Das Individuum im transkulturellen Raum: Identitätsentwürfe in der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens 1918-1938 [1. Aufl.] 9783839427484

Identities within trans-cultural space - a multi-layered analysis of German language literature in Bohemia and Moravia d

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German Pages 452 [454] Year 2014

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Table of contents :
Danksagung
Inhalt
1. These und Einleitung
2. PDBDMDSDL? Zur Problematik der Vermessung der literarischen Region Böhmen und Mähren
3. Text und Kontext – Die Wahrnehmung und Fiktionalisierung der historischen Situation
4. Das Subjekt im Spannungsfeld zwischen Individuum und Kollektiv – thematische und stilistische Aspekte
5. Romananalysen
6. Schlussbetrachtung
7. Bibliographie
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Das Individuum im transkulturellen Raum: Identitätsentwürfe in der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens 1918-1938 [1. Aufl.]
 9783839427484

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Kristina Lahl Das Individuum im transkulturellen Raum

Lettre

2014-07-03 14-06-04 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d8370806223460|(S.

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4) TIT2748.p 370806223468

Kristina Lahl (Dr. phil.) ist Alumna der a.r.t.e.s.-Graduate School for the Humanities Cologne. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Aufklärung, Weimarer Republik und Exilliteratur.

2014-07-03 14-06-04 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d8370806223460|(S.

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4) TIT2748.p 370806223468

Kristina Lahl

Das Individuum im transkulturellen Raum Identitätsentwürfe in der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens 1918-1938

2014-07-03 14-06-04 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d8370806223460|(S.

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4) TIT2748.p 370806223468

Inaugural-Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln Gedruckt mit Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Bildarchiv Foto Marburg: Aufnahme-Nr. 1.117.318 Straße, Prag-Kleinseite, Brückengasse – Aufn.-Datum: 1900/1940 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2748-0 PDF-ISBN 978-3-8394-2748-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-07-03 14-06-05 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d8370806223460|(S.

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Danksagung

Ich möchte an dieser Stelle die Möglichkeit nutzen, meinen herzlichen Dank all denen auszusprechen, die mich in den fast fünf Jahren des Entstehens dieser Dissertation unterstützt haben. Mein ganz besonderer Dank gilt hierbei meiner Familie, auf die ich in jeglicher Situation zählen kann und deren Rückhalt mir erst die Zuversicht gegeben hat, den Weg in die Promotion zu wagen. Insbesondere meinem Vater möchte ich auch für die vielen anregenden Gespräche über das Thema danken, die entscheidende Impulse in der Endkorrektur der Arbeit und der Titelgebung geliefert haben. Des weiteren bin ich meinen beiden Doktorvätern Prof. Dr. Dr. h.c. Walter Pape (Universität zu Köln) und Prof. Dr. Manfred Weinberg (Karlsuniversität Prag) zu großem Dank verpflichtet. Ohne ihre hervorragende Betreuung und Unterstützung wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Dies gilt auch für die großartige finanzielle und ideelle Förderung der a.r.t.e.s.-Graduate School for the Humanities Cologne, die mir ein dreijähriges Doktorandenstipendium bewilligt und mir dadurch überhaupt erst die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema und die Forschungsaufenthalte im Ausland ermöglicht hat. Bedanken möchte ich mich auch beim IdSL I der Universität zu Köln, insbesondere bei Dr. Ingo Breuer, der mich im ersten Jahr des Promotionsstudiums auf den richtigen Weg gebracht hat. Meine Dissertation wäre in ihrer jetzigen Gestalt niemals ohne den unbezahlbaren, intensiven Austausch mit der tschechischen Germanistik in Prag und Olmütz zustande gekommen. Die herzliche Aufnahme an der Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur in Olmütz und die großartigen Gespräche mit Prof. Dr. Jörg Krappmann möchte ich hierbei besonders erwähnen. Zu großem Dank bin ich auch meinen Freunden Christina Backus, Stephanie Bölts, Jana Ďurdíková, Anna Grumblies, Cameron Jaynes und Stephan Schwiebert verpflichtet, die für mich immer ein offenes Ohr hatten, sich als Korrekturleser zur Verfügung gestellt haben und mir in den verschiedenen Phasen der Dissertation zur Seite standen. Mein größter Dank gilt aber zu guter Letzt Arne Gülzau, der mich durch alle Höhen und Tiefen der Dissertation begleitet hat und der erheblich dazu beigetragen hat, dass die Phase meiner Promotion eine sehr glückliche Zeit war.

Inhalt

1. THESE UND E INLEITUNG | 9 1.1 Einführung | 10 1.2 Das Phänomen der ‚Prager deutschen‘ und ‚sudetendeutschen‘ Literatur – Modelle und Ansätze der Forschung | 16

1.2.1 Prag als literarisch konstruierter Stadtraum – Semiosphären und die diskursive Herstellung nationaler Identität | 17 1.2.2 Böhmen, Mähren, Schlesien – eine literarische Region der kleinen Literatur | 22 1.3 Eigene Methoden und Vorgehensweise | 26

2. PDBDMDSDL? ZUR P ROBLEMATIK DER VERMESSUNG DER LITERARISCHEN REGION B ÖHMEN UND MÄHREN | 33 2.1 Liblice und die Konsequenzen | 35 2.2 Zur Verortung des Korpus und Verwendung der Bezeichnung ‚deutschböhmische und deutschmährische Literatur‘ | 44

2.2.1 Die nicht-deutschnationale bzw. ‚Prager deutsche Literatur‘ | 45 2.2.2 Die deutschnationale bzw. ‚sudetendeutsche Literatur‘ | 53 2.3 Prager Kreise? | 62

2.3.1 Zur Heterogenität der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur in der Zwischenkriegszeit | 62 2.3.2 Keine Prager Schriftstellerinnen? | 68

2.4 Region und Raum | 71

2.4.1 Literatur einer Region, Regionalliteratur oder ‚regional turn‘? | 72 2.4.2 Topographien der Region | 79

3. TEXT UND KONTEXT – DIE W AHRNEHMUNG UND FIKTIONALISIERUNG DER HISTORISCHEN S ITUATION | 89 3.1 Tschechen und Deutsche – eine kulturelle Differenz? | 92 3.2 Vor dem Ersten Weltkrieg oder Die ‚Badeni-Stürme‘ und das vermeintliche Fehlen des ‚Prager Romans‘ | 99 3.3 Der Erste Weltkrieg und das Ausbleiben der Kriegsbegeisterung | 108 3.4 Die Revolution und das Verhältnis zur neuen Republik | 114 3.5 Das Jahr 1920: Der eskalierende Nationalitätenkonflikt und die Rolle der Presse | 118 3.6 Abschied von Prag | 127 3.7 Exilliteratur in/aus Böhmen und Mähren | 131 3.8 Judentum in Böhmen und Mähren | 135

4. DAS S UBJEKT IM S PANNUNGSFELD ZWISCHEN INDIVIDUUM UND K OLLEKTIV – THEMATISCHE UND STILISTISCHE ASPEKTE | 149 4.1 Theoretische Aspekte zur Suche nach der Identität | 150

4.1.1 Kollektivformen: Gruppen und Masse | 151 4.1.2 Orientierung und Pluralismus in der Moderne | 167 4.1.3 Heimat als Identitätsfaktor? | 176 4.2 Zur Korrelation von Thematik und Struktur der Texte | 182

4.2.1 Moderne Strömungen und die Vermischung ihrer Motive | 183 4.2.2 Der Erzähler zwischen subjektiver und objektiver Darstellung | 192 4.2.3 Kommunikationslosigkeit und Exklusion durch Sprache | 196

5. ROMANANALYSEN | 201 5.1 Hermann Ungar: Die Verstümmelten | 202 5.2 Ludwig Winder: Die jüdische Orgel | 223 5.3 F.C. Weiskopf: Das Slawenlied | 245 5.4 Hans Natonek: Kinder einer Stadt | 262 5.5 Oskar Baum: Zwei Deutsche | 284 5.6 Paul Kornfeld: Blanche oder das Atelier im Garten | 304 5.7 Alice Rühle-Gerstel: Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit | 328 5.8 Ernst Weiß’ späte Romane | 361

5.8.1 Der arme Verschwender | 364 5.8.2 Der Augenzeuge | 378 5.9 Deutschnationale ‚Grenzlandromane‘ | 396

5.9.1 Friedrich Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland | 393 5.9.2 Gottfried Rothacker: Das Dorf an der Grenze | 403 5.9.3 Abschließende Bemerkungen | 409

6. S CHLUSSBETRACHTUNG | 411 7. BIBLIOGRAPHIE | 423 7.1 Primärliteratur | 423 7.2 Sekundärliteratur | 429

1. These und Einleitung

Das Ende des Ersten Weltkrieges leitete eine neue Ära in der Geschichte Europas ein. Die Umwälzung der politischen und sozialen Verhältnisse betraf in besonderem Maße multinationale Regionen wie Böhmen und Mähren, in denen neue Staaten entstanden, sich nationale Machtverhältnisse umkehrten und das Selbstbestimmungsrecht der Völker nach Wilson zu Konflikten führte. Der gesellschaftliche Umbruch durch den Niedergang der k.u.k.-Monarchie und die Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik führte in der deutschsprachigen Bevölkerung der Region zu Orientierungslosigkeit, dem Verlust vermeintlich klar definierter Identitäten und der Notwendigkeit, überkommene Werte und Normen neu zu überdenken. Dies schlägt sich auch in den Romanen der Zeit nieder, und zwar vor allen Dingen auf der Ebene der fiktional aufgearbeiteten Identitätskonzepte und Selbstverortung des Individuums zwischen sozialen, nationalen und religiösen Kollektiven, welche die vorliegende Untersuchung in den Blick nimmt. Identität wird hierbei nicht als starre, essentialistische Entität verstanden, sondern als hybrides, sich in einem ständigen Prozess und Wandel befindliches Phänomen. In der betrachteten Literatur findet sich eine intensive Auseinandersetzung mit verschiedenen Identitätsangeboten und deren Instrumentalisierung sowie mit Exklusions- und Inklusionsmechanismen, Heimatsuche und sozialer Orientierung im multikulturellen Raum, die sich sowohl thematisch wie auch stilistisch niederschlägt. Hierin wird ein Spezifikum der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur der Zwischenkriegszeit ausgemacht, das diese als Literaturlandschaft charakterisiert und auf die transkulturelle Beschaffenheit der Region verweist. In der literarischen Aufarbeitung der Identitätskonzepte manifestiert sich auch der Aktualitätscharakter der Literatur, die mit der bisherigen, in der Literaturwissenschaft üblichen dichotomischen Unterteilung in ‚Prager deutsche‘ und ‚sudetendeutsche‘ Literatur nur unzureichend differenziert ist, und der paradigmatisch auf die Herausforderungen des modernen, multikulturellen Europas verweist.

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1.1 E INFÜHRUNG Mit der deutschsprachigen Bevölkerung Böhmens und Mährens und ihrer Literatur wird in der Regel primär die künstlerische Sphäre Prags verbunden. Der Name der Stadt im Kontext des frühen 20. Jahrhunderts ruft dabei verschiedene Assoziationen hervor, die zumeist einen mythischen Charakter haben; die Stadt erscheint als ‚magisch‘, als Heimat des Golem, als Mütterchen mit Krallen, als Schwelle (vom tschechischen Wortstamm práh abgeleitet) zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen verschiedenen Kulturen, zwischen Mythos und Realität. Das ‚deutsche Prag‘ zu Beginn des 20. Jahrhunderts gilt als Insel, als Enklave mit eigener, verkümmerter Sprache, die jedoch trotzdem oder gerade deswegen in einem Zirkel ‚dekadenter und verstörter Genies‘ eine enorme Fülle an Weltliteratur geschaffen hat. Diese Mythen haben jedoch wenig Aussagekraft über die kulturelle Beschaffenheit der Region, sondern sind in ihrer Langlebigkeit eher ein Ausdruck der Mentalitätsgeschichte der Nachgeborenen.1 Denn Prag, und mit ihm die gesamte Region Böhmen und Mähren, ist vor allen Dingen auch ein Raum der kulturellen Vernetzungen und ein Ort, an dem Geschichte (insbesondere im 20. Jahrhundert) in ‚komprimierter‘ Form stattgefunden hat und sich auch in der Literatur niederschlägt. In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ist jedoch von einem ‚magischen‘ Prag in der Literatur nicht (mehr) viel zu spüren, stattdessen widmet diese sich mehr oder weniger explizit den unmittelbaren Herausforderungen der Lebenssituation in einer modernen multikulturellen Gesellschaft. Dies ist an den Identitätskonzepten abzulesen, die in den Romanen der Zeit aufgegriffen, verworfen und einander gegenübergestellt werden, an der Selbstverortung der jeweiligen Protagonisten zwischen nationalen, religiösen, politischen und klassenspezifischen Kollektiven.

1

Vgl. zur Funktion von Mythen Barkhoff/Heffernan: „Mythen sind unter anderem deshalb so langlebig und wirkungsmächtig, weil sie genossen werden können, weil sie identifikatorisch wirken und emotionale Tiefenschichten im Einzelnen und in Gemeinschaften erreichen. […] Sie sind Sonderformen des kulturellen Gedächtnisses kollektiver Erinnerungsgemeinschaften, mit deren Hilfe kollektive Identität durch retrospektive Interpretation von Geschichtsnarrationen gestiftet, durch einen Grundbestand an „Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten“ gepflegt und vermittelt, in Erinnerungskonkurrenzen behauptet und variiert und zur politischen Handlungsorientierung instrumentalisiert wird.“ (Barkhoff/Heffernan: Einleitung: ‚Mythos Schweiz‘, S. 8f.) Insbesondere die hier thematisierte ‚politische Handlungsorientierung‘ bot in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf beiden Seiten des ‚eisernen Vorhangs‘ Anlass zur ‚Mythisierung‘ des deutschsprachigen Prags und seiner Literatur um die Jahrhundertwende.

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In der Phase nach dem Ersten Weltkrieg erlebte ganz Europa eine politische und gesellschaftliche Neuordnung, die 20er und 30er Jahre sind gekennzeichnet vom Auftreten und von der Instrumentalisierung von Massen,2 von gesellschaftlicher Zerrissenheit und Krise3 sowie politischer Radikalisierung, wobei die seismischen Umwälzungen insbesondere multinationale und -kulturelle Regionenbetrafen. In Böhmen und Mähren, die bis 1918 Teile der k.u.k.-Monarchie waren, verschoben sich durch die Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober 1918 die nationalen Machtverhältnisse, und die deutsche Bevölkerung, die bereits zuvor nur etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachte (in Prag waren es sogar nur ca. 5%), wurde nun auch de facto eine politische Minorität. Dies erforderte einerseits eine politische Positionierung der Deutschböhmer und Deutschmährer, die sich zwischen den Polen einer Loyalitätsbekundung zum tschechischen Staat unter Masaryk (mit der Hoffnung auf ein Mitbestimmungsrecht auf politischer Ebene) und der Forderung nach Autonomie der Landesteile, in denen es eine deutsche Majorität gab (also vor allen Dingen der ‚Sudetenländer‘), auf der Grundlage von Wilsons Selbstbestimmungsrecht der Völker bewegte. Zum anderen aber, und dies ist für diese Untersuchung bedeutsamer, bedingte es auch eine Neudefinition der zuvor fest verankert geglaubten, nun jedoch aus den Fugen geratenen sozialen, kulturellen und nationalen Identität. Für große Teile der deutschsprachigen Bevölkerung galt nun, dass sie tschechische Staatsbürger waren, sich jedoch ihrer österreichischen Tradition und ihrer an Deutschland ausgerichteten sprachlichen und kulturellen Zugehörigkeit ungleich mehr verpflichtet fühlten. Die Selbstverortung zwischen diesen nationalen Zuschreibungen war überdies problematisch, indem zwischen ihnen keine klaren Trennlinien gezogen werden konnten; Autoren wie F.C. Weiskopf und Alice Rühle-Gerstel etwa stammten aus gemischtsprachigem Elternhaus, viele deutschsprachige Schriftsteller sprachen, einige wenige schrieben sogar tschechisch, Kulturtransfers bestanden zwischen Deutschen und Tschechen ebenso wie z.B. zwischen Prag, Berlin, Wien und anderen europäischen Zentren wie Paris. Die politische Radikalisierung und der Untergang des k.u.k.-Liberalismus machte zudem eine politische Selbstverortung zwischen den Lagern der Kommunisten und National(sozial)isten notwendig, während die Ereignisse des Krieges und die Kapitalisierung der Gesellschaft die zuvor relativ starre soziale Klassenhierarchie, in der das deutsche Bürgertum und der österreichische Adel im Gegensatz zum tschechischen Proletariat eine enorme Wirtschaftskraft

2

Vgl. etwa zur Haltung Masaryks und Kramařs (des ersten Präsidenten und des ersten Premierministers der Ersten Tschechoslowakischen Republik) zum Phänomen der Masse, auch in Bezug auf Le Bons Psychologie der Massen Winkler: Karel Kramař, S. 356ff.

3

Vgl. z.B. aus historischer Sicht Peukert: Die Weimarer Republik, und aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Lindner: Leben in der Krise.

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besessen hatten, auflösten. Diese Problematik trat verschärft für die Bevölkerungsteile jüdischer Herkunft auf, von denen sich viele der jüdischen Religion und Tradition nicht mehr stark verbunden fühlten, sondern in einem christlichen oder atheistischen Umfeld aufgewachsen waren, aber dennoch seit 1920 auch die Wahl hatten, sich zur jüdischen Nationalität offiziell zu bekennen und gleichzeitig dem massiv ansteigenden Antisemitismus sowohl von deutscher wie auch von tschechischer Seite ausgesetzt waren. In den Romanen der Zeit wird anhand der Identitätsdilemmata der Protagonisten eine intensive literarische Auseinandersetzung mit diesen Komplexen und der Stellung des Subjekts im modernen multikulturellen Raum deutlich. In der Suche nach Zugehörigkeit und Heimat und dem Versuch der individuellen Selbstbehauptung der Protagonisten wird eine gesellschaftliche Wirklichkeit illustriert, in der eine Selbstverortung des Individuums innerhalb angeblicher kultureller oder nationaler Einheiten ‚der‘ Deutschen oder ‚der‘ Tschechen, ‚der‘ Juden oder ‚der‘ Christen, ‚des‘ Bürgertums oder ‚des‘ Proletariats, ‚des‘ linken und ‚des‘ rechten politischen Spektrum zwar antizipiert, jedoch äußerst problematisch ist, da die essentialistische Zugehörigkeit zu einer Gruppierung in Widerspruch steht zu den komplexen Persönlichkeiten der handelnden Figuren. Thematisiert, problematisiert und schließlich entlarvt wird hierbei der Konstruktcharakter in der Vorstellung homogener kultureller, nationaler oder sprachlicher Einheiten. Die deutschsprachige (ebenso wie auch die tschechischsprachige) Literatur der Stadt Prag und der gesamten Region Böhmen und Mähren ist als ein Bestandteil der europäischen Moderne zu verstehen,4 der in einem breiten Kommunikationszusammenhang in der Vernetzung mit anderen literarischen Regionen und Zentren entstanden ist, auch wenn die zeitgenössischen Selbstzuschreibungen der Autoren und die spätere Literaturgeschichtsschreibung zum Zwecke der Abgrenzung, Stilisierung und Kategorisierung immer wieder auf den Sonderstatus Prags als ‚Sprachinsel‘ oder ‚dreifaches Ghetto‘ verwiesen haben.5 Ähnlich wie Sprengel/Streim dies für das Verhältnis zwischen der Berliner und der Wiener Moderne beschreiben, lässt sich die kulturelle Wechselwirkung zwischen Prag und Berlin oder Wien, aber auch diejenige anderer kultureller Zentren, Regionen und Provinzen als „dynamischen Prozeß [auffassen], der aus dem Spannungsfeld zwischen Annäherung und Abgrenzung entstand und ein wesentliches Antriebselement in der Gesamtentwicklung der literarischen Moderne war.“6 In der Thematisierung der Identitätsproblematik, die einem gemeinsamen sozialen und gesellschaftlichen Erfahrungshorizont entspringt, dabei jedoch 4

Vgl. hierzu insbesondere auch die Veröffentlichungen der Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur in Olmütz, die sich um eine Anerkennung der modernen Attribute der angeblichen Provinzliteratur in Mähren bemüht, z.B. Voda Eschgfäller/Horňáček: Regionalforschung zur Literatur der Moderne.

5

Vgl. zur Dekonstruktion dieser Theorien Hoffmann: November 16, 1920, S. 392f.

6

Sprengel/Streim: Berliner und Wiener Moderne, S. 20.

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äußerst heterogene Formen der Fiktionalisierung annimmt, lässt sich die deutschböhmische und deutschmährische Literatur problemlos in den größeren Kontext der mitteleuropäischen, modernen Literaturentwicklung der Zwischenkriegszeit einordnen, für die Karrenbrock am Beispiel der Weimarer Republik feststellt: Einig sind sich diese Jungen zunächst nur in der Bestimmung ihrer eigenen Gegenwart als Generation, die zur Lösung ihrer existentiellen Fragen ganz auf sich selber angewiesen ist und dazu tendiert, die Antworten im leibhaftigen Selber-Leben, allein im Hier und Jetzt, zu finden. Ihre auch von Benjamin und Kästner evozierten Erfahrungen stiften zwar den Generationszusammenhang, aber statt Generationseinheiten, gar Generationsstilen ergeben sich aus dieser Disposition im Hinblick auf ihre ästhetische Praxen unterschiedliche Gemengelagen […].7

Eine differenzierte Betrachtung der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur kann weder zu dem Ergebnis kommen, dass es sich hierbei um eine in sich geschlossene, homogene Literaturlandschaft handelt, noch, dass diese sich konsequent von der im gleichen Zeitraum etwa in der Weimarer Republik oder in Österreich entstandenen Literatur abgrenzen lässt. Es kann jedoch ein Identitätsmuster aufgedeckt werden, das die besondere Beschaffenheit der heterogenen Literaturlandschaft Böhmen und Mähren illustriert, ohne sämtliche dort entstandene Literatur in eine feste Schablone pressen zu müssen und ohne einen alleinigen Anspruch dieser Literatur auf eine spezifische fiktionale Aufarbeitung von (in diesem Falle) Identitätskonzepten zu formulieren. Die Besonderheit der deutschböhmischen und deutschmährischen Romane in ihrer Thematisierung der Selbstverortung des Individuums ergibt sich aus der Stellung der jeweiligen Protagonisten zwischen verschiedenen Kollektiven und den darin enthaltenen immer wieder scheiternden Versuchen der Annäherung und Heimatsuche, die an der Zerrissenheit des Subjekts und an Exklusionsmechanismen der Gesellschaft scheitern. Der Unterschied zu der Literaturentwicklung z.B. in der Weimarer Republik wird im Vergleich mit der dort vorhandenen starken Polarisierung der modernen Gesellschaft und ihrer Subjekte deutlich, wie Lethen sie formuliert: Man erblickt das Menschenkind als Medien-Idol und als Erdgeist, als vereinsamten Moralisten und als Kollektivwesen, das sein Gewissen in sozialen Körperschaften entlastet. Wir sehen es in exzentrischer Unterschiedenheit von der Menge flanieren oder in Anonymität eines soziologischen Typus versunken.8

7

Karrenbrock: Die „Junge Generation“ der Zwanziger Jahre, S. 109.

8

Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 41.

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Die Menschen teilen sich hiernach in zwei Kategorien, in den Einzelgänger und den in der Menge untergehenden Massenmenschen. Wenn hier die Rede von ‚vereinsamten Moralisten‘ und ihrer ‚exzentrischen Unterschiedenheit‘ ist, so impliziert dies eine bewusste und gar gewollte Abgrenzung der Einzelgänger von der sie umgebenden Gesellschaft. Denkt man dabei etwa an Kästners Fabian oder auch an Canettis Blendung, so wird die gesellschaftliche oder geistige Isolation vielleicht noch beklagt, jedoch der Integration in die Gemeinschaft aufgrund von (wenn auch evtl. nur vermeintlicher) moralischer oder intellektueller Überlegenheit vorgezogen. Der Außenseiter gefällt sich als solcher, die gesellschaftliche Masse erregt Abscheu oder zumindest Verachtung. Die zweite Kategorie des modernen Menschen, die ‚Anonymität eines soziologischen Typus‘, impliziert dagegen die identitätsstiftende Funktion einer Gruppierung oder eines Kollektivs, welche individuelles und eigenverantwortliches Handeln und Verhalten negiert. Die Einschätzung Lethens mag etwas überspitzt sein, es wird jedoch deutlich, dass in seiner Einteilung ‚Grenzgängern‘, ungewollten Außenseitern und kulturellen Mittlerfiguren, wie sie die deutschböhmische und deutschmährische Literatur häufig aufweist, kein Raum geboten wird. Betrachtet man die deutschböhmischen und -mährischen Romane dieser Zeit, so stehen hier mit den Protagonisten zumeist Figuren im Vordergrund, die sich weder als Einzelgänger noch als Massenmenschen charakterisieren lassen, sondern als Suchende, die sich zwischen gesellschaftlichen, nationalen oder kulturellen Gruppierungen und Ideologien bewegen und hierbei ihren eigenen Standort zumeist nicht finden können, da sie äußerst komplexe Figuren darstellen, die in ihrer Herkunft und inneren Zerrissenheit ein Abbild der Zeit sind. Um die Problematik der Zugehörigkeit und der Selbstverortung der Protagonisten zu erfassen, ist es somit unumgänglich, Identität nicht als starre, ontologisch definierbare Entität oder als anthropologische Konstante zu verstehen, sondern als pluralistische, hybride, sich in einem dauerhaften Prozess befindliche Kategorie. Die Vorstellung einer essentialistischen individuellen oder kollektiven Identität ist immer ein soziales Konstrukt, das in einen größeren gesellschaftlichen und politischen Rahmen eingebettet ist. Dies soll bei der Verwendung von Begrifflichkeiten um den Themenkomplex ‚Identität‘ immer mitgedacht werden, so also auch bei den Termini ‚Kollektiv‘, ‚Gruppe‘, ‚Masse‘, des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘. Nichtsdestotrotz existiert die Vorstellung einer essentialistischen nationalen oder sozialen Identität und diese wurde insbesondere in dem hier betrachteten Zeitraum der Zwischenkriegszeit ideologisch instrumentalisiert, um kulturelle Differenzen zu betonen, Minoritäten auszugrenzen und den nationalen wie politischen Kampf zu schüren. In der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur spielt dies eine erhebliche Rolle. Hierbei lässt sich beobachten, dass die Protagonisten, die durch Ausschlussmechanismen außerhalb von Kollektiven stehen, diese häufig als essentialistisch wahrnehmen, also als in sich homogene Gruppierungen mit klar definierter Identität, an welcher der Außenseiter teilhaben möchte, aber nicht darf. Die Protagonisten der behandelten

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Romane stehen als Individuen solchen nationalen, religiösen oder sozialen Kollektiven gegenüber, die hermetisch erscheinen. Trotz mannigfaltiger Kontakte und Verflechtungen mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen findet keine Integration statt, eine teilweise antizipierte, eindeutige kollektive Identität kann somit nicht entstehen. Andererseits sind die Berührungspunkte mit den das Subjekt umgebenden Gemeinschaften jedoch zu vielfältig, um eine selbstbewusste, individuelle Positionierung jenseits der Kollektive und Identitätsangebote zu erreichen, weshalb die Protagonisten sozusagen immer zwischen den Stühlen sitzen, sich sowohl zwischen verschiedenen Kollektiven als auch zwischen den von Lethen genannten Polen bewegen.9 Dabei sind sie keineswegs vollkommen isoliert, Interaktionen mit verschiedenen Kollektiven und anderen Individuen finden statt, häufig werden sie auch von außen minoritären Gruppierungen (den Juden, den Pragerdeutschen, den Kommunisten etc.) zugeteilt, jedoch ist ihr Kommunikationsverhalten von Miss- oder Unverständnissen geprägt. Die Figuren werden dadurch immer wieder auf ihr Einzelschicksal zurückgeworfen, das individuell getragen werden muss. Dies äußert sich in den Texten auf sehr unterschiedliche Weise; teilweise sind die Romane ganz konkret im zeitgenössischen Milieu Böhmens und Mährens angesiedelt, andere wiederum nehmen keinen konkreten Bezug auf die Region, sondern verlagern die Handlung in einen anderen Chronotopos; auch die Kollektive, mit denen die Individuen konfrontiert werden, variieren zwischen der Mikroebene der Familie oder der sie umgebenden Gesellschaft und der Makroebene von großen nationalen, kulturellen oder religiösen Entitäten. Das gemeinsame Moment findet sich jedoch im Scheitern des Subjektes auf der Suche nach seiner Zugehörigkeit. Anders verhält es sich in der nationalistischen deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur, indem hier, insbesondere in der Gattung des ‚Grenzlandromans‘, eine dezidierte Abkehr vom individuellen Streben und stattdessen ein Kampf im Rahmen des nationalen Kollektivs propagiert wird. Fragen der Zugehörigkeit werden hier relativ eindeutig beantwortet, Grenzgänger und kulturelle Mittlerfiguren beinahe ausschließlich negativ dargestellt. Hier findet sich in der Fiktionalisierung eben die Konstruktion einer homogenen Beschaffenheit von Kulturen und Nationen, eine essentialistische Vorstellung von Identität, die zum Zwecke des inneren Gruppenzusammenhalts und zur Exklusion von Minoritäten instrumentalisiert wird. Diese nationalistische Literatur Böhmens und Mährens wird in der Regel als ‚sudetendeutsche Literatur‘ bezeichnet und als Gegenpol der nicht-deutschnationalen und 9

Diese Zwischenstellung der Schriftstellergeneration legt auch Spector für seine Betrachtung der ‚Prague Territories‘ um 1900 zugrunde und begründet hiermit die Sonderstellung der ‚Prager deutschen Literatur‘ im Rahmen der europäischen Moderne: „In a stark way, the writers explored here felt themselves to have been in between subject positions or ‚identities‘ – national identities, to be sure, but also other sorts of communal identities, aesthetic identities, ideological identities.“ (Spector: Prague Territories, S. x.)

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der kulturellen Verständigung verpflichteten ‚Prager deutschen Literatur‘ stilisiert. Die Problematik dieser literaturwissenschaftlichen Bezeichnungen wird in Kapitel 2 eingehend thematisiert, an dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass die Dichotomisierung der beiden ‚Literaturen‘ üblicherweise suggeriert, es handele sich hierbei um eine topographische Einteilung, die mit der ideologischen Hand in Hand gehe, indem die ‚Provinz Sudetenland‘ lediglich nationalistische Trivialliteratur, das ‚Zentrum Prag‘ dagegen interkulturelle Weltliteratur hervorgebracht habe, was sich durch einen differenzierten Blick auf die Literatur der Region jedoch nicht bestätigen lässt. Des Weiteren impliziert die Einteilung, dass es sich bei den bei den Kategorien um in sich homogene, voneinander vollkommen getrennte Phänomene handelt, die keinerlei Gemeinsamkeiten aufwiesen. Gerade in der Darstellung der Identitätskonzepte in den beiden ‚Literaturen‘ wird jedoch deutlich, dass sie trotz ihrer Unterschiede Bestandteile derselben regionalen Literaturlandschaft sind, indem sie zwar diametrale, aber dennoch komplementäre fiktionale Aufarbeitungen der modernen multikulturellen Situation darstellen. Durch ihre Abgrenzungen voneinander verweisen sie wiederum aufeinander, sodass erst in einer gemeinsamen Betrachtung der heterogenen Strömungen der gesamten literarischen Region eine valide Aussage über die dynamische deutschsprachige Literaturlandschaft Böhmens und Mährens in Hinblick auf die Selbstverortung des Individuums in den Romanen getroffen werden kann.

1.2 D AS P HÄNOMEN DER ‚P RAGER DEUTSCHEN ‘ ‚ SUDETENDEUTSCHEN ‘ L ITERATUR – M ODELLE UND ANSÄTZE DER F ORSCHUNG

UND

Die ‚Prager deutsche Literatur‘ stellt ein Faszinosum dar; die immer wieder beschworene Kreativität und Schaffensfülle, der ihr zugesprochene Weltrang, ihr Magisches, Groteskes und gleichzeitig paradigmatisch Modernes, und dies alles trotz oder gerade wegen ihres immer wieder unterstellten Insel-, Ghetto- und Treibhausdaseins, haben zu zahlreichen Monographien und Tagungsbänden, Essays und Bildbänden etc. über die deutschsprachige, schreibende Prager Bevölkerung um die Jahrhundertwende geführt. Eine parallel laufende Literaturgeschichtsschreibung von sehr viel kleinerem Ausmaß beschäftigt sich mit der anderen Seite der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur, der häufig als nationalistisch, provinziell und gänzlich von der ‚Prager deutschen Literatur‘ gesondertes Phänomen betrachteten ‚sudetendeutschen Literatur‘. Die kritische Auseinandersetzung mit den beiden Literaturen beginnt bereits mit der zeitgenössischen Rezeption der Werke zu Beginn des 20. Jahrhundert, erfährt einen Schwerpunkt in den beiden Liblice-Konferenzen der Jahre 1963 und 1965, deren Ergebnisse die Germanistik über 40 Jahre hin prägten (vgl.

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hierzu Kap. 2.1), und findet in der zeitgenössischen internationalen Forschung wiederum neue theoretische Impulse.10 Gerade in den letzten Jahren sind in der Inlandsgermanistik einige Monographien erschienen,11 die das Phänomen der ‚Prager deutschen Literatur‘ bzw. der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur methodisch unterschiedlich aufarbeiten. Hierzu gehören kultursemiotische und xenologische, rezeptions- mentalitäts- und diskurshistorische Ansätze sowie das wieder aufgegriffene Theorem von Deleuze/Guattari zur ‚kleinen Literatur‘.12 1.2.1 Prag als literarisch konstruierter Stadtraum – Semiosphären und die diskursive Herstellung nationaler Identität Einhergehend mit dem ‚spatial turn‘, der ein neues Raumverständnis und eine Fülle von Auseinandersetzungen mit Topographien und Topologien in den Geisteswissenschaften auslöste, erlebt auch die Literaturwissenschaft nach wie vor ein anhaltendes Interesse an Räumen in der Literatur, Geschichten in Räumen und Raumgeschichten. Der Raum wird nun nicht mehr als ein rein physischer, real existierender Raum aufgefasst, sondern als ein durch Medien und Diskurse produzierter, konstruierter und dynamischer Raum, der gleichzeitig wiederum zur Formation von Diskursen beiträgt. Der fiktionalen Konstruktion von Räumen kommt hierbei eine entscheidende Funktion zu, welche die Literaturwissenschaft sichtbar machen kann: Die (fiktionale) Literatur ist möglicherweise nicht nur eine mediale Praxis, die wie viele andere zur Konstitution kultureller Räume beiträgt bzw. sie beobachtbar macht, sondern die besonders dafür geeignet ist, vorstellungsmögliche Welten überhaupt erst zu einer imaginativ fassbaren Entität werden zu lassen.13

Diese relativ neuen theoretischen Ansätze ermöglichen auch einen erweiterten Blick auf die ‚Prager deutsche Literatur‘, da in literaturwissenschaftlichen Studien nicht

10

Takebayashi zeichnet die Forschungsgeschichte anschaulich nach und berücksichtigt hierbei gegenüber vielen anderen aktuellen inlandsgermanistischen Monographien über die deutschböhmische und deutschmährische Literatur auch den Verdienst der tschechischen Germanistik. (Vgl. Takebayashi: Zwischen den Kulturen, S. 55f.)

11

Ausführlicher eingegangen wird hier auf die folgenden: Hohmeyer: „Böhmischen Volkes Weisen“ (2002); Fritz: Die Entstehung des „Prager Textes“ (2005); Jäger: Minoritäre Literatur (2005); Takebayashi: Zwischen den Kulturen (2005); Schneider: Wachposten und Grenzgänger (2009).

12

Vgl. Deleuze/Guattari: Kafka.

13

Dünne: Geschichten im Raum und Raumgeschichte, S. 22.

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mehr nach autobiographischen und historischen Bezügen zur Stadt Prag gefragt wird, sondern vielmehr über den literarischen Diskurs der Konstruktcharakter essentialistischer Vorstellungen von Raum, Identität und Zugehörigkeiten aufgedeckt werden kann, „indem die Literatur an dem Konstruktionsprozeß der kulturellen Identität und Alterität auf unterschiedlichen Ebenen beteiligt ist.“14 In den vergangenen Jahren sind drei Monographien erschienen, die sich konkret mit der deutschsprachigen, in Prag Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenen Literatur auseinandersetzen und die literarischen Figurationen des Stadtraums untersuchen: In Anlehnung an Lotman und Todorov unternimmt es Susanne Fritz in ihrer Studie Die Entstehung des „Prager Textes“, die heterogenen und „sich einer eindeutigen und problemlosen Einordnung in einen Nationalitätendiskurs und dementsprechend auch in eine Nationalliteratur verweigern[den]“15 Romane zwischen 1895 und 1934 mithilfe eines kultursemiotischen Modells zu analysieren. Hierbei untersucht sie Texte, die sich explizit mit Prag befassen, wobei sie allein dieses Kriterium für die Bezeichnung ‚Prager deutschsprachige Literatur‘ im Untertitel16 als ausschlaggebend voraussetzt, da ebenfalls Texte von ‚sudetendeutschen‘ Autoren (wie Karl Hans Strobl) und nicht aus Böhmen oder Mähren stammenden Schriftstellern (wie Paul Wiegler) in die Untersuchung aufgenommen werden, während Texte von Prager Autoren, die sich nicht konkret mit Prag beschäftigen, ausgeklammert werden. Das Ziel der Darstellung besteht darin, den „Mythen von Prag als dem Zeichensystem einer bestimmten Epoche“17 näher zu kommen. Zu diesem Zwecke untersucht Fritz die Bedeutung von Psychotopen als Identifikationsräume in der Stadt und die ‚stilistische Codierung‘; sie macht verschiedene Stiltypen in den Texten ausfindig, die eine Interpretationsbasis für die Romane bieten, indem die bestimmte Verwendung von Stilmerkmalen der Décadence, des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit sowie ihre Vermischung als paradigmatisch für den ‚Prager Text‘ sichtbar gemacht werden. Eine Loslösung von der Bindung des Stadtdiskurses an eine Nationalliteratur oder an autobiographische Bezüge erreicht Fritz dadurch, dass sie auf die gemeinsamen Momente von heterogenen Romanen (tschechisch- und deutschsprachig, unterschiedlich 14

Takebayashi: Zwischen den Kulturen, S. 19.

15

Fritz: Die Entstehung des „Prager Textes“, S. 8.

16

An anderer Stelle spricht Fritz von dem „‚Prager Text’ der mitteleuropäischen Literatur“; diese Bezeichnung wäre etwas treffender, wenn Fritz nicht gleichzeitig behaupten würde, dass zu dessen grundlegenden Merkmalen „die Auseinandersetzung […] mit den Phänomenen der eigenen, nicht-tschechischen Historie“ (Ebd., S. 38.) gehören würde. Hiermit klammert sie, anscheinend nicht absichtlich, die tschechischen Schriftsteller nicht nur aus einem möglichen Beitrag zum ‚Prager Text’ aus, obwohl sie tschechische Werke in der Studie mit behandelt, sondern schließt sie implizit auch aus der mitteleuropäischen Literatur aus.

17

Ebd., S. 8.

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in Schwerpunkten der Thematik und Entstehungszeit) aufmerksam macht, die als typisch für die Darstellung Prags gelten können. Einen ähnlichen Untersuchungsgegenstand, der sich explizit mit der Stadt Prag auseinandersetzt, weist Vera Schneiders Wachposten und Grenzgänger auf, wobei der methodische Ansatz sich von dem bei Fritz unterscheidet, indem es Schneider nicht um ein Semiosphärenmodell geht, sondern um eine Untersuchung der diskursiven Herstellung von nationaler Identität in literarischen und publizistischen Texten anhand von öffentlichen Topoi und kollektiven Abgrenzungspraktiken in der Moldaustadt: So betrachtet Schneider etwa die literarische Thematisierung der nationalen Inbesitznahme verschiedener Stadtteile, der deutschen oder tschechischen Beschriftung von Straßen und Geschäften, der Denkmäler sowie nationaler Parolen und Lieder. Während mit diesen Aspekten den ‚Wachposten‘ der bedeutend längere Teil der Untersuchung zukommt, widmet sich ein kürzeres Kapitel auch den ‚Grenzgängern‘, somit dem interkulturellen Zusammenleben zwischen Deutschen und Tschechen. Jedes Teilkapitel beginnt mit einer intensiven und reiche Erkenntnisse liefernden Auseinandersetzung mit der historischen Situation in Prag, wofür als Quellen hauptsächlich zeitgenössische Zeitungspublikationen herangezogen werden. Hierauf folgt jeweils eine Untersuchung der zuvor beschriebenen Parameter in ausgewählten literarischen ‚Referenztexten‘.18 Diese Vorgehensweise illustriert anschaulich, inwiefern die zeitgenössischen Problematiken in literarischen Texten aufgegriffen und fiktional 18

Die Auswahl der Referenztexte, die den literarischen Korpus der Arbeit darstellen (Rilke: Zwei Prager Geschichten; Strobl: Die Vaclavbude und Das Wirtshaus „Zum König Przemysl“; Brod: Ein tschechisches Dienstmädchen; Weiß: Franziska; Kisch: Der Mädchenhirt; Meyrink: Walpurgisnacht) wird nicht näher erläutert, wirkt etwas willkürlich und teilweise nicht ganz nachvollziehbar. So stellt sich etwa die Frage, warum Weiß’ Franziska herangezogen wird, wenn auch Schneider immer wieder und in der Zusammenfassung noch einmal hervorhebt, dass „[d]as Gefühl der Fremdheit und Isolation, das Franziska über weite Strecken des Romans empfindet, […] keinen Bezug zu ihrer Herkunft und zu den aktuellen Nationalitätenkonflikten“ habe, sondern universeller Natur als Konsequenz des Konflikts zwischen Liebe und Künstlertum sei, während auch in der Gegenüberstellung der Städte Prag und Berlin der Fokus nicht auf dem Nationalen, sondern auf der Differenz zwischen Tradition und Moderne liege. (Schneider: Wachposten und Grenzgänger, S. 237.) Auch verwundert es, dass lediglich Referenztexte ausgewählt wurden, die vor 1918 erschienen, einem Datum, das neben dem Umsturz und der politischen Neuordnung auch eine starke Veränderung des Stadtbildes und eine Verschärfung der Nationalitätenkonflikte markiert. Eine Betrachtung der Texte aus den 20er und 30er Jahren hätte somit interessante Aufschlüsse für die Thematik liefern können, weshalb es nicht verständlich ist, warum etwa Weiskopfs Slawenlied nicht in die Reihe der Referenztexte aufgenommen wurde, sondern auf zwei Seiten lediglich in Bezug auf das slawische Lied untersucht wird.

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aufgearbeitet werden. Die Arbeit liefert hierdurch einen wichtigen Beitrag zur Untersuchung des öffentlichen Diskurses und der mentalitätsgeschichtlichen Bedeutung nationaler deutscher Identität in Prag im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, kann aber durch ihre Systematik wiederum die Wechselwirkung zwischen öffentlichem und literarischen Diskurs nicht zur Gänze aufdecken. Diese nimmt dagegen Tazuko Takebayashi in ihrer Monographie Zwischen den Kulturen, in der sie die Diskursivierung des Deutschen, Tschechischen und Jüdischen in der deutschsprachigen Literatur Prags im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts untersucht, in den Blick, indem sie den literarischen Diskurs nicht als Abbild der historischen Wirklichkeit betrachtet, sondern als einen Prozess, indem Identität und Alterität konstruiert werden. Hierbei untersucht sie mithilfe eines xenologischen Ansatzes die Transferleistungen zwischen Kulturen, die nicht als starre Entitäten aufzufassen sind, sondern „als Produkt der Wechselwirkung von Eigenem und Fremden in ihrer Komplexität und Dynamik“.19 Takebayashis Kernpunkte betreffen die ‚Profilierung‘ des Deutschen, Tschechischen und Jüdischen in der deutschsprachigen Prager Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wobei jeweils Selbstprofilierungen, Stereotypisierungen und der prozessuale Charakter der kulturellen Identität im Vordergrund stehen. In der Korpusauswahl kommt sie neben der ausführlichen Thematisierung von literarischen Texten auch Doris Bachmann-Medicks Forderung nach der Kontextualisierung von Literatur nach und bezieht somit „auch editoriale, kulturpolitische und literaturwissenschaftliche Texte“ in ihre Analyse ein.20 Hierdurch gelingt ihr eine umfassende Darstellung der diskursiven Konstruktion von nationaler Identität, der Wahrnehmung von Eigenem und Fremdem, Ausschluss- und Integrationsmechanismen im multikulturellen modernen Raum, welche die Verfasserin im Rahmen eines Metadiskurses mit einer kritischen Analyse ihres eigenen ‚Sehepunktes‘21 als japanische Germanistin, deren Wahrnehmung kulturell determiniert ist, zusätzlich untermauert. Die drei Studien weisen trotz ihrer unterschiedlichen Schwerpunkte entscheidende Gemeinsamkeiten auf: Zum einen legen sie jeweils den Analysen ein theoretisches Konstrukt (kultursemiotisch, diskurstheoretisch, xenologisch) zugrunde, anhand dessen die entsprechenden Texte dann untersucht werden. Dadurch entsteht zwar ein homogenes und gut strukturiertes Bild der ‚Prager deutschen Literatur‘, die einzelnen Romantexte werden jedoch in ihrer Gesamtaussage verkürzt dargestellt, da sie jeweils nur auf bestimmte Themenkomplexe hin befragt werden. So schleichen

19

Takebayashi: Zwischen den Kulturen, S. 19.

20

Ebd., S. 80.

21

Vgl. zum Begriff der ‚Sehepunkte‘: http://www.sehepunkte.de/ueber-uns/ (Abrufdatum 18.10.2012.)

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sich bei Fritz in ihren sehr knapp gehaltenen Romananalysen (häufig unter fünf Seiten) an einigen Stellen Fehler ein,22 und bei Schneider erscheint teilweise eine Analyse von aus der Gesamterzählung herausgelösten einzelnen Bereichen wie der Rolle des Denkmals, die (bis auf das Beispiel von Meyrinks Walpurgisnacht) bei keinem der Referenztexte mehr als eine Seite einnimmt, ohne zureichenden Kontext und Einbettung des Diskurses isoliert, wodurch somit keine weiterführende Aussagekraft über den Text als Ganzes getroffen werden kann. Zweitens beschränken sich alle drei Studien in ihrer Analyse bereits im Titel auf die Literatur der Stadt Prag, wodurch auch ihr Korpus determiniert ist, und ihre Fragestellung ergibt sich jeweils konkret aus der multikulturellen Situation der Stadt und ihrer Räume, womit sie (wenn sie auch in ihrer theoretischen Differenzierung über das in Liblice aufgestellte Modell der ‚Prager deutschen Literatur‘ hinausgehen) die Dichotomisierung in ‚Prager deutsche‘ und ‚sudetendeutsche‘ Literatur, in Zentrum und Peripherie, fortschreiben. Diese topographischen Bezeichnungen bergen jedoch ihre Risiken, indem sie den Ausnahmecharakter Prags überbetonen und den Blick auf kulturelle Transfers zwischen Stadt und Land sowie auf Gemeinsamkeiten zwischen der ‚Provinzliteratur‘ und der ‚Stadtliteratur‘ verstellen. So ließe sich im Falle der Untersuchung des ‚Prager Textes‘ die Frage stellen, inwiefern Karl Hans Strobls Herkunft aus Iglau, Hugo Salus’ aus Česká Lípa oder Paul Wieglers aus Frankfurt am Main als ‚Medien der Erinnerung‘ auch andere Stadtbilder in ihr Prag-Bild einfließen ließen oder inwiefern diese ihre Prag-Beschreibungen zumindest beeinflussten. Zum anderen ließe sich fragen, ob sich nicht auch in den anderen Texten deutschsprachiger Autoren aus Prag, die Prag nicht eindeutig nennen, die Herkunft aus der Stadt eingeschrieben hat und

22

Am auffälligsten ist dies bei den Aussagen zu Hans Natoneks Roman Kinder einer Stadt. So beschreibt das lange Zitat aus dem Roman, das Fritz als Hauptargument für die Beschaffenheit Prags heranzieht, eben nicht Prag, sondern die Stadt in der Weimarer Republik, in der sich die Protagonisten Dowidal und Epp niederlassen und zu bedeutenden Personen zweier sich feindlich gegenüberstehenden Presseimperien aufsteigen. (Vgl. Fritz: Die Entstehung des „Prager Textes“, S. 112.) Die Beschreibung der Stadt mag von Prag inspiriert worden sein, die Einwohnerzahlen entsprechen z.B. relativ genau Prag, es geht jedoch aus dem Text eindeutig hervor, dass Epp und Dowidal sich fern von der Heimat publizistisch betätigen und bekriegen. Daher ist auch folgende Aussage vollkommen falsch und verdreht die Grundaussage des Romans: „[W]ährend die Figur des Dowidal in Prag verbleibt und einen – nicht sehr glaubhaften – Sinneswandel vom Misanthropen zum Philanthropen durchlebt, geht sein Gegenspieler Egon von Epp in der gemeinsamen Heimatstadt zugrunde.“ (Ebd., S. 211.)

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diese somit auch zum ‚Prager Text‘ gezählt werden müssten, ja, einen solchen entschieden erweitern und differenzieren könnten.23 Ebenso sind die Diskurse um nationale und kulturelle Identität, Stereotypisierungen und Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden in Prag, die Schneider und Takebayashi behandeln, auch abhängig von den Ereignissen in der Provinz; die nationalen, auch publizistischen Auseinandersetzungen in Prag wurden etwa stark von denjenigen in den ‚Sudetenbezirken‘ beeinflusst. Diese Trennung von Prag, Böhmen, Mähren und Schlesien vermeidend, gibt es andere aktuelle Studien, die bewusst auf die Bezeichnung ‚Prager deutsche Literatur‘ oder Literatur aus/in Prag verzichten und versuchen, die gesamte deutschböhmische und deutschmährische Literatur des frühen 20. Jahrhunderts bzw. ihre Rezeption in den Blick zu nehmen. 1.2.2 Böhmen, Mähren, Schlesien – eine literarische Region der kleinen Literatur? Eine umfassende Thematisierung der territorialen Literaturgeschichtsschreibung der böhmischen Länder bietet Andrea Hohmeyers „Böhmischen Volkes Weisen“; die umfangreiche Arbeit stellt ein beeindruckendes Kompendium der (Literatur)Geschichte der böhmischen Länder dar, wobei der Schwerpunkt der Betrachtung nicht der Literaturanalyse, sondern der sozialgeschichtlichen Aufarbeitung der historischen Bedingungen, innerhalb derer die Literatur zwischen 1895 und 1945 entstanden ist, sowie der literaturwissenschaftlichen und publizistischen Rezeption dieser Literatur gewidmet ist. Die Monographie bietet einen reichen Fundus an Quellen und historischen Fakten, die für das Verständnis der Lebenssituation in Böhmen und Mähren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unerlässlich sind. Der Arbeit liegt ein Ansatz zugrunde, der in der Forschung zur deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur vor allen Dingen in den letzten Jahren einen Aufschwung erlebt hat: Es geht hierbei um eine differenziertere Betrachtung der Literatur aus Böhmen und Mähren, die sich von der klaren Kategorisierung in die ‚gute‘ ‚Prager deutsche Literatur‘ und die ‚schlechte‘‚ sudetendeutsche Literatur‘ lossagt. Hohmeyers Plädoyer lautet daher: Anzustreben ist eine grundsätzliche Gleichbehandlung der deutschsprachigen Literatur in Prag und jener in den deutschen Randgebieten; daneben müssen die auf dem Lande lebenden deutsch sprechenden jüdischen Dichter ebenso beachtet werden wie die in der Metropole lebenden

23

Vgl. z.B. Weinbergs Deutung von Kafkas Stadtwappen in Krappmann/Weinberg: Region – Provinz.

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nicht-jüdischen, sudetendeutschen Antifaschisten und die jüdischen Deutschnationalen sowie die deutschen Sympathisanten einer nationalistischen Ideologie.24

Dies ist zwar ein vielversprechender Ansatz, aber Hohmeyer selbst bietet in ihrer Darstellung kein eigenes theoretisches Modell zu der von ihr geforderten territorialen Literaturgeschichtsschreibung,25 weshalb die Problematik, wie in einer die gesamte Region umfassenden literaturwissenschaftlichen Untersuchung mit so heterogener deutschböhmischer und deutschmährischer Literatur wie etwa den jeweils 1922 erschienenen Romanen Im Banne der Heimat von Hedwig Teichmann und Die Verstümmelten von Hermann Ungar (üblicherweise wird der erste Roman als nationalistischer Grenzlandroman und der zweite als expressionistischer Roman der ‚Prager deutschen Literatur‘ gewertet) umgegangen werden kann, nicht gelöst wird. Einen gänzlich anderen Ansatz in der Aufarbeitung der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur bietet Christian Jägers Studie Minoritäre Literatur, die wohl umfangreichste und „ambitionierteste“26 Arbeit, die in den letzten zehn Jahren über die Literatur der Region erschienen ist. Anhand des von Deleuze/Guattari formulierten und von Kafka inspirierten Theorems der ‚Kleinen Literatur‘ untersucht Jäger das Vorhandensein von deterritorialisierten, minoritären Merkmalen in der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur. Hierbei ergibt sich der Korpus der Arbeit aus einer bewussten Thematisierung sowohl der ‚sudetendeutschen‘ als auch der ‚Prager deutschen‘ Literatur, wobei Jäger bereits im Vorwort deutlich macht, dass er die Bezeichnungen nicht im Sinne einer deutlichen Dichotomisierung versteht, und er sie im Nachwort vollständig dekonstruiert, da es „weder die pragerdeutsche noch die sudetendeutsche Literatur“ gebe.27 Jäger geht es um einen möglichst differenzierten Blick auf die Literatur der Region, wobei bereits die Liste der behandelten Autoren aufhorchen lässt, da in sie nicht nur fast vergessene Schriftsteller aufgenommen werden, sondern zudem auch eine interessante Zusammensetzung von Namen erfolgt, die über viele Jahrzehnte in der Forschung nicht gemeinsam genannt wurden: Jäger behandelt deutschböhmische Literatur von Beginn des Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges anhand einiger Exponenten; namentlich: Oskar Baum, Guido Erwin Kolbenheyer, Paul Leppin, Hedwig Teichmann, Marie Holzer, El Hor/El Ha, Elisabeth Janstein, Hans Watzlik, Ludwig Winder, Emil Fischer, bekannter unter seinem Pseudonym Melchior Vischer, und Hermann Ungar.28 24

Hohmeyer: „Böhmischen Volkes Weisen“, S. 693.

25

Vgl. auch Fritz: Andrea Hohmeyer, S. 462.

26

Krappmann: Allerhand Übergänge, S. 45.

27

Jäger: Minoritäre Literatur, S. 552.

28

Ebd., S. 8.

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In Anbetracht dieser Auswahl erstaunt es schließlich auch nicht, dass Jäger nicht die Methodik einer vergleichenden Analyse wählt, sondern jeweils das Gesamtwerk der Autoren ausführlich und chronologisch analysiert. Dies hat den großen Vorteil, dass hierdurch ein umfassendes Bild des Werkes gezeichnet wird, das im Besonderen auch auf Kontinuitäten, Zäsuren, Schlaufen etc. im Werk aufmerksam macht. In dieser Hinsicht gelingt es Jäger anhand einer sehr textintensiven und genauen Beobachtung, unverzichtbare Gesamtinterpretationen zu liefern.29 Die Nachteile, die sich aus strikt abgeschlossenen Autorenkapiteln ergeben, sind der fehlende Raum für Vernetzungen und Analogien, das Aufzeigen von Kohärenzen und Diskrepanzen in den Werken verschiedener Schriftsteller, und hieraus ergibt sich, dass Jäger schließlich zu keinem auch nur knappen Umreißen der Literaturlandschaft kommt, sondern die Differenzen hervorhebt: „Substantielle Ähnlichkeit oder gar ein Identitätsmuster ist nicht gegeben“.30 Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass Jäger im Gegensatz zu den Untersuchungen von Fritz, Schneider und Takebayashi der sozialhistorischen Situation im Entstehungszusammenhang der Texte kaum Aufmerksamkeit widmet und somit außer der Theorie der minoritären Literatur, die nicht auf Böhmen und Mähren beschränkt ist, keine gemeinsame Ausgangsbasis für die Interpretation der Texte zugrunde legt, was vor allen Dingen methodische Gründe hat: Jäger macht bereits in der Einleitung deutlich, dass die ‚minoritären‘ Momente der Literatur, die er in den Texten ausmacht, sich nicht primär aus möglichen Analogien in den Biographien der Autoren ergeben, sondern erst in ihrer textuellen Repräsentation Geltung erlangen, wobei die Werke jeweils in ihrer Singularität und der Eigenständigkeit ihres Stils betrachtet werden sollen und nicht durch die Folie zuvor vorgenommener sozialhistorischer oder biographischer Prämissen: „Literatur wird betrachtet als ein Ort, an dem sich eine Autorbiographie erst schreibt.“31 Durch die Analyse der Gesamtwerke und des ‚minoritären‘ Schreibens soll nach der „Politik der Texte“ und nicht nach

29

Leider jedoch zieht Jäger die bereits bestehende Sekundärliteratur kaum in seine Analysen ein. Hierdurch hätte das jeweilige Autorenprofil an einigen Stellen noch einmal geschärft werden können. Er begründet dies folgendermaßen: „Im Bereich der Erforschung deutschsprachiger Literatur zwischen Jahrhundertbeginn und Ende des Zweiten Weltkrieges aus dem tschechoslowakischen Raum existieren keine vergleichbaren Untersuchungen, die auf die vorstehenden Analysen leitend hätten wirken können, so dass ein fast leeres Feld konturiert wird in der Wahl von Untersuchungsraum und -zeit, das als einzige Größe Kafka ausweist.“ (Ebd., S. 544.) Dies ist schlicht und einfach nicht richtig, wie ein Blick in die Bibliographie dieser Arbeit zeigen kann, wobei auch hier keine Vollständigkeit suggeriert werden soll.

