitäten der Handlungsform Interview (Authentizität, Relation von Person und Gegenstand, Auftrag des Interviewers etc.)?

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Für die Beantwortung dieser Fragen sind insbesondere die redebezeichnenden Verben sowie jene Ausdrücke von Bedeutung, welche den Handlungs- und Sprechakt benennen. Hieraus können die generelle Art der Handlung (aller demander, questionner, visiter etc.), die dabei verfolgte kommunikative Absicht (demander l Opinion bzw. des renseignements, esquisser la personnalite etc.) sowie bestimmte Handlungskonzepte (procederpar interrogatoire) und Beglaubigungsstrategien (stenographier, reproduire textuellement etc.) abgeleitet werden. Über eine solche positive Beschreibung hinaus ist auch die kritische Bewertung der neuen journalistischen Handlungsform, wie sie von den Interviewern selbst oder von anderen Zeitgenossen formuliert wurde, zu untersuchen: Inwiefern reflektieren die Journalisten, dass sie etwas Neues tun? Was erscheint ihnen selbst als innovativ oder bewährt? Worin werden Probleme oder Nachteile des Interviews gesehen? Ab wann wird das Interview als eigenständige Textsorte betrachtet? Welche Bezüge stellen die Autoren zu benachbarten Texttraditionen wie Reportage und Porträt her? Neben den Interviews selbst, in denen sprachreflexive Äußerungen als Textbaustein zu betrachten sind, sowie internen und externen Interviewhinweisen dienen zeitgenössische Darstellungen in Presse, Literatur und Wissenschaft als Quellen für die Analyse der Metakommunikation. Dabei sollen die daraus gewonnenen Erkenntnisse in die Darstellung der historischen Interviewtypen einfließen und zu den Ergebnissen der Textanalyse in Beziehung gesetzt werden. Darüber hinaus kann die zeitgenössische Kritik aus metakommunikativen „Groß-Ereignissen" wie der Pressedebatte von 1890 sowie aus den Interview-„Theorien" von prominenten Schriftsteilem und Journalisten wie Maurice Barres, Anatole France oder Emile Zola erschlossen werden (Kap. III.7.2). Schließlich sind zur Metakommunikation auch fiktionale Texte zu zählen: Während einige Schriftsteller die Mode der journalistischen Befragung aufgreifen und in imaginären Interviews das ihrer Meinung nach Typische imitieren (Kap. III.7.1), bedienen sich andere der Satire, um die Merkmale und Auswüchse der zeitgenössischen Interviewpraxis zu kritisieren (Kap. III.8.3).

4. Qualitäten des Textkorpus und übergreifende Ergebnisse Der mit Blick auf die historische Realität bestimmte Interview-Begriff bildete die Grundlage für die Erstellung des Textkorpus. Die mit insgesamt 240 Texten umfangreiche historische Materialsammlung, deren Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegt und die an den Rändern jeweils bis ins späte 18. und 20. Jahrhundert ausstrahlt, dokumentiert die Geschichte des Interviews in der französischen Presse und macht es möglich, die journalistische Texttradition bis zu ihren Anfängen zurückzuverfolgen und die historische Ausdifferenzierung verschiedener Interview-Typen exemplarisch zu untersuchen.31

Die erhobenen Texte stammen aus dem Archiv der französischen Nationalbibliothek (BnF) und liegen dem Verfasser in Kopie vor. Zudem sind zentrale Texte, die für die exemplarische Einzelanalyse herangezogen wurden, im Anhang dieser Arbeit reproduziert und damit zuganglich gemacht.

40 Aufgrund der bisherigen Forschungslage konzentrierte sich die Suche nach den Ursprüngen des Presseinterviews auf das 19. Jahrhundert. Dabei konnte erst für die Zeit ab 1880 sicher davon ausgegangen werden, Belege in der französischen Presse zu finden (Delporte 1995: 22-24; Palmer 1983: 85-93). Waren erste Interviews in den 1860er zu vermuten (Dovifat 1941), so betrat die vorliegende Arbeit mit der Textsuche vor 1860 unerforschtes Terrain. Quantität und Qualität der Materialfunde waren für keine Epoche vorherzusehen. Wenn in Einzelfällen konkreten Hinweisen aus der bisherigen Forschung oder der französischen Literatur gezielt nachgegangen werden konnte, so galt es grundsätzlich, eine Systematik für die Suche nach geeigneten Textexemplaren zu entwickeln. Angesichts der großen Zeitspanne und der Vielfalt der französischen Presselandschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert konnte aus der Fülle der Zeitungen nur eine kleine, qualitativ und inhaltlich begründete Gruppe ausgewählt und in regelmäßigen zeitlichen Abständen untersucht werden. Ziel war es, mittels vieler synchroner Querschnitte ein diachrones Längsbild zu erhalten. Die Auswahlkriterien und Profile der berücksichtigten Zeitungen sowie die damit verbundenen forschungsleitenden Hypothesen und Ausgangsftagen werden im Folgenden erläutert. Wenn darüber hinaus an dieser Stelle wichtige Ergebnisse der historischen Textsuche präsentiert werden, dann geschieht dies mit der Absicht, die Entwicklung des Interviews in Form eines Überblicks zu skizzieren und ein übergreifendes Panorama zu eröffnen, in das die mikroskopischen Ergebnisse der Textanalyse eingeordnet werden können. Für diese Untersuchung, die sich auf die Tagespresse konzentriert, wurden aus der vielfältigen französischen Zeitungslandschaft des 19. Jahrhunderts hypothesengeleitet zunächst vier repräsentative Vertreter ausgewählt: Als Leitmedien dienen die beiden großen „überregionalen" Tageszeitungen (quotidiens nationaux), die sich aufgrund ihrer langen Tradition für eine vergleichende Längsstudie in besonderer Weise eignen - LE FIGARO (1866ff.) und LE MONDE (1944ff.) mit dessen Vorgänger LE TEMPS (1861-1942). Für die Zeit vor 1860 wurde die innovative Zeitung LA PRESSE (1836-1935) ausgewählt. Und mit Hilfe des MATIN (1884-1944), der den Informationsjournalismus amerikanischer Prägung in Frankreich verbreitete und zu einer der vier großen Tageszeitungen mit Millionenauflage avancierte, soll schließlich die Entwicklung nach 1880 im Allgemeinen und der angelsächsische Einfluss im Besonderen beleuchtet werden. Diese für die historische Analyse zentralen Medien sowie einige weitere Tageszeitungen, die darüber hinaus für spezielle Fragestellungen und konkrete Hinweise herangezogen wurden, werden im Folgenden in Form von Kurzporträts (Tendenz, Auflage, Seitenumfang etc.) dargestellt, ihre Auswahl begründet und die wichtigsten Ergebnisse im Überblick vorgestellt. Ausgehend vom bisherigen Forschungsstand, wonach das vermeintlich erste journalistische Interview im Jahre 1836 in den USA erschien, wurde die in diesem Jahr von Emile de Girardin (1806-1881) gegründete Tageszeitung LA PRESSE ausgewählt. Zudem stellt diese Zeitung die erste große Presseinnovation des 19. Jahrhunderts dar: Indem Girardin den Preis für ein Jahresabonnement halbierte und gleichzeitig die Zeitungswerbung als zweite Finanzierungsquelle entdeckte, ebnete er den Weg zur populären Massenpresse. Dieser sollte jedoch erst im Jahre 1863 vollendet werden, als mit dem PETIT JOURNAL zum Stückpreis von fünf centimes die Tageszeitung für jedermann erschwinglich wurde. Denn als Girardin im Jahre 1836

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den Abo-Preis von 80 auf 40 Francs senkte, entsprach dieser noch immer dem halben Monatslohn eines Pariser Arbeiters. Damit sollte die Zeitungslektüre dem begüterten Bürgertum vorbehalten bleiben, das sich zur Zeit von Restauration und Juli-Monarchie (1815-1848) zur gemeinsamen Lektüre in Lesekabinetten (cabinets de lecture), Kaffeehäusern oder Zirkeln versammelte (Tudesq 1986). Schließlich präsentierte LA PRESSE eine weitere Neuerung: Hier entstand der populäre Fortsetzungsroman, le roman-feuilleton, zu dessen Autoren Honore" de Balzac, Alexandre Dumas, Thoophile Gautier, Victor Hugo und Eugene Sue gehörten. Aufgrund ihres innovativen Charakters war zu vermuten, dass sich in LA PRESSE bereits vor 1860 erste Exemplare der neuen Texttradition Interview finden ließen. Aus diesem Grund wurde jeweils ein kompletter Monat der Jahrgänge 183732, 1846 und 1856 systematisch auf Textbelege untersucht. Da sich diese Ausgangshypothese leider nicht bestätigte, wurde die Suche in diesem Zeitraum nicht intensiviert. Allerdings konnte in LA PRESSE ein frühes Beispiel der ebenfalls im 19. Jahrhundert aufkommenden Reportage nachgewiesen werden, das einen fiktiven FrageAntwort-Dialog zwischen der Autorin Delphine de Girardin und einem Informanten präsentiert: Le premier voyage en chemin defer aus dem Jahre 1837 (Kap. HI.3.4.3). Zudem bildete LA PRESSE im Jahre 1890, als die neue journalistische Textsorte bereits zum festen Leseangebot der Zeitung gehörte, das Forum für eine erste wichtige Debatte über das Interview, die sich am Authentizitätspostulat entzündete und eine zentrale Quelle der zeitgenössischen Interview-Kritik darstellt. Hier formulierte der Journalist und Schriftsteller Maurice Barres sein Konzept der neuen journalistischen Handlungsform (Kap. III. 7.2). Nachdem sich auch das Gespräch mit dem Soldaten Mamour aus dem Jahre 1789 als historischer Einzelfund herausgestellt hatte (Kap. III. l), konzentrierte sich das Forschungsinteresse in der Frage, wie und wann sich das Interview als journalistische Texttradition in der französischen Presse herausbildete und habitualisierte, von nun an auf die 1860er Jahre. Diese sind neben dem PETIT JOURNAL (1863) vor allem durch die Neugründungen der Tageszeitungen LE TEMPS (1861) und LE FlGARO (1866) gekennzeichnet, die sich in besonderer Weise für einen Langzeitvergleich eignen, der die Entwicklung des Presseinterviews von den Anfangen bis in die Gegenwart aufzeigen soll. Als Hippolyte de Villemessant (1812-1879) im November 1866 den FIGARO vom Wochenblatt zur Tageszeitung wandelte, begründete er damit den bis heute existierenden premier quotidien national Frankreichs. Wie dieser zählt auch die 1861 von Auguste Nefftzer (1820-1876) in Nachahmung der Londoner TIMES gegründete Zeitung LE TEMPS zum Vorreiter der neuen Informationspresse, die sich von der überwiegend auf politische Beeinflussung ausgerichteten presse d'opinion der Revolutionsära abhebt. Während der FIGARO in leicht verständlicher Weise über das Geschehen in der Pariser Gesellschaft berichtete, konzentrierte sich der Vorgänger der heutigen Tageszeitung LE MONDE auf seriöse und offizielle Informationen aus Politik und Diplomatie. Zwischen 1861 und 1911 und damit über einen Zeitraum von 50 Jahren, in dem die Ausdifferenzierung der Texttradition Interview anzunehmen war, wurde in den beiden Leitmedien alle fünf Jahre

Der Jahrgang 1836 konnte in der BnF weder auf Mikrofilm, noch auf Papier konsultiert werden. Diese Erfahrung bestätigt Guory (1997: 79).

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ein kompletter Monat nach Textexemplaren durchgesehen. Für die Folgezeit wurde zwischen 1926 bis 1966 alle 10 Jahre ebenfalls je eine monatliche Stichprobe genommen. Diese systematische Erhebung konnte durch weitere Einzelproben ergänzt werden. Einem Hinweis von Emil Dovifat (1941) folgend, nach dem Villemessant, der Herausgeber des FIGARO, mit seinem Mitarbeiter Adrien Marx das Interview in Frankreich eingeführt haben soll, konnte in dieser Zeitung im November 1866 in der Tat ein frühes Exemplar der journalistischen Textsorte ausgemacht werden: Une demi heure chez M. Veuillot. Mit diesem Beitrag setzte der FIGARO die Rubrik Indiscretions parisiennes des jungen Journalisten Marx fort, die zuvor in dem ebenfalls von Villemessant herausgegebenen EVENEMENT erschienen war. In dieser Tageszeitung, die als direkte Vorgängerin des Figaro quotidien anzusehen ist, konnten die Indiscretions und damit zugleich die Texttradition Interview auf ihre Anfänge in der französischen Presse zurückverfolgt werden. Der hier identifizierte Typus Visite, der sich an die zeitgenössische Besuchskultur anlehnt, sollte die französische Interviewtradition entscheidend prägen. Die als „szenisch" zu charakterisierende Darstellungweise und die subjektive Erzählperspektive verweisen zudem auf die Verwandtschaft zur Reportage (Kap. III.2 und III.3). Seine literarische Qualität und seine legerete boulevardiere verhalfen dem FIGARO, der seine Auflage von 35.000 im Jahre 1871 auf mehr als 80.000 im Jahre 1880 steigern konnte, zum größten Zeitungserfolg der Periode (Albert 1972: 194f.). Zu dieser Zeit präsentierte der FIGARO, der nach dem Tode Villemessants 1879 seine monarchistisch-legitimistische Tendenz ablegte und den Ausgleich mit der Republik suchte, nur selten eigene Interviews: Im Zuge einer Reportage-Serie über das Schicksal ehemaliger Communards schildert ein Korrespondent seinen Besuch in der Gefängnisfestung Boyard, wo er den inhaftierten Journalisten Paschal Grousset zu seiner persönlichen Situation befragt (Visite aux chefs de la Commune, 9.11. 187l).33 Als früher Beleg eines sachzentrierten Interviews, das im Gegensatz zur Visite eine „situationsarme" Schilderung, eine thematische Einleitung und den unkommentierten Wechsel von Frage und Antwort aufweist (Kap. III.6.1), ist ein Text des Reporters Pierre Giffard anzusehen (Les admissions, 20.11.1881). Regelmäßig erschienen im FIGARO kommentierte Übernahmen von Interviews ausländischer Zeitungen. Zu den Autoren zählten der Zeitungsherausgeber und Sohn des ersten amerikanischen Interviewers Gordon Bennett Jr. (M. Guizot d'apres le New York Herald, 7.3.1873), der italienische Schriftsteller Edmondo de Amicis (Emile Zola polemiste, 24.9.1881) und der Paris-Korrespondent Von Blowitz (Un article du Times, 14.11.1881).

Einen Sonderfall stellt die ebenfalls 1871 veröffentlichte Entrevue zwischen Villemessant und dem Grafen von Chambord dar. Dabei handelt es sich weniger um ein journalistisches Interview denn um einen politischen Gedankenaustausch zwischen dem FIGAROHerausgeber als Anhänger der Monarchie und dem potenziellen Thronanwärter (Retour de Lucerne, Le Figaro, 21.11.1871, S.lf). In diese Kategorie fallt auch das Gespräch, das der katholische Publizist Louis Veuillot, den Jules Claretie später als den ersten französischen Interviewer bezeichnete (Le reportage et les reporters, Le Temps, 16.11.1906, S.2), mit dem alternden Fürsten von Metternich im Dezember 1849 geführt und erst zehn Jahre später veröffentlicht hatte (Veuillot 1936: 397-362).

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Um 1886 erfuhr die neue Texttradition einen deutlichen Aufschwung im FIGARO, der neben zahlreichen Zitaten nun jede Woche regelmäßig mehrere eigene Interviews präsentierte. Außer der traditionellen Visite, wie sie der Journalist Charles Chincholle fortführte (Chez M"' Van Zandt, 9.11.1886), erschienen jetzt häufiger Interviews, die statt eines ausführlichen szenischen Erzählerkommentars lediglich eine kurze thematische Einleitung und den alternierenden Wechsel von Frage und Antwort aurweisen. Auch scheint sich zu dieser Zeit der Anglizismus interview zur Bezeichnung der neuen Texttradition zu habitualisieren. So erscheint der Ausdruck im Jahre 1888 in der Überschrift eines Beitrags (Interview d'Adophe Belot sur Melinite, 7.10.1888), der zudem durch die Wahl des Gesprächsortes auffällt: Nachdem wenige Monate zuvor bereits Emile Zola im Zug interviewt worden war (L 'Academic et M. Zola),34 wurde der Interviewte in diesem Fall am Bahnsteig kurz vor der Abfahrt befragt. In diesem Jahr findet sich auch ein Beispiel dafür, wie ein Interviewer einem Politiker mit einer Fragetechnik begegnet, die als „kritisches Nachhaken" gewertet werden kann (Emile Ollivier et les greves, 7.8.1888). Schließlich lässt sich eine neue Form der Texttradition identifizieren, bei der die Stellungnahmen einer oder mehrerer prominenter Personen zu einem aktuellen Thema meist ohne Fragen des Journalisten wiedergegeben werden. Eine solche Sammlung von Meinungsäußerungen, die der Journalist Jules Huret von prominenten Schriftstellern zur Frage der Literatur-Zensur einholte (La censure, 24.10.1888), ist ein frühes Beispiel der journalistischen Umfrage und bildet zugleich den Vorläufer der berühmten Enquete litteraire, die derselbe Autor drei Jahre später im ECHO DE PARIS veröffentlichen sollte. Dabei wirft die zeitgenössische Praxis der journalistischen „Meinungsumfrage" das Problem der kohärenten Relation zwischen Gegenstand und befragter Person auf (Kap. III.8.1). Nachdem die Entwicklung der Texttradition Mitte der 1890er ihren Höhepunkt erreichte, begann die Interview-Euphorie gegen Ende des Jahrzehnts abzunehmen. Zwar waren im FIGARO, der bei einer Auflage von 80.00035 Exemplaren als erste französische Tageszeitung im Dezember 1895 den Seitenumfang von vier auf sechs erhöhte (Martin 1997: 90-92), zu dieser Zeit mit Huret, Marx und Chincholle drei der wichtigsten Interviewer der französischen Presse versammelt. Auch wurde hier der „meist interviewte Mann Frankreichs" über seine Haltung zu dieser journalistischen Handlungsform befragt (M. Emile Zola interviewe sur l'interview, 12.1. 1893). Doch während im November 1896 noch fast täglich Interviews oder Umfragen erschienen, lässt sich im Vergleichsmonat des Jahres 1899 nicht ein einziges Textexemplar belegen. Allerdings konnte im Oktober mit Une visite chez SaintSaens (20.10.1899) ein spätes Beispiel der von Adrien Marx begründeten Tradition ausgemacht werden. Auch Jules Huret, der 1896 zunächst weitere Interviews im

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Im Falle Zolas, der wahrend einer Zugfahrt über seine Absichten einer Kandidatur für die Akademie befragt wird, handelt es sich um einen „Gelegenheitsdialog", dessen Veröffentlichung sich der Journalist ausdrücklich autorisieren lässt (Le Figaro, 29.7.1888, S. l und Blavet 1889: 214-220). Erst die Parteinahme flJr den wegen Spionage verurteilten Hauptmann Dreyfus im Herbst 1897 sollte einen drastischen Rückgang der Auflage verursachen (1901: 20.000) und den FIGARO in eine ernste Krise stürzen, von der sich die Zeitung erst nach 1902 wieder erholen konnte (Albert 1972: 347-51).

44 FIGARO veröffentlichte, konzentrierte sich ab 1899 auf seine großen Reise-Reportagen. Zugleich diente seine literarische Umfrage als Modell für seine Kollegen (Enquetes litteraires. Alfred de Musset juge par les litterateurs contemporains, 30.11.1896). Daneben findet sich im Jahre 1899 ein früher Beleg dafür, dass sich unter der Bezeichnung enquete eine eigenständige journalistische Texttradition herauszubilden begann. So präsentierte der FIGARO mit dem Titel Notre Enquete. La reconciliation nationale (2.11.1899) in mehreren Folgen keine Umfrage, sondern Hintergründe und Dokumente zum Thema. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bleiben die Funde rar: Abgesehen von wenigen längeren Interviews wie Une demi-heure avec Massenet (11.11.1906) und L 'amie de Gambetta (18.11.1906) lassen sich vor allem Stellungnahmen von Politikern finden. Neben zahlreichen externen Hinweisen und Zitaten übernahm der FIGARO im November 1911 - ebenso wie LE TEMPS (La these espagnole, 14.11.1911)- weite Teile eines Interviews aus der spanischen Presse, in dem ein Diplomat zur politischen Situation Marokkos befragt wird (Les negociations franco-espagnoles, 13.11. 1911). Die Stichproben der Jahrgänge 1926, 1936 und 1946 belegen eine (ungebrochene) Vorliebe des FIGARO für die journalistische Umfrage: Unter dem Titel Nos enquetes oder Une enquete du Figaro veröffentlichte die Zeitung meist in Serie die Meinungen von Prominenten oder Experten zu unterschiedlichen Themen. Im November 1946 findet sich der erste Beleg für eine Straßen-Umfrage, bei der keine Prominenten, sondern der „einfache Mann" (l'homme de la rue) in seiner Eigenschaft als politischer Wähler befragt und die Antworten als interviews recueillies präsentiert wurden (Kap. III.8.1.3). Zur gleichen Zeit erschienen in der KulturRubrik Les Spectacles regelmäßig kurze Prominenten-Interviews, deren Überschrift an die Tradition der Visite erinnert (Un quart d'heure avec oder Cinq minutes avec), während die Textstruktur das moderne Kurz-Interview (Trois questions ä) vorwegzunehmen scheint (Kap. III.8.2). Neben dem kurzen Frage-Antwort-Spiel, das Mitte des 20. Jahrhunderts auch im politischen Teil häufig anzutreffen ist, lassen sich 1956 im FIGARO — wie in LE MONDE - fast täglich Stellungnahmen (declarations) von Politikern zu aktuellen Themen finden, die in direkter oder indirekter Rede und ohne explizite Fragen eines Interviewers veröffentlicht wurden. Ein herausragendes Beispiel für ein ausführliches Politiker-Interview bildet ein ganzseitiger Beitrag aus dem Jahre 1966 (der FIGARO erscheint inzwischen mit bis zu 32 Seiten täglich), in dem der portugiesische Präsident zu aktuellen Themen der Weltpolitik befragt wird (Deux heures avec le president Salazar, 5./6.11.1966). Formal weist der Text die Merkmale eines „modernen" Interviews auf, das nach einem mehrgliedrigen Titelgefüge und einem einleitenden Vorspann den Wortlaut von Frage und Antwort in alternierendem Wechsel präsentiert. Das unmittelbare Vergleichsmedium zum FIGARO bildet LE TEMPS. Als Auguste Nefftzer die Zeitung 1861 gründete, übernahm der ehemalige Chefredakteur von LA PRESSE das dort von ihm verfasste Bulletin du jour und machte es zum Markenzeichen seines eigenen Blattes. Trotz mittlerer Auflage von 22.000 Exemplaren 1880 und 36.000 (1910) war der TEMPS in der Dritten Republik eine publizistische Autorität und galt im In- und Ausland als grand journal de qualite et de reference (Albert 1972: 352-56; Martin 1997: 96f). Enge Kontakte zur Politik und die Zuver-

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lässigkeit der internationalen Informationen brachten der seit 1872 von Adrien Hobrard (1833-1914) geleiteten Zeitung den Ruf eines offiziellen Organs des Außenministeriums ein: Ce joumal sorieux jusqu'ä l'ennui, aux articles anonymes et aux informations contröle"es, otait malgrt la faiblesse relative de ses tirages le plus grand Journal fran^ais: son audience a l'dtranger otait considörable; ses chroniques diplomatiques otaient souvent inspire« par le Quai d'Orsay. (Albert 71993: 70)

Dem soliden Inhalt entsprach ein konservatives Äußeres, das sich als graue Bleiwüste (grisaille) präsentierte und den seriösen sowie offiziösen Charakter des TEMPS unterstrich. So verzichtete die Zeitung noch 1926 auf jegliche Illustrationen oder Fotos und verwendete kleine Schriftgrößen für Text und Überschriften (Guory 1997: 157).36 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass LE TEMPS der neuen journalistischen Handlungsform mit Zurückhaltung begegnete: Während sich im FIGARO seit den 1880er Jahren regelmäßig Interviews finden lassen, sind die Belege in LE TEMPS durchweg selten. Vielmehr stellte die Zeitung Sinn und Nutzen des Interviews in einem konkreten Fall in Frage (L'interview appliquee ä la geometric, 30.11.1894). Zwar entdeckte LE TEMPS in den 1890er Jahren den Wert der neuen Textsorte als zitierfähige Informationsquelle, verzichtete aber weitgehend darauf, seinen Lesern eigene Interviews zu präsentieren. Neben dem Erstbeleg des Ausdrucks (cet) interviewer in der französischen Presse (1876) und einer frühen Übernahme (Entretien avec le general Ignatieff, 28.11.1876) zählen zu den herausragenden Funden ein Interview mit dem Schriftsteller Edmond de Goncourt aus dem Jahre 1886, das Elemente der szenischen Visite mit Merkmalen des thematischsachzentrierten Typus vermischt (Chronique. „Chez M, de Goncourt", 11.11.1886) und ein Interview von 1926 (Un entretien avec le general Henri Simon, 14.4.1926), das zudem die situativen Bedingungen eines Gesprächs am Bahnsteig transportiert (Kap. III.6.2). Darüber hinaus steht die Rubrik Promenades et visites, die um die Jahrhundertwende im TEMPS erschien, in der Tradition des Adrien Marx. Dabei sind die vorliegenden Texte aus den Jahren 1896, 1899 und 1906, die neben Beschreibungen, Dokumenten und Rückblicken auch Dialogwechsel mit Personen vor Ort enthalten, aus heutiger Sicht nicht als reine Beispiele der zu dieser Zeit bereits etablierten Textsorte Interview anzusehen, sondern eher der Reportage zuzurechnen - so auch im Falle des Beitrags zur Pariser Journalistenschule (L 'Ecole de journalisme, 3.11. 1899), vor deren Eröffnung der Autor die Direktorin zu einem Gespräch aufsucht. Schließlich finden sich im TEMPS zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben fremdzitierten Politiker-Äußerungen zunehmend von der Redaktion selbst eingeholte Stellungnahmen.

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Auch in anderer Hinsicht gibt sich die Zeitung konservativ: Wahrend der FlGARO bereits im Dezember 1895 den Seitenumfang von vier auf sechs erhöht und damit eine allgemeine Entwicklung einleitet, erscheint LE TEMPS erst 1911 mit sechs Seiten (Albert 1972: 352f). Im Vergleich zu England und Deutschland ist die französische Presse in diesem Punkt insgesamt rückständig: Die Londoner TIMES erscheint 1871 bereits mit 14 und 1893 mit 16 Seiten (Martin 1997: 90f; Albert 71993: 57f).

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Nachdem die Weiterführung des TEMPS per Gesetz untersagt worden war, gründete der Widerstandskämpfer und ehemalige Korrespondent des Blattes, Hubert Beuve-M6ry (1902-1989), die Zeitung im Dezember 1944 unter anderem Namen neu, wobei Mannschaft und Anspruch weitgehend die alten blieben.37 Als deutliches Identifikationssymbol sollte LE MONDE den gothischen Schriftzug des Titels beibehalten und damit bewusst an die Tradition des Vorgängers anknüpfen. Von diesem übernahm die Zeitung, die den Umfang von ursprünglich acht Seiten kontinuierlich auf bis zu 24 in 1966 erhöhte und zudem von fünf auf sechs Spalten pro Seite wechselte, auch die Fokussierung auf Politiker-Interviews (Une interview du chancelier Figl, 28.11.1946). Auffallend ist, dass der Terminus declaration nicht nur für die zahlreichen Stellungnahmen, sondern auch für Interviews in LE MONDE verwendet wurde, wo sich wie im FIGARO auch zunehmend ganzseitig aufgemachte Beiträge finden lassen: Une declaration de M. Guille sur le plan atomique (11.11.1956) und Une interview du ministre de l'economie et des finances (13./14.11.1966). Dabei erscheint das Interview in allen drei Stichproben (1946, 1956, 1966) durchweg in „moderner" Gestaltung mit direkten und in der Regel unkommentierten FrageAntwort-Wechseln, denen ein typografisch markierter Vorspann voransteht. 1966 kann in der Zeitung LE MONDE, die bereits ein Jahr später durchschnittlich 400.000 Exemplare verkaufte und damit ihre Auflage gegenüber 1956 verdoppelte (Jeanneney 1996: 225), erstmals die bis heute gängige Schluss- und Beglaubigungsformel propos recueillis par belegt werden. LE MATIN repräsentiert die Pariser Massenpresse der Belle Epoque: In dieser Zeit zählte die 1884 von dem Amerikaner Sam Chamberlain gegründete Zeitung mit dem PETIT JOURNAL, dem PETIT PARISIEN und dem JOURNAL zum Konsortium der so genannten quatre grands, das 1914 eine Gesamtauflage von 4,5 Millionen erreichte und damit 40 Prozent des Zeitungsmarktes „kontrollierte" (Albert 1972: 297-317; Martin 1997: 101-104). Zudem kann am MATIN, der als exponierter Vertreter des nouveau journalisme amerikanischer Prägung in Frankreich zu betrachten ist, der angelsächsische Einfluss auf die französische Interviewtradition untersucht werden. Vor allem soll gezeigt werden, welchen Anteil LE MATIN an der Standardisierung des Interviews hat, das - wie die Entwicklung im FIGARO belegt - seine Blütezeit in der französischen Presse zwischen 1885 und 1895 erlebte. Daher wurde aus diesem Zeitraum jeweils ein Monat der Jahrgänge 1884, 1885, 1890, 1892 und 1894 ausgewertet. Wie bereits der Titelkopf signalisierte, hatte sich die Zeitung dem modernen Informationsjoumalismus verschrieben: Im Namenszug, der von zwei Telegrafenmasten eingerahmt wurde, versprach der MATIN, der zudem in den ersten beiden Erscheinungsmonaten den Untertitel Morning newsfra^ais trug, seinen Leser ausdrücklich die Veröffentlichung der „derniers te"le"grammes de la nuit". Die Erst-

Nach der Befreiung von Pans wurden alle Zeitungen, die unter deutscher Besatzung erschienen waren, per Erlass vom 22. Juni und 30. September 1944 als compromis eingestuft und verboten. Entscheidend war das Datum des deutschen Einmarsches in die freie Zone im Süden Frankreichs. Danach hatte der TEMPS - anders als der FIGARO - sein Erscheinen drei Tage zu spat eingestellt (29.11.1942) und musste daher unter neuem Namen wiedergegründet werden (Bellanger, Bd.2: 192 und 286; Martin 1997: 273-276 und 279-282; vgl. Bohnacker 1994: 135-37).

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ausgäbe legte das Programm der Zeitung, die weder eine bestimmte politische Richtung vertrat, noch ein literarisches Feuilleton präsentierte, ausschließlich auf die schnelle Übermittlung von Fakten fest: „un journal d'informations tölographiques universelles et vraies" (Le Matin, 26.2.1884, S.l). Die in der Gesellschaft herrschenden politischen Meinungen sollten stattdessen durch regelmäßige Gastautoren (leaders) vertreten werden, zu denen der sozialistische Schriftsteller Jules Valles ebenso gehörte wie der monarchistische Journalist Jean Corndly. Ein Beitrag des zuletzt genannten Autors aus dem Jahre 1885 zählt zu den zentralen Funden dieser Arbeit: Indem Comöly ein fiktives Interview mit dem zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Politiker Lion Gambetta verfasste (Chez Gambetta, 26.3.1885), griff der Autor die antike Gattung der Totengespräche auf und begründete zugleich die Tradition der imaginären Interviews (Kap. IH.7.1). Ebenfalls zwischen „Fiktion und Fälschung" einzuordnen sind das Gespräch, das der naturalistische Dramatiker Henry Becque zwischen einem fiktiven Reporter und dem Schriftsteller Edmond de Goncourt inszeniert (Cherie, 25.4.1884), sowie der Besuch des Chefredakteurs Stöphane Lauzanne bei Feldmarschall Foch (Une visite a Fach, 11.11.1926): Inwiefern der zweite Text eine Fälschung darstellt und ob er auf der Vorlage eines Interviews basiert, das Jules Sauerwein sechs Jahre zuvor aus dem gleichen Anlass (Jahrestag des Waffenstillstands von 1918) mit dem französischen Kriegshelden geführt hatte (Le marechal Foch raconte Varmistice, 8.11.1920), wird die Textanalyse zeigen (Kap. HI.7.2).38 Darüber hinaus finden sich im MATIN, der bereits 1884 fast täglich und meist auf der Titelseite (so auch in der Erstausgabe) Interviews veröffentlichte, zahlreiche authentische Belege dieser Texttradition - darunter zwei bisher unbekannte Interviews mit den Schriftstellern Emile Zola und Edmond de Goncourt aus dem Jahre 1885. Von besonderem Interesse sind die standardisierte Form und die spezifischen Merkmale wie die kollektive Erzählperspektive, die situationsarme Schilderung und die Fokussierung eines sachlichen Gegenstands, welche die frühen Interviews des MATIN von der Fisi'te-Tradition abheben und einen eigenen Typus erkennen lassen (Kap. III.6.1). Auffallend ist schließlich, dass der MATIN, dem eine Vorliebe für den Gebrauch von Anglizismen attestiert werden kann, zwar die erste Zeitung ist, die den Ausdruck interview zur Bezeichnung der journalistischen Handlungsform verwendete, zugleich aber die Ausdrücke entrevue und entretien bevorzugte (Kap. II). LE VOLTAIRE, der 1878 die Nachfolge des verbotenen BEN PUBLIC antrat und den Namen des 100 Jahre zuvor verstorbenen Schriftstellers annahm, gilt in der bisherigen Forschung als Quelle „eines der ersten großen Interviews der französischen Pressegeschichte" (Delporte 1999: 71; vgl. Palmer 1983: 85f.). Wie sich jedoch bei den Nachforschungen in der französischen Nationalbibliothek herausstellte, war im VOLTAIRE lediglich eine stark gekürzte Fassung dieses ersten Interviews zwischen dem Journalisten Fernand Xau und dem Schriftsteller Emile Zola erschienen. Das hier erstmals vorgelegte Original (Une visite chez M. Emile Zola, 13.4.1880) wurde hingegen in der Zeitung LA veröffentlicht (Kap. III.5. l).39 Wahrend das Foch-Interview aus dem Jahre 1920 aufgespürt werden konnte, indem einem vagen Hinweis von Dovifat (1941: 1849f.) nachgegangen wurde, ist die Entdeckung der vermeintlichen Fälschung von 1926 einer Richtigstellung im FIGARO zu verdanken. Von der Wahl Jules Grovys zum Präsidenten der Republik motiviert, gründete Gaston

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Von seinem Vorgänger übernahm der VOLTAIRE, der sich als Figaro des Republicains verstand, die radikal-republikanische Ausrichtung. Auch der Schriftsteller Emile Zola blieb dem Blatt, das der naturalistischen Literatur eine Plattform bot, als Mitarbeiter erhalten und verfasste bis September 1880 die wöchentliche Rubrik Revue dramatique et litteraire. Die Zeitung erreichte 1880 eine Auflage von 10.400 Exemplaren, bevor sie Anfang des 20. Jahrhunderts in der Bedeutungslosigkeit verschwand (Albert 1972: 228f; 234; 296). Der neuen Texttradition gegenüber zeigte sich der VOLTAIRE aufgeschlossen, wie die monatlichen Stichproben aus den Jahren 1880, 1881 und 1886 belegen. Dabei kann eine deutliche Zunahme an Interviews verzeichnet werden: Während zu Beginn des Jahrzehnts nur vereinzelte Beispiele auszumachen sind, erscheinen im Vergleichsmonat des Jahres 1886 auf vier Seiten bis zu drei Interviews täglich. Neben diesem quantitativen Unterschied spiegeln die späteren Textexemplare zudem eine qualitative Veränderung wider: Wenn die Präposition chez auf die F/s/te-Tradition verweist, so deuten verschiedene andere Merkmale in Überschrift, Einleitung, und Erzählperspektive auf einen unmittelbaren Einfluss der Interviewpraxis des MATIN hin. Ob sich diese Hypothese bestätigt oder ggf. differenziert werden muss, wird die vergleichende Textanalyse zeigen (Kap. III.6.2). Prominente Beispiele der journalistischen Handlungsform bilden die Interviews mit den Schriftstellern Alexandre Dumas (4.2.1881), Alphonse Daudet (4.5.1886) und Emile Zola (3.5.1886). Neben Maurice Fran9ais40 veröffentlichte auch der junge Maurice Barres seit 1886 zahlreiche und zum Teil fiktive Interviews im VOLTAIRE (Kap. III.7.1). Für die Jahre 1880 und 1881 sind die Texte des Londoner Korrespondenten George Petilleau von Interesse, da der Autor explizit auf die angelsächsische Interview-Tradition Bezug nimmt. Seine Entrevue avec Sir Charles Dilke (6.5.1880) wirft erstmals die Frage der Authentizität auf und dokumentiert damit die besondere Problematik der neuen journalistischen Texttradition: In einer ausfuhrlichen Richtigstellung verteidigt sich der Autor gegen den Vorwurf der Fälschung, indem er die Echtheit des Interviews mit Hilfe von Indizien zu beweisen versucht (Kap. III.7.2). Im ECHO DE PARIS, dessen Erstausgabe am 12. März 1884 und damit nur zwei Wochen nach der des MATIN erschien, begegneten sich zwei der prominentesten Interviewer der französischen Zeitungsgeschichte: Jules Huret, der hier 1891 seine berühmte Enquete litteraire veröffentlichte,41 und Fernand Xau, der 1880 das erste Interview mit Emile Zola geführt hatte. Der ECHO, der seine Auflage von anfänglich 30.000 auf 120.000 im Jahre 1910 steigern konnte und dessen Schwerpunkt die Literatur bildete,42 präsentierte in den Jahren 1890 und 1891 täglich Beiträge der

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Carle, ein ehemaliger Mitarbeiter des TEMPS, im Mai 1879 die Tageszeitung LA , die künftig als journal qfflcieux de l'Elysee fungierte. Nach dem Sturz Grevys im Jahre 1888 verlor das zunächst erfolgreiche Blatt (Auflage 50.000 in 1879 und 60.000 in 1882) an Bedeutung (Albert 1972: 250 und 359f.). Bei dem Namen Maurice handelt es sich offensichtlich um ein Sammelpseudonym, dessen sich u.a. der Journalist Fernand Xau bediente (Kap. III.6.2). Der vollständige Titel dieser Befragung von 64 Schriftstellern, die zwischen dem 3. März und dem 5. Juli 1891 erschien, lautete Enquete sur revolution litteraire (Kap. III.8.1.2). Erst Anfang des 20. Jahrhunderts sollte der ECHO DE PARIS mit prominenten Mitarbeitern wie Maurice Barres zum offiziellen Organ der nationalistischen Rechten avancieren und zugleich die Auflage auf bis zu 150.000 im Jahr 1939 erhöhen (Albert 1972: 346f; 296).