30

Ebd., S. 549.

31

Ebd., S. 9.

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den „Relationen von Leben außerhalb der Literatur und in derselben“ gefragt werden.32 Dagegen legt Jäger im Nachwort Wert auf die Einflüsse, die historische Daten wie der Erste Weltkrieg, die Pogrome von 1920, die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten etc. auf das Schreiben gehabt haben, indem sie ‚Umbrüche in den Werken‘ bedingten. Näher thematisiert werden diese Ereignisse, vor allen Dingen in ihrer Spezifik und Bedeutung, die sie im multinationalen Böhmen und Mähren einnehmen, jedoch nicht. Gerade für eine Untersuchung, die sich auf die Politik der Texte und die Frage des ‚minoritären Werdens‘ festlegt, ist jedoch die Kenntnis nicht der einzelnen Autorenbiographien, jedoch der historischen, kulturellen und sozialen Bedingtheiten der Region notwendig, um die volle Bedeutung der Umbrüche in den Texten nachzuvollziehen. Während in den Studien zur ‚Prager deutschen Literatur‘ deutlich wird, dass durch die Einschränkung auf das rein auf die Stadt bezogene kulturelle Umfeld Transfers zwischen Region und Stadt sowie Wechselwirkungen und Rückbezüge auf die Herkunft der nicht aus Prag stammenden Autoren, die jeweils die Diskurse um die nationale oder kulturelle Identität stark beeinflussen, nicht erfasst werden können, und gleichzeitig die Gesamtaussage der Romane durch die starke Konzentration auf bestimmte Aspekte der sozialhistorischen Situation Prags an einigen Stellen verkürzt wird, ist mit Jägers Fazit andererseits das Problem umrissen, das sich aus einer Untersuchung der deutschmährischen und deutschböhmischen Literatur ergibt, die der Heterogenität der Region und der Werke der Autoren in vollem Umfang gerecht zu werden versucht; eine Zusammenführung anhand eines ‚Identitätsmusters‘ scheint nicht möglich. Die vorliegende Untersuchung der deutschen Literaturlandschaft Böhmens und Mährens unternimmt daher den Versuch, sich der komplexen Literaturlandschaft zu nähern, ohne weder ihre Heterogenität zu ignorieren noch angesichts 32

Ebd., S. 543. Jörg Krappmann hat bereits darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Anspruch nicht konsequent durchgehalten wird und beispielsweise bei der Interpretation der Werke von Oskar Baum vor allen Dingen die frühe Erblindung und das Judentum bei Jäger als maßgebliche Kategorien einbezogen werden, wodurch sich „die Kategorien bis zur Unkenntlichkeit miteinander vermisch[en]“. (Krappmann: Allerhand Übergänge, S. 47.) Als weiteres Beispiel der Inkonsequenz des anti-autobiographischen Ansatzes kann auch Jägers Kapitel über die Pragerdeutschen Autorinnen gelten, der mit den knappen biographischen Daten, die über Marie Holzer bekannt sind, beginnt. Wird darauf auch im Weiteren und bei der Analyse der Texte nicht weiter eingegangen, so vermittelt doch dieser alternative Einstieg in ein Autorenkapitel das Bild einer Sonderstellung der schreibenden Frau, indem im ersten Satz über sie zugleich auch der Name ihres Mannes genannt wird, der für die Textanalysen vollkommen unerheblich ist. Auch bei der Einführung der Autorin, welche die Pseudonyme El Hor und El Ha verwendete, spekuliert Jäger im ersten Abschnitt anhand der Wahl der Decknamen über den ausgeübten Beruf der Schriftstellerin. (Vgl. Jäger: Minoritäre Literatur, S. 249 u. 266.)

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der überwältigenden Vielfalt an Themen, Formen und Motiven die Gemeinsamkeiten aus den Augen zu verlieren.

1.3 E IGENE M ETHODEN

UND

V ORGEHENSWEISE

Eine Studie, welche die deutschböhmische und deutschmährische Literatur zum Gegenstand wählt, kommt nicht umhin, sich mit den festgeschriebenen Bezeichnungen auseinanderzusetzen, die zur Kategorisierung der Literaturlandschaft bislang immer wieder herangezogen wurden,33 nämlich mit der Einteilung in eine ‚Prager deutsche Literatur‘ und eine ‚sudetendeutsche Literatur‘. Wie so viele strukturgebende Definitionen eines an sich heterogenen Zeit- oder Kulturphänomens, seien sie Charakterisierungen von Epochen, Strömungen oder Regionen, hat diese Dichotomisierung ihren Ursprung zum einen in tatsächlich vorhandenen und beobachtbaren Eigenheiten der Literatur des ‚Zentrums‘ Prag auf der einen und der ‚Peripherie‘ des Sudetenlands auf der anderen Seite, zum zweiten aber speist sie sich auch aus dem Wunsch nach Eindeutigkeit, Einfachheit und Griffigkeit, der dazu verleitet, Brüche in der Argumentation, Ungleichzeitiges im Gleichzeitigen, Heterogenes und Ambivalentes zu übertünchen oder zu verschweigen, Texte, Autoren und Stile in Schubladen zu pressen, in die sie nicht gehören.34 Wilhelm Pinder hat dieses Phänomen und das damit zusammenhängende Problem bereits 1926 im Zusammenhang mit der Generationeneinteilung der Kunstgeschichte thematisiert: „Indessen – was nützt uns eine Ordnung, die in aller Einfachheit die Dinge totdrückt, denen sie gilt?“35 Kategorisierungen sind nur dann von wissenschaftlichem Nutzen, wenn ihr Konstruktcharakter in der Verwendung mitgedacht wird, wenn ihre Vereinfachungen offen diskutiert und hinterfragt werden (dürfen), wobei vor allen Dingen ihre Genese im wissensgeschichtlichen Kontext aufgedeckt werden muss. Mit den Bezeichnungen ‚Prager deutsche‘ und ‚sudetendeutsche‘ Literatur ist ebenso umzugehen wie mit Epochenbegriffen, für die Alexander von Bormann eine kritische und fruchtbare Auseinandersetzung anmahnt:

33

Ausgehend von der ‚Weltfreunde‘-Konferenz in Liblice im Jahre 1965, vgl. hierzu v.a.

34

Vgl. zur Aufgabe der philologischen Methode im Umgang mit der heterogenen Literatur

Kapitel 2. Alt: „Es gehört daher zu ihren Kennzeichen, Widersprüche, Anachronismen und Paradoxien des literarischen Textes nicht nach den Regeln einer übergeordneten Rationalität aufzulösen, sondern als Elemente seiner künstlerischen Wirkung in ihrer formalen wie reflexiven Eigenlogik zu beschreiben.“ (Alt: Verheißungen der Philologie, S. 28.) 35

Pinder: Das Problem der Generation, S. 12.

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[I]ch kann die Epochenbegriffe aufnehmen, wo immer sie herkommen, und mit ihnen umgehen. Das heißt aber: ihre Bedeutung verpflichtet mich weder noch entläßt sie mich aus aller Anstrengung – ich muß nicht wie das Kaninchen auf die Schlange starren und hoffen, daß sich die Python in eine Pythia verwandelt. Die traditionellen Epochenbegriffe sagen etwas über die Deutungstraditionen, weniger über die thematisierten Zeitabschnitte aus. Die Aufarbeitung unserer Wissenschaftsgeschichte lehrt uns, daß wir diese Zusammenhänge, d.h. unsere historische Erkenntnis, jeweils neu zu strukturieren haben.36

Das Kapitel 2 dieser Studie widmet sich den Festschreibungen der Forschung zur deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur unter eben diesen Prämissen. Die Kategorisierungen, ihre Entstehung, Funktionen und Instrumentalisierungen müssen differenziert betrachtet und modifiziert werden. Dabei ist keinesfalls eine ‚Rehabilitation‘ der nationalitischen Literatur angestrebt, allerdings ebenso wenig eine weitere Beschwörung der politischen und sprachlichen ‚Insel‘ des deutschen Prags, das aufgrund seiner besonderen ‚Atmosphäre‘ eine sensationelle Anzahl an Autoren von Weltrang hervorgebracht habe. Vielmehr werden die politischen und literaturwissenschaftlichen Begleitumstände, die zu der Dichotomisierung geführt haben, thematisiert, um zweierlei nur scheinbar paradoxe Umstände aufzudecken, die für das Verständnis der literarischen, aber auch der allgemein kulturellen und mentalitätsgeschichtlichen Beschaffenheit der Region von Bedeutung sind, da die starren Festschreibungen sowohl zu wenig als auch zu viel differenzieren: Zum einen soll thematisiert werden, dass es sich weder bei der deutschsprachigen Literatur aus Prag noch bei derjenigen aus der ‚Provinz‘ um in sich homogene Literaturphänomene handelt, sondern dass es sich um Räume handelt, in denen synchron äußerst verschiedene literarische Stilmittel, thematische Schwerpunktsetzungen und politische Ideologisierungen existiert haben und in den Texten manifest werden; durch eine vereinfachte Klassifizierung in ‚die‘ Prager deutsche und ‚die‘ sudetendeutsche Literatur kann die Forschung somit den Eigenheiten der einzelnen Texte, den Diskontinuitäten und Heterogenitäten nicht gerecht werden. Zum anderen jedoch wird auch darauf hingewiesen, dass es Kontinuitäten, komplementäre Diskurse und Wechselbeziehungen zwischen Prag und ‚Provinz‘ gegeben hat, sodass die Annahme, die beiden Literaturen hätten nichts miteinander gemein, in Frage gestellt werden muss; die dichotomische Einteilung verdeckt den Zusammenhang zwischen den einzelnen Texten, Autoren sowie politischen wie literarischen Strömungen, die allesamt zu einer Literaturlandschaft gehören. Da diese Teil der kulturellen Region Böhmen und Mähren ist, liegt es auch nahe zu überprüfen, ob die Methoden der Regionalliteraturforschung zu einer differenzierten Betrachtung der deutschböhmischen und deutschmährischen Romane in der Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik beitragen können. Von Bedeutung für die Untersuchung einer Literatur, die zwar an die politischen, sozialen 36

Bormann: Zum Umgang mit dem Epochenbegriff, S. 188.

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und historischen Besonderheiten ihres Entstehungsraums gebunden ist und nur aus diesem Zusammenhang heraus vollständig erfasst werden kann, die aber gleichzeitig über diesen Kontext hinaus auf mitteleuropäische Phänomene der Moderne verweist und somit nicht (nur) Provinzcharakter besitzt, sind zwei Faktoren, die in der gängigen Regionalliteraturforschung zumeist anders gewertet werden: Zum einen muss die Literatur selbst im Mittelpunkt stehen, ihre fiktionale und diskursive Aussagekraft darf nicht zu einem reinen Beiwerk für literatursoziologische und mentalitätsgeschichtliche Kategorisierungen verkümmern, die sich primär an Entstehungs- und Publikationsbedingungen, Kulturpolitik, Rezeption etc. orientieren.37 Durch eine Betrachtung, welche die „besondere Erkenntniskraft literarischer Texte“38 als Ausgangspunkt wählt, können literaturwissenschaftliche Untersuchungen über den rein sozial- oder mentalitätsgeschichtlichen Rahmen hinaus in der Regionalliteraturforschung betrieben werden. Zum zweiten aber darf eine Analyse der regionalen Besonderheiten in der Literatur nicht dazu verleiten, die Region und mit ihr einhergehend ihren Raum, ihre Kultur und Identität als essentialistisch und hermetisch zu erachten; keine Region, keine Literatur ist in sich homogen und keine ist isoliert. Die Besonderheiten der konkreten, an die Region gebundenen Diskursivierung des Raums, der Gesellschaft und auch der Identitätskonzepte müssen aufgedeckt werden, wobei gleichzeitig jedoch auch die Valenzen von Wechselwirkungen und Kulturbeziehungen zwischen Regionen, Kulturen und Nationen in die Betrachtung einfließen müssen, um die regionale Literatur wiederum in einen größeren Zusammenhang (im Fall der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur der Zwischenkriegszeit denjenigen der mitteleuropäischen Moderne) einzubinden. Erst hierdurch erhält der regionale Charakter der Literatur seine wissenschaftliche Aussagekraft innerhalb seines auch immer interkulturellen Rahmens. Die historischen und sozialen Eigenheiten der Region Böhmen und Mähren haben jedoch, und dies soll keineswegs in Frage gestellt werden, sondern ist ein bedeutender Bestandteil dieser Untersuchung, erheblichen Einfluss auf die dort entstandene Literatur. Die in den Romanen thematisierten Identitätskonzepte und die Versuche der Selbstverortung der Protagonisten stehen in engem Zusammenhang mit der Sozialisation der Autoren in einem modernen und interkulturellen gesellschaftlichen Rahmen, wobei insbesondere die Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Tschechen, Juden und Christen ebenso wie zwischen den Anhängern der politischen Strömungen des National(sozialis)mus und des Kommunismus von entscheidender Bedeutung sind. Dies tritt in den Romanen, die sich konkret mit der historischen Situation in Böhmen und Mähren auseinandersetzen (so z.B. in F.C. Weiskopfs Slawenlied), deutlich zu Tage, es gilt aber ebenso auch für diejenigen Texte, die sich

37

Vgl. hierzu Krappmann: Komplexität, Schlichtheit und Abstraktion, S. 28.

38

Weinberg: Manfred: Region, Heimat, Provinz und Literatur(wissenschaft), S. 50.

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nicht explizit mit der Region beschäftigen, indem dort die Problematik der Zugehörigkeit, des interkulturellen Austausches und der Individualität zwischen opponierenden Kollektiven lediglich thematisch verschoben wird. Aus diesem Grund widmet sich das Kapitel 3 einer detaillierten Aufarbeitung der Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Region, der Fritz, Schneider und Takebayashi große Aufmerksamkeit widmen und die Jäger stark vernachlässigt. Die historischen und politischen Eigenheiten der Region und vor allen Dingen die Fiktionalisierungen bedeutender Ereignisse des Nationalitätenkampfes, des Ersten Weltkriegs, des Aufkommens des Nationalsozialismus etc. müssen thematisiert und analysiert werden, da sie bedeutende Parameter in der Entwicklung der Protagonisten und der Handlung darstellen. Die intensive Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Ereignissen markiert nicht nur ein Spezifikum der Literatur der Region, sondern beeinflusst die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft und Identität der handelnden Figuren in erheblichem Maße. Hierbei ist es von Bedeutung, dass die Romane in der Analyse nicht als reine Schlüsseltexte verstanden werden und somit lediglich nach der literarischen Aufarbeitung historischer Begebenheiten gefragt wird, sondern nach den Funktionen ihrer Fiktionalisierung. Dies bedeutet auch, dass die einzelnen Texte nicht autobiographisch gedeutet werden sollen. Von Interesse ist zwar die Sozialisation der Autoren in dem größeren gesellschaftlichen und sozialen Rahmen, in dem die Literatur entstanden ist, nicht jedoch die individuelle Lebensgeschichte der Schriftsteller. Die Auseinandersetzung mit Identitätskonzepten in den Texten steht in engem Zusammenhang mit der interkulturellen historischen Situation, wobei in der Analyse das poetologische Potential der Romane und ihre literarischen Eigenheiten berücksichtigt werden. Die Untersuchung geht hierin einen Mittelweg zwischen der reinen autobiographischen Deutung, die den Autor in den Vordergrund rückt, und der poststrukturalistischen Idee der transzendentalen Aussagekraft von literarischen Texten, die den Entstehungskontext als für die Analyse unbedeutend ansieht: Mittlerweile wird weithin davon ausgegangen, dass der literaturtheoretische Antiintentionalismus des letzten Jahrhunderts ein „exercise in overkill“ gewesen ist und dass an die Stelle der fundamentalistischen Ablehnung der Begriffe des Autors und der Intention eine differenzierte Erörterung der Funktionen treten sollte, die ihnen im Rahmen der Auslegung literarischer Werke zukommen können.39

Autor, Region, Entstehungszusammenhang der Texte, gesellschaftliche Phänomene der Zeit etc. spielen bei der Analyse also eine entscheidende Rolle, sind jedoch keine absoluten Kategorien, welche die Interpretation alleine bestimmen, sondern Faktoren, die in einem komplexen Widerspiel mit dem eigenständigen Aussagepotential

39

Kindt: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne, S. 8.

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der Literatur, zur „besondere[n] Verdichtung von Wirklichkeit […], durch die Literatur sich vor anderen Texten auszeichnet“,40 stehen. Die historische Einbettung der Texte ist somit von Belang, es orientiert sich in Kapitel 3 allerdings nicht an historischen Methoden und Quellen, sondern an literaturwissenschaftlichen, d.h. das Ziel stellt nicht eine Rekonstruktion einer geschichtlichen ‚Realität‘ der Lebens- und Zeitumstände dar, sondern es soll die literarische Aufarbeitung der gesellschaftlichen Diskurse untersucht werden, weshalb auch hierbei vor allen Dingen auf fiktionale Quellen zurückgegriffen wird. Im Vordergrund steht somit nicht die Frage, ob und wie Literatur historische Ereignisse reproduziert, sondern inwiefern sie aktiv an der Herstellung von Wahrnehmung, Wissens- und Ordnungsstrukturen teilnimmt. Die Untersuchung unterscheidet sich dadurch von anderen Studien zur ‚Prager deutschen Literatur‘, so z.B. von Schneiders Monographie Wachposten und Grenzgänger, in der die fiktionalen Texte den außerliterarischen Quellen untergeordnet werden, indem diese mit ihrer Schwerpunktlegung vorgeben, welche Aspekte selektierend in den Romanen genauer untersucht werden, anstatt von den literarischen Texten und ihren Besonderheiten aus den Blick auf die außerliterarischen Quellen zu richten.41 Die hiermit zusammenhängende Problematik, die in Punkt 1.2 bereits angesprochen wurde, nämlich dass in der Forschung zur ‚Prager deutschen Literatur‘ häufig ein Aspekt vorausgesetzt wird, sei es die Thematisierung des interkulturellen Zusammenlebens, die Wahrnehmung der Stadt, das Motiv der Schuld, des Vater-SohnKomplexes etc., anhand dessen dann die einzelnen Texte analysiert werden, worin ein Risiko der Reduzierung der Literatur auf diesen Punkt liegt und damit die besondere Erkenntniskraft des Gesamtwerks aus dem Blick gerät, stellt auch diese Studie vor ein Dilemma. Denn auch hier besteht durch die Schwerpunktsetzung der Untersuchung auf die Identitätskonzepte und die Stellung des Individuums zwischen Kollektiven in den Romanen die Gefahr, die Texte sozusagen mit Scheuklappen zu betrachten und hierdurch Brüche, Unstimmigkeiten, Heterogenitäten auszublenden. Die Position des Literaturwissenschaftlers in der Analyse literarischer Texte ähnelt darin dem Verhältnis des Individuums zu seinem eigenen Selbst, von dem Paul Kornfeld in seinem Roman Blanche oder das Atelier im Garten schreibt: „Es liegt eben der 40

Rieger: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, S. 113.

41

Eine gegensätzliche Tendenz zeigt sich lediglich im kürzeren Teil von Schneiders Untersuchung, der sich den ‚Grenzgängen‘ widmet, indem hier spezifische Aspekte der Romane, so etwa Liebesbeziehungen zwischen Deutschen und Tschechen, untersucht werden, die in der zeitgenössischen Presse kaum Resonanz erfuhren. Kurt Ifkovits kritisiert jedoch, dass genau in diesem Kapitel das umgekehrte Verfahren zu Verkürzungen führt, indem aufgrund von mangelnden publizistischen Quellen anhand der literarischen eine angebliche historische Situation rekonstruiert wird. (Vgl. Ifkovits: Vera Schneider: Wachposten und Grenzgänger, http://mail.literaturhaus.at/index.php?id=7789, 18.08. 2011.)

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Irrtum, in dem sich ein Mensch über sich selbst befindet, nicht in den Gedanken, die er über seine Person hegt, nicht in den Schlußfolgerungen, die er zieht, sondern schon in den undiskutierten, unbedachten Voraussetzungen, von denen er ausgeht.“42 Ganz entkommen werden kann diesem Problem nicht, schon allein in der Auswahl der literarischen Region, der einzelnen Texte, der These, die der Arbeit zugrunde liegt, äußert sich eine gedankliche Selektion, deren Implikationen nicht zur Gänze ausdiskutiert werden können. Gerade dies erfordert eine bewusst differenzierte Analyse, in der zum einen eine breite Textbasis auch heterogener Romane, die jeweils in ihrer Gesamtheit betrachtet werden, zugrunde gelegt wird und zum anderen möglichst breite kulturwissenschaftliche Ansätze in die Untersuchung einfließen, die den Eigenheiten der einzelnen Texte gerecht werden können. Die Voraussetzungen für diese Analyse bildet das Kapitel 4, das sich mithilfe eines interdisziplinären Ansatzes sowohl den soziologischen und anthropologischen Grundlagen der Bedeutung und Dynamiken von arbiträren Zuschreibungen der Identität, Zugehörigkeit und Individualität nähert, ebenso wie es unter literaturwissenschaftlicher Prämisse die poetologische Struktur der Texte diskutiert, die mit der thematischen Ebene korreliert. Der Fokus liegt hierbei auf den Gemeinsamkeiten in den untersuchten Romanen; auf jeweils einzigartige Weise treten in den Texten immer wieder ähnliche Motivkomplexe auf, die thematisch auf unterschiedlichsten gesellschaftlichen Ebenen die Frage der Selbstverortung des Individuums aufgreifen und durch stilistische Momente der Erzählperspektive und der lexikalischen und semantischen Ebene des Kommunikationsverhaltens in den Romanen unterstrichen werden. In Kapitel 5 hingegen werden in neun Unterkapiteln elf deutschböhmische und deutschmährische Romane einzeln analysiert, um auf die jeweiligen Eigenheiten der Texte konkret Bezug zu nehmen, was in einer komparatistischen Untersuchung nicht möglich wäre. Hierbei fließen jeweils dort literatur- und kulturwissenschaftliche Interpretationsansätze ein, wo sie Bedeutung für das Verständnis der inneren thematischen und strukturellen Komposition der Romane haben. Dies bedeutet, dass Theorien zu heterogenen Bereichen, die für Identitätskonzepte signifikant erscheinen, so z.B. zu Nationalismus, Heimat, Exil, Sprache, Judentum, Minorität etc. nicht als Basis für die Interpretation vorausgesetzt, sondern jeweils nach Relevanz für die einzelnen Texte angewandt, kombiniert oder ausgeklammert werden. Der Großteil der behandelten Romane hat in Bezug auf die Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen, Juden und Christen sowie zwischen anderen größeren gesellschaftlichen Kollektiven einen nicht-essentialistischen Gestus, weder Erzähler noch Protagonisten können die einzelnen Gruppierungen eindeutig definieren oder Stellung beziehen, woraus sich die Problematik der Zwischenstellung des Individuums ergibt, die in Punkt 1.1 näher geschildert wurde. Das letzte Unterkapitel stellt in dieser Hinsicht eine Kontrafaktur dar. Hier werden deutschnationale Romane untersucht, in denen 42

Kornfeld: Blanche, S. 131.

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sich eine komplementäre Auseinandersetzung mit der eigenen Identität verzeichnen lässt, welche die Differenz zwischen ‚Kulturen‘ hervorhebt und das Aufgehen im nationalen Kollektiv sowie die Negierung des Individuums als (Er)Lösung proklamiert. Gerade hierin zeigt sich jedoch, dass die von der Forschung bislang über weite Teile angenommene grundsätzliche Wesensverschiedenheit der ‚Prager deutschen‘ und der ‚sudetendeutschen‘, also der deutschnationalen und der nicht-deutschnationalen Literatur Böhmens und Mährens zwar durchaus vorhanden ist, hierbei jedoch übersehen wurde, dass beide ‚Literaturen‘ Teil derselben Literaturlandschaft sind, indem sie in ihrer Thematisierung der Identitätsproblematiken im modernen interkulturellen Raum zwei Seiten einer Medaille darstellen, deren jeweilige Implikationen nur dann vollständig aufgedeckt werden können, wenn beide ‚Literaturen‘ in ihrer Wechselseitigkeit betrachtet werden. Der Begriff der ‚Prager deutschen Literatur‘ gilt als Garant für Weltliteratur und insbesondere zu ihren kanonisierten Autoren, vor allen Dingen Kafka, Rilke und Werfel, besteht kein Mangel an Publikationen. Dennoch steckt die umfassende und differenzierte Diskussionzur deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens, welche die Fülle an äußerst heterogener, zum Teil vergessener Literatur und eine wissensgeschichtliche Aufarbeitung der Literaturgeschichtsschreibung der Region einschließt, noch in ihren Anfängen. Das Ziel dieser Studie ist ein Beitrag zu dieser Diskussion auf verschiedenen Ebenen: Die Auseinandersetzungen mit der Forschungsgeschichte der vor allen Dingen seit den 60er Jahren festgeschriebenen Bezeichnungen ‚Prager deutsche‘ und ‚sudetendeutsche Literatur‘, der Versuch einer Literaturgeschichtsschreibung über einen heterogenen Raum in einer Zeit der Umbrüche, die Befreiung einer regionalen Literatur aus ihrem pejorativ konnotierten Zusammenhang der ‚Provinzliteratur‘ durch die Einordnung in den Zusammenhang der literarischen Modernen ohne Negierung der regionalen Eigenheiten, das Aufdecken der Aktualität der Romane auch für Identitätskonzepte der multikulturellen Gegenwart; all diese Bereiche, die im Rahmen der Untersuchung der Verortung des Individuums zwischen Kollektiven in den deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen in der Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik illustriert und aufgegriffen werden, sollen dazu beitragen, die ‚undiskutierten, unbedachten Voraussetzungen‘ in Frage zu stellen und zur weiteren Forschungsdiskussion, die sich ebenso wie Identitäten und Räume in einem fließenden Prozess befindet, anzuregen.

2. PDBDMDSDL?1 Zur Problematik der Vermessung der literarischen Region Böhmen und Mähren

Die Entwicklungen während und nach dem Ersten Weltkrieg, der Zerfall der alten Ordnung und die Bildung neuer Nationalstaaten haben die Konflikte um wachsenden Nationalismus und Chauvinismus in ganz Europa in ungekanntem Maße gesteigert. Vor allen Dingen in Regionen wie Böhmen und Mähren, in denen neue Grenzziehungen vorgenommen, (politische) Majoritäten in Minoritäten (und andersherum) umgewandelt wurden und nationale Streitigkeiten offen ausbrachen, trat diese Problematik offen zutage. Die Koexistenz, das Mit- und Gegeneinander von Tschechen und Deutschen in Böhmen und Mähren, das diejenigen Schriftsteller, die spätestens nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ihr Erwachsenenalter erreicht hatten, bereits von Kindheit an miterlebten, beeinflusste ihre Stellungnahme im Kampf um die ‚richtige‘ politische Haltung, wobei sich zwei deutliche Positionen abzeichneten, die jedoch in sich nicht zwangsläufig homogen waren, vor allen Dingen nicht in der zeitgenössischen künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex. Bislang ist in den meisten Publikationen zur deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ausgehend von der ‚Weltfreunde‘-Konferenz in Liblice, konstatiert worden, dass im Rahmen des Nationalitätenkampfes und angesichts des aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland in den Grenzgebieten Böhmens und Mährens eine deutschnationale, ‚sudetendeutsche‘ Literatur entstand bzw. sich stark (weiter)entwickelte und gegenläufig im Zentrum der Region eine ‚Prager deutsche Literatur‘ auftrat, die zwar die deutsche Kultur, Tradition, Kunst

1

Krappmann/Weinberg kommentieren in ihrer Überspitzung, die deutschböhmische und deutschmährische Literatur als PDBDMDSDL (Prager deutsche, böhmisch-deutsche, mährisch-deutsche und sudetendeutsche Literatur) zu bezeichnen, die Absurdität einer klaren Kategorisierung der Literatur der Region in klar definierbare Einheiten. (Vgl. Krappmann/Weinberg: Region – Provinz, S. 20.)

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und Sprache pflegte, dies aber im Rahmen eines humanistischen, internationalen und völkerverständigenden Auftrags betrieb und sich damit scharf von der ‚sudentendeutschen‘ Literatur abgrenzte. Ohne das Vorhandensein der deutschnationalen wie der nicht-nationalistischen, kommunistischen oder antifaschistischen Literaturströmungen zu leugnen bzw. deren Differenz zu marginalisieren, muss die eindeutige Dichotomisierung in eine ‚sudetendeutsche‘ und eine ‚Prager deutsche‘ Literatur kritisch hinterfragt werden. Die starre Kategorisierung und Einteilung der Literatur Böhmens und Mährens in diese zwei stark ideologisch aufgeladenen Raster hat in den letzten fünfzig Jahren zu einer extremen Kanonverengung geführt, die zur Folge hatte, dass bestimmte Autoren zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind, andere wiederum aus ihrem regionalen Kontext herausgerissen und der Weltliteratur zugeordnet wurden, ohne auf die für das Verständnis ihrer Texte wichtigen lokalen und historischen Kontexte aufmerksam zu machen, und somit insgesamt eine differenzierte, den entstandenen Texten in ihrer Komplexität gerecht werdende Betrachtung der literarischen Region ausblieb. Zudem suggeriert die stark topographisch assoziierte Nomenklatur, welche jedoch seit Goldstückers Definition auf der zweiten Liblice-Konferenz (vgl. Kapitel 2.1) tatsächlich ideologische, politische und ästhetische Fragen an die Literatur stellt, eine in der Literatur in dieser Form nicht vorhandene Dichotomie zwischen Prag und Provinz2 sowie eine Homogenität und Abgeschlossenheit der beiden definierten Literaturlandschaften. Um diesen Implikationen der Begrifflichkeiten zu entgehen, wird hier der Begriff der ‚deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur‘ verwendet, der jedoch auch wiederum einer Definition bedarf. Die Probleme, die sich bei der Suche nach einer geeigneten Bezeichnung der deutschsprachigen Bevölkerung und Literatur Böhmens und Mährens ergeben, illustriert Hohmeyer anschaulich in ihrem Aufsatz Aufklärung über „Böhmische Dörfer“. Wie es im Untertitel heißt, widmet sie sich den „Schwierigkeiten einer adäquaten Nomenklatur in Darstellungen über Böhmen und Mähren“, wobei sie die Entstehung, Geschichte und Verwendung der Begriffe ‚sudetendeutsch‘, ‚deutschböhmisch‘ und ‚-mährisch‘‚ ‚Großdeutschböhmen‘, ‚Böhmerland‘ und vieler mehr thematisiert.3 Zuvor hatte sich bereits Kurt Krolop über die verschiedenen Zuschreibungen, welche die deutschböhmischen und deutschmährischen Autoren in der Forschung, in Enzyk-

2

Als Beweis der Unzulänglichkeit dieser Einordnung kann etwa Hermann Ungar gelten, der selbst aus der mährischen Provinz stammt und in dessen Texten auch die Herkunft der Protagonisten aus der Provinz immer eine entscheidende, determinierende Rolle spielt. Dennoch wird Hermann Ungar aufgrund seines ästhetischen Ranges und der in seinen Texten auftauchenden Motive in der Regel unhinterfragt der ‚Prager deutschen Literatur‘ und somit auch implizit der Großstadtliteratur im Gegensatz zur mährischen Provinzliteratur zugerechnet.

3

Vgl. Hohmeyer: Aufklärung über „Böhmische Dörfer“.

PDBDMDSDL?

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lopädien und Anthologien erfuhren, mokiert und er spricht in Bezug auf die Einordnung Kafkas als ‚deutsch-österreichisch-ungarisch-tschechischen Juden‘ von „Schwindelgefühlen, die einen angesichts solcher Hochflächen des Assoziierens und Dissoziierens beschleichen“.4 Die Bemühung um eine Eindeutigkeit, Lösung oder gar Richtigkeit in der Verwendung eines oder mehrerer Begriffe erweist sich angesichts der Problematik als aussichtslos. Gerade daher erscheint eine differenzierte Beschreibung und Definition des Gegenstandes und des Korpus sowie seiner Auswahlkriterien als immens bedeutsam, da der Begriff selbst, für welchen man auch immer sich entscheidet, zunächst einmal alles und nichts bedeuten kann.

2.1 L IBLICE

UND DIE

K ONSEQUENZEN

Die Problematik einer strikten Unterscheidung in eine ‚Prager deutsche‘ und eine ‚sudetendeutsche‘ Literatur ergibt sich, neben dem Ausschluss der ‚sudetendeutschen‘ Schriftsteller aus dem literaturwissenschaftlichen Kanon zugunsten der alleinigen Behandlung der Vertreter der ‚Prager deutschen Literatur‘, auch aus dem Umstand, dass unter der ‚Prager deutschen Literatur‘ meist auch Autoren subsumiert werden, die weder in Prag geboren wurden noch für längere Zeit dort ansässig waren, jedoch den Kategorien entsprechen, die vor allem von Eduard Goldstücker und Paul Reimann im Rahmen der Liblice-Konferenzen festgelegt wurden und die heute häufig weiterhin unkritisch übernommen werden.5 Umgekehrt gilt dies auch für nationalistische Autoren aus Prag, die in der Folge der ‚sudetendeutschen Literatur‘ zugeordnet wurden. Hieraus ergibt sich ein nur vermeintlich logischer Zusammenhang zwischen Nationalismus und Provinz sowie Weltoffenheit und Zentrum.

4

Krolop: Das ‚Prager Erbe‘ und das ‚Österreichische‘, S. 158.

5

Escher arbeitet heraus, dass die Bezeichnung ‚Prager deutsche Literatur‘ bereits vor den Liblice-Konferenzen entstanden sei (wenn auch ohne den direkten Artikel, vgl. hierzu Krappmann/Weinberg: Region – Provinz, S. 7.), nämlich schon um die Jahrhundertwende. Auch zu diesem frühen Zeitpunkt wurde die Bezeichnung bereits instrumentalisierend verwendet: „Indem Prager deutsche Literatur sprachliche Kommunikationsgemeinschaften und soziale Netzwerke in die Dimension des Räumlichen übersetzt, bestätigt die Wendung vordergründig die prototypische Raumstruktur des Konzepts des modernen Nationalstaats, welches von einer idealen Deckungsgleiche von Raum, Volk, Sprache und Kultur ausgeht, wobei diese Kategorien in einer metonymischen Reihe parallel gesetzt werden: Nation = Volk = Sprache = Kultur = Raum.“ (Escher: „In Prag gibt es keine deutsche Literatur“, S. 203.)

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Die Konferenzen in Liblice der Jahre 1963 und 1965 standen unter dem totalitären Zwang der politischen Verhältnisse und der marxistisch ausgerichteten Germanistik,6 was die Darstellung der antinationalistischen deutschsprachigen Literatur der Region als die homogene ‚Prager deutschen Literatur‘ von literarischem Weltrang, getrennt von jeglicher deutschnationaler oder nationalsozialistischer Heimat- oder ‚Blut-und-Boden‘-Literatur, begünstigte, wenn nicht gar forderte.7 Das Dilemma eines fest umrissenen, geographisch definierten Literaturbegriffs, der auf eine Stadt und Region angewendet wird, die sich als stark heterogen erweist und mit Pauschalisierungen nicht erfasst werden kann, wird deutlich, wenn man Goldstückers Definitionsversuche der ‚Prager deutschen Literatur‘ heranzieht. Zum einen betont er, dass unter der Einteilung Autoren zusammengefasst werden, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts „in Prag die entscheidenden Jahre ihres künstlerischen Reifens durchlebten“,8 schränkt jedoch zugleich ein, dass es „in den böhmischen Ländern und sogar auch in Prag selbst noch eine andere, in deutscher Sprache geschriebene Literatur gab“,9 die zunächst als ‚deutschböhmisch‘, dann als ‚sudetendeutsch‘ bezeichnet wurde. Diese Literatur sei gekennzeichnet durch den „Standpunkt eines militanten deutschen Nationalismus in den endemischen Nationalitätenkämpfen“,10 wobei, dies räumt Goldstücker ein, Ausnahmen bestünden.11 Die Abgrenzung der 6

Zur Zeit der beiden Liblice-Konferenzen vor dem Prager Frühling war es zwar kurzzeitig möglich, sich in der tschechischen Germanistik auch wieder mit der deutschen Kultur in Böhmen und Mähren auseinanderzusetzen, dennoch war diese Tätigkeit scharfen ideologischen Vorgaben unterworfen. Vgl. zu den Konsequenzen und dem Schicksal derjenigen Germanisten, die nach 1968 aufgrund ihrer Forschung in Ungnade fielen und „aus dem Lehrbetrieb ins Abseits (konkret in Heizungskeller, Lagerräume von Bibliotheken und ähnliche „Vorhöllen“) verbannt wurden“, Eschgfäller: Von „Goethe in Olmütz“ bis zum „Erinnerungsraum Mähren“, S. 123f.

7

Vgl. hierzu auch Escher: „In Prag gibt es keine deutsche Literatur“, S. 199f.

8

Goldstücker: Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen, S. 21.

9

Ebd., S. 24.

10

Ebd.

11

Die Anerkennung von Ausnahmen ist ein Verdienst, das jedoch auf den zweiten Blick lediglich der Bestätigung der polemischen und fälschlicherweise rigoros angewendeten regionalen Verankerung der beiden ‚Literaturen‘ im Sinne einer Zentrum vs. PeripherieDichotomie dient. Denn die Ausnahmen der sudetendeutschen Literatur, nämlich „die sozialistische, vom Gedanken des proletarischen Internationalismus, zum anderen die Literatur, die zwischen den zwei Kriegen den Weg zu einem vernunftgemäßen Zusammenleben von Tschechen und Deutschen im neu entstandenen Staat suchte“ (ebd., S. 25.), werden in der Regel, wie z.B. die Werke von Ernst Sommer, pauschal wieder der ‚Prager deutschen Literatur‘ zugeordnet und fügen sich somit scheinbar problemlos in das regionale Modell ein. Einzige genannte und akzeptierte Ausnahme bleibt zumeist lediglich der

PDBDMDSDL?

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‚Prager deutschen Literatur‘ kann dementsprechend nicht aus einem geographischen Unterscheidungsmerkmal gezogen werden, stattdessen werden ideologische und moralische Bewertungskriterien hinzugezogen:12 Die Prager deutsche Literatur in unserem Sinne unterscheidet sich von dieser sogenannten sudetendeutschen Literatur dadurch, daß kein einziger ihrer Verfasser, obwohl sie sich als Angehörige des deutschen Volkes fühlten, den militanten nationalistischen Standpunkt gegenüber den Tschechen einnahm und selbstverständlich keiner von ihnen unter dem Einfluß des Antisemitismus stand.13

Es soll keineswegs in Frage gestellt werden, dass gewisse Schwerpunkte in ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘, in der Stadt Prag und in den Grenzgebieten anders gelagert

‚sudetendeutsche‘ Schriftsteller Josef Mühlberger, der mit seiner humanistischen Zeitschrift Witiko damit die berühmte Bestätigung der Regel zu sein scheint. 12

Der Versuch, klare Kategorisierungen und einheitliche Bezeichnungen für die gesamte ‚Prager deutsche Literatur‘ des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts zu schaffen, hat auch häufig zu Spekulationen hinreißen lassen, die im Rahmen der wissenschaftlichen Behandlung der Literatur keine Geltungsberechtigung haben können. Vgl. etwa Reimann, der nach der Thematisierung des antifaschistischen Kampfes der ‚Prager deutschen‘ Schriftsteller gegen die Nationalsozialisten schreibt: „Und es besteht für uns nicht der geringste Zweifel: Hätten Dichter wie R. M. Rilke und Franz Kafka diese schwere Zeit noch miterlebt, sie hätten beide im gleichen Lager der Feinde der neuzeitlichen Barbaren ihren Platz gefunden.“ (Reimann: Die Prager deutsche Literatur, S. 8.)

13

Goldstücker: Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen, S. 25. Diese nichtnationalistische Ideologie ist der Grundkonsens der Definition der ‚Prager deutschen Literatur‘, wie sie in den beiden einführenden Beiträgen der zweiten Liblice-Konferenz vorgestellt wird. Paul Reimann formuliert es lediglich etwas anders und legt den Schwerpunkt nicht auf den Kampf gegen den Antisemitismus, sondern gegen den Antislawismus: „So sehr sich auch der geistige Standort und die künstlerische Aussage aller dieser literarischen Schöpfer unterschieden, gemeinsam war ihnen die Ablehnung des Chauvinismus, eine freundschaftliche Beziehung zu den nationalen, literarischen und kulturellen Bestrebungen der slawischen Völker, insbesondere des tschechischen Volkes.“ (Reimann: Die Prager deutsche Literatur, S. 9.) Diese Einteilung und damit einhergehende Instrumentalisierung der Prager deutschsprachigen Literatur hat eine Tradition, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. August Sauer hatte 1906 eine Kategorisierung der ‚Prager Literatur‘ (bei Sauer fehlt das Adjektiv ‚deutsch‘, das er bezeichnenderweise wohl für überflüssig hielt) nach ihrem „Erwachen und Erstarken des deutschen Nationalbewußtseins“ gefordert. (Sauer: Zur Prager Literaturgeschichte, S. 455.)

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waren, indem die Situation des Nationalitätenstreits in Städten wie Prag und z.B. Eger durchaus unterschiedliche Ausprägungen, Konsequenzen und Erlebnisse für die deutsche Bevölkerung bereithielt.14 So kann davon ausgegangen werden, dass die deutschnationalen Kräfte in den Grenzregionen stärkeren Einfluss auf die Bevölkerung hatten als in Prag, und dass hingegen in Prag der Drang stärker war, eine freundschaftliche kulturelle Beziehung zu Tschechen aufzubauen.15 Jedoch wird in den oben zitierten Festschreibungen der ‚Prager deutschen Literatur‘ durch ihre starre Kategorisierung eine grundsätzliche moralische Abwertung der ‚sudetendeutschen Literatur‘ impliziert, denn „[d]urch den polaren Gegensatz zwischen Prager deutscher und sudetendeutscher Literatur erhält das vermeintliche Bindungselement der einen Gruppe ausschließenden Charakter für die andere.“16 In ihrer Verallgemeinerung unter der regionalen Bezeichnung wurde die Bewertung der Literatur zu Unrecht vorgenommen, was schwerwiegende Konsequenzen auch für die Rezeption der ‚sudetendeutschen Literatur‘ zur Folge hatte, die pauschalisierend nach wie vor das Stigma der nationalen, wenn nicht gar der nationalsozialistischen Literatur trägt, auch wenn mehrere Autoren und Werke diesem Urteil widersprechen. Diese problematischen Vereinfachungen und Kategorisierungen, die mit der regionalen Verortung 14

Die Unterschiede zwischen Prag und den ‚Sudetenländern‘ beziehen sich nicht nur auf den Umgang mit der ‚Nationalitätenfrage‘, sondern haben auch andere soziale und politische Dimensionen. Fiala-Fürst macht etwa darauf aufmerksam, dass neben dem aggressiven Deutschnationalismus andere Faktoren eine Rolle spielten, die Prag und die ‚Sudetenländer‘ voneinander unterschieden. So blieb Prag im gesamten 19. Jahrhundert ein „Rückzuggebiet des österreichischen Liberalismus“, während „sich die sudetendeutsche Arbeiterklasse von der einheitlichen liberalen Führung [emanzipierte]. Nordböhmen wurde zum Zentrum der österreichischen Sozialdemokratie.“ (Fiala-Fürst: Der Beitrag der Prager deutschen Literatur, S. 17.) Diese politische Eigenheit der ‚Sudetenländer‘ wird bei der Einteilung der Literatur in ‚Prager deutsche‘ und ‚sudetendeutsche‘ Literatur in der Regel unterschlagen, da sie sich nicht in die ideologisch aufgeladene Diskussion fügt.

15

Wobei jedoch auch die Bedeutung der Ereignisse in Prag z.B. im Rahmen der BadeniStürme und der Studentenverbindungen für eine deutschnationale Haltung bei einigen Prager Schriftstellern und auch ‚sudetendeutschen‘ Schriftstellern, die längere Zeit in Prag verbrachten, nicht übersehen werden darf. Maschke etwa hebt neben den Kindheitserfahrungen und den späteren Ausschreitungen in Iglau im Jahr 1920 für die ‚Tschechenaversion‘ Karl Hans Strobls besonders dessen Studienerfahrungen in Prag in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts hervor. (Vgl. Maschke: Der deutsch-tschechische Nationalitätenkonflikt, S. 59ff.)

16

Krappmann: Allerhand Übergänge, S. 51. Dieses Urteil bezieht Krappmann auf Reimann, der polemischer argumentiert, im Großen und Ganzen trifft der Vorwurf jedoch auch auf Goldstücker zu, auch wenn dieser sich um eine größere Differenziertheit bemüht.

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eine politische Tendenz der Texte (deutschnational vs. interkulturell), aber auch Kategorien der ästhetischen Qualität (Trivialliteratur vs. Weltliteratur) verknüpfen, führte in der Folge zu recht überspitzten Thesen: „Usually referred to as the SudetenGerman literature, it is substantial in volume, but of little lasting significance, and is to be distinguished from the Prague German literature; it has nothing in common with it but the language.”17 An solchen und ähnlichen Feststellungen auch jüngeren Datums, z.B. dass „die völkischen Elemente […] das Bild der ganzen sudetendeutschen Literatur der Zwischenkriegszeit, und zwar bis in die Gegenwart“ bestimmten,18 dass „die Frontenbildung zwischen der sudetendeutschen Literatur und der Prager deutschen Literatur Mitte der dreißiger Jahre so weit fortgeschritten [sei], daß selbst auf kulturellem Gebiet kein ernsthafter Dialog mehr stattfand“19 und dass nach 1938 die ‚Prager deutsche Literatur‘ komplett ins Exil gegangen sei, während im Sudetenland die Heimatliteratur aufblühte, lässt sich ablesen, dass es sich bei den Bezeichnungen ‚sudetendeutsche‘ und ‚Prager deutsche Literatur‘ nicht um eine regionale oder lokale Zuordnung handeln kann. All diese Aussagen treffen den Großteil, jedoch sicherlich nicht die Gesamtheit der ‚sudetendeutschen‘ Literatur und der Kulturbeziehungen.20 Auch sind nicht alle Literaturschaffenden Prags nach 1938 ins Exil gegangen, und ebenso sind auch Autoren aus dem ‚Sudetenland‘ emigriert. Die Bezeichnungen ‚sudetendeutsche‘ und ‚Prager deutsche‘ Literatur stehen vielmehr stellvertretend für Autorengruppen, die jeweils primär ideologische und weltanschauliche Kriterien erfüllen, wobei der tatsächliche Sozialisations- und Wirkungsort vorrangig genannt wird, aber tatsächlich nachrangig erscheint (nur so kann z.B. Hermann Ungar

17

Bock: Relationship of the Prague German Writers to the Czechoslovak Republic, S. 275.

18

Bauer: Das Bild der Heimat, S. 49f. Vgl. auch Sudhoff/Schardt: „Die Kluft zwischen der deutschjüdisch geprägten kulturtragenden Schicht Prags und den in der Provinz lebenden, nationalreaktionär gesinnten Sudetendeutschen war schon längst unüberbrückbar geworden, und außer der gemeinsamen Sprache gab es keine Übereinstimmung mehr. Dies wurde nirgendwo deutlicher als am Unterschied der sudetendeutschen Blut-und-BodenHeimatliteratur und der zu Weltruhm gelangten deutschen Sprachkunst aus Prag.“ (Sudhoff/Schardt: Vorwort, S. 25.)

19

Bauer: Das Bild der Heimat, S. 50.

20

Mit Emil Merker sei hier ein Beispiel für einen ‚sudetendeutschen‘ Autor, der keine völkischen oder nationalen Züge in seiner Literatur aufweist, genannt. An ihm lässt sich auch die Problematik des Stigmas ‚sudetendeutsch‘ veranschaulichen, da seine Werke in den 40er und 50er Jahren in renommierten Verlagen erschienen, „seinem Leben und Schaffen [dennoch] nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt [wurde], die einzige größere Arbeit über ihn blieb unveröffentlicht. Einer der Gründe für diese frappierende Nichtbeachtung ist sicherlich die enge Verbundenheit seiner Werke mit dem Sudetenland.“ (Krappmann: Emil Merker = Erwin Moser?, S. 251.)

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der ‚Prager deutschen Literatur‘ zugezählt werden, während Karl Hans Strobl kategorisch von ihr ausgeschlossen wird).21 Dann jedoch festzustellen, dass zwei Literaturen, die man gerade aufgrund ihrer ideologisch-thematischen Differenzen voneinander abgegrenzt hat, nichts miteinander gemein haben, wie dies in vielen Darstellungen als Erkenntnis konstatiert wird, ist nichts weniger als eine solche. Der Umstand, dass die in Liblice festgeschriebenen Kategorisierungen22 weiterhin von der Forschung übernommen wurden, obwohl ihre Unzulänglichkeiten selbst bei geringer Kenntnis der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur offensichtlich sind, mag, neben der eng mit ihr verbundenen politischen Dimension,23 auch dem Wunsche nach Eindeutigkeit geschuldet sein, denn es handelt sich hier um binäre Konstellationen mit Exklusionsmechanismen, die in ein heterogenes Feld eingetragen werden, [es geht] darum einen Maßstab auszubilden, nach dem dasselbe gruppiert werden kann, darum Konstanten zu entwerfen, die die vorgebliche Substanz einer Minderheit bestimmen und sie damit wiederum festschreiben.24

21

Vgl. etwa Schneiders Umgang mit dem auf den ersten Blick paradox scheinenden Problem: „Einen Autor wie den im mährischen Iglau/Jihlava geborenen Karl Hans Strobl der Prager deutschen Literatur zuzurechnen, ist aufgrund seines ausgeprägten Deutschnationalismus [nicht aufgrund seiner Herkunft!] problematisch, obwohl Strobl einige wichtige Jahre seines Lebens in Prag verbrachte und die Stadt immer wieder in seinen Romanen und essayistischen Texten thematisierte.“ (Schneider: Wachposten und Grenzgänger, S. 22.)

22

Diese beziehen sich neben der regionalen und ideologischen Einschränkung ebenso auf eine sehr enge Zeitspanne. Für Goldstücker markiert das „Auftreten Rainer Maria Rilkes i.J. 1894, als der erste schmale Band seiner Verse Leben und Lieder erschien“, den Beginn der ‚Glanzzeit‘ der ‚Prager deutschen Literatur‘. Diese Periodisierung unterstreicht seine Argumentation der Literatur als eine, die „über den lokalen Rahmen hinauswuchs und Weltbedeutung erlangte“. (Goldstücker: Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen, S. 21.) Dass mit einer Übernahme dieser Argumentation suggeriert wird, in Prag habe es vor 1894 keine nennenswerte Literatur gegeben, und sowohl die literarische Tradition als auch die gesamte ältere Schriftstellergenerationen ausgeklammert werden, ist bereits beklagt worden. (Vgl. z.B. Glasenapp/Krobb: Jüdische Geschichtsbilder, S. 197.)

23

Spector thematisiert die Problematiken, die sich aus einer nicht objektiven, da ideologisch aufgeladenen Interpretation der Literatur des ‚Prager Kreises‘ ergeben. Vgl. Spector: Prague Territories, S. 33f.

24

Jäger: Minoritäre Literatur, S. 10.

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Erst langsam setzt sich in der literaturwissenschaftlichen Forschung die Auffassung durch, dass mit einer derartigen Simplifizierung nur ein verzerrtes Bild der literarischen Landschaft Böhmen und Mähren erreicht werden kann.25 Die Distanzierung von der starken Dichotomisierung führte vor allen Dingen in den letzten Jahren zu dem Ansatz, sich von den festen Zuschreibungen zu lösen und zu dem Plädoyer für eine differenzierte Bewertung der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.26 Aufbauend auf den Errungenschaften der unter massivem totalitären Druck stehenden Teilnehmer der beiden grundlegenden Liblice-Konferenzen27 werden deren Ergebnisse modifiziert und differenziert,28 ebenso sehr wie eine Abkehr von dem lange Zeit allgemeine Gültigkeit beanspruchenden Diktum Paul/Pavel Eisners stattfindet, nach dem ein Großteil der deutschsprachigen Bevölkerung Prag in einem ‚dreifachen Ghetto‘ gelebt habe (isoliert durch ihr Deutschtum, Bürgertum und Judentum), da dieses die verschiedentlichen Vernetzungen innerhalb Prags und die Verbindungen mit europäischen Literaturzentren wie Berlin und Wien außer Acht lässt und somit der sozialgeschichtliche Kontext der in Prag entstandenen Literatur in einem vollkommen falschen Licht erscheint. Die Unzulänglichkeit des überholten Modells einer dichotomischen Aufteilung in die ‚Prager deutsche‘ und die ‚sudetendeutsche‘ Literatur in ihrer Implikation der Differenz zwischen Zentrum und Peripherie wurde bereits vor allen Dingen innerhalb der tschechischen Germanistik erkannt und hat in diesem Rahmen zu einer Ausdifferenzierung der Literatur in Böhmen und Mähren beigetragen. Dabei gilt aber selbstverständlich auch, wie Jörg Krappmann betont, dass die Einwände

25

Vgl. v.a. Krappmann/Weinberg: Region – Provinz.

26

Eine Annäherung an eine Neuevaluierung der Literatur in Böhmen und Mähren unter Einbeziehung sowohl der deutschen wie auch der tschechischen Publikationen wird anhand der Aufdeckung von diachronen wie synchronen Kontinuitäten und Diskontinuitäten durch die Untersuchung der spezifischen transkulturellen Kommunikationsräume und Identitätsgemeinschaften abseits von starren nationalen Grenzziehungen im Rahmen des Forschungsverbundes ‚Prag als Knotenpunkt europäischer Modernen‘ versucht.

27

Vgl. zu den politischen Umständen, zur Vorgeschichte, zu dem Verlauf und den Konsequenzen der ersten Liblice-Konferenz über Kafka, die der ‚Weltfreunde‘-Konferenz voranging, Kautman: Der Streit um Franz Kafka, S. 351ff. Vgl. auch Reiman: Die KafkaKonferenz von 1963.

28

So steht z.B. die von Jürgen Born begründete Forschungsstelle „Prager deutsche Literatur“ in Wuppertal in der Tradition der Liblice-Konferenzen, wobei sie bereits mit dem Titel ihres Handbuches Deutschsprachige Literatur aus Prag und den böhmischen Ländern 1900-1939 gleichzeitig die starke räumliche Dichotomisierung der Unterscheidung in ‚Prager deutsche‘ und ‚sudetendeutsche‘ Literatur aufhebt. Vgl. hierzu auch Krolop: Prager deutsche Literatur im 20. Jahrhundert, S. 10ff.

42 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN R AUM gegen eine zu scharfe Polarisierung […] nicht das Gegenteil erwirken [sollen]. Von einem harmonischen Zusammenleben waren die Zustände in Prag und den Regionen weit entfernt. Die Gemeinsamkeiten dürfen aber nicht marginalisiert werden. Sie sind ein Bestandteil der kulturgeschichtlichen Entwicklung der böhmischen Länder […].29

In der Vergangenheit hat sich allerdings häufig gezeigt, wie schwer es ist, den festgeschriebenen Vorurteilen zu entkommen, selbst wenn Differenzierungen vorgenommen und erreicht werden sollen. In der Anthologie Prager deutsche Erzählungen betonen z.B. Sudhoff/Schardt, dass der namengebende Oberbegriff einer genaueren Definition bedarf, da die Herausgeber die lokale Ausschließlichkeit der ‚Prager deutschen Literatur‘ auf die Moldaustadt negieren, denn „[w]eder sollen die Texte in lokaler Reduktion nur einmal mehr den unheimlichen Zauber der untergegangenen „Goldenen Stadt“ beweisen, noch stammen überhaupt alle ihre Autoren aus Prag.“30 Prag sei jedoch dennoch mehr als eine Chiffre, und damit wird wieder eine Zentrum/Peripherie-Differenz betont:31 Prag würde für die Autoren „mit seinem exemplarischen Spannungsfeld nationaler, religiöser und sozialer Antagonismen auch dann zum Fokus ihres Schreibens, wenn sie in der böhmischen oder mährischen Provinz geboren waren“.32 Diese Behauptung bleibt unbewiesen stehen und lässt zumindest bei Autoren wie Ernst Weiß, Ernst Sommer und Ludwig Winder, die in die Anthologie aufgenommen wurden und die in ihren Werken selten konkret Prag, die Prager Geschichte oder Prager Verhältnisse thematisieren, Zweifel aufkommen.33 Die Betonung der Bedeutung Prags lässt aus dem Blickfeld geraten, dass die Verhältnisse in der böhmischen und mährischen Provinz sich nicht komplett von denen in Prag unterschieden und dass die Gemeinsamkeiten, welche Prager und ‚Provinz‘-Autoren aufweisen, nicht ausschließlich von dem ungeheuerlichen Einfluss Prags herrühren, sondern ebenso sehr von den teilweise recht ähnlichen Erlebnissen in der Provinz sowie dem gegenseitigen Erfahrungsaustausch und Kulturtransfer zwischen Stadt 29

Krappmann: Allerhand Übergänge, S. 56.

30

Sudhoff/Schardt: Einleitung, S. 9.

31

Vgl. hierzu auch Jäger, der diese in der Sekundärliteratur häufig vorkommende arbiträre Argumentation aufdeckt: „Die Behauptung, es gehe nicht um eine lokale Problematik, erweist sich stets als unzutreffend, denn immer wieder steht eine solche im Focus der Aufmerksamkeit, werden spezifische Bedingungen der Deutschen in Prag betont, ihre isolierte, insuläre Lage, die sie abgesondert habe vom restlichen kulturellen Geschehen.“ (Jäger: Minoritäre Literatur, S. 7.)

32

Sudhoff/Schardt: Einleitung, S. 9.

33

Vgl. auch Bránský, der etwa über Hermann Ungar anmerkt: „Er ist ein Dichter, der im Milieu der Stadt Boskowitz aufwuchs; diese Stadt formte seinen Charakter, seine Weltund Lebensanschauung, sie gab ihm die Sicherheit der Heimat und der Zukunft.“ (Bránský: Boskowitzer Motive, S. 97.)

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und Provinz. Der übermäßige Fokus auf Prag verstellt auch den Blick auf das Potential einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung der literarischen Region Böhmen und Mähren unter eben den Parametern, unter denen bislang die deutschsprachige ‚Prager Literatur‘ primär untersucht wurde.34 Daher wird hier explizit von deutschböhmischer und deutschmährischer Literatur die Rede sein, auch wenn diese Bezeichnung auf Dauer recht ausladend und ermüdend wirken kann. Es erscheint jedoch notwendig, um hervorzuheben, dass der Fokus der Untersuchung weder im Inhalt der Texte noch in der Sozialisation der Autoren allein auf Prag liegt, sondern bewusst auf Böhmen und Mähren ausgedehnt wird. Während somit hier eine Distanzierung von der alleinigen topographischen Verortung der Texte in Prag stattfindet, soll gleichzeitig die Annahme, dass die als ‚sudetendeutsche‘ und ‚Prager deutsche‘ bezeichneten Literaturen nichts miteinander gemein haben, hinterfragt werden, indem davon ausgegangen wird, dass erst eine Betrachtung der verschiedenen Strömungen einer Region zu einem differenzierten Bild ihrer kulturellen Eigenheiten führt. Der Schwerpunkt dieser Analyse liegt zwar bei einer Behandlung derjenigen Autoren und Texte, die politisch nicht den deutschnationalen Standpunkt einnehmen, allerdings werden kontrafaktisch bzw. komplementär auch Romane einfließen, die einen nationalistischen Gestus aufweisen und ideologisch im Sinne des ‚Nationalitätenkampfes‘ aufgeladen sind. Bei einer gemeinsamen Behandlung und Gegenüberstellung dieser Texte geht es nicht darum, die politischen, stilistischen und thematischen Unterschiede zu nivellieren, jedoch darum, aufzuzeigen, dass sie verschiedene Bewältigungsstrategien der Auseinandersetzung mit der Identitätsverortung in einem multikulturellen und -nationalen modernen Raum darstellen. Sie entspringen dem gleichen Entstehungszusammenhang, und erst in der Betrachtung der viele Facetten aufweisenden heterogenen Formen der literarischen Produktion kann eine umfassende Literatur- und Kulturgeschichte einer Region geschrieben werden, da Literaturen niemals isoliert, sondern immer in einem

34

Takebayashi etwa, die sich in der Begründung für die Festlegung auf Prag als literarischen Untersuchungsgegenstand auf Sudhoff/Schardt bezieht (vgl. Takebayashi: Zwischen den Kulturen, S. 35), unterläuft hier in ihrer sonst differenzierten Arbeit eine Verkürzung gerade dort, wo sie die alten Klassifizierungen kritisch beleuchtet, indem sie immer wieder von der Besonderheit Prags als „Ort, […] in dem die Kulturen im Spannungsfeld zwischen Eigenem und Fremdem ihre jeweilige Kontur einnehmen“ (Ebd., S. 19) spricht, jedoch nicht thematisiert, dass Prag auch in dieser Hinsicht nicht als vollkommen abgeschottete Insel innerhalb des (in den 20er und 30er Jahren) tschechoslowakischen Raums existiert, sondern dass ähnliche Bedingungen auch für die umliegende Provinz galten und somit eine xenologische Untersuchung auch auf diesen Raum ausgedehnt werden könnte und sollte.

44 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN R AUM

Milieu kulturellen Austausches entstehen, auch wenn dieses primär in Abgrenzungen besteht.

2.2 Z UR V ERORTUNG DES K ORPUS UND V ERWENDUNG DER B EZEICHNUNG ‚ DEUTSCHBÖHMISCHE UND DEUTSCHMÄHRISCHE L ITERATUR ‘ Außer den zwei Ausnahmen der deutschnationalen Autoren (Friedrich Bodenreuth und Gottfried Rothacker) können die in den Romananalysen näher behandelten Schriftsteller (Hermann Ungar, Ludwig Winder, F.C. Weiskopf, Hans Natonek, Oskar Baum, Paul Kornfeld, Alice Rühle-Gerstel und Ernst Weiß) ohne Zweifel der ‚Prager deutschen Literatur‘, wie sie allgemein definiert wird, zugeordnet werden, und dies ist auch bei allen Autoren (mit Ausnahme von Alice Rühle-Gerstel, vgl. hierzu Kapitel 2.3.2) bereits in der Forschung vorgenommen worden, ganz unabhängig davon, dass lediglich die Hälfte von ihnen tatsächlich aus Prag stammt. Dies hängt mit ihrem literarischen Rang und ihrer politischen Einstellung zusammen, die sich in das von Goldstücker und Reimann aufgestellte Programm problemlos einfügen. Warum also nicht weiterhin mit den Begriffen ‚Prager deutsche‘ und ‚sudetendeutsche‘ Literatur operieren, da die Unterscheidung sich doch scheinbar auch einwandfrei für die Untersuchung der Identitätskonzepte in der Zwischenkriegszeit anwenden lässt? Außer den in Punkt 2.1 genannten Kritikpunkten an der topographischen, ideologischen und exkludierenden Verwendung der Begrifflichkeiten gibt es zwei weitere Gründe, die scheinbar paradox sind: zum einen differenzieren die Bezeichnungen zu wenig, zum anderen zu viel. Betrachtet man die deutschböhmische und deutschmährische Literatur der Zwischenkriegszeit als eine Literaturlandschaft, in der es eine deutschnationale (‚sudetendeutsche Literatur‘) und eine nicht-deutschnationale (‚Prager deutsche Literatur‘) gegeben hat, so ist dabei zu beachten, dass es sich bei beiden Literaturströmungen wiederum nicht um homogene Einheiten handelt, wie die Begriffe suggerieren, sondern dass diese in sich differenziert werden müssen. Gleichzeitig jedoch bedeutet es auch, dass es Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Literaturen gegeben hat und dass sie sozusagen die zwei Seiten einer Medaille darstellen, indem sie jeweils literarische Strategien im Umgang mit derselben multikulturellen Situation in Böhmen und Mähren nach dem Ersten Weltkrieg darstellen, weshalb nur eine diese Strömungen umfassende Bezeichnung die verschiedentlichen literarischen Auseinandersetzungen der Zeit adäquat beschreiben kann.

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2.2.1 Die nicht-deutschnationale bzw. ‚Prager deutsche Literatur‘ Die Unterscheidung in deutschnationale und nicht-deutschnationale Literatur liegt im Rahmen des historischen Entstehungszusammenhangs der deutschsprachigen Texte in Böhmen und Mähren in der Zeit der massiven nationalen Konflikte zwischen Deutschen und Tschechen auf der Hand, wobei jedoch die Spannbreite möglicher politischer und kultureller Betätigung der Autoren wie auch der literarischen Auseinandersetzungen mit der zeitgenössischen Situation sehr groß ist. Zur Illustration der verschiedenen Facetten der nicht-deutschnationalen Literatur und publizistischen Tätigkeit in der Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik seien hier drei Beispiele des Umgangs mit dem wachsenden Nationalismus genannt, die keine Vollständigkeit suggerieren sollen: Zunächst findet man den aktiven Versuch der Nationenverständigung der in Prag verbliebenen Autoren wie etwa Max Brod,35 die zum größten Teil bei den großen deutschsprachigen Zeitungen Prags (Prager Tagblatt, Deutsche Zeitung Bohemia, Prager Presse) tätig waren, in diesem Rahmen versucht haben, deutsche und auch tschechische Publikationen in der Öffentlichkeit zu verbreiten, und sich durch Übersetzungen tschechischer Literatur um eine Verständigung zwischen den Nationen verdient gemacht haben. Hierbei ist nicht nur der Versuch bemerkenswert, Tschechen und Deutsche einander näherzubringen,36 sondern auch das Sendungsbewusstsein dieser Gruppe37 für das böhmische und mährische Deutschtum, das es, auch unabhängig von der aktuellen Situation in der Tschechoslowakei, vor übersteigertem Nationalismus und dem Verlust der interkulturellen Identität zu bewahren galt: Kulturpolitisch fühlten sich die Autoren dieser Gruppe – anders als die deutschvölkischen Autoren der Randgebiete, wie Brehm, Strobl oder Watzlik – in dem Bemühen geeint, durch ihr

35

Vgl. zur Vermittlungsarbeit Max Brods Vassogne: Max Brod in Prag, S. 190ff.

36

Es darf jedoch hierbei auch nicht übersehen werden, dass es sich bei der Vermittlung vor allen Dingen um einen Austausch auf künstlerischer Ebene und vor dem Ersten Weltkrieg nicht um eine Unterstützung des tschechischen politischen Vormachtstrebens handelte: „Deutsch-jüdische Schriftsteller wie Otto Pick betätigten sich als literarische und kulturelle Brückenbauer; es ging ihnen jedoch weniger um die Vermittlung zwischen unterschiedlichen Nationen und ihren Interessen, als um die Vermittlung der Volkspoesie des tschechischen Volkes. Man betrachtete die Tschechen als ‚unpolitische Ethnie‘, die unter die Obhut der deutschen Kulturnation gehöre.“ (Herzog: Deutsche, Juden oder Österreicher?, S. 153.) Dies ist z.B. auch an der Zeichnung der tschechischen Figuren in Rilkes Zwei Prager Geschichten zu erkennen.

37

Krolop nennt Oskar Baum, Max Brod, Otto Pick, Rudolf Fuchs, Ludwig Winder und Johannes Urzidil. (Vgl. Krolop: Das ‚Prager Erbe‘, S. 166.)

46 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN R AUM literarisches Wirken dazu beizutragen, der damals größten deutschsprachigen Minderheit in Europa, den etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachenden Deutschen in der Tschechoslowakei, zu einem auf diesen Staat und auf gemeinsame geschichtliche Tradition bezogenen Identitätsbewusstsein zu verhelfen, das seine Eigenständigkeit und ‚Anschluß‘-Resistenz sowohl gegenüber der österreichischen als auch gegenüber der deutschen Seite zu bewähren gehabt hätte.38

Die wenigsten dieser Autoren haben versucht, auch tschechisch zu schreiben, sie identifizierten sich als Deutsche und es ging ihnen auch um die Beibehaltung und den Schutz des Deutschtums in Böhmen und Mähren, allerdings in einem humanistischen Austausch mit anderen Völkern und ohne nationalistische Tendenzen. Sie waren insbesondere das Angriffsziel der Deutschnationalen in der Region, die in ihnen ein ‚schwebendes Volkstum‘ bzw. ‚nationale Utraquisten‘ sahen, welche der Idee des deutschen Selbstbestimmungsrechts oder des Anschlusses an Deutschland im Wege stünden. Eine weitere Form der Auseinandersetzung mit der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik und der veränderten Situation der Deutschen im neuen Staat stellt der Versuch der Überwindung jeglicher nationaler Gegensätze im internationalen Kommunismus wie z.B. von F.C. Weiskopf dar. Die kommunistischen Autoren sind wohl die einzige Gruppierung, welche die Ereignisse seit 1918 im nationalen Sinne als durchweg positiv betrachteten (wenn sie auch genügend andere Kritikpunkte hatten), indem sie befürworteten, dass der Kampf gegen die Bourgeoisie nun von tschechischen und deutschen Arbeitern gemeinsam geführt werde. Die Umwälzungen nach dem Ersten Weltkrieg veränderten auch das soziale Gefüge in Prag, das zuvor aus einem Großbürgertum aus Deutschen und Magyaren und einem zu großen Teilen tschechischen Proletariat bestanden hatte. Hieraus, so Weiskopf, habe sich erst der nationale Charakter des Klassenkampfes ergeben. Durch die Revolution von 1918 und das schnelle Wachsen der tschechischen Bourgeoisie jedoch, die auf der Seite der unterdrückten Arbeiter kämpfte, verschwänden die nationalen Tendenzen.39 Nationale Feindseligkeiten werden somit als anachronistisch und als dem Klassenkampf hinderlich verurteilt, die Unterschiede zwischen Deutschen und Tschechen werden marginalisiert, stattdessen steht die soziale Frage bei Weiskopf im Vordergrund. Diese Utopie eines „unverfälschten Klassenkampfes“40 äußere sich vor allen Dingen in der Literatur:

38

Ebd.

39

Vgl. Weiskopf: Einleitung, S. 6.

40

Ebd., S. 6.

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Der Umsturz vom 28. Oktober 1918, der den nationalen Befreiungskampf der Tschechen abschloß, bedeutete einen Wendepunkt in der Entwicklung der tschechischen Dichtung: Die meisten der bisher national-revolutionär gestimmten Dichter machten eine Wandlung ins Sozialrevolutionäre durch, ihre Dichtung verlor die nationale Färbung und betonte die soziale um so stärker.41

Diese euphorische Einschätzung von 1925 entsprach jedoch nicht den Tatsachen; traf der zunehmende Verzicht auf die Darstellung nationaler Feindbilder für die tschechische Literatur zwar zu,42 so galt dies weniger für die nationalistische deutsche Literatur43 und noch weniger für das politische Leben, wie z.B. die Ereignisse des Jahres 1920 (vgl. Kapitel 3.5) beweisen. Ein differenzierteres Bild des Umsturzes von 1918 und seiner auch nationalen Folgen bezeugt Weiskopf sechs Jahre später in seinem Roman Das Slawenlied, in dem die desillusionierenden Tendenzen des auch in den 20er Jahren weiterhin auf deutscher wie auch tschechischer Seite erbittert geführten ‚Nationalitätenstreites‘ geschildert werden. Die zitierte Stelle jedoch, die der Einleitung zur Übersetzung tschechischer proletarischer Lieder entnommen ist, zeigt in ihrer Überspitzung die Stellungnahme junger böhmischer Kommunisten, für die der Internationalismus zumindest in der Theorie Nationalitätenstreitigkeiten ad absurdum führt. Die Bewertung der Probleme im Böhmen und Mähren der Zwischenkriegszeit erhält somit einen gänzlich anderen Schwerpunkt: „Als revolutionärer Schriftsteller, wie Weiskopf sich verstand, hatte er die Konflikte der Prager Gesellschaft nicht als nationale, sondern als sozialgeschichtliche Gegensätze aufzuzeichnen.“44 Eine weitere Option der nicht-deutschnationalen Autoren, auf die Entwicklungen seit 1918 zu reagieren, stellt die Emigration nach Deutschland und der Kampf gegen Nationalismus und Nationalsozialismus von dort aus dar. Die Autoren, welche die

41

Ebd.

42

Vgl. Drews: „Nach dem Ersten Weltkrieg spielt das deutsch-tschechische Verhältnis in der tschechischen Literatur zunächst kaum eine Rolle, bis insbesondere das Aufkommen des Nationalsozialismus die deutsche Frage wieder aktuell werden läßt.“ (Drews: Das Bild der Deutschen in der tschechischen Literatur, S. 292.)

43

Vgl. z.B. die rassistischen Tendenzen in der Darstellung der nationalen Frage in der ‚Grenzlandliteratur‘ (so zum Beispiel in Hedwig Teichmanns 1922 veröffentlichten Roman Im Banne der Heimat), dies häuft sich noch in den Jahren ab 1933 (vgl. etwa Rothackers Das Dorf an der Grenze, näher behandelt in Kapitel 5.9).

44

Takebayashi: Zwischen den Kulturen, S. 182. Takebayashi kritisiert gleichzeitig: „Hier zeigen sich die Grenzen des Sozialismus als Grundlage für den Umgang mit der Fremdheit. Der Universalismus verleitet [Weiskopf] dazu, von kultureller Vielfalt abzusehen.“ (Ebd.)

48 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN R AUM

Erste Tschechoslowakische Republik verließen, taten dies aus unterschiedlichen Gründen (vgl. Kapitel 3.6), die Eskalation des ‚Nationalitätenstreits‘ war jedoch einer von ihnen; so äußert sich etwa Ernst Weiß in der Beantwortung der Frage „Warum haben Sie Prag verlassen?“, die 1922 im Prager Tagblatt deutschsprachigen Schriftsellern gestellt wurde, mit Ressentiments und Enttäuschung über die Vorgänge in Prag, z.B. in Bezug auf die Besetzung des deutschen Landestheaters durch die Tschechen.45 Entscheidend ist jedoch, dass bei Autoren wie Ernst Weiß dieses Gefühl des ihnen angetanen Unrechts nicht zu einer Abschottung im nationalen Sinne führte, sondern im Gegenteil zu einem bewussten Kampf gegen Nationalismus jeglicher Art. Die Auseinandersetzung mit den Ereignissen in Böhmen und Mähren findet in den Werken vermehrt aus der Retrospektive und durch Übertragung der deutschen und tschechischen Streitigkeiten auf generelle moderne europäische Problematiken wie den allgemein wachsenden Nationalismus und Antisemitismus statt. Deutschland als Wahlheimat und das Deutschtum werden nicht als Rettung und starres Identitätskonstrukt glorifiziert, sondern kritisch beleuchtet; Gefühle der Zugehörigkeit und Zuneigung bestehen nur zur kulturellen Leistung, nicht aber zur Nation. Dies findet sich etwa in einer kleinen Fabel Hans Natoneks aus dem Jahre 1921:

45

Vgl. Weiß: „Da wirkte erschütternd im inneren, entscheidend im äußeren Leben, die Wegnahme des alten Landestheaters. Es war die einzige Bühne, die ich wirklich geliebt habe, sie war für mich etwas Unersetzliches. […] Und nicht nur für mich allein. Nicht nur ich allein konnte nicht mehr an dem alten Hause vorbeigehen ohne ein Gefühl der Bitterkeit. Sentimentalität liegt mir im allgemeinen fern. Aber ich konnte nicht mehr in einer Stadt leben, wo solche Ereignisse möglich sind. Man muß atmen können. Das kann man nicht ohne Rechtsgefühl.“ (Prager Tagblatt: Bühne und Kunst. Prag als Literaturstadt, 47. Jg., Nr. 127 (2. Juni 1922), S. 6.) Diese Aussage Weiß’ widerspricht auch der Annahme von Bock, die sich jedoch auch lediglich auf die Behandlung der Revolution in F.C. Weiskopfs Slawenlied stützt: „Judging by the literary records of the memorable days marking the birth of the new state, the whole Prague German community seems to have accepted the political change without undue worry or fear of the future.“ (Bock: Relationship of the Prague German Writers to the Czechoslovak Republic, S. 275.) Wenn die Ereignisse des Jahres 1918 und seiner Folgezeit auch von den Prager Autoren nur selten explizit in den Romanen thematisiert wurden, so kann man den zahlreichen publizistischen Auseinandersetzungen mit der Ersten Tschechoslowakischen Republik, so z.B. von Johannes Urzidil, doch entnehmen, dass eine intensive Auseinandersetzung mit den politischen Gegebenheiten stattgefunden hat, die auch von Sorgen um Gegenwart und Zukunft gekennzeichnet ist. Dies hat nur keine polemisch-nationalistischen Konsequenzen in den Werken und der Weltanschauung der nicht-deutschnationalen Autoren, die bei Bock fälschlicherweise mit der „whole Prague German Community“ gleichgesetzt werden.

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Um eine Quelle lagerten friedliche Rinder in bunter Schar. Da kamen ein paar Zuchtbullen drohend angestürmt, im Maul den notariell beglaubigten Stammbaum, und brüllten: „Nur wir sind auserwählt, aus der Quelle zu saufen. Sie ist unser! Fort mit euch; ihr seid stammesfremd, nicht echtblütig.“ Und sie trieben die Rinder fort und machten sich an der Quelle breit, ohne sich weiter um sie zu bekümmern. – Die Quelle, das ist das lebendige Deutschtum, an dem sich laben mag, wer kann; die fortgewiesenen Rinder, das sind die Deutschen, die den Nationalstolz nicht auf der Zunge tragen, die Wahldeutschen, deren gewählte Heimat Deutschland ist, und wer die notariell beglaubigten Zuchtbullen sind, das brauche ich nicht zu sagen.46

Hier wird nicht nur die Abneigung gegen den Nationalismus deutlich, sondern mit dem Verweis auf die Rassenideologie und die Wahlheimat auch die Problematik der jüdischen Prager Deutschen, die nach Deutschland in den 10er und 20er Jahren auswanderten und zu denen Natonek selbst gehörte. So unterschiedlich diese drei angeführten Reaktionen von Schriftsteller(gruppe)n auf die Ereignisse nach 1918 sein mögen, gemeinsam ist ihnen die Tendenz, nationenübergreifend Verständigung zu schaffen, gegen Nationalismus und Chauvinismus zu kämpfen und kulturellen Austausch zu fördern, worin sie sich von den als ‚sudetendeutsch‘ bezeichneten, deutschnationalen Autoren unterscheiden. Das Aufzeigen der drei Optionen illustriert die Spannbreite der hier behandelten Literatur, die mit der Bezeichnung ‚Prager deutsche Literatur‘ nur unzureichend und zu undifferenziert umrissen ist, zumal an dieser Stelle sehr viele weitere Autoren genannt werden könnten, die zu Unrecht aufgrund ihrer Herkunft in der Bedeutungslosigkeit oder im Giftschrank der Germanistik verschwunden sind. Hierzu gehören etwa die Autoren Emil Merker und Walter Seidl, die weder in ihrer politischen Einstellung noch in ihren Werken deutschnationale oder gar nationalsozialistische Tendenzen aufweisen und dennoch das ideologische Stigma ‚sudetendeutsch‘ tragen.47 Entscheidend ist ebenso ihre gemeinsame, auch das Positive würdigende Einstellung zur Ersten Tschechoslowakischen Republik: Wenn auch bestimmte Entwicklungen im neuen Staat und gewisse Maßnahmen der Regierung gegen die deutsche Bevölkerung, wie etwa die Übernahme des Landestheaters oder die Entfernung deutscher Inschriften und Insignien, kritisiert wurden, so wurde dennoch vor allen Dingen Masaryk und seine demokratische, humanistische Einstellung breit gewürdigt.48 Besonders nach 1933 äußerten sich zahlreiche Autoren dankbar und bewundernd über die Republik, da diese vielen vom Nationalsozialismus verfolgten Deutschen Asyl

46

Natonek: Straße des Verrats, S. 24.

47

Vgl. zu Missachtung vieler deutschböhmischer und -mährischer Autoren und der Not-

48

Es gab allerdings auch kritische Stimmen, die in Masaryk den nationalistischen Tsche-

wendigkeit ihrer Rekanonisierung Krappmann: Anschwellender Bocksgesang, S. 42. chen sahen. Vgl. hierzu Brod: Streitbares Leben, S. 88.

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gewährte und sogar die tschechische Staatsbürgerschaft anbot, selbst jenen, die nicht gebürtig aus der Region stammten wie z.B. Thomas Mann.49 Doch auch direkt nach der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik 1918 und im Verlaufe der 20er Jahre gab es viele positive Stimmen über die Entwicklungen im neu entstandenen Staate, sowohl kulturelle wie politische. Paul Kornfeld etwa, der Prag 1914 bereits verlassen hatte und in der Rundfrage des Prager Tagblatts „Warum haben Sie Prag verlassen?“ 1922 angab, er habe der „Stimmung einer überhitzten und vorwiegend destruktiven Intelligenz, die im Missverhältnis stand zu allem übrigen Menschlichen“, entkommen wollen,50 wobei er vor allen Dingen die deutschen literarischen und künstlerischen Zirkel Prags anspricht, lobt Mitte der zwanziger Jahre die Veränderungen, die durch die Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik in der Stadt vor sich gegangen sind. In einem Brief an die Schauspielerin Maria Czamska vom 26. September 1926 schildert Kornfeld einen Besuch in Prag: „Je mehr sich Prag verändert – früher eine Stadt in Österreich, jetzt Hauptstadt der Tschechoslowakei – je mehr es eine tschechische Stadt wird und den Charakter der Tschechen annimmt, desto lieber wird es mir.“51 Hier ist kein Ressentiment über den Verlust der deutschen Einflusssphäre in Prag zu spüren, sondern im Gegenteil wird das Aufbrechen der dekadenten Kunstenklave gelobt, so als würde dort nun durch das Aufblühen der tschechischen Kultur ein anderer, frischerer Wind wehen. Während dieses Urteil vor allen Dingen auf die künstlerische Atmosphäre abzielt, hat Willy Haas, wie er rückblickend in seiner Autobiographie Die literarische Welt berichtet, bereits 1918 vor allen Dingen die politischen Ambitionen und Errungenschaften der neuen Regierung positiv gewertet und beurteilt: [I]ch hielt eine tschechoslovakische Republik unter dem großen Humanisten T. G. Masaryk für die weitaus beste Lösung, die nach dem Untergang der Monarchie zu denken war. Ich war zwar 49

Vgl. zur Exilpolitik der Ersten Tschechoslowakischen Republik Walter: Asylpraxis und Lebensbedingungen, S. 142ff.

50

Prager Tagblatt: Bühne und Kunst. Prag als Literaturstadt, 47. Jg., Nr. 127 (2. Juni 1922), S. 6. Allerdings ist bei diesen öffentlichen Selbstaussagen auch immer zu beachten, dass sie nicht zwingend eine Darstellung der wahren Beweggründe, sondern auch Teil einer Selbstinszenierung im öffentlichen Raum und einer Eigenzensur unterworfen sind, in Bezug auf Kornfeld z.B. im Hinblick auf etwaige persönliche Gründe, Prag zu verlassen. Vgl. hierzu Pazi, die sich eingehend mit Kornfelds Biographie und seinen Tagebuchaufzeichnungen auseinandergesetzt hat: „[E]r verschweigt aber, daß er sich mit der Übersiedlung nach Frankfurt, 1914, sowohl der Bedrängnis einer immer wieder verzögerten Promotion wie auch dem Druck der Familie entzog, in das chemische Unternehmen des Vaters einzutreten.“ (Pazi: Fünf Autoren, S. 192.)

51

Kornfeld: Brief an Maria Czamska vom 26.9.1926. Zitiert nach: Maren-Grisebach: Paul Kornfelds Leben, S. 21.

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ebensowenig bereit, unter dem großen T. G. Masaryk zu schießen und zu töten wie unter Kaiser Franz Joseph I.: aber ich darf wohl sagen, daß ich vom ersten Tag ihres Bestehens ein loyaler, treuer Staatsbürger der neuen tschechoslovakischen Republik war.52

Wie oben bereits angesprochen, gehören die in diesem Kapitel genannten Autoren allesamt zu den Schriftstellern, die auf der Weltfreunde-Konferenz unter der ‚Prager deutschen Literatur‘ zusammengefasst wurden, und in der hier erfolgten Argumentation werden ganz ähnliche ideologische Bewertungskriterienherangezogen, wie diejenigen, die auch Goldstücker und Reimann verwenden: die Aufgabe der Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen, nicht antisemitisch, nicht nationalistisch etc. Der Begriff der ‚Prager deutschen Literatur‘ soll aufgrund seiner in Kapitel 2.1 thematisierten wissenschaftsgeschichtlichen Implikationen hier dennoch nicht verwendet werden, zumal diese Kategorisierung eine Abgeschlossenheit und Einheit der Literatur suggeriert, die einer intensiven Analyse der Texte nicht standhält. Der Versuch etwa, die ‚Prager deutsche Literatur‘ als homogen zu klassifizieren und verschiedene Autoren gewissen Kategorien zuzuordnen, hat häufig zu wenig spezifischen und hilflos scheinenden Aussagen wie diesen geführt: Die Prager deutsche Literatur zeichnet sich durch etwas Eigenartiges, nur ihr Eigenes aus. Nur ein Teil der in Prag entstandenen Literatur fällt unter diesen so schwierig definierbaren Begriff. Es geht nämlich um eine spezifische Lebenseinstellung, um einen spezifischen Ton. Es gibt Schriftsteller, die zweifellos in diesen Bereich gehören, dann solche, die mal dazugerechnet werden und mal wieder nicht.53

Auch die nachgeschobene Angabe, unter ‚Prager deutscher Literatur‘ verstehe man die Werke derjenigen jüdischen Schriftsteller, die sich um die ‚Herder-Blätter‘ versammelten,54 hilft nicht recht weiter. In der Forschung, vor allem in den Überblicksdarstellungen zur deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur, finden sich häufig Aussagen, die das Gemeinsame zwischen den Autoren, so z.B. den Einfluss der Stadt Prag, das Moment des Jüdischen oder die Sozialisation in einem interkulturellen Umfeld beschwören, um die Texte unter dem Oberbegriff der ‚Prager deut-

52

Haas: Die literarische Welt, S. 71. Auch Felix Weltsch lobt Masaryk ausdrücklich in seiner Abhandlung Das Wagnis der Mitte als einen der bedeutendsten Vertreter der Menschlichkeit: „Das tschechoslowakische Volk hat das Glück gehabt, einen Mann, der das Buch „Die Ideale der Humanität“ geschrieben hat, zum Schöpfer seines Staates und zu seinem ersten Präsidenten zu haben, T.G. Masaryk.“ (Weltsch: Das Wagnis der Mitte, S. 108.)

53

Broukalová: Ludwig Winder als Dichter der menschlichen Seele, S. 13.

54

Ebd., S. 14.

52 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN R AUM

schen Literatur‘ zu subsumieren, ohne auf die Eigenständigkeit der Texte, ihre Gemeinsamkeiten und ebenso häufig auftretenden Unterschiede im Detail einzugehen. Dies bietet die Gefahr einer Simplifizierung und Kategorisierung der Texte, die in dieser Form nicht haltbar sind. Mühlberger etwa setzt die Prosatexte Franz Kafkas und Paul Kornfelds ohne weitere Erläuterungen gleich, indem er bestimmte Motive erwähnt, die bei beiden Schriftstellern eine Rolle spielen. Dies führt zu verkürzenden Darstellungen, da Kafka und Kornfeld in dieser Hinsicht gleichgestellt werden: Die Wirklichkeit der geschichtsträchtigen Gegenwart Prags steigerte sich ihm [Kafka] ins Überwirkliche und Zeitlose im Gefühl der Heimatlosigkeit und der Ängste ums nackte Dasein, nicht anders als bei Paul Kornfeld in dessen nachgelassenem und erst sehr spät erschienenen Roman „Blanche oder das Atelier im Garten“.55

Es ist natürlich richtig, dass sowohl Kafka als auch Kornfeld wie der Großteil der deutschböhmischen und deutschmährischen Autoren sich etwa mit der Thematik der Heimatlosigkeit auseinandersetzen, sowohl der stilistische als auch der motivische Ansatz der Prosawerke der beiden Schriftsteller ist jedoch stark unterschiedlich. Über den Ansatz hinaus, festzustellen, dass alle Autoren gewisse Themenkomplexe aufgreifen, muss im Detail untersucht werden, wie sie dies tun, um gerade aufgrund der Vielschichtigkeit der Auseinandersetzung mit bestimmten Konfliktfeldern die Besonderheit der konkreten Sozialisationssituation und ihren Niederschlag in den Werken aufzudecken. Um dies zu erreichen, müssen die Texte zunächst aus den Schubladen, in welche die Forschung sie gesteckt hat, befreit werden, d.h. in ihrer Eigenständigkeit wahrgenommen und gewürdigt werden. Der Stempel ‚Prager deutsche Literatur‘ gilt zwar als Gütesiegel, impliziert aber zugleich nicht selten eine bestimmte Leseanweisung für die Texte: Sie werden auf ihre Analogien zu Kafka hin, auf ihre Thematisierung des Judentums, auf die Komplexe der Schuld, des VaterSohn-Konflikts, ihren zwischen Kulturen vermittelnden Ansatz etc. gelesen. Durch eine derartige Verengung des Blickwinkelns gerät der einzelne Text als eigenständiges literarisches Erzeugnis in der ihm inhärenten Ganzheit aus dem Blick, was die Analyse zwangsläufig verkürzt und der Vielfalt der Literaturlandschaft nicht gerecht wird. Die Komplexität der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens darf nicht zugunsten einer vereinfachenden Kategorisierung eingeebnet werden, so verlockend dies auch sein mag.

55

Mühlberger: Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen, S. 184.

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2.2.2 Die deutschnationale bzw. ‚sudetendeutsche Literatur‘ Zu einer differenzierten Betrachtung der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur gehört es ebenso, den literarischen und publizistischen Umgang der deutschnationalen Schriftsteller (auch Prags) mit der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik nicht zu unterschlagen, deren Reaktionen auf die Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg sich deutlich von den oben genannten Beispielen unterscheiden. Ein Zitat von Karl Hans Strobl illustriert eine andere Seite der Wahrnehmung der historischen Situation, die sich in der Weltanschauung und in der Einstellung zum tschechoslowakischen Staat sowie in den Werken (vorrangig natürlich in denen, die sich explizit mit der Zeit auseinandersetzen, aber indirekt auch in anderen literarischen Erzeugnissen) niederschlug: Und dieses Schicksal [nach dem Ersten Weltkrieg] fiel so, daß dreieinhalb Millionen deutscher Menschen im Sudetenland ihres Selbstbestimmungsrechtes beraubt und in einen Staat gezwungen wurden, von dem man wußte, daß er ihnen niemals würde ihr Lebensrecht werden lassen, ja der wohl mit allen Mitteln ihr Dasein herabmindern und womöglich austilgen würde.56

Es wird häufig angegeben, zwischen der ‚Prager deutschen‘ und ‚sudetendeutschen‘ Literatur (also auch zwischen Zentrum und Provinz) habe es keinen Austausch gegeben, die beiden Literaturen seien in vollkommener gegenseitiger Abschottung entstanden. Tatsächlich jedoch wurden sie durchaus voneinander wahrgenommen, wenn auch nicht selten in polemischer bzw. feindlicher Absicht. Die Grabenkämpfe wurden auf dem publizistischen Feld ausgetragen, dabei ging es um nicht weniger als die Frage, wer das Recht habe, die deutsche Kultur in Böhmen und Mähren zu vertreten. Im Jahre 1922 gab Otto Pick eine Anthologie unter dem Namen Deutsche Erzähler aus der Tschechoslowakei heraus. Pick bemühte sich aktiv um einen Austausch der deutschen und tschechischen Kultur, übersetzte Werke und machte diese somit der jeweils anderen Nation zugänglich. Seine Anthologie enthielt vor allen Dingen Texte von Autoren, die sich ähnlicher kulturvermittelnder Tätigkeiten und Weltanschauung verschrieben hatten wie z.B. Oskar Baum, Egon Erwin Kisch, Johannes Urzidil u.v.m., aber auch von deutschnationalen Autoren wie Karl Hans Strobl und Hans Watzlik. Diese Publikation stieß auf heftige Kritik bei Paul Kisch, dem Bruder von Egon Erwin Kisch und eingeborenen Prager (also bei keinem ‚Sudetendeutschen‘ aus Provinz- oder Grenzgebiet). Seine Einwände richteten sich gegen die Auswahl und Qualität der Texte, hauptsächlich jedoch gegen ihren ‚undeutschen‘ Charakter.Kisch wirft Pick vor, in seine Sammlung auch Autoren aufgenommen zu haben, die „keine Deutschen sind und keine sein wollen“ – er nennt hier Autoren, die zwar auf deutsch

56

Strobl: Heimat im frühen Licht, S. 6f.

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schreiben, aber dem „jüdischen Nationalismus verschlagen“ seien oder aber sich „in deutscher Sprache und deutschfeindlichem Sinne, z.B. im Dienste der tschechischen Regierung“ betätigten, und er kommt zu dem Schluss: „Nationale Ehre und Ueberzeugung, aber schon auch der gute Geschmack verlangen hier reinliche Scheidung.“57 Kisch geht darin sogar so weit, Autoren, die sich um die tschechische Kultur bemühen, die nationale Würde abzuerkennen:58 Es muß endlich mit aller Deutlichkeit und sei es auch grob heraus gesagt werden, daß Otto Pick und die um ihn schon die allerletzten sind, die ein Recht haben, sich als berufene Sachwalter und Organisatoren des deutschen Schrifttums in Böhmen aufzuspielen. Mögen sie sich auch noch so gut in die tschechische Dichtung einfühlen, je weiter diese Einfühlung auch im täglichen Leben vor sich geht, desto mehr entfernt sie von der Berechtigung, deutsche Geistigkeit zu vertreten. […] Das Verständnis für deutsches Wesen und deutsche Kunst wird durch keine Geschäftehuberei ersetzt. Und die erste Voraussetzung für den, der auf diesen [sic] Boden mit reinen Händen arbeiten will, ist das Gefühl nationaler Würde.59

Hierin werden Kischs Position im Nationalitätenkampf, der sich auch auf dem Gebiet der Kultur, v.a. der Literatur abspielte,60 und die unterschiedlichen Ansichten und Herangehensweisen an diese Problematik klar ersichtlich. Eine Behandlung der 57

Kisch: „Deutsche Erzähler aus der Tschechoslowakei“, Deutsche Zeitung Bohemia, 96.

58

Dies ist keine Einzelperspektive, sondern passt in das vorherrschende Denkmuster der

Jg., Nr. 31 (8. Februar 1923), S. 4. Zeit, das diejenigen stigmatisierte, die sich nicht eindeutig zu einer bestimmten Nation bekannten: „[I]n der von uns beobachteten Zeit galt das, was man damals als „schwebendes Volkstum“ bezeichnet hat, als geradezu krankhaft, als psychopathologisches Phänomen“. (Lemberg: Quellen zur Alltagsgeschichte des Zusammenlebens von Tschechen und Deutschen in der Ersten ČSR, S. 11. Vgl. auch Luft: Zwischen Tschechen und Deutschen, S. 150.) Dies ist nicht nur bei den Deutschböhmen der Fall, sondern diese Einstellung findet sich ebenso auf tschechischer Seite, indem in der tschechischen Literatur sich ebenfalls häufig Vorurteile gegenüber bilingualen Tschechen finden. Vgl. hierzu z.B. Rinas: „Auf Wechsel ins Tschechische und na veksl do Němec“, S. 367f. 59

Kisch: „Deutsche Erzähler aus der Tschechoslowakei“, Deutsche Zeitung Bohemia, 96.

60

Schneider hebt auch die Bedeutung des Theaters, der Theaterkritik und des damit einher-

Jg., Nr. 31 (8. Februar 1923), S. 4. gehenden öffentlichen Diskurses für die kulturelle, nationale und sprachliche Trennung hervor: „Eine grundlegende Strategie, diese Trennung zu praktizieren, war die diskursive Reglementierung: Einem deutschsprachigen Prager war es zwar durchaus nicht verboten, eine Vorstellung im Národní Divadlo zu besuchen, aber er tat gut daran, in der Öffentlichkeit darüber zu schweigen.“ (Schneider: Wachposten und Grenzgänger, S. 14. Vgl. auch ebd., S. 56.)

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deutschböhmischen Literatur, die Paul Kisch und anderen, mit seiner Meinung übereinstimmenden Deutschen wohl besser gefallen haben mag als Picks Anthologie, veröffentlichte Rudolf Wolkan 1925 mit seiner Literaturgeschichte Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen und in den Sudetenländern. Wolkan thematisiert zwar auch Autoren, die sich um einen deutsch-tschechischen Austausch bemühten, wie z.B. Ludwig Winder, doch überwiegt bei ihm in Bezug auf die zeitgenössischen Schriftsteller das Lob deutschnationaler Autoren wie Erwin Guido Kolbenheyer und Karl Hans Strobl.61 Zudem macht er im Vorwort das Ziel der Darstellung und ihre Aufgabe im Kampf um die deutsche Kultur unmissverständlich deutlich: Das vorliegende Buch wirbt um Aufnahme in die Familien aller Deutschen in und aus Böhmen und den Sudetenländern. Es ist aus warmem Herzen heraus geschrieben und will der Heimat in Tagen der Not und Sorge ein Tröster werden durch den Hinweis, was Deutsche unserer Heimat im Laufe der Jahrhunderte auf dem Gebiete der Literatur geschaffen und wie sie stets den innigen Zusammenhang mit dem großen Stammlande aufrecht erhalten haben; es will aber auch der törichten Behauptung unserer nationalen Gegner, als ob die Deutschen in Böhmen und in den Sudetenländern trotz ihres literarischen Wirkens keinen Anspruch erheben könnten, eine bodenständige Literatur geschaffen zu haben, durch die Wucht der Tatsachen entgegentreten.62

Wolkan verwendet in dieser Literaturgeschichte bereits explizit den Begriff des ‚Sudetenlandes‘ und grenzt ihn im Titel seiner Untersuchung von Böhmen ab. Diese Differenzierung in Sudetengebiet und Böhmen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg dann zunehmend auf die Unterscheidung zwischen Sudetenland und Prag zugespitzt. Der Konstruktcharakter dieser Einteilung muss sichtbar gemacht werden, um die Problematik des Begriffs ‚sudetendeutsche Literatur‘ aufzudecken. Zunächst ist festzuhalten, dass nie ein ‚Sudetenland‘ als homogene Region existiert hat, sondern der Begriff, ebenso wie die kulturelle Einheit der darunter verstandenen Gebiete, ein politisches Konstrukt ist, das sich erst innerhalb der 20er Jahre als übergeordnete Bezeichnung durchsetzte,63 unter anderem, um ein nationales Bewusstsein und ein Zu-

61

Vgl. auch Hohmeyer: „Böhmischen Volkes Weisen“, S. 490f.

62

Wolkan: Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen und in den Sudetenländern, S.

63

Vgl. hierzu Höhne: „Insbesondere nach der Staatsgründung 1918 lässt sich ein Wandel

vii. des Gruppenbewusstseins von den Deutschböhmen zu Sudetendeutschen und damit eine Verschärfung des […] Desintegrationsprozesses beobachten, der nach Hans Lemberg […] bereits 1920/21 im Titelblattwechsel der in Eger erscheinenden bündischen Zeit-

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gehörigkeitsgefühl mit Kampfesbereitschaft zur ‚Verteidigung des deutschen Volkstums‘ unter der deutschsprachigen Bevölkerung Böhmens und Mährens zu entfachen.64 Seine politische Implikation, die er bis heute innehat und ihn mit deutschem Nationalismus, Heimattümelei und deutschen Besitzansprüchen an die ‚Scholle‘ verbindet, erhielt der Begriff in vollem Ausmaß erst in den 30er Jahren vor allen Dingen mit Konrad Henleins Sudetendeutscher Partei, der ‚Heim-Ins-Reich-Bewegung‘ und schließlich dem nationalsozialistischen Gau Sudetenland.65 Zuvor wurde er jedoch wertneutraler auch für sämtliche Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien benutzt, wobei jedoch die deutsche jüdische Bevölkerung ausgeschlossen wurde.66 Es ist sehr schwierig, die Literatur in den Grenzgebieten unter einem Oberbegriff zusammenfassen (deutschnationale oder Heimatliteratur trifft lange nicht den Gestus jeglicher dort entstandener Literatur), da es starke regionale Unterschiede gab und viele der Autoren auch versuchten, sich durch Mundartdichtung und starke lokale Bezüge als Heimatdichter zu etablieren, die jedoch nicht primär das ganze ‚Sudetenland‘ als Heimat aufzeigten, sondern einen jeweils kleineren lokalen Rahmen. Zudem schrift Böhmerland zu Der sudetendeutsche Bund signifikant wurde.“ (Höhne: Zur Phänomenologie kulturellen und sprachlichen Wandels, S. 13, vgl. auch Lemberg: Von den Deutschböhmen zu den Sudetendeutschen, S. 99. 64

Vgl. hierzu sehr anschaulich Schroubek: „Selbst die plötzliche Vertauschung des Majoritäten- gegen den Minoritätenstatus nach 1918 wurde nicht überall mit gleicher Intensität erlebt. Nationale Ressentiments gegen das nunmehr staatstragende tschechische Volk waren zwar mehr oder minder überall vorhanden und bildeten das der Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung des neuen Staates einzig wirklich Gemeinsame. Aber selbst wenn man für diesen Sachverhalt den seinerzeit viel gebrauchten Ausdruck „Schicksalsgemeinschaft“ gelten lassen wollte, so stiftete er doch noch keineswegs eine historisch-geographisch-kulturelle Einheit, keine „Region“. So waren also 1918/19 die deutschsprachigen Randgebiete unverändert eine bloße Summe von mehreren nicht integrierten Einzellandschaften ohne wirkliches Einheitsbewusstsein. Für die Politiker der deutschen Parteien in der ČSR war das ein unerträglicher Zustand. Wollten sie einen bislang nicht vorhandenen Gemeinsinn wecken, benötigten sie u.a. eine griffige Vokabel. Es dauerte eine Zeit, ehe sie sich auf den Terminus „Sudetenland“ einigten, und wesentlich länger noch, ehe dieser rezipiert wurde.“ (Schroubek: Studien zur böhmischen Volkskunde, S. 30.) Gleichzeitig wurde der Begriff der ‚sudetendeutschen Literatur‘ in der Zwischenkriegszeit jedoch auch unpolitisch von ideologisch des Nationalismus unverdächtigen Autoren wie Josef Mühlberger verwendet. (Vgl. Krappmann: Allerhand Übergänge, S. 29.)

65

Vgl. auch Takebayashi: Zwischen den Kulturen, S. 94f.

66

Vgl. zur regionalen Verortung, Entstehung und Benutzung des Begriffs ‚Sudetenland‘ ausführlich Hohmeyer: Aufklärung über „Böhmische Dörfer“. Vgl. auch Lemberg: Von den Deutschböhmen zu den Sudetendeutschen.

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existierten enorme soziale und kulturelle Unterschiede zwischen den einzelnen ländlichen und städtischen Gebieten, die sich z.B. aus der Bevölkerungsstruktur, der Verbreitung der Industrie und dem Vorhandensein kultureller Zentren ergaben.67 So bestand allein zwischen Böhmen und Mähren ein gewisser regionaler Unterschied, etwa im Grad der Industrialisierung und in dem Umstand, dass vor allem vor dem ersten Weltkrieg für die deutschmährischen Intellektuellen nicht Prag, sondern Wien den bedeutenderen kulturellen Bezugspunkt darstellte und die Auseinandersetzung mit der nationalen Frage in Böhmen, wo die unmittelbaren Grabenkämpfe geführt wurden, einen höheren Stellenwert einnahm: „Mähren ist literarisch nicht Böhmen. Brünn und Olmütz als literarische Zentren weisen nicht nach Prag. In Mähren war vieles anders.“68 Dennoch wurde immer wieder nach Gemeinsamkeiten gesucht, die bei vielen der ‚sudetendeutschen‘ Autoren auftreten, und diese wurden zumeist in der nationalen Ausrichtung und in der literarischen Qualität gefunden. Schroubek hält sie folgendermaßen fest: „[I]n den zwanziger und mehr noch in den dreißiger Jahren [vollzieht] sich eine gewisse Angleichung der literarischen Vorwürfe und der politischen Tendenzen, ein Vorgang, der es rechtfertigt […] die randdeutschen Autoren zu einer Gruppe zusammenzufassen.“69 Auch an anderer Stelle argumentiert er ganz im Sinne der gängigen Unterteilung in ‚sudetendeutsche‘ und ‚Prager deutsche‘ Literatur, welche erstere mit Begriffen wie ‚Trivial‘-, ‚Heimat‘-, ‚Provinz‘- und ‚Blut-und Boden‘Literatur gleichsetzt: Auch was das künstlerische Niveau betrifft, dominieren eindeutig jene Bücher, die nach Fabel und Form an der Grenze zum Trivialen stehen, sie häufig auch überschreiten. Damit kann diese Provinzliteratur – wiederum mit nur wenigen Ausnahmen und ganz im Gegensatz zur Deutschprager Literatur! – relativ mühelos in die nationalsozialistische Blut-und-Boden-„Dichtung“ einmünden oder mindestens von ihr vereinnahmt werden. […] Der literarische Protest gegen

67

Vgl. zur Heterogenität der deutschsprachigen Bevölkerung in Böhmen, Mähren und Su-

68

Krywalski: Topographia Poesiae Moraviae, S. 264. Vgl. auch Veselý: Zur nationalen und

detenschlesien Hohmeyer: „Böhmischen Volkes Weisen“, S. 355ff. sozialen Problematik in der deutschsprachigen mährischen Literatur. Trotz dieser Differenz darf jedoch auch das Verbindende zwischen Böhmen und Mähren und die wechselseitige Beeinflussung und Befruchtung der beiden Regionen nicht unberücksichtigt bleiben, nämlich das „Wissen[] um die untrennbare Einheit der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur – trotz wiederholter Beteuerungen, dass ‚Mähren anders sei‘.“ (Fiala-Fürst: Was ist „deutschmährische Literatur“?, S. 22.) 69

Schroubek: Studien zur deutschböhmischen Volkskunde, S. 98.

58 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN R AUM die drohende und später etablierte NS-Diktatur blieb den deutschschreibenden Autoren der Landeshauptstadt vorbehalten.70

Er weist allerdings auch darauf hin, dass es in den sudetendeutschen Gebieten durchaus, vor allen Dingen unter den Sozialdemokraten, eindeutige Gegner des Nationalsozialismus gegeben habe, deren Protest sich jedoch auf historisch-wissenschaftliche Publikationen beschränkt und somit keine literarische Äußerung erfahren habe. Schroubek ist jedoch Ethnologe und kein Literaturwissenschaftler, weshalb er auch zu Beginn seiner Studie über Regionalismus und Nationalismus in der deutschböhmischen Literatur darauf hinweist, dass es ihm primär um zeit- und regionaltypische Momente in der Literatur geht und nicht um systematisch-literaturhistorische oder qualitativ ästhetische Wertungen. Inwiefern sich die Romane der zwei verschiedenen ‚Literaturen‘ in diesem Bereich also unterscheiden, bzw. ob auch Überschneidungen in einigen Punkten vorhanden sind, erläutert er daher nicht. Vergleichende Studien in dieser Hinsicht sind bislang spärlich, meist sind die zwei Literaturlandschaften alleine in jeweils klarer Abgrenzung von der anderen behandelt worden, ohne jedoch konkret zu definieren, worin die Unterschiede und Gemeinsamkeiten, unabhängig von der bei einigen Autoren nicht zu übersehenden grundlegenden politisch-nationalen Haltung, liegen.71 Dass ein Ansatz, der beide ‚Literaturen‘ gemeinsam und vergleichend behandelt, jedoch fruchtbar ist und neue Erkenntnisse auch für kanonisierte Werke liefern kann, beweist Jörg Krappmann in seiner Studie Allerhand Übergänge, in der er z.B. im Rahmen des Kapitels zur Grenzlandliteratur im Zeitraum der frühen Moderne neben Anton Fietz, Karl Wilhelm Fritsch, Anton Ohorn und Ferdinand Bernt auch die Zwei Prager Geschichten des Prager Autors Rainer Maria Rilke, der unter ästhetischen Gesichtspunkten jenseits jeglichen Verdachts der Trivialliteraturproduktion steht, untersucht.72 Ein weiterer Grund, der Literaturwissenschaftler dazu veranlasst hat, die ‚sudetendeutsche‘ und die ‚Prager deutsche‘ Literatur getrennt voneinander zu betrachten, ist dem Umstand geschuldet, dass der Kontakt und der kulturelle Austausch zwischen den Prager Autoren und denjenigen in den böhmischen Randgebieten gegen Ende

70

Ebd., S. 171.

71

Eine Ausnahme stellt die umfangreiche Untersuchung Christian Jägers dar, welche das Potential einer Untersuchung der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur unter Einbeziehung der ‚Prager deutschen‘ sowie der ‚sudetendeutschen‘ Autoren hervorhebt, indem „ein Vergleich der unterschiedenen Literaturen auch sinnvoll [erscheint], um zu sehen, was die Differenz, so vorhanden, denn ausmacht, wenn die politisch-sozialen und kulturellen Parameter sich so sehr ähneln, wie in dem räumlich und zeitlich relativ eng umgrenzten Gebiet, das untersucht werden soll“. (Jäger: Minoritäre Literatur, S. 8.)

72

Vgl. Krappmann: Allerhand Übergänge, S. 127ff.

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des 19. Jahrhundert zunehmend versiegte73 und auch von den Zeitgenossen eine klare Trennung zwischen den ‚Prager Deutschen‘ und den ‚Sudetendeutschen‘ vor allem in Bezug auf die politische Anschauung im Nationalitätenstreit zumindest aus der Retrospektive gerne gezogen wurde.74 Es gab jedoch auch Bemühungen, dieser Tendenz entgegen zu wirken, die Kluft durch eine kulturelle Annäherung zu überbrücken und, auch um einer Isolation der Prager Deutschen zu entgehen, Gemeinsamkeiten mit den nicht-deutschnationalen Autoren des Sudetengebietes festzustellen. So dankt etwa der ‚sudetendeutsche‘ Schriftsteller Walter Seidl Otto Pick für sein Engagement in dieser Hinsicht: Er hat schon zu einer Zeit, da Prag im allgemeinen noch recht hochmütig und abweisend war, bei jeder Gelegenheit nachdrücklich die Meinung vertreten, daß man das Schaffen der Sudetendeutschen zu wenig kenne, zu wenig begreife und vor allen Dingen unterschätze und daß diese Haltung eine Kluft aufreißen werde, die sich einmal bitter auswirken werde.75

Johannes Urzidil sieht die Schuld an der wachsenden Entfremdung zwischen Stadt und Provinz vor allen Dingen bei den Sudetendeutschen, die aufgrund ihrer ‚inneren

73

Vgl. z.B. Doležal: „Die Abwendung der deutschsprachigen Randgebiete vom kulturellen wie politischen Leben der Prager Deutschen in der Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts wurde einerseits durch die zunehmende kulturelle und politische Emanzipation der Tschechen bewirkt, anderseits durch den sich ausgebreiteten völkischen Nationalismus in Nordböhmen. Demzufolge gingen die Prager deutschen Dichter um diese Zeit auf Distanz zur deutschböhmischen Heimatliteratur.“ (Doležal: Masaryk, Max Brod und das Prager Tagblatt, S. 21, kursiv im Original.)

74

Vgl. etwa Grete Fischers Einschätzung des Verhaltens der ‚Sudetendeutschen‘ zu Zeiten der Ersten Tschechoslowakischen Republik: „Die Masarykregierung war viel zu gesund aufs Positive eingestellt, um sich mit Deutschenhaß aufzuhalten. Aber der Verrat der Sudetendeutschen war von langer Hand vorbereitet. Unter den seit Jahrhunderten mit Armut kämpfenden Bewohnern der Randgebirge gab es viel engstirniges Volk, und die komische Mißgünstigkeit der nachbarlichen Sachsen war ein Teil auch ihres Charakters. Es war leicht, sie zu überzeugen, daß die Tschechen – oder die Juden oder die Kapitalisten, je nachdem – an ihrer Unterdrückung schuld wären. Sie waren allzuoft fleißige, saubere, selbstgerechte Dummköpfe, die ihr Selbstbewußtsein an der nationalen Überlegenheit stärken mußten, weil sie sonst nichts aufzuweisen hatten. Der Tscheche, Pole, Ungar mußte minderwertig sein, damit sie sich besser fühlen konnten. Ich kannte sie als Mitstudenten, und diese „Gelernten Sudetendeutschen“ waren mir nie lieb.“ (Fischer: Dienstboten, Brecht und andere, S. 60f.)

75

Walter Seidl an Otto Pick. In: Otto Pick zum 50. Geburtstag, S. 18.