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beiden Journalisten, die sich mit ihren Reportagen und Interviews einen wahren Wettstreit lieferten. In seinem Interview mit einem der ersten Lokführer von 1836 (Un brave, 8.10.1890) rechtfertigt Xau ausdrücklich, dass er keine prominente Person, sondern einen einfachen Mann porträtiert. Neben seiner großen Literaten-Umfrage führte Huret auch weniger umfangreiche Befragungen durch, an denen die Besonderheiten der Enquete und die historische Verwandtschaft mit dem Interview aufgezeigt werden können (Kap. III.8.1). Bereits ein Jahr vor der Courte enquete sur le froid (21.1.1891) lassen sich im ECHO frühe Beispiele für das kurze ExpertenInterview nachweisen. Dabei sind die Beiträge von Huret (Chez M. Pasteur, 13.1. 1890) und Xau (Le cornet d'un reporter, 12.1.1890) mit denen zu vergleichen, die im gleichen Jahr in der Zeitung LA PRESSE erscheinen (Kap. III.8.2). Im ECHO findet sich zudem ein Beitrag der Kontroverse zwischen Edmond de Goncourt und Ernest Renan, die sich im Oktober 1890 an der Frage entzündete, ob die im Tagebuch des Schriftstellers wiedergegebenen Äußerungen Renans authentisch sind. Die neue journalistische Texttradition diente hier erstmals als Sprachrohr und Medium eines öffentlichen Diskurses. Zu den von Jules Huret eingeholten Äußerungen des Einen („Chez M. de Goncourt. L'humeur de M. Renan", L'Echo de Paris, 30.10.1890) nahm der Andere seinerseits in einem Interview Stellung: „Chez M. Renan. Incident du Journal des Goncourt (La Presse, 11.12.1890). Eben diese neue Praxis, dass prominente Schriftsteller das Interview für ihre Zwecke und zur persönlichen Selbstdarstellung benutzten, wird von einem zu dieser Zeit sehr populären Vertreter der Zunft treffend karikiert: „Bestellte Interviews" sind das Thema der Satire Chez l'illustre ecrivain von Octave Mirbeau, die 1890 unter der Überschrift Les dialogues tristes im ECHO erschien (27.10.1890; vgl. Kap. III.8.3). Im September 1892 von Fernand Xau (1852-1899) mit einer außergewöhnlichen Plakat-Kampagne ins Leben gerufen, entwickelte sich LE JOURNAL zum großen Rivalen des MATIN (Martin 1997: 103f.) und bildete mit einer Auflage von 800.000 bis zu einer Million eine der erfolgreichsten Tageszeitungen der Jahrhundertwende (Albert 1972: 296). Gründungsmitglied der Zeitung, für die Herausgeber Xau die Elite der zeitgenössischen Literatur verpflichten konnte, war Maurice Barres, der hier erneut seine Ansichten zu der von ihm selbst praktizierten journalistischen Handlungsform formulierte (Kap. HI.7.2). Zu den wichtigen Funden in dieser Zeitung zählt ein Beitrag von Hugues Le Roux: Mit seiner Entrevue avec M. de Bismarck, die der JOURNAL am 26. November 1892 veröffentlichte (Chez Bismarck), kam der Autor dem MATIN zuvor, der zwei Wochen später ebenfalls ein Interview mit dem ehemaligen deutschen Reichskanzler präsentierte (Le Matin, 12.12.1892). Der bisher unbekannte Beitrag von Le Roux löste eine von zahlreichen Debatten über die Echtheit von Interviews aus (Kap. III.7.2). Schließlich bietet der JOURNAL ein weiteres Beispiel einer Satire (Interviewe, 23.11.1892), die - ähnlich dem JOURNAL AMÜSANT zwei Jahre zuvor (Unjeu de societe, 27.9.1890) - das Typische der zeitgenössischen Interviewpraxis überzeichnet und die Flut journalistischer Umfragen karikiert (Kap. III.8.3). Ausgehend von der bisherigen Annahme, dass das journalistische Interview vorrangig auf die Tradition des juristischen Verhörs zurückgehe, wurde abschließend in dieser speziellen Frage LE PETIT JOURNAL konsultiert: Im spektakulären Mordfall Troppmann, der unmittelbar mit dieser Zeitung und ihrem Aufstieg zum ersten

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Massenblatt der Pressegeschichte verbunden ist, fahndeten im Herbst 1869 französische Journalisten vor Ort nach Beweisen (Palmer 1983: 29-32). Es war zu vermuten, dass in diesem Zusammenhang nach dem Vorbild polizeilicher Ermittlungen auch Zeugen befragt wurden. Und in der Tat konnte diese Ausgangshypothese bestätigt und ein Textbeleg entdeckt werden (Lafamille Traupmann, 29.9.1869), mit dessen Hilfe der Einfluss des Verhörs (interrogatoire) auf die französische Tradition des Interviews verdeutlicht werden kann (Kap. III.4). Dabei handelt es sich allerdings um die Übernahme eines Beitrags, dessen Original in der Tageszeitung LE GAULOIS erschien (Le crime de Pantin. A Cernay, 29.9.1869).43 Um die historische mit der modernen Interviewpraxis in Beziehung zu setzen und in Form kurzer Ausblicke darzustellen, wurde das historische Textkorpus durch eine aktuelle Materialprobe ergänzt. Dazu wurden die drei wichtigsten Vertreter der nationalen Tagespresse, zu denen neben den Leitmedien LE MONDE und LE FIGARO der populäre PARISIEN zu zählen ist, einen Monat lang ausgewertet (März 1999): Wenn LE MONDE aufgrund eines kritischen und unabhängigen Journalismus als Journal de reference in der französischen Presselandschaft gilt, so bildet der FIGARO dessen konservatives Gegenstück. Dabei erzielt die älteste unter den aktuellen Tageszeitungen, die seit November 1999 mit neuem Layout (nouvelle formule) erscheint, mit einer Auflage von 366.700 Exemplaren etwa die gleiche Reichweite wie LE MONDE (390.840). Jedoch ist LE PARISIEN mit 486.109 Exemplaren im Jahre 1999 die meistverkaufte Tageszeitung in Frankreich und lässt selbst die beliebte Sportzeitung L'EQUIPE (393.322) weit hinter sich.44 Mit der nationalen Ausgabe AUJOURD'HUI zählt das Blatt seit 1994 zu den überregionalen Tageszeitungen (quotidiens nationaux), wobei sich Inhalt und Verbreitung weiterhin auf die Ile-de-France konzentrieren. Insgesamt kann das dieser Arbeit zugrunde liegende Textkorpus insofern als repräsentativ gelten, als nach systematischen und inhaltlich begründeten Kriterien eine umfangreiche Materialsammlung erstellt wurde, die es erlaubt, die Entwicklung des journalistischen Interviews anhand exemplarischer Einzelanalysen zu untersuchen. Mit Hilfe eines kontinuierlichen Längsschnitts von 100 Jahren (1866-1966), der durch historische Einzelfunde (1837 und 1789) und eine moderne Probe (1999) komplettiert wird, dokumentiert das vorliegende Textkorpus die Geschichte des französischen Presseinterviews in zwei Jahrhunderten.

Diese von Henri de Pene und Edmond TaiW nach dem Vorbild des FIGARO gegründete Tageszeitung war ein großer Verkaufserfolg (13.000 Exemplare in 1869) und entwickelte sich bald zu einem der schärfsten Konkurrenten des FlGARO, in dessen Redaktion der GAULOIS nach dem Tode seines langjährigen Herausgebers Arthur Meyer 1928 aufgehen sollte (Bellanger, Bd.2: 251 und Bd.3: 200; 540). Zahl der verkauften Exemplare für das Jahr 1999 nach Quid 2001 (Paris: Laffont 2000: 1279f). Quelle: Tarif Modia et Modiapouvoirs und Controle-OJD (Office de justification de la diffusion).

II. Historische Begriffsanalyse zeitgenössischer InterviewBezeichnungen

Sprecher sind sich ihres sprachlichen Handelns und der von ihnen verwendeten sprachlichen Muster implizit bewusst. Die Wörter, mit denen sie Textsorten bezeichnen, sind Ausdruck eines nicht wissenschaftlich-systematischen, aber „naiven" historischen „Gattungsbewusstseins", welches zur (meta-)sprachlichen Kompetenz der Sprecher gehört und dazu dient, alltagssprachliche Konzepte zu unterscheiden (Wilhelm 1996: 22-25). Vor diesem Hintergrund stellt eine historische Bedeutungsanalyse jener Ausdrücke, mit denen Journalisten die von ihnen angewandten Handlungs- und Textformen benennen, einen wesentlichen Beitrag zur wissenschaftlichen Beschreibung journalistischer Texttraditionen dar. Im Zentrum der nachfolgenden Wort- und Begriffsanalyse, die im ineinander greifenden Wechsel von onomasiologischer und semasiologischer Methode erfolgt, stehen die Ausdrücke, mit denen französische Journalisten und Schriftsteller in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Texttradition Interview bezeichneten: Neben interview und dessen französischer Wurzel entrevue zählen dazu visite, interrogatoire, enquete, entretien, conversation sowie reportage, die innerhalb der zeitgenössischen Pressesprache dem gleichen „Frame" angehören und eine zentrale Rolle im Prozess der Interview-Genese spielen.1 Aus semasiologischer Perspektive sollen Bedeutungswandel und Bedeutungsunterschiede der Ausdrücke untersucht und auf diese Weise der historische Interview-Begriff rekonstruiert werden. Wenn die Journalisten des 19. Jahrhunderts bei dem Versuch, die neue Handlungsform zu benennen, in der Regel auf bereits vorhandene Ausdrücke zurückgreifen, so verweisen sie damit auf vertraute Konzepte, die sie in ihrer Vorstellung mit dem Interview verbinden. Daher gilt es, die zeitgenössischen Bezeichnungen unter besonderer Berücksichtigung des pressesprachlichen Kontexts zu untersuchen und die dahinter stehenden sozialen Handlungsmuster, Gewohnheiten und Institutionen zu analysieren. Auf diese Weise soll geklärt werden, welche zeitgenössischen Konzepte und Vorstellungen auf den historischen Interview-Begriff und die Entwicklung der journalistischen Texttradition eingewirkt haben. Als Grundlage dieser begriffssprachlichen Untersuchung dient neben den modernen und historischen Wörterbüchern des Französischen, mit deren Hilfe Ursprung und Bedeutung der Ausdrücke bestimmt werden sollen, eine umfangreiche Belegsammlung, die auf dem historischen Textkorpus basiert und deren Schwerpunkt die französische Presse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildet. Wenn diese Materialsammlung mit Hilfe der Datenbank Frantext um zahlreiche 1

Nach der „Frame-Theorie" ist unser Weltwissen in „Sachfeldem" geordnet (Blank 1997: 237f).

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Zitate aus der zeitgenössischen Literatur ergänzt wurde, so sind es doch vor allem die historischen Pressebelege, die differenzierte und weit reichende Aussagen über die journalistische Sprachpraxis ermöglichen.2 Aufgrund ihrer textsortenindizierenden Funktion stellt die Überschrift eine zentrale Quelle zeitgenössischer Interview-Bezeichnungen dar. Denn hier werden die Ereignisse benannt, über die der anschließende Text in einer bestimmten sprachlichen Form berichtet. Für das historische Interview ist daher anzunehmen, dass der Journalist in der Überschrift neben Gegenstand, Person oder Ort insbesondere die sprachliche Interaktion selbst benennt, die er in seinem Text referiert. Dabei ist zu beachten, wie sich die Bezeichnungen genereller Handlungstypen über Ereignistypen zu Texttypen wandeln: Kriege, Unfälle, Gerichtsverhandlungen oder Begegnungen von Politikern, die regelmäßig und seit jeher Gegenstand medialer Berichterstattung waren, bilden journalistische Ereignistypen.3 Wenn die Bezeichnungen dieser Ereignistypen regelmäßig in Verbindung mit einer bestimmten journalistischen Textform erscheinen, so erweitert sich die Bedeutung von einem sozialen Handlungstyp über den Ereignistyp schließlich zu einem journalistischen Texttyp. Dieser Bedeutungswandel, der auf dem Verfahren der Metonymie beruht und für die historische Entwicklung journalistischer Textsorten von Bedeutung ist, lässt sich an dem modernen Beispiel der Stau-Meldung im Radio veranschaulichen: Die Ankündigung „Hier kommen die Staus" verweist auf die Abfolge einer bestimmten Form von Kurzmeldungen (Texttyp), deren Gegenstand der Ereignistyp Verkehrsstau bildet, der seinerseits eigentlich ein soziales Handlungsmuster darstellt. Wenn aus publizistischer Perspektive dabei zu klären ist, inwiefern „die Staus" oder „das Wetter" eigenständige journalistische Textsorten oder Subtypen der Nachricht bilden, so interessiert aus linguistischer Sicht, ob die jeweiligen Begriffe tatsächlich Bedeutungswandel erfahren und eine journalistische Textform benennen. Für die nachfolgenden Ausdrücke sollen die zweite Frage beantwortet und daraus Erkenntnisse zur Beantwortung der ersten gewonnen werden. Ziel ist es, auf der Basis der historischen Begriffsanalyse Hypothesen über die frühe Entwicklung des Interviews in der französischen Presse zu formulieren und abschließend in einem Schaubild darzustellen, welches anhand der einzelnen Begriffe das Spektrum unterschiedlicher Traditionslinien des Presseinterviews sichtbar macht („InterviewSpektrogramm"). Inwiefern es sich dabei um historische Interviewtypen handelt, soll die anschließende textlinguistische Analyse klären (Kap. III).

Mit insgesamt 3090 Texten die größte Datenbank des Französischen, umfasst Frantext weite Teile des Literaturkanons, lässt jedoch den Bereich der Pressesprache weitgehend unberücksichtigt, da journalistische Memoiren, Textsammlungen und Handbucher (Ausnahme: Coston 1952), vor allem aber die Zeitungen selbst nicht erfasst werden. Mit Hilfe von Frantext konnte das eigene Pressekorpus für den Zeitraum von 1800 bis 1900 um zahlreiche Textbelege erweitert und insbesondere das Journal des Goncowt, das sich als besonders ergiebige Quelle herausstellte, in vollem Umfang erschlossen werden. Obwohl es sich in den meisten Fällen nicht um natürliche Ereignisse, sondern um von Menschen intendierte Handlungen handelt, wird hier der Einfachheit halber der Begriff Ereignis für alle Vorgänge und Geschehnisse verwendet, die Gegenstand journalistischer Berichterstattung sein können.

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l. Interview Aus französischer Sicht stellt der Anglizismus interview einen „Re-Import" dar: Mit der Bedeutung 'persönliche Zusammenkunft' („a meeting of persons face to face") wurde das Substantiv zunächst aus dem Französischen ins Englische entlehnt. Sowohl die französische Wurzel entrevue (Erstbeleg 1498) als auch die englische Entlehnung interview (1514) bezeichneten ursprünglich insbesondere die verabredete und formal-zeremonielle Zusammenkunft von Staatsmännern (OED 21989, Bd.8: 3; DHLF: 1045). In der speziellen journalistischen Bedeutung, die in der amerikanischen Presse erstmals 1869 belegt ist, wurde der Ausdruck interview dann ins Französische übernommen, wo er zunächst mit dem ursprünglichen entrevue um die Bezeichnung der neuen journalistischen Texttradition konkurrierte. Wie sich das Verhältnis von interview und entrevue innerhalb der französischen Pressesprache entwickelte, wird an späterer Stelle dargelegt (Kap. 2). Wenn Datierung und Erstbelege im Einzelnen auch unterschiedlich sind, so machen die modernen Lexika das Erscheinen des Ausdrucks interview und seiner Ableitungen im Französischen grundsätzlich in der ersten Hälfte der 1880er Jahre fest. Danach ist zuerst das Substantiv interviewer belegt (Laveleye 1881: 407), gefolgt vom Verb interviewer (Le Triboulet, 16.9.1883, S.4) und dem Substantiv interview (Daryl 1884: 44). Als lexikografischer Irrtum erwies sich die Angabe des Grand Robert, der den Erstbeleg des Substantivs interview auf das Jahr 1872 datiert und den entsprechenden Jahresband des Goncourt-Tagebuchs als Quelle angibt (GrR, Bd. 5: 697). Zwar findet sich der Ausdruck dort tatsächlich, doch stammt der Eintrag nicht aus dem Jahre 1872. Vielmehr verwendet Edmond de Goncourt den Begriff in seinem 1891 verfassten Vorwort, in dem der Autor zu der damaligen Kontroverse mit Ernest Renan Stellung nimmt („PreTace de l'annöe 1872. Roponse ä Monsieur Renan"):4 C'a 6te, tous les jours, un interview nouveau, oü, en son indignation grandissante d'heure en heure, il declarait [...]. Peut-etre M. Renan a-t-il dit bien d'autres choses dans les interviews que je n'ai pas lus. (Goncourt 1956, Bd.2: 852; vgl. TLF, Bd. 10: 472)

Damit dient diese Stelle in linguistischer Hinsicht zwar als Hinweis darauf, dass der aus dem Englischen entlehnte Ausdruck auch maskulin gebraucht wurde. Als französischer Erstbeleg für interview kommt sie jedoch nicht in Frage. Damit bleibt als früheste Quelle des Substantivs interview im Französischen das Buch La vie publique en Angleterre, das der Journalist Paschal Grousset im Jahre 1884 unter dem Pseudonym Philippe Daryl veröffentlichte (TLF, Bd. 10: 472).5 Doch im Gegensatz dazu können mit Hilfe der eigenen Belegsammlung zwei Ableitungen des Ausdrucks interview früher datiert und eine davon bereits Mitte der 1870er Jahre in der französischen Pressesprache nachgewiesen werden. Auffallend

Die Stelle aus dem betreffenden Vorwort, das zunächst in der Presse erschien (Le Figaro, 21.2.1891; Goncourt 1956, Bd.2: 856), wird auch in Frantext irreführend angegeben: „Goncourt, Journal t.2; 1878, page 852; Goncourt ä Renan, 1872". Wie bereits Wartburg (FEW, Bd.18: 74), datiert Rey-Debove (1990: 437) den Erstbeleg auf das Jahr 1883; vgl. Bonnaffe (1920: 77).

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dabei ist, dass sich mit cet interviewer (Le Temps, 26.11.1876, S.2) und man intervieuwe (Le Voltaire, 6.5.1880, S.l) zunächst die Bezeichnungen für die an der sprachlichen Primärsituation beteiligten Akteure belegen lassen, bevor im Jahre 1884 erstmals der Ausdruck un interview im MATIN erscheint: Neben dem Erstbeleg des Anglizismus l'interviewer, gegen den sich die französische Entsprechung l'intervieweur (Le Siecle, 16.12.1890, S.2) offenbar zu keiner Zeit durchsetzen konnte, lässt sich damit auch der Gebrauch des Partizips interviewe bereits 10 Jahre früher als bisher nachweisen (vgl. Höfler 1982: 13l).6 Das Substantiv interview, das in der Tageszeitung LE MATIN schon 1884 als Zwischenzeile und 1888 erstmals im FIGARO als Überschrift verwendet wurde (Interview d'Adolphe Belot sur „Melinite ", 7.10.1888, S.l), erhielt damit sehr bald textsortenindizierende Wirkung. Auch sonst scheint der Ausdruck von Beginn an nicht nur die primäre Gesprächssituation, sondern zugleich das daraus resultierende Textprodukt zu bezeichnen. Bei dem Ausdruck interviewage handelt es sich schließlich um eine individuelle Wortschöpfung, die sich jedoch nicht habitualisiert hat: Lediglich im Journal des Goncourt, dessen Glossar die Vorliebe der beiden Schriftsteller für Neologismen widerspiegelt, finden sich zwei Einzelbelege aus den Jahren 1887 und 1889 (Goncourt 1956, Bd.3: 695 und 908). So hat der Ausdruck interviewage, der nach dem Vorbild von report-age gebildet wird und damit auf die Verwandtschaft der beiden journalistischen Texttraditionen hinweist (vgl. Kap. 7), zu keiner Zeit als wirkliches Synonym für interview gedient (vgl. TLF, Bd. 10: 472; DHLF: 1045). Etymologischer „Re-Import" FRANZÖSISCH

ENGLISCH

entrevue (1498) cet interviewer (1876) un interview (1884)

^. ^

interview (1514) the interviewer (1869) an interview (1869)

Die ersten französischen Wörterbücher, die den Anglizismus interview aufnahmen, sind der Grand dictionnaire universe l du 79* siede und der Dictionnaire general de la langue franqaise? Während das Universallexikon von Larousse in seinem zweiten Ergänzungsband von 1890 der neuen journalistischen Handlungsform einen ausführlichen Beitrag widmet und darin insbesondere auf Entstehung und Akzeptanz des Interviews in Frankreich eingeht (Larousse, Bd. 17: 1438), beschränken sich Hatzfeld und Darmesteter im zweiten Band ihres Wörterbuchs aus dem Jahre 1893 auf eine kurze Definition. Dagegen weisen weder die Originalausgabe des Wörterbuchs von Littri (1863-1872), noch die zweite Auflage des Dictionnaire universe! Frantext verzeichnet im 20. Jahrhundert lediglich vier und im 19. nicht einen einzigen Beleg für den Ausdruck intervieweur. Für die dem Partizip zugrunde liegende Verbform interviewer konnte kein älterer Beleg gefunden werden als das 1883 in der satirischen Zeitschrift LE TRIBOULET erschienene Zitat (TLF, Bd. 10: 472). Delvau (1883: 524) verzeichnet im Supplement seines Dictionnaire de la langue verte bereits den Ausdruck interwiever (sie).

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des literatures von Gustave Vapereau aus dem Jahre 1884 einen entsprechenden Eintrag auf. Dass die französischen Lexika der sprachlichen Praxis erst mit großer zeitlicher Verzögerung gerecht wurden (die Akademie sollte den Anglizismus interview erst 1935 in der achten Auflage ihres Wörterbuchs aufnehmen), beklagte schon Anatole France. Der Schriftsteller, der den sprachwissenschaftlichen Aspekt des Interviews analysierte (la question philologique de l'interview), wies bereits 1894 darauf hin, dass sich der aus dem Englischen entlehnte Ausdruck längst im französischen Sprachgebrauch etabliert habe: L'interview est ä l'ordre du jour, et en dispute beaucoup. Ce mot d'interview, qui nous est si familier, n'est pas dans Littre. Et c'est une grande preuve de cette que les langues changent sans cesse, comme les mceurs, et qu'un dictionnaire, si nouveau qu'il soit, ne donne que l'6tat ancien du langage. II est visible qu'interview est un terme anglais, qui s'est intercalo dans notre langue sans modifier ses formes originaires, tant graphique que phonotique. Nous ecrivons interview et nous prononcons interviou. Tout dictionnaire anglais-francais, a dofaut du Littre, vous enseignera qu'interview signifie entrevue, conference. Un interview est proprement une entrevue dans laquelle une personne tres connue [...] confere avec un journaliste et plus specialement avec un reporter, un Chincholle, sur un ovonement rocent. (Les Annales politiques et litteraires, 26.8.1894, S.131; Hervorh. im Orig.)

Wie einige Beispiele aus den 1880er Jahren zeigen, herrschte zunächst Unsicherheit über die richtige Schreibweise des englischen Ausdrucks: man intervieuwe (Le Voltaire, 6.5.1880, S.l), interwiever (Delvau 1883: 524) oder l'interwiew (Lockroy 1889: 3). Und Maupassant schrieb 1885 im Manuskript des Bel-Ami: Dis done, Saint-Potin, ä quelle heure vas-tu interwiever [sic] nos gens? [...] J'en ai dejä interwievo [sic] cinq cents de ces Chinois, Persons, Hindous, Chiliens, Japonais et autres. Us ropondent tous la meme chose, d'apres moi. Je n'ai qu'ä reprendre mon article sur le dernier venu et ä le copier mot pour mot. (Maupassant 1987: 241; 244)*

Neben der Orthografie-Frage, die mit der Aufnahme des Anglizismus in den Grand dictionnaire universel von Larousse im Jahre 1890 lexikografisch entschieden wurde, waren sich Journalisten, Schriftsteller und Linguisten lange Zeit uneinig über das grammatische Geschlecht von interview. Denn als Substantiv, das aus dem Englischen entlehnt wurde, zugleich aber eine erkennbare französische Wurzel besitzt, stellte sich in der zeitgenössischen Praxis der Genus-Gebrauch problematisch dar. Während der Grand dictionnaire universel bereits 1890 das Substantiv interview mit femininem Artikel auswies, folgten Hatzfeld und Darmesteter in ihrem linguistisch orientierten Wörterbuch (1893) der allgemeinen Sprachregel, nach der aus dem Englischen entlehnte Substantive im Französischen das maskuline Genus erhalten. Noch im Jahr 1894 stellte der Schriftsteller Anatole France in dieser Frage fest: On a remarquo quelque hesitation dans le genre qu'il faut dormer en francais au mot interview. Certains le fönt du feminin et disent une longue interview, J'ai sous les yeux un article de Eclair oü le mot au contraire est masculin. Ce journal procisoment excelle dans l'interview, et il me ropugne d'autant moins de suivre son exemple que c'est, je crois, le *

Der Herausgeber führt die Unsicherheit in der Orthografie darauf zurück, dass der Ausdruck im Jahre 1885 noch nicht etabliert und lexikalisiert gewesen sei (Maupassant 1987: 1370f).

56 plus ropandu et le plus soutenable. Le mot n'a point de genre en anglais, et c'est gonoralement par le masculin que nous rendons le neutrc des langues otrangeres. Nous dirons done un bei interview. Les interviews de M. Chincholle sont lesplus beaux du monde. (Les Annales politiques et litteraires, 26.8.1894, S.131; Hervorh. im Orig.)

Mit dem linguistischen Argument plädierte bereits drei Jahre zuvor der Verfasser eines Leserbriefes in der wissenschaftlichen Zeitschrift L'lNTERMEDlAiRE für den Gebrauch des männlichen Artikels, wies zugleich aber auf den gegenläufigen Einfluss des französischen Etymons hin: La plupart de nos joumaux font ce mot du ffcminin. C'est sans doute le genre du mot francais «entrevue» qui aura influo. Mais ceci est, a mon sens, une erreur. Comme nous n'avons qu'un genre pour le masculin et le neutre, tous les mots tires du neutre anglais devraient &re, sans exception, mis au masculin. Teile otait, je crois, la regle uniformoment suiviejusqu'ici. (L'Intermediaire 1891, Bd.8,Nr.l88,Nouv. Sorte: 801)

Wie die zeitgenössischen Pressebelege dokumentieren, scheint sich der Gebrauch des femininen Genus ab 1891 zu habitualisieren.9 Bis zu dieser Zeit setzten die Pariser Tageszeitungen entweder ausschließlich den maskulinen Artikel, wodurch interview als Anglizismus deutlich markiert wurde (Giffard 1887), oder verwendeten häufig beide Formen parallel - wie im Falle von LE FIGARO und LE TEMPS: - D'apres une interview qu'un rodacteur du Temps a prise a M. de Goncourt, tous les personnages de Renee Mauperin auraient pris sur le vif de la vie reelle. (Le Figaro, 19.11.1886,8.3) - Puis c'est M. Zola qui se ddmene comme un beau diable et profite d'un interview du Gil Blas pour plaider les circonstances attonuantes. (Le Figaro, 21.8.1887, S.2) - Le Jour a publio et nous avons reproduit en partie une interview avec la veuve de Napoleon III. (Le Temps, 22.6.1891, S.2) - Je suis heureux, a dit M. Eyschen, de me prdter ä un interview dans le but d'oclairer les Beiges sur les sentiments du Luxembourg et de son grand-due pour la Belgique. (Le Temps, 25.6.1891, S.I; Hervorh. im Orig.)

Letztlich scheint die Abstammung von entrevue, die den zeitgenössischen Sprechern zweifellos bewusst war, die Genus-Wahl von interview entschieden zu haben (TLF, Bd. 10: 472). Darüber hinaus entfiel in dem Augenblick, da sich der Anglizismus in der französischen Pressesprache habitualisierte und als gängige Bezeichnung der journalistischen Texttradition etablierte, die Notwendigkeit, die Entlehnung als solche zu markieren (vgl. Kap. 2). Über den Bedeutungswandel des Ausdrucks interview stellt Alain Rey (DHLF: 1045), eine klare Vermutung an. Danach habe der Anglizismus im Französischen zunächst nur die primäre Gesprächssituation bezeichnet. Erst sehr viel später - für die erste Bedeutung wird 1884 und für die zweite das Jahr 1906 als Erstbeleg angegeben - habe sich der Begriff mittels Metonymie auf den veröffentlichten Zeitungsartikel ausgedehnt, der aus der sprachlichen Interaktion hervorgeht. Aufgrund von Bedeutungserweiterung bezeichne der Ausdruck schließlich zudem das journalistische Genre Interview. Für diese Hypothese, die im Folgenden anhand der eigenen Allerdings lassen sich im Journal des Goncourt nach 1891 neben dem Überwiegenden Gebrauch des femininen Artikels noch Einzelbelege für das maskuline Genus finden - so im Juni 1894 (Goncourt 1956, Bd.4: 604), im August 1895 (Bd.4: 832) und im Februar 1896(Bd.4:932).

57 Belegsammlung überprüft und differenziert werden soll, spricht zunächst, dass alle drei Bedeutungen in der heutigen Sprachpraxis gebräuchlich sind. Denn laut Grand Robert (21992, Bd.5: 697f.) bezeichnet interview: 1. Entrevue au cours de laquelle un journaliste interroge une personne (goneialement en vue) sur sä vie, ses projets, ses opinions..., dans l'intention de publier une relation de l'entretien. 2. Article qui rapporte le dialogue des deux interlocuteurs en donnant la plus large place aux roponses de l'interviewo. 3. Le genre joumalistique que constituent les interviews.

Aus journalistischer Perspektive ist diese Definition allerdings insofern zu präzisieren, als in der modernen Zeitungspraxis nicht nur zwischen dem primären Gespräch und dessen Veröffentlichung differenziert, sondern darüber hinaus vor allem die Recherchemethode von der Darstellungsform abgegrenzt wird. Inwiefern sich die Bedeutung des Ausdrucks interview von der des in der aktuellen französischen Pressesprache ebenfalls gebräuchlichen entretien unterscheidet, wird an entsprechender Stelle analysiert (Kap. 6). Entgegen der Darstellung des DHLF wird hier davon ausgegangen, dass sich zumindest die erste und zweite Bedeutung des Substantivs interview (die sprachliche Interaktion und deren Veröffentlichung) nicht erst in einem längeren Prozess herausgebildet haben, sondern zur Zeit der Entlehnung bereits im Englischen bestanden und von dort mit dem Ausdruck ins Französische importiert wurden. Darüber hinaus haben die Erstbelege gezeigt, dass mit cet interviewer (1876) zuerst ein neuer Typus von Journalist bezeichnet wurde, welcher eine spezifische journalistische Tätigkeit ausübt. Diese Entwicklung entspricht - wenn auch in unterschiedlicher zeitlicher Dimension - dem Beispiel von reporter und reportage und führt zu einer wichtigen Hypothese über die Genese dieser journalistischen Texttraditionen: Danach haben die zeitgenössischen Sprecher zunächst die primäre Tätigkeit und deren Akteure (das Befragen von Personen durch den interviewer bzw. das Sammeln von Informationen durch den reporter) wahrgenommen und erst in einem zweiten Schritt bestimmte Textformen mit dem neuen journalistischen Handlungskonzept in Verbindung gebracht und als dessen Produkt identifiziert.10 Bis 1884 wurden in der französischen Presse Zeitungsartikel, die das Gespräch zwischen Journalist und einem Gesprächspartner referierten, nicht als interview bezeichnet. Vielmehr wurden in diesem Zusammenhang die Ausdrücke entrevue, entretien, conversation, visite oder interrogatoire benutzt. Als dann das Substantiv interview erstmals im Französischen erschien, diente es sogleich dazu, sowohl die gegenseitige Interaktion des Journalisten und seines Gesprächspartners als auch den veröffentlichten Zeitungstext zu bezeichnen. Somit umfasste der Begriff interview im Jahre 1884 bereits beide Ebenen der doppelten Kommunikationssituation. Um diese These zu untermauern, werden die vorliegenden Begriffsbelege aus der französischen Presse analysiert und zuvor ein kurzer Blick auf die sprachliche Situation im Englischen geworfen.

10

Während im Falle von interviewer und interview beide Substantive aus dem Englischen stammen, wurde aus dem Anglizismus reporter mit reportage eine eigene französische Ableitung gebildet. Wie noch zu zeigen ist, erscheint der interviewer im zeitgenössischen Sprachgebrauch als spezieller Typus des reporter (vgl. Kap. 7).

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Nach Auskunft des Oxford English Dictionary sind sowohl das Verb interview als auch die Substantive the interview und the interviewer erstmals 1869 in der amerikanischen Pressesprache zur Bezeichnung des journalistischen Handlungskonzepts belegt (OED 21989, Bd.8: 3f.). Zwar sind die Belege des Wörterbuchs allein nicht differenziert und aussagekräftig genug für eine genauere begriffsgeschichtliche Untersuchung. Doch verdeutlicht die englische Definition des journalistischen Begriffs interview, dass dieser die persönliche Begegnung zwischen Journalist und Befragtem fokussiert: „a meeting between a representative of the press and some one from whom he seeks to obtain statements for publication".11 Vor diesem Hintergrund lässt sich der Bedeutungswandel von interview mit dem Verfahren der Metonymie erklären. Danach bildet die face-to-face Begegnung des Journalisten mit einer Person einen individuellen Sonderfall einer Zusammenkunft von Angesicht zu Angesicht und damit der Ursprungsbedeutung sowohl des englischen interview als auch des französischen entrevue. Hierbei handelt es sich um eine metonymische Übertragung, die - in der Terminologie Blanks (1997: 251-253) - auf einer kopräsenten Kontiguitätsrelation des Typs Teil-Ganzes bzw. Genus-Species basiert. Für die konkrete historische Praxis stellt sich allerdings die Frage, ob die Bedeutung 'journalistisches Interview' als ein spezifischer Sonderfall einer persönlichen Begegnung im Allgemeinen oder einer politischen Zusammenkunft im Besonderen entstanden ist. Im zweiten Fall ließe sich aus der semantischen Analyse eine wichtige Hypothese für die Genese der Texttradition ableiten, nach der das Politiker-Interview den historischen „Prototypen" des journalistischen Interviews bildete. Diese Annahme wird sowohl durch die historische Praxis der frühen amerikanischen Präsidenteninterviews als auch durch den Begriffsbeleg von 1869 gestützt, der interview als eine Interaktion von Politiker und Journalist definiert: The interview, as at present managed, is generally the joint product of some humbug of a hack politician and another humbug of a newspaper reporter. (The Nation, 28.1.1869, S.66f, zit.n. OED 21989, Bd.8: 3; vgl. Schudson 1994: 569)

Der Umstand, dass der Journalist sein Gegenüber zu sprachlichen Äußerungen motiviert und dessen Redebeiträge in einem Presseartikel wiedergibt, spielt für die Benennung der journalistischen Handlungsform und den damit verbundenen Bedeutungswandel von interview, der im Englischen eine Polysemie zur Folge hat, offensichtlich keine Rolle. Ausschlaggebend ist allein die persönliche Begegnung der beiden Akteure. Wenn der Ausdruck interview darüber hinaus den veröffentlichten Zeitungstext bezeichnet, so liegt ebenfalls Metonymie vor: Da der Artikel das Produkt der vorausgegangenen Interaktion darstellt, handelt es sich in diesem Fall um eine metonymische Verwendung, die nach Blank auf einer sukzessiven Kontiguitätsrelation des Typs Handlung-Ergebnis beruht. Wie in der Folge zu zeigen ist, „funktioniert" dieses durchaus gängige sprachliche Verfahren jedoch

Die englische Begriffsdefinition differenziert nicht zwischen der sprachlichen Interaktion, dem veröffentlichten Text und dem journalistischen Genre (OED 21989, Bd.8: 3). Laut Nilsson (1971: 710f.) wurde der Ausdruck interview in der US-Presse noch in den 1860er Jahren in der ursprunglichen Bedeutung 'meeting of persons face to face' benutzt und bezeichnete sowohl die Begegnung im Allgemeinen als auch die zwischen einem Journalisten und einer Person im Besonderen.

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nicht in jedem Fall. So können wie interview auch conversation, entretien, interrogatoire und reportage auf diese Weise einen geschriebenen Text als Produkt einer sprachlichen Handlung bezeichnen, nicht aber die Ausdrücke entrevue und visite.12 Dass sich der skizzierte Bedeutungswandel von interview bereits vollzogen hatte, als der englische Ausdruck ins Französische übernommen wurde, lässt sich an dem vorliegenden Erstbeleg aus dem Jahre 1884 verdeutlichen: Nous publions un interview que M. de Goncourt aurait eu avec le reporter d'un journal etranger. On remarquera que M. de Goncourt, dans cette conversation, n'a fait que reprendre, a peu de mots pros, la partie vraiment sorieuse et substantielle de sä proface. (Le Matin, 25.4.1884, S.l)13

In diesem Fall bezeichnet das Substantiv sowohl die sprachliche Interaktion zwischen Journalist und Schriftsteller, die durch ein Vergangenheitstempus als zeitlich vorausgehende Handlung markiert ist, als auch das daraus resultierende und veröffentlichte Textprodukt. Somit umfasst der Anglizismus interview bereits im Augenblick seiner Entlehnung die primäre und sekundäre Kommunikationssituation der journalistischen Handlungsform. Wie weitere Belege aus der französischen Presse dokumentieren, hat sich der Begriff um 1890 in dieser doppelten Bedeutung habitualisiert: - Le New York Herald public ce matin un interview qu'un de ses correspondants ä Rome a eu avec L6on XIII. Nous en detachons le passage suivant. (Le Matin, 20.4.1890, S.2) - M. Noel Amaudru nous communique l'interview suivante qu'il a eue avec M. Alfred Naquet et que nous inserons sur sä demande. (Le Siecle, 8.11.1890, S. 1) - Le Journal Djibouti public une intoressante interview qu'un de ses rodacteurs a eue avec M. Lagarde. (Le Temps, 15.11.1899, S.2) - La Correspondencia de Espana publie [...] une longue interview prise ä un diplomate au sujet de la question du Maroc. Nous en extrayons la partie essentielle que voici textuellement. (Le Figaro, 13.11.1911, S.lf.)

Generell werden sowohl die Formulierung avoir oderprendre une interview, die das vorausgegangene Gespräch bezeichnet und daher in der Regel in einem Tempus der Vergangenheit steht, als auch die Wendung publier un interview, die auf den gedruckten Text verweist, dem Gebrauch des Ausdrucks conversation nachgebildet. Auch dieser kann sowohl das gesprochene als auch das verschriftlichte Gespräch bezeichnen: La Paix vient de publier une conversation qu'un de ses rodacteurs a eue avec notre eminent collaborateur M. Emile Zola. Nous en extrayons les passages suivants qu'on ne lira pas sans interet. (Le Voltaire, 10.5.1880, S.2f.)