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Verbundenheit‘ mit dem Deutschen Reich bzw. mit Österreich und einer hieraus resultierenden ‚geistigen Expatriierung‘ ihre „kulturpolitischen Aufgaben bis heute nicht voll erfaßt haben“.76 Dem deutschjüdischen Prager Schriftsteller geht es hierbei in gewissem Maße auch um eine ‚Verteidigung‘ des Deutschtums. Allerdings, und hier unterscheidet er sich grundlegend von der Ansicht derer, die er als ‚Sudetendeutsche‘ anspricht, meint Urzidil damit lediglich deutsche Kulturgüter und, entscheidender noch, gerade nicht ein reines oder ‚arisches‘ Deutschtum, sondern den Erhalt der in ihren, auch interkulturellen,77 Besonderheiten gefährdeten deutschböhmischen Kultur. Diese müsse im tschechischen Staat geschützt werden, doch Prager und ‚Sudetendeutsche‘ zögen hier nicht an einem Strang: Man muß darüber staunen, daß dieses in nationalem Kampf stehende Deutschtum nicht die Kraft aufbringt, seine geistigen Potenzen zusammenzuschließen, die so enorm wichtig sind für die kulturelle Konkurrenz mit dem vitalen und aufstrebenden, innerlich konzentrierten Tschechentum.78

Problematisch ist jedoch nicht nur die innere Spaltung der deutschböhmischen Schriftsteller, sondern auch die wirtschaftliche Lage, die nach dem Ersten Weltkrieg viele Schriftsteller dazu veranlasste, Prag zu verlassen (vgl. Kapitel 3.6). Hierbei seien nicht nur die Restriktionen, die von der tschechischen Regierung ausgingen und das deutsche kulturelle Leben hemmten, sondern auch das deutsche Großkapital, das sich für Kunst und Literatur nicht interessiere, von Bedeutung. Als einziges Beispiel einer Literaturzeitschrift von Rang im sudetendeutschen Raum hebt Urzidil Mühlbergers Zeitschrift Witiko hervor, die aber auch um ihre Existenz kämpfe. Dieser Zeitung wurde viel Aufmerksamkeit geschenkt, in der Forschung gilt sie als in den ‚Sudetenländern‘ einzigartige interkulturelle Vermittlungsinstanz: In ihrem Ringen um geistige Werte im Dienste des gegenseitigen Kennenlernens, gegen nationale Ignoranz und Überhebung grenzte sich der Witiko deutlich von den Tendenzen eines seit 76

Urzidil: Die Lage des deutschen Schrifttums in der Tschechoslowakei, S. 5.

77

Zu den Wechselwirkungen zwischen deutscher und tschechischer Kultur und ihrer gegenseitigen Bereicherung äußert sich Urzidil, indem er das Ende des Austausches durch den Einmarsch der Nationalsozialisten und den Zweiten Weltkrieg beklagt: „[D]ie Tschechen verloren auf diese Weise die eigentlichen und lebhaftesten Vermittler ihrer Kulturleistungen nach der westlichen Welt. Andrerseits büsste die deutsche Literatur eine besondere schöpferische Sphäre ein, die mitten unter Slawen oder am Rande der slawischen Daseinsräume besonders getönte und gezeichnete Werke hervorbrachte und derart das allgemeine deutsche Geistesleben ungemein bereicherte.“ (Urzidil: HinterNational, S. 248.)

78

Urzidil: Die Lage des deutschen Schrifttums in der Tschechoslowakei, S. 6.

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den neunziger Jahren des 19. Jh. tradierten völkischen Nationalismus in der sudetendeutschen Literatur ab. Demzufolge war die Zeitschrift frei von antisemitischen und antitschechischen Haltungen und Tönen, somit ein liberales Angebot zur Sammlung und Vermittlung, ohne daß dabei nationale oder kulturelle Besonderheit und Gegensätze etwa geleugnet worden wären.79

Die starke Rezeption bei Zeitgenossen und der späteren Forschung ist recht bezeichnend, da die Zeitschrift nur unregelmäßig und lediglich über einen Zeitraum von drei Jahren erscheinen konnte, und gibt Aufschluss darüber, welch ein außergewöhnliches Projekt Josef Mühlberger zwischen 1928 und 1931 leitete.80 Die häufige Referenz auf diese Zeitschrift und ihre Beliebtheit bei der Forschung verwundern jedoch nicht, denn Witiko dient, aus diesem Grunde wird sie auch bei Goldstücker benannt, in ihrer Einzigartigkeit der Untermauerung der These, dass die ‚sudetendeutsche‘ Literatur bis auf wenige Ausnahmen nichts mit der ‚Prager deutschen Literatur‘ gemein habe. Abgesehen davon, dass die vereinfachende Gleichsetzung des zunächst topographisch verorteten Begriffs ‚sudetendeutsch‘ mit der politischen Implikation ‚deutschnational‘ (ebenso wie ‚pragerdeutsch‘ mit ‚interkulturell‘) einer Überprüfung der heterogenen kulturellen, sozialgeschichtlichen und literaturwissenschaftlichen Eigenheiten der Region nicht standhält, lohnt es sich auch, bei einer Untersuchung der Identitätsproblematiken in der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens neben den kanonisierten ‚Prager deutschen Autoren‘ sowohl die Literatur aus der ‚Provinz‘ als auch die deutschnationalen Genres, wie etwas das des ‚Grenzlandromanes‘, einzubeziehen, um zu verdeutlichen, wie und aus welchen Gründen sich ähnelnde Ereignisse und Motive anders erzählt werden können. Dies wird in Kapitel 5.9 anhand der Romane Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland von Friedrich Bodenreuth und Das Dorf an der Grenze von Gottfried Rothacker unternommen, indem herausgearbeitet wird, inwiefern die nationalistische und rassistische Auseinandersetzung mit der multinationalen Situation in den deutschnationalen Texten Böhmens und Mährens der gleichen historischen und kulturellen Ausgangssituation entspringt wie die völkerverständigende Tendenz, die in den nicht-nationalistischen Romanen aufscheint. Die Identitätsmuster in den beiden literarischen Strategien sind kontrafaktisch, sie verweisen jedoch diametral auch auf ihre Verbindungslinien, die sie jeweils zu kulturellen Erzeugnissen ein und derselben Literaturlandschaft machen .

79

Berger: „Witiko“ (1928 - 1931), S. 57.

80

Die Anerkennung der Außergewöhnlichkeit des Zeitschriftenprojektes sollte jedoch nicht dazu führen, seine Wirkmächtigkeit zu überschätzen: „Der rasche Niedergang der Zeitschrift beweist, daß eine nachträgliche Idealisierung des Witiko als dauerhafte gemeinsame Plattform aller ästhetischen und politischen Strömungen in den böhmischen Ländern der Grundlage entbehrt.“ (Krappmann: Allerhand Übergänge, S. 56.)

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2.3 P RAGER K REISE ? 2.3.1 Zur Heterogenität der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur in der Zwischenkriegszeit Es gibt diverse Versuche, die ‚Prager deutsche Literatur‘ in verschiedene Dichtergenerationen aufzuteilen, der bekannteste Versuch in dieser Hinsicht ist das vielbeachtete autobiographische Werk Der Prager Kreis von Max Brod, dessen Konstruktcharakter jedoch schon mehrfach kritisiert worden ist.81 Bei der Bestimmung der literarischen Besonderheiten der Region spielen auch Kontinuitäten eine besondere Rolle; Max Brod etwa weist auf die Bedeutung der literarischen Tradition Böhmens und Mährens für die Prager Autoren hin, weshalb er auch mit einer Darstellung der Dichtergeneration der um 1830 geborenen Autoren Marie von Ebner-Eschenbach und Karl Postl (Charles Sealsfield) beginnt.82 Die möglichen Ansätze zur Periodisierung sollen hier nicht im Detail erörtert werden, Fiala-Fürst gibt einen Überblick über die gängigsten Herangehensweisen und schließt selbst mit der Einteilung: „1. Generation des Literaturvereins Concordia, Dichter, die um 1856-1866 geboren sind; 2. Generation Rilkes, Dichter um 1873-1878 geboren, 3. Generation Kafkas, Dichter um 18821910 geboren.“83 Die Kategorisierung in Generationen weist allerdings ebenso wie die Einteilung in Epochen84 den Mangel auf, dass sie weder die ‚Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen‘85 noch die künstlerische Weiterentwicklung der Autoren berücksichtigen kann. Daher erscheint es sinnvoller, die Zeiteinteilung nicht nach den Geburtsjahren der Schriftsteller, sondern der Entstehungszeit der einzelnen Werke vorzunehmen und sie dann wiederum in ihren stilistischen und thematischen Eigenheiten zu bewerten, wie Kurt Krolop dies unternommen hat. Er benennt als Zeit des engen Zusammenschlusses und als Blüte dessen, was häufig als die ‚Prager deutsche Literatur‘ und als Literatur von Weltrang gilt, die Jahre 1911/12, nach denen die Einheit auseinanderfällt:

81

Vgl. etwa Spector: „The idea of a „Prague circle“ altogether is a creation of Brod’s […], in which the author’s ideological and personal agendas in historicizing the notion are transparent.“ (Spector: Prague Territories, S. 17.)

82

Brod: Prager Kreis, S. 9ff.

83

Fiala-Fürst: Der Beitrag der Prager deutschen Literatur, S. 13.

84

Vgl. zur Problematik der Verwendung von Epochenbegriffen Bormann: Zum Umgang

85

Den Begriff prägte Wilhelm Pinder 1926 in seiner Studie Das Problem der Generation

mit dem Epochenbegriff. Vgl. auch Rosenberg: Epochen. in der Kunstgeschichte Europas.

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Innerhalb des Prager Autorenkreises ist diese Periode vom Frühjahr 1911 bis zum Herbst 1912, während der die Herder-Blätter erschienen und Franz Werfel sein letztes Jahr in Prag verbrachte, wohl die Zeit der engsten Gemeinsamkeit, des festesten Zusammenschlusses und des intensivsten Zusammenwirkens gewesen, gleichsam die heroische Zeit des Café Arco. […] Mit dem Herbst 1912, dem Erscheinen des letzten Heftes der Herder-Blätter […]; mit dem „Prager Autorenabend“ der „Herder-Vereinigung“ vom 4. Dezember 1912, an dem Franz Kafka zum ersten Mal öffentlich Das Urteil vorlas, Franz Werfel aber bereits nicht mehr teilnahm: mit diesen Daten etwa ist das Ende dieser Periode bezeichnet und der Beginn eines Differenzierungs- und Abwanderungsprozesses, in dessen Verlauf Paul Wiegler, Egon Erwin Kisch, Willy Haas, Willi Handl, Paul Kornfeld, Ernst Deutsch Prag verließen und der mit Kriegsausbruch, als die meisten der übrigen „einrückend gemacht“ wurden, einen ersten Abschluß fand.86

Ihr endgültiges Ende erfährt die Zeit der ‚expressionistischen Generation‘ schließlich laut Krolop nach 1920: Es begann für die Autoren dieser Generation eine neue Entwicklung, in deren Verlauf es noch viel Gemeinsames, viele Bündnisse und manchmal – besonders im Kampf gegen den Krieg und Faschismus – auch über Unterschiede der Gesinnung hinweg eine Aktionseinheit gegeben hat; aber nie mehr jenen einigenden Enthusiasmus des Aufbruchs, von dem die Jahre des Anfangs erfüllt gewesen waren.87

Während sowohl in der Forschung als auch bei den zeitgenössischen Schriftstellern ein Konsens darüber herrscht, dass mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, spätestens aber mit dessen Ende eine Zäsur stattfindet, welche die Hochblüte der Prager deutschen Literatur beschließt, so bleiben Definitionsversuche der Literatur nach 1918 diffus. Als Begründung für die Problematiken, die sich beim Umreißen der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur nach 1918 ergeben, wird häufig angegeben, dass viele Autoren Prag bzw. die Erste Tschechoslowakische Republik verlassen hätten, die Verbliebenen nicht mehr in der dominierenden Sprache schrieben und verschärftes politisches Engagement auch in den Werken diese weiter differenziere.88 Sudhoff /Schardt haben versucht, die Autoren der 20er Jahre in ihrer Anthologie Prager deutsche Erzählungen zusammenzuführen, mit der Begründung, dass auch die fortgegangenen Autoren weiterhin als Prager klassifiziert werden können. Andererseits betonen sie die Bedeutung mährischer Autoren für die Literaturentwicklung in Prag, so vor allen Dingen Ludwig Winder, Ernst Weiß und Hermann Ungar. Wenn auch die Begründung für ihre Etablierung in Prag spekulativ wirkt (das

86

Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur, S. 59f.

87

Ebd., S. 72.

88

Vgl. z.B. Sudhoff/Schardt: Vorwort, S. 38ff.

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tschechisch-ländliche Milieu in Mähren ähnele der Prager Ghetto-Situation),89 so erweist sich aufgrund dessen vor allem in der Zwischenkriegszeit eine dichotomische Aufteilung in ‚Prager deutsche‘ und ‚sudetendeutsche‘ oder ‚mährische‘ Literatur als unsinnig, da gerade die Gleichsetzung Mährens mit Prag doch die in den Begriffen implizite Stadt-Provinz-Differenz negiert. Eingehende wissenschaftliche Abhandlungen jedoch über die Literatur der Zwischenkriegszeit sind ein Desiderat; „Aufsätze über die jungen Literaten, die nach dem Umbruch erstmals in Erscheinung traten und vakante Plätze in den Kaffeehäusern der Moldaustadt besetzten, [sind] zum einen recht dünn gesät, zum anderen haben die Aussagen nicht mehr als Schlagwortcharakter“,90 und dies gilt nicht nur für Prag, sondern ebenso für eine Gesamtbetrachtung der deutschböhmischen und -mährischen Schriftsteller und ihrer Texte, die in der Zwischenkriegszeit entstanden sind. Den Endpunkt dieser Untersuchung stellen die Jahre 1938/39 mit dem Münchner Abkommen, das aus tschechischer Sicht als Diktat wahrgenommen wurde, und dem Einmarsch der Nationalsozialisten in die Erste Tschechoslowakische Republik dar. Zwar ist es durchaus richtig, dass die deutschböhmische und deutschmährische Literatur mit diesem Datum keinen endgültigen Abschluss findet, sondern dass diese sich in Teilen fortsetzt, in allen ihren Erscheinungsformen: in Theresienstadt und Auschwitz, in nationalsozialistischer Blut-und-Boden-Literatur, in der Exil- und Nachkriegsliteratur der emigrierten Schriftsteller und in der Vertriebenenliteratur der ‚Sudetendeutschen‘.91 In der Sekundärliteratur, die sich mit der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur nach dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzt, gibt es unterschiedliche Periodisierungsansätze. Andrea Hohmeyer setzt für ihre Studie den Endpunkt im Jahre 1945, da ab diesem Zeitpunkt die Literatur „eine völlig andere als die der vorangegangenen Epoche“ sei.92 Dies gilt jedoch, sowohl thematisch als auch bezüglich der Entstehungsbedingungen für die Literatur, selbstverständlich bereits für den Zeitraum zwischen 1939 und 1945, in dem Unterdrückung, Repression und Verfolgung große Teile der Bevölkerung in ungekanntem Ausmaß heimsuchte. Hohmeyers Aussage, erst 1945 markiere „das endgültige Ende der deutsch-tschechischen Symbiose“,93 klingt beinahe wie Hohn, da von einer Symbiose oder, um der biologistischen Konnotation des Begriffs zu entgehen, von einer gleichberechtigten

89

Vgl. Ebd., S. 40. Problematisch ist hierbei vor allen Dingen das Festhalten an der Ghetto-

90

Hohmeyer: „Böhmischen Volkes Weisen“, S. 350.

91

Vgl. hierzu zusammenfassend Takebayashi: Zwischen den Kulturen, S. 37. Vgl. auch

Theorie für Prag sowie für Mähren.

Becher: Vermessung eines unbekannten Geländes. Vgl. auch Krolop: Prager deutsche Literatur im 20. Jahrhundert, S. 15f. und Václavek: Deutsche Dichtung im Ghetto. 92

Hohmeyer: „Böhmischen Volkes Weisen“, S. 298.

93

Ebd., S. 613.

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Kohabitation seit 1939 wohl kaum noch die Rede sein konnte. Ebenso wenig nachzuvollziehen ist der Betrachtungsendpunkt, den Susanne Fritz für ihre Untersuchung des ‚Prager Textes‘ wählt, indem sie den Zeitraum von 1895 bis 1934 behandelt. Eine Erklärung, warum ausgerechnet das Erscheinen von Paul Wieglers Haus an der Moldau, des Romans eines Schriftstellers, der zwar auch als Auswärtiger in Fritz’ kultursemiotisches Konzept passt, jedoch keine deutschböhmischen oder -mährischen Wurzeln hat, den Schlusspunkt ihrer Betrachtung bildet, bleibt aus, und es verwundert umso mehr, da Fritz zuvor betont, dass auch nach 1935 Werke von Autoren wie Ludwig Winder, Ernst Sommer, Max Brod, Oskar Baum, Paul Leppin, Josef Mühlberger, Johannes Urzidil, F.C. Weiskopf und Franz Werfel erscheinen, somit also der gesamten Garde der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur. Die Behauptung, dass ausgerechnet Hans Natoneks Kinder einer Stadt, Hermann Grabs Der Stadtpark und F.C. Weiskopfs Das Slawenlied die einzigen Texte seien, die außer den Heimat- und Grenzlandschriftstellern nach 1931 noch relevant gewesen sein sollen,94 ist zwar notwendig für die Argumentation der Autorin, welche Texte, die sich nicht explizit mit Prag auseinandersetzen, bewusst ausklammert (wobei z.B. auch Alice Rühle Gerstels Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit (entstanden 1936/37) sich problemlos in ihre Untersuchung hätte einfügen lassen), entspricht jedoch nicht der literaturgeschichtlichen Realität. Zudem verwundert die Argumentation, die Prager Schriftsteller träten hinter den Autoren aus der sudetendeutschen Provinz wie z.B. Karl Hans Strobl zurück, dem sie selbst in ihrer Arbeit über die ‚Prager deutschsprachige Literatur‘ drei eigene Unterkapitel zu seinen Studentenromanen widmet und der somit neben Max Brod und Gustav Meyrink der am ausführlichsten behandelte Autor ist. Anfangs- und Endpunkte müssen jedoch für jede Studie gefunden werden, und es liegt nahe, bei der Untersuchung der deutschböhmischen und deutschmährischen Romane in den 20er und 30er Jahren die historisch bedeutsamen Eckdaten 1918 und 1938/39 zu wählen, die sowohl den Zeitraum der Zwischenkriegszeit als auch des Bestehens der Ersten Tschechoslowakischen Republik markieren. Dieser Zeitraum brachte nicht nur einen Wandel in der geschichtlichen Situation, welcher eine soziale, nationale und gesellschaftliche Lage in Böhmen und Mähren schuf, die weder vor dem Ersten Weltkrieg noch nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in dieser Form bestand, sondern hatte hiermit auch erheblichen Einfluss auf die Literaturproduktion der Zeit, sowohl thematisch wie auch formal. Der Erste Weltkrieg veränderte die Normen und Werte in der Gesellschaft und führte zuvor sicher geglaubte Identitätsvorstellungen ad absurdum; auf diese Situation reagierten die Schriftsteller literarisch mit neuen thematischen Schwerpunkten, die hier am Beispiel der Auseinandersetzung mit der Selbstverortung des Individuums und den Identitätsproblematiken im

94

Vgl. Fritz: Die Entstehung des „Prager Textes“, S. 10.

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modernen Raum illustriert werden. Auch formal gab es eine Entfernung von dem zuvor in der ‚Prager deutschen Literatur‘ vorherrschenden Expressionismus, indem die neue Zeit auch neue literarische Formen forderte. Ähnlich verhält es sich mit der Zeit nach 1938 in Böhmen und Mähren; die Vertreibung und Verschleppung, die Repressionen durch die Nationalsozialisten, das (vor allen Dingen außereuropäische) Exil etc. hatten wiederum enorme Auswirkungen auf die literarische Produktion, so dass die beiden Daten 1918 und 1938/39 auch als literaturgeschichtliche Zäsuren ihre Berechtigung erhalten. Dies schließt jedoch weder Kontinuitäten, welche die ‚Epochengrenzen‘ überschreiten, aus, noch bedeutet es, dass die hier betrachtete Literatur einer ‚Generation‘ eine homogene Einheit darstellt,95 auch wenn sie gemeinsame Motive aufweist. Ingeborg Fiala-Fürst hat die Schwierigkeiten, die sich aus der Betrachtung einer heterogenen Literaturlandschaft in einem abgesteckten Zeitraum ergeben, in ihrer Untersuchung der expressionistischen ‚Prager deutsche Literatur‘96 auf den Punkt gebracht: Eine synthetische Arbeit, die den „Prager Expressionismus“ als ein abgrenzbares literarisches Phänomen innerhalb des deutschen literarischen Expressionismus charakterisieren würde, existiert, meines Wissens, bis heute noch nicht – nicht etwa deshalb, weil sich verhältnismäßig wenige Expressionismus-Forscher auch noch mit der Prager deutschen Literatur beschäftigen würden, sondern, weil man es bei einer solchen Fragestellung wagen müsste, sowohl die Prager expressionistische Generation als eine – im gewissen Sinne – geschlossene literarische Gruppe aufzufassen, als auch den literarischen Expressionismus als einen fest umrissenen literarischen Stil zu charakterisieren, was mit zunehmenden Forschungsergebnissen der letzten zwei Jahrzehnte immer schwieriger wird.97

Dasselbe gilt für die Zwischenkriegszeit, da von einer Homogenität der deutschsprachigen Literatur in der Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik auch in den 20er und 30er Jahren kaum die Rede sein kann, zumal viele der Autoren in die Weimarer Republik auswanderten und die Bildung von ‚Kreisen‘, ‚Zirkeln‘ und anderen literarischen Vereinigungen erheblich erschwert war (so schwand zu dieser Zeit z.B. 95

Vgl. Karrenbruch zur Problematik der Einteilung in Generationen und die Annahme ihrer Einheitlichkeit (z.B. bei Karl Mannheim: Das Problem der Generationen), denn damit „werde der Zeitlichkeitsaspekt ausgegrenzt, d.h. Brüche eher als Traditionen betont, Gegenwärtigkeit ebenso von Vergangenheit wie von Zukunft abgetrennt, das kulturelle Gedächtnis abgeschnitten.“ (Karrenbrock: Die „Junge Generation“ der Zwanziger Jahre, S. 106.)

96

Diese schließt in Fiala-Fürsts Verwendung des Begriffs durchaus auch deutschmährische

97

Fiala-Fürst: Der Beitrag der Prager deutschen Literatur, S. 10f.

Autoren wie Hugo Sonnenschein, Hermann Ungar und Ludwig Winder ein.

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auch der Einfluss von literarischen Treffpunkten wie der Lese- und Redehalle98 oder Kaffeehäusern).99 Auch was die Stilrichtung angeht, gibt es eine weitere Ausdifferenzierung der literarischen Strömungen: Während Motive des ‚Expressionismus‘ in einigen Werken noch präsent ist, werden diese in zunehmendem Maße durch neusachliche Einflüsse gebrochen, wodurch eine eindeutige Zuordnung der Literatur in eine der modernen literarischen Strömungen erheblich erschwert wird (vgl. Kapitel 4.2.1). Doch trotz der Heterogenität der Biographien der Autoren und ihrer Romane gibt es Gemeinsamkeiten in den Texten, die durchaus eine charakteristische, spezifische Komponente der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur der Zwischenkriegszeit darstellen und durch eine intensive Analyse aufgedeckt werden können. Es geht dabei nicht darum, zu zeigen, dass spezifische Themenfelder die Romane beherrschen, die anderen ‚Literaturen‘ fehlen, vielmehr speisen sich die inhaltlichen und formalen Aspekte, welche die Romane beherrschen, aus einem Themenreservoir, das für die mitteleuropäische Literatur der 20er und 30er Jahre paradigmatisch ist: dem Generationenkonflikt, der Zäsur des Kriegserlebnisses, Eros und Thanatos, der modernen Gesellschaft u.a. Die Eigenheit der deutschböhmischen und deutschmährischen Romane besteht vielmehr in der spezifischen Ausarbeitung, Gewichtung und Wahrnehmung der Phänomene durch die jeweiligen Protagonisten, die sich am Komplex des Individuums zwischen den Kollektiven in den Romanen festmachen lässt, wie in den Kapiteln 4 und 5 näher behandelt wird.

98

Vgl. zu der Geschichte und den Tätigkeiten der Prager Lese- und Redehalle ausführlich Čermák: Das Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle entstand 1848 und existierte bis zum Zweiten Weltkrieg, erlebte jedoch ihre Blüte um die Jahrhundertwende und hatte nach dem Ersten Weltkrieg vor allen Dingen mit einer „interne[n] Auseinandersetzung zwischen dem freisinnigen, liberal kosmopolitischen, humanistisch toleranten, überwiegend kulturell orientierten und dem deutsch-national, völkisch und antisemitisch, überwiegend politisch orientierten Flügel“ zu kämpfen. (Ebd., S. 157.) Diese Streitigkeiten, die „getreu das Drama der politischen Entwicklung in Mitteleuropa wider[spiegeln]“ (ebd.) führt Čermák ausführlich aus, an dieser Stelle sei lediglich darauf verwiesen, dass dieser Prozess die kulturelle Arbeit der Lese- und Redehalle in den 20er und 30er Jahren zugunsten einer stärkeren Politisierung entscheidend hemmte und sie nicht mehr an ihre die deutschsprachigen Künstler Prags zusammenführenden, umfassenden Tätigkeiten vor dem Ersten Weltkrieg anknüpfen konnte, was schließlich zu einer „Zersetzung und Umgestaltung“ der Halle seit 1921 führte (ebd., S. 164). Die Vertreter der jungen, nicht deutschnational eingestellten Schriftstellergeneration, so z.B. F.C. Weiskopf, begannen sich stärker an sozialistischen Vereinigungen zu orientieren. (Vgl. ebd., S. 160.)

99

Vgl. zur Bedeutung der Kaffeehäuser Prags für das kulturelle Leben vor dem Ersten Weltkrieg Tramer: Die Dreivölkerstadt Prag, S. 144ff.

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2.3.2 Keine Prager Schriftstellerinnen? Die einzige in dieser Studie ausführlich behandelte Autorin ist Alice Rühle-Gerstel, und sie ist noch dazu eine Schriftstellerin, die in kaum einer Veröffentlichung zur deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur auftaucht und dies, obwohl sie sich anhand ihres Lebenslaufes problemlos in die Reihe der jüngeren deutschböhmischen und deutschmährischenSchriftsteller, die in der Regel ohne Vorbehalte zur ‚Prager deutschen Literatur‘ gezählt werden, einfügt: 1894 wurde sie in Prag geboren, wo sie (mit Ausnahme von Schulaufenthalten in Dresden) auch aufgewachsen ist und schließlich studiert hat, bevor sie Anfang der 20er Jahre in die Weimarer Republik auswanderte und sich dort politisch in der kommunistischen Partei betätigte, um in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft nach Prag halb in die Heimat zurückzukehren, halb ins Exil zu gehen. Zudem war sie eng mit Milena Jesenská befreundet, deren Bedeutung und Einfluss auf Kafka allgemein anerkannt ist. Ein Grund für das Fehlen Alice Rühle-Gerstels in den Literaturgeschichten der böhmischen Länder mag dem Umstand geschuldet sein, dass ihr einziger Roman erst 50 Jahre nach seinem Entstehen und dem kurz darauf folgenden Selbstmord der Autorin erstmals veröffentlicht wurde und sie sich zu Lebzeiten eher als vor allen Dingen in der Weimarer Republik rezipierte Essayistin und Publizistin einen Namen machte.100 Ein anderer Grund mag der sein, dass es sich um eine Autorin handelt, die in einem literarischen Kontext, der ‚Prager deutschen Literatur‘, auftauchen müsste, bei dem sich die Forschung einig ist, dass es in ihm keine nennenswerten schreibenden Frauen gegeben habe,101 obwohl die Aufzählung der verschiedenen Prager Schriftstellerinnen, die etwa Northey als Beiträgerinnen zu der Prager Frauen-Zeitung (eine Beilage

100 Problemlos funktioniert dagegen die Einordnung Alice Rühle-Gerstels in die Exilliteraturgeschichtsschreibung, in der Schriftstellerinnen ohnehin eine entscheidende Rolle spielen. Vgl. hierzu Rohlf: Exil als Praxis. 101 Vgl. etwa Jäger: „Frauen, die schreiben, sind im pragerdeutschen Kontext zumindest quantitativ gesehen eine deutliche Minderheit; bekannt wurden lediglich drei Autorinnen einer älteren Generation, nämlich Auguste Hauschner, Ossip Schubin und Bertha von Suttner, sofern man Marie von Ebner-Eschenbach nicht auch im zumindest deutschböhmischen Sprachraum verorten möchte.“ (Jäger: Minoritäre Literatur, S. 249.) Wilma Iggers ist in einer Publikation der Frage nachgegangen, warum es kaum nennenswerte deutsch-jüdische Schriftstellerinnen aus Prag gab, und begründet dies mit der Gesellschaftsstruktur der deutsch-jüdischen Bevölkerung, in der Frauen immer noch ein traditionelles Rollenbild erfüllen mussten, das für kreative Prozesse in einer von Männern dominierten Literaturszene kaum Freiraum ließ. (Vgl. Iggers: 1913.) Takebayashi zitiert diese Frage in der Einführung zu ihrem Kapitel zu Auguste Hauschner und nennt sie

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der Deutschen Zeitung Bohemia zwischen 1905 und 1918) ausmacht, eindeutig dagegen spricht.102 Es gibt Versuche, die gängige Forschungsansicht zu korrigieren, allerdings bleiben diese zumeist unbefriedigend: Einer besteht darin, in einzelnen Studien lediglich Schriftstellerinnen abzuhandeln, wobei der Eindruck entsteht, es handele sich hierbei tatsächlich um eine Randerscheinung und ein gesondertes Phänomen.103 Zum anderen existieren Publikationen, in denen Autorinnen herangezogen werden, die eigentlich in die Darstellung nicht hineingehören, nur um nicht den Eindruck zu erwecken, dass Schriftstellerinnen bewusst ausgeschlossen werden; so z.B. in der Anthologie von Sudhoff und Schardt zu den Prager deutschen Erzählungen, in der Elisabeth Janstein vertreten ist, die nach Aussagen der Herausgeber in Wien wirkte und „nur durch ihre mährische Herkunft“ in den Kontext gehöre, jedoch aufgenommen wurde, „weil die Prager deutsche Literatur – aus welchen Gründen immer – kaum Autorinnen von wirklichem Rang hervorgebracht hat und die weibliche Perspektive hier doch nicht ganz fehlen soll.“104 Gelungener ist der Ansatz Christian Jägers, der in seiner Monographie ein Kapitel den ‚Pragerdeutschen Autorinnen‘ widmet, namentlich Marie Holzer, El Hor/ El Ha und ebenfalls Elisabeth Janstein. Zwar lässt sich auch bei ihm eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit der Frage des weiblichen Schreibens ausmachen, da er in der kurzen Einleitung des Kapitels in gewissem Sinne seinem Credo untreu wird, die autobiographischen Fakten der Autoren außen vor zu lassen: Er stellt die Weiblichkeit der Schriftstellerinnen in den Vordergrund, indem er den Anspruch formuliert, „eine halbwegs valente Aussage über die

berechtigt, thematisiert sie oder eine mögliche Antwort darauf jedoch nicht weiter. (Takebayashi: Zwischen den Kulturen, S. 189.) Auch Spector stellt sich die Frage, warum in der Prager Schriftstellergeneration und in ihrem gegenseitigen literarischen Austausch um 1900 kaum Frauen vertreten waren, ohne jedoch eine eindeutige Antwort zu finden: „Why those directly involved in these activities were all men is an interesting question, since gender has a central place in the way identity issues were inscribed in territorial terms for these writers.“ (Spector: Prague Territories, S. 18.) Vgl. auch die zeitgenössische Aussage Wolkans: „Auffallend, daß in der Gegenwart der Antheil der Frauen unserer Heimat an der Literatur fast mit einem Schlage aufhört; wie wir keine moderne Lyrikerin von Rang und Ansehen besitzen, so können wir auf dem Gebiete des Romans nur einen Namen nennen, Hedwig Teichmann (geboren 1875 in Buchbergstal in Schlesien) und auch sie gehört ihrer Darstellungsform nach mehr zur älteren Generation.“ (Wolkan: Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen und in den Sudetenländern, S. 136.) 102 Vgl. Northey: Die „Prager Frauen-Zeitung“, S. 164f. 103 Vgl. von der Lühe: Das große Weltgeschehen und die kleine Form. 104 Sudhoff/Schardt: Vorwort, S. 43.

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Bedeutung des qualitativ minoritären Status der Frauen zu gewinnen“.105 Dies setzt er glücklicherweise jedoch in den einzelnen Werkanalysen nicht konsequent um, so dass die Eigenheiten der Texte berücksichtigt werden, ohne jeweils Theoriemodelle des weiblichen Schreibens als Folie auf sie anzuwenden. An dieser Stelle soll wiederum anders mit dem Komplex umgegangen werden: Zum einen wird Alice Rühle-Gerstel nicht als Ausnahmeerscheinung und gesondert betrachtet. Es soll nicht in Frage gestellt werden, dass eine Analyse der Genderbezüge sowie des weiblichen Schreibens in der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur fruchtbar und notwendig ist. Dieser Themenbereich soll jedoch nur dort Gegenstand der Analyse sein, wo er bedeutsam erscheint für die Identitätsproblematiken der Protagonisten, weshalb er auch bei der Analyse von Alice Rühle-Gerstels Roman nicht allein in den Vordergrund rücken soll. Die einzige hier behandelte Autorin soll nicht in ihrer Sonderstellung exponiert, sondern gegenteilig eben in den Kontext der Literaturlandschaft eingeordnet werden. Aus diesem Grunde wird auf eine eindeutig genderbezogene Fragestellung in der Analyse von Rühle-Gerstels Roman Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit verzichtet106 und der Schwerpunkt auf die Aspekte gelegt, die den Roman primär als deutschböhmischen der Zwischenkriegszeit und nur sekundär als von einer Schriftstellerin verfasst auszeichnen. In Kapitel 5.7, das sich dem Roman im Detail widmet, stehen daher vor allen Dingen diejenigen Faktoren der Identitätsproblematik der Protagonistin im Vordergrund, die konkret mit ihrer besonderen Exilsituation zusammenhängen. Denn diese ergibt sich nur bedingt durch ihre Stellung als Frau, sondern vor allen Dingen durch die spezifische Herkunft der Protagonistin aus einem bikulturellen, gutbürgerlichen Elternhaus in Prag, ihrem Kampf für das Proletariat in der Weimarer Republik in den 20er Jahren und ihrer Rückkehr in der Mitte der 30er Jahre nach Prag ins Exil, wo sie, zerrissen zwischen den anderen Exilanten und ihren alten Prager Freunden, den Kommunisten

105 Jäger: Minoritäre Literatur, S. 249. Bei der Analyse der Texte der männlichen Autoren stehen biographische Faktoren, die zu ihrem minoritären Status beitragen, so z.B. das Judentum bei vielen Schriftstellern, nicht oder nur dort im Vordergrund, wo die Texte explizit darauf verweisen. 106 Dass ein solcher Ansatz durchaus auch seine Berechtigung hat, soll deswegen nicht unterschlagen werden. Sabine Rohlf etwa hat unter besonderer Berücksichtigung des Gender-Aspekts in dem Roman interessante Ergebnisse erzielt. (Vgl. Rohlf: Exil als Praxis.) Viele Aspekte der Identitätsproblematik der Protagonistin lassen sich in einen Kontext einordnen, der laut Bütfering paradigmatisch für weibliches Schreiben ist, nämlich die Bezugnahmen auf „Selbstfindung und Selbstvergewisserung in der Fremde, die Suche nach Heimat und Identität in unterschiedlichen, in jedem Fall aber patriarchalen Kulturen, die Auseinandersetzung mit der Herkunftsfamilie, insbesondere mit der Rolle der Mutter“. (Bütfering: Frauenheimat Männerwelt, S. 429.)

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und den Intellektuellen, ihrem politischen Kampf und ihren privaten Gefühlen, nach ihrer Bestimmung und ihrer Heimat sucht. Zum anderen soll jedoch auch die Tatsache nicht verschleiert werden, dass es in Böhmen und Mähren verhältnismäßig wenig schreibende Frauen gegeben hat, vor allen Dingen wenige, deren Texte schließlich tatsächlich publiziert und rezipiert wurden. Wilma Iggers gibt einen möglichen Grund an, warum so wenige Werke von deutschsprachigen Frauen aus Prag existieren: In the writings of each of the [Prague German-Jewish] women who moved to other cities we can find remarks about the stifling atmosphere of the Prague Jewish society which they had left behind. From their memoirs and autobiographical fiction, we learn that unlike their male relatives, their contacts had been limited to the Jewish society from which they came. Since only a few of them gradually succeeded in going to university or in pursuing an artistic career, and even taking a job was threat to the prestige of a good middle class family, the majority seem to have lived in a sort of holding pattern, a purposeless limbo, waiting to be matched with the socially and economically right husband.107

Aus dieser Situation heraus erklärt sich die Unterrepräsentation von Autorinnen in der Erforschung der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur und auch im Rahmen dieser Studie, zumal darauf verzichtet wurde, Autorinnen und Texte hinzuzuziehen, die nicht in das Textkorpus passen, weil sie nicht in der Zwischenkriegszeit entstanden sind oder aber weil sie eigentlich der deutschen oder österreichischen Literatur sehr viel eher zugeteilt werden müssten.

2.4 R EGION

UND

R AUM

Mit der Bezeichnung deutschböhmische und deutschmährische Literatur statt ‚Prager deutsche‘ und ‚sudetendeutsche‘ Literatur wird zwar den politischen und ästhetischwertenden Implikationen sowie der Zentrum-Peripherie-Dichotomie entgangen, auf den regionalen bzw. lokalen Bezug wird dennoch nicht verzichtet. Diese Untersuchung geht davon aus, dass die Spezifika der hier untersuchten Literatur konkret mit der politischen und historischen transkulturellen Situation der Region zusammenhängen. Welche Bedeutung die einzelnen geschichtlichen Ereignisse und das multinationale Zusammenleben in Böhmen und Mähren für die Entstehung der Romane gehabt hat, wird in Kapitel 3 ausführlich behandelt. An dieser Stelle soll jedoch kurz zum einen auf die Methodik der Regionalliteraturgeschichtsschreibung und die Frage, inwiefern sie hier angewendet werden kann, eingegangen werden und zum

107 Iggers: Women of Prague, S. 25f.

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anderen darauf, welche Konfigurationen die realen und imaginierten Räume Böhmens und Mährens in den Texten erhalten, wobei davon ausgegangen wird, dass es sich hierbei um eine „soziale Produktion von Raum als einem vielschichtigen und oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess [handelt], eine Dynamik sozialer Beziehungen, die auf die Veränderbarkeit von Raum hindeuten.“108 Auch die Darstellung von Segregation und Machtstrukturen im Raum ebenso wie Identifikationsangebote und -verweigerungen einer ‚Heimat‘ oder ‚Anti-Heimat‘ und die Dynamik des Raums durch die Prozesse der Moderne verweisen auf die Problematiken des Individuums in den Romanen. 2.4.1 Literatur einer Region, Regionalliteratur oder ‚regional turn‘? Das Konzept der Regionalliteratur, wie sie bislang von der Forschung häufig definiert wurde,109 ist für diese Untersuchung und allgemein für eine Betrachtung der heterogenen deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur nur bedingt relevant, da dieser Forschungsbereich, wie der Name bereits sagt, den Fokus zu sehr auf die explizit regionalen Aspekte einer Literatur (ihre Entstehungsbedingungen, den Literaturbetrieb, die thematischen und sprachlichen Eigenheiten einer Region, den Heimatkomplex etc.) legt, um den Werken in ihrer Bedeutung und ihrem Aktualitätsbezug auch im überregionalen Kontext sowie in Bezug auf ihre Verortung innerhalb der Literaturgeschichte der deutschsprachigen Literatur der Moderne gerecht zu werden. Zudem geht mit dem Begriff der Regionalliteratur häufig eine pejorative Komponente einher, wie Fiala-Fürst in Bezug auf die literaturwissenschaftliche Behandlung der deutschmährischen Literatur ausführt: Es ist wohl eine genuine Eigenschaft der zentralen/nationalen Literaturgeschichtsschreibung, der Hüterin des Kanons […], Erscheinungen der regionalen Literatur pauschal und en gros mit Zuweisungen wie Heimatliteratur, folkloristisch bzw. ethnographisch orientierte Literatur, Trivial- und Gebrauchsliteratur zu bedenken, um sie dann desto einfacher an den Rand, ins künstlerisch unzureichende, eben Provinzielle zu drücken. Der – scheinbar – nicht wertende Begriff Region verschmilzt mit dem offen wertenden Begriff Provinz und wird zum Stigma.110

108 Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 289. 109 Egal, ob sie regionalistische oder regionalisierte Literatur, regionale Literatur (kleingeschrieben) oder Regionale Literatur (großgeschrieben) genannt wird. (Vgl. zu diesen Bezeichnungen mit Bezug auf Joachimsthaler Krappmann: Komplexität, Schlichtheit und Abstraktion, S. 29.) 110 Fiala-Fürst: Was ist „deutschmährische Literatur“?, S. 21.

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Selbstverständlich spielt das Regionale der hier behandelten Literatur eine zentrale Rolle, indem die Sozialisation in Böhmen und Mähren und die spezifische historische Situation, aus der die Romane heraus entstanden sind, in die Texte gleichsam eingeschrieben sind, jedoch wäre es verkürzt, sie lediglich als Bestandteile einer Provinzliteratur zuverstehen.111 Die methodischen Ansätze der Regionalliteraturschreibung greifen zu kurz, da die Texte zu wenig unmittelbare regionale Bezüge aufweisen und die Autoren in ihrer Biographie zu heterogen sind: Zwischen den Großräumen Böhmen und Mähren (und ebenso zwischen ihren Städten und Landschaften) können regionale Unterschiede ausgemacht werden, welche die sozialen, politischen und nationalen Strukturen betreffen, die wiederum die Literatur stark beeinflussen; viele der Autoren waren zwar untereinander bekannt, jedoch kann in den 20ern und vor allen Dingen in den 30er Jahren nicht mehr von Literaturzirkeln gesprochen werden, wie sie für das Prag der 10er Jahre bekannt sind; viele der Autoren verließen Prag und siedelten sich in verschiedenen Städten der Weimarer Republik an, einige kehrten nach 1933 zurück, andere gingen in weitere, zunächst meist europäische Exile und der Großteil der Autoren war zudem nicht auf regionale Distributionsmärkte angewiesen, sondern hatte literarischen und publizistischen Erfolg auch im Deutschland der Weimarer Republik. So ist davon auszugehen, dass eine Untersuchung anhand derjenigen „Forschungsinstrumente“, die etwa Mecklenburg für die deutschsprachige Literatur im Ausland anrät,112 nur bedingt Aussagekraft über die deutschböhmische

111 Vgl. Mecklenburg zur Semantik des Begriffs Provinz, der, ursprünglich als wertneutraler terminus technicus aus dem lateinischen provincia eine ‚verwaltungstechnisch-topographische‘ Bezeichnung, im Zuge der Modernisierung und der Dichotomisierung Provinz – Zentrum zu einem stark wertenden Begriff wurde: „Die für die soziale Evolution, besonders für die Entstehung der Kultursphäre grundlegende Scheidung von Stadt und Land prägt eine semantische Opposition, die Stadt, Residenz, Metropole als Träger des fortschreitenden Zivilisationsprozesses und Land, Provinz als rückständigen, zurückgebliebenen Bereich erscheinen läßt. […] Als literaturpolitisches Schlagwort ist ‚Provinz‘, negativ oder positiv gebraucht, zum Inbegriff der Gegenmoderne geworden, da sich die literarische Moderne mit der Großstadt eng verbunden hat.“ (Mecklenburg: Erzählte Provinz, S. 16.) 112 Vgl. Mecklenburg: „So wäre […] die Bedeutung von Mundart, Zwei- und Mehrsprachigkeit zu analysieren in Verbindung mit Linguistik und Komparatistik, die Bedeutung von mündlicher Überlieferung und Kommunikation in Verbindung mit Volkskunde und moderner ‚orality‘-Forschung, die Bedeutung des Mediensystems für die regionale Literaturszene mit Hilfe von kommunikations- und medienwissenschaftlichen Ansätzen, die Bedeutung der Literatur für die soziale Identitätsbildung und -erhaltung in Verbindung mit Kulturanthropologie und Sozialpsychologie, die Bedeutung der Religion […] in Ver-

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und deutschmährische Literatur hätte, indem sie den Kern der Texte nur zum Teil ergreifen könnte. Diese Aspekte, die linguistische, soziale und produktionsbedingte Gesichtspunkte einschließen, sind für die Analyse der Romane zwar teilweise fruchtbar, sie greifen jedoch in ihrem rein regionalen Bezug nicht weit genug, um der heterogenen deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens, die keinen so starken Inselcharakter wie teilweise behauptet besitzt,113 zu erfassen. Ebenso bedeutsam ist auch eine Einbettung der Literatur in ihren gesamtliteraturgeschichtlichen Raum, d.h. ihre Verortung innerhalb der deutschen Literaturgeschichte und eine Betrachtung der intertextuellen und interkulturellen Bezüge, welche die einzelnen Romane zur Kulturgeschichte ihrer Zeit im überregionalen Rahmen einnehmen; dazu gehört z.B. das Aufgreifen von psychoanalytischen Erkenntnissen, Massenphänomenologien, des Generationenkonfliktes, des Bildes der ‚neuen Frau‘ etc., die auf deutsche bzw. europäische Kontexte verweisen. Dies schließt nicht aus, dass eine ‚regionale‘ Spezifik der Texte existiert, die jedoch ohne das Aufgreifen einer weiteren, überregionalen Kulturtradition nicht erfasst werden kann. Zudem sind die deutschböhmischen und deutschmährischen Romane zwar politisch wie thematisch sehr heterogen, gemeinsam ist ihnen jedoch der Umstand, dass sie sich von dem ‚typischen‘ Untersuchungsgegenstand der regionalen deutschsprachigen Minderheitenliteratur im Ausland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark unterscheiden. Diesen charakterisiert Mecklenburg für seine regionalen Schwerpunkte Nordschleswig, Südtirol, Rumänien und Elsass folgendermaßen: Auch wenn es verfehlt wäre, die deutschen Literaturen im Ausland mit ‚Heimatkunst‘ zu identifizieren, so dürfte doch, wie viele Hinweise in den einschlägigen literarhistorischen Bestandsaufnahmen zeigen, ein erheblicher Teil dieser Strömung zuzuordnen sein. Überall finden sich Autoren und Autorengruppen einer anspruchslosen, regional orientierten Kleinkunst, deren

bindung mit der Kirchengeschichte, die Bedeutung des politischen Schicksals der ‚auslandsdeutschen‘ Regionen vor und nach 1945, das vielfach tabuisiert und verdrängt wird, in Verbindung mit der Geschichtsforschung usw.“ (Mecklenburg: Die grünen Inseln, S. 272f.) Auf den Umstand, dass beim Großteil der Methoden, die zur Untersuchung der ‚Regionalliteratur angewendet werden, die Literatur selbst häufig aus dem Blickfeld gerät, indem der Fokus auf die Literaturproduktion und die Sozialgeschichte gelegt wird, haben bereits Krappmann und Weinberg hingewiesen (vgl. Krappmann/Weinberg: Region – Provinz, S. 5.). 113 Kritik an dem Modell der sprachlichen Isolation der deutschsprachigen Autoren äußert z.B. Binder: Entlarvung einer Chimäre. Zur Kritik an Paul/Pavel Eisners Theorie des dreifachen Ghettos für die bürgerlichen, deutschen und jüdischen Schriftsteller in Prag vgl. z.B. Hohmeyer: „Böhmischen Volkes Weisen“, S. 324f. und Mareček: Im Banne des Heimat-Diskurses, S. 129f.

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Merkmale Konservatismus, Traditionsorientierung, Gebrauch ‚klassischer‘ Dichtersprache und ‚volkstümlicher‘ Formen und Motive, Lobpreis ‚ewiger Werte‘, Heimat- und Brauchtumspflege, Erhebung dörflicher und kleinstädtischer Provinz zum gültigen Sozialmodell, Hinwendung zu Natur und Landschaft, Tendenz zu idyllischer Ausblendung der sozialen, politischen und geistigen Phänomene und Konflikte der Zeit sind.114

Dies trifft auf die hier behandelte Literatur nicht zu, selbst die deutschnationale (Grenzland)Literatur Böhmens und Mährens gehört nicht in diese Kategorie, eine Ausblendung der politischen Situation etwa kann ihr wohl kaum unterstellt werden. Der Umstand, dass die deutschböhmischen und deutschmährischen Romane hier nicht mithilfe des Begriffes der Regionalliteratur umschrieben werden, der häufig an Provinzliteratur und/oder Heimatliteratur erinnert und mit diesen gleichgesetzt wird, bedeutet jedoch nicht, dass der regionale Aspekt und auch der Begriff der Heimat, sofern sie in den hier behandelten Romanen eine zentrale Rolle spielen, ausgeklammert werden sollen (vgl. Kapitel 4.1.3 zur Heimat). Dass es grundlegend falsch wäre, die Texte aus ihrem regionalen Kontext komplett herauszulösen und, wie dies häufig vor allen Dingen bei Kafka vorgenommen wurde, die Texte der gemeinhin als ‚Prager deutsche‘ verstandenen Literatur als Sonderphänomen und Weltliteratur zu betrachten, die losgelöst von einer Kenntnis ihres sozialgeschichtlichen, kulturellen und literarischen Entstehungszusammenhanges, der eben auch stark regionalistische Züge trägt, interpretiert werden können, ist bereits zum Gegenstand erster Untersuchungen geworden, die sich einer theoretischen Neuverortung der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur gewidmet haben.115 Jörg Krappmann setzt für eine sinnvolle Regionalliteraturforschung Komplexität (d.h. das Aufdecken des heterogenen Geflechts der kulturellen Begegnungen und Auseinandersetzungen sowie der Einzelheiten und Eigenarten der unterschiedlichen Texte und kulturellen Kommunikation), Schlichtheit (im Sinne einer Anbindung der Texte an die gängigen Interpretationsmodelle der Literaturwissenschaft, ohne sich in einem Chaos der Neuzuschreibungen und Kategorisierungen zu verlieren) und eine daraus folgende notwendige, aber nicht die Tatsachen verschleiernde Abstraktion voraus.116 Die Notwendigkeit, durch einen denkbaren ‚regional turn‘ die Regionalliteratur von ihrem Stigma der provinziellen, trivialen Heimattümelei zu befreien und sie in ihrer Heterogenität zu würdigen, ist offensichtlich und birgt für die Literatur- und Kulturwissenschaft ein nicht unerhebliches Potential, das die Region nicht mehr als eindimensional, sondern als vielstimmig kennzeichnen würde und hierdurch komplexe Dynamiken aufdecken könnte:

114 Mecklenburg: Die grünen Inseln, S. 271. 115 Vgl. Voda Eschgfäller/Horňáček (Hrsg.): Regionalforschung zur Literatur der Moderne. 116 Vgl. Krappmann: Komplexität, Abstraktion und Schlichtheit.

76 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN R AUM Im Fall der regionalen Literaturforschung nämlich würde möglich, was sich bei größeren Horizonten nicht bewerkstelligen lässt: Eine „Andacht zum Unbedeutenden“ als eigene Qualität in dem Sinne, dass sich regional betrachten lässt, was national oder weltliterarisch schlicht unbeobachtbar bleiben muss.117

Das Eingehen auf die regionalen und auf die Heimat bezogenen Aspekte der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur ist weder darauf aus, diese Texte im politischen Sinne in eine als konservativ oder deutschnational konnotierte Heimatliteratur, ‚sudetendeutsche‘ Literatur o.ä. zu integrieren oder sie in diesem Sinne zu instrumentalisieren, noch bedeutet es, dass die Texte auf diesen Aspekt reduziert werden. Libuše Moníková kritisiert in Pavane für eine verstorbene Infantin diejenige Kafka-Rezeption, welche sich einer Interpretation verweigert, die auf die Verankerung von Kafkas Texten innerhalb ihres historischen und regionalen Entstehungszeitraums aufmerksam macht. Die Protagonistin thematisiert ihre Erfahrungen in einem literaturwissenschaftlichen Seminar: Wenn ich [den Studenten] einen Text gebe, z.B. ‚Die kaiserliche Botschaft‘, und sie frage, wo er spielt, transponieren sie die Geschichte sofort auf eine symbolische Ebene, erinnern sich, was sie über Kafka gehört und gelesen haben – seine Transzendenz, seine Metaphysik –, und sind nicht imstande, den konkreten Inhalt zur Kenntnis zu nehmen. Auch wenn ich ihnen die Merkmale aufzähle: der Kaiser, das Sonnenzeichen auf der Brust des Boten, die Residenzstadt, die Menschenmassen, das Reich, die Mitte der Welt – weigern sie sich, es mit irgendeiner Realität in Verbindung zu setzen. Es geht ja nicht darum, daß das alles ist.118

Mit diesem Zitat, insbesondere mit dem letzten Satz, begründet bereits Weinberg seine Analyse von Kafkas Stadtwappen, in der er auf den konkreten Bezug des Textes zur Stadt Prag verweist.119 Es geht somit um eine Rückführung der Texte in ihren

117 Weinberg: Region, Heimat, Provinz und Literatur(wissenschaft), S. 53. Vgl. zum Potential der Betrachtung des ‚Partikularen‘ auch Alt: „Weil Philologen auf die Mikrologie der Textverknüpfung, weniger auf die Weiträumigkeit ihrer Forschungsperspektiven achten, gelten sie in der Regel als geistlose Pedanten. Wer die Philologie gegen derartige Kritik sicherstellen möchte, muß folglich das induktive Denken und die mit ihm verbundene Hochschätzung des scheinbar Partikularen aus seiner inneren Erkenntnislogik abzuleiten suchen.“ (Alt: Verheißungen der Philologie, S. 9.) 118 Moníková: Pavane für eine verstorbene Infantin, S. 58f. 119 Dabei geht es Weinberg „ganz und gar nicht um den Nachweis, dass Kafkas Texte durchgängig von Prag handeln“ (Weinberg: Die versäumte Suche nach einer verlorenen Zeit, S. 10), sondern um eine differenziertere Betrachtung der Texte unter Berücksichtigung ihres Entstehungskontextes, der nicht einfach ignoriert werden darf: „Dabei behauptet ja

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regionalen und historischen Bezugsrahmen, ohne diesen jedoch als einzigen Interpretationsfaktor geltend zu machen und dadurch den Text in die ‚Provinz‘- oder Regionalliteratur einzuordnen, ohne also einen ausschließlichen Besitzanspruch an den Text zu formulieren. Während einerseits somit der Blick von der reinen Verortung der Texte in ihrem regionalen Rahmen auf ihre Einbettung in die Literatur der Moderne ausgedehnt wird, soll andererseits der inhärente Bezug der Romane auf Böhmen und Mähren durchaus sichtbar gemacht werden. Dass die Romane nicht nur als Einzelwerke oder als ‚Weltliteratur‘ ohne unmittelbaren regionalen Kontext, sondern als Bestandteil einer Literaturlandschaft begriffen werden können, und die Sozialisation der Autoren in einem interkulturellen Raum, die tagespolitischen Ereignisse und politischen Ideologien in sie eingeschrieben sind, lässt sich anhand von Paul Kornfeld aufzeigen: In Bezug auf seinen späten und einzigen Roman Blanche oder Das Atelier im Garten wurde von der Kritik im Gegensatz zu der Bewertung seiner politischen, expressionistischen Dramen des Öfteren zu Recht sowohl bemerkt, dass er „mitunter ein wenig windstill und artifiziell“120 wirke als auch, dass „[a]ktuelle Tagesereignisse oder politische Probleme […] ausgeklammert“121 seien. Doch trotz der fehlenden konkreten Bezugnahme auf diese Bereiche kann der Roman dennoch nicht nur als ein Ergebnis seiner Zeit, sondern auch als ein Produkt der Wahrnehmung des Nationalitätenkonflikts in Böhmen und Mähren gelesen werden. Ein Zitat Paul Kornfelds sei an dieser Stelle genannt, um dreierlei zu illustrieren: Wie eng für Kornfeld Kunst und Zeitgeschehen verschmolzen sind, obwohl er sich in seinen Texten nicht wie andere Expressionisten konkret politisch engagiert,122 welche Haltung er im Hinblick auf Nationalismus und Grenzen einnimmt und inwiefern sich dies auch auf seinen späten Roman auswirkt. In seinem ‚Manifest zum Expressionismus‘123 Der beseelte und der psychologische Mensch, in dem es ebenso um tagespolitische Ereignisse und Weltanschauung wie um die Aufgabe der Kunst geht, schreibt Kornfeld 1918:

zumindest heute niemand mehr, dass man Kafkas Texte umfassend aus Prag heraus erklären könne oder dass das alles ist. Statt um eine Wiederbelebung des Theoriedesigns marxistischer Literaturwissenschaft geht es vielmehr darum, eben in der Struktur Kafkascher Texte den besonderen trans- oder plurikulturellen Kontext ihrer Entstehung mit reflektiert zu sehen.“ (Ebd., S. 18, kursiv im Original.) 120 Lenz: Weltflucht mit Komfort, S. 163. 121 Müller: Zu Paul Kornfelds postum erschienenem Roman, S. 171. 122 Vgl. Chołuj: Paul Kornfeld, S. 58. 123 So bewertet Maren-Grisebach den Essay, vgl. Maren-Grisebach: Kornfelds Manifest, S. 45.

78 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN R AUM Heute, da alles zusammengebrochen ist, da die Grenzen der Staaten Grenzen zwischen Menschen geworden sind, da Alle so merkwürdige Unterschiede zwischen Mensch und Mensch zu machen, sich angewöhnt haben, […] da selbst der Katholizismus zu erkennen meint, daß sich die Menschheit in Nationen einteilt, und solch schauerliche Worte, wie „Nationalitätenprinzip“ und „Interessensphäre“ gleichsam die Titel unserer Zeit zu sein scheinen, heute, da alles getrennt ist, was verbrüdert war, und was verbrüdert ist, es nur zum Schein ist, da alle Vereine, Vereinbarungen und Konferenzen der Vergangenheit sich als teuflische Farce zu erkennen geben, […] heute, in diesen Tagen der Katastrophe […] ist es an der Zeit, einzusehen, daß dieser Weg es nicht ist, der uns gegeben ist, daß er die wahren Wege verschüttet und die wahren Ziele verschleiert.124

Diese Passage, beinahe 15 Jahre vor der Arbeit an Blanche verfasst, bietet interessante Interpretationsansätze für Kornfelds Roman, indem gerade die Themen von Grenzen zwischen Menschen, Interessenkämpfen, Selbstsucht und dem Verlust der wahren Werte und Ziele in diesem ‚zeitlosen‘ Roman auch ohne direkten tagespolitischen Bezug verhandelt werden und der Zustand der Gesellschaft kritisiert wird. Die Ausgangsproblematik der Figuren in dem Roman ergibt sich aus der Isolation des Individuums, das keine Bindung und kein Verständnis für seine wahren Gefühle erfährt, da bürgerliche Zirkel vermeintliche Zugehörigkeit suggerieren und sich dennoch als gesellschaftliche Farce herausstellen in einer Welt, in der jeder nur seine eigenen Interessen verfolgt. Die Aufgabe der Kunst besteht darin, die Missstände aufzudecken, doch sie tut dies auf ihre eigene Weise, die ‚artifiziell‘ wirken kann. Der Roman greift keine nationalen und politischen Konflikte auf, er entwirft dennoch ein desillusionierendes Bild einer Gesellschaft, das aus der in Der beseelte und der psychologische Mensch thematisierten Entfremdung der Menschen durch Grenzziehungen, welche die wahren Werte verschleiern, resultiert und ist demnach ein Produkt seiner Zeit und Region, auch wenn dies im Roman nur indirekt aufscheint. Die kritische und von persönlichen Erlebnissen gezeichnete Haltung zur Entwicklung des ‚Nationalitätenkampfes‘ in Böhmen und Mähren vor und nach dem Ersten Weltkrieg und die Wahrnehmung und Verdammung der Konsequenzen aus wachsendem Nationalismus wie Chauvinismus, Antisemitismus, Egoismus, mangelnder Kommunikationsbereitschaft, Exklusion, Hass und Massenhysterie lassen sich in all den hier behandelten Romanen ablesen, wenn auch die Art und Weise, wie diese Komplexe behandelt werden, stark differiert zwischen indirekter und direkter Thematisierung, Fiktionalisierung der Ereignisse, teils auch mithilfe von Verfremdungseffekten, autobiographischen Bezügen oder Verortung der Erzählhandlung in historische Szenarien, die einen mehr oder weniger stark vorhandenen Schlüsselcha-

124 Ebd., S. 36f. Vgl. zur politischen und ideologischen Einstellung Kornfelds nach dem Ersten Weltkrieg auch Haumann: Paul Kornfeld, S. 675ff.

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rakter tragen. Damit verweisen die deutschböhmischen und deutschmährischen Romane implizit oder explizit sämtlich auf ihren Entstehungszusammenhang innerhalb der literarischen Region, wobei in einigen Romanen die Orte und Räume der Handlung eine spezifische identitätsstiftende Funktion einnehmen. 2.4.2 Topographien der Region „Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen“, schreibt Musil in seinem Mann ohne Eigenschaften. Doch fügt er hinzu: „Die Überschätzung der Frage, wo man sich befinde, stammt aus der Hordenzeit, wo man sich die Futterplätze merken mußte. […] Es lenkt von Wichtigerem ab.“125 Der Name der Stadt Wien wird auf der ersten Seite des Romans genannt, auf der zweiten Seite dagegen wird betont, dass „auf den Namen der Stadt kein besonderer Wert gelegt werden [soll]“.126 Martens gibt an, Musil stelle hiermit „das Bedürfnis nach pragmatischer Orientierung (und somit ein organisch-essentialistisches Verständnis der Begriffe Heimat, Verwurzelung, Ursprung, Urwüchsigkeit, Identität, Nationalität und Zugehörigkeit) an den Pranger“.127 Nicht nur der Ort löst sich vermeintlich auf, sondern auch die Identität der Figuren und ihr Verhältnis zur Realität wird im ersten Kapitel in Frage gestellt: Die beiden Spaziergänger, die eingeführt werden, nehmen die Attribute der lauten, ungeordneten, chaotischen und gleichzeitig von Traditionen und Mythen determinierten Großstadt128 nicht wahr, sie empfinden sich als Teil dieser Stadt und ebenso, wie sie wissen, wo sie sich befinden, sind sie sich ihrer Identität, ihres Namens und ihres sozialen Standes bewusst, die sie „in der feinen Unterwäsche ihres Bewußtseins“ tragen.129 Dennoch erfährt der Leser nicht, wer sie sind, sie bleiben anonym und hierdurch wird ihr Bewusstsein über ihre eigene Identität in Frage gestellt. Ihr Name ist wie derjenige der Stadt unwichtig, doch auch die Realität ihres Wesens wird

125 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 9f. 126 Ebd., S. 10. 127 Martens: Beobachtungen der Moderne, S. 264f. 128 Vgl. Musil: „Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, und glich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht. Die beiden Menschen, die darin eine breite, belebte Straße hinaufgingen, hatten natürlich gar nicht diesen Eindruck.“ (Musil: Mann ohne Eigenschaften, S. 10.) 129 Ebd.

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nivelliert, da sie über diese, ebenso wie über die wirkliche Beschaffenheit der Stadt im Zweifel sein können. Die feste Zuschreibung von Bezeichnungen des Ortes oder der Initialen, welche die Figuren auf ihrer Wäsche tragen, erhalten damit eine Arbitrarität, die essentialistische Deutungen ad absurdum führt. Doch was hat dies nun mit der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur zu tun (außer, dass auch Musil in gewissem Sinne ein Deutschmährer ist)? Es geht darum, zu hinterfragen, inwiefern Identitäten über Ortzuschreibungen, Benennungen und Wahrnehmungen festgeschrieben werden können oder ob Orte, Begriffe, Identitäten dynamisch sind, abhängig vom Standpunkt des Betrachters und in jedem Falle konstruiert. Die Frage nach der Bedeutung von Räumen und ihrer Wahrnehmung in einer multikulturellen Region wie Böhmen und Mähren ist stark von der Definition von Kulturräumenabhängig. Joachimsthaler versteht unter einer Region ‚einfach‘ eine Kulturraumverdichtung (von denen sich mehrere an einem Ort überlagern können), die von Individuen als Anlaß zur sie ein- und zuordnenden Konstruktion regionaler Identitäten genutzt wird, indem sie den Räumen (mindestens) einen zur identitätsprägenden Identifikation einladenden Sinn zuschreiben.130

Der eine Raum Böhmen und Mähren existiert dementsprechend nicht. Stattdessen ist es durch die Überlagerung verschiedener Kulturräume und die möglichen identitätsstiftenden Sinnzuschreibungen für eine differenzierte Sicht auf den Raum notwendig, verschiedene Ausformungen von Literatur in einer Region zu beobachten, ohne einer von ihnen den Vorrang vor den anderen zuzusprechen. Sie alle tragen zu dem facettenreichen Bild der kulturellen Eigenheit der Region bei, die jeweils unterschiedlich wahrgenommen, fiktionalisiert und instrumentalisiert wird. Für den konkreten Fall Böhmen und Mähren bedeutet dies z.B. auf den Kontrast der deutschnationalen und nicht-deutschnationalen Literatur bezogen, dass die Heimat Böhmen und Mähren eine identitätsstiftende Funktion im einen Fall als Sinnbild für den nationalen Kampf und die eigene nationale Identifikation einnehmen, im anderen Falle jedoch als Ort der Zerrissenheit und der Absenz kollektiver Integration, gleichsam als Heimat in der Heimatlosigkeit erhalten kann. Dies äußert sich auch in der topographischen Beschreibung des Raums. So durchwandert der Protagonist in Rothackers Das Dorf an der Grenze die Landschaft um das Dorf Schatzdorf/Skopolnica. Seine Streifzüge gelten jedoch nicht einem Naturerlebnis der Heimat, sondern die Entdeckung einer ‚Heidenkanzel‘ und eines ‚Mönchsgrabens‘ haben stattdessen die Funktion, den Boden wieder an das deutsche Volk zu binden und hierdurch eine Einheit zwischen Bewohnern und Land zu formieren, die für den nationalen Kampf instrumentalisiert wird:

130 Joachimsthaler: Literarisierung einer Region, S. 30.

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Eine große Mannigfaltigkeit tat sich da vor uns auf, und wenn wir beisammen saßen und ich erzählte, da wurden sie alle lebendig und eifrig, und Heimat und Boden begannen mit einem Male zu reden. Hundert gute Geister belebten die Fluren, und aus der Freude über das Eigene und Besondere sprang ein starker Quell heimatlicher Liebe.131

Die Gegend selbst wird als kärglich und unwirtlich beschrieben, die deutschen Namen der verschiedenen Orte jedoch verursachen durch ihre nationale Konnotation Heimatgefühle. Die Benennung und ritualisierte Verwendung des Raums schafft eine essentialistische Eindeutigkeit der Zuschreibung und durch die diskursive Verbindung mit Besitzansprüchen wird eine Identitätseinheit zwischen Boden und Volk hergestellt, ein kollektives Empfinden abseits von individuellen Wahrnehmungen und Gefühlen, die mit der Landschaft verbunden sind. Ganz anders dagegen ist die Erfahrung der Protagonistin in Alice Rühle-Gerstels Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit mit dem böhmischen Wald, in der sich Hannas Persönlichkeit spiegelt. Sie nimmt den Geruch und das Gefühl des Waldbodens in sich auf, er wirkt zugleich heimatlich und bedrohlich. In seiner Mehrdeutigkeit, die nicht durch eindeutige Benennung des Raums, sondern durch eine von nicht gänzlich rational greifbaren Gefühlen beeinflusste Beschreibung der Natur charakterisiert ist, korreliert der böhmische Wald mit den multiplen Facetten von Hannas Persönlichkeit. Insbesondere Prag wird in den deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen zum Ort der Handlung, der nicht nur als Heimat und Sozialisationspunkt der Protagonisten, sondern vielmehr noch als Identifikationsfaktor das Handeln und Schicksal der Figuren von Beginn an determiniert.132 Am offensichtlichsten ist dies in Natoneks Roman Kinder einer Stadt, in dem der Autor bereits im Titel die enge Korrelation zwischen Raum und Identität der Protagonisten verdeutlicht, so wie dies Ödön von Horváth in seinem Exilroman Ein Kind unserer Zeit 1938 mit der historischen Komponente macht. Die Kinder in Natoneks Roman reifen schließlich heran und verlassen Prag, um in der Weimarer Republik Karriere zu machen, sie bleiben

131 Rothacker: Das Dorf an der Grenze, S. 131. 132 Auf die Häufigkeit der Verarbeitung der Jugend und Kindheit bei den Prager Autoren wurde des Öfteren aufmerksam gemacht und den Autoren wird hierin gar eine besondere Reife zugesprochen: Vgl. Reffet: „Die Jugendeindrücke sind tatsächlich entscheidend für die Wiedergabe des für den modernen Roman unentbehrlichen Milieuhintergrunds und für die Stimmung der Erzählungen. In diesem Punkt sind die Prager Romane bei aller Jugendthematik äußerst „mündig“. Sie sind es in der Beschreibung des Milieus und Heraufbeschwörung der Atmosphäre ihrer Stadt. Außerdem ist darin das Empfinden für den sozialen Hintergrund durch den Kontakt zu der tschechischen Volksmehrheit genauer ausgeprägt als bei den anderen Autoren deutscher Zunge.“ (Reffet: Die Eigenständigkeit des Erzählstils in der Prager deutschen Literatur, S. 77.)

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jedoch auch dort dauerhaft von ihrer Herkunft abhängig und können sich von ihr nicht lösen, da ihr gesamtes Sein aus der Sozialisation im Vorkriegsprag resultiert und die Erfahrungen in der Stadt sich unwiderruflich in ihre Identität eingebrannt haben. Vera Schneider macht auf die Etymologie des Stadtnamens Prag/Praha aufmerksam und verknüpft damit die besondere Stellung der getrennten und doch verbundenen, verschiedenen sozialen und kulturellen Räume der Stadt: Wohl nicht zufällig ist das Bild von Prag als Schwellenstadt – nahegelegt durch eine etymologische Herleitung des Städtenamens aus dem tschechischen práh (die Schwelle) – bei den deutschsprachigen Autoren jener Zeit und ihren Interpreten gleichermaßen beliebt, steht doch die Raummetapher „Schwelle“ immer auch für eine Wechselwirkung von Trennung und Verbindung, für eine Grenze zwischen Territorien, die gleichzeitig Schwellen-Angst machen und zum Eintreten einladen kann. Die Dialektik von Segregation und Integration, die der Schwellenmetapher zugrunde liegt und die sich auch aus dem Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen kulturellen, ethnischen und sozialen Hintergründen zwangsläufig ergibt, hat die Entwicklung der böhmischen Metropole über Jahrhunderte entscheidend geprägt.133

Leider nennt Schneider keine Beispiele von deutschsprachigen Texten, die explizit die Schwellenmetapher verwenden, für die Romane des hier betrachteten Zeitraums scheint sie keine entscheidende Rolle zu spielen, sehr wohl dagegen findet das damit einhergehende und von Schneider beschriebene soziale und kulturelle Gefüge der Stadt zwischen Annäherung und Abgrenzung in den Texten seinen Niederschlag. Dieses ist zumeist national oder (bzw. und, da die beiden Faktoren oft zusammenhängen,) sozial bedingt. Das Vitale, Jugendliche und Blühende des Tschechischen wird von den deutschsprachigen Autoren Böhmens und Mährens wahrgenommen und literarisch umfangreich verarbeitet, teilweise staunend, teilweise belehrend, häufig schwingt jedoch auch das Moment der Bedrohung mit.134 Auch nach 1918, nachdem die tschechische nationale Bewegung ihren Höhepunkt in der Gründung des eigenen Staates fand, wird in der Literatur der Gegensatz zwischen dem deutschen und tschechischen Prag weiter behandelt, wobei die sozialistischen Autoren ein zunehmendes Interesse an der tschechischen Arbeiterbevölkerung entwickeln und diese in

133 Schneider: Wachposten und Grenzgänger, S. 12. 134 Vgl. z.B. Rilke: Zwei Prager Geschichten, v.a. S. 87ff. Vgl. hierzu auch die Pragbeschreibung in Mauthners Der letzte Deutsche von Blatna, wo sich der Protagonist in Prag plötzlich einer Masse des tschechischen Mittelstands gegenübersieht, „von dessen Dasein er keine Ahnung gehabt hatte“ und deren Gebaren ihm fremd und beängstigend erscheint. (Vgl. Mauthner: Ausgewählte Schriften, S. 26ff.)

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ihrem Tatendrang, ihrer Anpassungsfähigkeit und ihrem politischen Engagement zumeist positiv gegenüber der als dekadent und statisch beschriebenen deutschsprachigen bürgerlichen Bevölkerung abgegrenzt wird.135 Durch die überspitzte Trennung des bürgerlich-deutschen und des proletarisch-tschechischen Prags entstanden diskursive Segregationen,136 in denen sich ein Wechselspiel zwischen innerer und äußerer, eigener gewollter und feindlich aufgezwungener Exklusion äußerte. Dies findet sich auch in den deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen in der Beschreibung des Stadtbilds, am prägnantesten in F.C. Weiskopfs Slawenlied. Hier werden die Veränderungen der Stadt am Ende des Ersten Weltkriegs beschrieben und der Protagonist fühlt sich auf einmal als Fremder in einer Stadt, die er kaum mehr wiedererkennt. In einigen Stadtteilen wird er als Deutscher angefeindet, zu Hause bemerkt er eine Abschottung des deutschen Bürgertums gegenüber den aufstrebenden Tschechen. Die räumliche Segregation hängt eng mit der sozialen zusammen und erst durch die gemeinsame politische Aktion mit dem Proletariat können die Grenzen innerhalb der Stadt überwunden werden. Das soziale und kulturelle Leben der Stadt Prag wird von der Generation derjenigen deutschböhmischen und deutschmährischen Schriftsteller, die einen Großteil ihrer Werke nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichten, anders wahrgenommen als noch von der Elterngeneration. Ein neues Interesse an den Arbeitervierteln entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts, an dessen literarischer Darstellung z.B. Egon Erwin Kisch und auch Oskar Wiener, F.C. Weiskopf, Walter Seidl, Alice Rühle-Gerstel und viele andere teilhatten. Im Gegensatz zur älteren Generation erwächst ein soziales Gewissen, das sich auch in einer Schilderung von Arbeitern und proletarischem Milieu spiegelt. Ludwig Winder schreibt über die Generation seiner Eltern und die neue Aufgabe des Schriftstellers in seinem Fragment Geschichte meines Vaters: Er [Max Winder] lernte die Arbeiterviertel Prags nicht kennen. Er ging nie nach Žižkov, weil Žižkov häßlich war und den Schönheitssinn des Schönheits- und Freiheitstrunkenen abstieß. Er

135 Vgl. zur Konstruktion der Angabe, die Prager deutschsprachige Bevölkerung habe ausschließlich aus Bürgern der wohlhabenden Schichten bestanden, Vassogne, die mit Bezug auf Cohen darauf hinweist, „dass es um die Jahrhundertwende ganz unmöglich war, ein Berufsfeld zu finden, in dem die beiden Nationen nicht vertreten waren.“ (Vassogne: Max Brod in Prag, S. 4.) 136 Vgl. z.B. Urzidil, der über die „bestimmte[] Art von Geschichts- und Lebensauffassung“ in der Stadt Prag schreibt: „„Bei dem am frühen Morgen erfolgten Einsturz der Karlsbrücke wurde niemand verletzt. Lediglich ein Bäckerjunge, der Semmeln austrug, fiel in den Fluß und ertrank.“ So lautete der Zeitungsbericht. Geheimschreiber und Bäckerjungen existierten „nebst“, waren „niemand“ und starben „lediglich“.“ (Urzidil: Prager Triptychon, S. 11.)

84 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN R AUM wusste ebenso wenig wie seine Freunde, daß die häßlichen Arbeiterstraßen, die er mied, elende Gefängnisse waren. Er ahnte nicht, daß das Schicksal der Armen und Geknechteten der Aufmerksamkeit eines Dichters würdiger als der herrlichste Sonnenuntergang ist. Es war nicht seine Schuld, daß er es nicht wußte. Er war ein Kind seiner Zeit.137

Durch die kritische Auseinandersetzung mit den verschiedenen sozialen Klassen und ihren städtischen Räumen bietet sich ein differenziertes Bild der Stadt, das jedoch auch die Identitätskonzepte der Protagonisten beeinflusst und das Auffinden eines Ortes der Zugehörigkeit erschwert. Die problematische Stellung der Söhne und Töchter aus dem Bürgerhaus, die versuchen, sich dem Proletariat anzunähern und hierbei auch auf Ablehnung und Fremdheit stoßen (so z.B. in den Romanen von F.C. Weiskopf und Alice Rühle-Gerstel), findet sich ebenso wie andersherum das schwierige Verhältnis des aus der niedrigen Klasse stammenden Protagonisten, der versucht, Integration und Anerkennung im Bürgertum zu finden (so z.B. in den Romanen von Hans Natonek und Hermann Ungar). Dies manifestiert sich jeweils auch in den Räumen der Stadt, die dem Individuum verschlossen bleiben oder in denen es sich fremd fühlt. Nur selten findet sich in der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur der Zwischenkriegszeit das Bild des vielbeschworenen ‚magischen Prags‘. In den Studien zur ‚Prager deutschen Literatur‘ und den sozialgeschichtlichen Umständen in der Stadt wurde diese ‚magische‘ Komponente oft überbetont, was bereits bemängelt wurde: Beschränkt sie sich in der Auswahl der Quellen auf einen bestimmten Textkanon und auf Selbstreflexionen der dazugehörigen Autoren, läuft die Forschung jedoch Gefahr, den in der Literatur inszenierten Prag-Mythos als reale Gegebenheit zu betrachten. Der Golem geht um – und verzaubert selbst seine Interpreten.138

Die populäre Sichtweise des magischen Prags, die sich aus einigen literarischen Darstellungen speist, wird auch von Historikern kritisiert. Die Anziehungskraft, die vor allen Dingen das jüdische Ghetto in Prag für Zeitgenossen hatte und zu zahlreichen literarischen Bearbeitungen im 19. Jahrhundert, etwa bei Wilhelm Raabe und Gustav Freytag, geführt hat, hält bis heute an, sie ist jedoch eine Mystifizierung, die als solche in ihren Funktionen untersucht werden muss, denn „Gustav Meyrinks einst vielgelesener Golem steht in einer langen Tradition, hat aber zu einer besseren Kenntnis

137 Winder: Geschichte meines Vaters, S. 71, zitiert nach Krolop: Ludwig Winder, S. 5. 138 Schneider: Wachposten und Grenzgänger, S. 24.

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der wahren Situation des Prager Judentums nichts beigetragen.“139 Die unterschiedliche Wahrnehmung der deutschen und tschechischen Bevölkerung in Bezug auf die Darstellung eines ‚magischen Prags‘ betont Spector, indem er angibt, dass die tschechischen Intellektuellen die dekadente Pragsicht der deutschen Bourgeoisie kritisierten, und er setzt bei den deutschsprachigen Schriftstellern einen gewissen Realitätsverlust voraus, da sie die wahren Verhältnisse der Stadt nicht erkannten.140 Diese Einschätzung greift wohl zu weit, da eine kritische Auseinandersetzung der deutschsprachigen Schriftsteller Prags mit den sich ändernden politischen Machtverhältnissen durchaus stattgefunden hat. Die literarische Fiktion des magischen Prags kann somit vielmehr als eine bewusste Instrumentalisierung gesehen werden bzw. als eine Beschwörung des alten Prags, das auch in der Wahrnehmung der betreffenden Schriftsteller in dieser Form nicht mehr existiert (bzw. nie existiert hat).141 In den 20er und 30er Jahren findet im Zuge der stärkeren Verwendung des neusachlichen Stils und der nun auch offiziell veränderten Machtverhältnisse durch die Entstehung der Ersten Tschechoslowakischen Republik zudem eine kritische und programmati-

139 Häusler: „Aus dem Ghetto“, S. 65. Diese Kritik findet sich bereits bei Arne Novák in einer zeitgenössischen Rezension zu Meyrinks Golem, in der er schreibt: „Vom wirklichen Prager Leben kennt der Autor des Golem überhaupt nichts oder will es zumindest nicht kennen.“ (Zitiert nach Krolop: Die tschechisch-deutschen Auseinandersetzungen, S. 176.) Novák begründet seine Kritik vor allen Dingen damit, dass Meyrink die tschechische Realität in Prag in dem Roman zugunsten einer Darstellung des „grotesken Prager Inselchen[s]“ der deutschen und jüdischen Bevölkerung vollkommen ausgespart habe, wobei sich in Nováks Argumentation starke nationalistische und antisemitische Töne mischen. 140 Vgl. Spector: „But the writers absorbed with fantastic images of a mysterious city with an inner life of its own, out of control of its inhabitants, fickle and dangerous, erotic and unpredictable, seem to have been utterly unaware that these images were not of Prague as it existed for the masses who inhabited it, but of „Prague“, Utitz’s iceberg.” (Spector: Prague Territories, S. 6. Zuvor zitiert Spector Emil Utitz, der das Prag der deutschsprachigen jüdischen Bevölkerung als einen Eisberg bezeichnete, der langsam dahinschmilzt.) 141 Vgl. hierzu auch Petrbok/Randák zu Fritz Mauthners Die böhmische Handschrift: „Die Monumentalität der architektonischen Denkmäler, die gewissermaßen das „deutsche Prag in der Vergangenheit“ mitten im „tschechischen Prag der Gegenwart“ darstellen, verdeutlichen jedoch auch die Angst des deutschen Patrioten Mauthner vor einer Zukunft, die „den anderen“ gehören wird.“ (Petrbok/Randák: Die Stadt als realer und symbolischer Raum, S. 53.)

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sche Abkehr von dem Bild des ‚magischen Prags‘ statt, wie etwa in der publizistischen Thematisierung dieses Komplexes bei Ludwig Winder zu erkennen ist.142 Eine vollständige Entzauberung ist jedoch auch in den 20er Jahren nicht gegeben, wie an den Romanen von Leo Perutz besonders deutlich wird. Selbst Ludwig Winder, der sich 1918 gegen die „Schokolade der Prager Romantik“ wandte,143 entwirft mit der Figur des Adam Dupic in den Nachgeholten Freuden eine dämonische, beinahe magische Figur; die düstere, groteske Atmosphäre von Dowidals Elternhaus in Natoneks Kinder einer Stadt erinnert an die Darstellungen von Krämerläden in der alten, ‚magischen‘ Judenstadt; und auch die Beschreibung des Studentenzimmers des Augenzeugen in Weiß’ gleichnamigen Roman, das keine richtige Tür, sondern nur einen winzigen Eingangsspalt hat und gegenüber dem (wohlgemerkt Münchner) Dom in einer Dachgeschosswohnung liegt, erinnert an das Zimmer des Golems in Meyrinks Roman. Gewisse Traditionen der alten Pragdarstellung setzen sich somit in den Romanen fort und sind auch im fiktionalen Stadtbild noch präsent. Zu großen Teilen haben sie jedoch hier keine magische Funktion mehr, sondern sind Faktoren, welche durch die Unentrinnbarkeit ihrer nicht greifbaren Attribute die desillusionierende Determination des Individuums durch seine soziale, topographische und mentale Herkunft unterstreichen. Dass Räume, so z.B. die Stadt, identitätsstiftende Momente beinhalten, ist spätestens seit dem Spatial Turn144 bekannt und Thema zahlreicher Untersuchungen der Kulturwissenschaften geworden.145 Für die Orientierung des Individuums auf der Suche nach eigener Identität und Sinnzusammenhängen in einer pluralistischen Welt sind sie von entscheidender Bedeutung, da Orte bzw. Ortsbezüge als individuelle oder kollektive Identitätsanker fungieren können. Sie bedienen das Bedürfnis nach Sicherheit, Sinn und Kohärenz. Sie können Identitätsentwürfe und Identitätsexperimente erlauben, aber auch einschränken oder verhindern.146

Betrachtet man die deutschsprachigen Schriftsteller Prags, die hauptsächlich in der Zeit geschrieben haben, als Böhmen noch Teil der k.u.k.-Monarchie war, wie etwa Meyrink und Kafka, so liegt es auf der Hand anzunehmen, dass die Stadt Prag und ihre besondere Atmosphäre einen entscheidenden Einfluss auf ihr Werk gehabt und

142 Vgl. Winder: „Prag als Stoff“, In: Deutsche Zeitung Bohemia, 91. Jg., Nr. 18 (19. Januar 1918), S. 3. Vgl. auch Kapitel 5.6, Fußnote 11. 143 Ebd. 144 Vgl. als Überblicksdarstellung Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 284ff. 145 Vgl. hierzu auch die kultursemiotischen Ansätze zur Erforschung der ‚Prager deutschen Literatur‘ in der jüngeren Forschung, wie in Kapitel 1.2 referiert. 146 Pott: Identität und Raum, S. 30.

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es geprägt haben.147 Für die jüngere Schriftstellergeneration gestaltet sich diese Aussage etwas schwieriger, da sie Prag in den prägenden Jahren des Heranwachsens nicht als Teil eines relativ statischen Großreiches erlebte, sondern als sich wandelndes Gebilde von der Provinzhauptstadt Österreich-Ungarns über den Ausnahmezustand der Kriegsjahre bis hin zur Hauptstadt einer modernen Demokratie in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Es stellt sich somit die Frage, ob auch unter diesen Umständen die sich ständig wandelnde Stadt einen Stabilisierungsfaktor im Identitätsbildungsprozess darstellen konnte, wobei es naheliegt, Orte wie das ‚neue Prag‘ seit 1914 bzw. 1918 in Analogie zu der modernen Auffassung von Identität zu sehen: „Identitäten […] sind kontingente, unstabile, flüssige, wandelbare und hybride, oft widersprüchliche Formen. Identität ist Verhandlungssache, ein Kampf um Bedeutungen innerhalb von Diskursen, Machtoperationen, sozialen Beziehungen oder Netzen“.148 Raum und Identität stehen in den Romanen in einem Wechselverhältnis: Die Stadt oder die Heimat determiniert und beeinflusst die Figuren durch ihre festgeschriebenen Normen und ihre gleichzeitige Unberechenbarkeit, ihre sozialen und nationalen Segregationen, ihre Traditionen und (häufig national konnotierten) Namen. Gleichzeitig wirkt jedoch auch die soziale Identität auf den Raum zurück, indem dieser spezifisch wahrgenommen und instrumentalisiert, somit also diskursiv konstruiert wird. In den Beschreibungen des statischen oder dynamischen Raums, dem Bewegungsradius der Protagonisten, der Personifizierung etwa der Stadt oder des Waldes, der Uneindeutigkeit oder durch feste Nomenklatur Fixiertheit des Raums spiegeln sich hierdurch jeweils verschiedene Identitätskonzepte der handelnden Figuren.

147 Dies ist in der Forschung auch so wahrgenommen und gedeutet worden, wenn auch immer wieder der ‚Inselcharakter‘ der Stadt statt ihres interkulturellen Moments in den Vordergrund gestellt wurde. Vgl. hierzu z.B. Tramer: „Prag ließ sich von seinen Pragern eben nicht verleugnen. Das Gepräge dieser Stadt, ihr kulturelles Inseldasein, die schließlich doch unausbleibliche Berührung mit einer national fremden und anderssprachigen geistigen Elite haben ihre unauslöschlichen und erkennbaren Spuren in dem dichterischen Schaffen der so zahlreichen Prager Autoren hinterlassen.“ (Tramer: Dreivölkerstadt Prag, S. 181.) 148 Pott: Identität und Raum, S. 28.

3. Text und Kontext – Die Wahrnehmung und Fiktionalisierung der historischen Situation

Wie in Punkt 2.4 konstatiert, sollen Text und Kontext hier nicht voneinander separiert werden, sondern es wird davon ausgegangen, dass sowohl der Ort als auch die Zeit des Entstehens der Werke sie entscheidend mitgeprägt haben. Gleichzeitig jedoch soll eine autobiographische Deutung der Romane vermieden werden; die Frage, ob die Autoren ihr persönliches Verhältnis zu ihrer Familie oder ihrem Bekanntenkreis in den Texten verewigten, interessiert ebenso wenig wie diejenige nach der Intention des Autors. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass der Einfluss, den die Sozialisation der Schriftsteller in Böhmen und Mähren auf ihre späteren Werke gehabt hat, sich nicht in autobiographischen Schilderungen widerspiegelt, sondern im (teilweise sicherlich unbewussten) Aufgreifen bestimmter Motive und Themenkomplexe sowie in einer spezifischen stilistischen Ausarbeitung, die den deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen der Zwischenkriegszeit gemein sind (vgl. hierzu v.a. Kapitel 4). In dieser Hinsicht ist für das Verständnis der Texte eine Kenntnis der zeitgenössischen Situation und ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung essentiell. Genauso wenig jedoch, wie die Biographien der Autoren die Interpretation der Werke beeinflussen sollen, darf auch umgekehrt die reale Situation des Lebens in Böhmen und Mähren aus den Texten nicht einfach abgeleitet werden, da es sich bei den historischen oder topographischen Bezugnahmen in den literarischen Texten immer um Fiktionalisierungen handelt, welche nur geringe Aussagekraft für die historische Rekonstruktion der Ereignisse haben, dafür aber Einblick in ihre Diskursivierung und zeitgenössische Wahrnehmung geben. Um dem inhärenten Zusammenhang zwischen Text und Kontext gerecht zu werden und um aufzudecken, inwiefern Literatur historische Ereignisse, Wahrnehmung und ‚Realität‘ nicht nur reproduziert, sondern vielmehr auch produziert, sollen verschiedene Diskurse thematisiert, über Interkulturalität und Intertextualität kulturelle Zusammenhänge hergestellt und eine Literaturgeschichte geschrieben werden, die der Kontingenz und Komplexität von Kultur und Text gerecht wird. Hierbei wird nicht von einer ‚realen‘, eindimensionalen Historie ausgegangen, die auf ihre ganz

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spezifische Weise einen konkreten Einfluss auf die Texte gehabt hat, sondern vielmehr von einer Wechselwirkung zwischen historischen Ereignissen und kulturellen Zusammenhängen auf der einen und der Fiktionalisierung und Neugestaltung dieser historischen Situation in den Romanen auf der anderen Seite. Es kann davon ausgegangen werden, dass die zeitgenössischen Entwicklungen einen Einfluss auf die Texte gehabt haben und eine Kenntnis der sozialgeschichtlichen Verortung der Romane zum Verständnis ihrer thematischen wie formalen Eigenheiten erheblich beiträgt, gleichzeitig haben die Autoren über ihre Texte und das Aufgreifen, Fiktionalisieren und Funktionalisieren historischer Ereignisse an der Entstehung des öffentlichen und kulturellen Diskurses mitgewirkt und die ‚Geschichte‘ mitgeschaffen. Gerade die Vielfalt der Auseinandersetzungen mit den komplexen kulturellen Vorgängen in der Moderne kann hierüber auch einen Beitrag zur polyphonen Kultur-, Mentalitäts- und Sozialgeschichte Böhmens und Mährens leisten, die mit einer ‚Mastererzählung‘ nur unzureichend charakterisiert ist. In der Untersuchung der Bezugnahme auf historische Begebenheiten in literarischen Texten sieht sich der Literaturwissenschaftler immer vor ein Problem gestellt, wie diese Zeugnisse in Hinblick auf historische Fakten zu behandeln sind: Er hat es hier nicht mit historischen Quellen zu tun, sondern mit einer subjektiven, in den meisten Fällen durch buchmarktbedingte, polemische, propagandistische, ideologische und ähnliche Motive verfälschten Darstellung der Ereignisse: Die fiktionalen Texte sind vielmehr als produktive Auseinandersetzungen mit einem für die Zeitgenossen noch höchst aktuellen Ereignis zu verstehen: Sie entwerfen narrative Geschichtskonstruktionen, indem sie die chaotische Vielfalt der Vorgänge nach bestimmten Prinzipien strukturieren, um so zur Orientierung und Selbstverständigung der Leser beizutragen.1

Somit ist der historische Gehalt dieser Berichte im Sinne der tatsächlich geschehenen und objektiv darstellbaren Geschichte (wenn eine solche überhaupt rekonstruierbar ist) von sekundärem Rang. Dies gilt im Besonderen für die Texte, die aus der Retrospektive historische Ereignisse, Personen und Orte beleuchten, indem es sich bei den Darstellungen immer um eine „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ handelt.2 Jutta Faehndrich hebt in Bezug auf die von ihr beobachteten Erinnerungsprozesse der ‚Heimat‘ das Potential dieser Erkenntnis hervor, indem es anhand der Analyse ihres Korpus der Vertriebenenheimatbücher zwar nicht möglich ist, die ‚Realität an sich‘ zu erkennen, dafür jedoch „die Strukturen und Bedingungen, die Akteure und Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Konstruktionsprozesse und symbolischen

1

Kittstein: Die Novemberrevolution in Romanen der Weimarer Republik, S. 121.

2

Vgl. Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit.

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Sinnwelten“ aufzudecken.3 Hierbei nimmt sie jedoch vor allen Dingen die Erinnerungen in den Blick, die unbewusst sozial konstruiert werden, während in der Fiktionalisierung historischer Ereignisse auch eine bewusst gesteuerte Manipulation des (kollektiven) Gedächtnisses eine Rolle spielt, wie in der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur der Zwischenkriegszeit zum Beispiel anhand des Romans Das Slawenlied von F.C. Weiskopf zu sehen ist, in dem die Schilderung der historischen Ereignisse eine konkrete Funktion im Rahmen der kommunistischen Aussage beinhaltet. Dies sollte bei den folgenden Untersuchungen zur Stellungnahme der Schriftsteller zur historischen interkulturellen Situation in Böhmen und Mähren im Auge behalten werden. Die Geschichte Böhmens und Mährens ist gut erforscht und wurde sowohl in historischen wie auch in literaturwissenschaftlichen Werken bereits umfangreich dargestellt.4 Sie soll daher hier nicht in Einzelheiten wiedergegeben werden, für den Kontext dieser Untersuchung interessieren vor allem die Entwicklungen, die in die Lebenszeit der behandelten Autoren fallen, d.h. in den Zeitraum etwa ab der Jahrhundertwende. Dabei liegt, dem Charakter und Thema der Arbeit entsprechend, der Schwerpunkt auf der Situation der Deutschen in Böhmen und Mähren, weshalb vor allem auf deutsche Texte und Quellen Bezug genommen wird. Ein umfassendes realhistorisches Portrait der Hintergründe und Begebenheiten wird somit nicht angestrebt, da hierfür die tschechische Auseinandersetzung mit der Situation ebenso ausführlich beleuchtet werden müsste. Vielmehr liegt der Fokus in den Konsequenzen der Ereignisse, welche die Wahrnehmung von Stadträumen, Zugehörigkeit, Fremdem und Eigenem etc. und die Fiktionalisierung, welche das Erleben der historischen Situation in der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur erfahren hat, stark beeinflussen. Der Bezug auf die historischen Fakten und seine textuellen Äußerungen werden dabei nicht „als eine monologische Wahrheit gesehen […], der man sich annähert, sondern als historisch kontingentes Ergebnis seiner selbst immer historischen und historisch je verschiedenen Vertextung.“5

3

Faehndrich: Eine endliche Geschichte, S. 30.

4

Vgl. etwa Hohmeyer: „Böhmischen Volkes Weisen“. Hier findet sich eine intensive Auf-

5

Baßler: Einleitung: New Historicism, S. 11.

arbeitung der historischen Situation auf rund 100 Seiten der sehr umfangreichen Studie.

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3.1 T SCHECHEN

UND D EUTSCHE – EINE KULTURELLE D IFFERENZ ?

Eine Region kultur-, mentalitäts- oder literaturgeschichtlich zu behandeln, ist immer ein schwieriges Unterfangen, da die verlockend systematische Vorstellung der essentialistischen Identität eines Raumes oder einer Kultur einer komplexeren, dynamischen weichen muss, welche in der Lage ist, die Differenzen, Transfers und heterogenen Strömungen aufzudecken, um zu einer differenzierten Darstellung zu gelangen. Dies gilt umso mehr für einen Raum wie Böhmen und Mähren, der multinational, multiethnisch und multikulturell gewachsen ist. Insbesondere der Literaturwissenschaft kommt in diesem Feld eine bedeutende Aufgabe zu, da sowohl die Festschreibungen in ‚Prager deutsche‘ und ‚sudetendeutsche‘ Literatur als auch die (Selbst-)Stilisierungen des deutschen Prags als Enklave, Insel oder Ghetto, hermetisch abgeschlossen und ohne Verbindungen zu den sie umgebenden Tschechen und anderen modernen Metropolen, zu dem Mythos einer aus einer kleinen, homogenen und abgeschlossenen (wenn auch zu Teilen als grotesk beschriebenen) Kultur entstandenen Weltliteratur führte.6 Erst in der jüngsten Vergangenheit entstanden Ansätze, das Manko einer einseitigen Literaturgeschichtsschreibung mithilfe von kulturtheoretischen und raumsemantischen Methoden zu beheben.7

6

Viel eher ist anzunehmen, dass die Komplexität der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur nicht aus ihrem Inseldasein, sondern gerade aus der multikulturellen Umgebung und den mit ihr einhergehenden Kulturtransferprozessen hervorgegangen ist. Vgl. hierzu (am Beispiel der Wiener Moderne) Kokorz: Kulturtransfer als kreativer Prozess.

7

Im Arbeitsprogramm für die Kurt-Krolop-Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur in Prag wird der Ansatz und das Forschungsvorhaben in Hinblick auf eine Ausweitung von Goldstückers starrem Modell der ‚Prager deutschen Literatur‘ folgendermaßen formuliert: „Das grundlegende Problem liegt dabei in einem unterkomplexen Verständnis von Region, die jeweils als homogener Raum gedacht wird. Demgegenüber ist im Ausgriff auf Homi Bhabha (ohne die postkolonialen Implikationen seiner Theorie zu übernehmen, jedoch im Rekurs auf den – allerdings seinerseits zur Auflösung aller Unterscheidungen tendierenden – Begriff der „Hybridität“ und das Modell des „third space“ […]), auf Henri Lefebvres Konzept einer kulturellen Hervorgebrachtheit von Raum […] und den seine Überlegungen fortführenden spatial turn sowie die aktuellen Diskussionen um den Raum als Kategorie der Kulturwissenschaften ein neues Verständnis der ‚böhmischen Länder‘ zu entwickeln. Es geht dabei vor allem darum, ‚Böhmen‘ als grundsätzlich heterogenen, in vielfältigen Aushandlungen erst hervorgebrachten sowie im Horizont sich überlagernder (und durchdringender) ‚kultureller Gedächtnisse‘ stabilisierten Raum

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Böhmen und Mähren sind Teile einer ‚hybriden‘ und dynamischen Region, in der die transkulturellen Wechselbeziehungen zwischen Deutschen und Tschechen, zwischen Juden und Christen, aber auch jeweils innerhalb dieser einzelnen vermeintlich homogenen Gruppierungen erst das kulturelle Gefüge ausmacht, für dessen ‚Identität‘ gerade das parallele Vorhandensein von Eigenem und Fremdem konstitutiv wirkt. Hierdurch ist es auch nicht möglich, empirisch von ‚den‘ Tschechen, Deutschen oder Juden zu sprechen, die als kulturelles Kollektiv eindeutige kulturelle Differenzen aufweisen und jeweils typische Charakterzüge tragen (auch wenn dies in der fiktional konstruierten Literatur etwa der Deutschnationalen dennoch getan wird), da der transkulturelle Kontakt die Formationen der Kultur durchdringt und verändert: „While cultural adaptation has been uneven over time and space, it has nonetheless been universal; what is taken as authentic or traditional is often another example of dynamic interaction with external cultures.“8 Die gemeinsame Geschichte von Deutschen und Tschechen in Böhmen geht weit zurück,9 weit vor die Entwicklung der Nationalstaaten und die Entwicklung des Nationalismus im 19. Jahrhundert,10 und war von alters her ein transkulturelles Zusammenleben, das zwar auch immer von inneren Kämpfen und Streitigkeiten, von Unterdrückung und Diskriminierung von Minderheiten gekennzeichnet war, wobei diese Auseinandersetzungen jedoch lange Zeit keine nationalen Fremdbilder zum Ausgangspunkt hatten: In der gemeinsamen fast tausendjährigen Geschichte gab es vor dem Zeitalter des Nationalismus keine grundsätzliche Frontstellung zwischen Deutschen und Tschechen. Selbst in Epochen, in denen im Nachhinein eine solche Feindschaft konstruiert wurde, etwa in der Hussiten-

vorauszusetzen, für den dann sowohl die vielfältigen Austauschprozesse en detail zu beschreiben als auch die Autoren und ihre Werke – und zwar sowohl der poetae minores wie maiores – zu positionieren und in eine (synchrone und diachrone) Verbindung miteinander zu bringen sind“. (Weinberg: Arbeitsprogramm der Kurt Krolop-Forschungsstelle, S. 4f., kursiv im Original.) 8

Spector: Beyond Assimilation, S. 92.

9

Es gibt zahlreiche historische Untersuchungen und auch viele literaturwissenschaftliche Monographien, die sich mit der langen gemeinsamen Geschichte und der Tradition dieses Zusammenlebens beschäftigen. Vgl. z.B. Koschmal et al. (Hrsg.): Deutsche und Tschechen. Vgl. auch Wünsch: Deutsche und Slawen im Mittelalter.

10

Als Einschnitt und Beginn der modernen nationalen Auseinandersetzung wird häufig das Jahr 1848 genannt: Vgl. z.B. Cohen: The politics of ethnic survival, in dem das einleitende Kapitel zur Geschichte der Deutschen und Tschechen in Prag um 1848 „From Bohemians to Czechs and Germans“ heißt.

94 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN R AUM zeit oder im Dreißigjährigen Krieg, handelte es sich um keine nationalen Auseinandersetzungen, sondern in erster Linie um soziale und religiöse, zu denen lediglich anthropologische Aspekte des Fremd- und Andersseins hinzukamen, die sich am deutlichsten in den sprachlichen Unterschieden manifestierten.11

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie es sich tatsächlich mit der zu propagandistischen Zwecken vielbeschworenen kulturellen Differenz zwischen Deutschen und Tschechen, deren nationale Identität um 1900 zumindest statistisch häufig aufgrund der von ihnen verwendeten Umgangssprache festgelegt wurde,12 verhält. Von ethnologischer Seite wurde diese Problematik in den letzten zwei Jahrzehnten erneut aufgegriffen und die zuvor weit verbreitete Tendenz, „die Sprachgrenze als Kulturgrenze zu interpretieren und von dieser die Vorstellung zu entwickeln, sie sei beinahe unüberwindbar“,13 kritisch hinterfragt. Dabei werden Fehler in der älteren wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema ausgemacht, die auf weitere Studien hoffen lassen, welche die regionalen Unterschiede und die zwischennationalen kulturellen Gemeinsamkeiten näher beleuchten, denn im Rahmen des ‚Volkstumskampfes‘ beteiligten sich [die Fachvertreter der Volkskunde] an der Markierung der identitären Distinktionen, die vor allem aus der ‚Volkskultur‘ abgeleitet wurden, und trugen damit zu ihrer Ethnisierung maßgeblich bei. Unter den böhmischen Verhältnissen bedeutete dies, dass man glaubte, zwischen der deutschen und tschechischen Kultur eindeutige Unterschiede ausmachen zu können, auch wenn die dortige ‚Volkskultur‘ eher nach regionalen als nach ethnischen Merkmalen

11

Krzoska: Frieden durch Trennung oder Beherrschung?, S. 85. Vgl. auch Stölzl: „Mit Ausnahme der rein deutschsprachigen industriellen Randgebiete Böhmens verharrte die Gesellschaft Böhmens noch weit bis ins späte 19. Jahrhundert hinein in einem Zustand der unentschiedenen Zweisprachigkeit. Erst spät vollendete sich die Perfektion des Junktims zwischen Sprachgebrauch und politisch verstandener Nationalität, jener Prozeß der Entmischung und Integralisierung der nationalen Identität, der die Menschen Böhmens nach 1848 von Jahrzehnt zu Jahrzehnt heftiger zwang, sich als eindeutige integral verstandene „Deutsche“ oder „Tschechen“ zu deklarieren.“ (Stölzl: Kafkas böses Böhmen, S. 25.)

12

Vgl. hierzu Luft: Zwischen Tschechen und Deutschen. Wie irrig die damals weit verbreitete Annahme, die Sprache konstituiere zweifelsfrei die nationale Zugehörigkeit, ist, zeigt Lufts Beschreibung der zeitgenössischen Verhältnisse: „Für die meisten Einwohner Böhmens war bis weit ins 19. Jahrhundert die Sprache eine Frage von beruflicher Tätigkeit und regionaler Herkunft, nicht der Identität, die sich weiter an ständischen und lokalen Hierarchien, an Gott und dem Kaiser orientierte.“ (Ebd., S. 157.)

13

Lozoviuk: Böhmische Volkskunde, S. 13.

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differenziert wurde und die ethnonationalen Eigenschaften in die einzelnen Kulturphänomene und sozialen Systeme erst von außen her projiziert werden mussten.14

Es gibt sowohl tschechische als auch deutsche Romane, insbesondere aus den böhmischen Randgebieten und den zweisprachig besiedelten Regionen,15 die Hinweise

14

Ebd., S. 14. Den Konstruktcharakter einer homogenen ‚sudetendeutschen‘ Kultur arbeitet Schroubek heraus: „Je stärker der nationale Konflikt sich zuspitzte, desto ausdrücklicher wurde auf die „Werte des Volkstums“ zurückgegriffen. In den dreißiger Jahren ist es nicht mehr zu übersehen, dass Tracht, Lied und Brauch Mittel der nationalen Demonstration geworden sind. Das ging nun freilich nicht ohne manipulierendes Korrigieren der Wirklichkeit ab, denn eine einheitliche deutschböhmische, „sudetendeutsche“ Volkskultur gab es ja nicht.“ (Schroubek: Studien zur böhmischen Volkskunde, S. 103.) Zu einem Abriss über die Forschungstendenzen in dieser Frage, vor allen Dingen zu Cysarz und Lemberg vgl. auch Hohmeyer: „Böhmischen Volkes Weisen“, S. 240ff.

15

Vgl. z.B. den Kinderroman Bruno. Erlebnisse eines deutschen Jungen im tschechischen Dorf (orig.: Bruno. Čili dobrodružství německého hocha na české vesnici) von Marie Majerová. Die Geschichte handelt von einem deutschen Jungen aus einer böhmischen Industriestadt, der im Rahmen eines Austauschprogrammes, das es damals häufig besonders unter den mittleren und unteren Bevölkerungsschichten gegeben hat (vgl. zur Geschichte des Kinderaustauschs Rinas: „Auf Wechsel ins Tschechische und na veksl do Němec“, S. 355f., vgl. auch Fielhauer: Kinder-„Wechsel“ und „Böhmisch-Lernen“), ein Jahr in einem tschechischen Dorf verbringt. Seine anfänglichen Konflikte ergeben sich primär aufgrund der Sprachprobleme. Einige der Kinder im Dorf stigmatisieren ihn zwar als deutsch, ohne jedoch hiermit eine kulturelle Differenz zu implizieren, die Integration verläuft parallel zum Erwerb der tschechischen Sprache. Zwar wird der tschechische Junge, der sich im Austausch in der deutschen Stadt befindet, als integrationswilliger und fleißiger dargestellt, doch ist dies nicht primär national begründet, sondern hat seinen Ursprung auch in der Dorf-Stadt-Dichotomie. Im Ganzen stellt das 1930 erschienene und 1957 ins Deutsche übersetzte Kinderbuch einen didaktischen Anspruch im Sinne der Verständigung der Vertreter zweier Sprachen, die jedoch in sozial-kultureller Hinsicht einen gemeinsamen Hintergrund haben; die Lehre ist ein gemeinsamer Kampf gegen die Bourgeoisie im Sinne des Kommunismus. So bekundet der deutsche Vater an den tschechischen in einem Brief: „Sie und ich wissen wohl, daß derjenige, der Zwietracht unter den Menschen wegen ihrer Volkszugehörigkeit sät, ein Elender ist, der Gewinn daraus zu ziehen hofft. Die arbeitenden Menschen aller Völker sind Brüder.“ (Vgl. Majerová: Bruno, S. 70.) Es gibt allerdings selbstverständlich auch Gegenbeispiele aus dem Bereich der Literatur über den Kinderaustausch, in denen der nationale Aspekt hervorgehoben wird. Rinas arbeitet dies z.B. für die beiden Romane Noch steht ein Mann (1927) und Dolf, der Grenzlandjunge (1943) von Hugo Scholz heraus. Bezeichnend ist jedoch hier,

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darauf geben, dass zunächst der sprachliche Unterschied, der nicht zwangsläufig mit kultureller Differenz gleichgesetzt werden darf,16 besonders unter den mittleren und unteren Bevölkerungsschichten seit dem 19. Jahrhundert die zentrale Differenz ausmachte,17 die jedoch überwunden werden konnte, während die Frontstellung und die Bilder vom ‚Eigenen‘ und vom ‚Fremden‘ erst durch den aufkommenden Nationalismus auf die sprachlichen Gruppierungen projiziert wurden.18 Bei der Betonung der klaren Unterschiede zwischen Deutschen und Tschechen und ihrer Gegnerschaft han-

dass der kulturellen Gemeinsamkeit der Deutschen und Tschechen in der Realität nur durch konstruierte und stark zugespitzte Nationalstereotype begegnet werden kann, denn: „Jede Person soll eindeutig nach ihrer Nationalität bestimmbar und der Frontverlauf im Nationalitätenkampf somit klar und objektiv sein. Gerade diese Bedingung war nun aber in den böhmischen Ländern nicht gegeben.“ (Rinas: „Auf Wechsel ins Tschechische und na veksl do Němec“, S. 366.) Als Beispiel für deutsche Literatur, in der keine kulturellen, sondern primär soziale Unterschiede zwischen Deutschen und Tschechen ausgemacht werden, können die Werke von Marie von Ebner-Eschenbach dienen. Verständigungsprobleme, weder sprachlich noch kulturell, tauchen etwa in ihrem 1887 erschienenen Gemeindekind nicht auf, hier liegt die Differenz in den Konfliktfeldern Herrschaft – Arbeiter sowie Schloss – Dorf. 16

Hierbei ist gleichzeitig zu beachten, dass vor allen Dingen in den oberen Schichten bis ins frühe 19. Jahrhundert die Umgangssprache keinerlei Indikation für die ethnische Herkunft markierte: „Vor 1848 sprachen und schrieben große Teile der Prager Oberschicht deutsch, wobei sich jedoch nur eine Minderheit als Deutsche betrachtete.“ (Adam: Demografischer Wandel, S. 62.)

17

Die Konzentration auf die sprachlichen Differenzen löste im 19. Jahrhundert das Modell ab, dem noch Stifter anhing und das als ‚böhmischer Landespatriotismus‘ oder auch ‚Bohemismus‘ bezeichnet wird. Vgl. z.B. Hohmeyer: „Das bisher bestehende ständisch-territoriale Weltbild wandelte sich daraufhin allmählich in ein sprachlich-völkisches. In der Sprachnation sollten alle Stände und sozialen Schichten integriert sein.“ (Hohmeyer: „Böhmischen Volkes Weisen“, S. 236.)

18

Im Rahmen dieses Prozesses der ‚Sprachnationalisierung‘ kam es schließlich zu einer „Identifikation von Sprachcharakter mit dem Volks- oder Nationalcharakter und seiner Artefakte bis hin zur Instrumentalisierung von Sprache (und Kultur) mit Assoziationen der Überlegenheit bzw. Gefährdung über/durch fremde Sprachen, Völker, Rassen, Nationen und Kulturen.“ (Höhne: Zur Phänomenologie kulturellen und sprachlichen Wandels, S. 13.)

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delt es sich somit dementsprechend um ein Konstrukt:19 Die Stereotypen und Feindbilder entspringen nicht eindeutig voneinander trennbaren kulturellen Einheiten, sondern stehen im Dienste chauvinistischer Tendenzen,20 denn Nationen lassen sich nicht anhand objektiver, allgemein verbindlicher Merkmale voneinander abgrenzen, sondern entstehen aus der Imagination ihrer Mitglieder, die kollektive Operationen von Grenzziehung ausführen und ihre gemeinsame Identität über die Konstruktion bestimmter Selbst- und Fremdbilder herstellen.21

Die Tatsache, dass in Selbstzeugnissen von Sudetendeutschen auch nach dem Zweiten Weltkrieg auf einer eindeutigen kulturellen Differenz beharrt wird, erfordert umso mehr eine bewusst kritische Betrachtung dieser Annahme, als auch in der Nachkriegszeit Stereotype und Vorurteile unhinterfragt fortgeschrieben wurden.22

19

Vgl. zur Herstellung der ethnischen Differenz zwischen Deutschen und Tschechen in

20

Diese nationalistische Konstruktion der kulturellen Differenz ist auch ein wichtiger Fak-

Böhmen Lozoviuk: Interethnik im Wissenschaftsprozess, S. 29ff. tor bei der nationalen Literaturgeschichtsschreibung und spielt eine bedeutsame Rolle bei dem Versuch der Einordnung der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur in einen breiteren literaturgeschichtlichen Kontext, sei dies der österreichische, der deutsche oder der tschechische. Fiala-Fürst spricht sich insbesondere mit Blick auf die deutschmährische Literatur für das Potential einer Wiederbelebung des territorialen im Gegensatz zum glottozentrischen Prinzip aus, indem das erstere hervorhebt, „dass die nationale Sprache des einzelnen literarischen Werkes bloß ein zufälliger Träger wichtigerer Informationen inhaltlicher, ideologischer, geistig-historischer, ästhetischer Natur ist, dass die Sprache (bzw. nationale oder staatliche Zugehörigkeit des Autors) kein brauchbares Kriterium und Unterscheidungsmerkmal für die Definition einer Literatur ist, sondern dass die Kultur, der Lebensstil, der geistig-historische Entstehungsraum, die verbindende historische Atmosphäre für die Schöpfung der literarischen Werke viel ausschlaggebender ist.“ (Fiala-Fürst: Was ist „deutschmährische Literatur“?, S. 19f.) 21

Schneider: Wachposten und Grenzgänger, S. 15.