Entgegen der traditionellen Einteilung in temporale, räumliche und kausale Kontiguitatsbeziehungen unterscheidet (Blank 1997: 253) zwischen kopräsenten und sukzessiven Relationen: „Eine Koprasenz-Relation beruht auf der Gleichzeitigkeit ihrer Elemente, eine Sukzessions-Relation auf einem räumlichen, zeitlichen oder logischen Nacheinander." Die Form aurait eu ist im vorliegenden Fall doppeldeutig: Einerseits kann sie als Beispiel des distanzierenden conditionneljournalistique gewertet werden, andererseits weist sie auf den fiktiven Charakter des nachfolgenden Textes hin, bei dem es sich um ein von dem Dramatiker Henry Becque verfasstes und erfundenes Interview mit dem Schriftsteller Edmond de Goncourt handelt. In der späteren Textausgabe des Autors wurde das Genus von interview angepasst (vgl. Becque 1979: 120-124).

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Ebenso wie publier zielen auch die Verben lire, rediger und paraitre, die sich seit 1890 in Verbindung mit dem Substantiv interview in der französischen Presse und Literatur nachweisen lassen, auf das journalistische Textprodukt und damit auf die sekundäre Kommunikationssituation des Interviews: - Quelques jours plus tard, j'otais tout surpris de recevoir un rodacteur de Eclair qui m'apportait une interview r6dig6e par M. Amaudru, interview se rapportant ä la visite qu'il m'avait faite. [...] Je n'ai done pas 6td peu de lire ce matin dans le Siede interview mime quej'avais dochnieet qui avait rdcrite. (La Presse, 10.11.1890, S.l) - Vous avez lu interview de La France, ä propos de la publication de votre Journal sur le Siege et la Commune? (Goncourt 1956, Bd.3: 1250; 28.10.1890) - Le lendemain, l'interview a pam, et les amis de l'interviewo d'accourir chez lui. (Le Journal amüsant, 27.9.1890, S.3; Höfler 1982: 131)

Indem der Ausdruck interview seit Mitte der 1880er Jahre neben der primären Gesprächssituation auch den veröffentlichten Zeitungsartikel als deren schriftliches Produkt benennt, werden bereits einzelne Exemplare einer neuen Texttradition identifiziert. Ausgehend von diesem begriffsanalytischen Ergebnis bleibt jedoch zu fragen, ab wann sich das Interview als journalistische Textsorte und der Ausdruck interview als deren gängige Bezeichnung im zeitgenössischen Sprachgebrauch etablierten. Während sich die Frühbelege des Anglizismus und seiner Ableitungen noch explizit auf ein ausländisches Handlungskonzept beziehen (Le Temps, 26.11. 1876; Laveleye 1881), das durch den Gebrauch des Fremdwortes als solches gekennzeichnet wird, definiert der Journalist Jean Cornöly den Begriff interview bereits im Jahre 1885 als eine journalistische Handlungsform, die sich inzwischen auch in der französischen Presse habitualisiert habe: Ce mode de consultation s'appelle Finterview, et ceux qui le pratiquent s'intitulent interviewers. (Le Matin, 26.3.1885, S.l)

Schließlich finden sich um 1890 vermehrt metakommunikative Äußerungen, die darauf hinweisen, dass sich der Ausdruck interview zu dieser Zeit bereits in der französischen Presse zur Benennung der neuen Texttradition etabliert hat. Zugleich zeigen Formulierungen wie ce mode de consultation (1885), les precedes de l'interview oder un precede d'investigation (beide 1891) eine schrittweise Professionalisierung der journalistischen Handlungsform an: - La Presse public, en outre, tous les jours: quatre articles de grand reportage, interviews, enqu&es, contenant des renseignements originaux et spociaux. (La Presse, 3.11.1890, S. l) - Un journal, appliquant avec ingoniosito les procodos de ('interview ä la critique littoraire, a eu l'idoe de demander ä un certain nombre de litterateurs leur opinion sur Foeuvre de M. Octave Feuillet qui vient de mourir. (L'Echo de Paris, 1.1.1891, S.l) - Je tiens tout d'abord ä m'excuser aupres de mon excellent collaborateur F. Xau de lui avoir emprunte, pour cette fois, un procodo d'investigation dans 1'exercice duquel il est passo maitre: j'ai nornmo l'interview! (L'Echo de Paris, 9.1.1891, S.l) - L'interview est devenu un danger public, et, quelque respect qu'ils aient pour la presse, les hommes politiques seront bientot force's de consigner ä la porte de chez eux quiconque tient une plume. (La Presse, 10.11.1890, S.l)

Darüber hinaus scheint es, dass das journalistische Mittel zunehmend auch von den Befragten „entdeckt" und für persönliche Zwecke „instrumentalisiert" wurde:

61 - Puis c'est M. Zola qui [...] profile d'un interview du Gil Bias pour plaider les circonstances attonuantes. (Le Figaro, 21.8.1887, S.2) voit dans des interviews [...] un moyen de propagation intellectuelle tout nouveau. (Goncourt 1956, Bd.4: 8; 4.1.1891) - C'est que la publication de ('interview de Huret dans le Figaro doit Stre une vengeance de Magnard contre Zola. (Goncourt 1956, Bd.4: 490f; Dezember 1893)14

Als erstes Fazit der historischen Begriffsanalyse bleibt festzuhalten, dass sich der aus dem Englischen entlehnte Ausdruck in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre in der französischen Pressesprache habitualisiert und von Beginn an sowohl die primäre Gesprächssituation als auch den veröffentlichten Interviewtext umfasst. Wenn im Jahre 1890 interview bereits die gängige Bezeichnung der neuen journalistischen Handlungsform darstellt, so kann die Herausbildung des Interviews zu einer eigenständigen und professionalisierten Textsorte spätestens zu diesem Zeitpunkt als abgeschlossen betrachtet werden. Die Frage, wie weit die Anfänge dieser journalistischen Texttradition in der französischen Presse zurückreichen und in welchem Abstand die sprachliche Bezeichnung der texttraditionellen Entwicklung nachfolgt, ist mit Hilfe der Textanalyse zu beantworten.

2. Entrevue Nach übereinstimmender Auskunft der Wörterbücher hat sich die Bedeutung von entrevue seit dem Mittelalter nicht verändert. Danach umfasst der Begriff a) eine verabredete Zusammenkunft von mindestens zwei Personen, die b) dem Zweck einer sprachlichen Interaktion dient: „Rencontre concerted entre personnes qui ont ä parier, ä trailer une affaire ensemble" (GrR, Bd.4: 21; vgl. DAF 61854, Larousse 1870, Littro 1874, Hatzfeld/Darmesteter 1893, Godefroy 1898). Allerdings sind die beiden Teilbedeutungen, für die als mögliche Synonyme entweder a) visite oder b) entretien angegeben werden (siehe entsprechende Abschnitte), keineswegs gleichrangig. Wie der Eintrag des TLF (Bd.7: 1254) belegt, der den Redeaustausch in seiner Begriffsdefinition nicht berücksichtigt, liegt der Fokus vielmehr auf fax faceto-face Begegnung. Diese bildet demnach die Hauptbedeutung, der die sprachliche Interaktion als deren möglicher Zweck eindeutig nachgeordnet ist. Darüber hinaus bezeichnet entrevue insbesondere solche Begegnungen, wie sie zwischen prominenten Politikern und Staatsmännern stattfinden (DHLF: 2278). Wenn zudem auf die Verwandtschaft mit interview hingewiesen wird (GrR), so stellt entrevue in der modernen Pressesprache dennoch kein Synonym des englischen Begriffs dar:15 Weder in der aktuellen Zeitungspraxis, noch in den journalistischen Schon die seit 1883 belegte Wendung se faire interviewer (Le Triboulet 16.9.1883, S.4; vgl. Goncourt 1956, Bd.4: 22) deutet im Gegensatz zu se laisser interviewer (Bourget 1891: 133; vgl. Goncourt 1956, Bd.4: 864) eine aktive und intentionale Handlung des Befragten an. Auch Larousse (Bd.7: 660) fuhrt die Begegnung bedeutender Staatsmanner als gangige Bedeutung auf (entrevues hisloriques). Dagegen ist entrevue in den historischen Lexika zu keiner Zeit als journalistische oder literarische Gattungsbezeichnung belegt (vgl. Hatzfeld/ Darmesteter 1893, Littro 1874; kein Eintrag in Vapereau 21884 oder 1876).

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Lehrbüchern (Aslangul 1991; Albert 1989; Martin-Lagardette 1994; Voirol 1990) wird der französische Ausdruck zur Bezeichnung der journalistischen Texttradition verwendet. Eine seltene Ausnahme bildet das Handbuch des kanadischen Autors Aurolien Leclerc, dessen Eintrag jedoch eher als Ausdruck ideologisch motivierter Sprachpolitik denn als Wiedergabe der pressesprachlichen Realität zu werten ist. Zudem zielt Leclercs Definition des Begriffs entrevue allein auf die journalistische Recherchemethode:16 Le terme disigne un entretien plus ou moins long entre un joumaliste et une personneressource volontaire, entretien qui a pour but de faire ressortir des informations, des doclarations importantes ou des anecdotes destinees ä une publication quelconque. (Leclerc 1991:209)

Dagegen nimmt das Interview-Handbuch der Pariser Joumalistenschule (CFPJ) eine klare begriffliche Unterscheidung zwischen entrevue und interview vor, die der Autor historisch begründet: L'interview est un mot de franglais qui a dofinitivement supplanto «l'entrevue» fran9aise. On peut solliciter une entrevue d'une autorito, d'un notaire ou d'un chef de service, sans que rien n'en sorte que badins propos de saison. Les Anglo-Saxons ont rentabiliso nos entrevues fran9aises. L'interview, c'est en quelque sorte une entrevue ä but lucratif. II en resultera gonoralement un article de journal. (Montant 1995: 9)

Anders als in der heutigen Praxis und obwohl in keinem Wörterbuch verzeichnet, hat der französische Ausdruck entrevue in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr wohl mit dem englischen interview um die Bezeichnung der neuen journalistischen Texttradition konkurriert. So erscheint entrevue in den 80er und frühen 90er Jahren häufig in der Überschrift von Interviewtexten: Entrevue avec Sir Charles Dilke Une entrevue avec Sir Henry Parkes, ex-ministre

Le Voltaire, 6.5.1880, S. l Le Matin, 7.3.1884, S. l

Entrevue avec M. Constans, rapporteur de la commission

Le Matin, 11.3.1885, S. l

Une entrevue avec le docteur Bertin Une entrevue avec le Patriarche de Jerusalem

L'Echo de P., 28.1.1891, S.2 Le Matin, 29.11.1894, S. l

Und obwohl LE MATIN 1884 den Erstbeleg für das Substantiv interview in der französischen Presse liefert, zog diese Zeitung in den 1880er Jahren generell den französischen Ausdruck vor. Allerdings zeichnete sich bereits in den 1890er Jahren ab, dass entrevue den Anglizismus, der spätestens seit der Aufnahme ins Wörterbuch der Akademie im Jahre 1935 selbst von Sprachpuristen akzeptiert wird (ReyDebove 1990: 437f), nicht in dessen pressespezifischer Bedeutung ersetzen konnte. Die Frage, ob die beiden Ausdrücke in der französischen Presse des 19. Jahrhunderts wirklich synonym verwendet wurden und warum sich schließlich der Anglizismus gegen die französische Form durchsetzte, ist anhand der historischen Belege zu beantworten. Inwiefern hat sich der Gebrauch von interview als attraktiver und effizienter erwiesen, so dass der englische Ausdruck sein französisches Etymon entrevue als Bezeichnung der journalistischen Texttradition verdrängen konnte?

16

Ob und in welcher Weise der Ausdruck entrevue speziell in der tranko-kanadischen Pressesprache verwendet wird, kann hier nicht abschließend geklärt werden.

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Als Ausgangspunkt einer möglichen Erklärung ist anzunehmen, dass in dem Augenblick, als in der französischen Presse die neue journalistische Handlungsform praktiziert oder Interviews aus der amerikanischen Presse zitiert werden, das kommunikative Bedürfnis entsteht, das neue Konzept zu versprachlichen. Eine Möglichkeit bildet entrevue, das die verabredete Begegnung zweier Personen zum gegenseitigen sprachlichen Austausch bezeichnet. In diesem Sinne verwendet der Journalist Adrien Marx entrevue in einem seiner frühen Interviewtexte aus dem Jahre 1866 und damit drei Jahre, bevor die neue journalistische Handlungsform in der amerikanischen Presse „auf den Begriff gebracht" wird: Apres m'etre retird, je roulai dans ma töte article qui resulterait de cette entrevue, et je m'apercus qu'il manquerait totalement des anecdotes, sans lesquelles toute obauche parait pale, et toute biographic semble seche. (L'Evonement, 24.3.1866, S.3)

Wie ein aus der US-Presse übernommener Interviewtext von 1873 zeigt, scheint es auch nach 1869 zunächst praktikabel und aus sprachpflegerischen Motiven geboten, den englischen Ausdruck interview auf seine in der zeitgenössischen Sprachwahrnehmung deutlich erkennbare Wurzel zurückzufuhren und ins Französische zu übertragen. In beiden Fällen lässt sich zudem die sprachliche Unterscheidung zwischen dem veröffentlichten Zeitungstext (article) einerseits und der vorausgegangenen Begegnung (entrevue oder visite) andererseits beobachten, die für die weitere Begriffsentwicklung von Bedeutung ist: II y a quelque temps, nous avons cito les principaux passages d'un article [du] New York Herald sur M. Gambetta. Aujourd'hui, le mäme journal nous apporte un article du meine correspondent sur une visite qu'il a faite ä M. Guizot. [...] Cette entrevue ayant eu lieu quelques jours seulement apres les funorailles de Napoloon III, M. Guizot a exprimo d'une facon tres vive son opinion sur le dofunt empereur. (Le Figaro, 7.3.1873, S.l)

Damit aber entsteht ein kommunikatives Problem, da die Bedeutung des Begriffs in der französischen Presse bereits durch eine andere spezifische Verwendung geprägt ist. Denn in der journalistischen Praxis des 19. Jahrhunderts bezeichnet entrevue ganz im Sinne der Ursprungsbedeutung die offizielle Zusammenkunft von Politikern und Staatsoberhäuptern und damit einen zentralen Ereignistyp der zeitgenössischen Berichterstattung: Depuis quelques jours, les correspondences des feuilles etrangeres parlent avec plus ou moins d'assurance de la possibilite* d'une prochame entrevue de empereur des Fransais et l'empereur d'Autriche. (La Presse, 4.7.1856, S.l)17

Vor diesem Hintergrund erscheint der Begriff entrevue insbesondere dann unspezifisch und mehrdeutig, wenn es sich um eine Begegnung zwischen Journalist und Politiker handelt. Aus französischer Perspektive wäre in diesen Fällen der Gebrauch des Anglizismus hilfreich, um zwischen der neuen journalistischen Handlungsform und dem Ereignistyp „politische Zusammenkunft" begrifflich zu unterscheiden:

So auch die Artikel-Überschriften L 'Entrevue. Du Prince de Galles et de M. de Gambetta (Le Temps, 5.11.1881, S.2) und L'Entrevue des deux empereurs (L'Echo de Paris, 8.10. 1890,8.2).

64 Voici la verito sur ce point, grave, il faut le reconnaitre. Elle ressort d'une entrevue que nous avons eue hier avec M. de Saint-Vallier. [...] M. de Saint-Vallier a eu hier une entrevue avec M. Gambetta. Le nouveau ministre a refu 1'ambassadeur domissionnaire avec politesse. Mais 1'entretien a6t6 forcement un peu bref. (Le Figaro, 20.11.1881, S.I)18 Auf diese Weise würde das Problem der Polysemie, wie es im Englischen seit 1869 besteht, in der französischen Pressesprache vermieden. Wie das folgende Textzitat aus dem FIGARO des Jahres 1871 und die in der Londoner TIMES erschienene Übersetzung zeigen, wurde zu dieser Zeit in keiner der beiden Sprachen zwischen einer politischen Audienz und der journalistischen Handlungsform differenziert: — Avant que je partisse pour Lucerne, M. le due d'Aumale avait bien voulu m'accorder une assez longue entrevue. (Le Figaro, 21.11.1871,8.1 f.) - Before setting out, says M. de Villemessant, the Due d'Aumale had been kind enough to grant me an interview. (The Times, 22.11.1871, S.2) Gegenüber dem französischen Ausdruck besitzt der Anglizismus zum Zeitpunkt der Entlehnung einen entscheidenden Vorteil: Während entrevue im Französischen erst allmählich den gleichen Bedeutungswandel wie interview im Englischen hätte durchlaufen müssen (vgl. Kap. 1), war es in der französischen Praxis ökonomischer und effizienter, den englischen Ausdruck in seiner spezifisch journalistischen Bedeutung zu übernehmen und damit eine klare begriffliche Unterscheidung zu erzielen. Darüber hinaus stellte das Englische mit to interview und the interviewer (beide 1869) ein Repertoire bereit, aus dem sich im Französischen die entsprechenden Formen fur Verb (interviewer) und Substantiv (/ 'interviewer) ableiten ließen. Dagegen schied das französische Verb entrevoir für diese Zwecke aus, da es im Gegensatz zum Substantiv entrevue seine ursprüngliche Bedeutung 'begegnen/besuchen' im zeitgenössischen Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts bereits lange verloren hatte (DHLF: 2278).19 Der Umstand, dass sich der Anglizismus interview im Französischen in relativ kurzer Zeit zur Bezeichnung der journalistischen Texttradition habitualisiert und gegen das bereits existierende entrevue durchsetzt, lässt sich semantisch begründen. So dokumentieren die Belege aus dem Zeitraum, in dem die beiden Ausdrücke um die Bezeichnung der journalistischen Texttradition konkurrieren (etwa 1884 bis 1894), dass der französische Begriff in der Verwendungspraxis eine erhebliche Bedeutungseinschränkung und damit eine deutliche Schwäche gegenüber dem Anglizismus aufweist: Während das entlehnte interview in der französischen Presse von Beginn an sowohl die primäre sprachliche Interaktion als auch das daraus resultierende Textprodukt bezeichnet (publier oder ecrire un interview), beschränkt sich die Bedeutung des französischen entrevue allein auf die face-to-face Begegnung. Fällt der Ausdruck dennoch im Zusammenhang mit einem veröffentlichten Interview, so wird eine sprachliche Umschreibung gewählt, die den BedeutungsunterDie Tatsache, dass der Autor Pierre Giffard hier den englischen Ausdruck vermeidet, könnte zudem durch seine sehr kritische Haltung gegenüber der amerikanischen InterviewPraxis motiviert sein (Giffard 1887: 348). Bereits Bonnaffo (1920: XXII) hat am Beispiel von interview darauf hingewiesen, dass entgegen der früheren Meinung aus dem Englischen entlehnte Wörter keineswegs isoliert bleiben, sondern durchaus nach den morphologischen Regeln des Französischen eine ganze Familie neuer Ableitungen bilden können.

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schied zu interview klar hervortreten lässt: „publier la relation d'une entrevue" (Le Journal, 24.11.1892, S.l) oder „publier le racit d'une entrevue" (Le Matin, 28.11. 1892, S. l). Dans le recit de interessante entrevue qu'il a eue avec M. Bradlaugh, notre correspondent de Londres parle des menaces de mort qui ont eto adressoes au doputo radical de Northampton. [...] Sur cette exclamation, ce cri de la fin, je quitte M. Bradlaugh qui me donne un vigoureux shake hands, et je cours rodiger le compte rendu de mon entrevue. (Le Voltaire, 15.1.1881,8.1)

Wenn diese Bedeutungseinschränkung von entrevue damit bereits vor der Entlehnung von interview besteht, so lassen sich insbesondere zu Beginn der 1890er Jahre viele Belege finden, in denen beide Ausdrücke parallel nebeneinander verwendet werden. In diesen Fällen bezeichnet entrevue durchweg die primäre Gesprächssituation innerhalb der journalistischen Handlungsform, für die ihrerseits gleichzeitig der Anglizismus interview benutzt wird. Diese Beobachtung wird durch ein weiteres sprachliches Indiz unterstützt: Während in den Überschriften dieser Zeit bereits die Wendung „interview de qn" üblich ist und signalisiert, dass sich die neue journalistische Handlungsform inzwischen zu einer eigenständigen Texttradition entwickelt hat, wird entrevue weiterhin ausschließlich mit der Präposition avec verwendet. Dies lässt darauf schließen, dass der Gebrauch des Ausdrucks entrevue stets die gegenseitige Interaktion zwischen den beiden Gesprächspartnern fokussiert, während interview die journalistische Texttradition bezeichnet: Les beautos de interview. L'interviewer ne doit pas fatiguer sä memoire ä retenir mot pour mot la conversation: mais qu'il se ponetre profondement de la passion ou du sentiment de son interlocuteur, et les mots pour restituer l'entrevue naitront spontanement dans son cerveau - inexacts peut-etre, mais vrais d'une supeiieure! (Le Figaro, 22.8.1890, S.I)

Gegen Mitte der 1890er Jahre scheint die Konkurrenzsituation der beiden Ausdrücke beendet. Im Gegensatz zum Englischen, wo eine klassische Polysemie des Ausdrucks interview vorliegt, wird jetzt in der französischen Pressesprache zwischen dem Ereignistyp 'politische Unterredung' (entrevue) einerseits und dem journalistischen Genre (interview) andererseits differenziert. Vor diesem Hintergrund bildet ein Beleg aus dem Jahre 1896 ein sprachliches Kuriosum, das die dargestellte Begriffsproblematik illustriert: Unter der Überschrift Une interview du Sultan zitiert die Zeitung LE TEMPS einen Artikel des NEW YORK HERALD. Obgleich der zeitgenössische französische Leser darunter zweifellos ein journalistisches Interview mit dem osmanischen Staatsoberhaupt erwarten musste, handelt es sich stattdessen um den Bericht über eine politische Audienz. Dabei ist dieser Einzelbeleg als ein individueller Übersetzungsfehler zu werten, der durch die „problematische Polysemie" (Blank 1997: 246) des englischen Wortes interview und durch die inflationäre Praxis dieser Zeit bedingt ist, Interviews anderer Zeitungen zu übernehmen oder zu zitieren:20

Für die Vermutung, dass es sich in dem vorliegenden Fall um eine sprachliche Verwechslung handelt, spricht zudem, dass ein Bedeutungswandel von interview im Französischen unökonomisch und störend wäre.

66 Une interview du sultan. Le doputo conservateur anglais T. Gibson Bowles, de passage ä Constantinople, a re?u vendredi en audience par le sultan, qui lui a parte en des termes que le New-York Herald rosume ainsi. (LeTemps, 23.11.18%, S.I)

Schließlich lassen die bisherigen Belege eine weitere Bedeutungsverschiebung im zeitgenössischen Gebrauch von entrevue erkennen. Bedingt durch die pressespezifische Bedeutung des Ereignistyps 'politische Zusammenkunft' wird der französische Begriff vorrangig auf Politiker-Interviews angewendet. Die Analyse historischer Interview-Überschriften stutzt diese Vermutung: Von insgesamt 13 Beispielen aus dem Zeitraum von 1880 bis 1894 ist die befragte Person in acht Fällen eindeutig ein politischer Entscheidungsträger; in den 1880er Jahren sogar in sechs von acht Fällen.21 In dem einzigen Beleg aus dem 20. Jahrhundert bezeichnet entrevue nicht die journalistische Texttradition, sondern ein Treffen des damaligen Premierministers Pompidou mit Gewerkschaftsmitgliedern, das den Gegenstand des Interviews bildet und dem Ereignistyp 'politische Zusammenkunft' zuzurechnen ist: „Entrevue, hier, Pompidou - syndicate modicaux" (Le Figaro, 16.11.1966, S.7). Aber auch hier erweist sich der französische Ausdruck als nicht eindeutig und effizient genug, um den spezifischen Unterschied zwischen dem Ereignistyp 'politische Unterredung' und jenem speziellen Typus der journalistischen Texttradition begrifflich zu fassen. Auch die mit Hilfe von Frantext aus dem Journal des Goncourt gewonnenen Begriffsbelege bestätigen das Politiker-Treffen und die politische Audienz als gängige Bedeutung von entrevue. Ob es sich bei den so bezeichneten Begegnungen in Einzelfällen um journalistische Interviews handelt, kann lediglich vermutet werden. Darüber hinaus dokumentieren Formulierungen wie entrevue de bauche ä bouche oder entrevue oü put causer tete-ä-tete (Goncourt 1956, Bd.4: 531 und Bd.3: 1197), dass der Begriff auf eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht zielt und zugleich die sprachliche Interaktion als deren Zweck beinhaltet.22 Wie die historische Begriffsanalyse verdeutlicht, wurde entrevue bereits vor 1869 in der französischen Presse zur Bezeichnung der primären Gesprächssituation von Interviews verwendet. Später ist der Ausdruck in Form einer Rückübertragung des englischen interview gebräuchlich und konkurriert nach 1884 mit diesem um die Bezeichnung der neuen journalistischen Texttradition. Doch ist der französische Begriff stark von seiner traditionellen Bedeutung geprägt und bleibt daher in der zeitgenössischen Praxis auf einzelne Merkmale des Interviews begrenzt, so dass er sich letztlich nicht gegen den Anglizismus durchsetzen kann und auf seine ursprüngliche Bedeutung zurückfällt (Schaubild). Diese Tatsache ist insbesondere aus romanistischer Perspektive bemerkenswert, da im Gegensatz zur französischen Praxis die journalistische Texttradition in der italienischen und spanischen Pressesprache sehr wohl mit dem jeweiligen einzelsprachlichen Äquivalent (intervista und entrevista) bezeichnet wird. So etwa die Interviews mit bekannten britischen Ministern: Entrevue avec Charles Bradlaugh (Le Voltaire, 15.1.1881, S. l), Une entrevue avec Sir Henry Parkes, ex-ministre (Le Matin, 7.3.1884, S. l), Une entrevue avec Sir Charles Dilke (Le Figaro, 23.11.1886, S. l). So auch Goncourts Eintrag vom April 1865: „De cette entrevue, de cette conversation, la pensee que les classes peuple vont passer sur les classes bourgeoises." (Goncourt 1956, Bd.2: 151)

67 BEGRIFF

FRANZÖSISCH

ENGLISCH

1869

1866

1884

1894

'politische Unterredung'

interview

entrevue

entrevue

entrevue

'journalistische Handlungsform'

interview

entrevue

entrevue interview

interview

Wie anhand zahlreicher Belege aus der französischen Presse dokumentiert werden konnte, bleibt entrevue auch in der vorübergehenden Konkurrenzsituation in den Jahren 1884 bis 1894 auf seine traditionellen Bedeutungsmerkmale beschränkt: Während der aus dem Englischen entlehnte Begriff von Beginn an sowohl die sprachliche Interaktion als auch das veröffentlichte Textprodukt umfasst, wird das französische Etymon ausschließlich zur Bezeichnung der primären Gesprächssituation und hier zur Fokussierung derface-to-face Begegnung verwendet. Zugleich zeigt sich, dass entrevue in der Mehrheit der Fälle Gespräche zwischen Journalist und Politiker und damit einen speziellen Interview-Typ bezeichnet. Diese Verwendung ist zweifelsohne auf die spezifische Bedeutung einer politischen Zusammenkunft zurückzufuhren, welche einen bestimmten Ereignistyp der zeitgenössischen Presseberichterstattung repräsentiert und zugleich der ursprunglichen Grundbedeutung entspricht. Nachdem sich in Analogie zum englischen interview im Falle des französischen entrevue zunächst ebenfalls Polysemie andeutet (1866), wird diese umgangen, indem der Anglizismus hinzutritt (1884) und schließlich die zweite Spezialbedeutung besetzt (1894).

3. Visite Wenn sich das journalistische Interview nach Hatzfeld und Darmesteter (1893: 1328) als „visite ä un personnage connu pour Pinterroger sur sä vie, ses actes, ses idoes etc." definiert, so stellt diese zeitgenössische Beschreibung einen direkten Bezug zu einem zentralen Handlungsmuster der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts her. Dabei umfasst der Begriff visite zwei verschiedene Konzepte, die sich historisch entwickelt haben und auch in der modernen Wortbedeutung präsent sind - den Besuch eines Ortes und den Besuch einer Person. Eine sprachliche Handlung ist in beiden Fällen nicht im Begriff enthalten. Mit dem ersten Konzept verbindet sich ursprünglich die Idee einer Inspektion, d.h. einen Ort aufzusuchen mit dem Ziel, diesen systematisch zu begutachten: „le fait de se rendre dans un lieu pour procoder ä un examen, ä une inspection, a des contestations" (GrR, Bd.9: 770). Diese Definition geht auf die Grundbedeutung des Verbs visiter bzw. visitare 'inspecter/examiner avec soin' zurück und ist zudem durch den verwandten Begriff der visitation beeinflusst, der in der mittelalterlichen Kirchenpraxis die „Inspektion" von Klöstern und Ordenshäusern meinte. Die Besichtigung historischer Orte und Gebäude, die ein zentrales Handlungsmuster des

68

modernen Tourismus darstellt, hat sich daraus als allgemeine Bedeutung des Begriffs visite abgeleitet und ist erstmals bei Montaigne im Jahre 1580 belegt: „le fait de se rendre dans un lieu, pour voir, pour parcourir" (GrR, Bd.9: 770) bzw. „l'action de visiter un lieu pour le bien connaitre" (TLF, Bd. 16: 1205). Darüber hinaus bezeichnet visite seit dem 18. Jahrhundert die polizeiliche Durchsuchung und damit - ebenso wie die Ausdrücke interrogatoire und enquete - ein juristisch institutionalisiertes Handlungskonzept (visite domiciliaire, droit de visite). Die Idee der Inspektion ist auch im 19. Jahrhundert präsent, wie die zeitgenössischen Begriffsdefinitionen belegen: „visite d'inspection, tournoe que fait un inspecteur civil ou militaire dans le ressort qu'il doit examiner" (Hatzfeld/Darmesteter 1893: 2251; vgl. Littre" 1874, Larousse 1876).23 Wenn der Begriff visite in dieser Bedeutung den Besuch eines Ortes fokussiert, so lässt sich hier ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem journalistischen Handlungskonzept der Reportage herstellen. Denn auch der Reporter begibt sich vor Ort, um diesen zu „inspizieren": „visiter le thiätre du crime" (Le Petit Journal, 27.2.1866, S.l). Dabei verschafft sich der Journalist ein eigenes Bild, indem er Informationen aus erster Hand und Sinneseindrücke aus eigener Wahrnehmung sammelt.24 Das zweite durch den Ausdruck visite versprachlichte Konzept betrifft den Besuch, den eine Person einer anderen abstattet. Ebenso wie entrevue fokussiert visite in diesem Fall die face-to-face Begegnung, ohne einen konkreten Zweck zu benennen. Zwar kann als solcher in der Regel eine sprachliche Handlung angenommen werden, jedoch ist diese nicht explizit in der Definition des Begriffs enthalten: „le fait d'aller voir qqn et de rester avec lui un certain temps" (GrR, Bd.9: 770). Als möglicher Extremfall, in dem keine sprachliche Interaktion zwischen Besucher und Besuchtem stattfindet, ist der „stumme" Besuch eines Häftlings oder Sterbenden vorstellbar. Vor allem aber umfasst der Begriff visite ein soziales Handlungskonzept, das als „Besuchskultur" bezeichnet werden kann und in der bürgerlichmondänen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts beheimatet ist. Als „rounion mondaine entre personnes d'un certain milieu social qui se recoivent rogulierement" definiert (TLF, Bd.16: 1204), ist der Begriff im 17. Jahrhundert mit der französischen Salonkultur verbunden, in der sich die Mitglieder eines bestimmten sozialen Milieus gegenseitig sowohl kollektive als auch individuelle Besuche abstatteten. Im Frankreich des 19. Jahrhunderts wurde diese Besuchstradition als gesellschaftliches Handlungsmuster innerhalb des städtischen Bürgertums intensiv gepflegt und zugleich stark institutionalisiert.25 Wer eine entsprechende Gelegenheit versäumte oder die festgelegten Besuchstage und Empfangsstunden nicht einhielt, verstieß gegen die vom usage gebotene Besuchspflicht („on doit une visite") und verletzte damit eine soziale Institution. Ein solches Fehlverhalten wurde entsprechend sanktioniert: 23

24 25

Im Journal des Goncourt ist visite für das 19. Jahrhundert sowohl im Sinne „Besuch eines Ortes" (Goncourt 1956, Bd.2: 83, 1246 und 1249; Bd.3: 381 und 491) als auch im Sinne einer (juristischen) Inspektion belegt (Bd.l: 825; Bd.2: 762; Bd.3: 11 und 49). Zur Reportage und deren Verhältnis zum Interview siehe Kap. III.3. Den gemeinsamen Nenner zwischen der bürgerlichen Besuchskultur des 19. und der Salonkultur des 17. Jahrhunderts bildet die conversation. Doch wahrend die Pariser Salons geschlossene Zirkel innerhalb der aristokratischen und bürgerlichen Oberschicht darstellten, war die Besuchskultur des 19. Jahrhunderts ein allgemeines Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft (Daumard 1986: 84; Aries/Duby 1992, Bd.4: 212-216).

69 Gesellschaftliche Beziehungen zu inszenieren und sie zu pflegen war ein wesentliches Element bürgerlichen privaten Lebens. [...] Wer gegen dieses Ritual verstieß, der galt als eigenbrötlerisch. (Arries/Duby 1992, Bd.4: 215)

Das große Universallexikon des 19. Jahrhunderts beschreibt ausführlich die Konventionen der so genannten visites de ceremonie, die es zu befolgen galt. Danach waren nicht nur die Anlässe (zum Jahreswechsel, nach einer Einladung, einer Geburt oder einem Todesfall sowie nach eigener Krankheit) festgelegt, sondern auch die Kleidung, der Zeitraum und die Dauer eines solchen Besuchs genau geregelt:26 Le savoir-vivre a ses lois, que nul n'est cense ignorer [...]. L'usage les a otablies, l'&iquette les a consacroes, et risque, en les transgressant, de passer pour un homme impoli ou mal . [...] On doit une visite, au jour de l'an, ä un certain nombre de personnes, sup&ieurs, parents, allios, etc.; apres avoir accepto un diner, apres un manage, une naissance ou un dices dont il vous ä etc fait part; apres une maladie [...]. Regle gonorale, les visites de c&omonie doivent dtre courtes; dix minutes, un quart d'heure au plus suffisent. (Larousse, Bd. 15: 1117)

Darüber hinaus war es ein Gebot der Höflichkeit, dass sich die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft regelmäßig Besuche abstatteten. Wie die zeitgenössischen Definitionen des Begriffs mittels der Präposition chez signalisieren, bildete das private Zuhause den sozialen Ort dieser Besuchskultur: „action d'aller voir qqn chez lui, par devoir de politesse, de ddforence" (Hatzfeld/Darmesteter 1893: 2251; vgl. Larousse, Bd. 15: 1117). Die Besuche fanden in der Regel nachmittags und an einem eigens festgelegten Empfangstag statt, dem so genannten jour de reception oder jour fixe. Wie zahlreiche Einträge im Goncourt-Tagebuch belegen (so etwa vom Januar 1852, April 1861, August und September 1864 oder Mai 1890), trafen sich auch Schriftsteller und Künstler regelmäßig zum gegenseitigen Gedankenaustausch. Und wer im 19. Jahrhundert verreiste, der war gehalten, seine nahen Bekannten gleich zweimal zu besuchen - vor Antritt der Reise und nach seiner Rückkehr. Die visite de conge und die visite d'arrivee stellten nicht nur ein zentrales Ritual der zeitgenössischen Besuchstradition dar (Goncourt 1956, Bd.3: 1181 und 1247), sondern erfüllten zudem einen konkret praktischen Zweck: Vor und nach einer Reise sah man bei seinen Freunden vorbei, um sich zu verabschieden und wieder zurückzumelden, damit nicht etwa jemand, während man abwesend war, vergebens an die Tür klopfte. (Aries/Duby 1992, Bd.4: 215)

Eine spezielle Institution der zeitgenössischen Besuchskultur bildeten die visites academiques (TLF, Bd. 16: 1203), die jeder Kandidat vor der Aufnahme in die Akademie einzelnen Mitgliedern abstatten musste (L'Echo de Paris, 27.2.1890, S.2; vgl. die Einträge im Goncourt-Tagebuch vom September 1863, Januar 1880 und Februar 1894). In vielen Fällen war es jedoch möglich, statt eines persönlichen Besuchs lediglich seine carte de visite durch einen Diener überreichen zu lassen. Ursprünglich 26

Dass dieser Brauch von vielen Zeitgenossen als lästige Pflichtübung empfunden wurde, dokumentiert die Journalistin Delphine de Girardin, die bereits 1837 die ausufernde Besuchspraxis als sorte defleau und martyre de la politesse kritisiert (Girardin 1857, Bd.l: 112f). Den regelrechten Besuchsmarathon zu Jahresbeginn karikiert der FIGARO, indem er die maximale Aufenthaltsdauer bei einer durchschnittlichen Anzahl von 20 Besuchen pro Tag und Kopf errechnet (Le Figaro, 26.1.1879, Suppl. S.4).