22

Vgl. etwa Willimek: "Wir Sudetendeutschen, die wir heute beinahe über das ganze deutsche Sprachgebiet zerstreut sind und mit Angehörigen der verschiedensten deutschen Stämme in Berührung kommen, haben wohl alle die Erfahrung gemacht, daß diese Menschen, sosehr auch manches an ihnen uns ungewohnt und fremd anmuten mag, im allgemeinen unserem Wesen doch erheblich näherstehen als die Mehrzahl der Tschechen, die oft nur wenige Kilometer von unseren Heimatorten entfernt oder gar Haus an Haus mit uns wohnten.“ (Willimek: Das Bild des Tschechen im sudetendeutschen Roman, S. 27.)

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Die Hervorhebung der nationalen Differenzen und die Verwendung von Stereotypen müssen hierbei nicht zwangsläufig mit nationalsozialistischer Rhetorik verbunden sein, die verschiedene Ethnien als stark hierarchisiert darstellt und rassentheoretisch argumentiert. Vielmehr begegnet im deutschböhmischen und deutschmährischen Raum auf deutschnationaler Seite häufig eine Strategie der Abgrenzung, die sich, vergleichbar mit der heutzutage in Mitteleuropa in alarmierender Weise Fuß fassenden ‚Neuen Rechten‘, das Modell des aus dem Multikulturalismus entstandenen Kulturrelativismus zunutze macht, um den nationalen Kampf zu legitimieren. Im postmodernen Europa beinhaltet der Neorassismus eine „neu-rechte Auslegung des „Rechts auf Differenz“, das sich des extrem kulturrelativistischen Prinzips der Unvereinbarkeit bedient und eine uneingeschränkte Trennung von Kulturen fordert.“23 Durch diesen Kulturrelativismus werden unterschwellig die Exklusion des ‚Fremden‘, Rassenhass und Diskriminierungen forciert. Die hiermit verbundene moderne rassistische Rhetorik lässt sich ganz ähnlich bereits in den 30er Jahren in Böhmen und Mähren beobachten. Als Beispiel hierfür kann Bodenreuths Roman Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland gelten, der auf den ersten Blick (insbesondere, wenn man sein Erscheinungsjahr 1938 in Betracht zieht) eine erstaunlich tolerante Beschreibung der Tschechen beinhaltet, vor allen Dingen im Gegensatz zu anderen deutschnationalen bzw. nationalsozialistischen Romanen der Zeit und Region wie etwa Gottfried Rothackers Das Dorf an der Grenze, der mit Bildern des Untermenschentums, Tiermetaphorik etc. arbeitet (vgl. Kapitel 5.9). Der Tscheche, der wie der Deutsche für sein Land und seine Nation kämpft, wird bei Bodenreuth als respektabler Gegner gezeichnet, der für seine Stärke und Loyalität bewundert wird. Der Kampf gegen ihn wird mit der Unvereinbarkeit der Kulturen legitimiert, nicht zwangsläufig mit einer ‚Herrenmenschennatur‘ der Deutschen, sondern vielmehr mit ihrem Recht auf Schutz der eigenen Identität. Daher werden auch insbesondere die Grenzgänger und ‚nationalen Utraquisten‘, das sogenannte ‚schwebende Volkstum‘ gänzlich negativ porträtiert, da sie das Konzept der essentialistischen nationalen Identität in Frage stellen, das der Expansionsberechtigung zugrunde liegt. Diese Darstellung der nationalen und kulturellen Einheit der deutschen und tschechischen Bevölkerung und ihre absolute Abgrenzung und Unvereinbarkeit gegeneinander war für die deutschnationalen böhmischen und mährischen Schriftsteller insbesondere deswegen so wichtig, weil sie in der historischen Realität nicht existent war, da „ein großer Teil der Bevölkerung nicht eindeutig in eine der nationalen Gruppen einzuordnen war, d.h. die nationalen Grenzziehungen nicht selten durch die Personen selbst verliefen bzw. einzelne doppelte oder gar multiple Identitäten aufwiesen.“24

23

Leicht: Multikulturalismus auf dem Prüfstand, S. 143.

24

Schönborn: Im Labyrinth der Kulturen, S. 253.

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3.2 V OR DEM E RSTEN W ELTKRIEG ODER D IE ‚B ADENI -S TÜRME ‘ UND DAS VERMEINTLICHE F EHLEN DES ‚P RAGER R OMANS ‘ Bei der Betrachtung der historischen Situation zwischen Deutschen und Tschechen soll mit dem Jahr 1897 begonnen werden, in dem es im Zuge der Badeni-Sprachverordnungen in ganz Böhmen zu teils gewalttätigen Auseinandersetzungen kam,25 ein Ereignis, das in die Kindheit derjenigen Autoren fällt, die in der Zwischenkriegszeit die Hochphase ihres literarischen Schaffens durchlebten. In Böhmen und Mähren hatte das Erstarken des Nationalismus im 19. Jahrhundert zu einer Veränderung und Verschärfung des Konfliktes zwischen Deutschen und Tschechen geführt, die sich nun nicht mehr nur als kulturell, ethnisch und vor allem sprachlich voneinander getrennte Gruppen, sondern als nationale Feindbilder gegenübertraten. Vor allem die tschechische Nationalbewegung hatte in der Region stark an Selbstbewusstsein und inoffizieller Macht gewonnen und brachte ihre Forderungen nach Selbstbestimmung immer lauter hervor. Die Sprachverordnungen des österreichischen Ministerpräsidenten Badeni, welche die Behörden und Beamten in Böhmen und Mähren zur Zweisprachigkeit verpflichten sollten, waren ein Kompromissversuch, der, den tatsächlichen Machtverhältnissen in der Region entsprechend, erstmals offiziell die deutschen Befugnisse zugunsten der tschechischen Bevölkerung einschränkte. Dies stieß auf heftigen Widerstand der deutschsprachigen Bevölkerung (und führte schließlich zum Sturz Badenis), nicht so sehr in Prag als vielmehr in Eger und Umgebung, das sich zur Hochburg der Deutschnationalen in Böhmen entwickelte und wo die ohnehin zahlenmäßig geringe tschechische Bevölkerung durch Boykotte und Übergriffe schikaniert und diskriminiert wurde.26 Bereits zu diesem Zeitpunkt, wie später auch 1920, fungierte Eger als Auslöser spiegelverkehrter Ereignisse in Prag, indem die Tschechen im Dezember 1897 dort als Gegenreaktion gewaltsam gegen deutsche Institutionen vorgingen, eine Aktion,

25

Vgl. zu den Ereignissen 1897 auch Petrbok/Randák: Die Stadt als realer und symboli-

26

Dass die Auseinandersetzung mit den Geschehnissen um die Jahrhundertwende beson-

scher Raum, S. 43ff. ders von deutscher Seite in Eger immer noch polemisch geführt wird, beweist ein Blick ins Internet. In Bezug auf die Badeni-Sprachverordnungen findet sich hier etwa die stark nationalistisch gefärbte Einschätzung: „Es war offensichtlich, daß diese Anordnungen kein gleichberechtigtes Nebeneinander der beiden in Böhmen lebenden Volksgruppen zum Ziel hatten, sondern die systematische Unterdrückung und Tschechisierung der Deutsch-Böhmen. Diese hatten aber den Teil Böhmens, in dem sie lebten, ohne tschechische Mitwirkung kultiviert.“ (http://www.egerer-landtag.de/Geschichte/Badeni.html, Abrufdatum: 21.11.2009.)

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die bald in ein antisemitisches Pogrom umschlug.27 Die Konfliktstellung zwischen Deutschen und Tschechen hatte sich massiv zugespitzt. In der deutschsprachigen Prager Presse wird das Ereignis zum Anlass genommen, das deutsche nationale Selbstbewusstsein und die Bereitschaft zur ‚Verteidigung‘ ihres Volkstums auf böhmischem Gebiet zu postulieren: Die Tschechen selbst aber werden erkennen müssen, daß sie, wie sich nunmehr jetzt wieder gezeigt hat, in den Deutschen keine Pudel, sondern Löwen, keine Spatzen, sondern Adler gegenüber haben, und daß es praktischer ist, sich doch endlich mit ihnen freundnachbarlich zu vertragen, zumal sie ja doch schon wissen müßten, daß alle die Karthaunen, die in diesem Lande gegen das Deutschthum aufgefahren wurden, immer gegen die Angreifer selbst sich gekehrt haben.28

Die Bedeutung dieses Jahres für den Nationalitätenkampf wird auch von den ‚sudetendeutschen‘ Schriftstellern betont. Egon Erwin Kisch hat später die Ereignisse in Prag 1897 anschaulich geschildert, aber nicht so, wie Stölzl irrtümlich angibt,29 wie er sie selbst erlebt hat (Kisch war damals erst 13 Jahre alt; allerdings hatte er später durch seinen Bruder Paul, der Couleur-Student wurde, die Möglichkeit, sich den Fortgang der Ereignisse von dessen Kommilitonen und Umkreisen bestätigen zu lassen), sondern er beschreibt die möglichen Erfahrungen des deutschnationalen Schriftstellers Karl Hans Strobl, die dieser in seinem Roman Die Vaclavbude als Erlebnisse des Protagonisten wiedergibt, dem das für ihn ungeheure Glück […] widerfahren [ist], das seine Leute zu Hause in Brünn wohl zitternd als furchtbares Unheil empfanden: das Sturmjahr 1897 zu erleben, als Couleurstudent zu erleben, um einer schwarzen Mütze und eines verräterischen Schmisses willen vogelfrei zu sein, zu jenen gehören, die gehetzt, mißhandelt wurden und selbst zu Hause nicht vor dem Wahnwitz der Gasse sicher waren, mitzuerleben, wie gebrandschatzt und zertrümmert wurde, wie der Feuerschein des nationalen Wahnsinns durch die aufgebrochenen Ladentüren und die zertrümmerten Fensterscheiben züngelte, überallhin, wie plötzlich durch die vorhin noch menschenvollen, heulenden und klirrenden Gassen die Hufe der Kavalleriepferde klapperten, die Trompeten Sturm bliesen, die Säbel und Bajonette in klarer Ordnung im Gaslichte blitzten.30

Es erstaunt ein wenig, dass Kisch im Folgenden Strobl und seine Romane lobt, obwohl dieser einem konträren politischen Lager angehörte und 1933 gar der NSDAP-

27

Vgl. Stölzl: Kafkas böses Böhmen, S. 63.

28

Prager Tagblatt: Nach der Entscheidung. 21. Jg., Nr. 332 (30. November 1897), S. 1.

29

Vgl. Stölzl: Kafkas böses Böhmen, S. 63.

30

Kisch: Mein Leben für die Zeitung, S. 128.

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Österreich beitrat.31 Vera Schneider begründet dies mit der politischen Wandlung Kischs, mit taktischen Gründen und nicht zuletzt mit dem ‚Treibhaus‘-Klima in Prag zu Beginn des 20. Jahrhunderts.32 Die oben zitierte Passage verdeutlicht aber auch, dass mit dem Lob hier lediglich die schriftstellerische Qualität und der Realismus der Texte gemeint ist und nicht eine Laudatio auf die nationale Einstellung Strobls intendiert ist. Die kontrastreiche Darstellung der Ereignisse im Dezember 1897, in der von Glück und Unheil, von Hetze, Misshandlung, Brandschatzung, aber gleichzeitig auch von Trompeten, Säbeln und Bajonetten, die in klarer Ordnung im Lichte romantisch und siegessicher blitzen, die Rede ist, verweist gleichzeitig auf den Wahnsinn, aber auch die Anziehungskraft des Barbarischen des Nationalismus. Der Fanatismus schwingt hier in jeder Zeile mit. Kisch zufolge wird das Ereignis von Strobl, obwohl er zu den Opfern gehört, nicht als Schrecknis wahrgenommen, sondern als Entzündung sowohl für seine literarischen als auch für seine nationalen Ideen. Strobl jedoch ist nicht in Prag aufgewachsen, sondern gebürtiger Iglauer, der sein Studium in Prag verbrachte, und Kisch nimmt ihn auch explizit nicht als Prager wahr.33 Welche Bedeutung wird diesen Ereignissen jedoch von den Prager Autoren beigemessen, wie werden sie literarisch in deren Werken thematisiert und fiktional aufgearbeitet? Kisch zufolge gar nicht, und dies ist recht bezeichnend, denn „sie, die hier geblieben waren, sahen, wie sich allmählich die Straßen von den wütenden Horden leerten […] – das Schattenbild verschwamm“.34 Es ist mit Sicherheit richtig, dass, wie von der Forschung wiederholt betont wurde, das Jahr 1897 bedeutsam für die Prager Schriftsteller gewesen ist als ein Ereignis, „dem als erster Erfahrung gewalttätigen Judenhasses

31

Zumal Strobl in der Vaclavbude „sich damals etablierende visuelle Stereotype rassistischer Prägung“ verwendete. (Petrbok/Randák: Die Stadt als realer und symbolischer Raum, S. 58).

32

Vgl. Schneider: Wachposten und Grenzgänger, S. 37. Vgl. auch Spector: Prague Territo-

33

Auch die Forschung ist sich nicht einig, ob sie den deutschnationalen Strobl der ‚Prager

ries, S. 55f. deutschen‘ oder der ‚sudetendeutschen‘ Literatur zuordnen soll. Fritz analysiert seine Romane explizit als ‚Prager Texte‘, während Schneider ihn aus der ‚Prager deutschen Literatur‘ aufgrund seiner politischen Ausrichtung ausschließt (vgl. Schneider: Wachposten und Grenzgänger, S. 22.) Zweifellos ist er ein deutschböhmischer und deutschmährischer Autor (Iglau liegt genau auf der Grenze zwischen dem historischen Böhmen und Mähren), der erheblichen Einfluss auf seine Zeitgenossen und auch auf die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der literarischen Region gehabt hat. 34

Kisch: Mein Leben für die Zeitung, S. 128.

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in den Kindheitserinnerungen von Autoren dieses Generationsbereichs eine Schlüsselstellung zukommt“,35 jedoch sind die Textstellen, die dies tatsächlich belegen, sehr spärlich,36 eine literarische Auseinandersetzung hat hier nur marginal stattgefunden. Kisch schließt daraus, dass kein Prager Roman im Sinne eines Zeitromans existiert,37 und dies scheint auch in der Beurteilung des von der Forschung am meisten beachteten Prager Autors, Franz Kafka, bestätigt zu werden, besonders was die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg angeht. Peter-André Alt stellt in seiner Kafka-Biographie fest: Dem Zusammenbruch der k. u. k.-Monarchie, der am 28. Oktober 1918 zur Geburt der tschechischen Republik führt, widmet er kaum ein Wort. Die Existenz des neuen Staates, als dessen Bürger er fortan lebt, ist ihm keinen näheren Kommentar wert; einzig über die bürokratischen Widerstände, denen sich der Reisende im Europa der Nachkriegszeit ausgesetzt sieht, klagt er gelegentlich.38

Dies trifft aber sowohl für Kafka als auch für viele andere deutschböhmische und deutschmährische Autoren nur bedingt zu; zwar wird, zumindest in Hinblick auf ihre literarischen Werke, nur selten explizit auf die Situation in den 20er und 30er Jahren in Prag oder auch nur in der Ersten Tschechoslowakischen Republik Bezug genommen, doch weist die Literatur dieser Autoren, die ihre Jugend oder einen bedeutenden

35

Krolop: Das ‚Prager Erbe‘ und das ‚Österreichische‘, S. 164.

36

Vgl. z.B. die knappe Darstellung bei Brod: Adolf Schreiber, S. 29f. Auch Willy Haas widmet dem Ereignis in seiner Autobiographie die ersten Seiten, da hieran die ersten Erinnerungen der Kindheit geknüpft seien. (Vgl. Haas: Die literarische Welt, S. 9ff.)

37

Vgl. Kisch: „Wir haben keinen Prager Roman. Seit hundert Jahren hat die deutsche Literatur mit Prag den innigsten Kontakt unterhalten, unter den Namen, denen in der Geschichte der Weltliteratur ein Platz eingeräumt werden mußte, fehlt es nicht an Söhnen dieser Stadt – und doch: Den Prager Zeitroman hat uns keiner geschrieben. Sie verloren sich im Rausche an den Mythen vergangener Zeit, sie tasteten nach der Romantik des Ghettos, sie vergafften sich in die märchenschöne Ansichtskartensilhouette des Hradschins und in die schnurrigen Gassen der Kleinseite, sie griffen mit flackernder Sinnlichkeit nach der tschechischen Dienstmagd und höhnten mit verbittertem Gesicht die Gesellschaftsmoral der Stadt und ihrer Leute […] – aber keiner hat es in dieser von wilder Eigenart durchbluteten Gegend vermocht, in den schlichten Worten der Prosa den Konflikt dieser Stadt zu geben. Den Roman dieser Stadt, in der ewig der Kriegslärm tobt, alles zerstört, Schulkinder erfaßt und Greise verbittert und die gerade deshalb so staunenswert eigenartig ist, so verstiegen schön, daß sie jeder lieben muß, jeder, dem sie ihren Zauber erschlossen.“ (Kisch: Mein Leben für die Zeitung, S. 127.)

38

Alt: Franz Kafka, S. 13.

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Teil ihrer jungen Jahre in Prag, Böhmen oder Mähren verbracht haben, eine erstaunliche Fülle an Bezügen zu der multikulturellen Region und den politischen Ereignissen auf. Dies gilt insbesondere auch für die vielen Autoren, die Prag spätestens zu Beginn der 20er Jahre aus unterschiedlichen Gründen verlassen hatten, der Großteil in Richtung Berlin oder einer anderen Großstadt der Weimarer Republik, denn „[f]ür den Schreibenden bleibt die ‚Heimat‘ auch bei erzwungenem Ortwechsel unverlierbar; ihre literarische Gestaltung erfährt sie oft erst aus der Rückschau, sind doch die eigentlichen literarischen Landschaften […] die (realiter) Verlorenen.“39 Das prägnanteste Beispiel für eine konkrete Thematisierung aktueller historischer Ereignisse in der jungen Ersten Tschechoslowakischen Republik stellt unter den hier behandelten Werken F.C. Weiskopfs Das Slawenlied dar und, wenn auch nicht auf Prag, sondern auf die Region bezogen, ebenfalls Ludwig Winders Die nachgeholten Freuden. Melchior Vischer zeigt sich in einer Rezension von Winders Text aus dem Jahre 1926 besonders begeistert von der Aktualität des Romans und seiner zeitgenössischen Auseinandersetzung mit der Nachkriegszeit in der Region: Alle Spannweiten unseres Zeitalters rücken in diesem Roman näher, kreuzen einander sogar. Kriegs- und Nachkriegsruhm gemischt mit k. u. k. Feigheit, Jahrhunderte altes österreichisches Aristokratentum […] und Kommunismus, Deutsche und Tschechen in fanatischem Sprachenstreit, Antisemiten und bewußte Juden. Kleinbürger und Nichtstuer, Minister und Gauner.40

Auch Alice Rühle-Gerstels Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit behandelt ganz konkret die Erfahrungen der Protagonistin und die Situation der kommunistischen Exilanten in Prag Mitte der 30er Jahre, und in Hans Natoneks Roman Kinder einer Stadt sind die Schicksale der Protagonisten sehr stark von ihrer in Prag erlebten Kindheit abhängig. Aber auch viele andere Romane, welche Böhmen und Mähren bzw. Prag nicht konkret nennen, nehmen indirekt Bezug auf die Situation in Böhmen und Mähren und die Sozialisation der jeweiligen Autoren. Versuche, in diesen Texten, so z.B. in Paul Kornfelds Blanche oder das Atelier im Garten, konkrete topographische Bezüge zu Prag auszumachen, scheitern an ihrem Konstruktcharakter. Statt nach offensichtlichen Bezügen zu Orten, Personen oder historischen Ereignissen im

39

Stüben: ‚Regionale Literatur‘, S. 52.

40

Melchior Vischer: Die nachgeholten Freuden [1928]. Zitiert nach Binder: Prager Profile, S. 453. Vgl. auch Broukalová: „Im Jahre 1927 wurde dann der Roman „Die nachgeholten Freuden“ veröffentlicht, in dem sich Winder als einer der ersten der damaligen deutschsprachigen Schriftsteller der Tschechoslowakei an die Problematik des Zerfalls Österreich-Ungarns und der Entstehung der Tschechoslowakei und der dadurch ausgelösten gesellschaftlichen Veränderungen heranwagte.“ (Broukalová: Ludwig Winder als Dichter der menschlichen Seele und der Wirklichkeit, S. 23f.)

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Sinne eines Schlüsseltextes zu suchen, ist es sinnvoller, Topoi und Motivkomplexe in den Romanen aufzudecken, die auf die schwierige Stellung des Individuums im multikulturellen Raum Böhmen und Mähren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verweisen. Die Selbstverortung des Individuums zwischen verschiedenen Kollektiven, die Mechanismen der Inklusion und Exklusion, das Fehlen einer essentialistischen Identität und gleichzeitig die Identitäts- und Heimatsuche in verschiedenen möglichen Identifikationsräumen, das Ausloten der pluralistischen Möglichkeiten und der Weg der schöpferischen Mitte treten in den deutschböhmischen und deutschmährischen nicht-deutschnationalen Romanen der Zwischenkriegszeit in immer neuer Variation auf. Sie verweisen auf die Sozialisation in Böhmen und Mähren mit ihren vielfältigen Verflechtungen zwischen der deutschen und der tschechischen Kultur und der andauernden Konfliktsituation zwischen Juden und Christen, woraus sich ein ständiger Prozess der Akkulturation und Dekulturation und eine dauerhafte Re- und Desorientierungsposition zwischen den Kollektiven ergab, welche die Etablierung einer eindeutigen kollektiven Identität erheblich erschwerte. Selbst Romane, die, wie zum Beispiel Ernst Sommers Botschaft aus Granada oder auch Oskar Baums Das Volk des harten Schlafes, historische Themen aus gänzlich anderen Kulturräumen verhandeln, verweisen durch ihre Thematisierung multikultureller Konflikte auf Böhmen und Mähren. Ohne die Romane einer häufig pejorativ bewerteten Regionalliteratur zuzuordnen, erscheint daher eine gewisse Rückbindung der Autoren und ihrer Texte an ihre Herkunfts- und Schaffensorte fruchtbar, da diese die Romane fraglos beeinflussen. Dies ist ein bislang vor allen Dingen in der Regionalliteraturforschung anerkannter Sachverhalt,41 gilt jedoch ebenso auch für die Autoren von Weltrang, wie etwa von Weinberg bereits am Beispiel Kafkas demonstriert wurde.42 Der Umstand, dass die aktuellen Ereignisse, nicht nur die ‚Badeni-Stürme‘, sondern ebenso etwa die Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik, den-

41

Vgl. etwa Joachimsthaler, der mit Bezug auf Eco und Kant darauf aufmerksam macht, dass „die geographisch immer nur konkrete Lebenswelt zu den unhintergehbaren Voraussetzungen allen Schreibens [gehört] und […] sich absichtlich oder unabsichtlich in literarischen Entwürfen insofern wieder[spiegelt], als selbst die phantastischsten fiktionalen Räume nur konstruiert werden können aus Variationen von Bestandteilen, die dem Autor lebensweltlich bekannt sind“. (Joachimsthaler: Literarisierung einer Region, S. 24.) Vgl. auch Stüben mit Bezug auf einen Prager Weltliteraten: „Auch Autoren, deren Oeuvre nicht vornehmlich aus dem Raum ihrer Herkunft verstehbar ist – wie etwa das des Pragers Rilke –, sind gleichwohl durch sie mit geprägt. Ist doch ihre Sozialisation – Erziehung, Bildung, Erfahrungshorizont – ohne die Einwirkung von Landschaft, regionaler Kultur und lokalen Traditionen nicht zu denken.“ (Stüben: ‚Regionale Literatur‘, S. 53.)

42

Vgl. Weinberg: Region, Heimat, Provinz und Literatur(wissenschaft), S. 50ff.

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noch kaum in Form eines zeitgenössischen historischen Romans geschildert werden,43 weist darauf hin, dass die nationale Frontstellung im Prag des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowohl von außenstehenden als auch von involvierten Kommentatoren häufig überzeichnet dargestellt wurde44 und die tatsächliche alltägliche Lebenssituation nicht von solch einer starken Separierung und Isolierung der deutschen und tschechischen Lebensbereiche gekennzeichnet war. Tschechen und Deutsche lebten häufig in den gleichen Häusern und verkehrten auch am Arbeitsplatz miteinander.45 Die Trennung war subtiler, da sie sich nicht auf oberflächliche und sprachliche Kontakte, sondern auf innere Grenzen bezog: „Deutsche, Juden und Tschechen lebten untereinander, aber sie kannten und respektierten die sichtbaren und unsichtbaren gesellschaftlichen Grenzen zwischen den Gruppen, welche die Kontakte zwischen den Individuen der verschiedenen Gruppen begrenzten und färbten.“46 Die Darstellung der nationalen Streitigkeiten und Kämpfe, in der sowohl Protagonisten als auch Erzähler Stellung beziehen und sowohl Diskriminierungen als

43

Neben den oben genannten Ausnahmen stellt eine weitere die in der Regel zur ‚sudetendeutschen Literatur‘ gezählten Gattung des Grenzlandromans dar, in dem eine intensive Auseinandersetzung mit der nationalen Problematik in den 20er und 30er Jahren stattfindet. Die sogenannte Grenzlandliteratur, die wohlgemerkt nicht nur Vertreter im ‚Grenzland‘ fand, entstand aufgrund der alltäglichen Erlebnisse mit dem Nationalitätenstreit gegen Ende des 19. Jahrhunderts „als spezifisches literarisches Genre, das seinen Höhepunkt erst in der Zwischenkriegszeit erlebte.“ (Krappmann: Allerhand Übergänge, S. 16.)

44

Vgl. z.B. die vielzitierte Passage von Kisch: „Mit der halben Million Tschechen der Stadt pflog der Deutsche keinen außergeschäftlichen Verkehr. Niemals zündete er sich mit einem Streichholz des Tschechischen Schulengründungs-Vereins seine Zigarre an, ebensowenig ein Tscheche die seinige mit einem Streichholz aus einem Schächtelchen des Deutschen Schulvereins. Kein Deutscher erschien jemals im tschechischen Bürgerklub, kein Tscheche im Deutschen Kasino. Selbst die Instrumentalkonzerte waren einsprachig, einsprachig die Schwimmanstalten, die Parks, die Spielplätze, die meisten Restaurants, Kaffeehäuser und Geschäfte. Korso der Tschechen war die Ferdinandstraße, Korso der Deutschen der „Graben“.“ (Kisch: Marktplatz der Sensationen, S. 86.) Kisch ist diese überspitzte Darstellung der Differenzen im alltäglichen Leben auch häufig von der Forschung kritisiert worden, da er „wider besseres Wissen die vorherrschende Mehrsprachigkeit völlig aus[klammere]“. (Luft: Zwischen Tschechen und Deutschen, S. 149.)

45

Vgl. Cohen: Deutsche, Juden und Tschechen in Prag, S. 66f. Vgl. hierzu auch Luft: „So gab es keine rein deutschsprachigen Stadtviertel, ja nicht einmal sprachlich homogen bewohnte Straßenzüge. Soziale und religiöse Unterschiede bestimmten in Prag nach allen vorliegenden Hinweisen das Wohnverhalten stärker als sprachlich-nationale Faktoren.“ (Luft: Zwischen Deutschen und Tschechen, S. 148.)

46

Cohen: Deutsche, Juden und Tschechen in Prag, S. 67.

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auch eine innere Einheit der Deutschnationalen beschreiben, wie dies in Strobls Roman der Fall ist, impliziert eine klare kollektive nationale Identität des Subjekts und damit einhergehend eine eindeutige Verortung in der historischen und gesellschaftlichen Situation.47 Diese Haltung, die eine Infragestellung der eigenen Stellung in der Gesellschaft und der politischen Sendung nicht erlaubt, findet sich z.B. in den extremen deutschnationalen und antitschechischen Romanen, so etwa in Gottfried Rothackers Das Dorf an der Grenze. Dieser Roman stellt allerdings selbst für die Grenzlandliteratur ein recht ungewöhnliches Beispiel dar, da auch in dieser Gattung üblicherweise eine differenziertere Sichtweise der Protagonisten, die stark essentialistische Aussagen verhindert, vorhanden ist, dies gilt für Fritz Mauthner über Rainer Maria Rilke48 bis sogar hin zu Friedrich Bodenreuth, der bekennender Nationalsozialist war. Die Herausbildung einer vorgeblich festen nationalen und kulturellen Identität, die sich in den deutschnationalen Romanen der Region im Gegensatz zu den Texten von sozialistischen oder demokratischen Autoren zumindest vermehrt, wenn auch selten in extremer Form, findet, wird auch in einer Reihe von Publikationen im Rahmen des Nationalitätenstreits zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Zielsetzung formuliert, und sie ist zumeist mit der Aufgabe von Bildung und Kultur eng verknüpft. Takebayashi macht auf den Stellenwert von August Sauer aufmerksam, der, selbst kein gebürtiger Prager, 1907 Rektor der deutschen Karl-Ferdinands-Universität wurde und entscheidenden Einfluss auf die Prager Germanistik und Volkskunde übte. 47

Die vor allen Dingen von sudetendeutschen Schriftstellern wie eben Karl Hans Strobl, aber auch Franz Nabl, Walter von Molo und Karl Norbert Mrasek zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfassten Studentenromane haben dementsprechend auch eine besondere Zielrichtung und Funktion, die von den zeitgenössischen Kritikern bereits erkannt und im Rahmen des nationalen Kampfes gutgeheißen wurde: „Mit besonderer Vorliebe wandte man sich dem Studentenromane zu. Der Student unserer Heimat, namentlich der farbentragende in Prag, unterscheidet sich wesentlich vom reichsdeutschen. Er ist immer in Gefahr, steht immer im Interessenkreis der Öffentlichkeit; angefeindet und bedroht von den Tschechen muß er immer auf seiner Hut sein, darf sich nie oder nur im engsten Kreise seiner Kommilitonen so geben, wie es ihm ums Herz ist, jeden Augenblick gewärtig, das, was er spricht, auch verteidigen zu müssen. So ist der Prager Boden eine wichtig Erziehungsstätte für den heranwachsenden Mann, die ihn härtet und schmiedet für die Aufgaben, die ihn künftig in der Verteidigung des heimatlichen Bodens erwartet.“ (Wolkan: Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen und in den Sudetenländern, S. 140.) Vgl. zur Geschichte der deutschen Universität und ihrer Studentenverbindungen und vereinigungen sowie zu den Prager Studentenromanen vor allen Dingen Hans Strobls auch Wieser: Der Prager deutsche Studentenroman.

48

Vgl. Krappmanns Einschätzung der Zwei Prager Geschichten als Grenzlandliteratur. (Krappmann: Allerhand Übergänge, S. 149ff.)

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Im gleichen Jahr schrieb er über die Aufgabe der deutschen Bildungsinstitution in Prag, die seit dem Jahr 1882 von der tschechischen getrennt war: Unsere deutschen Hochschulen sind eines unserer kostbarsten Besitztümer. In ihnen vereinigt sich die geistige Kraft unseres Volksstammes, in ihnen pulsiert der nationale Herzschlag, in ihnen schlägt das nationale Gewissen. […] Ihre Angehörigen, über das ganze Land zerstreut, bilden einen eisernen Ring von unzerstörbarer Festigkeit.49

Die Formeln von Einheit, Kampf, Gewissen, Festigkeit, Sicherheit etc. finden sich in zahlreichen Publikationen der Zeit, häufig auch eindeutig verbunden mit der Aufgabe der deutschsprachigen Literatur.50 Es gibt somit zwei verschiedene Ansätze in der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur, mit den aktuellen Zeitgeschehnissen literarisch umzugehen; entweder im Sinne einer ideologischen Schilderung des Nationalitätenkampfes auf der Seite des deutschen ‚Volkes‘ oder durch eine Verweigerung, literarisch an diesem Diskurs teilzuhaben und stattdessen die Problematiken des Individuums in einem Spannungsfeld aus nationalen und kulturellen Streitigkeiten implizit zu verarbeiten. Beide Strategien jedoch entspringen der gleichen historischen Situation in der modernen multikulturellen Gesellschaft der Region, in der eine Selbstverortung des Individuums vonnöten scheint. Ein Großteil der deutschböhmischen und deutschmährischen Romane ist, selbst wenn ihre Handlung nicht in der Region selbst spielt, in der historischen Situation am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhundert angesiedelt und beinhaltet eine mehr oder wenige direkte Stellungnahme zu den historischen Ereignissen. Zudem fand in Essays und Zeitschriftenpublikationen eine rege Auseinandersetzung mit dem unmittelbaren Zeitgeschehen und eine literarische Diskursivierung der (sozial)geschichtlichen Situation statt, die eine interessante Interpretationsbasis auch für die Romane der Zeit und Region bieten.

49

Sauer: Prag und seine deutschen Hochschulen. Nachdruck in: Kulturpolitische Reden und Schriften. Reichenberg i.B. 1928, S. 28-39, hier S. 28. Zitiert nach Takebayashi: Zwischen den Kulturen, S. 84.

50

Auch bei Sauer spielt neben der Universität die Literatur eine bedeutsame Rolle in der Vergewisserung und Stärkung der eigenen Nationalität: „[D]ie Prager Literaturgeschichte […] könnte ein vertieftes Heimatsgefühl zu einem Boden erzeugen, von dem man uns fast schon verdrängt zu haben glaubte; sie könnte der Ausgangspunkt werden für neue nationale Literaturkämpfe der Gegenwart und Zukunft.“ (Sauer: Zur Prager Literaturgeschichte, S. 455.)

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3.3 D ER E RSTE W ELTKRIEG UND DAS AUSBLEIBEN DER K RIEGSBEGEISTERUNG Die Haltung der deutschsprachigen Bevölkerung Böhmens und Mährens zum Ersten Weltkrieg unterschied sich massiv von der Einstellung etwa in Wien51 oder gar der Kriegsbegeisterung, die unter der jüngeren Generation im Deutschen Reich ausbrach, selbst unter jenen, die sich zunächst als Pazifisten geäußert hatten.52 Krolop beschreibt das ambivalente, aber für die Vertreter der ‚Prager deutschen Literatur‘ recht typische Verhältnis zum Kriegsausbruch bei Ludwig Winder folgendermaßen: Der Krieg fand bei seinem Ausbruch in Winder zwar keinen Neinsager vor, aber auch keinen Verherrlicher. Er erschien Winder keineswegs als befreiende Tat, sondern höchstens als eine traurige, nicht heroische Notwendigkeit; und bald war jener Glaube an die traurige Notwendigkeit der Einsicht in die barbarische Unsinnigkeit des Krieges gewichen.53

Die Problematik, die sich für die jüdische Bevölkerung Prags aus dem Krieg ergab und die Gründe, warum hier eine Kriegsbegeisterung ausblieb, hat Welling in seiner historischen Studie „Von Haß so eng umkreist“ herausgearbeitet.54 Für die kritische Haltung gegenüber dem Krieg bei den deutschsprachigen Autoren Böhmens und Mährens bereits 1914, als in Österreich und Deutschland Euphorie und Begeisterung ausbrachen, wurden in der Forschung verschiedene Gründe angegeben und herausgearbeitet; Kurt Krolop führt den Generationenkonflikt an55 und Fiala-Fürst geht in

51

Vgl. hierzu z.B. Maderthaner: Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945, S. 317ff.

52

Vgl. z.B. Carl Zuckmayers Erzählung darüber, wie er den Kriegsbeginn empfunden hat: „Der Traum und die Jugend waren zu Ende. Das Schicksal hatte gesprochen – und wir begrüßten es mit einem unbändigen Jubel, als befreie es uns von Zweifel und Entscheidung. Wir sangen die ‚Wacht am Rhein‘, als wir – ein langer Zug voll junger Freiwilliger – an einem hellen Morgen über die alte Mainzer Brücke zogen, um als Ersatz an die Front zu gehen.“ (Zuckmayer: Als wär’s ein Stück von mir, S. 214.)

53

Krolop: Ludwig Winder, S. 51.

54

Vgl. Welling: „Von Haß so eng umkreist“, S. 74ff. Vgl. zu Stellungnahmen der deutschen jüdischen Intellektuellen zum Ersten Weltkrieg auch Sieg: Jüdische Intellektuelle. Es gab allerdings auch unter den deutschen Juden Prags Befürworter des Kriegs, da sie entweder deutschnational oder loyal gegenüber Habsburg eingestellt waren. Vgl. hierzu z.B. die kriegseuphorische Äußerung des Bar-Kochba-Mitglieds und Reserveleutnants Alfred Kraus, zitiert in Tramer: Dreivölkerstadt Prag, S. 170.

55

Vgl. Krolop: „Bewirkt wurde diese jähe „Verdüsterung“ nicht zuletzt durch den unerhörten Einbruch des Staates, seines Machtapparats und seiner Kriegsmaschinerie in eine Welt, die vor kurzem noch ihre eigentliche Gegenwelt in „Geschäft und Gesinnung der

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diesem Kontext auf die fatalistische Haltung der Prager Autoren in Bezug auf die Kultur des alten Österreichs ein.56 Auch in der literarischen Auseinandersetzung mit dem Krieg findet sich eine ablehnende oder distanzierte Haltung zu den Ereignissen, den Befehlsformen und der grauenhaften Realität der Schlachten. Der Erste Weltkrieg wird selten als Hauptthematik in Form eines Kriegsromans geschildert, sondern erscheint als Episode, die zwar in ihrem Grauen ein erschreckendes und singuläres Ereignis ist, in Bezug auf den Verfall der k.u.k.-Monarchie und der mit ihr verbundenen alten Normen und Werte jedoch keine Zäsur, sondern nur ein weiteres Glied im unausweichlichen Niedergang Österreichs darstellt. Die Kritik an Österreich ist somit auch das vorherrschende Moment in den meisten Kriegsdarstellungen der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur. In seinem Roman Kinder einer Stadt schildert Hans Natonek, wie der Auszug der Truppen aus Prag wahrgenommen wird. Dort ist keine Kriegsbegeisterung zu spüren, sondern Trauer, Verzweiflung und Wut. Obwohl Natonek nur sehr selten konkret auf das Verhältnis von Deutschen und Tschechen eingeht, ist die unsichere Stellung des österreich-ungarischen Staates in der Zeit kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Roman dauerhaft präsent. Österreich, und mit ihm verbunden die alten Konventionen, der Liberalismus und die gutbürgerliche und adlige Gesellschaft, gehört einer im Untergang begriffenen Zeit an, was sich sowohl im Erstarken deutschnationaler Tendenzen als auch in der noch lediglich beobachtenden, doch schon bedrohlich erscheinenden Haltung des tschechischen Proletariats äußert.57 Zu Kriegsbeginn wird

Väter“ gesehen und nun in dieser Gegenwelt wesentliche Umbesetzungen und Erweiterungen vorzunehmen hatte.“ (Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur, S. 65.) 56

Vgl. Fiala-Fürst: „Der 1. Weltkrieg fand die Prager deutschen Autoren besonders gut darauf vorbereitet, in ihm das Ende einer Epoche zu sehen. Der Zerfall Österreichs war seit langem ein „beliebter Unterhaltungsgegenstand“, die Weltuntergangsstimmung seit dem Anfang des Jahrhunderts eine der grundlegendsten in der gesamten österreichischen Kultur. Die Dichter auf dem ewig zerstrittenen, kampflustigen Prager Boden hatten den Untergang in schärferen Konturen noch als die Wiener täglich vor Augen, und als er tatsächlich kam in Form des Weltkrieges, fiel es keinem ein, ihm begeistert zuzujubeln, wie das die deutschen Dichter in der Mehrzahl taten.“ (Fiala-Fürst: Der Beitrag der Prager deutschen Literatur, S. 28.)

57

Während in der Kindheit der Protagonisten die tschechischen Arbeiter noch gutmütigzufrieden hinter der Hecke einen Kindergeburtstag im adligen Garten beobachten, erscheint es 1914, also zehn Jahre später, bei einem Fest für die sudetendeutsche Tuberkulosefürsorge bereits so, „als könnten die tschechischen Zaungäste, die höhnische Bemerkungen machten, besser Symbole deuten als die Festteilnehmer, die sich blind in den Schlund des Ungeheuers drängten“. (Natonek: Kinder einer Stadt, S. 159.)

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dies erstmals deutlich und ohne Zurückhaltung spürbar, indem es statt eines patriotischen Aufmarsches zu Protesten und Revolten kommt, die nur durch Zwang und gewalttätige Staatsmacht in Schranken gehalten werden können. Einer der Protagonisten, Egon Epp, erlebt den Kriegsbeginn mit ambivalenten Gefühlen: Die Menge, bleich, stumm und verstört, begleitete den Abmarsch ihres böhmischen Haus- und Lieblingsregiments. Einige Leute, die Verwünschungen und Protestschreie auszustoßen wagten, wurden verhaftet. Als die letzte Kompagnie hinter dem Gebäude des Verlade-Bahnhofs verschwunden war, wurden alle Zugänge zur Bahnrampe von Tiroler Kaiserjägern abgesperrt. Man hörte Kinder weinen und Frauen schreien. Epp war erbleicht. Zog Österreich so in den Krieg? Die Bajonette des Tiroler Regiments – er kannte ihre gelben Aufschläge – mussten den Abmarsch ins Feld sichern, wenn nicht erzwingen. Der Krieg war im Innern, der Feind war im Lande, man trieb ihn an die Front, in nächtlicher Heimlichkeit und mit dem Aufgebot der Gewalt – und dieses Land zog in den Krieg mit Jubel und „Prinz Eugenius, der edle Ritter!“ Noch war kein Schuß gefallen und schon blickte Epp hinter die patriotische Fassade, und da war nichts als Wüstheit, Grauen und Zerfall. Wie schön und erhebend war die illuminierte Kulisse: Österreich zieht in den Krieg. Aber der Blick dahinter – – Er wandte sich ab, floh, er wollte es nicht sehen.58

Die Ablehnung des Krieges ist nicht nur bei der jüngeren Generation der Schriftsteller Böhmens und Mährens anlässlich der Entwicklungen seit 1914 zu beobachten, sondern eine starke pazifistische Überzeugung lässt sich bereits bei Bertha von Suttner ausmachen, die kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verstarb, und Otto Pick verortet dies im Kontext einer spezifischen Haltung der Deutschen in Böhmen und Mähren: Ich halte es in diesem Zusammenhang für keinen Zufall, daß die große Pazifistin Berta von Suttner eine Pragerin gewesen ist: die Kriegsgegnerschaft hat innerhalb der deutschen Autoren aus Prag schon vor und mitten im Kriege ihre beredten Anwälte gefunden. Keine pazifistische Publikation oder Anthologie seit 1914 ist ohne die Mitarbeit deutscher Autoren aus Böhmen und Mähren herausgekommen.59

58

Ebd., S. 181f.

59

Otto Pick: Deutsch-tschechoslowakisches Literaturschicksal. Bertha von Suttner veröffentlichte 1889 den Roman Die Waffen nieder!, in dem sie das Elend verschiedener Kriege beschreibt und die Protagonistin zur überzeugten Pazifistin wird. Dass diese Haltung nicht durchweg eine böhmisch/mährische Erscheinung ist, sondern insbesondere auf deutschnationaler Seite auch eine recht martialische Metaphorik gepflegt wurde, übergeht Pick in seiner Darstellung. Der Olmützer Ottokar Stauf von der March (eigentlich Ottokar Friedrich Chalupka) etwa vertrat gegensätzliche Ansichten: „Chalupka nahm

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Der Grund hierfür mag im engen Zusammenleben zwischen Deutschen und Tschechen in der Region liegen, das besonders bei den Bevölkerungsteilen, die einen Austausch zwischen den Nationalitäten zu erreichen versuchten, das Verständnis des anderen Teils förderte und vor allem auch ein Mitgefühl für die Tschechen hervorrief, die von österreichischer Seite gezwungen wurden, in einem Krieg zu kämpfen, der nicht ihr eigener war, und dies noch dazu auf einer Seite, die ihre eigene Sache nicht förderte. Die tschechische Bevölkerung steckte in einer ideologisch sehr problematischen Position, da sie kein Interesse daran haben konnte, für einen österreich-ungarischen Staat in den Krieg zu ziehen,60 und sie gleichzeitig dennoch auf einen Krieg, und zwar auf einen langen, hoffen musste, um ihre nationalen Interessen durchsetzen zu können (ihre angebliche Disloyalität und ihr vermeintlicher Verrat gegenüber Österreich-Ungarn an der Front sind jedoch Mythenbildungen, welche von deutscher und österreichischer Seite genährt wurden).61 Masaryk schildert dieses Dilemma folgendermaßen: Ich fürchtete, daß der Krieg, wenn er kurz dauerte, uns nicht befreien würde, selbst wenn Österreich geschlagen werden sollte. Wir Tschechen waren nicht vorbereitet, die Kriegsmächte wußten kaum von uns. So erwog ich und spekulierte darüber, wer es länger aushalten könne – ich fürchtete den Fall, daß der Krieg kurz dauern könnte, und warf mir dabei die Grausamkeiten vor, die darin lagen, einen langen Krieg zu wünschen.62

eine kritische Haltung gegenüber der Struktur und „verweichlichten“ Kultur der multinationalen Habsburger Monarchie ein und wirkte als Aktivist der deutschösterreichischen Tendenzen mit großdeutschen Perspektiven. Er trat als Gegner der pazifistischen Bewegung auf, die sich seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Österreich-Ungarn zu verbreiten begonnen hatte. Seine Gedichtsammlung „Die Waffen hoch!“ (1907) stellt eine proklamative Negierung jener Bemühungen dar, die in Bertha von Suttners Roman Die Waffen nieder (1889) und in der gleichnamigen Revue (1894-1900) ihren Ausdruck fand.“ (Václavek: Ottokar Stauf von der March, S. 1.) 60

Vgl. hierzu auch Demetz: „Tschechische Soldaten kämpften sowohl auf österreichischer Seite (als Wehrpflichtige) als auch bei den Alliierten (als freiwillige Legionäre); die habsburgerische Militärgerichtsbarkeit verfolgte bekannte tschechische Politiker unnachsichtig und sperrte sie ein.“ (Demetz: Prag in Schwarz und Gold, S. 479.) Vgl. auch Pithart et. al.: Wo ist unsere Heimat, S. 170.

61

Vgl. Lein: Pflichterfüllung oder Hochverrat?

62

Čapek: Gespräche mit Masaryk, S. 123f. Brod kritisiert die Haltung Masaryks, mit dem er 1914 zu einem Gespräch zusammenkam, bei dem Brod sich für den Frieden einsetzte, Masaryk jedoch bereits die Idee der Gründung eines tschechischen Staates im Auge hatte:

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Diese schwierige und ambivalente Haltung der Tschechen zum Ersten Weltkrieg schlägt sich auch in der Schilderung der Weltkriegserfahrung in den deutschsprachigen Romanen nieder, da in ihnen, so z.B. in F.C. Weiskopfs Slawenlied, auch der Kriegsdienst gemeinsam mit tschechischen Rekruten thematisiert wird und die spürbaren Ressentiments der Tschechen gegen die anfänglichen österreichischen Kriegserfolge das alltägliche Leben beeinflussten.63 Zudem beschäftigte das Wissen um den Zwang, für eine fremde Nation in den Krieg zu ziehen, dem die slawischen Völker ausgesetzt waren, viele deutschsprachigen Autoren der Region und bestärkte sie in ihrer pazifistischen Haltung,64 die auch in den Romanen zum Ausdruck kommt. Ernst Weiß etwa lässt in seinem Roman Der arme Verschwender einen polnischen Offizier zu Wort kommen, der stellvertretend die problematische Position der slawischen Völker im Ersten Weltkrieg thematisiert. Der Protagonist, der zwar keiner konkreten politischen Ideologie folgt, jedoch in der sozialen Frage eine individuelle, humanistische, nationale Grenzen überwindende Position einnimmt, sieht in diesem Oberst einen zweiten Vater und sein Ressentiment gegen den Krieg resultiert auch aus der Kenntnis der slawischen Nationen und ihrer Unterdrückung durch Österreich:

„In der Folge erwies sich Masaryk als einer der energischsten politischen und organisatorischen Arbeiter; doch arbeitete er durchaus nicht in unserem Sinne des Friedens, sein Ziel war vielmehr eine Verschärfung des Krieges, die Zertrümmerung Österreichs. Die Versöhnung der Gegensätze, die uns damals, in den ersten Kriegstagen zum Greifen deutlich vorschwebte, lag weitab von seiner Bahn.“ (Brod: Streitbares Leben, S. 88.) Vgl. hierzu auch Welling: „Von Haß so eng umkreist“, S. 103ff. 63

Vgl. Max Brods Anekdote über das äußere Bild der Stadt: Bei österreichischen Siegen war es Pflicht, schwarz-gelb zu flaggen, doch pflegten vor allen Dingen die Tschechen die unfreiwillig herausgehängten Fahnen nicht, sondern ließen sie Wind, Wetter und Schmutz ausgesetzt: „Bald baumelten von den Prager Hausdächern traurige nasse Gespenster. Die Fahnen wurden dreckig, unansehnlich. Die Tschechen entfernten den Verwesungsschmuck nicht. Er flatterte nicht mehr. Bleiern hingen die Falten. Ganz Prag war bedeckt mit den ewig triefenden Begräbnistüchern. Ein Gefühl grenzenloser Preisgegebenheit hauchte kalt durch die stumm sich wehrende Stadt.“ (Brod: Streitbares Leben, S. 83.)

64

Für Paul Reimann ist auch die Entwicklung der sozialistisch-revolutionären Haltung der kommunistischen deutschen Prager Schriftsteller vor allen Dingen auf den Kontakt mit der tschechischen Bevölkerung während des Ersten Weltkrieges zurückzuführen: „Das Fortschreiten von einem noch vorwiegend passiven Widerspruch zu einer aktiven antiimperialistischen Haltung vollzieht sich im Kreis der Prager deutschen Literatur durch weitgehende Solidarität mit den kriegsfeindlichen Stimmungen der tschechischen Bevölkerung.“ (Reimann: Die Prager deutsche Literatur, S. 13f.)

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„Wir können durchkommen, wir sind stark“, sagte ich. „Du ja, Kadett, ich nicht! Ich bin Pole. Ich bin österreichischer Offizier. Habe mein ganzes Leben meinem Kaiser gedient. Mich führt niemand zur polnischen Legion. Siegt Österreich, kann ich als Pole nicht weiterleben. Siegt Rußland, kann ich als österreichischer Offizier nicht weiterleben. Einfaches Rechnung, Kadett? Und sieh her, die slawischen Brüder, wie sie jauchzen und die Mützen schwingen!“ Er wies auf die Landstraße, wo armselige, ausgehungerte polnische Bauern in ihren zerschlissenen Anzügen, meist ohne Pelze […] über den Deichseln ihrer kleinen Plachenwagen saßen und ihre ebenso armseligen Pferdchen – wie tief waren die Grate eingesunken, wie struppig waren die Felle über den hervorstehenden Rippen und Hüftknochen! – mit vielen Peitschenhieben und noch mehr Geschrei antrieben, damit sie die steile Höhe Chlomy in den ausgefahrenen, knirschenden Wagenspuren nähmen. […] „Schwingen sie ihre Mützen, die polnischen Juden, jauchzen sie?“ fragte er mich.65

Auch bei den ‚Sudetendeutschen‘ in den Randgebieten Böhmens blieb, so zumindest wird es aus der Retrospektive in den Romanen der 30er Jahre dargestellt, die Kriegsbegeisterung zunächst aus. Dies hatte jedoch keine pazifistischen Gründe und hing sicherlich nicht mit einer Anteilnahme an der tschechischen Situation zusammen, sondern entstand aus einer zunehmenden Skepsis gegenüber Österreich, wie sie z.B. in dem Roman Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland von Friedrich Bodenreuth dargestellt wird. Vorherrschend in dem Roman ist die Darstellung des Nationalitätenkonfliktes zwischen Deutschen und Tschechen, wobei der Protagonist eine intensive Heimatliebe aufweist, die einerseits stark mit dem Begriff ‚Böhmen‘ verbunden ist, andererseits mit den Begriffsfeldern ‚deutsch‘ und ‚Deutschland‘, jedoch keinesfalls etwas mit Österreich zu tun hat. Das österreichische Staatengebilde wird als schwächlich und zudem verräterisch an der ‚deutschen Sache‘ dargestellt, indem es die Tschechen bevorzuge: So oft [der Protagonist] Christopher Jakobs später in seinem Leben irgend etwas tat, wovon er glaubte, daß es für das Volkstum geschehen und von ihm allein getan werden müsse, stets verfluchte er diese Stimme, seine Füße zu hemmen, oder ihm in den Arm zu fallen. Denn was dem Volkstum diente, war ja immer irgendwie verboten in Österreich.66

Und so bleibt bei dem deutschnationalen Protagonisten auch zunächst die Kriegseuphorie aus, denn: „Es ist ein österreichischer Krieg.“67 Erst langsam reift in ihm die Erkenntnis, dass in diesem Krieg für die ‚deutsche Sache‘ und vor allem für die ‚Verteidigung des Deutschtums‘ gegen die Tschechen gekämpft wird und erst jetzt ist der

65

Weiß: Der arme Verschwender, S. 257f.

66

Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland, S. 22.

67

Ebd., S. 83.

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Protagonist bereit, in den Krieg zu ziehen: „Es ist eben ein deutscher Krieg. Und sie [die Tschechen] kämpfen gegen uns. Und ich bin hier an der unsichtbaren Front.“68 Es gibt somit auch keine Trauer um den Zerfall der k.u.k.-Monarchie, sondern nach Kriegsende lediglich Verzweiflung, da das Entstehen der Weimarer Republik die deutschnationalen Hoffnungen enttäuschte.69 Dieses Optieren für einen Anschluss an Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg war weder ein Einzelfall noch eine konservative Haltung, „sondern [verfolgte] eine Linie […], die ebenso zum Untergang des übernationalen Reiches beigetragen hatte wie der tschechische oder der ungarische „Verrat“: die Umwandlung in einen deutschen oder deutsch bestimmten Staat.“70 Dementsprechend war der Kriegsdienst unter österreichischer Fahne und in Kompagnien unter teils ungarischer, tschechischer oder polnischer Führung für die deutschnationalen Böhmen keine attraktive Option.

3.4 D IE R EVOLUTION UND DAS V ERHÄLTNIS ZUR NEUEN R EPUBLIK Das Ende des Ersten Weltkrieges bedeutete gleichzeitig auch die Geburt der Ersten Tschechoslowakischen Republik und somit eine politische Umwälzung der Verhältnisse, die sich in den vergangenen Jahren bereits eindeutig abgezeichnet hatte. Der Umsturz ereignete sich friedlich, auf den Straßen wurde die Anerkennung der tschechoslowakischen Rechte und der Frieden gefeiert, Ausschreitungen blieben aus, wie Weiskopf dies im Slawenlied beschreibt und auch der deutsche Gesandtschaftsbericht aus Prag vom 28.10.1918 trotz anfänglicher Bedenken verzeichnet: Die oben beschriebenen Straßenunruhen waren daher zunächst recht bedenklich und besorgniserregend, da sich keine Autorität der Volksmenge entgegenstellte. Die Polizei verschwand sofort von den Hauptstraßen, das Militär rückte zunächst nicht aus, und die Behörden schienen der Angelegenheit freien Lauf lassen zu wollen. Die Arbeit wurde sofort in allen Fabriken niedergelegt, und Tausende von Arbeitern fluteten, von niemand gehindert, in die innere Stadt. […] Übrigens scheint das Volk gar nicht gesonnen, weiteres Unheil anzurichten, sondern nur

68

Ebd., S. 101.

69

Vgl. ebd., S. 341: „Es hat keinen Sinn, Deutschland zu rufen. Deutschland hört die

70

Lemberg: Die Tschechoslowakei im Jahr 1, S. 8.

Stimme des Blutes aus Böhmen nicht mehr, Deutschland zerfleischt sich selbst.“

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seine geradezu frenetische, übrigens recht verständliche Freude darüber, daß das Ziel der staatsrechtlichen Aspiration jedes guten Tschechen erreicht ist, austoben zu wollen.71

Viele Prager Deutsche begrüßten die friedliche Revolution und sprachen sich vor allen Dingen aus der Retrospektive wohlwollend über die Errungenschaften des tschechischen Volkes und die Chance auf Demokratie und Humanität aus, wobei ihre Hoffnungen eng mit der Gestalt des neuen Präsidenten Tomaš G. Masaryk zusammenhingen.72 Skeptisch und sorgenvoll wurde jedoch der wachsende, sich gegen alles Deutsche richtende Nationalismus einiger Tschechen beobachtet, der sich bereits in den ersten Tagen nach der Revolution und dann verstärkt zu Beginn der 20er Jahre äußerte. Paul Anton Roubiczek, ein gebürtiger Prager Schriftsteller, Philosoph und Verleger, schrieb am 28. Oktober 1939, an dem Tag, der das 21jährige Bestehen der Ersten Tschechoslowakischen Republik gefeiert hätte, aus dem Exil in Großbritannien rückblickend über seine Erlebnisse in Prag 1918, seinen Enthusiasmus für die

71

Brief vom Kaiserlich Deutschen Konsulat an Seine Großherzogliche Hoheit den Herrn Reichskanzler Prinzen Maximilian von Baden, 29.10.1918. In: Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag I, S. 33. Diese Haltung Deutschlands gegenüber dem neu gegründeten Staat verärgerte die Deutschnationalen Böhmens und Mährens, die sich einen Anschluss der ‚Sudetengebiete‘ an Deutschland erhofften. Bodenreuth verarbeitet die Enttäuschung literarisch; in Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland verzweifelt ein Soldat an der Meldung aus der Zeitung: „Plötzlich lachte der Mann, schrill, krampfhaft. Nach Luft schnappend riß er den Kragen des Waffenrockes auf. Dann schrie er zwischen Kampf und Krampf: „Deutscher Generalkonsul in Prag – Gelbsattel – Freiherr von Gelbsattel – fürchtet Ausweisung der Reichsdeutschen aus Prag – Verlust ihrer Geschäfte. – Geht als erster – als erster! – als erster auswärtige Vertreter zu den Tschechen! – Keine Glückwünsche zur Errichtung des neuen Staates! – Das nicht! – O nein! – Aber gratuliert, daß der Umsturz – ohne Blutvergießen…! – Deutschland! – Als erster! – Gratuliert!“ Er zerknüllt die Zeitung, schleudert sie aus dem Wagen, wirft sich auf die Dielen nieder, verbeißt die Zähne in das Kalbfell und lacht seinen Schmerz in den dreckigen, durchschossenen Tornister hinein.“ (Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland, S. 301f.)

72

Vgl. aber auch den negativen Eindruck, den Masaryk 1914 auf Brod gemacht hat, indem dieser nach seinem Treffen mit ihm während des Ersten Weltkriegs erkennt, Masaryk habe „als nationaler Tscheche gesprochen, nicht als Weltbürger. Wir waren anderer, höherer Dinge von ihm gewärtig gewesen.“ (Brod: Streitbares Leben, S. 88.) Aus der Retrospektive antizipiert Brod hier die später enttäuschten Hoffnungen der deutschen Bevölkerung.

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Revolution und die baldige Ernüchterung; eine sehr prägnante Stelle, die auch schon Kurt Krolop zitiert hat:73 Ich war deutsch erzogen, aber auch an der Front hatte ich mich zur tschechischen Partei bekannt – die Berührung mit dieser gesunden demokratischen Gedankenwelt war eine wahre Erlösung, dem deutschen Nationalismus gegenüber, der sich ein endgültig deutsch-reaktionäres Österreich zurechtzimmerte. Mit den Tschechen träumte ich von anderen Zielen: echte Demokratie, Trennung von Kirche und Staat, Bodenreform, soziale Reform – das war es, was uns vorschwebte. Am 28. Oktober war ich in Prag […]. Und ich bewunderte restlos die tschechische Revolution: […] [K]ein Schuß fiel, kein Blut wurde vergossen, und noch am Abend desselben Tages, an dem gegen Mittag der Umsturz begonnen hatte, patrouillierte die neue tschechische Polizei durch die Straßen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Aber schon am dritten Tag irrte ich traurig und einsam durch die Menge, die noch immer die Straßen füllte. Denn an diesem Tag begann sich die Revolution zu verändern: es ging nicht mehr gegen die Doppeladler, sondern gegen deutsche Aufschriften; es war gefährlich, auf der Straße deutsch zu sprechen – mit einem Schlage war die Revolution nationalistisch geworden. Das war nicht die Revolution, die wir erwartet hatten! Wir wollten doch nicht die alten österreichischen Fehler wiederholen, in diesem Staate sollten alle Völker, die nun einmal da durcheinandergewürfelt waren, frei und in Eintracht leben – es ging um andere, menschliche Ziele!74

Wie unterschiedlich die Revolution literarisch im Sinne einer ideologischen Funktion dargestellt wurde, illustrieren kurze Episoden aus Weiskopfs Slawenlied und, dem entgegengesetzt, aus Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland von Friedrich Bodenreuth, aus Romanen also, die von jeweils einem kommunistischen und einem deutsch-nationalen Autor in den 30er Jahren verfasst wurden. Beide Romane schildern das Erlebnis des Kriegsheimkehrers, der noch die österreichischen Farben trägt und nach Prag bzw. Böhmen zurückkommt, das nun nicht mehr der k.u.k.-Monarchie angehört, sondern bereits Teil der Ersten Tschechoslowakischen Republik ist. Bei Bodenreuth, der den Schwerpunkt der Betrachtung auf die nationalen Differenzen 73

Vgl. Krolop: Nationale und kulturelle Attribuierungsprobleme, S. 120.

74

Roubiczek: Über den Abgrund, S. 115. Vgl. hierzu auch die Passage in Rühle-Gerstels Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit, in der Hanna nach ihrem Grenzübertritt die wenig weitsichtige Nationalitätenpolitik der Ersten Tschechoslowakischen Republik kritisiert, die diese von Österreich-Ungarn übernommen habe: „Hier, im deutschen Gebiet ist alles, was staatlich ist, tschechisch. Die kleinlich-bösartige Minderheiten-Politik des alten Österreich hat im neuen Staat kleinlich-bösartige Nachfolge gefunden, und zum ersten Mal geht es Hanna durch den Kopf, daß an dem, was der „Völkische Beobachter“ über die Sudetendeutschen schreibt, unter all dem widerlichen Schwulst doch vielleicht etwas Wahres ist.“ (Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 42.)

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legt, verläuft die Behandlung des Rückkehrers durch die Tschechen äußerst brutal: „Offizieren wurden die Kokarden von den Mützen, die Sterne und Aufschläge von den Kragen, die Achselspangen von den Schultern gerissen. Wer es nicht willig geschehen ließ oder gar ein deutsches Wort im Widerspruch erhob, wurde geohrfeigt, getreten und bespien.“75 Die Entrüstung über diese Vorfälle wird hier sehr deutlich; der Deutsche, der in seine Heimat zurückkehrt, werde schuldlos und ungerechtfertigt misshandelt, ohne sich wehren zu können. Auch F.C. Weiskopf schildert im Slawenlied körperliche Übergriffe auf Offiziere, die ihre Dekoration nach der Rückkehr nach Prag nicht abgenommen haben. Doch in diesem Roman, in dem der Umsturz nicht so sehr als nationale, sondern vielmehr als (später sich als enttäuschend und illusorisch herausstellende) soziale Revolution ihren Stellenwert erhält, erscheinen die Soldaten an ihrem Schicksal selbst schuld, da sie nicht in der Lage sind, sich den veränderten Umständen anzupassen, sondern durch ihre österreichischen Farben provozieren. Für alle anderen erscheint der Umsturz als ein Fest, das Herabreißen der Kokarden als kindischer Übermut eines jungen Volkes und Staates. So wird Hans, dem Jugendfreund des Protagonisten, von einem kleinen Jungen das Unteroffiziersportepee vom Bajonett gerissen, der dann Reißaus nimmt. Hans ist zunächst wütend, doch dann findet er sich schnell in der neuen Situation zurecht: Der Junge erreichte das Gittertor des Stadtparks. er hielt für einen Augenblick an, drehte sich um und streckte die Zunge weit heraus. Dann lief er weiter und verschwand hinter den Bäumen. Jetzt mußte auch Hans lachen. Er sagte: „Weißt du, da habe ich vorhin auf dem Bahnsteig ein großes Plakat gelesen: ‚Bürger, entösterreichert euch!‘, aber daß das so schnell gehen würde, habe ich nicht gedacht. So ein frecher Kerl!... Na, meinetwegen mag er das Zeug behalten.“76

Die Deutschnationalen und die Kommunisten bewerteten diese sich ähnelnden Ereignisse somit stark unterschiedlich, zum einen als Bedrohung des Deutschtums in Böhmen und Mähren, zum anderen als Begrüßung einer revolutionären Handlung, in der nicht nationale Differenzen im Vordergrund stehen, sondern die Chance des internationalen Proletariats, sich gegen Herrschaftsformen und den Kapitalismus aufzulehnen. Der Großteil der gemäßigten deutschsprachigen Bevölkerung jedoch, misst

75

Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland, S. 284. Der Widerstand gegen Offiziere nach Ende des Ersten Weltkrieges war jedoch kein rein böhmisches Phänomen und die Konflikte nicht auf Personen unterschiedlicher Sprache und Nationalität beschränkt. Mit Bezug auf Manes Sperber kommentiert und analysiert Helmuth Lethen ein ähnliches Ereignis auf dem Wiener Nordbahnhof im November 1918. Vgl. Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 16ff.

76

Weiskopf: Slawenlied, S. 123.

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man es an der literarischen Auseinandersetzung mit dem Jahre 1918 und auch an den Pressemitteilungen dieser Zeit, verhielt sich eher abwartend. Entscheidender war hier das von allen Seiten lang ersehnte Kriegsende; Ressentiments gegen den neuen Staat und die Konsequenzen des Regierungswechsels setzten erst in den Folgejahren, insbesondere in den Nachwehen des Jahres 1920, in dem der ‚Nationalitätenstreit‘ eskalierte, in vollem Umfang ein. Das Datum des Umsturzes behielt jedoch auch für die deutschsprachige Bevölkerung einen Symbolcharakter; selbst wenn besonders im Laufe der 20er Jahre auch bei den demokratischen und linken Schriftstellern teilweise Skepsis über die Lebensdauer des neuen Staates und seine politischen Entscheidungen vorherrschte, so erhielt die Gründung des Ersten Tschechoslowakischen Staates doch nach 1933 einen neuen Stellenwert als Hoffnungsträger, indem die Republik nun ein Exil und eine Wirkungsstätte für die aus Deutschland vertriebenen Schriftsteller und andere Gegner des Nationalsozialismus darstellte. Ludwig Winder bekannte sich in der zuvor deutschliberalen, aber auch nationalistischen Deutschen Zeitung Bohemia an seinem 17-jährigen Jubiläum explizit zum tschechoslowakischen Staat: Wer ein wahrer Freund des Volkes ist und deshalb dem Wirklichkeitssinn die Oberhand läßt, kann am heutigen Staatsfeiertag keinen besseren Wunsch äußern als den nach einem schrittweisen Entstehen einer echten Loyalität gegenüber dem Staate, der – trotz allem – eine letzte Insel der Demokratie in Mitteleuropa geworden ist, und gegenüber jedem einzelnen Bewohner dieses Staates, welcher Nation immer er angehören mag … […] [S]einen letzten Sinn kann das Ereignis des 28. Oktober 1918 nur erhalten, wenn die Vernunft siegt und die Humanität erstarkt.77

3.5 D AS J AHR 1920: D ER ESKALIERENDE N ATIONALITÄTENKONFLIKT UND DIE R OLLE DER P RESSE Das Kriegsende bildete eine massive Umschichtung der Herrschafts- und Lebensverhältnisse in ganz Mitteleuropa und blieb selbstverständlich auch in Prag nicht ohne Auswirkung auf das Zusammenleben zwischen Deutschen und Tschechen. Die Majoritätsverhältnisse hatten sich umgekehrt, die Bildung des tschechoslowakischen Staates hatte die deutsche Bevölkerung nicht nur zahlenmäßig, sondern nun auch de facto in eine Minderheit verwandelt. Gut veranschaulichen lässt sich die problematische Situation anhand der Ereignisse im Jahre 1920, in deren Nachhall viele der

77

Winder: Loyalität. Zum 28. Oktober. In: Deutsche Zeitung Bohemia, 108. Jg., Nr. 251 (27.10.1935); zitiert nach Krolop: Ludwig Winder, S. 75f.

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deutschsprachigen Autoren Prag und die Tschechoslowakei in Richtung Berlin verließen, um zumeist erst 1933 zurückzukehren. Für die Untersuchung der literarischen Auseinandersetzung mit dem Konflikt und der Art und Weise, wie sich die Lebensverhältnisse in den Romanen niederschlagen, ist die Wahrnehmung der Ereignisse von deutscher Seite bedeutsamer als ihre tatsächliche, aus der Retrospektive historisch rekonstruierbare Schilderung. In der Entstehung des öffentlichen Diskurses nahmen die publizistischen Organe eine wichtige Funktion ein, und auch in Bezug auf das Jahr 1920 kann vor allen Dingen die Bedeutung der beiden größten und ältesten Zeitschriften Prags, des Prager Tagblatts und der Deutschen Zeitung Bohemia, für die allgemeine Wahrnehmung des Konfliktes nicht überschätzt werden.78 Die beiden Presseorgane hatten eine unterschiedliche, vor allem die Nationalitätenfrage betreffende, politische Ausrichtung, suchten jedoch beide, die Stimmung in der Bevölkerung zu beeinflussen.79 Ihre Aussagen sind nicht nur sozial- und mentalitätsgeschichtlich, sondern auch literaturwissenschaftlich von bedeutender Aussagekraft, zumal eine enorme Anzahl der Prager Schriftsteller zeitweise oder auch über Jahrzehnte hinweg bei ihnen beschäftigt war.80 Pavel Doležal hat eine Charakterisierung der deutschsprachigen Presselandschaft in der Ersten Tschechoslowakischen Republik vorgenommen, die sich auch anhand der Berichterstattung im November 1920 bestätigen lässt. Beim Prager Tagblatt handelte es sich um „ein hervorragend redigiertes Nachrichten- und Geschäftsblatt, das wegen seiner nationalgemäßigten Haltung auch zahlreiche tschechische Leser hatte“,81 und es bemühte sich dementsprechend vor allem „in Bezug auf das Natio-

78

Vgl. zur Geschichte und politischen Ausrichtung der beiden Zeitungen auch Krolop: Lud-

79

Zur Rolle der Zeitungen in der Befeuerung des Nationalitätenkonflikts vgl. auch Syro-

wig Winder, S. 45ff. vátková, die anhand der Untersuchung eines Kommentars aus der Reichenberger Zeitung aus dem Jahre 1897 Selbst- und Fremdwahrnehmungen und -darstellungen der deutschen Bevölkerung untersucht, da „Journalisten als potentielle Erzeuger und Multiplikatoren von Stereotypen gelten“. (Syrovátková: Selbstbild und Fremdbild, S. 42.) 80

Besonders nach dem Ersten Weltkrieg waren viele Schriftsteller gezwungen, auch als Redakteure bei den Prager Zeitungen zu arbeiten, da sie dort tschechische Kronen verdienten, während die Einnahmen für ihre literarischen Publikationen in Österreich oder der Weimarer Republik aus den in der Tschechoslowakei aufgrund der Inflation fast wertlosen deutschen und österreichischen Währungen bestanden. (Vgl. hierzu auch Krolop: Winder, S. 58.)

81

Doležal: Tomáš G. Masaryk, Max Brod und das Prager Tagblatt (1918-1938), S. 44.

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nalitätenproblem in Böhmen und Mähren [, ein] möglichst vorurteilslose[s] Presseorgan[]“82 zu sein. Bei der Deutschen Zeitung Bohemia nahm dagegen „[d]er nationale Charakter der Zeitung […] bis zur Gründung der Tschechoslowakei zu. Das Blatt lehnte alles ab, was mit der tschechischen Nation verbunden war und man beharrte geradezu hartnäckig auf der Aufrechterhaltung der alten Tradition und achtete darauf, dass kein tschechisches Wort vorkam.“83 Diese Ausrichtung änderte sich erst in den 30er Jahren wieder, als vor allen Dingen Ludwig Winder, Feuilletonredakteur der Bohemia, mutige Artikel gegen den Nationalsozialismus und dessen Kulturpolitik verfasste, die zur Folge hatten, dass das Blatt im nationalsozialistischen Deutschland verboten wurde.84 Beide Blätter vertraten jedoch die deutsche Seite und beschäftigten sich vorrangig mit den Vorkommnissen in Böhmen und Mähren. Konnte man zwar durchaus eine unterschiedliche politische Ausrichtung und Berichterstattung ausmachen, wurden die beiden Presseorgane doch von Zeitgenossen wie Grete Fischer teilweise recht wenig voneinander differenziert: Prag hatte zwei größere deutsche Blätter, außer der amtlichen Zeitung, die man verachtete. Beide waren eigentlich liberal, aber ihre scharf deutschnational gerichteten Meinungen verdarben mir für immer den Geschmack an Politik: Ich fand sie kleinlich, unmenschlich, ähnlich wie ich heute [1966] die deutsche Presse wieder finde.85

Die Rolle, welche die publizistischen Organe in der öffentlichen Wahrnehmung der nationalen Auseinandersetzungen innehatte, lässt sich an der Berichterstattung über die Ereignisse im November 1920 ablesen. In der Nacht vom 13. auf den 14. November 1920 stürzten tschechische Legionäre die Kaiser-Joseph-Statue in Eger, wie dies zuvor bereits in Teplitz geschehen war.86 Daraufhin fanden in der hauptsächlich von Deutschböhmen bewohnten Stadt antitschechische Pogrome statt. Besonders die Details der Berichterstattung über dieses Ereignis unterscheiden sich stark in den beiden Zeitungen, die jeweils in der Dienstagsausgabe des 16.11.1920 darüber berichteten. So brach bei der Aktion der rechte Arm der Statue ab, was das Prager Tagblatt mit einem lapidaren Satz, der zudem noch einen leicht komischen Effekt hervorruft, konstatierte: „Beim Sturz der Statue war ihr der rechte Arm abgebrochen worden, so daß 82

Ebd., S. 16.

83

Ebd., S. 41.

84

Vgl. hierzu ausführlich auch Krolop: Ludwig Winder, S. 69ff.

85

Fischer: Dienstboten, Brecht und andere, S. 72.

86

Vgl. zur Bedeutung der Denkmäler für die nationale Distinktion Schneider: Wachposten und Grenzgänger, S. 141ff. Schneider bezieht sich hier explizit auf Prag, jedoch kann man davon ausgehen, dass die Monumente in der Provinz eine mindestens ebenso große Relevanz für die Behauptung der nationalen Identität besaßen.

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sie einarmig auf ihrem Grunde steht.“87 Bei der Bohemia erscheint dies jedoch als ein mutwilliger Akt, der zudem einen symbolischen nationalen Charakter der Unterdrückung erhält: „Die Legionäre versuchten nun, die Bronzestatue zu zerlegen und es gelang ihnen, einen Arm abzuschrauben. Mit diesem droschen sie wie wütend auf das Standbild ein, ohne daß ihnen eine Zertrümmerung gelungen wäre.“ Und weiter, nach Wiederaufstellung der Statue: Von allen Häusern des Platzes und der angrenzenden Straßen wehte schwarz-rot-goldener Flaggenschmuck. Die solange vermißten deutschen Farben erfreuten wieder die Augen und auch Josef II., dem, wie Senator Friedrich sagte, jener rechte Arm fehlt, der die Urkunde über die Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft hält, trug um die Brust ein breites schwarz-rotgoldenes Band.88

Zudem wird hier bewusst nationaler Hass geschürt, indem Details aus dem Denkmalsturz benannt werden, über die das Prager Tagblatt nicht berichtet und deren Richtigkeit zu bezweifeln ist, da die Legionäre kurz nach dem Sturz vor der nahenden, erbosten Menge der Anwohner flüchten mussten: „Ehe die Legionäre jedoch abzogen, besudelten sie noch die Statue in gemeinster Weise.“89 Am nächsten Morgen kam es daraufhin zu Ausschreitungen, bei denen die tschechische Schule zerstört wurde, deutschen Mädchen, die mit Tschechen getanzt hatten, die Haare abgeschnitten und tschechische Legionäre bedroht und verprügelt wurden. Das Prager Tagblatt konstatiert diese Ereignisse in nüchternem Ton, verurteilt sie, gibt aber dennoch den Tschechen die Schuld daran, da sie diese selbst provoziert hätten: Die Egerer Bevölkerung hat auf die Versuche, das Denkmal zu stürzen, mit Gegendemonstrationen geantwortet. Sie sind, wie alle Handlungen bracchialer Natur, ebenso wenig zu billigen, wie die Taten, durch die sie hervorgerufen wurden und niemandem wird es einfallen, sie als Mittel einer klugen Politik zu preisen. Aber letzten Endes fällt die Schuld an diesen häßlichen und kulturwidrigen Szenen auf die zurück, welche durch den frivolen Anschlag auf Volksgefühle diese Leidenschaften entflammt haben.90

87

Prager Tagblatt: Wieder ein Denkmalsturz, 45. Jg. Nr. 269 (16. November 1920), S. 1.

88

Deutsche Zeitung Bohemia: Denkmalschändung in Permanenz, 93. Jg., Nr. 269 (16. No-

89

Ebd.

90

Prager Tagblatt: Wieder ein Denkmalsturz, 45. Jg. Nr. 269 (16. November 1920), S. 1.

vember 1920), S. 1.

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In der Bohemia, in der zudem der Übergriff auf die tschechische Schule unterschlagen wird, erscheinen die Vergeltungsmaßnahmen als „gerechte[r] Zorn“, der sich lediglich bedauernswerter Weise in mittelalterlicher Manier äußere. Während die tschechischen ‚Legionäre‘ als „feige[] Helden der Nacht“ und „rohe[] Kerle“ betitelt werden, die eine „brutale Tat“ begangen haben, wird das Verhalten der deutschen Egerer, die sich im Gegensatz zu den Tschechen nicht nur an Gegenständen, sondern auch an Menschen vergriffen hatten, nicht nur gutgeheißen,91 sondern vor allem auch wegen seiner unbürokratischen Vorgehensweise gelobt: Noch in derselben Nacht war das Denkmal wieder aufgestellt, und die Abfertigung, die sich die Veranstalter jener als Satyrspiel gedachten Aufführung auf dem Egerer Marktplatz geholt haben, mögen ihnen mit nicht mißzuverstehender Unzweideutigkeit gezeigt haben, daß es Egerländer Art ist, Bubenstreiche ohne Verzug und ohne Instanzenweg an Ort und Stelle nach Gebühr zu honorieren.92

Diese Haltung der Zeitung kommt nicht von ungefähr, sondern bezieht sich auf die Verbitterung über die Kommission in Teplitz, die von den tschechischen Behörden nach dem Denkmalsturz eingesetzt wurde und von der Bohemia als „Farce“ angesehen wird, da keine Wiedergutmachung des geschehenen Unrechts zu erwarten und dies eine allgemeine Tendenz in der tschechoslowakischen Regierung und ihrem Umgang mit der deutschen Minderheit sei: Wir haben demgemäß zwei Tatsachen festzustellen, Erstens: die staatliche Autorität versagt angesichts der Gewaltakte der in Wirklichkeit regierenden Legionäre. Zweitens: die staatliche Autorität funktioniert bewunderungswürdig, wenn es sich darum handelt, Beschwerden und Forderungen bei Minderheiten zu unterdrücken.93

Die Bohemia folgt demnach einer Darstellung der Ereignisse, in der sich die Deutschböhmen als Opfer stilisieren. Dies unterstützte ihre Forderungen nach einem Anschluss an Deutschland, hemmte gleichzeitig jegliche Annäherung an die Tschechen und erschwerte eine Verständigung zwischen den beiden Nationalitäten vor allem in

91

Vgl. Deutsche Zeitung Bohemia: „Während des ganzen Tages ließ sich in den Straßen der Stadt keiner der Helden der nächtlichen Untat blicken. Zwei Legionäre, die den Versuch machten, in die Stadt zu gelangen, wurden von der empörten Menge tüchtig verprügelt.“ (Deutsche Zeitung Bohemia: Denkmalschändung in Permanenz, 93. Jg., Nr. 269 (16. November 1920), S. 2.)

92

Deutsche Zeitung Bohemia: Teplitz, Eger, Karlsbad, Jg. 93, Nr. 269 (16. November

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Ebd.

1920), S. 1.

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den Grenzgebieten für die gesamte Dauer der Ersten Tschechoslowakischen Republik massiv. Im Anschluss an die antitschechischen Ausschreitungen in Eger kam es als Gegenreaktion zu antideutschen und antijüdischen Ausschreitungen in Prag, die drei Tage anhielten. Die Berichterstattung in den beiden betrachteten Zeitungen bietet hier weniger Stoff zur Untersuchung, da sie beide der tschechischen Zensur unterlagen. Die Räumlichkeiten des Prager Tagblatts wurden gestürmt und die Zeitung konnte drei Tage lang nicht erscheinen, die Bohemia entkam Übergriffen, indem sie auf Veröffentlichung verzichtete. Am Samstag, den 20.11.1920, erschienen Berichte mit nüchternen Beschreibungen der Vorkommnisse, bei denen zahlreiche deutsche Einrichtungen besetzt und teilweise zerstört wurden, unter anderem das Landestheater und das Neue deutsche Theater, das Deutsche Haus, außerdem der Deutsche Turnverein, die Schlaraffia, der Mensa academica sowie Studentenheime und deutsche Schulen. Besonders stark betroffen war das jüdische Rathaus: „Das Archiv ist vollständig devastiert, sousagen [sic] ein Misthaufen, die Akten zum Teile vernichtet, wertvolle historische Dokumente unwiederbringlich verloren.“94 Interessant an der Berichterstattung vom 20.11.1920 sind die Schuldzuweisungen der deutschen und tschechischen Presse, die beleuchten, wie entscheidend die Presseorgane in den Nationalitätenstreit eingriffen, die Bevölkerung beeinflussten und Pogrome heraufbeschwören konnten. Das Prager Tagblatt gibt an dem Beginn der Prager Ereignisse vor allen Dingen der Berichterstattung der tschechischen Presse die Schuld: Nachdem die tschechischen Morgenblätter vom Dienstag zum Teil sehr grell gefärbte Berichte über die Demolierung der tschechischen Schule in Eger und die angebliche [!] Mißhandlung95 deutscher Frauen und Mädchen, welche mit Legionären verkehrt oder auch nur getanzt haben sollen, veröffentlicht hatten, […] fand um die Mittagstunde vor dem Wenzelsmonument eine Volksversammlung statt, in welcher über die Egerer Vorfälle in heftigster Weise gesprochen wurde.96

94

Prager Tagblatt: Von Dienstag bis Freitag. Die Prager Ereignisse. 45. Jg., Nr. 270 (20.

95

Ein paar Tage zuvor hatte das Prager Tagblatt selbst von der Schändung dieser deutschen

November 1920), S.1. Frauen durch Deutschnationale in Eger als unumstößliche Tatsache berichtet. (Vgl. Prager Tagblatt: Wieder ein Denkmalsturz, 45. Jg. Nr. 269 (16. November 1920), S. 1.) 96

Prager Tagblatt: Von Dienstag bis Freitag. Die Prager Ereignisse. 45. Jg., Nr. 270 (20. November 1920), S.1.

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In einer Solidaritätserklärung mit der deutschen Presse, vor allem anlässlich der Stürmung der Redaktion des Prager Tagblattes, die in dieser Zeitung am 20.11.1920 abgedruckt wurde, verurteilt das Syndikat der tschechischen Tagespresse zwar jegliche Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit, beschuldigt jedoch gleichzeitig die deutsche Presse der Hetze: „Allerdings hält es das Syndikat gleichfalls für seine Pflicht, sich gegen den Ton zu verwahren, in welchem einige deutschen hiesigen Blätter unsere öffentlichen Verhältnisse zu besprechen pflegen, womit in diese Verhältnisse nur neue Bitterkeit und Spannung gebracht wird.“97 Diese gegenseitigen Beschuldigungen illustrieren die Beteiligung der Presse sowohl auf deutscher als auch auf tschechischer Seite an der Befeuerung der nationalen Differenzen. Selbstverständlich jedoch arbeitete die Presse auch in entgegengesetzter Richtung. Zeitungen und Zeitschriften waren auch ein Medium der Verständigung und es gab durchaus Presseorgane, die sich explizit für eine Lösung des Konflikts und einen Austausch zwischen der deutschen und der tschechischen Kultur einsetzten.98 Es ist davon auszugehen, dass die Prager Schriftsteller durch die Zeitungen gut über die politische Situation in der Ersten Tschechoslowakischen Republik informiert waren, und, wenn sie dies auch nicht explizit in ihren literarischen Werken taten, so doch journalistisch und essayistisch Stellung zu den Ereignissen bezogen. Besonders in der Anfangsphase der Republik gab es eine große Unzufriedenheit in der deutschen Bevölkerung, was einerseits darauf zurückzuführen ist, dass die Umstellung der Majoritätsverhältnisse und das plötzliche Bewusstsein, nun in einem tschechischen und tschechischsprachigen Land zu leben, noch nicht verarbeitet waren. Die Hierarchieverhältnisse hatten sich umgekehrt, zudem gab die wechselhafte Politik der Regierung, die besonders in der Nationalitätenfrage uneins war, Grund zur Kritik. Problematisch war in diesem Sinne das sowohl von Lenin als auch von Wilson beschworene Selbstbestimmungsrecht, das besonders in den neu entstandenen Ländern Mitteleuropas, in denen mehrere Nationen lebten, zu unterschiedlichen Auslegungen führte: Das […] „konstruktive“ Verständnis des Selbstbestimmungsprinzips oder -rechtes ist auf die Sprachnation bezogen gewesen und hat daher – bei aller einmütigen Akzeptanz des Prinzips selbst – notwendigerweise zu Konflikten in Staaten geführt, die objektiv multinational waren wie die Tschechoslowakei, und zwar von Anfang an. Die Konfliktlinie verlief zwischen den einzelnen Nationalitäten des Staates (hier besonders zwischen Tschechen und Deutschen), aber

97

Prager Tagblatt: Für die Freiheit der Presse, 45. Jg. Nr. 270 (20. November 1920), S.1.

98

Vgl. hierzu z.B. Doležal: Tomáš G. Masaryk, Max Brod und das Prager Tagblatt (19181938).

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auch in der den Staat beherrschenden Nation (oder in diesem Falle: Doppelnation) zwischen den Auffassungen über den Grad der nationalen Prägung des neuen Staates selbst […].99

Zwei Auffassungen stachen heraus, widersprachen sich gegenseitig und führten zu Unsicherheiten in der Politik: einerseits die Meinung, die unter anderem Ministerpräsident Karel Kramář vertrat, nämlich das Eintreten für einen deutlichen tschechischen Nationalstaat, andererseits jedoch die angestrebte Politik des Präsidenten Tomáš G. Masaryk, der den Minderheiten ihren Platz im neuen Staat einräumen wollte.100 Diese Uneindeutigkeit verursachte Unsicherheit und Unmut in der deutschsprachigen Bevölkerung. Der Prager Schriftsteller Johannes Urzidil nahm 1922 ausführlich zu den Verhältnissen in der jungen Republik Stellung, indem er sowohl die Politik Kramářs als Realpolitik anprangerte als auch Masaryks Haltung als Utopie abtat: Die edle ideologische Auffassung Masaryks vom Staate als Erfüllung des Humanitätsideals vermochte sich die Realpolitik in keiner Weise anzueignen. Die Masse des tschechischen Volkes sah und konnte nichts anderes sehen als einen Nationalstaat, für die Tschechen vor allem als Heimat geschaffen, für die übrigen Nationen aber bloß von der Bedeutung einer Gaststätte.101

Die kurz nach der Entstehung des Staates geäußerte Utopie der Tschechoslowakischen Republik als ‚zweite Schweiz‘102 schien sich nicht verwirklichen zu lassen, Urzidil führt als Gründe die Nichtbereitschaft der tschechischen Regierung an, eine Modifikation des Modells vorzunehmen, die der besonderen Situation in der Tschechoslowakei entsprach, nämlich der kulturellen und wirtschaftlichen Heterogenität

99

Lemberg: Die Tschechoslowakei im Jahr 1, S. 4. Vgl. zum Selbstbestimmungsrecht und seiner Bedeutung für den Konflikt zwischen Deutschen und Tschechen im ‚Sudetenland‘ nach 1918 auch Leoncini: Die Sudetenfrage in der europäischen Politik, S. 33ff.

100 Vgl. ebd. 101 Urzidil: Tschechen und Deutsche, S. 160. Der letzte Satz ist wohl auch zu nicht geringem Teile der vielbeachteten Rede Masaryks vor der Nationalversammlung am 22. Dezember 1918 geschuldet, in der er die Deutschen als „Kolonisten“ bezeichnete: „Wir haben unseren Staat geschaffen. Dadurch wird die staatsrechtliche Stellung unserer Deutschen bestimmt, die ursprünglich als Immigranten und Kolonisten ins Land kamen.“ Auch wenn Masaryk unmittelbar hinzufügte, „daß die Minoritäten in unserem Staat … die volle bürgerliche Gleichberechtigung genießen werden“, erschien dies den Deutschen als ein falsches Signal und böses Omen für ihre Stellung im neuen Staat. (Zitiert nach Klepetař: Seit 1918…, S. 26.) 102 Vgl. Hoffmann: November 16, 1920, S. 390.

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der Völker.103 Er verweist dabei explizit auf den unterschiedlichen sozialen Status von Tschechen und Deutschen sowie auf die religiösen Differenzen, die statt des nationalen Faktors vor 1848 entscheidend für die Trennung gewesen seien.104Als Lösung schlägt er vor, die Deutschen sollten von der Minoritätenpolitik der Tschechen in der k.u.k. Monarchie lernen und den neuen Staat durch die Erlernung der tschechischen Sprache und die Übernahme von politischen Ämtern untergraben und zu ihren Gunsten verändern.105 Die Realität jedoch sah anders aus: Vor allem in den Grenzgebieten, in denen die größte Anzahl der Deutschböhmen lebte, fand statt einer Annäherung an die Tschechen eine Annäherung an Deutschland statt und der Wunsch nach einem Anschluss und der Kampf um die ‚Erhaltung der deutschen Kultur‘ wuchsen. Lemberg hat die beiden möglichen Positionen der Deutschböhmen, die Urzidil ebenfalls anspricht, aus der Retrospektive formuliert. Sie standen vor einer Weggabelung, deren Zweige weit auseinanderführten: Näher lag zweifellos das Beibehalten des bisherigen Zustandes, also das Verbleiben bei Österreich oder wenigstens bei dessen deutschem Rest nach dem Abfall der anderen Nationalitäten. […]

103 Vgl. Urzidil: Tschechen und Deutsche, S. 175. 104 Vgl. ebd., S. 165. 105 Vgl. ebd., S. 171f. Die Idee, sich durch Zweisprachigkeit einen nationalen Vorteil zu verschaffen, gab es bereits vor der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik, die Umsetzung durch einen verpflichtenden Tschechischunterricht an deutschen Schulen scheiterte jedoch: „Die Kenntnisse des Tschechischen als zweiter Landessprache wurde nicht in erster Linie mit der Funktion, Brücken in Prag und in Böhmen zu bauen, gerechtfertigt, sondern – mit der angeblich notwendigen Verschärfung nationaler Frontbildungen. Die Idee, Fremdsprachenkenntnisse als Mittel nationalistischer Auseinandersetzung zu propagieren und dadurch auszuweiten, sollte jedoch angesichts der auf sprachliche Absonderung und Zerstörung mehrsprachiger und multiethnischer Milieus zielenden nationalistischen Reinheits- und Einheitsvorstellungen scheitern.“ (Luft: Sprache und Nationalität, S. 118.) Auch in der deutschnationalen Literatur begegnet die Strategie des Erlernens der tschechischen Sprache, jedoch nicht in Urzidils Sinne und um Brücken zu schlagen, sondern um subversiv gegen die tschechische Nationalbewegung zu agieren. Der Protagonist in Bodenreuths Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland bedient sich etwa der tschechischen Sprache, die er fließend beherrscht, um die Tschechen im Ersten Weltkrieg zu bespitzeln und somit etwaige staatsverräterische Komplotte aufzudecken. Er erinnert sich dabei an einen Ausspruch seines Vaters: „Wer unser Volkstum hier wirksam verteidigen will, muß Tschechisch lernen. Wer die Sprache seines Gegners vollkommen beherrscht, hat eine furchtbare Waffe in der Hand!“ (Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland, S. 105.)

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Weit schwerer vorstellbar war die andere Option: Das Aufgehen in einem neuen Staat unter offensichtlicher Dominanz derjenigen Nationalität, mit der ein seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts sich zunehmend verschärfendes Konkurrenzverhältnis bestand.106

Diese beiden Entscheidungsmöglichkeiten zeichneten sich auch in der Literatur ab und sie dienen in ihrer literarischen Verarbeitung häufig als Differenzierungsmerkmale zwischen der ‚Prager deutschen‘ und der ‚sudetendeutschen‘ Literatur, deren Unterscheidung gerade aufgrund der ideologischen und politischen Ausrichtung der Autoren gezogen wird (vgl. Kapitel 2.1). Die politische und nationale Stellungnahme spielt auch in Hinblick auf die Identitätskonzepte in den Romanen eine Rolle, indem einerseits vor allen in den deutschnationalen Romanen die Verortung des Individuums eng an die Identifizierung mit der ‚nationalen Sache‘ gebunden wird und andererseits in den nicht-deutschnationalen Romanen die Notwendigkeit einer Re-Orientierung jenseits nationaler Grenzen thematisiert wird, so z.B. in einer Episode aus Walter Seidls Der Berg der Liebenden, in der die Problematik und innere Zerrissenheit des 1920 ungewollt zwischen die nationalen Fronten geratenen Protagonisten, der sich weder mit den deutschen noch mit den tschechischen Forderungen identifizieren kann, geschildert wird.107

3.6 ABSCHIED

VON

P RAG

Die Ereignisse kurz nach der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik, die Nachwehen des Ersten Weltkrieges und die neuen Herrschaftsverhältnisse in der Region führten jedoch nicht nur zu einer Verschärfung des Nationalitätenkonflikts und einer, wenn auch häufig aus der Retrospektive überspitzt dargestellten, wachsenden Kluft zwischen den Deutschen in der Hauptstadt Prag und denen der Grenzregionen, sondern auch zu weiteren Veränderungen der sozialgeschichtlichen Situation, welche die Entstehungsbedingungen der Literatur der Zwischenkriegszeit bestimmten. Hierzu gehören etwa schwindende Publikationsmöglichkeiten, die Kulturpolitik der tschechischen Regierung, der sich wandelnde Absatzmarkt und die durch die Inflation der österreichischen und deutschen Währung bedingten finanziellen Probleme. Diese Faktoren hatten wiederum entscheidenden Einfluss auf das kulturelle Milieu der Stadt Prag und seine Zusammensetzung,108 indem viele deutschsprachige

106 Lemberg: Die Tschechoslowakei im Jahr 1, S. 8. 107 Vgl. Seidl: Der Berg der Liebenden, S. 123ff. 108 Das Jahr 1918 wurde von vielen Literaturwissenschaftlern als eine Art Zäsur empfunden, nach der es einen, für die vorherigen Generationen noch behaupteten, deutschsprachigen Dichterkreis nicht mehr gegeben habe (vgl. auch Kapitel 2.3.1).

128 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM

Schriftsteller sich dazu entschlossen, die Stadt zu verlassen, um sich für die Zeit der Weimarer Republik bevorzugt in Berlin anzusiedeln.109 Auch persönliche Gründe haben für das Verlassen Prags in den 20er Jahren eine Rolle gespielt, allerdings begegnen immer wiederkehrende Motive, die auf ein kollektives Empfinden und eine Verschlechterung der Lebens- und Publikationsbedingungen für die deutschsprachigen Schriftsteller Böhmens und Mährens schließen lassen. Als Quelle für die Behandlung der Entscheidung vieler Prager Schriftsteller, die Stadt und das Land zu verlassen, bietet sich die Rundfrage „Warum haben Sie Prag verlassen?“ im Prager Tagblatt vom Juni 1922, auf die verschiedene Schriftsteller antworteten, hervorragend an und ist auch in diesem Sinne schon mehrfach genutzt worden, erstmals von Kurt Krolop.110 Hierbei spielte das Jahr 1920 eine besondere Rolle bei der Entscheidung und galt sogar häufig als unmittelbarer Auslöser der Emigration. Vor allem die ‚Wegnahme‘ des Landestheaters nahm eine bedeutsame symbolische Stellung ein. Es ging hierbei nicht so sehr um die Tatsache, dass das Theater nun tschechisch wurde, dies war ohnehin zu erwarten gewesen, sondern um die Art und Weise, in der diese Aneignung vor sich ging: Trotzdem übertraf diese „Wegnahme“ alle Befürchtungen; denn sie war kein administrativer Akt, sondern ein Glied in einer Kette chauvinistischer und antisemitischer Krawalle, welche vor allem die tschechischen Nationaldemokraten als „Revanche“ für antitschechische Exzesse in Eger inszenierten, um der seit dem Antritt der „Beamtenregierung“ Černý (15. September 1920) angewachsenen Unzufriedenheit und Empörung ein bequemes Ventil zu schaffen.111

Die tatsächlichen Ausschreitungen in Prag werden, ähnlich wie die Ereignisse von 1897, von den Prager Schriftstellern nur selten geschildert, lediglich im Slawenlied von F.C. Weiskopf werden dieser Episode einige Seiten gewidmet, wobei hier stark der antisemitische Charakter der Ereignisse hervorgehoben wird. Diesen hat auch 109 Die Entscheidung für die Weimarer Republik im Gegensatz zu Österreich als Destinationsort mag mit der Wahrnehmung Berlins in der Moderne um 1900 zusammenhängen, die dazu veranlasste, Berlin als „Schmelztiegel (die Literaturszene in Berlin wird im wesentlichen von Nicht-Berlinern getragen) und als tabula rasa zu bezeichnen; als Ort, der gerade wegen der fehlenden kulturellen Tradition zur Experimentierbühne für kulturelle Neuerungsbewegungen wurde.“ (Sprengel/Streim: Berliner und Wiener Moderne, S. 221.) Das kulturelle Fußfassen erschien dementsprechend in Berlin leichter als in der alten Kulturmetropole Wien. Diese Sichtweise wurde noch verstärkt durch die Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg, nach dessen Ende Österreich und mit ihm die Landeshauptstadt drohte, durch die Gebiets- und Machtverluste in der Marginalität zu versinken. 110 Vgl. Krolop: Hinweis auf eine verschollene Rundfrage. 111 Ebd., S. 95.

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Franz Kafka zu spüren bekommen und er äußert in seinen Briefen an Milena aufgrund dessen den Wunsch, Prag den Rücken zu kehren: Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhaß. „Prašivé plemeno“ habe ich jetzt einmal die Juden nennen hören. Ist es nicht das Selbstverständliche, daß man von dort weggeht, wo man so gehasst wird (Zionismus oder Volksgefühl ist dafür gar nicht nötig)? Das Heldentum, das darin besteht doch zu bleiben, ist jenes der Schaben, die auch nicht aus dem Badezimmer auszurotten sind. Gerade habe ich aus dem Fenster geschaut: berittene Polizei, zum Bajonettangriff bereite Gendarmerie, schreiende auseinanderlaufende Menge und hier oben im Fenster die widerliche Schande, immerfort unter Schutz zu leben.112

Doch dass die nationale Auseinandersetzung von 1920 in den Romanen und anderen literarischen Zeugnissen nicht so sehr im Vordergrund steht, kann auch als Anhaltspunkt dafür dienen, dass die Gründe, die Erste Tschechoslowakische Republik zu verlassen, zumeist gar nicht so stark mit den offenkundigen nationalen Konflikten verbunden waren; mit diesen waren die deutschmährischen und deutschböhmischen Autoren ohnehin aufgewachsen und die allgemeine Lage hatte sich, vor allen Dingen in Prag (abgesehen von den Exzessen 1920) nicht extrem verschärft. Entscheidender mag dementsprechend der wirtschaftliche Aspekt gewesen sein, und hier bedeutete die Gründung des tschechoslowakischen Staates tatsächlich große Unterschiede113 und massive finanzielle Einbußen im Vergleich zu der Situation zuvor, denn das Lesepublikum in Österreich und Deutschland zahlte nun in fremder Währung. Besonders nach der Inflation konnten die Schriftsteller von ihren Einnahmen, in die stabile Währung der tschechoslowakischen Krone umgetauscht, unmöglich leben. Ein anonymer, aber „bekannter Prager Schriftsteller, der schon seit einiger Zeit im Ausland lebt“, gab 1922 in der Deutschen Zeitung Bohemia auf die Frage, warum er Prag verlassen habe, diese Problematik als Hauptgrund an: [J]eder Schriftsteller, der in deutscher Sprache schreibt, bezieht seine Honorare und Tantiemen in Mark oder gar in österreichischen Kronen. Infolgedessen kann er sich nicht den Luxus leisten, in einem edelvalutarischen Lande, wie es die Tschechoslowakei ist, zu leben, es wäre denn, daß er andere Einkünfte hat, was leider nicht jeder von sich sagen kann. Wenn man Mark oder

112 Brief von Kafka an Milena, Mitte November 1920. Kafka: Briefe an Milena, S. 288. 113 Vgl. zu den neuen Produktions- und Rezeptionsbedingungen sowie Literaturpreisen in der Ersten Tschechoslowakischen Republik Ludvová: Die deutsche Literatur und der tschechoslowakische Staat.

130 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM österreichische Kronen einnimmt, ist man nicht in der Lage, tschechische Kronen auszugeben.114

An ihrem neuen Wohnort fanden viele der Schriftsteller relativ schnell Arbeitsstellen im publizistischen oder künstlerischen Bereich (Hans Natonek etwa bei der Leipziger Neuen Zeitung, Paul Kornfeld als Dramaturg in Darmstadt). Durch das neue räumliche und gesellschaftliche Umfeld sind die Werke derjenigen Schriftsteller, die Prag verlassen hatten, durchaus stark geprägt von den Erfahrungen in der Weimarer Republik oder in Österreich und so ist auch die Handlung vieler in den 20er und 30er Jahren entstandener Romane in der neuen Heimat angesiedelt. Dennoch findet sich in beinahe allen ein direkter Bezug auf Prag und sie weisen Gemeinsamkeiten in der Thematisierung der Frage nach sozialer Identität, Exklusion aus Kollektiven und metaphysischer wie ortsbezogener Heimatsuche auf, die auf einen Rekurs auf die Sozialisation in Böhmen und Mähren schließen lassen.115 Es ist somit verkürzt, zu behaupten, die ‚Flucht‘ aus Prag habe einer Identitätskrise entgegengewirkt;116 eine grundsätzliche Divergenz in der Auseinandersetzung um die eigene Identität kann zwischen den in Prag verbliebenen und den ausgewanderten Schriftstellern nicht ausgemacht werden.

114 Deutsche Zeitung Bohemia, 95. Jg., Nr. 124 (23. Mai 1922), Nr. 124, S. 3f. Vgl. auch Krolop: Ludwig Winder, S. 57f. 115 Vgl. auch die Begründung Picks, wieso er in seine Anthologie Deutsche Erzähler aus der Tschechoslowakei auch Autoren aufgenommen hat, die diese bereits verlassen hatten: „Denn viele, nicht die weniger bedeutenden dieser Dichter, leben und schaffen nicht mehr auf dem Boden, der ihre ersten Schöpfungen befruchtet hat. Mancher von ihnen wird heute schlechthin als deutscher, mancher als österreichischer Dichter bezeichnet. Daß dieses Sammelbuch auf ihre Herkunft hinweist, ist kein Spiel mit geographischen Begriffen, sondern geschieht in ernster Erkenntnis des Wesens ihrer Kunst.“ (Pick: Deutsche Erzähler, S. XIVf.) 116 Vgl. Vassogne: „Das Weggehen kann also als eine Flucht interpretiert werden; dadurch, dass sie sich in einer deutschen bzw. österreichischen Großstadt wie Berlin, Wien oder Leipzig niederlassen, können die Prager Schriftsteller einer Identitätskrise entgehen: es ist für sie nicht mehr notwendig, eine individuelle Identität auf den Ruinen einer kollektiven Identität zu errichten, welche die der Prager jüdischen Bevölkerung während der liberalen Ära gewesen war.“ (Vassogne: Max Brod in Prag, S. 14.) Das beste fiktionale Gegenbeispiel zu dieser Behauptung stellt unzweifelhaft Hans Natoneks Roman Kinder einer Stadt dar, indem die Protagonisten hier in den 20er Jahren Prag verlassen und dennoch einer Identitätskrise nicht entkommen können.

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3.7 E XILLITERATUR

IN / AUS

B ÖHMEN

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M ÄHREN

In die Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik fallen auch die Jahre 1933 bis 1938/39, in denen der Nationalsozialismus in Deutschland bereits wütete und die benachbarte, junge Republik zu einem Exilland für die aus politischen und rassistischen Gründen Verfolgten machte. Aufgrund ihrer langen Grenze mit Deutschland, die eine Flucht ohne Papiere erleichterte, der visumsfreien Einreise und ihrer bürgerlich-demokratischen Regierung117 war die Erste Tschechoslowakische Republik für viele der Flüchtlinge eine erste Anlaufstelle, nachdem das Verbleiben in Deutschland unmöglich oder zu gefährlich wurde. Die Ereignisse ab 1933 hatten dadurch nicht nur erheblichen Einfluss auf die deutschböhmischen und deutschmährischen Schriftsteller, indem sie zu einer intensivierten Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Faschismus zwangen, sondern auch auf das künstlerische und soziale Leben der Orte in Böhmen und Mähren, die zu Zentren des Exillebens wurden, vor allen Dingen also Prags. Hier wurde das publizistische Wirken der Emigranten von öffentlicher Seite nicht unterbunden, solange es nicht explizit politisch war, sodass ein reger Austausch stattfinden konnte: In Prag fanden z.B. Vorträge von Thomas, Heinrich und Klaus Mann statt, Wieland Herzfelde verlegte seinen Malik-Verlag dorthin, die AIZ (Arbeiter Illustrierte Zeitung) erschien in Prag und am „tschechoslowakischen Rundfunk und in der deutschsprachigen Presse des Landes war die Mitarbeit möglich, der dem Außenministerium nahestehende prager Orbis-Verlag brachte Bücher von Exilierten.“118 Peter Becher hat die Situation Prags in der Mitte der 30er Jahre anschaulich nachgezeichnet.119 Zu beachten ist hierbei die Komplexität der Stadt, die sich auch zu dieser Zeit nicht als ein einheitliches Gebilde beschreiben lässt: einerseits eine moderne europäische Großstadt, in der andererseits die Folgen der Weltwirtschaftskrise noch zu spüren waren; eine Stadt, in der nach wie vor deutsch und tschechisch gesprochen wurde und die ein deutsches wie auch tschechisches Kulturleben aufzuweisen hatte; für einige Emigranten bedeutete das Exil eine Rückkehr in die Heimat, für andere einen Weggang in die Fremde; für viele Flüchtlinge war der Status lediglich der eines Geduldeten, dem jederzeit Ausweisung drohen konnte, sie waren auch Anfeindungen ausgesetzt und besonders Kommunisten wurden äußerst misstrauisch beäugt,120 während es gleichzeitig starke Solidaritätsbekundungen und Hilfeleistungen von deutschen und tschechischen Intellektuellen gab. Die ambivalente Situation

117 Vgl. Beck u.a.: Exil und Asyl, S. 13f. 118 Walter: Asylpraxis und Lebensbedingungen, S. 150. 119 Vgl. Becher: Metropole des Exils. 120 Vgl. zur unterschiedlichen Behandlung von bürgerlich-demokratischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Flüchtlingen durch die tschechoslowakische Exilpolitik Walter: Asylpraxis und Lebensbedingungen, S. 145f.

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der deutschen Flüchtlinge in Prag zeigt sich auch anhand von Einschätzungen der Exilsituation. Wieland Herzfelde etwa schrieb aus der Retrospektive der 60er Jahre über seine Exiljahre in Prag: „[D]ie Tschechoslowakei war für uns nicht so sehr ein Exilland, wie ein Ortswechsel. Und wir haben uns dort weitgehend wohlgefühlt und nicht in der Fremde.“121 Gleichzeitig gibt es Stellungnahmen von nationalsozialistischen Sudetendeutschen, die auf sarkastische und menschenverachtende Weise die Emigranten als „das jüdische Geschmeiß und die Nachtvögelbrut“ bezeichnen, die nun die deutsche Kultur in Böhmen bedrohten.122 Gegner des Nationalsozialismus waren in Böhmen und Mähren auch teils einer großen Gefahr ausgesetzt, wie der Mord an Theodor Lessing in Marienbad 1933 durch deutsche Nazis deutlich macht. Insbesondere in den Grenzgebieten war die Situation für Flüchtlinge prekär, da sich mit der Sudetendeutschen Partei unter Henlein eine breite Unterstützung der deutschsprachigen Bevölkerung für das nationalsozialistische Deutschland und die ‚Heimins-Reich-Bewegung‘ gebildet hatte. Viele Juden und Tschechen mussten bereits im Laufe des Jahres 1938, noch vor dem Münchner Diktat/Abkommen, die sudetendeutschen Gebiete aus Angst vor den Übergriffen der Henlein-Bewegung verlassen.123 Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen im März 1939 endete nicht nur das Bestehen der Ersten Tschechoslowakischen Republik, sondern auch das besondere kulturelle Leben der Stadt Prag, das von der wechselseitigen Bereicherung von deutschen und tschechischen Schriftstellern, Künstlern, Philosophen etc. bestimmt war. Die Flucht ging weiter; für die deutschböhmischen und deutschmährischen Schriftsteller, welche die Erste Tschechoslowakische Republik nie verlassen hatten, und für viele tschechische Künstler begann sie nun erst, im besten Falle nach Großbritannien oder Übersee, im schlimmsten Falle endete sie im Selbstmord oder in Konzentrations- und Vernichtungslagern. Die Jahre 1938/39 markieren auch den Endpunkt dieser Studie, nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Prag änderten sich die Lebensumstände der Auto-

121 Herzfelde: Erfahrungen im Exil, S. 374. 122 Vgl. das unfassbar zynische Zitat von Rothacker: „Als des heiligen Dritten Reiches Flammen reinigend durch Deutschland fuhren, da flog das jüdische Geschmeiß und die Nachtvögelbrut mit Ach- und Wehgeschrei über die Grenzen. Weit öffneten die Tschechen ihre humanen Freimaurerherzen und ihre roten Fausthände, um diese armen Verfolgten an ihr brüderliches, goldenes Herz zu drücken. Zu tausenden kam dieses lichtscheue Gesindel und die falschen Propheten in das gelobte Land, in das Paradies, in die Heimat aller von der Gerechtigkeit verfolgten Verbrecher. Und sie, die nun keine Gelegenheit mehr hatten, die deutsche Kultur für sich zu pachten und sie zur internationalen Metze zu machen, sie waren von den Tschechen dazu ausersehen, nun in der höheren Schweiz die Kultur der Bevölkerung zu betreuen“. (Rothacker: Deutsche Kulturleistung, S. 33f.) 123 Vgl. hierzu Heumos: Die Emigration aus der Tschechoslowakei, S. 16ff.

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ren, die Entstehungs- und Publikationsbedingungen sowie die Thematik der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur so stark, dass sie nicht unmittelbar mit der in den 20er Jahren erschienenen Literatur verglichen werden kann, auch wenn Kontinuitäten existieren. Die frühe Exilliteratur zwischen 1933 und 1938 jedoch wird in diese Untersuchung aufgenommen, da sie sich durchaus sowohl thematisch wie auch stilistisch in die deutschböhmische und deutschmährische Literatur der Zwischenkriegszeit einfügt: Die Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Tschechen, der Kampf gegen Nationalismus und Antisemitismus noch ohne das Wissen um den Holocaust, die Thematisierung von Heimatlosigkeit, ohne die physische Heimat Prag, Böhmen oder Mähren bereits unwiderruflich verloren zu haben, sind Motivkomplexe, die explizit oder implizit im Vordergrund des Großteils der Texte stehen. Dabei ist die deutschböhmische und deutschmährische Literatur in der Mitte der 30er Jahre sehr heterogen, die ‚Exilliteratur‘ weist in diesem Raum eine äußerst hohe Komplexität auf. Drei Beispiele können die Bandbreite der verschiedenen Lebenssituationen der Autoren, die sich auch in den Romanen widerspiegeln, beleuchten: Ernst Weiß kehrte 1933 aus Deutschland nach Prag zurück, wanderte jedoch 1934 nach Paris aus. Die nach 1934 erschienenen Romane Der arme Verschwender und Der Augenzeuge sind unter dem Eindruck des Exils entstanden und fügen sich von sämtlichen hier behandelten Romanen am besten in die deutschsprachige Exilliteratur ein, da sie Böhmen und Mähren nicht explizit behandeln, stattdessen aber die in der Exilliteratur vorherrschenden Fragen nach der Möglichkeit des Entstehens des Nationalsozialismus,124 der psychologischen Komponenten der Führerfigur und der Massensuggestion125 sowie der Entfremdung des Individuums auch durch Sprache126 behandeln. Zwar lässt sich in der Darstellung der Vor- und Zwischenkriegszeit, in der nicht nur eine Gesellschaftskritik, sondern vor allem eine sehr subjektive Empfindung der Protagonisten, eine Absage an essentialistische Identitätsmodelle und ein sich hieraus ergebendes Scheitern des Individuums im Vordergrund stehen, eine Charakteristik der Texte ausmachen, die sie in eine Reihe mit den anderen deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen stellt, doch müssen diese Momente erst aufgedeckt werden, primär erscheinen die Texte als Exilliteratur. Anders verhält sich dies bei Alice Rühle-Gerstels Roman Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit, denn hier wird die Besonderheit der Exilsituation unmittelbar deutlich: Die Protagonistin flieht nicht in ein fremdes Exilland, in dem sie mit einer unbekannten Sprache, kulturellen Unterschieden und Arbeitslosigkeit konfron-

124 Vgl. z.B. Oskar Grafs Anton Sittinger und Joseph Roths Die Kapuzinergruft. 125 Vgl. z.B. Ödön von Horváths Ein Kind unserer Zeit und Hermann Brochs Die Verzauberung. 126 Vgl. z.B. Lion Feuchtwangers Exil und Anna Seghers Transit.