70 billet de visite genannt, entwickelte sich die Visitenkarte im 19. Jahrhundert zum wichtigsten Utensil und zum zentralen Sinnbild einer institutionalisierten Besuchskultur: Envoyer sä carte est aujourd'hui une marque de doference imposee par l'habitude sans qu'on ait pu comprendre jamais le rapport existant entre la politesse et ces petits cartons carros et glacis, suivant la mode. (Les cartes de visite, Le Figaro, 4.1.1880, Suppl., S.l)

Wie ein Blick auf die Überschriften historischer Interviews deutlich vor Augen führt, bildet der Begriff visite ein zentrales Element der französischen Interviewtradition. Charakteristisch ist ein spezieller Typ von Überschriften, der vereinzelt bereits in den 60er und verstärkt in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts auftritt. Dieser setzt sich zusammen aus dem Substantiv visite oder einem Synonym, an das mittels der Präposition chez der Name oder die Funktion einer Person angeschlossen wird. Abgeleitet von dem lateinischen Substantiv casa, lautet die ursprüngliche Bedeutung der französischen Präposition chez 'im Hause von': dans la demeure de oder au logis de (GrR, Bd.2: 559; TLF, Bd.5: 693-695). Wenn eine Überschrift des Typs une visite chez somit einerseits die Person des Befragten fokussiert, indem sie dessen Namen nennt, so identifiziert sie zugleich den Ort, an dem das Interview stattfindet: Une visite chez M. Emile Zola Une visite chez Saint-Saöns Une demi heure chez M. Veuillot Une apres-midi chez le Prince imperial Unejournee chez le prince de Bülow

La Paix, 13.4.1880, S.2 Le Figaro, 20.10.1899, S. l Le Figaro, 1.12.1866, S.l L'Evonement, 15.4.1866, S.l Le Figaro, 22.7.1907, S. l

Überschriften dieses Typs weisen den Leser darauf hin, dass der nachstehende Artikel einen Besuch referiert, den ein Journalist der genannten Person abgestattet hat. Dabei bleibt zunächst offen, ob es sich bei der Primärsituation, die dem Text zugrunde liegt, um ein Gespräch handelt oder ob überhaupt eine Form von sprachlicher Interaktion stattgefunden hat. Die Wendung visite chez zeigt lediglich einen allgemeinen Handlungstyp an, bei dem eine Person eine andere in deren privatem Zuhause aufsucht. Dabei kann die Präposition chez nicht nur den Ort benennen, an dem man sich befindet, sondern auch das Ziel anzeigen, in dessen Richtung man sich bewegt. So drücken die Autoren historischer Interviews mit der Formulierung se rendre chez die Tätigkeit des Besuchens aus: En consoquence, je me rendis chez MM. Edmond et Jules de Goncourt. (L'Evenement, 24.3.1866,8.3)

Alternativ zu une visite chez findet sich auch die Wendung une visite a, der außer einer Personenbezeichnung auch eine Ortsangabe folgen kann. Insbesondere im zweiten Fall wäre zu prüfen, ob der nachstehende Text eher dem Interview oder der Reportage zuzuordnen ist, da die Überschrift einen Ort als Besuchsziel des Journalisten fokussiert. Wie das erste Beispiel aus dem FIGARO von 1866 zeigt, kann der Ausdruck visite in Form einer Ellipse entfallen: Au fond d'une mine Une visite a Emest Picard Visite aux chefs de la Commune

Le Figaro, 16.11.1866, S.2 Le Figaro, 4.7.1869, S.2 Le Figaro, 9.11.1871, S.l

71 Une Une Une Une

visite au dopot de la prefecture de police visite ä Gill visite ä M. Giolitti visite ä Foch

Le Figaro, 12.11.1876, Spl. S.2 Le Figaro, 30.11.1881, S. l Le Temps, 31.10.1911, S .2 Le Matin, 11.11.1926, S l

Die als Überschrift verwendete Formulierung une visite ä ist als Kurzform der Wendung faire une visite ä oder rendre visite ä zu interpretieren, die sich im Text historischer Interviews wiederfindet: - II y a quelque temps, nous avons cito les principaux passages d'un article [du] New York Herald sur M. Gambetta. Aujourd'hui, le meme journal nous apporte un article du meme correspondent sur une visite qu'il a faite ä M. Guizot. (Le Figaro, 7.3.1873, S. 1) - Je suis alte rendre visite ä M. L. Garcia Ramon. (L'Echo de Paris, 16.1.1890, S.2)

Häufiger als die Überschrift des Typs une visite chez bzw. ä ist jedoch die verkürzte elliptische Form „chez + Personenbezeichnung" anzutreffen, die damit den Prototyp historischer Interviewüberschriften der 80er und 90er Jahre des 19. Jahrhunderts darstellt. Dass die Präposition chez dem journalistischen Gebot zur Kürze entsprechend als Ellipse der Wendung une visite chez zu betrachten ist und gleichzeitig einen alternativen Ausdruck zu une visite a bildet, zeigt ein Beispiel aus dem FIGARO des Jahres 1886, dessen Redaktion die Überschrift Chez M"e Van Zandt im Inhalt (sommaire) mit Visite a M"e Van Zandt paraphrasiert (Le Figaro, 9.11.1886, S. 1). Bereits in den 80er Jahren finden sich zweigliedrige Überschriften, in denen als zweites Element eine Nominalphrase hinzutritt, die den Gegenstand des Interviews benennt und entweder eine Unterzeile bildet oder als Hauptzeile voransteht:27 Chez M. Alexandre Dumas Chez Gambetta Chez l'abbo Fortin Chez Bismarck Chez M* Augouard

Le Voltaire, 4.2.1881, S. l Le Matin, 26.3.1885, S. l Le Figaro, 9.6.1891, S.l Le Journal, 26.11.1892, S. l Le Figaro, 28.11.1894, S.2

ChezM. Joffrin. Chez M. Pasteur. Chez M. Charles Blanc.

Le monument des federos L'influenza Le froid et la misere ä Paris

Le Matin, 7.3.1884, S.l L'Echo, 13.1.1890, S.2 L'Echo, 19.1.1891, S.2

Un nouveau plagiat. Le mal d'aimer. Un projet de revolution. Autour de la domission.

Chez M. Emile Zola Chez le docteur Emile Laurent Chez M. de Goncourt et M. Becque Chez M. Rouvier. Chez M. Granet

Le Voltaire, 3.5.1886, S.l L'Echo, 17.10.1890, S.3 L'Echo, 12.2.1891, S.2 Le Journal, 14.12.1892, S.2

Zusammenfassend kann für die Entwicklung der Texttradition angenommen werden, dass der historische Prototyp des journalistischen Interviews im Haus oder in der Wohnung der befragten Person stattfand. Ob der Ausdruck visite einen speziellen Interviewtyp signalisiert und inwiefern das von ihm bezeichnete soziale Handlungsmuster einem bestimmtem Textmuster entspricht, wird die Textanalyse ebenso ver27

Dieses syntaktische Verfahren wird auch in Verbindung mit dem Begriff visite verwendet: La question juive. Une visite ä M. EdmondDrumont (Le Figaro, 20.10.1888, S.l), Lapluie et le beau temps. Une visite ä l'observatoire (La Presse, 3.9.1890, S.l). Ein Kuriosum bildet eine Überschrift aus dem Jahre 1892: Während die Hauptzeile die Präposition chez enthält und damit einen persönlichen Besuch signalisiert, macht die Unterzeile explizit deutlich, dass das Interview per Telefon stattgefunden hat: Chez le prince Victor, Par telephone (Le Journal, 24.12.1892, S.l).

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deutlichen wie die unmittelbare Verwandtschaft von Reportage und Interview, deren gemeinsamen Nenner der Besuch des Journalisten vor Ort bildet. Zwar verweist der Ausdruck visite, der explizit eine Besuchshandlung und kein Textprodukt bezeichnet („publier le rocit de la visite", Le Matin, 12.12.1892, S.l), in erster Linie auf die primäre Ebene des journalistischen Interviews. Sein regelmäßiger Gebrauch in Überschriften verleiht ihm jedoch zugleich eine textsortenindizierende Funktion. Dabei sind visite und chez eindeutig als historische Interviewsignale zu betrachten, da sie sich nach 1930 nicht mehr in Überschriften nachweisen lassen.28 Als eine moderne Variante des Überschriftentyps une visite chez - und zugleich der Form une entrevue avec - erscheinen jene Titel, die der FIGARO seit den 1940er Jahren verwendete und welche die persönliche Begegnung zwischen Journalist und Befragtem fokussieren. Anders als die Wendung une visite chez macht diese Version jedoch nicht deutlich, ob der Interviewer sein Gegenüber aufsucht oder in der Redaktion empfängt: Un quart d'heure avec Celia Johnson Cinq minutes avec Yves Vincent Ging minutes avec Nathalie Nattier Deux heures avec le prosident Salazar

Le Figaro, 24725.11.1946, S.4 Le Figaro, 27.11.1946, S.4 Le Figaro, 28.11.1946; S.4 Le Figaro, 5 76.11.1966, S.5

4. Interrogatoire Von allen hier behandelten Begriffen ist dieser der einzige, der eine Fragehandlung ausdrückt: Im Jahre 1327 erstmals im Französischen belegt, bezeichnete das Substantiv interrogatoire im Mittelalter ursprünglich solche Fragen, die ein Richter in einem Prozess stellt (DHLF: 1043). Der Begriff, der seit dem 17. Jahrhundert im französischen Rechtssystem kodifiziert und bereits in der Encyclopedic (1765, Bd.8) verzeichnet ist, beinhaltet ein juristisches Handlungsmuster, das nach institutionellen Regeln verläuft und im Gegensatz zu entrevue und visite die sprachliche Interaktion zweier Parteien fokussiert. Unter genau festgelegten Vorgaben befragt ein Richter (juge d'instruction) einen Verdächtigen, Angeklagten oder Zeugen. Eine solche Vernehmung, deren Gegenstand ein Sachverhalt oder die Person des Befragten sein kann, findet im Zuge einer juristischen Untersuchung statt und dient der Wahrheitsfindung. Damit besteht ein direkter Bedeutungszusammenhang mit dem Begriff enquete, wie die Definition von interrogatoire bestätigt: Au cours d'une enquete, d'une instruction, d'une audience, procedure consistent ä interroger quelqu'un et a recueillir ses roponses. (DAF '2000, Bd.2:433)

Wie bereits die ursprüngliche Wortbedeutung und die idiomatische Wendung „proceder ä/par interrogatoire" implizieren (Le Gaulois, 29.9.1869, S.l), handelt es sich beim Verhör um ein methodisches und geplantes Vorgehen. Der Handlungsablauf und die Reihenfolge der gestellten Fragen sind bereits vor Beginn der Befragung konzipiert. Das Verhältnis der beiden Dialogpartner ist deutlich asymmetrisch, da 28

Als Titel einer journalistischen Kolumne erscheint der Begriff visite noch um die Jahrhundertwende in der Zeitung LE TEMPS: Promenades et visites (Le Temps 1896,1899, 1906).

73 der Fragende aufgrund seiner richterlichen Autorität das Gespräch dominiert und den Befragten zu wahrheitsgemäßen Aussagen zwingen kann; der Richter allein besitzt das Frageprivileg, steuert die Themen und verfugt über Sanktionsmöglichkeiten. Die situative Rollenverteilung zwischen einem dirigierenden Fragesteller und einem reagierenden Antwortgeber, der sich häufig gegen seinen Willen dem regelhaften Sprachspiel unterziehen muss, wird in der idiomatischen Wendung „subir un interrogatoire (dans toutes les regies)" ausgedrückt (De Amicis 1880: 186; vgl. Goncourt 1956, Bd.l: 856; Dezember 1860). Der rigide Handlungsrahmen des Verhörs spiegelt sich zudem in der Definition des Verbs interroger wider: Questionner qqn avec une certaine idoe d'autorito ou sur des choses qu'il est presumo connaitre et sur lesquelles il est obligo de ropondre. (GrR, Bd.5: 690)

Das sehr stark institutionalisierte Handlungsmuster interrogatoire sah bereits im 19. Jahrhundert ein schriftliches Protokoll vor. Wie die zeitgenössische Darstellung des Universallexikons von Larousse aus dem Jahre 1873 bescheinigt, ließ der Richter die beiderseitigen Äußerungen von einem Protokollanten mitschreiben und verlesen sowie anschließend vom Befragten unterzeichnen: Lorsque interrogatoire est termino, le juge, qui a dicto au greffier les (Jemandes et les roponses, fait dormer lecture du proces-verbal, qui est signi par la partie ou porte mention qu'elle ne sail ou ne peut signer. (Larousse, Bd.9: 758)

Indem der Richter vom Befragten die Unterzeichnung des Protokolls verlangt, fordert er diesen dazu auf, seine Äußerungen persönlich zu beglaubigen. In diesem Verfahren, das dem Verhör juristischen Wert verleiht und die darin gemachten Aussagen zu einklagbaren Beweisen erhebt, besteht eine Parallele zur modernen Autorisierungspraxis des Interviews: Nachdem der Befragte die schriftliche Form seiner Äußerungen „abgesegnet" hat, bilden diese ein zitierfähiges Dokument. Bereits seit 1680 ist die metonymische Übertragung des Typs Handlung-Ergebnis belegt, aufgrund derer interrogatoire nicht nur den Frage-Antwort-Dialog, sondern auch das Protokoll als dessen schriftlich fixiertes Produkt bezeichnet. Diese zweite Bedeutung, die sich in der gängigen Formulierung „signer Pinterrogatoire" ausdrückt, hatte sich im 19. Jahrhundert längst habitualisiert und lexikalisiert: „proc£s-verbal qui contient les questions adressoes ä un accusi et les riponses par lui faites" (Larousse, Bd.9: 758; DHLF: 1043). Auch in der Pressesprache dieser Zeit war der Ausdruck interrogatoire gebräuchlich, um die in der Zeitung regelmäßig veröffentlichten Gerichtsprotokolle zu bezeichnen, in denen die Vernehmungen von Zeugen und Angeklagten im Wortlaut wiedergegeben wurden (Le Petit Journal, 24.2.1866, S.3; vgl. Kap. III.4.2). Die moderne Begriffsdefinition nennt neben der sprachlichen Interaktion („mode d'instruction par voie de questions") und deren schriftlichem Produkt („proces-verbal") als erweiterte und negativ konnotierte Bedeutung die generelle Methode, eine Person nach Art eines Verhörs zu befragen: „suite pressante de questions posoes ä qqn" (DAF 92000, Bd.2: 433; GrR, Bd.5: 690).29 Auffallend ist, dass die verschiedenen Wörterbücher in ihrer Begriffsdefinition von interrogatoire entweder den Fragenkatalog (ensemble des questions; TLF, Hatzfeld/Darmesteter, Littro) oder den Vorgang des Befragens (procedure, mode, mesure d'instruction; GrR, DAF, Larousse) fokussieren.

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Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der beiden Texttraditionen Verhör und Interview. So ließe sich von Gordon Bennett, der im Jahre 1836 das bisher vermutete erste Interview der Pressegeschichte nach dem Vorbild einer polizeilichen Vernehmung und im Rahmen eines Kriminalfalls durchführte, eine direkte Traditionslinie vom juristischen Verhör zum journalistischen Interview ziehen. Dies hieße jedoch, in ahistorischer und damit unzulässiger Weise ein modernes Konzept von Journalismus, in dem die Medien als „Vierte Gewalt" die Macht der politischen Entscheidungsträger kontrollieren, auf die historische Realität des 19. Jahrhunderts zu übertragen. Vor diesem Hintergrund erscheint der journalistische Interviewer als Wächter der Demokratie, der mit gesellschaftlich verbürgter Autorität und aufklärerischem Sendungsbewusstsein den Politiker ins Kreuzverhör nimmt und des Machtmissbrauchs überfuhrt (vgl. Hoffmann 1982: 16). Aus diesem Grund wird hier keine direkte Traditionslinie zwischen dem kriminalistischen Verhör und dem kontroversen Interview angenommen. Denn die strenge Asymmetrie und die situativen Rahmenbedingungen des juristischen Verhörs scheinen dem zeitgenössischen Interview-Konzept zu widersprechen. Wie die Begriffsanalysen von entrevue und visite zeigen, dominiert in der historischen Sprecherwahrnehmung die bildliche Vorstellung, dass sich zwei Personen als gleichwertige Partner oder in der Rolle von Gast und Hausherr zum gemeinsamen sprachlichen Austausch begegnen. Ein einseitig dominierter und sanktionierter Frage-AntwortDialog ist mit diesem Konzept nicht vereinbar. Da der Ausdruck interrogatoire in der historischen Interviewpraxis zu keiner Zeit als Überschrift verwendet wurde und damit anders als entrevue oder visite nicht die Bedeutung eines Textsortensignals besaß, ist davon auszugehen, dass der juristische Begriff des Verhörs eine geringere Rolle in der Entwicklung des Presseinterviews spielte. Wenn der Ausdruck in Einzelfällen dennoch in französischen Interviewtexten erscheint, so ist er entweder an einen konkreten juristischen Handlungskontext gebunden oder als metakommunikative Kritik an der zeitgenössischen Interviewpraxis zu interpretieren. In allen hier vorliegenden fünf Fällen, in denen interrogatoire in direktem Bezug auf ein konkretes journalistisches Interview benutzt wird, bezeichnet der Ausdruck eindeutig und ausschließlich die primäre Kommunikationssituation. Mit seiner Verwendung betont der jeweilige Journalist den methodischen und dirigierenden Charakter seiner Befragung. Während die mit der Formulierung ,je procodai par interrogatoire" beschriebene Vorgehensweise mit dem Begriff enquete explizit in einen juristischen Handlungskontext gestellt wird (Le Gaulois, 29.9.1869, S.l), ist es im Falle des Zola-Interviews aus dem Jahre 1880 der Gebrauch des Verbs questionner, das den Ausdruck auslöst. Hier verwendet der Autor Fernand Xau zunächst die gängige und allgemeine Bezeichnung conversation, bevor er seine Äußerung verbessert und präzisiert, indem er das starke, den Fragecharakter hervorhebende interrogatoire nachsetzt (La Paix, 13.4.1880, S.2): Et voilä comment, deux heures et demie durant - de dix heures et demie du matin a une heure de l'apres-midi - j'ai questionno M. Zola. Si les lecteurs de la Paix le veulent bien, je rosumerai fidelement cette conversation, j'allais dire cet interrogatoire.30 30

Der zweite Satz des Zitats und damit der Ausdruck interrogatoire erscheinen weder in der im VOLTAIRE veröffentlichten Version (10.5.1880), noch in der späteren Buch-Ausgabe (Xau 1880). Siehe dazu die detaillierte Textkritik in Kap. III.5.1.

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Darüber hinaus scheint Xau den Begriff von dem italienischen Schriftsteller und Journalisten Edmondo de Amicis übernommen zu haben, der bereits zwei Jahre zuvor ein Interview mit Emile Zola geführt hatte und auf den sich der französische Journalist ausdrücklich bezieht (Kap. III.5.1). An diesem Beispiel fällt auf, dass der Autor zwar den Begriff interrogatoire verwendet und das asymmetrische Rollenverhältnis betont, sich zugleich aber von diesem Handlungsmuster distanziert: Apres cette introduction, Zola fiit obligo de parier exclusivement de Zola. Mon ami lui avait dit la veilie, en lui annuitant ma visite: «Preparez-vous ä subir un interrogatoire dans toutes les regies, et il avait ropondu gracieusement: Je suis pret.» L'interrogatoire commenfa done. Mais ce ne fut pas moi qui m'en chargeai: je n'aurais jamais oso! [...] Nous l'interrogeämes sur ses otudes de langue. (De Amicis 1880: 186; 20l)31

Während der italienische Journalist es nicht „wagt", den berühmten französischen Schriftsteller „ins Verhör zu nehmen", entschuldigt sich der Londoner Korrespondent des VOLTAIRE zumindest rhetorisch bei seinem Gesprächspartner für ein solches Vorgehen. Zudem macht der Journalist in diesem Fall deutlich, dass es sich bei dem rigiden Frage-Antwort-Spiel um ein ausländisches Konzept handele: Vous excuserez, n'est-ce-pas, mon interrogatoire ä l'americaine. Je desire savoir, avant de vous quitter, si vous connaissez M. de Girardin? (Le Voltaire, 15.1.1881, S.l; Hervorh. im Orig.)

Die Formulierung ,je suis le cours de mon interrogatoire", die ein anderer Interviewer der Zeitung benutzt (Le Voltaire, 27.1.1881, S.l), verstärkt das Bild, das bereits im Begriff selbst enthalten ist: Sie verweist auf einen festen und im Voraus konzipierten Ablaufplan, der dem Interviewer während des Gesprächs als Leitfaden dient und in Form eines schriftlich oder zumindest geistig fixierten Fragekatalogs vorliegt. Generell verbindet sich mit dem Begriff interrogatoire die Vorstellung, dass insbesondere Anfang und Schluss des Handlungsschemas klar markiert sind. So wird in der sprachlichen Praxis stets betont, dass ein Verhör gerade begonnen habe oder beendet worden sei: „L'interrogatoire commen^a done." (De Amicis 1880: 186) versus „Et l'interrogatoire se termine lä." (Goncourt 1956, Bd.2: 865). Schließlich zieht der Grand dictionnaire universe! von Larousse in seiner Definition der journalistischen Befragung aus dem Jahre 1890 ausdrücklich eine Parallele zum juristischen Verhör. Allerdings geschieht dies mit der erklärten Absicht, die neue journalistische Handlungsweise („cette sorte d'inquisition ä domicile") grundsätzlich in Frage zu stellen: Un reporter, soyez en sür, va venir vous interviewer. [...] Le reporter est lä, son carnet ä la main; il prend des notes, il griffonne en meme temps qu'il ecoute; quand il a fini l'interrogatoire sur un point, il le reprend sur un autre, et ainsi jusqu'ä la fin, absolument comme dans une audience de cour d'assises. (Larousse, Bd. 17: 1438)

Das italienische Original des Interviews erschien im November 1878 in der Zeitschrift L'ILLUSTRAZIONE ITALIANA: „Questa fti Tintroduzione; dopo quäle lo Zola fu costretto a parlare esclusivamente dello Zola. II mio buono amico gli aveva detto il giomo avanti, annunziandogli la mia visita: Preparatevi a subire un interrogatorio in tutte le regole, ed egli aveva risposto gentilmente: Son bell'e preparato. Si comincio dunque interrogatorio. Ma non lo feci io; non l'avrei mai osato. [...] Lo interrogammo intorno ai suoi studi di lingua." (De Amicis 1909: 245; 265).

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Wie in den Pressebeispielen zielt auch in diesem Fall der Begriff interrogatoire weniger auf die faktische Beschreibung der journalistischen Realität, sondern dient vielmehr als eine übertriebene Metapher: Mit Hilfe des bildlichen Vergleichs, der bewusst aus einem anderen Bereich stammt und die Dominanz des Fragestellers überzeichnet, wird diese als fremd und unangemessen kritisiert. Letztlich bestätigen die begriffsanalytischen Beobachtungen, dass das journalistische Interview eben nicht unmittelbar auf das juristische Verhör zurückgeht. Inwiefern dieses dennoch die journalistische Texttradition beeinflusst hat, wird die exemplarische Analyse eines französischen Presseinterviews aus dem Jahre 1869 zeigen (Kap. III.4.3).

5. Enquete Während interrogatoire einen bestimmten Typ von Frage-Antwort-Dialog bezeichnet, zielt der Begriff enquete bereits in seiner Ursprungsbedeutung auf die systematische Suche nach Information und Wahrheit. Aus dem vulgärlateinischen inquaesita abgeleitet und durch das mittellateinische inquesta beeinflusst, hat sich enquete im Französischen des 13. Jahrhunderts in der Bedeutung 'recherche pour savoir' etabliert (DHLF: 695). Seit dieser Zeit ist der Begriff fest innerhalb der französischen Rechtssprache verankert und mit dem des interrogatoire unmittelbar verbunden. Denn die Vernehmung stellt eine spezifische Teilhandlung einer juristischen Untersuchung dar, in der unter Leitung eines Richters Zeugen befragt und auf diese Weise Tatsachen ermittelt werden. Umfasst das Handlungskonzept der enquete judiciaire generell die „recherche systomatique de la verite par I'interrogation de timoins", so bilden die polizeilichen Ermittlungen, die nach einem Verbrechen vor Ort stattfinden, eine spezielle Form desselben: Recherche effective par des officiers de police judiciaire [...] pour faire la lumiere sur un crime ou un flagrant dolit au moyen de perquisitions sur les lieux memes, de saisies, d'interrogations et d'auditions de tomoins. (TLF, Bd.7: 1158)

Seit dem 16. Jahrhundert dehnte sich der Begriff enquete von dem streng juristischen Handlungskontext auf andere gesellschaftliche Bereiche wie Handel (enquete commerciale), Politik (enquete administrative bzw. parlementaire) und Wirtschaft (enquete economique) aus. Daneben nennt das große Universallexikon des 19. Jahrhunderts mit den enquetes agricoles und den enquetes sur la banque zwei weitere Formen zeitgenössischer Untersuchungen (Larousse, Bd.7: 600-607). Unter dem Einfluss der Wissenschaftseuphorie des 19. Jahrhunderts etabliert sich der Begriff schließlich um 1870 in den Sozialwissenschaften und umfasst dort die methodischsystematische Datenerhebung (DHLF: 695; GrR, Bd.3: lOlOf). Wenn auch hier die Befragung von Personen im Mittelpunkt steht und als wissenschaftliches Instrument dem Zweck dient, Meinungen und Verhalten bestimmter Bevölkerungsgruppen zu ermitteln (enquete par sondage), so tritt zugleich als zweites Verfahren der Informationserhebung das Sammeln von Dokumenten hinzu (TLF, Bd.7: 1158): Toute recherche, menee dans des secteurs varies, en recueillant les reponses et temoignages des personnes ou en rassemblant des documents, donnant lieu a un rapport ecrit.

77 Die wichtige Bedeutung, die der Begriff innerhalb der französischen Pressesprache einnimmt, findet sich hingegen weder in den historischen, noch in den modernen Wörterbüchern wieder.32 Dies ist umso erstaunlicher, als die Enquete eine zentrale journalistische Textsorte darstellt und in den gängigen Handbüchern als genre noble und genre des genres gilt (Martin-Lagardette 1994: 88; Voirol 1990: 52; vgl. Mouriquand 1997: 70ff.).33 Wenn die Texttradition heute in der Regel zum Nachbargenre Reportage abgegrenzt wird, so definiert sich die Enquete in älteren Darstellungen eher als eine Folge von Interviews: C'est une sorie d'interviews prises d'apres un questionnaire identique, un meine interrogatoire que fait subir tour ä tour ä plusieurs personnes L'enquete est ä ('interview ce que le general est au particulier. (Coston 1952: 114) Eine unmittelbare historische Verwandtschaft zwischen Interview und Enquete impliziert auch Aslangul (1991), die in ihrem Wörterbuch zur französischen Pressesprache zugleich einen Bedeutungswandel des Ausdrucks enquete konstatiert: Während dieser ehemals eine suite d'interviews bezeichnete, stellt die Enquete in der modernen journalistischen Praxis eine systematische und quasi-wissenschaftliche Untersuchung eines gesellschaftlich relevanten Sachverhalts dar. Neben einer umfassenden Dokumentation werden in einer Enquete häufig die Ergebnisse einer journalistischen Umfrage präsentiert, die sich an die wissenschaftliche Befragung anlehnt. Nach dem Vorbild dieser zentralen Methode der empirischen Sozialforschung kann der journalistischen Enquete ein standardisierter Fragebogen zugrunde liegen (Kap. III.8.1):34 Article ou serie d'articles informatifs sur des themes politiques, economiques ou sociaux, realisds ä partir d'une documentation ocrite et aupres des intoressos eux-mSmes, en vue d'aboutir ä une conclusion domonstrative. Etude d'un probleme social par voie de questionnaire ou de sondage roaliso sur un ochantillonnage convenable du public. (Aslangul 1991:55)

Mit dem Sprachbeispiel enquete d'un journal und einem Zitat von Simone de Beauvoir aus dem Jahr 1954 impliziert der TFL zwar eine journalistische Verwendung des Ausdrucks. Das journalistische Genre wird jedoch mit keinem Wort erwähnt. Dagegen wird die Bedeutung des Begriffs enquete im Bereich Werbung und Marktforschung durchaus thematisiert (TLF, Bd.7: 1159; vgl. GrR, Bd.3: lOlOf). In der neuesten Auflage seines Handbuchs behandelt Martin-Lagardette (42000: 100-124) die drei journalistischen Texttraditionen EnquSte, Reportage und Interview unter dem Titel Le genre elabore. In seinem Presselexikon, das keinen eigenen Eintrag enquete aufweist, verwendet Pierre Albert den Begriff, um die Tätigkeit des Reporters zu definieren. Wenn der Autor den Begriff, der eine besonders gründliche und systematische Form der journalistischen Recherche fokussiert, damit einerseits in die Nähe der Reportage stellt, so grenzt er die Enqueue zugleich durch ihren wissenschaftlichen Anspruch von jener ab: „grand reporter, litre des reporters chevronnes chargos de couvrir les ovenements d'importance ou lointains sous forme de reportage ou d'etudier sous forme d'enquete approfondie tel ou tel grand sujet" (Albert 1989: 167). Eine unmittelbare Verbindung zu enquete stellt auch die allgemeinsprachliche Definition des Begriffs reportage her: „enquete d'un reporter, article de Journal ecrit d'apres l'enquete d'un reporter" (Höfler 1982: 211) und „enqu&e destinee ä etre publiee, rodigee par un reporter ou par un autre journaliste, ä partir d'informations prises surlevif'(TLF,Bd.l4:881).

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Die Beschreibung der journalistischen Handlungsform Enquete als eine Folge von Interviews verweist unmittelbar auf Jules Huret, der im Jahre 1891 insgesamt 64 Schriftsteller zur Lage der zeitgenössischen Literatur im Allgemeinen und des Naturalismus im Besonderen befragte. Die von März bis Juli im ECHO DE PARIS unter der Überschrift Enquete sur revolution litteraire veröffentlichte Artikelfolge präsentierte neben einzelnen schriftlichen Stellungnahmen die von Huret in persönlichen Einzelinterviews eingeholten Meinungen: Et puisque: le naturalisme est mort, je ne pouvais vraiment pas l'enterrer, dans tnon Enquete, sans l'assentiment de ceux qui lui ont le jour et de ceux qu'il a fait vivre. [...] En me rcconduisant, il [Zola] me dit: Surtout, rounissez toute cette enquete en volume. Je tiens absolument ä avoir cela dans ma bibliotheque. (L'Echo de Paris, 31.3.1891, S.2)

Nach diesem Modell sollte der FIGARO fünf Jahre später eine Meinungsumfrage zum Werk von Alfred de Musset durchführen (Enquetes litteraires, Le Figaro, 30.11. 1896, S.5). Zudem sollte der Begriff enquete in dem von Huret geprägten Sinn bald ins Deutsche übernommen werden (Bahr 1894: 28; Mensch 1894: 315-318). Allerdings benutzte eine französische Tageszeitung den Ausdruck bereits einige Zeit vor Hurets Artikelserie und bezeichnete damit ein spezielles Textangebot: La «Presse» public, en outre, tous les jours: quatre articles de grand reportage, interviews, enquetes, contenant des renseignements originaux et spociaux. (La Presse, 3.11.1890, S.l)

Worin die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Interview und Enquete im Einzelnen bestehen und ab wann sich letztere als eigenständige journalistische Texttradition herauszubilden beginnt, wird die Textanalyse zeigen. Zunächst bleibt festzustellen, dass der Begriff enquete innerhalb des Journalismus eine spezifische Handlungsform umfasst, die historisch unmittelbar mit dem Konzept des Interviews verwandt zu sein scheint. Wenn enquete seit 1890 in Artikelüberschriften und redaktionellen Hinweisen zur Bezeichnung eines journalistischen Textprodukts erscheint, so wird der Ausdruck bereits sehr viel früher verwendet, um den Prozess der journalistischen Informationserhebung zu benennen. Indem der Journalist Jules Lermina alias Henry Marsey im Jahre 1869 seine Recherche, die er in dem spektakulären Mordfall Troppmann am Schauplatz des Verbrechens und am Wohnort des Mörders durchführt, ganz im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung als enquete bezeichnet, stilisiert er diese zur polizeilichen Ermittlung (Le Gaulois, 29.9.1869, S.l): „Au courant de mon enquete, j'avais appris le fait suivant." Ein frühes Beispiel, in dem der Ausdruck die journalistische Recherche generell bezeichnet, ohne dass diese an einen juristischen Handlungskontext gebunden ist, stammt aus dem Jahre 1886. Nachdem LE TEMPS ein Interview mit Edmond de Goncourt veröffentlicht hat, holt ein Reporter des FIGARO seinerseits eine Stellungnahme der Schriftstellers ein. In diesem Fall verweist enquete, das hier das gezielte Nachforschen des Journalisten vor Ort benennt, eher auf das Konzept einer wissenschaftlichen Untersuchung denn auf ein juristisches Handlungsmuster: D'apres une interview qu'un rodacteur du Temps a prise ä M. de Goncourt, tous les personnages de Renee Mauperin auraient pris sur le vif de la vie roelle. Plusieurs memes seraient encore vivants, et on allait jusqu'ä dire que l'horoltne assisterait dans la salle ä cette dvocation de son romanesque passe. Edmond de Goncourt, que j'ai vu dans un entr'

79 acte, m'a confiimo ces renseignements. [...] Je n'ai pas cm devoir pousser plus loin mon enquete. (Le Figaro, 19.11.1886, S.3)

Wenn der Begriff grundsätzlich die Idee einer umfangreichen journalistischen Recherche betont (Große/Seibold 1994: 42), so finden sich in den 1890er Jahren zahlreiche Belege, in denen die Ausdrücke enquete und enqueteur in einem gemeinsamen Bedeutungszusammenhang mit interview und interviewer verwendet werden (La Presse, 6.11.1890, S. l und Le Siecle, 16.12.1890, S.2). Die Verwandtschaft der beiden dahinter stehenden Handlungskonzepte lässt sich - analog zum Verhältnis von Reportage und Interview - am Beispiel der Akteure veranschaulichen: Wie der interviewer als besonderer Vertreter des reporter erscheint, so stellt der enqueteur einen speziellen Typus des Interviewers dar, der seinen Gesprächspartner aufsucht, um ihn in einer bestimmten Weise zu befragen. In einer Zeitungssatire, die unter dem Titel Interviewe die von Huret begründete Praxis der journalistischen Meinungsbefragung karikiert, wird zudem die Enquete explizit als besondere Spezialität des Interviewers benannt: Enquete sur la crise thoätrale! ... Enquete sur le socialisme! ... Enquete sur la pyrotechnic! [...] Eh! bien, s'il se präsente un enqueteur, un interviewer, tu le flanqueras ä la porte, lui, et son enquete. Tu m'entends. Je ne veux pas lerecevoir. (Le Journal, 23.11.1892, S.l)

Dagegen lässt sich spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Begriff enquete ein eigenständiges Handlungskonzept und damit eine neue journalistische Texttradition identifizieren. Bereits im Jahre 1899 präsentierte der FIGARO unter dem Titel Notre enquete keine Serie von Interviews, sondern Dokumente und Hintergründe. Darüber hinaus gehörte es in den 20er, 30er und 40er Jahren zur gängigen Praxis der Zeitungen LE TEMPS und LE FIGARO, Artikel und Artikelserien unter der Überschrift enquete zu veröffentlichen. Wie bereits die Überschrift signalisiert, sind die dem Leser präsentierten Interviews, Umfragen, Dokumente und Hintergrundberichte das Produkt umfangreicher Recherchen und stellen eine journalistische Eigenleistung der Redaktion dar: Nos enquetes (Le Figaro 1926), Les enquetes du Temps (1936) und Une enquete du Figaro (1936 und 1946). Als Fazit der historischen Begriffsanalyse stellt sich das Verhältnis der Texttraditionen Enquete, Reportage und Interview wie folgt dar: Während enquete und reportage beide die Recherche vor Ort fokussieren und damit die Nähe der beiden journalistischen Handlungskonzepte betonen, bildet die Befragung von Personen den gemeinsamen Nenner der Begriffe enquete und interview. Für die journalistische Enquete scheint zudem die wissenschaftliche Konnotation des Begriffs von größerer Bedeutung zu sein als die juristische. Denn einem Sozialforscher gleich stellt der Journalist Hypothesen auf, die er vor Ort (sur les lieux oder sur le terrain) und mit den Methoden der wissenschaftlichen Befragung verifiziert. Für die historische Entwicklung ist anzunehmen, dass unter dem Ausdruck enquete, der in der Pressesprache ursprünglich die journalistische Recherche bezeichnet, um 1890 zunächst eine neue Form des Interviews entsteht, die sich schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Texttradition herausbildet.

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6. Conversation und Entretien Im Gegensatz zu entrevue, visite und enquete fokussieren die Begriffe conversation und entretien die sprachliche Interaktion zwischen zwei oder mehreren Personen. Einen Fragecharakter drücken allerdings auch diese Wörter nicht aus. Da die Referenzwörterbücher des modernen Französisch (GrR und TLF) die beiden Ausdrücke als Synonyme ausweisen, sind auf den ersten Blick keine Bedeutungsunterschiede zwischen conversation und entretien ersichtlich. Diese werden jedoch bei näherem Hinsehen deutlich: Während entretien seit 1481 allgemein den sprachlichen Austausch ('action d'ichanger des paroles') bezeichnet, weist die moderne Definition von conversation eine wesentliche Bedeutungsfärbung auf. Danach betont der Begriff, der in dieser Bedeutung seit 1537 belegt ist, dass ein Gespräch in vertrautem Ton und ohne einen bestimmten Gegenstand geführt wird: „ochange de propos, sur un ton ge~ne~ralement familier et sur des themes variis" (TLF, Bd.6: 122). Auch im Bereich von Politik und Diplomatie, in dem beide Begriffe zur Bezeichnung des sprachlichen Austausche von politischen Interessenvertretern und Entscheidungsträgern verwendet werden, betont der Ausdruck conversation den informellen und vertraulichen Charakter solcher Gespräche: „entretien entre des personnes responsables, en petit comitd et souvent ä huit clos - notamment en diplomatic" (DHLF: 491). Die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts fassten die Bedeutungsunterschiede der beiden Begriffe noch sehr viel deutlicher. Danach besitzt das mit entretien bezeichnete Gespräch nicht nur einen präzisen und gewichtigen Gegenstand, sondern darüber hinaus eine durch den sozialen oder situativen Status bedingte Asymmetrie zwischen den beiden Gesprächspartnern. Zentrales Merkmal des Begriffs conversation, der in der im 17. Jahrhundert begründeten Tradition der französischen Salonkultur verankert ist, bildet dagegen die Kunst, ungezwungen und in heiterer Leichtigkeit über jedes Thema zu sprechen. Die Teilnehmer einer conversation begegnen sich ohne institutionelles Statusgefälle wie Gleiche und sind gehalten, ihr sprachliches Ausdrucksvermögen zu beweisen und den Anderen in keiner Weise in der freien Entfaltung seiner Rede zu beschränken: Conversation se dit en ganoral de quelque discours mutuel que ce puisse etre, au lieu qu' entretien se dit d'un discours mutuel qui roule sur quelque objet doterminö. [...] Entretien se dit de suporieur ä inferieur; on ne dit point d'un sujet qu'il a eu une conversation avec le Roi, on dit qu'il a eu un entretien; on se sert aussi du mot entretien, quand le discours roule sur une matiere importante. [...] Les lois de la conversation sont en gdneral de ne s'y appesantir sur aucun objet, mais de passer logerement, sans effort et sans affectation, d'un sujet ä un autre; en un mot de laisser, pour ainsi dire, aller son esprit en libertö, et comme il veut ou comme il peut. (Diderot/d'Alembert 1754, Bd.4: 165; Hervorh. im Orig.)

Die im modernen Interview institutionalisierte Gesprächsdominanz des Journalisten, der die Themen steuert und das Rederecht vergibt, scheint mit dem Konzept der conversation unvereinbar. Darüber hinaus ist dieser Begriff aufgrund einer Vielzahl metonymischer Übertragungen (TLF, Bd.6: 123; DHLF: 491) viel zu mehrdeutig und unspezifisch, als dass er eine spezielle Texttradition bezeichnen könnte. Dagegen wird der Ausdruck entretien seit dem 17. Jahrhundert zur Bezeichnung literarischer oder philosophischer Dialoge verwendet. Insbesondere die Autoren aus dem

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Umfeld der Aufklärung, denen der Dialog als genuine Darstellungsform galt, um Widersprüche auszutragen, nutzten diese Titelbezeichnung: Les entretiens d'Ariste et d'Eugene (Bouhours 1671), Entretiens sur la metaphysique et sur la religion (Malebranche 1688), Entretiens avec Dorval (Diderot 1757) und Entretien entre d'Alembert et Diderot (Diderot 1830). Doch als heterogene Sammelbezeichnung sehr unterschiedlicher Dialogwerke scheint entretien weder eine spezifische Texttradition identifizieren, noch mit dem klassischen Begriff des dialogue konkurrieren zu können: II designe une forme litteraire qui a adaptoe principalement aux sujets philosophiques et religieux et qui suppose moins d'art dans la mise en oeuvre que le dialogue. (Vapereau 2 1884: 709)

Gleichwohl werden die Ausdrücke conversation und entretien in der historischen und letzterer auch in der aktuellen - Interviewpraxis zur Bezeichnung der journalistischen Texttradition verwendet. Während entretien bereits 1876 in der Überschrift eines Presseinterviews erscheint, lässt sich der Ausdruck conversation dort erstmals 1885 nachweisen: Die Zeitung LE MATIN, die den Anglizismus interview als Überschrift zu dieser Zeit (noch) vermeidet und durch das französische Äquivalent entrevue ersetzt, verwendet alternativ die Ausdrücke conversation und entretien. In den 1890er Jahren tritt der erste sehr viel häufiger in Interview-Überschriften auf als der zweite, wobei die Zeitung LA PRESSE conversation gegenüber allen anderen Interviewbezeichnungen vorzieht. Während die als conversation betitelten Texte keinen speziellen Typ von Interview erkennen lassen, handelt es sich im Falle von entretien häufig um Gespräche mit Politikern und Diplomaten. Darunter fallen insbesondere solche Interviews auf, in denen der Journalist einen General zu einer konkreten diplomatischen Mission befragt: Entretien avec le general Ignatieff Un entretien avec le general Annenkqff Un entretien avec le general Henri Simon

Le Temps, 28.11.1876, S.2 Le Figaro, 23.6.1891, S.l Le Temps, 14.4.1926, S.2

Wird der Ausdruck conversation in Interviewtexten oder redaktionellen Hinweisen verwendet, so referiert er in der Regel auf die primäre Gesprächssituation (so bereits 1866 im EVENEMENT). Allerdings finden sich seit 1880 Beispiele, in denen der Ausdruck zudem den veröffentlichten Zeitungstext und damit die sekundäre Kommunikationssituation des Interviews bezeichnet: publier (Le Voltaire, 10.5. 1880, S.2; Le Matin, 25.11.1892, S.l), rapporter (La Presse, 12.12.1890, S.l) oder lire bzw. reproduire une conversation (Le Voltaire, 27.1.1881, S. l f.). Wenn der Ausdruck mit anderen Bezeichnungen wie entretien, interrogaloire oder entrevue verwendet wird, so erscheint dieser im Vergleich als der allgemeinere und unspezifischere. Eine explizite Unterscheidung zwischen conversation und interview nimmt der Journalist Fernand Xau im Jahre 1890 vor, indem er zwischen der professionalisierten Handlungsform (interview) einerseits und einem informellen Gespräch unter Vertrauten (conversation) andererseits differenziert. Am Ende eines Interviewtextes macht der Autor ausdrücklich darauf aufmerksam, dass er einen Regelverstoß und eine Indiskretion begehe, da er seinem Gesprächspartner die im Interview institutionalisierte Veröffentlichungsabsicht nicht mitgeteilt habe:

82 Notre conversation prit fin sur ces mots. Ce n'etait point, ä proprement parier, un interview que j'avais eu avec M. de Beauvoir; c'etait une simple conversation entre gens de connaissance. J'espere qu'il ne me saura pas trop mauvais § de l'avoir reproduite. (L'Echo de Paris, 22.10.1890,8.2)

Eben dieser begrifflichen Opposition bedient sich der Chefredakteur des MATIN im Jahre 1926, um in einer formellen Richtigstellung das zuvor veröffentlichte Gespräch mit dem General Foch als vertrauliche Unterhaltung zu charakterisieren, da es die konventionalisierten Regeln eines journalistischen Interviews nicht erfülle (Kap. III.7.2). Eine so klare Bedeutungsunterscheidung kann für entretien nicht festgestellt werden. Allerdings benennt dieser Ausdruck, wenn er in Interviewtexten und redaktionellen Hinweisen erscheint, vornehmlich die primäre Gesprächssituation von Politiker-Interviews. Wie die folgenden Beispiele dokumentieren, kann sich entretien zudem statt auf die journalistische Handlungsform auch auf Gespräche zwischen zwei Politikern beziehen, die einen offiziellen Charakter oder ein deutliches Statusgefälle aufweisen:35 - M. de Saint-Valuer a eu hier une entrevue avec M. Gambetta. Le nouveau ministre a l'ambassadeur demissionnaire avec politesse. Mais entretien a 6t6 forcement un peu bref. (Le Figaro, 20.11.1881, S. l) - Pourtant l'interview contient, au moins, un passage intoressant: c'est celui qui est relatif ä entretien du gonoral Boulanger avec M. le comte de Paris. (L'Echo de Paris, 22.10. 1890, S.2)

Abschließend soll in einer prototypischen Annäherung versucht werden, die von den Ausdrücken conversation und entretien versprachlichten Konzepte vergleichend zu charakterisieren und ihren Einfluss auf den historischen Interview-Begriff zu bewerten. Danach betont die Bezeichnung conversation die ungezwungene und entspannte Atmosphäre sowie den vertraulichen und informellen Charakter eines Gesprächs, in dem sich der Journalist und sein Gegenüber ohne sozialen oder situativen Rangunterschied und zum freien Redeaustausch begegnen. Ein Interview, das in der Überschrift als conversation angekündigt wird, vermittelt dem Leser den Eindruck, als habe der Journalist die Äußerungen seines Partners nicht etwa durch eine dominante Gesprächsführung herausgefordert, sondern als habe vielmehr der „Interviewte" dem Journalisten seine Äußerungen aus freien Stücken anvertraut. Im Gegensatz dazu impliziert der Ausdruck entretien ein institutionell bedingtes und straff organisiertes Gespräch, das einen formellen und professionellen Charakter trägt sowie einen präzisen und bedeutenden Gegenstand besitzt. In Analogie zum situativen Rollenverhältnis eines Prüflings- oder Vorstellungsgesprächs verfügt in einem als entretien bezeichneten Interview eine Partei über die Gesprächsdominanz. Einen strikten Frage-Antwort-Dialog, in dem der eine Gesprächsteilnehmer lediglich auf die vorbereiteten Fragen des anderen reagiert, beinhaltet keiner der beiden Begriffe. 35

Zu der Kategorie „Gespräche zwischen zwei Politikern" kann letztlich auch der Entretien avec le general Ignatieff gerechnet werden, da der Text zwar in der Zeitung erscheint, der Autor jedoch als personnage politique ausgewiesen wird (Le Temps, 28.11.1876, S.2): „La Correspondence politique de Vienne dit qu'un personnage politique eininent a eu ces jours demiers un long entretien avec le gonoral Ignatieff sur la question orientate. Ce personnage a mis ses notes la disposition de la Correspondence; nous les traduisons ainsi qu'il suit."

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Im Gegensatz zu conversation, das heute keine signifikante Rolle mehr spielt, ist der Begriff entretien im aktuellen Journalismus sehr präsent. Allerdings sind Bedeutung und Verwendung weder in der journalistischen Lehre, noch in der Praxis klar und einheitlich bestimmt. Während der Begriff entretien von den einschlägigen Lehrbüchern unberücksichtigt bleibt, gilt interview als übliche Bezeichnung der journalistischen Texttradition (Voirol 1990; Martin-Lagardette 1994). Dagegen definiert der Pressehistoriker Pierre Albert den Begriff entretien in Opposition zu interview als einen Dialog, der zwar vom Journalisten gesteuert wird, der aber der befragten Person größere Freiräume zur Entfaltung ihrer Rede lässt. Danach geht der Journalist im entretien nicht nach einem fertigen Fragenkatalog vor, sondern greift die Äußerungen seines Gegenübers inhaltlich auf und initiiert eine gemeinsame Diskussion: Compte rendu d'une discussion entre un joumaliste spocialiso et une personnalite. Ä la difference de l'interview, entretien n'a pas la forme stride d'un interrogatoire et peut prendre la forme d'un veritable dialogue. (Albert 1989: 77)

In der aktuellen Interviewpraxis der Tageszeitung LE MONDE dominiert entretien gegenüber dem Ausdruck interview als generelle Textsortenbezeichnung. Wenn die Redaktion den Anglizismus nur in seltenen Fällen verwendet und stattdessen den französischen Ausdruck vorzieht, so nimmt sie gleichzeitig den Effekt sprachlicher Redundanz in Kauf, der durchaus dem journalistischen Zweck schneller Leserorientierung dient und durch standardisierte Präsentationsformen wie Anreißer, Vorspann und Titelgefüge verstärkt wird. Die Bezeichnung entretien, die sowohl in Unterzeilen und Vorspännen von Interviews als auch in redaktionellen Hinweisen und Präsentationsartikeln auf der Titelseite benutzt wird, erscheint in der Regel als Teil einer festen und standardisierten Formulierung (Hervorh. d. Verf.):36 - Dons un entretien au Monde, le nouveau chef de la diplomatic allemande, Joschka Fischer (Veit), explique notamment que la nocessaire unification europeenne demande une plus grande transparence democratique. (Le Monde, 28.10.1998, S.4) - Dans un entretien au Monde, Lionel Jospin expose sä vision des problemes que pose la raise en place de l'euro. (Le Monde, 7.1.1999, S.6) - Dons un entretien au Monde, l'historien Roger Chartier retrace les ruptures et les mutations intervenues dans l'histoire de la relation entre les livres et leurs lecteurs depuis l'Antiquito. (Le Monde, 19.3.1999, S.31) - Dons une interview au Monde, il [Karel Van Miert] revient sur les conclusions du rapport, qui lui ont laissi un «sentiment d'injustice profonde». (Le Monde, 19.3.1999, S.2)

Die Standardformel „dans un entretien au Monde" ist als elliptische Kurzform von „dans un entretien accorde au Monde" zu interpretieren. Die Wendung „accorder un entretien ä", die in der aktuellen Interviewpraxis der Tageszeitung als gängige Ankündigungsformel dient und auf ein professionalisiertes Handlungsmuster hinweist, lässt sich erstmals für das Jahr 1946 belegen (Hervorh. d. Verf.): - Pierre Moscovici, ministre dologuo aux affaires europeennes, a accorde au Monde un entretien dans lequel il se prononce pour que les gouvernements attendent «les elections europeennes pour nommer la nouvelle Commission». (Le Monde, 18.3.1999, S.5) 36

Zudem dient der Ausdruck als Titel einer eigenen Rubrik, in der vornehmlich Interviews veröffentlicht werden: Horizonts-Entretiens (Le Monde, 16.3.1999, S.14).

84 occasion de sä visite ä Paris [...] le president de la Ropublique du Chili, Eduardo Frei, accorde, mardi 16 mars, im entretien au Monde. (Le Monde, 18.3.1999, S.8) - L 'entretien accorde au Monde par le prosident polonais, Alexandre Kwasniewski, a eu lieu dans Factuel palais presidentiel. (Le Monde, 20.3.1999, S.5) - De passage ä Paris, Leopold Lindtberg, le roalisateur aujourd'hui colebre de «La Derniere Chance», a bien voulu nous accorder quelques minutes d'entretien. (Le Figaro, 7.11. 1946, S.4)

Der Begriff entretien, der generell das professionalisierte Handlungskonzept des journalistischen Interviews insgesamt umfasst, kann im praktischen Gebrauch je nach Einzelfall sowohl die primäre als auch die sekundäre Kommunikationssituation betonen. Während der Ausdruck im Falle eines posthum veröffentlichten Interviews mit dem Geiger Yehudi Menuhin in der Unterzeile zunächst auf die primäre Ebene des zurückliegenden Gesprächs verweist, bezeichnet er an anderer Stelle die geplante Veröffentlichung des Textprodukts: II y a quelques jours, il [Yehudi Menuhin] avait accordo im entretien äAden, ä l'occasion de la tournee de concerts au cours de laquelle il devait diriger des jeunes musiciens. [...] Cet entretien devait &re publio dans le prochain numero d'Aden. (Le Monde, 14./15.3. 1999, S.25)

Seit der FIGARO mit neuem Layout (nouvelle formule) erscheint, verwendet die Redaktion nach dem Vorbild von LE MONDE ebenfalls den Ausdruck entretien, um auf der Titelseite Interviews anzukündigen: - Politique. Un entretien avec Edouard Balladur. «La participation est un facteur de justice sociale. L'entreprise a besoin de adhesion du personnel». (Le Figaro, 17.1.2000, S.l) - Entretien. Bayrou veut s'interposer entre Chirac et Jospin. (Le Figaro, 29./30. l.2000, S.l) - Culture. Charles Aznavour sur scene ä Paris. Avant ses adieux provisoires, le chanteur revient sur sä carriere. Entretien. (Le Figaro, 2L/22.10.2000, S.l)

Wie LE MONDE benutzt der FIGARO, der häufig auch in der sprachlichen Formulierung mit seinem Konkurrenten übereinstimmt, seltener den synonymen Ausdruck interview, um auf die journalistische Texttradition zu verweisen (Hervorh. d. Verf.):37 — Dans un entretien exclusif au Figaro, le colonel Kadhafi rdvele son nouveau reve: les «Etats-Unisd'Afrique». (Le Figaro, 20.8.1999, S.l) - Roseaux Pasqua: l'interview qui accuse. Dans un entretien accorde au Figaro, la jeune femme, Sabine de la Laurencie, raconte comment Bernard Guillet, conseiller diplomatique de Charles Pasqua, lui a demando de se rendre ä Geneve chercher une mallette. (Le Figaro, 19.4.2001, S.l)

Wie die Beispiele der beiden französischen Tageszeitungen verdeutlichen, werden in der aktuellen französischen Interviewpraxis sowohl entretien als auch interview zur Bezeichnung der journalistischen Texttradition verwendet. Dabei zeigt sich eine deutliche Präferenz für den Ausdruck entretien, ohne dass ein signifikanter Bedeutungsunterschied zu interview erkennbar ist. Anders verhält es sich im Falle des Nachrichtenmagazins L'EXPRESS. Während interview dort meist kürzere und sachDie Bezeichnung interview wird häufiger in der Wirtschaftsbeilage (Le Figaro economic) und dort vor allem in der Dachzeile als Interviewsignal verwendet. Als solche dienen in FIGARO und MONDE generell ein wörtliches Redezitat in der Überschrift und die Wendung propos recueillis par im Text.

85 zentrierte Interviews bezeichnet, dient der Ausdruck entretien als Titel einer festen Rubrik, in der regelmäßig ausführliche Gespräche mit prominenten Persönlichkeiten aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen veröffentlicht und mit Fotos illustriert werden, die den Befragten in privater Umgebung zeigen. Dies lässt vermuten, dass die Entretiens des EXPRESS, die wie die Spiegel-Gespräche das Markenprodukt eines einzelnen Medienorgans darstellen, generell dem Typus „personenzentriertes Prominenten-Interview" entsprechen.38

7. Reportage Im Gegensatz zu interview handelt es sich im Falle von reportage um eine französische Wortschöpfung, die seit 1865 belegt und von dem Ausdruck le reporter abgeleitet ist, der seinerseits aus dem Englischen stammt. Dabei sind sich die Lexikografen einig darüber, dass le reporter in Stendhals Reiseerzählung Promenades dans Rome aus dem Jahre 1829 und damit erstmals in einem französischen Text erscheint (DHLF: 1772f; Höfler 1982: 211; TLF, Bd.14: 882f): On cite M. Hazlitt et plusieurs autres reporters de journaux anglais, dont le voyage en Italic est dofraye par les lettres qu'ils fönt insorer dans le Times ou le Morning Chronicle. (Stendhal 1986: 95; Hervorh. im. Orig.) Im Englischen ist der Ausdruck reporter zur Bezeichnung eines journalistischen Berichterstatters wohl nicht erst seit 1813, sondern bereits seit 1797 belegt (OED 2 1989, Bd.13: 652f.; TLF, Bd.14: 883; vgl. DHLF: 1772f.). Wie bei interview handelt es sich auch in diesem Fall um einen französischen „Re-Import". Denn das englische Wort reporter (1386) geht seinerseits auf den französischen reporteur oder rap(p)orteur (1288) zurück (OED 21989, Bd.13: 652f; DHLF: 1772f.). Interessant ist der Hinweis Walther von Wartburgs: Während Stendhal im Jahre 1829 explizit englische Journalisten benennt, werde der Ausdruck reporter erst seit 1852 auch „mit Bezug auf französische Verhältnisse verwendet" (FEW, Bd. 18: 104).39 Diese Vermutung wird vom Grand dictionnaire universel bestätigt, nach dessen Auskunft sich der Journalisten-Typus reporter während des Second Empire im französischen Journalismus herausgebildet habe (Larousse, Bd.13: 125).40 In der Presse dieser Epoche ist das Konzept des Gerichtsberichterstatters mit dem Ausdruck reporter des tribunaux verbunden (Le Petit Journal, 1./2.2.1863, S.2). Bereits 1873 wird der 38 39

40

Vgl. L'EXPRESS (internationale Ausgabe): Giorgio Armani., 21.1.1999, S.10-13; Hubert Vedrine, 28.1.1999, S.12-15; Ennio Morricone., 18.3.1999, S.12-15. Offensichtlich stützt sich Wartburg auf denselben Beleg - aus Emaux et camees von Thöophile Gautier (1852) - wie Bonnaffe (1920: 118): „Voilä longtemps que le poete, las de prendre la rime au vol, s'est fait reporter de gazette." Littre und die Akademie nehmen den Anglizismus reporter etwa zur gleichen Zeit in ihre Wörterbücher auf (Littre 1874; DAF 71879). Vapereau (1876: 1114) definiert den Begriff unter dem Stichwortyourwa/wme: „Dans la grande expansion moderne des feuilles d'informations, le redacteur par excellence est le foumisseur de nouvelles, celui qu'on appelle d'un nom anglais, le reporter, comme si notre ancienne langue ne l'avait pas dejä baptise d'un nom francais: le nouvelliste."

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reporter an anderer Stelle mit deutlich negativer Konnotation als ein Journalist zweiten Ranges beschrieben, dessen Spezialität das Aufstöbern von Neuigkeiten und das Ausfragen von Personen bilde: Une classe speciale, les reporters, toujours ä I'afiüt des nouvelles, les premiers arrived sur les champs de course ou sur les thoätres d'incendie, questionneurs acharnos, se faufilant dans les groupes, prenant des notes sur les enfants brülos, les maris battus, les passants ecrasos, rappeile encore aux Anglais les personnages de Ben Johnson; mais ils ne tiennent que par un fil aux voritables journalistes. (Larousse, Bd.9: 1054; Hervorh. im Orig.)

Wenn das Wort reportage zunächst ausschließlich das Sammeln und Berichten von Informationen durch den Reporter vor Ort bezeichnet - die inflationäre Ausübung dieser Tätigkeit sollte den Begriff des reporterisme hervorbringen (Giffard 1880: 323; vgl. Höfler 1982: 211) -, so erweitert sich die Bedeutung später im Zuge einer Metonymie des Typs Handlung-Ergebnis auf das schriftliche Produkt dieser journalistischen Tätigkeit: „le document olaboro par le reporter" (DHLF: 1773; Bonnaffe 1920: 118). Zunächst jedoch lässt sich eine andere metonymische Verwendung von reportage nachweisen. So bezeichnet der Ausdruck seit den 1870er Jahren den service des reporters (auch: le service du reportage; Höfler 1982: 211) und damit ein Kollektiv von Journalisten, die innerhalb der Presse oder einer einzelnen Zeitung eine funktionale Einheit bilden (Larousse, Bd. 16: 1179): „Petit Journal - Notre Reportage de nuit est organiso sur de larges bases." C'est exasperant, dans ces enterrements, la presence de tout ce monde du reportage, avec ses petits papiers dans le creux de la main, oü il jette des noms de gens et de localitös, qu'il entend de travers, et plus exasporant encore, la prosence de ce Laffitte du Voltaire. (Goncourt 1956, Bd.3: 73; Mai 1880) Seit 1883 ist der Ausdruck reportage sowohl zur Bezeichnung eines Zeitungsartikels als auch zur Benennung eines eigenen Genres mit literarischem Anspruch belegt: - Promesse de la Princesse de leur envoyer tous les samedis le reportage de la Semaine de Saint-Gratien. (Goncourt 1956, Bd.3:277; September 1883) - Les articles d'otudes et de portraits foisonnent d'anecdotes, [...] tout Komme de lettres dcrit plus ou moins ses momoires, bref, le reportage a conquis son droit de cito dans l'histoire de la littorature. (Bourget 1883, zitn. BonnaffS 1920: 118) - R6p6tons-le, le jour ou n'existera plus chez le lettre" Teffort d'ocrire, et l'effort d'ocrire personnellement, on peut etre sur d'avance que le reportage aura succedd en France ä la litterature. (Goncourt 1986: 68; Preface de Chorie, 1884)

Indem der Ausdruck einerseits eine spezifische Form der journalistischen Informationserhebung und andererseits das zur Veröffentlichung bestimmte sprachliche Produkt dieses Prozesses bezeichnet, umfasst der Begriff Reportage - in Parallele zum Interview - damit zugleich die Texttradition, da diese eine feste Synthese der ersten beiden Bedeutungen darstellt: Le reportage a pour but de faire voir, entendre, sentir et ressentir ce que le journaliste a vu, entendu, senti et ressenti lui-mfeme. C'est le genre que choisira lorsque information a le caractere d'un «spectacle» vivant aux facettes multiples. (Voirol 1990: 47)

Für Reportage und Interview gilt gleichermaßen, dass zunächst diejenigen Ausdrücke aus dem Englischen entlehnt wurden, welche die Akteure einer spezifischen

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und als Innovation empfundenen Tätigkeit bezeichnen. Es ist die spezifische Art der Informationserhebung und damit die primäre journalistische Handlung, die als erstes im Sprecherbewusstsein wahrgenommen und versprachlicht wurden. Erst in einem zweiten Schritt wurden die entsprechenden Substantive entlehnt (im Falle von interview) oder selbst gebildet (reportage), um das sprachliche Produkt der journalistischen Handlung zu benennen. Wenn die Sprecher einen Zeitungsartikel als reportage oder interview bezeichnen, so identifizieren sie diesen als das Produkt eben jenes spezifischen journalistischen Handlungsmusters. Die metonymische Verwendung der Ausdrücke beruht in beiden Fällen auf einer kognitiven Assoziation, die eine Handlung und deren Ergebnis unmittelbar in Beziehung zueinander setzt. Vor diesem Hintergrund muss davon ausgegangen werden, dass in dem Augenblick, da reportage ein journalistisches Textprodukt bezeichnet, das Konzept einer eigenständigen Texttradition im historischen Sprecherbewusstsein präsent und also ihre Anwendung im zeitgenössischen Journalismus bereits habitualisiert war. Als sich der Ausdruck interview im Französischen zu etablieren begann, wurde dieser in der zeitgenössischen Wahrnehmung lange Zeit mit dem Konzept des reportage in Verbindung gebracht oder sogar gleichgesetzt (L'Echo de Paris, 9.1.1891, S.l; Les Annales politiques et littoraires, 26.8.1894, S. 131; Petit de Julleville 1899, Bd.8: 581). Wie noch zu zeigen ist, beinhalten die Begriffe nicht nur jeweils ein neues, sondern auch historisch miteinander verwandte journalistische Handlungskonzepte. Dabei erscheint interview zunächst als spezielle Form des älteren reportage, bevor sich der Ausdruck gewissermaßen aus dem übergeordneten Frame löst und zu einem zwar verwandten, aber eigenständigen Begriff herausbildet. Besonders deutlich zeigt sich dieser historische Zusammenhang an der zeitgenössischen Verwendung der Ausdrücke le reporter und / 'interviewer: Wenn die beiden Substantive heute zwei weitgehend eigenständige journalistische Handlungskonzepte und deren Akteure bezeichnen, so finden sich im 19. Jahrhundert zahlreiche Belege, in denen interviewer explizit als spezieller Typus eines Reporters erscheint, und zugleich solche, in denen reporter denjenigen Journalisten bezeichnet, der üblicherweise Interviews durchführt. Die historische Gemeinsamkeit von interviewer und reporter besteht darin, dass beide Informationen erheben, indem sie vor Ort Personen befragen:41 - Une feuille locale de Berlin, la Berliner Bürger Zeitung, a dopecho un reporter au marquis de Salisbury. On pense bien que celui-ci n'a pas eu le temps de recevoir cet interviewer et de ropondre ä ses questions. (Le Temps, 26.11.1876, S.2)42 - Celui-ci, qui est un malin, ne perdit pas la carte et il sut, en se faisant interviewer par des reporters, saisir directement opinion publique et dire tout haut ä la France ce que le gouvernement refusait qu'on lui dit tout bas. (Le Triboulet, 16.9.1883, S.4) - II a approhendo ä New York par cent reporters Yankees, qui l'ont interviewe suivant leur coutume un peu grotesque, et sa mauvaise humeur, bien explicable en soi, s'est exhadans cet impromptu ou il a anathomatiso le joumalisme en genoral, et le reportage en particulier. (Giffard 1887: 343) - Un reporter, soyez en sur, va venir vous interviewer. (Larousse, Bd.17: 1438) 1

42

Dementsprechend erläutert Delvau (1883: 524) in seinem Dictionnaire de la langue verte den Begriff interwiever (sic): „II signifie selon le cas, interroger, questionner ou reporter, courrioriste." Bei dem französischen Erstbeleg der Wortfamilie interview erscheint der interviewer als neuer und spezieller Typus des bereits bekannten reporter, der im Gegensatz zum Ersten nicht als Fremdwort markiert ist.

88 - Et cette autre qui, eile, a vu hier son amant assassin^ par son man et qui se laisse aujourd'hui interviewer par un reporter, comme un auteur au lendemain d'une «premiere». (Bourget 1891, 133; Hervorh. im Orig.)43

Darüber hinaus lässt sich eine wichtige Verwandtschaftsbeziehung von Reportage und Interview zu einer dritten journalistischen Texttradition offen legen. Dies verdeutlicht der Schriftsteller Sardou, der die Texte des ersten französischen Interviewers Adrien Marx im Jahre 1880 als reportage a l'americaine und zugleich als portrait intime bezeichnet. Wie noch zu zeigen ist, bildet der Begriff visite, der für die von Marx begründete französische Interview-Tradition steht, die entscheidende Schnittstelle der journalistischen Texttraditionen Reportage, Porträt und Interview (Kap. III.2.4).44 Auf der Basis der historischen Begriffsanalyse lässt sich abschließend über die Entwicklung der Texttradition Interview eine vorläufige These formulieren, die in dem folgenden Interview-Spektrogramm dargestellt werden soll: Reportage und Enquete, die in der heutigen Praxis unmittelbare Nachbargenre des Interviews bilden, entstehen an dessen Rändern und sind in historischer Hinsicht direkt mit diesem verwandt. Wenn das Interview zu Beginn eng mit dem Handlungskonzept der Reportage verbunden ist und aus diesem entsteht, so entwickelt sich die Enquete ihrerseits aus dem Interview, bevor sie sich als eigenständige Texttradition ausdifferenziert. Mit Aufkommen der neuen journalistischen Handlungsformen Reportage und Interview in der französischen Presse entsteht auf Seiten der zeitgenössischen Sprecher das kommunikative Bedürfnis, die neuen Konzepte zu benennen. Wenn dabei einerseits die bereits vorhandenen sprachlichen Mittel ausgeschöpft und auf bekannte Begriffe und Handlungsmuster zurückgegriffen wird, so werden andererseits die entsprechenden Ausdrücke aus dem Englischen übernommen. Auf diese Weise konkurrieren eigene mit fremden Bezeichnungen innerhalb des historischen Interview-Spektrums.

Am 8.3.1891 vermerkt Goncourt in seinem Tagebuch: „On sonne. C'est un reporter qui vient m'interviewer sur le prince Napoloon, qui serait mort ou en train de mourir." (Goncourt 1956, Bd.4: 56) Vgl. Le Matin 25.4.1884, S.l; La Presse 12.12.1890, S.l; Le Temps, 22.6.1891,8.2. Auf eine weitere Verwandtschaft journalistischer Texttraditionen weist der TLF hin, indem dieser den Ausdruck enquete zur Definition des Begriffs reportage benutzt: „enqu€te destined ä ötre publioe, rodigoe par un reporter ou par un autre journaliste, ä partir d'informations prises sur le vif (TLF, Bd.14: 881; vgl. Höfler 1982: 211).

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III. Historische Textanalyse: Typen und Entwicklung des Presseinterviews

l. Die Anekdote des Soldaten Mamour In der Zeitung LE COURRIER DE VERSAILLES PARIS erschien am 21. Dezember 1789 die Anekdote des Soldaten Mamour, der nach eigenen Angaben während seiner Wache in den Tuilerien einen Verdächtigen gestellt und auf diese Weise ein Attentat auf den König verhindert hatte. Antoine Joseph Gorsas, Herausgeber des COURRIER, referiert in seinem Artikel ein Gespräch, in dem ihm Mamour den nächtlichen Zwischenfall mit eigenen Worten schilderte. Ob und inwiefern es sich bei diesem historischen Einzelfund um ein besonders frühes Exemplar des journalistischen Interviews handelt, wird im Folgenden geklärt.

l. l Revolutionsberichterstattung im COURRIER DE VERSAILLES Aus revolutionärer Überzeugung und durch den Zusammentritt der Generalstände in Versailles motiviert, gründete Antoine Joseph Gorsas (1752-1793) im Juli 1789 den COURRIER DE VERSAILLES A PARIS und fungierte gleichzeitig als dessen Alleinautor und Herausgeber. Nachdem das Medium Tageszeitung mit dem JOURNAL DE PARIS im Jahre 1777 von der französischen Presse entdeckt worden war, brachte die Revolution von 1789 eine ganze Flut von Neugründungen hervor. Allerdings besaßen diese Zeitungen in der Regel eine nur kurze Lebensdauer. So musste auch der COURRIER, dessen Name sich mehrfach änderte, sein Erscheinen nach nur vier Jahren wieder einstellen. Bis dahin waren die Ausgaben fast durchgehend täglich erschienen und noch jeweils im selben Jahr in einem Sammelband veröffentlicht worden (Albert 71993: 26-28; Sgard 1991: 299).1 Der Citoyen Gorsas berichtete täglich über die seit Juni 1789 in Versailles tagende ständige Nationalversammlung und führte minutiös Buch über die Sitzungen, Diskussionen und Entscheidungen dieser politischen Institution. Die Berichterstattung, die nach Angaben des Autors nicht auf möglichst schnelle, sondern auf reflekNachdem Gorsas, der seit September 1792 der Convention nationale angehörte, die Girondisten unterstutzt und energisch die Politik Marats attackiert hatte, wurden im März 1793 Redaktion und Druckerei des COURRIER von seinen politischen Gegnern zerstört. Gorsas, der zunächst fliehen konnte und in Abwesenheit zum Gesetzlosen erklärt wurde, wurde im Oktober 1793 verhaftet und auf der Stelle hingerichtet, nachdem er die Unvorsichtigkeit begangen hatte, am hellichten Tag seine Maitresse im Palais-Royal aufzusuchen (Balteau 1933ff.,Bd.l6:632f).

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tierte und überprüfte Information des Lesers zielte, wird von ausführlichen Sitzungsprotokollen der Nationalversammlung dominiert. Diese werden in ihrem wörtlichen Verlauf wiedergegeben (proces-verbal) oder in ihren zentralen Ergebnissen zusammengefasst (precis). Daneben machte es sich Gorsas, wie er selbst immer wieder betont, zur Aufgabe, über zentrale Ereignisse der Revolutionswirren zu berichten und die in dieser Zeit stetig aufkommenden Gerüchte zu überprüfen. Letztlich verstand sich der Autor als Chronist der Französischen Revolution und diente als täglicher Informationsbote zwischen deren Zentren Paris und Versailles. Als Nationalversammlung und König, der seitdem als de facto Gefangener der Revolution in den Tuilerien residierte, im Oktober 1789 von Versailles nach Paris zogen, änderte der COURRIER dementsprechend seinen Namen und erschien von nun an als Le Courrier de Paris dans les Provinces et des Provinces ä Paris. Wenn der COURRIER als Beispiel eines neuen journalistischen Selbstverständnisses angeführt wird, das bereits im Jahre 1789 Züge eines modernen Informationsjournalismus aufweise (Labrosse/Rotat 1989: 164-174), so muss diese These vor dem konkreten historischen Hintergrund kritisch hinterfragt werden. Denn sowohl die Mission desjournaliste temoin et acteur als auch die ereigniszentrierte und dramatische Berichterstattung dieser Zeit sind in erster Linie durch die Dynamik der Französischen Revolution bedingt. Auch überwiegen in der täglichen Praxis des COURRIER keine journalistischen Augenzeugenberichte, sondern Informationen aus zweiter Hand. Darüber hinaus werden zwar unter Vorbehalt, aber häufig ohne eigene Recherche Gerüchte wiedergegeben (on dit que oder on parle de). Schließlich lassen die inhaltliche Orientierung und die verwendeten Textformen des COURRIER, der die in der Folge der Revolution von 1789 entstehende politische Presse repräsentiert, die moderne Konzeption eines universell informierenden und faktenorientierten Journalismus noch nicht erkennen. Die dort veröffentlichten Ereignisberichte, die in Einzelfällen aufgrund ihrer Dramatik und Unmittelbarkeit an die journalistische Reportage erinnern mögen, sind bei näherer Betrachtung keineswegs als Ausdruck eines modernen Informationsjournalismus zu interpretieren. Zu oft widersprechen die chronologischen Verlaufsschilderungen, deren Spannungsbögen der klassischen Erzählung verpflichtet sind, den Kriterien moderner journalistischer Berichterstattung - so z.B. die ausführliche und detailfreudige Schilderung der Katastrophe von Senlis im Dezember 1789. Dass dieser blutige Anschlag auf die Nationalgarde 26 Tote und 17 Verletzte forderte, erfährt der Leser erst am Schluss einer minutiösen und streng chronologischen Erzählung, die mit dem farbenfrohen Stimmungsbild einer feierlichen Parade beginnt und fünf Seiten und zwei Explosionen später in einem flammenden Inferno endet. Mit den Darstellungsformen des modernen Journalismus wie Bericht oder Reportage, deren wesentliche Strukturelemente hier fehlen, hat diese Schilderung wenig gemeinsam: Details les plus exacts sur la catastrophe du 13 Decembre (Le Courrier, 29.12.1789, Bd.7, 273278). Vor diesem Hintergrund ist der COURRIER insgesamt eher als politische Tageschronik eines bedeutenden historischen Ereignisses, denn als Vorläufer des modernen Journalismus zu betrachten.2 2

Den Ereignis- und Augenzeugenberichten des Revolutionsjahres 1789, die Labrosse/Rotat (1989) anschaulich, aber ohne eine textlinguistische Definition der Reportage untersuchen, fehlen wesentliche Merkmale dieser journalistischen Textsorte (vgl. Kap. III.3.2-3.3).

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l .2 Ein Interview mit dem Soldaten Mamour Die Überschrift des vorliegenden Textes verweist explizit auf einen vorausgegangenen Kurzbeitrag: Details relatifs ä l 'Anecdote des Tuileries que nous avons citee dans notre no. 7F(Le Courrier, 21.12.1789). Dieser war am 15. Dezember erschienen und hatte unter dem Titel Anecdote dejä ancienne den nächtlichen Zwischenfall zusammengefasst und eine detaillierte Darstellung für einen späteren Zeitpunkt angekündigt. Daraufnimmt Gorsas zu Beginn seines Hauptbeitrags explizit Bezug und erläutert in einem metakommunikativen Kommentar ausfuhrlich die Maximen seines journalistischen Handelns. Dabei betont der Autor den außergewöhnlichen und daher unglaublichen Charakter des Vorfalls („ce fait, qui nous paroissoit extraordinaire"), dessen Darstellung seiner Meinung nach eine besondere Beglaubigung erfordert. Da der Wahrheitsgehalt bereits von anderer Seite angezweifelt wurde und ein anonymer Brief die Echtheit dieser fable ridicule bestritten hatte, reicht es dem Journalisten entgegen der sonst üblichen Praxis in diesem Fall nicht, die Anekdote aus zweiter Hand wiederzugeben, sondern verlangt stattdessen eine Bestätigung aus erster Hand. Dass der Autor das Gebot zu wahrhaftiger Darstellung ausdrücklich über den Auftrag zu schneller Information stellt, ist vor dem historischen Hintergrund und den besonderen Bedingungen der Berichterstattung zu sehen. So bringen die Wirren der Revolution, in der sich die Ereignisse überschlagen, täglich neue Gerüchte hervor. Diesen nachzugehen und ihre Echtheit zu überprüfen, erfordert nach eigenen Angaben des Autors Zeit und Distanz, so dass Aktualität für Gorsas keine primäre journalistische Qualität darstellt (Z.4--12):3 L'anecdote du Soldat Mamour nous avait certifiee par des personnes dignes de foi, et qui la tenoient de ce Soldat lui-mSme; malgro cela nous avons cru ne pas devoir la garantir avant que nous n'eussions vu le Sieur Mamour, et re?u de sä propre bouche la confirmation de ce fait, qui nous paroissoit extraordinaire.

Am Ende der ausführlichen Einleitung (Z.I—36) nennt der Autor den Ort und die Konstellation des Gesprächs (conversation). Wie bereits die vorangegangenen Ausführungen, so dient auch diese Passage dem einen kommunikativen Ziel, die Glaubwürdigkeit der nachfolgenden Schilderung zu betonen. Während die beiden Personen, in deren Begleitung der Journalist seinen Gesprächspartner aufsucht, implizit die Funktion von Zeugen erfüllen, ist die kurze Charakterisierung des Soldaten Mamour als ausdrückliche Beglaubigungsstrategie zu verstehen (Z.30-36): Je me suis transporto, moi troisieme, ä la caserne de Saint-Nicolas-des-Champs, ou j'ai trouve le Sieur Mamour. Voici le r£sultat de la conversation que j'ai eue avec ce soldat, qui m'a parte avec une franchise que son äge ne me permet pas de soupconner.

Den Kern des Textes bildet die Darstellung des Zwischenfalls aus der Sicht des Protagonisten, dessen Äußerungen der Journalist in direkter und unkommentierter Rede sowie ohne eigene Erwiderungen präsentiert (Z. 3 7-62). Im anschließenden Schlusskommentar (Z.63-84), der ebenfalls primär dem Zweck dient, die Äußerungen des Soldaten Mamour zu bekräftigen, weist der Journalist zwar auf eigene Gesprächsbeiträge hin, ohne diese jedoch zu zitieren oder deren Inhalt zu präzisieren. Zudem Die Zeilenangaben beziehen sich auf die Textabschrift im Anhang dieser Arbeit (S.251f).

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wirken die Äußerungen des Journalisten, die wie bereits zuvor in Form einer Fußnote lediglich angedeutet werden (,je lui ai fait des observations sur ce fusil non charge"; Z.92f.), sehr stilisiert (Z.63-67): Je n'entrerai pas dans mille dotails, dans mille objections que j'ai faites au Soldat Mamour, et auxquels il a ropondu avec un ton fait pour oloigner le doute.

Nach dem Muster eines parteiischen Anwalts fährt der Journalist fort, die Glaubwürdigkeit seines Zeugen zu stützen, indem er den Säbel des Soldaten als Indiz für die Echtheit des Zwischenfalls begutachtet. Bevor Gorsas abschließend die Taten und den Charakter des Soldaten würdigt, um erneut jeden Zweifel an der Authentizität der Schilderung und der Aufrichtigkeit ihres Autors auszuräumen („il paroit incapable d'avoir fabriquo une imposture"), verweist der Journalist darauf, dass der Soldat im Zuge der aufgenommenen Ermittlungen bereits vernommen worden sei (Z.71-77): Le Soldat Mamour a dejä e"te" interrogo deux fois sur fails et articles par la Jurisdiction de la Privöto de FHÖtel, qui est saisi de cette affaire, attendu que le fait s'est passo dans une Maison royale.

Insgesamt erfüllt der Text wesentliche Merkmale des journalistischen Interviews: Ein Journalist sucht eine Person auf, die er zu Äußerungen über einen Gegenstand motiviert, um diese in einem Zeitungsartikel zu veröffentlichen. Allerdings spiegelt der Text weder einen Frage-Antwort-Dialog, noch eine sprachliche Interaktion mit beiderseitigen Anteilen wider. Während sich die Äußerungen des Soldaten auf ein wörtliches und ein indirektes Zitat beschränken, werden die Gesprächsbeiträge des Journalisten lediglich angedeutet. Die Art ihrer Formulierung erweckt den Eindruck, dass es sich dabei nicht um reale Äußerungen der primären Gesprächssituation, sondern um stilisierte und nachträglich vom Autor in den Text eingestreute Redekommentare handelt. Da die Äußerungen des Journalisten dementsprechend keine Entgegnung des Gesprächspartners nach sich ziehen, ist eine sprachliche Interaktion im eigentlichen Sinne nicht erkennbar. Offenbar zielte die kommunikative Absicht des Journalisten nicht darauf ab, einen gegenseitigen Dialog zur Aufklärung des Sachverhalts zu initiieren und zu präsentieren. Vielmehr besteht die zentrale Funktion des Textes darin, den bereits einige Tage zuvor veröffentlichten Bericht zu beglaubigen, indem er den Protagonisten den Vorfall mit eigenen Worten und vor Zeugen schildern lässt. Aufgrund der persönlichen Begegnung mit Mamour dementiert der Journalist ausdrücklich den Verdacht, der Soldat habe die Geschichte erfunden, um sich wichtig zu machen. Letztlich stellt die skizzierte Handlungsweise des Journalisten Gorsas, der sich des innovativen Charakters seines Vorgehens offensichtlich nicht bewusst war, eine einmalige Alternative zur redaktionellen Praxis des COURRIER dar.4 Eine neue und generelle journalistische Handlungsform eröffnet sie jedenfalls nicht. Der Text muss vielmehr im konkreten historischen und publizistischen Kontext gesehen werden. So ist die vom Autor gewählte Beglaubigungsstrategie auf besondere Weise von außen motiviert: Indem der Journalist die Authentizität seines Berichts vom Protagonisten

Im COURRIER des Jahres 1790 wurden keine weiteren Interview-Belege gefunden.

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persönlich bezeugen lässt, reagiert er auf die zuvor formulierten Zweifel an dessen Echtheit. Als unmittelbarer Anstoß könnten dem Autor die polizeilichen Ermittlungen in diesem Fall gedient haben, in deren Verlauf der Soldat bereits als Zeuge vernommen wurde. Die konkreten kommunikativen Merkmale eines juristischen Verhörs, welche die spätere Entwicklung des journalistischen Interviews beeinflussen, erfüllt der vorliegende Text jedoch nur bedingt (vgl. Kap. III.4). Indem sich der Verfasser des COURRIER in diesem speziellen Fall eines außergewöhnlichen Mittels bedient, erfüllt der Revolutionschronist damit seine generelle Handlungsmaxime, den in den Wirren des Jahres 1789 kursierenden Gerüchten über bewaffnete und blutige Vorfälle nachzugehen. Da der Journalist den Hauptakteur eines solchen Ereignisses aufsucht und dessen Äußerungen im Wortlaut zitiert, ist der vorliegende Text in der Tat als eine historische Form des journalistischen Interviews zu betrachten (Labrosse/Rotat 1989, 172). Damit bildet er zugleich das bisher früheste Exemplar dieser Texttradition und löst in dieser Funktion das viel zitierte Interview des US-Journalisten Gordon Bennett aus dem Jahre 1836 ab. Dennoch sollten nach der Anecdote Mamour noch fast hundert Jahre vergehen, bis sich das Interview als journalistische Handlungsform in der französischen Presse etablierte. Denn erst mit dem Aufkommen eines auf universelle und aktuelle Berichterstattung ausgerichteten Informationsjournalismus beginnen sich im Laufe des 19. Jahrhunderts neue Texttraditionen herauszubilden, die schließlich im Zuge der Professionalisierung des Journalismus als generelle Handlungsstandards institutionalisiert werden.

1.3 Exkurs: Zum Begriff der Anekdote in der Presse Obwohl die Anekdote nicht zum modernen Kanon journalistischer Textsorten zählt, besitzt sie dennoch eine lange pressegeschichtliche Tradition. Dabei ist die literarische Kleingattung aufgrund der Heterogenität der in ihrem Namen veröffentlichten Textsammlungen schwer zu fassen. Als kurze Erzählform transportiert sie in der Regel eine singuläre Begebenheit oder einen privaten Wortwechsel, die nebensächlich und unbedeutend erscheinen, zugleich aber pointierte Bedeutsamkeit besitzen. Ziel der Anekdote ist es, eine prominente historische Persönlichkeit und „oft zugleich blitzartig eine ganze Epoche oder Gesellschaftsgruppe" zu charakterisieren (Grothe21984:65): Als Anekdote bezeichnet man eine kurze, oft anonyme Erzählung eines historischen Geschehens von geringer Wirkung, aber großer Signifikanz, die mit einer sachlichen oder sprachlichen Pointe endet. (Ueding 1992ff., Bd.l: 566)

Der Begriff Anekdote geht auf den griechischen Geschichtsschreiber Prokop zurück. Seine posthum erschienene „Geheimgeschichte" (historia arcana) des oströmischen Kaiserhofes, die zahlreiche enthüllende Einzelheiten aus dem Staats- und Gesellschaftsleben präsentierte, trug den Titel Anekdota, da es sich um bisher „unveröffentlichte" (anekdotos) Geschichten handelte. An diese Tradition knüpfte ausdrücklich der französische Autor Antoine de Varillas im Jahre 1685 an, als er unter dem Titel Les anecdotes de Florence ou l 'histoire secrete de la maison de Medicis

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ebenfalls eine „inoffizielle" Herrschaftsgeschichte veröffentlichte (Nies 1978: 48f). Als solche verstand auch Voltaire seine Geschichte des französischen Sonnenkönigs aus dem Jahre 1752 (Le siede de Louis XIV), in welcher der Philosoph den Begriff der Anekdote definierte: Les anecdotes sont un champ resserre" oü glane apres la vaste moisson de Phistoire; ce sont de petits dotails longtemps caches, et de lä vient le nom d'anecdotes; ils Interessent le public quand ils concernent les personnages illustres. (Voltaire 1830, Bd.20: 121)

Wenn damit Inhalt und Funktion der Anekdote in etwa bestimmt sind, so fehlt ihr doch eine einheitliche Form. Die häufige Dreiteilung in Einleitung (occasio), Überleitung (provocatid) und Pointe (dictum) geht auf die ebenfalls antike Tradition der Apophthegmen zurück, als deren bekanntester Autor der griechische Schriftsteller Plutarch gilt. Dessen Biografien bekannter Persönlichkeiten, die ebenso wie die histoires secretes mit nebensächlichen, aber charakteristischen Einzelheiten gespickt sind, liegt die Einsicht des Autors zugrunde, dass „eine unbedeutende Handlung, ein Ausspruch oder ein Scherz die Wesensart eines Menschen viel deutlicher" mache als die glänzendste Heldentat (Schäfer 1982: 12). Von Frankreich aus, wo die Anekdote seit dem 16. Jahrhundert eine wichtige Ausdrucksform geistreicher höfischer Konversation bildete und im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt in den Aphorismen des Nicolas de Chamfort von 1795 erreichte (Maximes et pensees, caracteres et anecdotes), gelangte die Texttradition nach Deutschland, wo sie in den „Berliner Abendblättern" Heinrich von Kleists (1810/11) ihr literarisches Modell erhielt. Eine spezielle Form der Anekdote bilden die Sammlungen der Ana, die berühmte Personen in kurzen pointierten Geschichten porträtieren (Montandon 1992: 104f.; Nies 1978: 59f). Darüber hinaus wurde die Anekdote bereits von der frühen Presse aufgegriffen, da sie die Neugier der Leser weckte. Die bedeutendste Anekdotensammlung der französischen Pressegeschichte geht der Revolutionsanekdote des Soldaten Mamour zeitlich unmittelbar voraus: Die Memoires secrets pour servir ä l 'histoire de la Republique des lettres en France, von Louis Petit de Bachaumont und seinen Nachfolgern seit 1762 verfasst, stellen eine inoffizielle Gesellschaftsgeschichte des Anden Regime dar. Neben Theater- und Buchkritiken sammelten der nouvelliste Bachaumont und die weiteren Mitglieder des Zirkels La Paroisse „Neuigkeiten" aus dem Alltagsleben des Hofes und der Pariser Gesellschaft. Aus den Gazetten jener Zeit übernommen und nach authentiques und douteuses klassifiziert, wurden diese Anekdoten, die häufig auf Gerüchten basierten, ohne weitere journalistische Überprüfung veröffentlicht (Livois 1965: 53-56). Ce copieux recueil de nouvelles rassemble les anecdotes de la vie mondaine de 1737 ä 1787; c'est «le confessionnal du XVIIIe siecle», selon l'expression des Goncourt. On y apprend les exigences financiers de Louis Racine [...], l'histoire de la momie ogaree que la police avait prise pour un cadavre, les d£me"16s de Voltaire avec Mme Denis. [...] Les Momoires secrets connurent un succes immediat. (Bellanger 1969ff, Bd.l: 185)

Als kurze Erzählung einer nebensächlichen, aber signifikanten Begebenheit aus dem privaten Leben einer bekannten Persönlichkeit wird die Anekdote um 1830 vor allem von der sogenannten Petite Presse entdeckt, der es verboten war, über die „großen" und offiziellen Ereignisse der Politik zu berichten (Larousse, Bd.l: 344f.).

97 L'anecdote s'est faite de nos jours une grande place dans le journalisme litteraire, c'est-adire non autoriso par la legislation du Second Empire ä trailer des questions politiques. Elle s'y est doguisee sous le nom de Nouvelles la main, de Bruits du jour, de Chronique, d'Echos. C'est aux apoques ou le pays participe le moins ä ses affaires que le journalisme anecdotique a le plus de succes. Nous avons vu les feuilles les plus graves forcoes d'avoir, comme les petits journaux, ä cdto de leurs publicistes, leur chroniqueur de profession, c'est-a-dire leur anecdotier. (Vapereau 1876: 98)

An der Schwelle vom chroniqueur, der mündlich verbreitete Anekdoten sammelt, zum reporter, der Informationen berichtet, die er selbst vor Ort und aus erster Hand erhoben hat, steht der Journalist Adrien Marx, der mit seinen Indiscretions parisiennes (1866) die französische Interviewtradition begründen sollte. In seinen „Besuchsporträts" bildet die anecdote ein traditionelles Element, das dazu dient, eine prominente Person mittels einer amüsanten Episode zu charakterisieren (Kap. III.2). Auch im Journalismus des 20. Jahrhunderts lebt die Anekdote weiter. In älteren Darstellungen der deutschen Publizistik wird sie im Feuilleton verortet, wo sie eine bezeichnende Begebenheit präsentiere und nach dem Prinzip „im Einzelnen das Ganze" ein charakteristisches Bild einer Persönlichkeit, einer Zeit oder einer geistigen Strömung liefere (Haacke 1952, Bd.2: 139). Die Anekdote erzählt so charakterisierende Einzelheiten einer Person oder eines Vorganges, daß sie intuitiv überzeugt und sich wirksam einprägt. [...] Die Anekdote ist lehrend und unterhaltend. (Dovifat/Wilke 61976, Bd.2, lOOf.)

Noch heute findet sich der Begriff in einem französischen Lehrbuch zum journalistischen Porträt. Ohne dass ein bestimmtes sprachliches Muster zugrunde gelegt wird, meint anecdote hier eine kleine Episode oder Einzelheit aus dem Privatleben der zu beschreibenden Person und damit ein rein inhaltliches Textelement: „Les anecdotes qui aident ä penotrer dans l'intimito du personnage public" (Montant 1995: 62 und 70) gehören zu jenen Details, die Porträt und Reportage gleichermaßen anschaulich und einprägsam machen (Kap. III.2.4). Ist damit die Entwicklung der Texttradition in Literatur und Presse skizziert, so bleibt abschließend zu klären, inwiefern der Bericht des Soldaten Mamour eine Anekdote darstellt und in welchem Verhältnis sie zum Interview steht. Während sich der Ausdruck anecdote auf den Bericht des nächtlichen Vorfalls bezieht, bezeichnet conversation das Gespräch, das der Journalist mit dem Protagonisten fuhrt, um die Anekdote aus erster Hand beglaubigen zu lassen. Dabei entspricht die Erzählung des Soldaten Mamour dem Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung, da es sich um ein bisher wenn nicht geheim gehaltenes, so doch um ein von offizieller Seite nicht bekannt gemachtes Ereignis handelt. Sicherlich bildet der nächtliche Zwischenfall insofern eine unbedeutende und nebensächliche Begebenheit, als es eben nicht zu einem Attentat auf den König kam. Von ihr geht keine unmittelbare historischpolitische Wirkung aus, die den Gang der Revolution beeinflusst hätte. Zugleich aber wirft der nächtliche Vorfall in den Tuilerien ein Licht auf die Konstellation der politischen Kräfte dieser Zeit. Dabei können die historische Signifikanz der Anekdote und ihr „pragmatischer Nutzen" (Weber 1993: 49-58) im Kontext der konkreten geschichtlichen Ereignisse an dieser Stelle nur angedeutet werden: Nachdem eine aufgebrachte Menge der Pariser Bevölkerung den König am 5. Oktober 1789 gezwungen hatte, Versailles zu verlassen und künftig in der Hauptstadt zu residie-

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ren, wo man ihn dem Einfluss des verschwörerischen Adels entzogen und der Kontrolle des Volkes unterstellt glaubte, befand sich Ludwig XVI. faktisch in „Schutzhaft" der Revolution. Für seine Sicherheit hatte die ebenfalls nach Paris umgezogene Nationalversammlung zu sorgen, deren Hauptaufgabe darin bestand, einen Ausgleich mit dem König zu erzielen und eine neue Verfassung nach dem Muster der konstitutionellen Monarchie zu entwerfen (Vovelle 1993: 19-25; Tulard 1985: 6264).5 Vor diesem Hintergrund dient die Anekdote des Soldaten Mamour dem Revolutionär Gorsas dazu, die Verwahrung des Königs zu rechtfertigen, indem sie verdeutlicht, dass der König an seinem neuen Aufenthaltsort gegen mögliche Angriffe gut beschützt werde. Denn schließlich hatte der brave Soldat den potenziellen Attentäter, als welcher der nächtliche Eindringling dargestellt wird, trotz widriger Umstände („malheureusement, mon fusil ' pas charge"") und dank seines engagierten Einsatzes in die Flucht geschlagen. Die ungelenke Art, in der Angreifer und Verteidiger agieren, sowie der durch den Mauersprung unerwartet gesetzte Schlusspunkt machen zudem den unterhaltsamen und pointierten Charakter der Anecdote Mamour aus.

2. Besuche und Porträts Im Februar 1866 erschien unter den zahlreichen Kolumnen der Pariser Presse eine neue, deren verlockender Titel Indiscretions parisiennes das Interesse der' Leser weckte. Ein gewisser Adrien Marx zeichnete als Autor dieser chronique, die zunächst in der Tageszeitung L'EVENEMENT und schließlich in deren Nachfolger, dem FIGARO, veröffentlicht wurde. Beide Zeitungen repräsentieren die im letzten Jahrzehnt des Second Empire entstehende „Informationspresse" (Palmer 1983: 14), deren journalistische Maxime der Aktualität auch den Indiscretions parisiennes zugrunde lag. Inwiefern diese Kolumne erste Beispiele der journalistischen Texttradition Interview aufweist, soll im Folgenden sowohl auf der Text- als auch auf der Handlungsebene verdeutlicht werden. Anhand exemplarischer Einzelanalysen werden Aufbau und Merkmale der Texte untersucht sowie die zahlreichen metakommunikativen Äußerungen ausgewertet, in denen der Autor Konzept und Intention seines journalistischen Handelns formuliert. Im Zentrum der Analyse steht der Begriff visite, der die Verwandtschaft des Interviews mit den Texttraditionen Reportage und Porträt aufzeigt. Ziel ist es, bereits in den Indiscretions parisiennes des Jahres 1866 und damit zu einer Zeit, als der Ausdruck interview im Französischen noch unbekannt ist, ein Textmuster nachzuweisen, das im Jahre 1880 als Modell dienen sollte für „eines der ersten großen Interviews der französischen Pressegeschichte" (Delporte 1999: 71; vgl. Kap. III.5.1).

Weber (1993: 215-219) unterscheidet für die deutsche Literatur zwischen der „charakteristischen" und der „poetischen" oder „offenen" Anekdote: Während die erste einen konkreten historischen Sinn transportiere, rege die zweite zwar zum Nachdenken an, lasse aber häufig eine endgültige Deutung offen.

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2. l Die Indiskretionen des Adrien Marx Die Indiscretions parisiennes, die seit dem 17. Februar 1866 zunächst täglich, dann dreimal pro Woche auf Seite drei im EVENEMENT erschienen, stellen aus zeitgenössischer Sicht eine chronique dar: eine an die Person des Autors gebundene und regelmäßig an gleicher Stelle erscheinende Kolumne. Der 29-jährige Autor hatte erst drei Jahre zuvor nach Abbruch seines Medizinstudiums begonnen, als Journalist für verschiedene Pariser Zeitungen zu arbeiten. Es handelt sich um jenen Adrien Marx, der - wie Emil Dovifat fast beiläufig in einem Handbuchartikel bemerkt - das Interview in der französischen Presse eingeführt habe (Dovifat 1941: 1847).6 Mit dem Start einer eigenen Kolumne gehörte er nun wie Henri Rochefort, Jules Valles und Emile Zola zum bataillon de chroniqueurs des EVENEMENT und wurde bei dessen Lesern schnell bekannt. Dabei ist der EVENEMENT in mehrfacher Hinsicht als unmittelbarer Vorgänger des bis heute existierenden FIGARO anzusehen: Mit ihm versuchte Hippolyte de Villemessant (1812-1879) im November 1865, dem erfolgreichen PETIT JOURNAL eine ebenfalls nicht-politische Tageszeitung entgegenzusetzen. Als der EVENEMENT nach nur einem Jahr sein Erscheinen einstellen musste, wurde er durch den FIGARO ersetzt. Zwar hatte Villemessant das ursprünglich satirische Wochenblatt bereits 1854 neu gegründet, doch erst nach dem Verbot des EVENEMENT sollte der FIGARO seit dem 16. November 1866 als Tageszeitung erscheinen.7 Auch personell und inhaltlich besteht eine deutliche Kontinuität. Denn neben Villemessant selbst, der in beiden Zeitungen als Herausgeber und Chefredakteur fungierte, wechselten die wichtigsten Mitglieder der Redaktion vom EVENEMENT zum FIGARO. Emile Zola, der seine journalistische Karriere im Januar 1866 mit einer eigenen Kolumne ebenfalls im EVENEMENT begann (Les livres d'aujourd'hui et de demain), stellt in seinem 1877 verfassten Porträt der Pariser Presse die Verwandtschaft beider Zeitungen aus der Sicht des Zeitzeugen dar und weist sie zugleich als Vorreiter der informationsorientierten Tagespresse aus (Zola 1966-70, Bd.14: 270): J'en arrive enfin ä la partie la plus interessante de mon otude, celle qui concerne les journaux vivant exclusivement d'informations. Ce sont eux qui tomoignent du grand mouvement de la presse contemporaine. Le Figaro est le type meme des journaux de cette categoric. [...] Villemessant comprit que l'avenir otait au journal quotidien et, sans abandonner Le Figaro, il publia L 'Evenement, journal littoraire, ä dix centimes et paraissant tous les jours. [...] Le succes de L'Evenement fut considerable; mais il s'attira quelques proces et finit par 6tre interdit. C'est alors que Villemessant docida de relancer comme quotidien Le Figaro, qui vegotait. Le Figaro n'aurait jamais pris une teile importance s'il n'avait greife" sur L 'Evenement, qui avait servi ä Villemessant de coup d'essai. Dovifat bezieht sich auf eine frühe Zola-Biografie, in der Marx als derjenige gewürdigt wird, der das Interview in den französischen und damit in den europäischen Journalismus eingeführt habe (Vizetelly 1904: 82): „He was certainly the very first to introduce the interview into European journalism." Bis heute sieht die Redaktion des FIGARO den 16. November 1866 als Gründungsdatum an, da an diesem Tag der FIGARO Tageszeitung wurde und den EVENEMENT als solche ablöste. Dies dokumentieren der damalige Eröffhungsbeitrag Un bapteme et un enterrement (Le Figaro, 16.11.1866, S.l) und die Jubiläums-Sonderbeilage Selection du siede (Le Figaro, 16.11.1966). Den Anlass zum Verbot des EVENEMENT bildete ein von der Zensur als politisch eingestufter Artikel über die Rechte der Armen (Morienval 1934: 147).

100 Dass die Indiscretions parisiennes nach dem Verbot des EVENEMENT im November 1866 ebenfalls vom FIGARO weitergeführt und gleichzeitig 42 der seit Februar erschienenen Beiträge als Buch veröffentlicht wurden, belegt den großen Publikumserfolg dieser Kolumne. Eine zweite Serie sollte sieben Jahre später an diesen Erfolg anknüpfen. Doch während die 1880 veröffentlichte Sammlung „Profils intimes. Nouvelles indiscretions parisiennes" dem Titel entsprechend ausnahmslos Porträts prominenter Personen aus Literatur und Gesellschaft beinhaltet (darunter Jules Verne, Alexandre Dumas fils, George Sand, Ferdinand de Lesseps, Gustave Vapereau sowie Ernest Renan), präsentieren sich die Texte des Jahres 1866 hinsichtlich Inhalt und Funktion sehr viel heterogener. Die äußere Form der Indiscretions ist zunächst durch eine zweistöckige Überschrift gekennzeichnet, die in der Hauptzeile den Titel der Kolumne und in der Unterzeile eine individuelle Artikel-Überschrift präsentiert. Neben der Signatur des Autors und der gelegentlich vorgenommenen Abschnittsmarkierung durch Sternchen oder römische Kapitelzahlen weisen die Beiträge, die der zeitgenössischen Praxis entsprechend als linearer Fließtext spaltenweise umbrochen wurden, keine besonderen Elemente typografischer Gestaltung auf. Eine erste Analyse der individuellen Überschriften lässt grundsätzlich drei verschiedene Typen erkennen, die entweder vorrangig ein Ereignis signalisieren, einen Ort bezeichnen oder eine Person benennen: Überschriften-Typologie ereigniszentriert

ortszentriert

personenzentriert

Une exhumation

Une maison de santo

Gavarni chez lui

Un bal du grand monde

Une taillerie de diamants

Une demi heure chez M. Veuillot

L'attentat du Faubourg Montmartre

Le sous-sol de Hotel Rothschild

Une apres-midi chez le Prince impeiial

Syntaktisches Kennzeichen der „personenzentrierten" Überschriften ist die Präposition chez, welche den Namen der jeweiligen prominenten Persönlichkeit der Pariser Öffentlichkeit unmittelbar mit deren privater Umgebung verbindet. Aus der Reihe der Personen ragt aufgrund seiner exponierten gesellschaftlichen Stellung der Sohn Kaiser Napoleons III. heraus - ein Umstand, dem die Redaktion in Präsentation und Gestaltung des Artikels entsprechend Rechnung trug. So erschien der Text Une apres-midi chez le Prince imperial, der sich durch einen deutlich größeren Umfang von allen anderen Beiträgen der Serie unterscheidet, als einziger auf Seite eins und war mit einer vom Prinzen signierten und dem Autor gewidmeten Zeichnung versehen (L'Evonement, 15.4.1866, S.l). Auf diese dritte Gruppe „personenzentrierter" Texte, in denen der Autor über die unmittelbare Begegnung und den sprachlichen Austausch mit der benannten Person berichtet, wird sich die spätere exemplarische Einzelanalyse konzentrieren (Kap. .2.3). Der Titel Indiscretions parisiennes spiegelt exakt die inhaltliche Ausrichtung von EVENEMENT und FIGARO wider, deren Berichterstattung nach Art der unpoliti-

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sehen Presse das Geschehen auf den Pariser Boulevards fokussierte. Diesem ParisZentrismus (parisianisme) verdankte der FIGARO das zeitgenössische Etikett eines „Paris special qui commence a Opera pour finir ä la Porte Saint-Martin" (Palmer 1983: 269). Wie dieser trug auch der EVENEMENT den Untertitel journal litteraire: „ce qui signifiait pour Villemessant: traiter de l'actualito parisienne, hors de la politique, avec un talent litteraire" (Le Figaro, 16.11.1966, Sonderbeilage Selection du siede, S.l). Dass als Kriterium der Informationsauswahl zu dieser Zeit bereits die journalistische Qualitätsmaxime der Aktualität diente, verdeutlicht ein Blick auf die Titel der neuen Rubriken, die Villemessant zu Beginn des Jahres 1866 im EVENEMENT einführte und die sich ausschließlich mit dem Geschehen in Paris und der Pariser Gesellschaft beschäftigten: Mit Paris aujour lejour, Hier - Aujourd'hui - Demain und Choses du jour präsentierte die Tageszeitung allein drei verschiedene Rubriken für aktuelle Meldungen (vgl. Tchirva 1994: 115f). Zudem wurde die Forderung nach Aktualität häufig ausdrücklich thematisiert: Wie zahlreiche metakommunikative Äußerungen verdeutlichen, war das Aktualitätspostulat im Jahre 1866 keineswegs etabliert, sondern bedurfte der expliziten Erklärung. Nur so ist es zu verstehen, wenn der Herausgeber dem Leser die wichtigste Maxime seines Blattes erläutert und sich gleichzeitig für die dadurch entstehende Monotonie entschuldigt: Le lecteur se plaint peut-£tre de la monotonie de cette petite chronique quotidienne. II y voit chaque jour des röcits de bals et de fetes, et ce sujet ne varie guere; de quelque facon qu'on le prosente, en effet, c'est un peu toujours la meme chose. [...] Notre excuse, s'il en est besoin d'une, est dans notre litre: Actuaiite. (L'Evdnement, 12.2.1866, S.2; Hervorh. im Orig.)8

Bereits sehr ähnlich dem modernen Verständnis des Begriffs wird Aktualität hier relativ zum Erscheinungsrhythmus definiert: Als neu und also aktuell gilt das in der letzten Ausgabe noch nicht berichtete und damit potenziell noch unbekannte Ereignis. Dass sich der Journalist somit jeden Tag zur Suche nach Neuigkeiten aufgefordert sieht, illustriert der Verfasser der Choses du jour mit Hilfe einer einprägsamen Metapher. Darin stilisiert sich der Journalist Georges Maillard zum Jäger, der fortwährend der Nachricht des Tages auf der Spur sei und sich dabei allein vom Kriterium der Aktualität leiten lasse:9 Je suis chargo de vous dire ici, et avec tout le luxe de dotails qu'il me sera possible de trouver, la nouvelle du jour, l'ovenement, le fait, la chose du moment. [...] La seule ligne de conduite qui me soit tracee, c'est l'actualite. Un semblable travail sera necessairement fort inogal: riche de faits aujourd'hui, je puis etre demain pauvre comme Job. Chasseur heureux hier, je puis ce soir revenir bredouille. [...] Rien n'est inutile et mauvais pourvu qu'il intoresse et ne soit pas encore tombo dans la fosso des banal i tos connues. Je ne donnerai que du nouveau. (L'Evenement, 7.1.1866, S.l; Hervorh. im Orig.)

Nach Angabe des Dictionnaire historique de la langue franqaise kommt der Begriff actualite gegen Mitte des 19. Jahrhunderts in der französischen Presse auf und ist dort im Jahre 184S in der folgenden Bedeutung belegt (DHLF: 18): „etre d'actualite et au pluriel nouvelles, informations du jour".

Timothoe Trimm, der populäre Kolumnist des PETIT JOURNAL, griff die Metapher wenig später auf und charakterisierte La chasse ä l'actualite als neue journalistische Mode (PJ, 15.2.1866,8.1).

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Als einen vorbildlichen Nachrichtenjäger charakterisierte Emile Zola seinen Kollegen Adrien Marx und bezog sich dabei unmittelbar auf dessen Kolumne: Entre tous ceux qui chassent ä l'actualite, M. Adrien Marx est certainement un des meilleurs tireurs. a trouvo un titre qui a fait sä fortune; il a mis bravement comme enseigne ä ses articles: Indiscretions porisiermes, et nous sommes & de regarder par la fente des portes qu'il entrebäillait. Songez done! Nous allions apprendre les petits secrets, les petites particularites, choses dont nous sommes tres friands. Et l'auteur promettait en toutes lettres d'etre parisien et d'ötre indiscret, c'est-ä-dire de ne rien cacher, de bavarder et meme de cancaner sur les hommes et les choses de Paris. II faut ajouter que ce bavard a un esprit gai et leste qui est entro pour une bonne moitio dans son succes. [...] Marx est heureusement un analyste ingonieux qui a des yeux excellents et qui ne laisse rien ochapper dans les inventaires qu'il dresse. (Le Salut public, 20.11.1866; Zola 1966-70, Bd.10: 685)

Wie stark die neue Leitidee die tägliche Arbeit des Journalisten bereits zu dieser Zeit beeinflusste, bestätigt auch der Schriftsteller Jules Vallos, der zu Beginn seiner Kolumne im EVENEMENT der Aktualitätsforderung kritisch begegnet und sich geradezu rechtfertigen muss, diese nicht zu befolgen: Ma chronique ne s'emparant pas de l'actualito brülante, je paraitrai au jour oü les autres n'auront pas d'aliments ou se reposeront. II ne meurt pas tous les soirs un homme ou une femme colebre, et un chroniqueur peut avoir un rhume ä soigner ou un voyage ä faire. J'aime mieux, je l'avoue, avoir du temps, ma liberto, et je pourrai chercher mon butin ä mes heures. (L'Evonement, 13.11.1865, S.l; Vallis 1975: 574f.)

Auch der Autor der Indiscretions parisiennes betrachtet den zeitgenössischen Journalisten als vom Postulat der Aktualität Getriebenen: Quel singulier motier que le notre! Nous assistions hier ä Claremont aux obseques d'une reine; aujourd'hui nous voila chez un prince aux Tuileries: demain, peut-6tre, nous serons devant Garibaldi ä Caprera! Photographes de la petite presse, nous braquons notre objectif ou nous pousse l'actualite; [...] notre mission consiste a voir et non ä juger. (L'Evenement, 15.4.1866,8.1)

Sowohl das Bild, das Adrien Marx hier von seiner beruflichen Tätigkeit (metier) entwirft, als auch die zeitgenössische Jagd-Metapher spiegeln das journalistische Handlungskonzept eines Reporters wider und entsprechen im Wesentlichen dessen moderner Definition als , journaliste envoyo sur place pour rapporter un rocit direct des e"ve"nements" (Albert 1989: 167): Ohne den Ausdruck reporter zu verwenden, wird hier das Tätigkeitsmuster eines Journalisten beschrieben, der die Redaktion verlässt, sich vor Ort eines Geschehens begibt und dort Neuigkeiten sammelt, um diese anschließend zur Redaktion und Über diesen Weg zum Leser „zurückzutragen". Ob sich Adrien Marx im Jahre 1866 bereits als Reporter im Dienste von Information und Aktualität verstand und wie der Autor selbst die Qualitäten seines Handelns im Einzelnen formulierte, soll anhand der sprachreflexiven oder metakommunikativen Äußerungen des Journalisten untersucht werden.

2.2 Reporter im Dienst von Information und Aktualität Die Handlungsweise von Adrien Marx steht im Spannungsverhältnis von Tradition und Innovation: Während sich der Journalist selbst als chroniqueur versteht (Le

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Figaro, 4.3.1873, S.2), entsprechen die von ihm beschriebenen journalistischen Tätigkeitsmerkmale dem Handlungsmuster eines reporter. Als solchen bezeichnen ihn aus der rückblickenden Perspektive des Jahres 1880 der Biograf Gustave Vapereau und der Schriftsteller Victorien Sardou, die Adrien Marx damit als Journalist neuer Prägung ausweisen. Als dieser im Februar 1866 seine tägliche Kolumne im EVENEMENT erhielt, gehörte er damit zum bataillon de chroniqueurs, wie Herausgeber Villemessant seinen Mitarbeiterstab bezeichnete. Wie schwierig es ist, den Ausdruck chroniqueur, der ursprünglich den historischen Chronisten bezeichnete, und dessen journalistische Bedeutung eindeutig zu bestimmen,10 zeigt der folgende Eintrag des Grand dictionnaire universel du 19? siede aus dem Jahre 1869: De tous les vocables de notre langue, le mot chroniqueur est peut-etre celui qu'il serait le plus difficile de deünir. [...] A l'heure prosente, on entend par chroniqueurs non plus ces historiens diffus, [...] tnais bien ces improvisateurs quotidiens, feuilletonistes et gazetiers ä la plume legere et le plus souvent moqueuse, qui, rapidement, touchent aux mille questions comiques, sorieuses, grotesques ou olevoes qui surgissent chaque jour dans le monde, le demi-monde, le quart de monde, et meme dans ce qui n'appartient plus ä aucun monde. (Larousse, Bd.4: 251; Hervorh. im Orig.)

Einen anderen Versuch, den chroniqueur zu typologisieren, unternahm der Journalist Robert de Jouvenel im Jahre 1920: Celui-ci ne vit pas dans atmosphere du journal, il ne lit pas les dopeches, ne mene pas d'enquetes et ne communique pas avec le lecteur. ocrit paisiblement dans son cabinet bien clos, ou, s'il a le respect de traditions anciennes, sur une table de cafe\ ne relate pas les fails: il en tire les moralites ou en retire plus simplement des occasions de plaisanteries. Ce personnage [...] nous a Ie"gu6 par une opoque ou le lecteur ne se croyait pas pressd de connaitre les evonements, ni meme de se faire une opinion ä leur sujet. Ce public sage acceptait de lire, durant plusieurs jours, le commentaire du m6me fait ou le developpement de la meme , pourvu que I'idie nit ingonieuse ou que le commentaire fut oloquent. (Jouvenel 1920: 3 If.)

Nach dieser treffenden Charakterisierung, die auf den französischen Journalismus des 19. Jahrhunderts zielt und in ihren wesentlichen Merkmalen zugleich auf den heutigen Kolumnisten zutrifft, reflektiert der chroniqueur abseits der Tagesaktualität über Dinge des sozialen Lebens und teilt seine Betrachtungen in seiner persönlichen Kolumne (chronique) mit (Voirol 1990: 82; Noelle-Neumann u.a. 1994: llOf). Der sprachliche Stil ist dem Autor freigestellt, und der Ton entspricht einer heiteren und amüsanten Plauderei. Letzteres trifft insbesondere auf die Epoche des 19. Jahrhunderts zu, in der die Konversationskultur eine angenehme Leichtigkeit zur Behandlung gesellschaftlicher Fragen empfahl und in der Presse die Form der Causeries hervorbrachte. So gelangt auch der zitierte Artikel im Larousse zu dem Schluss: Comme on le voit, il y a dans le chroniqueur d'aujourd'hui un humoriste, un causeur et un philosophe. (Larousse, Bd.4: 251)

Offensichtlich war sich Adrien Marx des innovativen Charakters seines Handelns bewusst, so dass er sein Vorgehen rechtfertigen oder doch zumindest dem Leser erläutern wollte. Als Indiz dafür kann der Umstand gewertet werden, dass die Texte

Laut DHLF (418f.) ist der Begriff seit 1811 in seiner journalistischen Bedeutung belegt.

104 der Indiscretions überaus reich an sprachreflexiven Äußerungen des Autors sind, in denen dieser explizit sein journalistisches Handeln beschreibt und seine kommunikativen Absichten formuliert. Im Gegensatz zum typischen chroniqueur, der seine Redaktion nicht verläset und bestenfalls Informationen aus zweiter Hand weitergibt, stand für Marx ganz im Sinne eines chasseur de nouvelles die „Jagd" nach aktuellen Informationen im Vordergrund. Das vom Autor selbst formulierte Handlungskonzept besteht im Kern darin, den Ort eines Geschehens oder einer potenziellen Neuigkeit aufzusuchen. Im November 1866 charakterisierte der Chefredakteur des FIGARO Adrien Marx als typischen Vertreter eines modernen, aufgrund eigener Anstrengungen gut informierten Journalisten: Un journaliste bien informo doit etre partout ä la m6me heure, in orbem et in urbem, dit la quatrieme foe; je lui souhaite done les jambes infatigables du Juif errant - ou d'Adrien Marx! (Le Figaro, 16.11.1866, S.l; Hervorh. im Orig.)

Unermüdlich in Bewegung sowie überall und zur selben Zeit vor Ort sein - so lautete das journalistische Gebot der Stunde. Marx selbst, der seine Leser explizit aufrief, ihn bei dieser Aufgabe mit konkreten Hinweisen zu unterstützen, beschrieb im ersten Beitrag seiner Kolumne im Februar 1866 Entwurf und Ziel seines Handelns: Ils [mes lecteurs] n'auront qu'ä me designer les points de Paris oü se trouvent les choses curieuses, les gloires ignoroes, les motiers inconnus, les faits inddits; j'y courrai le carnet en main et je leur rendrai mes impressions d'une sincere sinon ologante. (L'Evonement, 17.2.1866,8.3)

Ohne sich selbst als reporter zu bezeichnen (noch 1873 nannte sich Marx chroniqueur), formulierte der Journalist damit doch das Handlungskonzept eines modernen Reporters: Auf der Suche nach interessanten und bisher unbekannten Informationen (les choses curieuses, les faits inedits) begibt sich der Journalist vor Ort (j 'y courrai), sammelt dort subjektive Eindrücke (mes impressions), die er mit Hilfe seines Notizblockes festhält (le carnet en main), um sie anschließend dem Leser möglichst wahrheitsgetreu wiederbringen zu können (je leur rendrai mes impressions d'une faqon sincere). Damit sind die persönliche Präsenz vor Ort sowie Subjektivität und Authentizität während der Aufnahme und Wiedergabe von Informationen als besondere Qualitäten des journalistischen Handelns eines Reporters benannt. Zwar sollten noch einige Jahre vergehen, bis sich der Ausdruck le carnet d'un reporter als feststehender Begriff etablierte (Marx selbst verwendete den Audruck erstmals 1880) und das Notizheft zum Symbol des modernen Reporters wurde. Doch bereits 1866 diente der Ausdruck le carnet en main dem Zweck, die Unverfälschtheit der vom Journalisten vor Ort gesammelten Eindrücke und Beobachtungen zu garantieren: Je trouve encore sur mon carnet pas mal d'observations relatives ä l'Acadomie imperiale de musique, notamment sur les appartements roservos ä M. Perrin. J'en ai visito une portion. (L'Evenement, 1.6.1866, S.3; vgl. Kap. III.3.4.1)

Wie wird nun das innovative Tätigkeitsmuster eines Reporters im Einzelnen beschrieben? Das zentrale Charakteristikum seines Handelns formuliert Adrien Marx explizit anlässlich seines Besuches in einer Pariser Loge. Danach macht es sich der

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Journalist zur Aufgabe, Orte aufzusuchen und zu betreten, die für seine Leser unzugänglich sind: Je me suis donno pour mission de pe"n6trer dans tous les lieux dont le public est exclu. (L'Evenement, 26.4.1866, S.3)

Ob es sich dabei um private Orte der Pariser Gesellschaft oder um Schauplätze aktueller Ereignisse handelt, in jedem Fall ist der Journalist darum bemüht, dass ihm Zutritt gewährt wird. Dabei fungiert die Tür als metaphorisches Sinnbild für das Hindernis, das dem Unbefugten den Zugang versperrt und das der „Reporter" im Auftrag des Lesers zu passieren versucht: Je pourrai dosormais dcouter plus longtemps aux portes, multiplier mes demarches et debarrasser mes r6ve"lations des longueurs inhorents a un travail procipito. [...] Cela dit, je me recommande ä quiconque peut m'ouvrir des portes qui ne s'ouvrent pas d'ordinaire aux profanes. (L'Ev&iement, 15.3.1866, S.3; Hervorh. d. Verf.)

Sehr oft handelt es sich um soziale Barrieren, die der Journalist überwinden muss. Daher bedient sich Marx zuweilen eines Mittelsmannes, eines introducteur, der den Zutritt ermöglicht und selbst persönlich während des Besuchs anwesend ist: Als der junge Journalist den Weinkeller des Bankiers Rothschild aufsucht, wird er von seinem Chefredakteur und einflussreichen Zeitungsdirektor Villemessant begleitet. Um Zutritt zu den kaiserlichen Privaträumen zu erlangen, holt Marx die schriftliche Autorisierung des Kaisers ein und wird von dessen Sekretär empfangen und gefuhrt. Dabei wird Marx durch seine Artikel selbst sehr schnell zu einer in der Pariser Öffentlichkeit bekannten Person, die ihrerseits „berichtenswerte" Empfange gibt: „Les receptions de M. Adrien Marx" (L'Evonement, 17.3.1866, S.2). Allerdings wird dem Journalisten der Zugang nicht immer gewährt. So berichtet Marx unter dem Titel Bredouille ausführlich über den vergeblichen Versuch, die Erlaubnis für den Besuch einer öffentlichen Behörde zu erhalten (L'Evonement, 1.5.1866, S.3). Diese Besuche, die im Zentrum des journalistischen Handelns von Adrien Marx stehen, dienen letztlich dazu, dass sich der Journalist durch eigene Beobachtungen am Ort ein genaues Bild macht und dieses anschließend verschriftlicht. Auf diese Weise erhält der Leser eine detaillierte Vorstellung von Orten, die ihm in der Regel verschlossen sind. Explizit formuliert der Autor diesen Zusammenhang in jenem Anschreiben, in dem er um Zutritt zu den kaiserlichen Gemächern bittet und das zu Beginn des Artikels abgedruckt ist (Une apres-midi chez le Prince imperial): Sire, rodigeant tous les jours ä VEvenement un article intituled Indiscretions parisiennes, je dosirerais dicrire ä mes lecteurs, les appartements du Prince imporial. Votre Majeste daignera-t-elle me seconder dans ma tache, en m'autorisant a visiter le corps de logis occupo par son fils au palais des Tuileries? (L'Evenement, 15.4.1866, S.I).

Wie Timothoe Trimm, der chroniqueur des PETIT JOURNAL bezeugt, gehört es darüber hinaus zur Spezialität seines Berufskollegen Adrien Marx, den Schauplatz eines Verbrechens nachträglich aufzusuchen und den Tatort minutiös zu beschreiben: Un chroniqueur, M. Adrien Marx, apres avoir entendu condamner les deux assassins de la marchande ä la toilette de la rue de Clichy, s'est imagino d'aller visiter le theatre du crime, et de faire boneTicier la curiosite publique de ses lugubres investigations. (Le Petit Journal, 27.2.1866, S. l)

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In diesem Zusammenhang nennt Marx als weitere Tätigkeit, die seine Beobachtungen vor Ort ergänzt, das Befragen von Zeugen: Ce matin je suis arrivo sur les lieux du crime au moment le commissaire de police les quittait. [...] Le ills de la concierge m'a communiquo les up sur, mais, comme dit le proverbe, ä l'impossible nul n'esttenu. (L'Echo de Paris, 9.1.1891, S.l) Wie die vorangegangenen Beispiele dokumentieren, spiegelt sich in der InterviewSatire die zeitgenössische Praxis der journalistischen Texttradition wider. So werden einerseits die zentralen historischen Typen des Interviews als solche bestätigt. Zugleich zielt die pointiert formulierte Kritik sowohl auf den inflationären Gebrauch der Handlungsform als auch auf damit einhergehende journalistische Fehlleistungen. Während im Falle des sachzentrierten Interviews und der Enquete insbesondere die Auswahl der befragten Personen bemängelt wird, wenn keine sinnvolle Relation zum Gegenstand zu erkennen ist, steht die Praxis der personenzentrierten Visite in der Kritik, weil der öffentliche Informationsauftrag häufig hinter die individuellen Interessen von Interviewer und Interviewtem zurücktritt. Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert und damit in der historischen Blütezeit des Presseinterviews wurde die journalistische Texttradition also in dem Fall kritisiert, dass der Gewinn an Informa94

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Der Autor entschuldigt sich zudem bei seinem Kollegen Fernand Xau dafür, dass er dessen Methode der journalistischen Befragung kopiert habe: „Je tiens tout d'abord ä m'excuser aupres de mon excellent collaborates F. Xau de lui avoir emprunto, pour cette fois, un procedd d'investigation dans l'exercice duquel il est passo mattre: j'ai nommo Pinterview!" (L'Echo de Paris, 9.1.1891, S.l). Der satirische Charakter des Textes zeigt sich auch an anderer Stelle, als sich der Dramatiker Victorien Sardou im Interview beklagt, dass nicht alle Kritiker bereits nach dem ersten Akt seine Stücke verließen, da dieser doch stets der beste sei (L'Echo de Paris, 9.1. 1891,8.1).

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tion in der Sache oder über die Person des Interviewten geringer einzustufen ist als der reine human-interest-Effekt, bei dem das Publikum mit kuriosen Stellungnahmen prominenter Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens lediglich unterhalten oder umworben werden soll.

Schlussbetrachtungen

Auf der Basis eines umfangreichen Textkorpus wurde die historische Entwicklung des journalistischen Interviews in der französischen Presse analysiert. Im Verlauf dieser Untersuchung, deren Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegt, konnte gezeigt werden, wie sich das Interview als neue Texttradition herausbildete und als journalistische Handlungsform etablierte. Die wichtigsten Etappen und Typen dieser Entwicklung wurden mit Hilfe exemplarischer Textanalysen detailliert dargestellt und in kurzen Ausblicken bis in die aktuelle Interviewpraxis weiterverfolgt. Dank der Analyse, die neben der unmittelbaren Textrealität insbesondere auch die Selbstwahrnehmung der zeitgenössischen Textproduzenten berücksichtigte, konnten die zentralen historischen Typen des journalistischen Interviews ausgemacht und beschrieben werden. Dabei stellen die Visite (1), das thematischsachzentrierte Interview (2), die Enquete (3) und das kurze Experten-Interview (4) keine theoretisch abgeleiteten, sondern in der historischen Realität identifizierbare Formen dar: 1) Die Visite, die auf dem sozialen Handlungsmuster einer in der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts beheimateten Besuchskultur basiert, bildet die erste und wichtigste Tradition, indem sie das französische Presseinterview in Aufbau und Funktion über Jahrzehnte entscheidend prägen sollte. Insbesondere die szenische Textbildung und die subjektive Erzählperspektive der Visite verweisen auf die unmittelbare historische Verwandtschaft des Interviews mit der Reportage. Da die Visite den Befragten in seiner privaten Umgebung porträtiert, repräsentiert sie den historischen Prototyp des personenzentrierten Interviews, das auch in der modernen Praxis meist mit prominenten Personen geführt wird. 2) Das sachzentrierte Interview, das sich statt einer szenischen Textbildung durch eine thematisch orientierte und situationsarme Wiedergabe der primären Gesprächssituation auszeichnet, bildet das historische Pendant zur Visite. Wenn die thematisch-sachzentrierten Interviews des MATIN einerseits die in den frühen 1880er Jahren beginnende Habitualisierung und Standardisierung der neuen Texttradition in der französischen Presse dokumentieren, so wurde andererseits deutlich, dass es in der Folge und unter dem dominanten Einfluss der Visite-Tradition zur Mischung der beiden Interviewtypen kam. 3) Als eine Großform der journalistischen Befragung bildete sich im Zuge der allgemeinen Intervieweuphorie gegen Ende der 1880er Jahre die Enquete heraus. Wurde die journalistische Umfrage zunächst als ein historischer Typus des Interviews praktiziert, so entwickelte sich die Enquete in der Folgezeit zu einer

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eigenständigen Texttradition, die sich zudem von der reinen Befragung zur journalistischen Untersuchung wandelte. Heute zählt die Enquete, die ein gesellschaftlich relevantes Problem umfassend behandelt und dokumentiert, mit Interview und Reportage zu den drei anspruchsvollen Königsgattungen des modernen französischen Journalismus. 4) Während sich die Enquete ursprünglich aus mehreren Einzelinterviews und Stellungnahmen konstituierte, entstand zeitgleich eine Kurzform der journalistischen Befragung, die in der historischen Praxis des späten 19. Jahrhunderts vor allem mit Wissenschaftlern geführt wurde und die Berichterstattung über einen aktuellen Sachverhalt mit zusätzlichen Informationen und Bewertungen eines Experten ergänzte. Dieser historische Subtyp des thematisch-sachzentrierten Interviews markiert nicht nur die Entstehung des bis heute praktizierten Experten-Interviews, sondern bildet zugleich den historischen Vorläufer des modernen Kurz-Interviews, das in der Form der Trois questions ä etwa von der Tageszeitung LE MONDE regelmäßig realisiert wird. In der Frage nach den historischen Ursprüngen markieren die „Besuche und Porträts" des Journalisten Adrien Marx aus dem Jahre 1866 die Anfänge einer neuen journalistischen Texttradition und der Geschichte des Interviews in der französischen Presse. Denn über die singuläre Bedeutung früherer Einzelfunde hinaus, die wie die Anekdote des Soldaten Mamour aus dem Jahre 1789 - lediglich aus heutiger Sicht in die Traditionskette des Interviews eingereiht werden können, belegen die Visites den Beginn einer neuen journalistischen Textpraxis, die von den Zeitgenossen als solche wahrgenommen wurde und die mit der bürgerlichen Besuchskultur auf ein bewährtes soziales Handlungsmuster zurückgreift. Aus journalistischer Warte basiert das in der Visite vermittelte Personenporträt auf einer innovativen Vorgehensweise: Durch den vom Journalisten initiierten Besuch vor Ort und die direkte Begegnung mit der Person schafft der Interviewer ein berichtenswertes Ereignis und erfüllt so das zeitgenössische Aktualitätspostulat des neuen Informationsjournalismus. Der Besuch des Journalisten, dessen szenischer Verlauf im Textmuster Visite aus der subjektiven Perspektive des Berichterstatters vor Ort geschildert wird, verdeutlicht zugleich die Nähe zur Reportage, die als journalistische Texttradition dem Interview historisch unmittelbar vorausgeht. Neben der Vor-Ort-Präsenz des journalistischen Berichterstatters ist es die direkte Personen-Rede, die im Interview wie in der Reportage den Prozess der Informationsgewinnung vor Ort offen legt und — wie im zeitgenössischen naturalistischen Roman - als Authentizitätsgarantie fungiert. Im Falle der Visite dienen sowohl der Inhalt des Gesagten als auch die Art des sprachlichen Ausdrucks der zentralen Textfunktion: Vom Journalisten motiviert, charakterisiert sich die Person durch das, was sie sagt, und dadurch, wie sie es sagt. Neben der Visite bildet das Textmuster Interrogatoire, das unmittelbar dem juristischen Verhör nachgebildet ist und der zeitgenössischen Praxis journalistischer Gerichtsberichterstattung entspricht, einen weiteren Traditionsstrang des Presseinterviews. Hierbei schlüpft der Journalist in die Rolle eines polizeilichen Ermittlers, der einen Zeugen zu einem Tathergang befragt. Da diese Form der Befragung jedoch richterliche Autorität erfordert und eng an einen konkreten juristischen Handlungskontext gebunden ist, spielt der Interrogatoire eine weit geringere Rolle in der

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zeitgenössischen Interviewpraxis als die Visite und ist nicht als ein historisch relevanter Typus zu betrachten. Gleichwohl lassen sich auf der primären Gesprächsebene die privilegierte Rolle des Interviewers und auf der sekundären Textebene die Dialogwiedergabe in alternierenden Frage-Antwort-Wechseln grundsätzlich als gemeinsame Merkmale zwischen dem juristischen Verhör und dem modernen Interview erkennen. Da eine unmittelbare Übertragung der richterlichen Gesprächsdominanz oder des Textmusters Interrogatoire auf das journalistische Interview jedoch nicht stattfindet, ist das juristische Verhör weder als einzige, noch als dominante Traditionsquelle des Interviews anzusehen. Wenn auch in unterschiedlichem Maße, so erscheinen Interrogatoire und Visite beide im Bereich des unpolitischen „Sensationsjournalismus", wie er in den 1860er Jahren von der so genannten Petite Presse in Frankreich praktiziert wurde. Agiert der Interviewer im ersten Fall als polizeilicher Ermittler in spektakulären Kriminalfa'llen, so dringt er im zweiten in die Privatsphäre prominenter Personen ein, um unbekannte Details zu enthüllen. Bei diesen „Indiskretionen", die Adrien Marx auf den Begriff brachte und die ein Leitmotiv der zeitgenössischen Metakommunikation bildeten, handelt es sich generell um Informationen, die der Befragte nicht von sich aus preisgibt und die der Interviewer im Gespräch zutage fördern muss. Während sich der Autor der Indiscretions parisiennes vor allem als genauer Beobachter sowie zurückhaltender Besucher auszeichnete und in der sprachlichen Interaktion meist darauf beschränkte, Stichworte seines Gegenübers aufzugreifen statt eigene Fragen zu formulieren, lässt sich im Zuge der Habitualisierung und Standardisierung des Interviews in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts eine zunehmend aktivere und schließlich dominante Handlungsrolle des Interviewers beobachten. So können sowohl die geladene Frage als auch die Technik des kritischen Nachhakens an Einzelbeispielen bereits in den 1880er Jahren belegt werden. Ein explizit „kontroverses" oder gar „kämpferisches" Interview ist in den untersuchten Zeitungen jedoch zu keiner Zeit auszumachen. Dies unterstreicht die Funktion, die der Gesprächsdominanz des Interviewers zukommt. Denn als spezifisches Merkmal der Kommunikationsform Interview dient sie dem journalistischen Informationsauftrag, indem sie den Gegenstand der sprachlichen Interaktion - und damit entweder den behandelten Sachverhalt oder die befragte Person - bestmöglich zur Geltung bringt. Wie die Analyse der einzelnen historischen Typen gezeigt hat, lässt sich das journalistische Interview sowohl im Hinblick auf seine Methode der Informationserhebung als auch hinsichtlich seiner Darstellungstechnik auf bestimmte soziokulturelle Traditionen und deren Handlungsmuster zurückfuhren. Diese haben die Herausbildung des Interviews ebenso beeinflusst wie die Entwicklung der unmittelbar mit ihm verwandten Texttraditionen Reportage, Porträt und Enquete. Insgesamt ist ihre Ausdifferenzierung zu journalistischen Standards in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eng mit der zeitgenössischen Entwicklung in Wissenschaft und Literatur verbunden: Die Idee, einen Gegenstand durch eigene Beobachtungen und Wahrnehmungen vor Ort zu erfassen und diese dem Leser als solche zu vermitteln, geht auf die positivistische und biologische Wissenschaft in der Nachfolge Darwins zurück und wurde in Frankreich mittelbar über die naturalistischen Schriftsteller von den Journalisten aufgegriffen. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum die

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minutiöse Beschreibung der äußeren Erscheinung des Befragten und seiner privaten Umgebung wesentliche Elemente der Texttradition Interview und deren historischen Prototyps, der Visite, bildeten. In dieser Tradition stehen das personenzentrierte Interview und das Porträt, die bis heute auf der Vorstellung basieren, dass die vom journalistischen Berichterstatter vor Ort beobachtete Art, in der eine Person agiert und spricht, Rückschlüsse auf deren Charakter zulässt. Während sich die Visite eines spezifischen Musters szenischer Textbildung, die noch heute zu den Darstellungstechniken von Porträt und Reportage zählt, bediente, um die subjektiven Wahrnehmungen des Journalisten zu vermitteln, konzentriert sich die standardisierte moderne Darstellungsform Interview auf die Redewiedergabe und fängt die visuelle Perspektive meist durch die Elemente Vorspann und Foto ein. Die mit Hilfe der Begriffs- und Textanalyse identifizierten historischen Typen spiegeln sich in der zeitgenössischen Interview-Satire wider, die zugleich Blüte und Inflation der journalistischen Texttradition in der französischen Presse der späten 80er und frühen 90er Jahre des 19. Jahrhunderts dokumentiert. Als literarisierte Form der journalistischen Texttradition erscheinen seit Mitte der 1880er Jahre die imaginären Interviews, deren spezieller Typus „Interview mit einem Toten" wiederum auf der antiken Gattung der Totengespräche basiert. Während imaginäre Interviews als literarische Fiktion konzipiert und rezipiert werden, verstößt die Interview-Fälschung gegen die journalistische Glaubwürdigkeit, da sie vorgibt, ein reales Gespräch zu referieren. Wie die seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts geführten Diskussionen um die Echtheit von Interviews sowie die theoretischen Beiträge prominenter Schriftsteller zu Beginn der 1890er Jahre verdeutlichen, bildet die Authentizität der vermittelten Äußerungen die zentrale Qualität des Interviews. Dies zeigen auch die zahlreichen Beglaubigungsformeln, die sich der historischen Entwicklung entsprechend wandelten. Wenn Ausdrücke wie Stenographie, photographie oder phonographic dabei gezielt auf die zeitgenössischen Aufzeichnungstechniken verweisen, so sind diese jedoch für die journalistische Praxis nicht wört-lich zu verstehen, sondern als rhetorische Beglaubigungsstrategien zu interpretieren. Die Frage, ob Authentizität besser durch das exakte Wortprotokoll oder durch eine sinngemäße Redewiedergabe garantiert werde, stand von Beginn an im Mittelpunkt der Interview-Kritik. Indem die Herausbildung und Entwicklung der journalistischen Texttradition aus romanistischer Perspektive und am Beispiel der französischen Presse untersucht und dargestellt wurde, liefert diese Arbeit einen ersten Beitrag zur Geschichte des Interviews. Wenn zudem die Entwicklung in den USA und Deutschland schlaglichtartig berücksichtigt und insbesondere der angloamerikanische Einfluss auf die französische Interviewtradition ausgelotet werden konnten (etwa anhand von Interview-Übernahmen oder am Beispiel des MATIN), so bleibt es dennoch weiteren Untersuchungen überlassen, die Entwicklung in anderen Ländern und Sprachgemeinschaften in vergleichender Perspektive zu analysieren und das vorliegende Einzelporträt zu einer universellen Geschichte des Interviews zu vervollständigen.

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8-LC2-159 Micr D-62 MicrD-147 Micr D-13 Micr D-97 MicrD-105 Microfilm M-482 Micr D-32 Micr D-66 Micr D-165 MicrD-383 MicrD-135 Micr D-100 Micr D-108 Micr D-45 Micr D-164

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Anhang

D&ails relatifs V Anecdote des Tuileries que nous avons citae dans notre no. IV.'

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Nous avons dej prdvenu nos lecteurs que nous proforions les laisser dans Γ ignorance de certains fails, plut t que de les induire en erreur. L'anecdote du Soldat Mamour nous avail έΐέ certifiee par des personnes dignes de foi, el qui la lenoienl de ce Soldat lui-meme; malgrd cela nous avons cm ne pas devoir la garantir avanl que nous n'eussions vu le Sieur Mamour, et re?u de s propre bouche la confirmation de ce fait, qui nous paroissoit extraordinaire; nous nous y sommes determines avec d'autant plus d'empressement, que nous y avons έΐέ provoquos par une lettre anonyme, dans laquelle on nous observoil que nous n'aurions pas du adopter cette fable ridicule, et faire attention que nos feuilles allant dans 1'elranger, de pareilles rapsodies oloienl faites pour les discrediler. Nous remercions I'auteur de ce conseil, duquel nous avons fail grand cas, et qui a d'aulanl plus sollicite* notre reconnoissance, qu'il est donne avec ces menagemens que Γηοηηέΐβΐέ exige, encore plus lorsqu'on se couvre du manteau de Panonyme, que lorsqu'on signe unecrit (1). Je me suis Iransporte", moi troisieme (2), la caserne de Saint-Nicolas-desChamps, ou j'ai Ιπηινέ le Sieur Mamour. Voici le resultat de la conversation que j'ai cue avec ce soldat, qui m'a parle avec une franchise que son age ne me permet pas de soupfonner.

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Le Courrier de Versailles, 21.12.1789 (Bd.7,Nr.lO, 149-152).

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«J'otois le soir en faction sur la terrasse des Tuileries; je vois un homme qui se glisse, tenant la main un tison, qu'il cherchoit cacher, la faveur d'une capote qui m'a parue grise; il tenoit un fusil de l'autre main. Je crie de loin, qui vtve\ il ne me repond pas, mais il s'arr&e. Malheureusement mon jusil n 'etoit pas charge (3). Je dopose mon arme, et je vais sur ce mal intentionno le sabre la main, en criant: arrdte! arrete! mais il franchil les perches qui entourent les plates bandes, et se sauve toutes jambes; malheureusement, en volant les franchir mon tour, je suis tombo, ce qui n'auroit pas empecho que je ne 1'eusse atteint, parce que, quoique la frayeur lui donn t de 1'agilile, il έΐοϊΐ embarrasso par sa capote, ce qui retardoit sa fiiite. Je vins bout de le rejoindre un dolour, el je lui allongeai un coup de sabre qui fill garanti par son fusil, el bientot il ochappe mes efforts, en franchissanl le mur de la lerrasse dans un endroil ou il a au moins 20 (4) pieds de haul.» Je n'entrerai pas dans mille details, dans mille objections que j'ai faites au Soldat Mamour, el auxquels il a ropondu avec un Ion fail pour oloigner le doule. Le sabre, au surplus, esl doposo, el porte une breche rosullanl du coup donno sur le fusil, qui a έΐέ abandonno alors par celui qui en eloil armo, el qui porte Tempreinle du coup de sabre. Le Soldal Mamour a deja έΐέ interrog deux fois sur fails el articles par la Jurisdiction de la Prevote" de l'H lel, qui esl saisi de cette affaire, attendu que le fail s'esl passo dans une Maison

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royale. Mamour nous a dit qu'il croyoit que Fhomme avoit ete airSte depuis, mais qu'il n'en etoit pas certain. Ce Mamour est un brave Soldat qui a fait la guerre d'Amerique avec M. de la Fayette. II ne demande rien, il est content de son sort, et il paroit incapable d'avoir fabriquo une imposture. 1. A cette occasion, nous accuserons un sieur Desfontaines, se disant Soldat Citoyen, et oubliant par moprise d'autres qualiles, la lettre que nous en avons Γβςυβ.

90 2. Notamment avec M. Regnier, ηέgociant, rue St. Denis. 3. Je lui ai fait des observations sur ce fusil non charge. 4. 95

ιοο

INDISCRETIONS PARISIENNES Le Marquis de Boissy J'ai voulu voir de pres ce tribun singulier qui traite «Albion» comme Caton traitait la perfide Carthage, et je me suis rendu hier dans son hotel de la cite de Londres.

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C'est un bailment carri, simple d'apparence et presque mystdrieux. Un chasseur beige, au tricorne emplumo, veille au seuil du poristyle, dont les f cheux sont ovincos par un valet de chambre que je soupconne d'origine britannique. Chose bizarre! Je distinguai accroche aux pateres de 1'anlichambre le pardessus du marquis, un vetement grisatre et feutre, dont le collet porte la marque du premier tailleur de Birmingham! Je remarquai aussi, pendant le long des murs, des speaking-tube, a 1'aide desquels les domestiques correspondent avec leurs collogues affectos au service des elages superieurs. Bref, je me serais cru chez un lord patriote de Cavendish-square, et j'otais Paris chez un sonateur anglophobe. 2

L'Evonement, 17.2.1866, S.3f.

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J'ai dej observe que dans plusieurs numeios, on avoit imprimo 60 pieds (faute absolument d'impression et corrige dans la plupart des exemplaires). Ceux qui connoissent 1'imprimerie savent combien ces fautes se glissent facilement.

On me fit entrer dans un salon dont les murs capitonnos de damas rouge disparaissaient sous de grands tableaux de maltre et sous de hauls bahuls garnis d'objels d'art, et j'otais en train d'admirer un Titien authentique, quand la portiere se souleva pour donner passage un petit vieillard alerte, sec et ρέtulant... C'etait M. de Boissy. Une face anguleuse, des yeux saillanls hors de 1'orbite, un nez aquilin, une bouche ironique, un front fuyant sur lequel chevauchent des meches extravagantes: voil la tote. Quant au corps, il est relativement otique, exigu el malingre. Bien qu'il fut de bon matin (dix heures venaient de sonner), il otait en habit. Un gilet noir enserrait son torse grele, et ses jambes flottaient dans un double orui de casimir. Les pieds seuls s'otaient afiranchis de ce docorum matinal, et reposaient, demi entros, dans des chaussons doubles de flanelle. - Vous voulez ma biographic? me dilil. Elle est bien simple. [...] Pair de France sous Louis-Philippe, je suis remonto ces temps derniers la tribune, imbu de ce precepte qu'un bon citoyen se doit a son pays avant de se devoir son drapeau. [...] On me taquine sou-

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vent quand j'ai la parole; et pourtant j'arrive toujours ä exprimer ce que je veux, car je suis tenace et tötu. On me battra peut-etre, on ne m'abattrajamais. Mais il faut que je vous quitte, ma somnambule est la-haut qui m'attend. - Votre somnambule?fis-jeetonne.

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- Oui, c'est une de mes faiblesses, ou une de mes forces. Voilä trente ans qu'un medecin ne s'est approchd de moi, et en voici la raison. II y a vingtcinq ans j'etais chez une dame anglaise que j'avais souvent heurtoe par mon scepticisme concernant les manoeuvres magnotiques, eile obtint que j'irais des le lendemain chez la pythonisse, et je m'y rendis seul, incognito. [...] Deux mois apres, jour pour jour, heure pour heure, j'itais couche inerte et demi-mort. Les soins de tous les docteurs de Paris furent vains. De guerre lasse, je mandai la somnambule ä mon chevet, eile me remit sur pied en huit jours. [...] Elle a ceci de precieux qu'elle me prldit mes moindres malaises aussi bien que mes plus graves souftrances. Grace ä eile je me prepare ä etre malade comme d'autres a voyager, je fais mes cataplasmes comme d'autres font leurs malles.

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Excusez-moi... J'ai häte de savoir si je serai exempt des bobos durant la session... je ne me souci pas de garder le lit, ayant encore pas mal de voritos ä dire.

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- Avez-vous utilisi les mirifiques proprietes de votre sujet relativement ä l'avenir des gouvernements? demandaije au senateur. 95 - Non, ropondit-il vivement, et cela pour deux raisons. Je profere concentrer les facultos de ma somnambule sur ma santo. Et puis, a quoi bon apprendre ce qui sera demain? II est si difficile de 100 savoir ce qui est aujourd'hui.

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Sur ce, le marquis me tendit une carte: - Voici mon adresse, me dit-il, venez me voir ou ecrivez-moi: j'aime les jeunes gens. Avant de serrer le carr6 de velin, en haut duquel etaient gravees les armes de M. de Boissy, je remarquai sur les deux ocussons tbrmant le centre trois mains dessinoes du cötö de la paume et une jambe tendue horizontalement. Je devins songeur. Ces mains indiquent-elles la mission de celui qui flagelle ou l'embleme de celui qui secourt? Cette jambe explique-t-elle que le marquis tient ä la disposition de ses adversaires les arguments de Bilboquet, ou qu'il marche dans la carriere politique au profit du Progres dont il se dit le fervent apötre?

ADRIEN MARX

[Mes lecteurs] n'auront qu'ä me dosigner les points de Paris ou se trouvent les choses curieuses, les gloires ignoroes, les motiers inconnus, les faits 125 inidits; j'y courrai le carnet en main et je leur rendrai mes impressions d'une facon sincere [...].

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LE CRIME DE PANTIN A Cernay

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Nous recommandons tout specialement la lecture de la correspondence suivante de Cernay, quijette unjour tout nauveau sur le drome de Pantin, et que nous envoie avec les autographes a I'appui noire collaborates Henry Marsey.

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Je procodai par interrogatoire et je vous le transcris textuellement.

Cemay, 27 septembre 1869. 60 10

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J'otais alte ä Guebwiller, mais on savait trop peu de dotails sur les Tropmann, et j'ai compris qu'il fallait me rendre ä Cernay m@me. Mon premier soin, en arrivant ä Cernay, a de me rendre ä 1'dtat civil, afin d'obtenir des renseignements positifs sur la famille Tropmann. Tropmann pere, Jean-Baptiste, n'est pas ä Cemay: il est de Brunstatt, et est ago de 56 ans. II est venu s'otablir ici, il y a ä peu pres vingt-ans. C'est un mocanicien des plus habiles, chercheur, inventeur, et qui a perdu son avoir dans des tentatives avortees. II a inventö notamment une machine ä tubes en papier, pour les filatures, qui sont tres employees dans le dopartement et ä Roubaix, en particulier chez MM. Morel et Motch. L'annoe demiere il avait invente une mitrailleuse; des experiences furent faites en prosence du juge de paix, du prüfet et d'autres autorites, mais ne rdussirent pas. Depuis ce temps, Tropmann pere s'adonne ä la boisson. [...] Arrivons au plus jeune, c'est-ä-dire ä assassin Jean-Baptiste Tropmann, non pas ä Cernay, mais ä Brunstatt et qui n'a pas encore tiro au sort. Je me suis rendu chez M. Fest, juge de paix, qui, ainsi que M. Witterbach, comprenant les services reels que la presse avait rendus dans toute cette affaire, a bien voulu se mettre ma disposition. Nous avons envoye chercher Tropmann pere; c'est un homme trapu, assez fort, LeGaulois, 29.9.1869, S.I.

qui ne parle pas le francais, du moins ä ce qu'il affirme; ses yeux sont rouges, la levre epaisse et pendante. On comprend en le voyant qu'il merite la putation de buveur qu'il s'est acquise dans le pays. II semble tres 6mu, mais se montre cependant absolument disposo ä repondre.

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D. - Depuis combien de temps votre fils avait-il quitto le pays? R. - Depuis un an a peu pr6s. Je ne puis dire exactement la date, car, ce moment, j'otais moi-mome absent, m'otant rendu ä Roubaix pour monter des broches. Cependant, je pense que c'6tail au mois de novembre de I'annoe demiere. D. - L'avez-vous revu depuis? R. - Oui, il y a trois semaines ou un mois. D. - Logeait-il chez vous? R. - Oui, monsieur. D. - Que vous disait-il ä cette opoque? R. - II disait que, s'il avait 1,500 fr. ä lui, il ferait fortune; mais que du reste il allait organiser une affaire et qu'il gagnerait de argent. II disait qu'il s'occupait d'une nouvelle invention; un jour, il est parti en disant qu'il allait ä Mulhouse; il est revenu tres tard. [...] II a offert vingt francs ä sä mere, mais eile lui a repondu qu'elle n'avait pas besoin de son argent, surtout puisqu'il ne voulait pas dire d'ou cela lui venait. D. - Quel est le caractere de votre fils? R. - Quoique cela ne soit pas douteux aujourd'hui, je ne puis croire qu'il ait commis un tel crime, en tout cas il n'a pas fait cela seul. Je suis bien heureux qu'on I'ait arreto, car peut-Stre aurait-il fait encore d'autres victimes. C'est un garcon qui a I'air tres doux: il est mince, mais il est extrdmement fort. [...] D. - Quelle 6tait sa conduite envers vous et sa mere? R. - Toujours tres bonne: il aimait et respectait beaucoup sa mere; je n'ai rien ä lui reprocher de ce cot6-la; je l'ai fait baptiser et 61ever ä l'ecole primaire. II a fait sa premiere communion ä quatorze ans, puis, je lui ai appris le motier

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de mecanicien: il etait devenu assez bon ouvrier. D. - Avait-il de l'argent quand il £tait demierement chez vous? R. - Je vous Fai dit, il m'a dit en avoir de quelqu'un, qu'il ne voulait pas nommer et qu'il avait vu a Guebwiller; c'dtait, selon lui, la personne qui devait exploiter ses nouvelles inventions. Au courant de mon enqu&e, j'avais appris le fait suivant: A la suite d'une querelle au sujet d'une fille du pays, Tropmann aurait attiro un jeune homme, nomme Lang, dans un guet-apens, et l'aurait fraprje ä la töte d'un coup de marteau: Lang, qui est aujourd'hui en Amorique, aurait passi plusieurs jours dans son lit et Faffaire n'aurait pas eto obruitee. J'ai interrogo ä ce sujet le pere Tropmann, et voici ce qu'il m'a raconto. [...] Ce rocit, emanant de la bouche m6me de Tropmann fils, est evidemment inexact; certainement ce demier avait attiro Lang ä atelier et l'avait frappe1 par surprise. Mais le pere ne peut que ropeter ce que lui a raconte son fils. Le pere Tropmann ajoute ensuite que son fils 6tait range, pas noceur, et qu'il ne donnait aucun sujet de plainte; seulement il disait a son fils: - Je suis bien fächo que tu sois dissimule comme cela avec nous. Tu ne nous dis jamais ce que tu fais. - II s'occupait beaucoup de chimie, et disait qu'il trouverait le moyen de faire fortune. Voici maintenant des renseignements d'une importance capitale et absolument inedits. J'ai demando au pore Tropmann si, depuis le dernier depart de son fils, il avait recu des lettres de lui. - Plusieurs, m'a-t-il repondu.

145 - D'oü vous etaient-elles adressoes? - De Paris.

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- Repondiez-vous? -Oui. - A quelle adresse? - Poste restante. J'ai alors invito le pore Tropmann ä aller chercher les lettres et ä les deposer entre les mains de M. le juge de paix. II s'est rendu chez lui, aupres de l'eglise, et a rapporte cinq lettres en date des 4,10, 16, 18 et 20 septembre. [...] Les cinq lettres que j'ai sous les yeux font toujours allusion ä la meme prooccupation. Tropmann s'occupe d'une affaire, qui sera bientot terminee. Mais j'art ire votre attention sur celle-ci en date du 16 septembre. [...] Je ne veux pas insister sur Fodieuse signification de ces lettres; la justice achevera son oeuvre. Tropmann n'a pas ocrit depuis le crime. L'denture de ces lettres est hätive, tremblee Du reste, je vous envoie une autographic de la derniere. Vous en jugerez. De tout ceci, je conclus que, si Gustave Kinck a ete" assassino ä Pantin, entre le 16 et le 20 septembre, Jean Kinck a 6te assassino du l" au 3 septembre aupres de Guebwiller, le jour oü Tropmann est revenu avec de argent et a offert 20 francs ä sä mere. C'est la que doivent 6tre dingoes les recherches, et qu'on decouvrira le demier mot de cette sinistre enigme. Entre Bollwiller, Soultz et Guebwiller.

HENRY MARSEY Autre dotail assez curieux. Tropmann a donne au Havre successivement les 185 noms de Wolff, de Fisch et de Vandenberghe, ces trois noms appartiennent ä des families de Cemay: c'etaient demment les premiers qui se fussent prosentos ä son esprit. 190 H. M.

256 Une visite chez M. Emile Zola4

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Rue de Boulogne, 23. M. Emile Zola, frileux comme un meridional, - chez lui il y a du feu en plein , - n'a pas encore quitto Paris pour sa campagne de Modan. Je gravis trois e"tages. Apres m'avoir fait attendre quelques minutes dans un vestibule de cinq pieds carrds, un valet de chambre m'introduit dans le cabinet de travail de l'auteur des Rougon-Macquart. C'est une vaste piece oü la lumiere n'arrive qu'affaiblie par des vitraux de couleur. [...] Aux murs, de nombreux tableaux - sans grande originalite, sans seiieuse valeur Tous appartiennent ä l'ocole impressionniste. Je cherche en vain le portrait que Manet a fait de M. Zola. Peu de livres. En dipit de cette banalito apparente, on sent qu'on se trouve en presence d'un homme qui aime son «chez soi» [...]; chaque chose est ä sa place; ovidemment, M. Zola est un homme d'ordre et de mothode.

Physiquement, tout le monde connait M. Zola. Les photographies qu'on a de lui sont tres ressemblantes. Quelqu'un a dit qu'il avait la tßte d'un penseur et le corps d'un athlete. Rien de plus vrai. II y a dans sa physionomie une expres30 sion vague de sincere amertume ou de dedain profond qui serait plus approciable si des levres opaisses, mais exemptes de sensualito, n'avaient quelque chose de cette raillerie brutale qui 35 caractörise certains types Italiens. D'ailleurs il y a ä la fois du Bavarois et du Napolitain chez lui. [...] Est-ce le resultat d'un calcul ou un simple effet du hasard? Quand j'entre, 40 M. Zola ocrit. Je suis ä coto de lui qu'il ne m'a pas encore regardö. Pourtant, j'ai annonco. Je jette un regard indiscret; -je vois qu'il vient de terminer la suscription d'une lettre. 45 Pour &re juste, je dois doclarer que cela n'a pas duro plus de trois secondes. M. Zola se leve, s'incline correctement, peut-etre avec un peu de gone ou de raideur; mais cette allure, qui semble un

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La Paix, 13.4.1880, S.2f.

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peu etudiee, est temporee par un cordial serrement de mains. Apres quelques nouvelles que je donnai ä M. Zola de plusieurs de ses amis, qu'il n'a pas vus depuis longtemps, j 'arrivai resolument au but de ma visite. Au surplus, comme M. de Amicies,* je n'avais pas Parodi pour introducteur et intermodiaire. M. Zola me mit tout de suite ä l'aise. - Je ne sais exactement ce que vous voulez faire sur moi, me dit-il; mais vous Stes le bienvenu. Questionnez-moi - et je vous ropondrai sans ambages. Et voilä comment, deux heures et demie durant - de dix heures et demie du matin a une heure de l'apres-midi j'ai questionnl M. Zola. Si les lecteurs de la Paix le veulent bien, je resumerai fidelement cette conversation, j'allais dire cet interrogatoire. I Tout d'abord, me dit M. Zola, je dois vous mettre en garde contre tout ce qui a publio sur mon compte. L'etude la plus consciencieuse, la plus exacte et la plus habilement faite, en ce qui me conceme, est celle de M. de Amicies.* [...] Mon pere, poursuivit M. Zola, [...] ne tarda pas ä se fixer ä Aix, ou il fit creuser un canal qui porte son nom. Ici, M. Zola se leva et me montra, avec une lueur d'orgueil dans les yeux, un tableau - bien mauvais, du reste - representant le canal en question et portant en exergue: CANAL ZOLA. - Ce canal, poursuivit-il, est appele vulgairement «barrage de Jaumegarde». [...] Pour parier plus particulierement de moi, continue M. Zola, j'avais trois ans quand ma famille quitta Paris pour venir s'installer ä Aix. [...] Bon oleve ä Aix [...], je devins mauvais 616ve ä Paris. [...] Au mois de fövrier 1862, je rus attacho ä la maison Hachette. Je n'en sortis que le 31 janvier 1866. J'otais chef de la publicito et, ä ce litre, je me fis beaucoup de relations dans le monde litteraire.

* Es muss lauten: Amicis.

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Ici, j'interrompis M. Zola. - Je me souviens, lui dis-je, de certain article public sur vous par Valles. Me permettez-vous de vous le rappeler? - J'ai, en effet, me r6pondit-il, connu Valles chez MM. Hachette. Maintenant, ai-je tenu le propos qu'il me prfite? Ai-je dit, en me frappant la tdte: Je suis certain d'arriver, car je sens que j'ai quelque chose lä? Je n'en souviens pas. Mais la chose n'est pas impossible; j'ai toujours eu une absolue confiance dans mon energie, dans ma volonto... Quoi qu'il en soit, reprit M. Zola apres une pause, j'otais chez MM. Hachette lorsque je publiais, en 1864, les Contes a Ninon [...]. Nous otions ä la fin de novembre 1865; je donnais ma domission pour le 31 Janvier 1866, ne voulant pas m'exposer aux oventualites de la misere, ä l'6cheance dejä ponible d'une fin d'annde. Quelques jours apres, je rencontrai Bourdin, le gendre de Villemessant, ä qui je confiai mes infortunes. Vous devriez, me dit-il, icrire ä Villemessant. J'ocrivis et, par courrier, je riponse favorable. J'entrai au Figaro le Ier fevrier 1866, c'est-a-dire le lendemain de ma sortie de la maison Hachette. II - C'est quelques mois plus tard, interrompis-je, que vous avez publio cette otude sur la Neige que la Paix a eu l'heureuse idoe de reproduire. - Oui, repondit M. Zola, et cet article a son histoire. [...] En somme ce qui parut de moi au Figaro est au moins peu brillant. [...] Quant au Conies ä Ninon, dont je vous ai dejä parlo, ils ont paru antorieurement ä leur publication en volume, dans la Revue du mois, journal qui appartenait ä M. Mazure, aujourd'hui doputo. M. Zola s'arreta net. J'abordai, non sans hesitation, une question d'une nature particulierement dedicate. - Apres tous ces essais, ces difficultos rosolues, lui demandai-je, n'avez-vous pas signo avec M. Charpentier un traito qui vous assurait six mille francs par an, contre la remise de deux ouvrages? Ne vous trouviez-vous pas ainsi dans une situation qui vous permit de vaquer paisiblement ä vos travaux littdraires?

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- C'est la, me repondit-il, une erreur qui a cours. En somme, ma situation e"tait assez miserable et je cherchais, depuis longtemps, ä trouver les six mille francs annuels que je jugeais nocessaires pour travailler, de tout repos. Mais la chose n'otait pas aisoe. Malgro les critiques assez vives qu' avaient soulevoes mes premiers ouvrages, en dopit du bruit qui s'etait fait autour de mon Salon du Figaro, mes volumes se vendaient peu. [...]. Cependant, il advint que mes volumes se vendirent et que le traito flit une excellente affaire pour 1'editeur. [...] - Je vous signale ce proc6d6-la, ajouta M. Zola. Je crois que peu d'editeurs en sont capables! Un hors-d'oeuvre: Si on calcule qu'on a tiro le soixante-seizieme mille volume du demier roman de M. Zola, que ce roman a dejä paru dans le Voltaire et qu'il est reproduit par plusieurs feuilles de Paris, de la province et de Fotranger, - si, en outre, on considere que M. Zola a un feuilleton dramatique et qu'il est le correspondant de plusieurs joumaux importants, - on peut se faire, approximativement, une idee de ce qu'il gagne aujourd'hui. Je resolus alors de questionner M. Zola sur sä facon de vivre et de travailler. - Je me leve, dit-il, ä neuf heures du matin. Je travaille jusqu'ä une heure de I'apres-midi. [...] Ainsi, gendralement, je public un roman par an; [...] Si les principaux opisodes de l'ouvrage, ceuxla qui produisent matiere aux descriptions, doivent inevitablement se produire, ces opisodes ne sont point amenos par le hasard, comme a pretendu un joumaliste anglais, mais par des circonstances itudioes, calculoes, proparees et bien dofinies. Its ne nuiront jamais au developpement de oeuvre et ne se trouveront jamais en Opposition avec les types caracteristiques du roman. Au surplus, je ne lance jamais ces derniers dans la bataille sans les avoir armes de pied en cap. Tout est provu, dotermine, rogle. Je sais encore plus oü ils vont que d'oü ils partent. Us ne traversent pas, au hasard, une opoque ou une suite d'ovonements, - et ils vont fatalement ä un but. - II est incontestable, dis-je ä M. Zola, que vos romans sont surtout le rosultat

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de l'observation. Vous avez suivi chacun de vos personnages pas a pas, vous avez otudio s vie, dissoquo ses passions, diagnostiquo son mal. C'est ainsi que moi, que le metier de reporter oblige connaJtre la vie intime, secrete des personnages qui roulent sur le boulevard cet e*crasant rocher de Sisyphe qui se nomme l'Importance et le Dosoeuvrement, je pourrais mettre un nom tous les personnages de vos romans parisiens, — de Ναηα, par exemple. Cependant, il m'apparait que tous ces types n'appartiennent pas a la simple observation. - La lagende, reprit vivement M. Zola, veut que je n'aie έΐέ qu'un scrupuleux photographe, doublo d'un dotestable faiseur de bons mots. On a rapprocho les noms de mes personnages de ceux de gens fort connus de tous, - excepti de moi. Peu importait d'ailleurs que, entre ceux-ci et ceux-l , il y eut ou non ressemblance de caracteres! La similitude de noms sufTisait, si bien qu'en roalito on m'en a cru roduit faire des calembours. Vous avouerez que ce n'est guere flaneur! Cette question de la croation des personnages devait nous mener des questions autrement graves. - Vous ne m'otonnez point, poursuivit M. Zola, en me parlant de cette Ιέgende. II y a longtemps qu'elle a cours. [...] Eugene Rougon sera toujours pour lui [le public] M. Rouher. - Combien, hasardais-je, la sorie des Rougon-Macquart fera-t-elle de volumes? — Vingt. Et, propos de mes publications futures, [...] ce sera une sorte de reaction contre mes ceuvres antorieures, les deux idees de la douleur et de la bonte domineront cette etude, qui, du reste, ne paraitra pas avant dix-huit mois ou deux ans. - Ne comptez-vous done rien publier avant une e'poque aussi oloignoe? - J'ai surtout l'intention de m'occuper du tho tre. [...] Enfin, je m'occupe en ce moment de re~unir en trois volumes, chez Charpentier, tous mes articles de critique, en les soudant ensemble de facon leur donner un regain d'actualito. Le premier volume comprendra mes articles de critique tho trale; le second renfermera mes portraits litto-

raires; le troisieme traitera de questions gonorales. Apres un temps de repos, je dis M. 275 Zola: - II ne me reste guere qu'une question vous adresser; mais eile est grave, puisqu'elle a trait au naturalisme... M. Zola m'interrompit: 280 - Je ne suis en critique, fit-il, qu'un constatateur. J'appartiens l'ocole de Taine et je me compare un botaniste qui classe dans son herbier les diverses plantes, en mettant en regard leurs 285 vertus utiles ou leurs proprietos dangereuses. Je n'ai pas dotermino le courant du naturalisme, je l'ai suivi. [...] Pour moi, je le ropete, je n'ai rien, absolument rien αέοουνεΛ: [...] et le mot 290 naturalisme a έΐέ prononco avant moi par plus de vingt auteurs. Cela dit, j'en reviens la confusion voulue et de mauvaise foi qu'on a faite mon ogard entre le critique et le 295 producteur. On dit que je ne suis pas toujours d'accord avec moi-m&ne. Mais je ne le conteste pas, je sais fort bien que je suis empanacho. Est-ce ma faute si I'influence du romantisme a έΐέ 300 teile que les plus rosolus de ses adversaires ont tant de peine se dibarrasser de son influence pemicieuse? J'aime la langue classique, [...] Suis-je done si coupable si, en dopit de mes 305 efforts, je n'arrive pas la parier, Focrire? Et cela doit-il m'empecher de prodiguer des conseils que je crois sages et utiles? - II n'en est pas moins vrai, inter310 rompis-je, que I'ocole naturaliste vous considere comme son chef direct et autorise? Ici, M. Zola, dont la placiditd de caractere ne s'otait pas domentie un seul 315 instant, parut irrit et me dit brusquement: - Je ne suis pas, je ne veux pas 6tre chef d'ocole! C'est encore une logende qu'il faut dotruire! [...] Voulez-vous 320 savoir ce qui me fait surtout considorer comme chef d'6cole? C'est que je dis tout haut ce que les autres disent tout bas. Ce que j'ocris n'est, en somme, que le rosumo fidele des conversations 325 que j'ai avec Daudet et Goncourt [...]. Je ne saurais done trop protester contre la qualification qu'on me donne de chef d'ocole. [...] Mais celui-la est le chef,

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puisqu'il dit tout haut ce que les autres taisent avec tant de persistance! - Aussi bien, continua M. Zola, on n'invente rien. [...] Le malheur pour Hugo est qu'il est vieux; il n'a plus sa virilito d'antan. Oh! sans cela, vous le verriez au milieu de nous, et il combattrait dans nos rangs. Et cela est tellement vrai qu'il a des velloitos de sacrifier ä 1'ocole naturaliste. Seulement, son entourage est implacable - et I'Komme n'a plus la puissance des premiers jours. Notez bien, ajouta M. Zola, que j'ai un fanatique de Hugo, et que, malgro tout, je reste un de ses plus sinceres admirateurs. - Tout cela est tres beau, dis-je, mais ne craignez-vous pas que l'avenir du naturalisme ne soit compromis par des exagerations de forme monstrueuses et systematiques? Ne redoutez-vous pas, par exemple, que le style torturo et, passez-moi le mot, - absolument dcocurant de M. Huysmans n'engendre une terrible röaction et ne nous rejette dans les mievreries de Delille? - Je suis tres franc, surtout vis-ä-vis de mes amis, ropondit M. Zola. Quand Huysmans, que j'aime beaucoup, est venu m'apporter les Soeurs Vatard, je ne lui ai pas dissimuld que I'exces de son coloris rendait son tableau inacceptable. [...] Mais, en vous rappelant done que je n'ai point de disciples, je vous ferai remarquer que Huysmans n'est mime pas mon oleve; c'est l'eleve des Goncourt, et sa personnalito etait tres accused avant la publication de YAssommoir\ Pour me rosumer, dit en terminant M. Zola, j'entends n'Stre responsable de personne. Je crierai plutdt par-dessus les toils que je ne suis pas chef d'ecole et que je ne veux pas de disciples. Je marche vers un but que vous connaissez maintenant et je sens que, si je n'ai pas les encouragements de la presse, j'ai du moins les sympathies du public. Cela me sufftt. II ne me restait plus qu'a remercier M. Zola et ä prendre conge* de lui. II me tendit la main avec cordialito; puis, apres m'avoir reconduit jusqu'ä la porte de son cabinet, il me salua de ce salut froid et correct qui m'avait dejä frappo lorsque j'avais dte" introduit aupres de lui.

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Ill Le lecteur a vu que je me suis simplement renfermo dans le role de stinographe. J'ai penso qu'il ne s'en plaindrait pas. II veut de I'exactitude et dedaigne le fatras des commentaires. J'ai tenu ä me conformer a ce dosir. Pourtant, me sera-t-il permis de faire quelques reflexions, qui sont la suite logique et le comploment naturel de cette 6tude? Dans la conversation que je viens de relater, j'ai pu juger M. Zola comme honune et l'apprecier mieux comme ocrivain. [...] Honnöte homme et 6crivain consciencieux, il est plein de son oeuvre et soucieux de son art. [...] Certes, la physiologic de la famille des Rougon-Macquart, restera. Si eile ne marque pas une dtape nouvelle dans la literature, eile demeurera, du moins, comme une puissante itude scientifique et medicate et comme la tentative la plus bardie et la forme la plus variee du roman exporimental. [...] Enftn, pour terminer cette etude physiologique, [...] un homme se dressera, dominant d'une facon süperbe les nements neTastes et les faisant oublier [...], le modecin Pascal Rougon. De tout cela, il ressort qu'il est cessaire d'attendre la fin de lOeuvre pour la juger sans parti pris et sans erreur possible. Mais que M. Zola nous permette de le lui dire: observateur attentif, physiologiste consciencieux, ecrivain sincere et descripteur incomparable, il cherche ä dominer son opoque au lieu de vivre au milieu

425 d'elle. [...] Tout cela est beau, tout cela est grand; mais si les personnages qu'il m61e a ces conceptions goniales peuvent et doivent exister, tels qu'il les reprosente, en 430 vertu de lois physiologiques, peuventils vivre, respirer, et se perpotuer dans cette atmosphere saruree d'oxygone et surchargee de vie? N'y a-t-il pas la un pheomene physique inacceptable? 435 Mais, je l'ai dit, il faut attendre I'oeuvre complote pour formuler un jugement docisif et savoir si, apres avoir dochiro 1'antique labarum des classiques, I'oriflamme des romantiques devra 440 s'incliner devant le drapeau rovolutionnaire du naturalisme.

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CHRONIQUE

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Renae Mauperin a I'Odoon. Chez M. de Goncourt. Renoe a existe~. Deux portraits de Renoe. Les autres personnages du roman. Quelques Clermont-Tonnerre I'etat sauvage. La piece de M. Clard. Les trouvailles de Porel. Cherchez, le soir de la premiere.

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Un 6vonement littoraire que Γόη croyait tout proche et qui se trouve 10 remis huitaine, c'est la premiere representation de Renae Mauperin, la piece - faut-il dire le drame ou la come"die? - que M. Henry Coard a tire"e du colebre roman de MM. de Goncourt 15 pour le tho tre de l'Od6on. Pour les oublieux et pour les attardos, je rappeile en deux mots la fable du roman. [...] Voil certes une histoire dramatique et que 1'on devait un jour ou 1'autre porter 20 sur la scene. Elle n'a rien en soi de romanesque; on sent que ses auteurs auraient pu l'inventer de toutes pieces sans s'exposer au reproche de sacrifier la νέπΐέ la fiction. Mais, pour qui 25 connait la mothode de travail des treres de Goncourt, leurs scrupules d'exactitude, leur gout de ce qu'on a appele* le «document humain», leur amour pour la note toute chaude de vie, il est bien 30 ovident que l'histoire de Renee Mauperin a un fond plus pricis que la simple vraisemblance et les conjectures psychologiques. Π 6tait interessant, la veille de la representation de la piece, 35 de connattre tout justement ce fond-l . Et c'est pourquoi j'ai fait hier le pelerinage d'Auteuil. A neuf heures du matin, le boulevard Montmoreney est dosert. Les jolis 40 hotels qui bordent la voie ferroe grelottent derriere leurs arbres sans feuilles. A gauche, les halliers du bois de Boulogne font une large tache de rouille. Une voiture du Louvre, peinte 45 de couleurs voyantes, descend le boulevard dosert et gris, au trot de ses deux chevaux. Au loin, assourdi sous un tunnel, le sifflement du chemin de fer de Ceinture.

Le Temps, 11.11.1886,8.2.

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La maison de M. de Goncourt, blanche, toute simple, est reconnaissable un modaillon de bronze encadro dans les dessins du balcon. Une femme vient m'ouvrir - le successeur de la pauvre Germinie Lacerteux - qui me conduit au premier otage, dans le cabinet de travail. Les livres habillos de reliures rares, inestimables, gamissent du tapis au plafond, les trois murailles de la piece. M. de Goncourt est assis pres de la fen&re qui ouvre sur son merveilleux jardin. C'est bien ainsi que Bracquemond nous 1'a montro, dans une eauforte que tout le monde a vue: 1'oeil si noir que le regard est presque insoutenable, les cheveux gris, mousseux, logers, souleves par la main sur chaque tempe, la moustache fine d'un mousquetaire. Je ne puis jamais voir l'auteur de Renoe Mauperin sans me ressouvenir de ce mot, ligerement impertinent, que j'ai entendu une fois, dans une soiroe, entre deux portes, et que tres superficiellement caractorise Failure de M. Edmond de Goncourt: «II a 1'air d'un militaire qui serait intelligent.» M. de Goncourt, averti de ma visite, avait bien voulu trier d'avance dans ses cartons toutes les notes qui se rapportent Renoe. - Vous 1'avez connue, lui dis-je en jetant un coup d'oeil sur ces feuillets e"pars; mais ne 1'avez-vous pas beaucoup idoalisie dans votre livre? - A peine, me ropondit M. de Goncourt. Renoe a έΐέ une amie de notre petite enfance. Elle otait par son age un peu plus rapprochde de mon frere que de moi. Quand Jules avait huit ou neuf ans, eile en avait tout au plus cinq ou six; Jules et eile ont commence jouer ensemble cet gel , et nous avons suivi Renie de notre amitio tout le reste de savie.. - Toute sa vie? Mais Renoe n'est done point morte poitrinaire, comme dans votre roman, apres avoir involontairement caus6 la mort de son frere? - Non, eile a v6cu. C'est en cela seulement que nous avons έΐέ infideles la νέπίέ. Nous voulions dopayser les gens

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de son monde qui auraient pu et qui ne devaient pas la reconnaitre. Au reste, si vous voulez juger ä quel point la vraie Renoe Mauperin ressemblait ä notre horolne, dcoutez: voici son portrait, tel qu'on le trouvera un jour dans nos memoires Et M. de Goncourt me lut les notes qui suivent. Je les reproduis telles que j'ai pu les saisir au vol: «Mile... (le nom est en blanc dans le manuscrit) allie la cordial et la loyaute d'un homme ä des graces de jeune fille; eile a la raison mure et le coeur frais, un esprit , on ne sait comment, au-dessus du milieu bourgeois oü eile vit, et tout plein d'aspirations ä la grandeur morale, au denouement, au sacrifice, un appetit des choses les plus dolicates de l'intelligence et de art, le mopris de ce qui est d'ordinaire la pensoe et l'entretien de la femme. [...] Mal jugoe et decrioe par les femmes et les petites ämes, qui ont Fhorreur de la franchise d'une nature, eile est faite pour etre aimee d'une amitio amoureuse par des contempteurs, comme nous, des ämes viles et hypocrites du monde.» - Et, puisque nous en sommes aux indiscretions, continua M. de Goncourt, je puis bien vous montrer le vrai portrait de Renoe. Vous vous souvenez que, dans un chapitre du roman, Renoe peint dans la petite serre dont eile s'est fait un atelier, tandis que son ami Denoisel (ce sont les termes memes du livre), «la regardant travailler, essaye un mauvais dessin de son profit sur un album ramasso dans un coin». Eh bien, ce portrait-lä existe; je vais vous le faire voir. C'est un dessin de mon fr£re. Vous pouvez en noter la date; je vous demanderai seulement de ne pas regarder le nom qui est ecrit au bas. Et, d'un carton, M. de Goncourt tira un dessin ä la mine de plomb qu'il me mit sous les yeux. Cela reprösentait, devant un chevalet, une jeune fille assise, penchee sur son esquisse. [...] Audessous, un nom, que je ne lus pas, otait ocrit ä l'encre bleue, avec cette date: 19 septembre 1859.

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- Voilä Renoe, me dit M. de Goncourt. Jamais, autant qu'aujourd'hui, je n'ai frappo de la virilitd delicate de cette petite tfite. Renoe ötait bien le type, qui s'est si fort ropandu depuis, de la jeune fille artiste, franche comme un gar9on, plus seduisante certes que les Agnes. Mais, quand nous avons prosento notre heroine au public, on n'atait pas encore fait ä ces allures audacieuses; on crut que nous avions forgo de toutes pieces notre personnage, que M. CuvillierFleury traita gracieusement de «joli perroquet». - Et maintenant, que vous dirai-je des autres personnages du roman? Denoisel, c'est beaucoup mon frere et moi; M. Mauperin, c'est un peu notre pere; nous avons voulu peindre dans Henri un type plus ginoral, le jeune homme orloaniste de ce temps-lä, le horos des parlottes de la conference . Quant ä notre gentilhomme campagnard, de Villacourt, ce sanglier, qui se rue hors de sä forSt pour venir donner un coup de boutoir ä Henri Mauperin, nous avons imagino d'apres les propos d'un maire de village qui nous a conto ceci: [...] - A prosent, si vous voulez savoir comment Coard a dicoupo le roman pour le mettre au thoätre, je vais vous dire en quelques mots de quelle facon les ovonements sont grouped dans ces trois actes. [...] Je savais presque tout ce que je disirais connaitre sur Renoe; pourtant, au moment de prendre conge, je voulus faire une demiere tentative, et je demandai si vraiment c'itait bien la tout ce qu'on pouvait m'apprendre sur I'hirome. Alors M. de Goncourt sourit et ajouta: «Je vous dis encore ceci: Tant d'annees ont passo depuis que mon frere a crayonnd le portrait que je vous ai fait voir tout ä l'heure que, quand meme vous rencontreriez cede qui lui a servi de modele, vous ne pourriez pas la reconnaitre. La vraie Renoe Mauperin assistera, ä l'Odoon, ä la premiere reprosentation de la piece.»

262 Chez Gambetta6

- Vous vous doutez bien, je pense, monsieur le president, a dit mon confrere, du motif qui m'amene? - Oui, a repondu avec un fin sourire, Gambetta. Vous venez m'interroger sur le scrutin de liste! 55 - Pr6cis6ment. - Us ont fmi par le voter. Je sais cela. La Republiqve franyaise me continue mon service et me tient au courant de ce qui se passe la-haut.

50 Une conversation avec le grand orateur - Scrutin de liste et scrutin d'arrondissement - Une victoire posthume Que les temps sont changos! - Le 16 5 Mai - Le general de Galliffet et M. de Moltke - Mme Adam.

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Les joumaux ont pris I'habitude, a chaque evonement, de deleguer un de leurs collaborateurs aupres du heros ou de la victime, pour savoir ce qu'il ou eile en pense. II y a meme des gens qui Prtendent que ces paresseux de journalistes n'ont invento ce Systeme que pour se dispenser d'avoir une opinion personnelle et de la raisonner. Ces gens-l sont de mauvaises langues. Le public aime beaucoup connaitre les sentiments des personnes compotentes Ce mode de consultation s'appelle 1'interview, et ceux qui le pratiquent s'intitulent interviewers. Nous possedons au Matin quelques interviewers du plus fort calibre qui, si demain on docouvrait quelque part la momie d'Amonasro, seraient parfaitement capables de lui demander son opinion sur la musique de Verdi, et de Fobtenir. Quae quum ita sint, il m'a semblo logique, necessaire et meme utile de de~p£cher le plus dofie" d'entre ces «interviewers», au lendemain de 1'adoption du scrutin de liste, aupres d'un personnage consideiable et refroidi qui s'est jadis beaucoup occupo de ce scrutin, qui le desirait ardemment, qui 1'a demando et qui, ne pouvant 1'obtenir, a ρτέΐέτέ quitter le pouvoir qu'il avait exerci nominalement pendant six semaines. J'ai nomme M. Gambetta. Le redacteur du Matin est alte lui «prendre» une conversation dans la demeure otroite, modeste et dej dolabree qu'il occupe Nice. Des que son visiteur a ote" introduit, le maitre de la maison I'a remerci de s'fitre derango pour venir le distraire dans sa retraite. La conversation s'est aussitdt engagee.

Le Matin, 26.3.1885, S.I.

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Des le debut de cette conversation, mon collaborateur a pu se rendre compte des prodigieuses facultos du grand citoyen. On sait qu'il n'a plus de cerveau. Son encophale a έΐέ mis de coto et transporto en un lieu scientifique, ou il a detruit, par ses petites dimensions, les theories des anthropologistes les plus ominents qui font dependre 1'intelligence du poids et de la grosseur de la masse cerebrate. On a rempli la tSte de Γ orateur d'herbes aromatiques. Cette substitution, chose etrange, n'a altoro en rien la vivacito de son esprit et la puissance de ses deductions. - A quoi attribuez-vous, a dit alors le redacteur du Matin, la docilito actuelle de la majorito comparoe avec Γϊηαέpendance dont eile fit preuve centre vous? - Votre question est tres complexe et exige une roponse assez longue. Voyezvous, lorsque j'ai apporto sur le bureau de la Chambre le projet de scrutin de liste, j'avais mon idoe; mon nom aurait servi de remorqueur aux listes dans la plupart des departements et j'aurais eu des hommes moi, choisis par moi. - Pour quoi faire? Un second fin sourire passa sur le visage de Gambetta et il reprit: - Pour gouvemer, done! Et puis aussi pour le cas ou la Providence... je me trompe, la Nature aurait rappelo eile le patriarche de la domocratie, Fh te illustre de l'Elysoe, ce diable de Grovy, qui se dofend si onergiquement. - Vous devez 6tre content tout de m6me, monsieur le prisident, de voir triompher vos idees, et cette victoire posthume doit vous rojouir.

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- Heu! heu! Les circonstances ne sont pas les memes. De mon temps la Republique et la France otaient encore dans leur lune de miel. On ne parlait pas encore de crise. Aujourd'hui, c'est difierent. La confiance est ebranlee. Ferry n'est guere populaire en dehors du Parlement. C'est un malin ä poigne, celui-lä, mais il a trop tiro sur la corde. Pour vous dire toute ma pensee, si j'otais encore de ce monde, je ne sais pas si j'aurais et fait voter pour le scrutin de liste. [...] Un troisieme fin sourire illumina les traits du tribun - Ou en etais-je? continua-t-il; avec vos bStises vous me faites perdre mon ill. Je disais done qu'avec le scrutin d'arrondissement on aurait obtenu les produits vulgaires que vous connaissez. Vulgaires, mais republicains. Avec la liste, il y a une chance ä courir. Si par hasard les ennemis de la Republique sont intelligents, ils profiteront des hesitations de l'opinion en construisant des listes tros machiavoliques. Et ils pourraient tres bien arriver, sinon ä obtenir la majorite dans la Chambre future, au moins ä la composer de teile facon que mon Ferry serait incapable de gouvemer. - Et puis apres, on referait le 16 Mai? Nous connaissons cela. Les conservateurs sont aussi incapables de s'entendre au pouvoir que de se comporter en hommes d'opposition. - Ah! si j'avais le marechal! Je serais president ä vie! reprit-il, avec un quatrieme fin sourire. Et puis, qui vous dit que nos ennemis feront toujours les memes betises? On vous collera un prince comme prosident de la Republique; il vous restaurera une monarchic quelconque, et je n'aurai pas mon monument, mon obelisque sur la place du Carrousel. - Alors, d'apres vous la Republique serait bien malade?

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- Je ne dis pas cela. N'allez pas rimprimer au moins, on me traiterait de lächeur. Non, je dis tout bonnement que si les adversaires de la Republique etaient intelligents et energiques, ils pourraient lui dormer du fil ä retordre. Mais, heureusement, je ne crois pas beaucoup a leur intelligence ni ä leur energie. Seulement, a la guerre, vous savez, il faut toujours se comporter comme si on supposait toutes les qualitös ä ses adversaires. [...] - Alors, dit encore le rddacteur du Matin, vous pensez, monsieur le president, que vos amis se sont trompos? - Je le pense et je le dis sans fard. Seulement, ils m'ont bien amuse; j'ai bu du lait dans mon coin, pendant des heures. Je m'imaginais la tdte que devaient faire tous ces gens-lä quand on leur disait: «Le scrutin d'arrondissemerit ne produit jamais que des crotins!» Ils ont decidi a une majorito ocrasante que c'£tait la vorite pure. [...] Le redacteur du Matin ne voulant pas abuser de la complaisance et du temps de illustre orateur, se disposait ä prendre congo; Gambetta lui tendit la main, et le retenant une seconde, lui dit: - Comment va madame Adam? Nous ne nous sommes pas toujours trouves d'accord en politique, mais, j'espere qu'elle ne m'en veut plus... - Elle va tres bien, monsieur le prosident, eile est charmante sous la poudre. - Comment sous la poudre? II faut toujours qu'elle invente quelque chose pour etre plus belle. Portez-lui mes compliments et dites-lui de m'envoyer la Nouvelle Revue. Cela me distraira. J'ai beaucoup de loisirs, ici. Le rodacteur du Matin salua, sortit et se precipita au tolographe, ou il arriva juste au moment ou le bureau allait fermer. J. CORNtLY

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Tous les jours, unc foule de gens au col relevd, apres les exclamations d'usage sur le temps de chien et le froid de loup, se posent, en s'abordant, cette invariable interrogation: - Est-ce que 93 ne va pas finir? Et ils ajoutent: - Tous les dix ans... c'est curieux, ä quoi cela peut-il bien tenir? J'ai voulu, pour ma part, attonuer la monotonie fatigante de ces questions en tächant d'y rdpondre, et töte baissoe, j'ai oto demander ä un savant de me renseigner sur ces deux points. Chez M. Mascart, l'ominent directeur du bureau central de mdteorologie, 176, rue de I'Universite": un petit homme grisonnant, ä la physionomie un peu revdche, au front preeminent, au petit col noir de mauvaise humeur, poli, malgro cela - Combien de temps lefroidva durer? Mais je n'en sais rien, me dit-il. Comme je le regarde d'un air incredule, it prend le parti de se dorider ä tant de naivetd, et continue: - Vous croyez que je le sais? Je mime un «oui» tStu. - Alors, venez par ici, vous allez aussi savant que moi. Nous traversons une infiniti de couloirs et nous arrivons au bureau du physicien de service ou sont centralisdes toutes les dopßches du globe. II fait passer sous mes yeux une foule de petites cartes bleues couvertes de signes, et il conclut: - Rien n'est chango. Pression considorable dans toute 1'Europe. Toujours des vents de Nord ä Dublin. Tout ce que je peux vous dire c'est que le signal de changements de temps nous vient de lä: Quand le barometre descendra et que les vents du Sud-Ouest souffleront sur 1'Irlande, nous annoncerons la fin du froid et la fin provisoire pour nos regions. - Pour nbs rogions? Alors, ä prosent, il fait chaud ailleurs? - Chaud, non, mais moins froid assurement. La moyenne ganerale ne varie pas. Ainsi, voyez, ä Saint-Pdtersbourg, il y a 15 degrds, et au Mont-Ventoux, pres d'Avignon, notez-le bien, le thermometre L'Echo de Paris, 21.1.1891, S.2.

a marquo 20 degres! Au Puy-de-Döme, ä 1,500 metres, 22 degros, et en Finlande 28 degrds, tandis qu'au Pic du Midi, 55 nous arrivons ä 35 degrds, la plus basse temperature qu'on y ait jamais observde! - Aujourd'hui, par exemple, dis-je, ou pensez vous qu'il fait chaud, puisqu'il fait si froid partout? 60 M. Mascart rit de bon coeur ä cette insistence d'une ignorance entfctde: - Est-ce que je sais? En Amdrique, peut-6tre. Mais non, la pression y est tres considdrable aussi... 65 -Alors... - Dans l'autre moitid de PEquateur... que sais-je! Je tenais ä ma deuxieme question, beaucoup. Et je dis: 70 - J'aurais pourtant bien voulu savoir, pour le rdpdter, ä quelles causes vous attribuez cet espace de dix ans entre chaque grand froid? - Je ignore comme vous, je vous assure. 75 - Mais vous supposez? — Non, ä quoi bon? Les expdriences viennent ddmolir les dchafaudages d'hypotheses qu'on a eu tant de mal ä odifier... A quoi bon? 80 Je voulus faire un peu d'orudition: - Les taches du soleil... le refroidissement lent et continu de notre planete? - II n'y a pas de tache en ce moment... Et si c'ötait le refroidissement continu 85 de la terre, le froid serait constant... - Evidemment, fis-je, ddsarmo et confondu cette fois. Je roflochissais. - Mais alors, m'exclamai-je, si vous ne 90 le savez pas, qui est-ce qui le sait? M. Mascart leva les bras au ciel et haussa les dpaules. JULES HURET P.S. Je ne savais done qu'une chose, c'est qu'on ne savait rien. J'otais parti ä 95 regret, comme celui qui oublie quelque chose. Je remontai machinalement 1'escalier, et me trouvant devant M. Mascart, je lui demandai soudain: - Au moins pouvez-vous m'affirmer 100 qu'il fera encore froid demain? M. Mascart se rendit, et, avec un air de rdsignation qui me toucha: - Demain et apr£s-demain, fit-il. - Surement? - Oui.

265 Un jeu de sociftl* L'interview donne beaucoup. Ce n'est pas que ce soit toujours sale, mais 93 tient de la place; et c'est le principal en ce temps de vacances. Le public doit 5 finir par se demander quel est de l'intervieweur ou de l'interview celui qui se moque le plus de lui. Eh! mon Dieu, ni Tun ni l'autre, je suppose qu'ils sont egalement de bonne foi, et 10 voil comment les choses doivent se passer.

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Un reporter oprouve un beau matin Fenvie d'aller interviewer un monsieur quelconque sur une question palpitante: «De I'infiuence de la pomme de terre au point de vue de la moraliti publique» II tombe chez s victime comme un aerolithe, s'assied et dit pour tout ρτέambule -Voyons... causons... - De quoi? - Que pensez-vous de la pomme de terre? - Je n'en pense pas grand'chose... Toutefois je ne me permettrais point de... - Je vous ai compris. - Car vous savez... - Je sais tout... Cependant, ici, je suis censi ne rien savoir, puisque je vous interroge... Allez, ne vous troublez pas. - La pomme de terre docouverte par Christophe Colomb?... Est-ce bien par Christophe Colomb? - Si vous voulez... les opinions sont libres... Apres? - Enfin, ce legume est bon, mais d'aucuns lui proferent les truffes, lesquelles ont 6t6 decouvertes par... -Oui... N'insistez-pas... - Parmentier! - Ah! je croyais que vous vouliez parier des... de ceux qui les docouvrent habituellement. - Non... Mais je ne sais plus, je barbote. Vous n'allez toujours pas imprimer comme 93 ce que je vous dis! - N'ayez crainte; je suis d'ores et dej ίΐχέ sur ce que vous pensez... Je vous ai compris.

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Le Journal am sant, 27.9.1890, S.3.

-Ah! vous etes fort! - C'est mon m tier... Je vais aller traduire tout (a en frari9ais, et je vous l'envoie pour y ajouter ce que vous 55 jugerez nocessaire. - Bravo! Parfait!

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Le jour meme, l'interviewo re?oit son interview sous pli cacheto. C'est un beau morceau de prose. - Que je parle done bien! se dit le monsieur en faisant la roue; voici des imparfaits du subjonctif qui sont de qualito, et vous paraissent d'un poids remarquable... Cela sent tout fait son academic! Je ne me doutais meme pas que j'avais tant d'idees que 93 sur la pomme de terre... Ce sont mes amis qui vont faire un nez, eux qui protendent que je bafouille en parlant! Est-ce du bafouillage, 93, hein? C'est de Γέΐοquence, tout bonnement!... Ah! propos, voyons ce que j'ai ajouter... Apres roflexion: - Rien du tout... C'est-a-dire... si. II prend une plume et ocrit: «Priere d'ajouter quelques imparfaits du subjonctif, c'est imposant, 93 emaille, et comme I'a dit Montaigne, je crois: Qui ne sut emailler, ne sutjamais ecrire.» Le lendemain, I'interview a paru, et les amis de I'interviewo d'accourir chez lui. - Comment, Sidore, vous avez dit des choses pareilles! ... Vous calomniez la pomme de terre! -MoiJ'ai... - Lisez plutot cette phrase... Est-ce assez clair? - Mais c'est I'interviewer qui ... Moi, je n'ai rien dit de pareil! Je n'si rndrne rien dit du tout! - Rectifiez, mon ami, rectifiez! Et le jour suivant parait une longue lettre de rectification. L'interviewer alors riposte! L'interviewi reropond. Ca dure huit jours, au bout desquels tout ce qui reste de plus clair dans I'interview, c'est que les pommes de terre ont docouvert Christophe Colomb. Et encore, on n'en est pas tres sur.

JULES DEMOLLIENS