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tiert wird, sondern kehrt ins Exil in ihre alte Heimat zurück, nach Prag, wo sie aufgewachsen und zur Schule gegangen ist. Ihre Eltern sind verstorben, der Bruder ist mittlerweile eine reicher Herr, der mit der Welt der kommunistischen Schwester nichts anzufangen weiß – dennoch hat Hanna diverse Anlaufmöglichkeiten: Sie trifft alte Klassenkameraden, findet aufgrund ihrer Tschechischkenntnisse unmittelbar eine Anstellung bei einer Zeitung und verliebt sich in ihren Chef. Hanna hat es also in vielerlei Hinsicht leichter als die anderen deutschen Flüchtlinge, dennoch oder gerade deswegen leidet sie zunehmend unter der Isolation des Exils. Da sie die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat, ist auch sie von Ausweisung bedroht und wird schließlich abgeschoben. Zudem gehört sie nirgendwo wirklich dazu; weder ganz Deutsche noch Tschechin, weder fremde Emigrantin noch voll integrierte Pragerin, nicht mehr bürgerlich, aber auch nicht proletarisch, Kommunistin, aber von Zweifeln an der Parteiführung geplagt, ist sie überall eine Außenseiterin. Dies äußert sich auch sehr stark an ihrer Wahrnehmung von Böhmen und Prag als gleichzeitig Heimat und Fremde. Die Thematik des Romans in dieser Wechselbeziehung zwischen Exil und Rückkehr kennzeichnet ihn somit zum einen als spezifisch deutschböhmischen Exilroman, während die Protagonistin gleichzeitig auch als paradigmatische deutschböhmische Figur der Moderne erscheint, da die Grundzüge ihrer ambivalenten, vielschichtigen Persönlichkeit bereits in ihrer Sozialisation im multikulturellen Prag und im bikulturellen Elternhaus angelegt sind und nicht erst im Exil aufscheinen. Ein drittes Beispiel für einen deutschböhmischen ‚Exilroman‘, der nur mit Vorbehalt so genannt werden kann, stellt Oskar Baums Zwei Deutsche dar. Baum blieb in den 20er Jahren in Prag (er verließ die Stadt selbst später nicht und starb 1941 an einer Operation, kurz bevor er höchstwahrscheinlich nach Theresienstadt deportiert worden wäre), so dass sein Schaffen auch nach 1933 nicht im Exil stattfand. Dennoch war auch er von den Ereignissen in Deutschland als Schriftsteller, Vorsitzender des ‚Schutzverbandes deutscher Schriftsteller‘, Jude und Antifaschist betroffen. Im Laufe der 30er Jahre verlor Baum „nach und nach den Glauben an die deutsche Kultur, in die er sich einschreiben und die er fortschreiben wollte“,127 und wandte sich in seinem historischen Roman Das Volk des harten Schlafes (1937) der jüdischen Geschichte im Chasarenreich zu, um „in den Zeiten der ideologischen Verwirrung und Polarisierung […] im Rückgriff auf geschichtliche Konstellationen einen sicheren oder zumindest sichereren Standpunkt zu finden.“128 1934 jedoch widmete sich Baum in dem Roman Zwei Deutsche noch den unmittelbaren Ereignissen in Deutschland in den Jahren 1932/33 und ergründet darin die psychologische Motivation und Wahrnehmung zweier Freunde, eines Nationalsozialisten und eines Marxisten. Diese Gegenüberstellung zweier differierender politischen Ansichten und der Versuch, darüber das Entstehen des Nationalsozialismus rational erklären zu können, um gegen ihn 127 Jäger: Oskar Baum. 128 Ebd.

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anzukämpfen, ist nicht unüblich in der Exilliteratur um die Mitte der 30er Jahre. Ungewöhnlich ist allerdings Baums Ansatz, der eine sehr distanzierte und gleichberechtigte Erzählerhaltung aufweist, die, abgesehen von einigen ironischen Einschüben, keine eindeutige Position bezieht und weder dem Nationalsozialisten noch dem Marxisten Recht gibt oder ihm die Berechtigung seiner Argumente abspricht, wenn auch eindeutig mehr Sympathien gegenüber dem Marxisten zu spüren sind. Stattdessen zeichnet Baum ein differenziertes Bild der konkurrierenden politischen Strömungen, um eine dritte Möglichkeit des Weges der ‚schöpferischen Mitte‘ zu implizieren, deren Stärke es ist, die anderen Positionen und ihre Irrwege zu kennen und dadurch eine Lösung der politischen, nationalen und klassenspezifischen Auseinandersetzungen anzustreben. Diese Haltung, „die Stimmung des Jahres 1932 [] ungetrübt von Parteilichkeit zu betrachten“,129 ist der Perspektive von Prag aus geschuldet, aus der er in der Lage war, die Bedrohung unmittelbar einzuschätzen und dennoch hierbei einen nüchternen Ton zu wahren im Gegensatz zu den Flüchtlingen, welche die Entwicklungen am eigenen Leibe zu spüren bekamen. Insbesondere das Abwägen eines Weges der Mitte und die Unparteilichkeit im Roman, also der Ansatz, den verschiedenen Strömungen gerecht zu werden bei gleichzeitiger Unantastbarkeit der ewigen Werte von Toleranz und Menschlichkeit gegen Rassismus und Nationalismus, ist typisch für die nicht-nationalistische deutschböhmische und deutschmährische Literatur der Zwischenkriegszeit und eben auch der 30er Jahre, wie u.a. auch bei Felix Weltsch und Ernst Weiß zu beobachten ist.

3.8 J UDENTUM

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B ÖHMEN

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M ÄHREN

Bis auf die deutschnationalen Autoren Friedrich Bodenreuth und Gottfried Rothacker sind sämtliche der in dieser Studie in den Romananalysen näher behandelten Autoren jüdischer Herkunft, ebenso wie ein Großteil der anderen deutschsprachigen Schriftsteller Böhmens und Mährens. Dies legt die Frage nahe, welche Bedeutung das Judentum in ihren literarischen Erzeugnissen spielt, wie und ob es in den Texten verarbeitet wird und ob sich hieraus auch ein spezifischer Umgang mit der Selbstverortung des Individuums in der multikulturellen Region ergibt. Die Auseinandersetzung mit dem Judentum in der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur der 20er und 30er Jahre ist äußerst heterogen, wobei sie meist nicht im Vordergrund der thematischen Ausrichtung der Texte steht. So ist es etwa offensichtlich, dass in einigen der behandelten Romane, z.B. in Paul Kornfelds Blanche oder das Atelier im Garten und in Oskar Baums Zwei Deutsche keine (zumindest explizit) jüdischen Figuren auftreten, in anderen dagegen, wie in den Romanen Ernst Weiß‘, bei Hermann Ungar

129 Baum: Zwei Deutsche, S. 301.

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oder F.C. Weiskopf, die Thematisierung von Judentum und Antisemitismus eine wichtige Rolle spielen, aber auf einen Nebenschauplatz verlegt werden, indem nur jüdische Nebenfiguren auftreten. Der einzige Roman, der das Judentum in den Fokus der Betrachtung stellt, ist Ludwig Winders Jüdische Orgel. Dies bedeutet nicht, dass die jüdische Herkunft und die hiermit zusammenhängende Sozialisation der Autoren nicht in gewissen Teilen auch in die anderen Romane einfließen, und dies darf auch nicht aus den Augen verloren werden, es gibt jedoch einen Hinweis darauf, dass es irreführend ist, nach dem typisch Jüdischen im Sinne „einer Eindeutigkeit, einem Kollektiv oder einer Essenz“ in den Texten zu suchen, stattdessen muss „die „Mehrdeutigkeit“ dessen, was als „jüdisch“ gelten kann“130 einbezogen werden, um sich den Besonderheiten einer jüdischen deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur zu nähern, was jeweils nur in einer eingehenden Betrachtung der einzelnen Texte in ihrer Eigenheit erreicht werden kann, wie Kilcher es allgemein für die literaturwissenschaftliche Analyse der ‚jüdisch-deutschen Literatur‘ fordert: Die Aufgabe der wissenschaftlichen Analyse der deutsch-jüdischen Literatur wird […] darin bestehen, die historischen Bestimmungen der deutsch-jüdischen Literatur im einzelnen zu beschreiben und zu fragen, mit welchen argumentativen Strategien in den verschiedenen historischen Diskursen, letztlich aber bei jedem einzelnen Schreibenden, in jedem einzelnen Text, der irreduzibel vieldeutige interkulturelle Raum der deutsch-jüdischen Literatur konstruiert und interpretiert wird.131

Es existiert bereits eine breite Forschungsliteratur zur Situation des Judentums in Prag, die hier nicht in ihrer Gänze aufgearbeitet werden soll.132 Bedeutsam ist für diese Studie die spezifische Situation des Judentums in Böhmen und Mähren seit der Jahrhundertwende und die besondere Stellung der jüdischen Bevölkerung zwischen Deutschen und Tschechen, die auch das Problem der Verortung des (entwurzelten) Individuums in der Moderne betrifft. In dem Tagungsband Die Juden in den böhmischen Ländern stellt Hans Lemberg abschließend die Frage, was denn nun das Spezifische an der Lage der Juden in Böhmen und Mähren gewesen sei und betont, dass diese Frage nicht leicht zu beantworten sei. Er erblickt die Besonderheiten in drei 130 Kilcher: Was ist „deutsch-jüdische Literatur“?, S. 511. 131 Ebd. 132 Vgl. als Überblick Hohmeyer: „Böhmischen Volkes Weisen“, S. 253-266. Vgl. zur sozialen, kulturellen und nationalen Situation der Prager Juden auch Tramer: Dreivölkerstadt Prag, v.a. S. 152ff. Vgl. zur Lage der Juden in den böhmischen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg Lipscher: Die soziale und politische Stellung der Juden. Einen kurzen Überblick über die wichtigste Forschungsliteratur über das Zusammenleben von Deutschen, Tschechen und Juden in Böhmen liefert auch Herzog: Deutsche, Juden oder Österreicher, S. 143f.

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Bereichen, in der Gesellschaftspolitik der nachhussitischen ‚Refeudalisierung‘, in der geistigen Entwicklung vor allem in der Zeit Rabbi Löws und Rudolphs II. sowie im Minderheitenproblem mit einer relativ frühen Emanzipation und Erfolg in den industriell hochentwickelten Gebieten.133 Hierbei spart Lemberg interessanterweise den Punkt aus, der von jüdischen Schriftstellern und Philosophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder als Besonderheit des böhmischen und mährischen Judentums angesehen wird: Die schwierige Zwischenstellung im multinationalen Raum zwischen Deutschtum und Tschechentum, die Identifikation mit einer der nationalen Gruppierungen und die gleichzeitigen antisemitischen Anfeindungen von beiden Seiten sowie die von dieser besonderen Situation stark beeinflussten Identitätskonzepte, die zwischen Assimilation und Zionismus schwankten. Als Reaktion auf das antisemitische Pogrom im Rahmen der antideutschen Ausschreitungen von 1897, der sogenannten Badeni-Stürme, veranschaulicht Theodor Herzl die schwierige Situation der böhmischen Juden, die sowohl von deutscher als auch von tschechischer Seite antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt waren, anhand einer „neuen Variante zur alten Postillionsgeschichte“: In dieser Anekdote begegnen einander zwei Postkutschen auf einem schmalen Wege. Keiner der Postillions will ausweichen, und im Wagen sitzt hüben wie drüben ein Jude. Da schnalzt jeder Kutscher mit der Peitsche nach dem jenseitigen Fahrgast hin: „Haust du meinen Juden, hau‘ ich deinen Juden!“ Aber in Böhmen wird noch hinzugefügt: „Und meinen auch!“, so daß die böhmischen Juden für eine Fahrt doppelte Prügel erhalten. Freilich hatten sie versucht, als blinde Passagiere in dem Nationalitätenhader durchzukommen. Das geht nicht.134

Hieraus wird deutlich, dass die jüdische Bevölkerung Böhmens und Mährens im Nationalitätenstreit nicht nur zwischen den Nationen steht, sondern dass sich sowohl der deutsche wie auch der tschechische Antisemitismus in erheblichem Maße erst aus dem wachsenden Nationenkonflikt ergeben. Steffen Höhne sieht beispielsweise die Hilsner-Affäre des Jahres 1899, in der ein jüdischer Schuster in Böhmen des Ritualmords an einem katholischen Mädchen angeklagt und zum Tode verurteilt wurde (das Urteil wurde später in lebenslange Haft umgewandelt und der unschuldige Hilsner wurde 1918 begnadigt), in direkter Linie mit den politischen Ereignissen der BadeniKrise und als „Ausdruck des sich mit der Nationalisierung verschärfenden Antisemitismus“.135 Es ist zudem häufig bemerkt worden, dass die Juden Böhmens und Mäh-

133 Vgl. Lemberg: Juden und Nichtjuden in der Geschichte der böhmischen Länder, S. 314. 134 Herzl: Die Juden Prags zwischen den Nationen, S. 7. 135 Höhne: Zur Phänomenologie kulturellen und sprachlichen Wandels, S. 10. Vgl. hierzu auch Stölzl, der berichtet, dass tschechische Studenten mit der folgenden Begründung

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rens bei Volkszählungen die Frage nach ihrer Nationalität nicht gleichbleibend beantworteten, sondern im Laufe ihres Lebens die Zugehörigkeit zu einer Nationalität häufig wechselten, sich somit national weder eindeutig als Deutsche, Tschechen oder Juden betrachteten. Die Frage der Nationalität richtete sich vor allen Dingen nach der im Alltag oder Beruf verwendeten Umgangssprache. Mit sich wandelnder politischer Situation oder beruflicher Klientel konnte somit die Nationalität jeweils den gegebenen Umständen angepasst werden.136 Čapková sieht hierin auch für die Zwischenkriegszeit ein spezifisch böhmisches und mährisches Phänomen, das sie mit der demographischen Struktur, der Säkularisation und der Loyalität gegenüber der Ersten Tschechoslowakischen Republik unter T.G. Masaryk begründet.137 Fragen der nationalenund sprachlichen Zugehörigkeit sowie der religiösen Praxis rückten sowohl für viele deutsche wie auch für tschechische Juden angesichts eines böhmischen Landespatriotismus in den Hintergrund. Dennoch stellte der Antisemitismus von deutscher wie auch tschechischer christlicher Seite ein akutes Problem für die jüdische Bevölkerung dar. In diesem Spannungsverhältnis ist davon auszugehen, dass die durch den Wegfall der alten Ordnungen und Normen insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg notwendig gewordene Re-Orientierung des Individuums in der Moderne durch die Pluralität der Möglichkeiten und die mit ihr einhergehenden gleichzeitigen Ausschlussmechanismen (man denke etwa an die Radikalität der politischen Strömungen oder sozialen Klassen) für das Individuum jüdischer Herkunft mit noch größeren Herausforderungen verbunden war als für die christliche Bevölkerung. Die Frage nach impliziter und expliziter Behandlung des Judentums in der Literatur Böhmens und Mährens wurde bereits zum Gegenstand der Forschung, wobei eine gewisse Kontroverse darin besteht, welche Rolle die Herkunft der Autoren in den Texten tatsächlich spielt. Fiala-Fürst schreibt, bezugnehmend auf eigene ältere Publikationen, dass die ‚Prager deutsche Literatur‘ eine jüdische Literatur war, nicht nur, da viele der Autoren selbst Juden waren, sondern vielmehr da das Judentum ihrer Autoren – bejaht oder bekämpft, begrüßt oder verdrängt – sich in ihren Werken immer niederschlägt: explizit, in ihrer Weltanschauung, ihren geäußerten Stellungnahmen zum Judentum, oder implizit, werkimmanent, in der Auswahl der Themen, Hierarchie der Motive, Charakteristik der Helden, sogar vielleicht in der Form und Poetik.138 Masaryks Einsatz für Hilsner kritisierten: „Wir erheben gegen Masaryk den Vorwurf, daß er in so bewegten Zeiten, wo es notwendig ist, daß das Volk wie ein Mann gegen die feindliche Regierung steht, eines Juden wegen das ganze Volk zersplittern und dadurch schwächen will. Er arbeitet dem expansiven Deutschtum in die Arme.“ (Zitiert nach Stölzl: Kafkas böses Böhmen, S. 71, kursiv bei Stölzl.) 136 Vgl. Čermák: Das Kultur- und Vereinswesen der Prager Studenten, S. 108. 137 Vgl. Čapková: Tschechisch, Deutsch, Jüdisch. 138 Fiala-Fürst: Der produktive Mythos Prag, S. 18.

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Sie modifiziert diese eigene These, die nicht zuletzt von den Vertretern der Prager deutschen Literatur selbst, allen voran von Urzidil und Brod, forciert wurde, indem sie darauf hinweist, dass es einerseits in Prag auch nichtjüdische Autoren gegeben habe und andererseits jüdische, die keinerlei jüdische Thematiken in ihren Werken aufgriffen, wobei sie in diesem Zusammenhang Fritz Mauthner, Hugo Salus und Heinrich Teweles nennt.139 Hans Tramer bemerkt in seinem umfangreichen Aufsatz zur Dreivölkerstadt Prag, in dem er den deutschsprachigen jüdischen Kulturschaffenden große Aufmerksamkeit widmet, dass insbesondere die junge Schriftstellergeneration, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ihre größten Erfolge feierte, das Judentum lediglich als ihre Herkunft auffassten, während sie sich im Übrigen primär als Künstler verstanden, für die allein die Qualität ihres Werkes und nicht ihre Abstammung ausschlaggebend sei. In diesem Zusammenhang jedoch wirft er die Frage auf, ob es dem Künstler gelingen kann, die „Auseinandersetzungen und Stellungnahmen in Bezug auf sein eigenes Dasein“ zu vermeiden: „[E]rlaubt es die Verantwortung echten Künstlertums eigentlich, ihnen auszuweichen? Und muss solches Ausweichen nicht doch zu einem Bruch, zu falschen Tönen, zu einer spürbaren inneren Unausgeglichenheit im Werke selber führen?“140 Jedoch kann bei den hier behandelten Autoren von einem reinen Ausweichen kaum die Rede sein, da explizit oder implizit in fast allen Romanen auch eine Auseinandersetzung mit dem Judentum stattfindet. Eine gewisse ‚Unausgeglichenheit‘ in den Romanen lässt sich durchaus bemerken, sowohl in der poetologischen Anlage der Texte als auch auf der Ebene der Identitätskonzepte der handlungstragenden Figuren,141 jedoch ist sie nicht als Ausdruck des Vermeidens der existentiellen Komplexe ihrer Entstehungszeit im Rückgriff auf ein reines Künstlertum zu verstehen, sondern gerade gegensätzlich als konkrete Bezugnahme auf die Problematiken der Selbstverortung des (auch jüdischen) Individuums in der Moderne.

139 Vgl. ebd., S. 19. 140 Tramer: Dreivölkerstadt Prag, S. 175. 141 Hierzu ließe sich die besondere Vermischung verschiedener Stile zählen, so z.B. die Verwendung dokumentarischer Versatzstücke historischer Proklamationen, somit eine vermeintlich objektive und unmittelbare Schilderung der Ereignisse, und die gleichzeitig stark subjektive Erzählhaltung des Protagonisten in Weiskopfs Slawenlied (vgl. hierzu und zu anderen Mischformen Kapitel 4.2.1). Als ‚Unausgeglichenheit‘ ließe sich auch das Schwanken vieler der Protagonisten der hier behandelten Romane zwischen verschiedenen politischen Strömungen, gesellschaftlichen Kreisen etc. deuten, die eine ‚ausgewogene‘ Identitätsbildung verhindert.

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Im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdichtet sich „die Häufigkeit der Bearbeitungen jüdischer Stoffe, Themen, Mythen, die Zahl der Darstellung jüdischer Figuren“,142 wie dies auch bei den hier behandelten Autoren zu bemerken ist. Hans Natonek (Kinder einer Stadt), Oskar Baum (Das Volk des harten Schlafes und Die böse Unschuld), Ludwig Winder (Die jüdische Orgel und Hugo. Tragödie eines Knaben) wählen explizit jüdische Themen und Figuren als Basis für ihre Romane. Gleichzeitig verschiebt sich jedoch bei anderen Autoren der Fokus, indem in vielen Romanen, wie oben angesprochen, die Protagonisten und gleichzeitig häufig autodiegetischen Erzähler christliche Figuren sind, während Fragen und Problemfelder der jüdischen Identität, Assimilation, Zionismus und Antisemitismus anhand der Schilderung von Rand- und Nebenfiguren beleuchtet werden.143 Über die genauen Gründe dieser Entwicklung kann lediglich spekuliert werden, es ist jedoch davon auszugehen, dass sie etwas mit dem besonderen Verhältnis der Generation der zwischen 1880 und 1900 geborenen deutschjüdischen Böhmer und Mährer und mit der Frage nach Selbst- und Fremdzuschreibung zu tun hat. Das traditionelle Judentum kannten die meisten dieser jungen Schriftsteller kaum noch, religiöse Praktiken lernten sie in ihrem Elternhaus nur noch in Bezug auf die hohen Feiertage kennen, zudem hatten besonders die Prager Juden kaum Kontakt zum orthodoxen ‚Ostjudentum‘. Bereits die Elterngeneration hatte sich vor allen Dingen aus wirtschaftlichen Gründen assimiliert, sodass Hans Kohn, der spätere Redakteur der Selbstwehr (einer zionistischen Prager Zeitschrift), über die Wahrnehmung der aufstrebenden Autoren schrieb: Das Judentum war uns fremd, kaum eine ferne Legende. Juden, die nicht böhmisch oder, im besten Falle, Wiener Juden waren, uns unbekannt. Wir waren vollkommen assimiliert an die deutsche Kultur jener Tage […]. Die Assimilation war für uns wie für alle eine Wirklichkeit, der Zionismus nur eine Geste oder ein Programm, das Judentum eine traditionell oder freudig bejahte Tatsache, noch nicht einmal ein Problem.144

Dementsprechend ist davon auszugehen, dass auch die meisten der hier behandelten Schriftsteller sich nicht primär oder einzig über ihre jüdische Herkunft identifizierten, sondern dieser Aspekt neben ihrer Identifikation als Prager, Deutsche, Kommunisten, Demokraten, Kosmopoliten, Bürger, Proletarier o.ä. nur einen Teil ausmachte, der nicht im Vordergrund stand. Gleichzeitig jedoch ließ der wachsende Antisemitismus, 142 Fiala-Fürst: Der produktive Mythos Prag, S. 27. 143 So ist in Weiskopfs Slawenlied nicht der Protagonist, sondern sein bester Freund Hand jüdisch, in Weiß’Augenzeugen heiratet der katholische Erzähler gegen den Willen seiner antisemitischen Mutter die Jüdin Viktoria und in Hermann Ungars Die Verstümmelten ist der Protagonist Polzer ebenfalls christlich, sein Freund Karl Fanta und seine Vermieterin Klara Porges sind jedoch jüdisch. 144 Zitiert nach Fiala-Fürst: Juden in Prag, S. 24.

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den die junge Generation z.B. 1897 als Kinder zu spüren bekam und der sich sowohl in Böhmen und Mähren weiter steigerte als auch im Nachbarland Deutschland ab 1933 zum grausamen Alltag wurde, das Scheitern der vollständigen Assimilation und die Macht der Fremdzuschreibung offenbar werden. Selbst atheistische Juden, die nie religiöse Praktiken ausgeübt hatten bzw. sich von ihnen losgelöst hatten und die sich weder über sie definierten noch dies als ein Problem ihrer Selbstverortung ansahen, mussten sich zwangsläufig mit ihrer jüdischen Herkunft auseinandersetzen, wenn sie von anderen wegen ihr ausgeschlossen und angefeindet wurden. Dies stellt wohl einen der Gründe dar, weshalb in der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur des betrachteten Zeitraums die oben beschriebeneinteressante Ambivalenz im Umgang mit der Thematisierung des Judentums zu finden ist: Es findet sich nur selten eine im Vordergrund stehende Auseinandersetzung mit der Situation der jüdischen Bevölkerung in Böhmen und Mähren,145 es tauchen wenige jüdische Protagonisten auf, gleichzeitig finden jedoch rekurrierende Bezugnahmen auf Antisemitismus, Faszination und Widerwillen gegenüber religiösen Praktiken, Fragen der Assimilation etc. statt. Teilweise ist die Verbindung zwischen jüdischen und christlichen Charakteren auch äußerst komplex, sodass die enge Verschmelzung zwischen den Religionen bzw. ‚Rassen‘ aufscheint und die Verortung von Charakteren in beiden ‚Welten‘ zu gleichen Teilen offenbar wird, was wiederum auch Konflikte bereithalten kann.146

145 Ernst Sommer und Oskar Baum, die in ihren Romanen Botschaft aus Granada und Das Volk des harten Schlafes (beide 1937 erschienen) Antisemitismus, Vertreibung und Widerstand behandeln, verlegen den Chronotopos der Handlung in ferne Orte und Zeiten. Ihre Texte sind zwar als Auseinandersetzung mit der Situation der Juden in Böhmen und Mähren und im nationalsozialistischen Deutschland zu erkennen, sie behandeln diese jedoch nicht explizit. 146 So konstatiert Lehnen etwa, dass Hermann Ungar lediglich in wenigen seiner Werke explizit jüdische Themen aufgreift und andere, wie die Verstümmelten, „fast keine ‚jüdischen Momente‘ aufweisen“. (Lehnen: Krüppel, Mörder und Psychopathen, S. 22.) Dennoch lassen sich bei genauer Betrachtung des Romans zahlreiche Verschmelzungen christlicher und jüdischer Kultur und ihrer Stigmatisierungen bemerken; bereits Sudhoff macht darauf aufmerksam, dass in der ‚Anzug-Geschichte‘ (vgl. auch Kapitel 5.1) des Romans „das Thema jüdischer Selbstverleugnung und Assimilation auf[scheint]“ (Sudhoff: Hermann Ungar, S. 568.), jedoch ohne genauer darauf einzugehen, wieso diese Thematik auch für den christlichen Protagonisten Polzer von Bedeutung ist. Die Beziehungen Polzers zu den beiden jüdischen Charakteren im Roman, Karl Fanta und Klara Porges, können darüber Aufschluss geben. Mit Karl Fanta verbindet Polzer nicht nur eine innige Freundschaft und, in ihrer Jugend, eine homoerotische Beziehung, sondern auch ein wahlverwandtschaftliches Verhältnis. Karls Vater wird zum Gegenbild von Polzers Vater

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Nur kurz soll hier auf eine Gruppierung eingegangen werden, die einen alternativen Weg zurAssimilation an Deutsche oder Tschechen wählte, da diese ihnen als Sackgasse erschien:147 die Zionisten, welche die Anerkennung eines jüdischen Staates und der jüdischen Nationalität forderten. Ihre Bedeutung für die jüdische Gemeinschaft Prags ist bekannt148 und besonders die zionistischen Publizisten, die auch als Mittlerfiguren auftraten, so z.B. Max Brod und Felix Weltsch, sind in der Forschung gewürdigt worden.149 Prag wird aufgrund seiner multikulturellen Geschichte als

stilisiert und agiert als Wunsch- und Ersatzvaters Polzers, indem dieser im Haus Fanta ein- und ausgeht, ihm von Herrn Fanta der Besuch der Universität möglich gemacht wird und er auch seine Anstellung in der Bank durch ihn vermittelt bekommt. Auch mit der jüdischen Vermieterin Klara Porges verbindet Polzer ein verwandtschaftliches Verhältnis, wenn auch nur in der von Traumata besetzten Phantasie. Denn im Sexualakt mit ihr wiederholt sich für Polzer der Inzest des eigenen Vaters mit der Tante. So kommt ihm beim Anblick von Klaras Scheitel (Sudhoff macht darauf aufmerksam, dass der Scheitel nicht nur auf das weibliche Genital verweist, sondern auch „auf die demütigende Pflicht jüdisch-othodoxer verheirateter Frauen, den „Scheitel“, eine Perücke zu tragen.“ (Sudhoff: Hermann Ungar, S. 547.)) der „sündhafte, gotteslästerliche Gedanke, daß er der Schwester beiwohne, die nie gelebt hatte“ (Ungar: Die Verstümmelten, S. 88), wobei bereits in den nächsten Sätzen auf Klaras Judentum aufmerksam gemacht wird, was eine familiäre und geistige Bindung Polzers an das Judentum nahe legt. Dass Ungar die Verbindung Polzers zum Judentum mit dem Inzest-Motiv verknüpft, ist wohl kein Zufall, sondern knüpft an einen antisemitischen Diskurs der Zeit an. Gilman führt verschiedene pseudomedizinische und psychoanalytische Studien aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert an, die sich mit vermeintlich häufig auftretenden Geisteskrankheiten bei Juden auseinandersetzen und als ihre Ursache Inzucht und Inzest innerhalb der jüdischen Gemeinde angeben, ein weit verbreitetes antisemitisches Vorurteil: „Allen Metaphern aus dem Bereich Sexualität in den antisemitischen Schriften des späten 19. Jahrhunderts liegt die Ansicht zugrunde, die „Degeneration“ der Juden hänge mit ihrer Sexualität zusammen. Der Jude, als der sichtbarste Andere im Europa des späten 19. Jahrhunderts, trägt somit auch das vernichtendste sexuelle Stigma, das Stigma des Inzest.“ (Vgl. Gilman: Jüdischer Selbsthaß, S. 211ff., hier S. 218.) 147 Vgl. hierzu Heidsieck mit Bezug auf Brods Heidentum, Christentum, Judentum (1921): „Brods Forderung nicht nur nach rechtlich garantierter religiöser und kultureller, sondern letztlich ethnischer Identität und Emanzipation verrät seine realistische Einschätzung des philosophisch sanktionierten deutschen Antisemitismus seit der Aufklärung und der tiefsitzenden Antipathie gegen jeglichen ethnischen Pluralismus.“ (Heidsieck: Max Brods Kritik, S. 378.) 148 Vgl. z.B. Kieval: The Making of Czech Jewry, S. 93ff. 149 Vgl. Vassogne: Max Brod in Prag; vgl. auch Schmidt: Kafkas fast unbekannter Freund.

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Klima geschildert, in dem sich der Zionismus besonders entfalten konnte,150 wobei auch die antagonistische Stellung zwischen zionistischen und assimilierten Juden deutlich wird; so predigte [die zionistische Zeitschrift Selbstwehr] den assimilierten Juden den radikalen Rückzug aus Deutschtum und Tschechentum auf eine neutrale Position, verlangte dafür die staatliche Anerkennung der Juden als dritte böhmische Nationalität und eine Minderheitengesetzgebung, die ein Lebensrecht jenseits der Machtabgrenzungen, Proporze, verhältnismäßigem Beamtenschlüssel und Ausgleiche garantierte. Am schärften polemisierte die „Selbstwehr“ gegen die, wie sie meinte, schamlose Anpassung des assimilierten jüdischen Bürgertums an die Bedingungen einer antisemitischen Epoche.151

Nicht jegliche Ablehnung der Assimilation, nicht jegliche Rückbesinnung auf die eigene jüdische Herkunft ist jedoch mit der zionistischen Bewegung verbunden, die in den deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen der Zwischenkriegszeit auch nur selten explizit aufgegriffen wird.152 Fiala-Fürst nennt als verschiedene Beweggründe, welche die junge Schriftstellergeneration dazu verleitet hat, sich wieder intensiver mit ihrem Judentum auseinanderzusetzen, Antisemitismus, Ressentiments gegen die Elterngeneration sowie Zweifel am wirtschaftlichen Ideal und der Assimilation. Hieraus ergaben sich eine Reihe verschiedener, auch individueller Auseinandersetzungen, deren Perspektiven jeweils in den Romanen mehr oder weniger aufscheinen und die Komplexität der jüdischen Thematik illustrieren:

150 Vgl. hierzu z.B. Tramer: „Deutlicher als sonstwo empfanden wohl diese jungen Menschen, die ja sozusagen inmitten der Auseinandersetzung zwischen deutscher und tschechischer Kultur, deutscher und tschechischer Nationalität standen, hier in Prag, dass sie als Juden ebenfalls etwas Eigenes hatten oder jedenfalls haben sollten. Das blosse Dazugehörenwollen, die eigene Willensentscheidung, sich einer Vergangenheit einzugliedern, die nicht die eigene, die des eigenen Volkes war, konnte ehrlichen Charakteren nicht genügen.“ (Tramer: Dreivölkerstadt Prag, S. 158.) 151 Stölzl: Kafkas böses Böhmen, S. 87f. (Kursiv im Original.) 152 Wlaschek schreibt, über die Zeitschrift Selbstwehr hinaus habe es in Böhmen zahlreiche literarische Werke gegeben, welche den Zionismus aufgriffen und sich mit diesem intensiv beschäftigten. Er nennt jedoch leider keine Beispiele, sondern verweist nur auf die Bedeutung von „Anton Adolf Böhm, der zwischen den Jahren 1933-1935 eine umfassende Geschichte der zionistischen Bewegung schrieb“. (Wlaschek: Juden in Böhmen, S. 69.)

144 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM Bereits um 1910 bildeten sich in Prag alle denkbaren Positionen der Beziehung zum eigenen Judentum heraus, von einer assimilatorischen Haltung, die sich nur durch das „jüdische Temperament“ verriet, über konsequente Ablehnung des eigenen Judentums, den jüdischen Selbsthaß weinigerscher Prägung, zum aktiven Zionismus und zum Interesse an der Welt der Orthodoxie und des Ostjudentums.153

Mit dem Begriff des ‚Jüdischen Selbsthass‘ taucht hiermit ein Begriff auf, der immer wieder zur Analyse der jüdischen Literatur der Zwischenkriegszeit, insbesondere auch der ‚Prager deutschen Literatur‘ herangezogen wurde, da er zu dieser Zeit und in diesem Umfeld von Anton Kuh und Theodor Lessing maßgeblich geprägt wurde. Der Begriff ist problematisch, da er impliziert, dass die Identität eines Juden, im Gegensatz etwa zum Christen, nicht durch seinen Glauben, seine soziale Zugehörigkeit o.ä. determiniert wird, sondern durch seine ‚Rasse‘, die er nicht ablegen kann, auch wenn er sich vom Judentum abwendet.154 Es gibt zahlreiche Kritiker und Apologeten des Begriffs, der darüber hinaus auch Bedeutungsverschiebungen erfahren hat.155 Die Rezeption und Verwendung des Begriffes soll hier nicht im Detail aufgearbeitet werden, vor allen Dingen soll nicht an der Diskussion teilgenommen werden, ob der Begriff tatsächlich ‚jüdisches Wesen‘ erklärt oder ob der Verwendung des Begriffs bereits ein antisemitischer Unterton unterstellt werden kann. Vielmehr soll das Konzept als solches ins Auge gefasst werden, das auch auf andere Bereiche der Kommunikation und Interaktion zwischen Individuen und Gruppen sowie allgemein für Problematiken der Assimilation und Integration angewandt werden kann. Bereits Theodor Lessing thematisiert die Übertragbarkeit seiner Theorie: „Es handelt sich um einen Sonderfall des allgemeinen Schicksals aller bedrängten, notleidenden, vom Lebenselemente abgeschnittenen Kreatur. Die Psychologie des Juden ist nur ein besonders einleuchtendes Beispiel für die Psychologie der leidenden Minderheit.“156 Es kann davon ausgegangen werden, dass ein Großteil der deutschböhmischen und deutschmährischen Schriftsteller mit Kuhs und Lessings Werk vertraut war157 und dass deren Theorien gewissen Einfluss auf ihre Texte gehabt haben. Erstaunlich ist jedoch, dass in den Romanen, die vor Lessings Auseinandersetzung mit dem Begriff erschienen sind, ähnliche double-bind-Strukturen in Assimilationsvorgängen aufscheinen, die 153 Fiala-Fürst: Juden in Prag, S. 25. 154 Vgl. zur Kritik an dem Begriff auch Jäger: Minoritäre Literatur, S. 384f. 155 Vgl. zur Rezeption und Geschichte des Begriffs Reitter: On the Origins of Jewish SelfHatred. 156 Lessing: Der jüdische Selbsthass, S. 35. (Kursiv im Original.) 157 Vgl. zu den Verbindungen Anton Kuhs nach Prag Reitter: On the Origins of Jewish SelfHatred, S. 45ff. Auch Theodor Lessing hatte vor seiner Emigration in die Erste Tschechoslowakische Republik 1933, wo er noch im selben Jahr von Nazis ermordet wurde, Kontakte zu Prag, so schrieb er etwa auch für das Prager Tagblatt.

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Lessing 1930 aufgreift und von Gilman in den 90er Jahren theoretisch weiter ausgebaut werden. Am Beispiel des christlichen Protagonisten Polzer in Hermann Ungars Die Verstümmelten und des jüdischen Albert Wolf in Winders Jüdischer Orgel (beide 1922 entstanden), denen jeweils von der Forschung jüdischer Selbsthass unterstellt worden ist, lässt sich exemplarisch zeigen, inwiefern ein Phänomen, das begrifflich konkret auf das Judentum gemünzt ist, paradigmatisch für Identitätsproblematiken der Moderne gelten kann und wie sehr unterschiedliche mögliche Identifikationsbereiche, z.B. Judentum und Christentum, verschiedene gesellschaftliche Klassen und Gruppierungen u.a. miteinander verzahnt sind. Es verwundert nicht, dass der Roman Die jüdische Orgel mit dem Begriff des jüdischen Selbsthasses in Verbindung gebracht wurde,158 schließlich beschimpft Albert Wolf sich wiederholt, so zum Beispiel, als er, dem jüdischen Ghetto der mährischen Kleinstadt entkommen, alleine in einem Budapester Café sitzt und auf seine Geliebte wartet, die ihn verlassen hat: „Am Fenster des vornehmen Großstadtcafés sitzend, fand er sich ungeheuer lächerlich. Judenjunge, Killejüngel im Großstadtcafé, höhnte er sich, alle Blicke im Café und auf der Straße schienen zu höhnen: Killejüngel im Großstadtcafé.“159 Albert Wolf verachtet sich und die anderen Rabbinatskandidaten, die ihm ähnlich sind, da er ‚in zwei Welten geblickt hat‘, in die jüdische Welt des Kleinstadtghettos und die säkularisierte der Großstadtsünde, und sich in keiner aufgehoben fühlt. Zur Erklärung seiner Außenseiterposition zieht er antisemitische Vorurteile heran, während er gleichzeitig an seinem Judentum festhält und die Assimilation durch Taufe verachtet.160 Theodor Lessing gibt an, dass der Selbsthass eine Zerrissenheit innerhalb des Menschen ausmache, die „immer nur im Wachzustande gegeben sein kann. Also nur dort, wo das vorbewußte und unbewußte Leben beobachtet und widergespiegelt wird.“161 Die ständige Reflektion, die Auseinandersetzung mit dem eigenem Standpunkt und der eigenen Herkunft sowie der Impuls der Lossagung von dieser und die damit einhergehenden Schuldgefühle führen bei Albert zu einer Abneigung seiner selbst und der ihn Umgebenden, die ihm ähnlich sind. Dieses Phänomen ist bei Winder ganz eindeutig auf das Judentum des Protagonisten bezogen, in anderen deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen jedoch tauchen ähnliche Problemfelder des Individuums auf, die sich nicht unmittelbar auf eine jüdische Herkunft beziehen lassen. In den Assimilationsbestrebungen von Polzer in Ungars Die Verstümmelten etwa, in seinen Versuchen, seine proletarische Sozialisation durch Kleidung zu verbergen und seinen Vater, einen armen Krämer, in der städtischen Gesellschaft zu verleugnen, in seiner Unfähigkeit, sich von seiner Herkunft zu lösen und in dem Gefühl,

158 Vgl. etwa Sternburg: Gottes böse Träume, S. 44ff. 159 Winder: Jüdische Orgel, S. 54f. 160 Vgl. ebd., S. 68. 161 Lessing: Der jüdische Selbsthass, S. 31. (Kursiv im Original.)

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dafür bestraft und körperlich gezüchtigt werden zu müssen, äußern sich erstaunlich viele derjenigen Ansätze, die Gilman über 60 Jahre später als Charakteristiken des ‚jüdischen Selbsthasses‘ beschreibt. Im Gegensatz zu Ludwig Winder überträgt Ungar die Problematik dessen, der sich von seiner eingeschriebenen Identität nicht lösen kann, auf den Nicht-Juden und (aber)gläubigen Katholiken Polzer, doch er erlebt einähnliches Assimilationsdilemma wie Gilman es für den Juden, der sich als der ‚Andere‘ in eine westliche, nichtjüdische Bezugsgruppe integrieren möchte, formuliert. Der Assimilationswille geht von einer „Identifikation mit dem Wahnbild der Bezugsgruppe vom Anderen“162 aus, denn der Außenseiter muss sich erst als ein solcher definieren und selbst stigmatisieren, damit der Wunsch nach Angleichung an die vermeintlich bessere, zumindest aber mächtigere Gruppe entsteht. Hieraus folgt zunächst eine Dämonisierung der eigenen sozialen und kulturellen Identität und daraufhin eine Verleugnung der eigenen Herkunft. Beide Vorgänge gehen nicht ohne psychologische Traumata vor sich: Das Hauptproblem […] ist, daß es so gut wie nie gelingt, eine vollständige Distanz zu diesem „neuen Ich“ herzustellen. Denn wenn man sich auch selbst von einem Teil der eigenen Persönlichkeit distanziert, so ist da doch immer noch die Stimme der Machtgruppe, die flüstert: Du kannst dich nicht verstecken, ich erkenne auch in dir den Anderen! Die Persönlichkeitsspaltung, die daraus resultiert, äußert sich im Selbsthaß.163

Die Analogie zu der Episode, in der sich Polzer einen neuen Anzug schneidern lässt, der seine proletarische Körperlichkeit verdecken soll und nach dem Vorbild des Anzugs eines reichen, altehrwürdigen Herrn geschnitten ist, ist offensichtlich. Polzer hat Angst, dass die Maskerade, die er angelegt hat, aufgedeckt wird, er fühlt, dass er Schuld auf sich geladen hat und erwartet daraufhin körperliche Züchtigung. Durch den Assimilationsvorgang hat er sich der eigenen Herkunft entfremdet, aber sich dem neuen Kollektiv nur vermeintlich und äußerlich angenähert. Über den Bogen der Theorie des jüdischen Selbsthasses und seinem Ursprung aus problematischen Intergruppenrelationen und dem Scheitern der Assimilation ist es möglich, sich der Zerrissenheit vieler der Protagonisten der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur anzunähern, die versuchen, den Determinanten ihrer Herkunft, Klasse, Religion, Nationalität etc. zu entkommen, sich von ihnen aber nicht endgültig lösen können und somit zwischen den Kollektiven scheitern und die Schuld bei sich selbst suchen. Dabei muss nicht jeweils einzeln gefragt und bewiesen werden, ob und wie das Judentum des jeweiligen Autors eine Rolle bei der Zeichnung der Problematiken seiner Protagonisten spielt und ob sich hier nun ein jüdischer oder anderer Selbsthass zeigt, sondern es genügt, nicht aus den Augen zu verlieren, dass die jüdische Herkunft der 162 Gilman: Jüdischer Selbsthaß, S. 12. 163 Ebd., S. 14. (Kursiv im Original.)

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UND

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deutschböhmischen und deutschmährischen Schriftsteller eine wesentliche Bedeutung für die Entstehung ihrer Werke gehabt hat, die jedoch intensiv verwoben ist mit anderen Phänomenen des modernen multikulturellen und -nationalen Raums, sodass die Bereiche sich gegenseitig potenzieren mögen, ohne sich eindeutig voneinander trennen zu lassen.

4. Das Subjekt im Spannungsfeld zwischen Individuum und Kollektiv – thematische und stilistische Aspekte

Die historischen, sozialen und politischen spezifischen Gegebenheiten in Böhmen und Mähren im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts haben, wie in Kapitel 3 gezeigt, die Literatur der Region stark geprägt, indem die Ereignisse und Lebensumstände fiktional aufgegriffen und verarbeitet wurden. Insbesondere Konflikte zwischen verschiedenen nationalen, religiösen und politischen Gruppierungen, so zwischen Deutschen und Tschechen, Juden und Christen, Kommunisten und Nationalisten, beeinflussten die sozial- und mentalitätsgeschichtliche Situation und übertrugen sich auf die thematischen, stilistischen und strukturellen Kennzeichen der kulturellen Zeugnisse. Die Frage nach Zugehörigkeit, Heimat und der Selbstverortung des Individuums zwischen den Kollektiven, die Optionen der Individualisierung oder des Aufgehens in einer Masse sowie kontingente, fragile oder zerrissene Identitäten äußern sich auf verschiedenen Ebenen in den Texten, auch ohne dass zwangsläufig konkret auf die historischen Umstände in Böhmen und Mähren Bezug genommen wird. Aufgrund der Heterogenität der Romane und ihrer jeweiligen Eigenheiten erscheint es sinnvoll, die Texte jeweils ausführlich einzeln zu behandeln (vgl. Kapitel 5), um ihre spezifischen Strukturen und die dargestellten komplexen Gesellschaftsgefüge aufzudecken, was in einer rein komparatistischen Analyse nicht möglich wäre. Dieses 4. Kapitel, das der textintensiven Analyse der Romane vorangestellt ist, soll die thematischen und formalen Parameter, welche den Romanen gemeinsam sind und sowohl ihren Inhalt als auch ihre Struktur bedingen, theoretisch aufarbeiten, um die spezifische Thematisierung von Identitätskonzepten und Selbstverortung in der transkulturellen Moderne aufzudecken. Der Fokus wird sowohl auf thematisch-soziologische Komponenten der Frage nach Gruppenverhalten, kollektiven Identitäten, Ausschlussmechanismen und eigener Selbstverortung im multikulturellen Raum gerichtet wie auch auf literaturwissenschaftliche Analysebereiche, welche die inhaltlichen Besonderheiten der Texte unterstreichen und mit ihnen eng verzahnt sind;

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hierzu gehört etwa die Frage nach der Verwendung und Vermischung von Stilelementen der modernen Strömungen, nach der Erzählperspektive und dem Kommunikationsverhalten der Figuren.

4.1 T HEORETISCHE ASPEKTE NACH DER I DENTITÄT

ZUR

S UCHE

Die Frage nach der Entstehung und Beschaffenheit von Identitäten, ebenso wie nach individueller und kollektiver Wahrnehmung, Gruppenzugehörigkeit, Außenseitertum etc. ist ein thematisch und theoretisch sehr weites Feld und kann kaum abschließend beantwortet werden, vor allen Dingen dann nicht, wenn eine allgemein gültige Aussage über das soziale Gefüge angestrebt wird. Dies ist jedoch hier nicht der Fall, indem Identitäten als kontingent und dynamisch aufgefasst werden und, insbesondere in ihrer Fiktionalisierung in der hier behandelten Literatur, als Konstrukte und Diskurse verstanden werden, die sich nur bedingt für eine Untersuchung einer ‚realen‘ oder ‚wahren‘ öffentlichen, gesellschaftlichen oder sozialen Konstitution eignen. Es gilt daher auch zu beachten, dass über die Analyse der Identitätskonzepte in den Romanen keine Rekonstruktion der mentalitätsgeschichtlichen Situation in Böhmen und Mähren antizipiert wird, sondern eine Analyse der Literatur der Zeit und Region. Diese mag mit den sozialen und historischen Bedingungen eng verzahnt sein, sie formt sie mit und produziert neue Formen der Wahrnehmung der Situation, die in ihr geschaffenen ‚Welten‘ dürfen jedoch keineswegs mit der ‚historischen Wirklichkeit‘ (insofern diese überhaupt rekonstruierbar ist) gleichgesetzt werden. Dennoch bietet es sich in diesem Kontext an, neben rein literaturwissenschaftlichen Methoden auch soziologische, psychologische und anthropologische Erkenntnisse in die Analyse einzubeziehen, da es sich bei den fiktionalen Figuren und Gesellschaften zwar nicht um Bestandteile von wahren, aber doch von ‚wahrhaftigen‘, von ‚möglichen Welten‘ handelt und somit soziologische Erkenntnisse der Gruppenbildung, der sozialen und kollektiven Identität, der (Des)Orientierung des Individuums in modernen Gesellschaften und der Funktion des Heimatdiskurses die Fragestellung nach der Selbstverortung des Individuums in den Romanen schärfen sowie Dynamiken und Interaktionen in den Romanen aufzudecken helfen. Dabei gilt es, immer im Auge zu behalten, dass jegliche essentialistische Vorstellung von Identität, aber auch von Kultur, von Kollektiven, Gruppen und der Masse, jegliche Vorstellung dieser komplexen Gefüge als festgeschriebene, homogene Einheiten sozial konstruiert ist und innerhalb von hierarchisierten und autoritären Machtstrukturen, seien diese rassistisch, patriarchalisch, nationalistisch o.ä., entsteht. Das

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Phänomen der kollektiven Identität wird hier anhand der Thematisierung in der Literatur als ‚normatives Modell‘ aufgefasst.1 Dennoch aber ist die kollektive Identität trotz ihres Konstruktcharakters ein soziales Phänomen: „Den „Sozialkörper“ gibt es nicht im Sinne sichtbarer, greifbarer Wirklichkeit. Er ist eine Metapher, eine imaginäre Größe, ein soziales Konstrukt. Als solches aber gehört er durchaus der Wirklichkeit an.“2 In der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur wird dies am Sozialverhalten der Protagonisten deutlich. Gruppen und Kollektive werden nicht selten von außen als homogen wahrgenommen; dies geschieht sowohl in der Diskriminierung von Minoritäten, indem z.B. ‚den‘ Juden von außen zumeist negative, allen gemeinsame Identitätsmerkmale zugeschrieben werden, als auch von Seiten des aus einem Kollektiv Ausgeschlossenen, der sich einer vermeintlich einheitlichen Gruppierungen gegenübersieht, in die er sich integrieren will, aufgrund seiner von außen zugeschriebenen oder innerlich wahrgenommenen ‚Andersartigkeit‘ aber nicht kann. Sowohl durch aktive Abgrenzung des Individuums von Gruppen durch die eigene Wahrnehmung des ‚Fremdseins‘ als auch durch passive Fremdzuschreibung und Ausgrenzungsmechanismen der Gruppe,3 entsteht so in den Romanen die Wahrnehmung von Identität und Differenz. 4.1.1 Kollektivformen: Gruppen und Masse Für die Analyse der deutschböhmischen und deutschmährischen Romane in Bezug auf die in ihnen auftretenden Identitätsangebote und die Selbstverortung des Individuums zwischen Gruppierungen und Kollektiven ist ein Verständnis der Dynamik von Intergruppenverhalten und dem sozialen Handlungsspielraums der Protagonisten von entscheidender Bedeutung. Hierbei bietet sich ein Rückgriff auf diejenige soziologische Forschung an, welche mithilfe von empirischen Experimenten, in denen

1

Vgl. auch zu den verschiedenen Herangehensweisen an das Phänomen in der Sozialwissenschaft zwischen Beschreibung von normativen Strukturen und empirischer Rekonstruktion der kollektiven Wahrnehmung Emcke: Kollektive Identitäten, S. 25.

2

Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 132.

3

Vgl. auch Emcke zu den beiden Untersuchungsmodellen zur kollektiven Identität in der Forschung, indem das eine „das aktive, bewußte Moment einerseits der Wahl oder andererseits der angenommenen Erbschaft bestimmter, das kulturelle Kollektiv auszeichnender Praktiken und Bedeutungen [betont], die sich dann erst zu Überzeugungen und Identifikationen ausbilden“ (Emcke: Kollektive Identitäten, S. 27, kursiv im Original) und das andere „[n]icht die subjektive Rationalität der handelnden Personen, sondern die objektive Realität von Machtstrukturen oder etablierten Praktiken und Habitus, in die sich die Angehörigen von Minderheiten, Frauen oder Bevölkerungen von Kolonialstaaten fügen müssen“ (ebd, S. 97) in den Vordergrund der Betrachtung rückt.

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das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe künstlich erzeugt wird, Exklusions- und Inklusionsmechanismen als Resultat der Empfindung einer kollektiven Identität zu beschreiben versucht. Den pluralistischen Facetten der sozialen Identität kann sich zwar hierdurch nur bedingt angenähert werden, der Ansatz eignet sich aber, um die Instrumentalisierungsmechanismen von konstruierter ‚Identität‘ und ‚Alterität‘ und die Wahrnehmung des Individuums außerhalb von vermeintlich homogenen Kollektiven aufzudecken, wie sie in den Romanen thematisiert werden. Hierbei ist es für ihre Bedeutung und Wirkmächtigkeit für Inkludierte und Exkludierte kein Hindernis, dass kollektive essentialistische Identitäten ein Konstrukt sind, denn sie „sind keine Erfindungen, die nur deshalb existieren, weil sie „gedachte“ Gemeinsamkeiten darstellen, sondern sie bilden gerade in ihrer imaginierten Form eine Realität, die die Agenda und Prozesse öffentlicher wie privater Kommunikation beeinflussen.“4 Die Definitionen dessen, was eine Gruppe ausmacht, gehen auseinander, wobei sich hier nicht auf eine formale Begriffsbestimmung bezogen werden soll, sondern auf die psychologische Komponente, d.h. der Blick wird von außen nach innen gelenkt und es soll betrachtet werden, inwiefern sich die in der Gruppe Agierenden als Mitglieder eines Kollektivs wahrnehmen oder dies nicht tun. Turner unterscheidet zwischen dem Modell der ‚Social Cohesion‘ und jenem der ‚Social Identification‘, wobei ersteres, Shaw folgend, eine Gruppe bereits dort angelegt sieht, wo zwei oder mehrere Personen in gegenseitiger Abhängigkeit miteinander interagieren und sich dabei gegenseitig beeinflussen.5 Dieser Ansatz geht vom Zusammenwirken der einzelnen Gruppenmitglieder aus und legt den Fokus dementsprechend darauf, wie sie sich untereinander wahrnehmen und voneinander profitieren. Das Modell der ‚Social Identification‘ dagegen sieht eine soziale Gruppe erst dann gegeben, wenn Individuen nicht nur miteinander agieren, sondern sich bewusst als ein Teil einer sozialen Gruppierung identifizieren.6 Der Unterschied ist bedeutsam, denn entscheidend ist hier nicht die reine Interaktion oder die Art und Weise, wie andere Gruppenmitglieder gesehen werden, ob sie gemocht werden oder welche Vorteile aus den anderen gezogen werden können, sondern das Selbstverständnis der in der Gruppe Agierenden; Gruppen-Zusammengehörigkeit ist Resultat eines kognitiven Prozesses, der ein Selbstverständnis auf Basis einer kollektiven Identität schafft: „The first question determining group-belongingness is not ‚Do I like these other individuals?‘, but ‚Who 4

Saurwein: Einleitung: Die Konstruktion kollektiver Identitäten, S. 13.

5

Vgl. Shaw: “[A] manner that group is defined as two or more persons who are interacting with one another in such a each person influences and is influenced by each other person.” (Shaw: Group dynamics, S. 10. Kursiv im Original.)

6

Vgl. Turner: Towards a cognitive redefinition of the social group, S. 15. Gemeinsam ist Shaw und Turner die Annahme, dass eine Gruppe sich bereits aus zwei Individuen konstituieren kann und somit die Frage nach Gruppenverhalten, Exklusion und Inklusion nicht von einer quantitativen Masse abhängig ist.

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am I?‘“7 Somit lassen sich durch dieses Modell auch besser große Gruppierungen und Kollektive beschreiben, die nicht nur von persönlicher Interaktion abhängig sind, wie sie auch in den untersuchten Romanen von Bedeutung sind, indem das Gefühl des Ausschlusses aus einer Gruppierung nicht nur durch konkrete Diskriminierung, sondern ebenso durch das eigene Gefühl des ‚Andersseins‘ entstehen kann; dazu gehören mögliche kollektivformende Kategorien wie Nationalität, Sprachgemeinschaften, Religion, Klassen und Geschlecht, die durch Diskurse der Homogenität und der Abgrenzung instrumentalisiert werden. Zudem weist Turner mit Bezug auf mehrere Fallstudien nach, dass für Gruppenverhalten und somit für Bevorzugung der eigenen Gruppenmitglieder und Diskriminierung der anderen das Selbstverständnis der Gruppenzugehörigkeit entscheidend bedeutsamer ist als persönliche emotionale Präferenzen oder Gemeinsamkeiten mit anderen Individuen.8 Interaktionen differieren je nachdem, ob dem anderen gegenüber im Rahmen einer Gruppenzugehörigkeit oder als Individuum aufgetreten wird. Tajfel unterscheidet dementsprechend zwischen ‚intergroup‘ und ‚interpersonal behaviour‘, wobei diese kaum in ihrer reinen Form vorkommen und alle ‚natürlichen‘ sozialen Begegnungen sich zwischen den beiden Extremen bewegen. Dabei kann man auch von Gruppen- oder Massenverhalten sprechen, wenn lediglich zwei Personen miteinander agieren, da die Gruppenzugehörigkeit und die soziale Identität in den meisten Fällen die Kommunikation stark beeinflussen, indem das Gegenüber als Mitglied der eigenen oder einer fremden Gruppe wahrgenommen und somit zumindest teilweise entindividualisiertund entpersonalisiert wird:9 „Obwohl es zwar richtig ist, „daß letzten Endes ‚Individuen‘ mit ‚Individuen‘ umgehen, gehen sie aber nicht notwendigerweise miteinander als Individuen um; sehr oft verhalten sie sich hauptsächlich als Mitglieder gut definierter und voneinander klar abgehobener sozialer Kategorien.“10 So ist auch für die Entstehung von Massenphänomen und -mechanismen nicht zwingend eine ‚quantitative‘ Masse vonnöten, sondern auch einzelne Individuen können durch ihr Verhalten als ‚qualitative‘ Masse bewertet werden. Die Selbstverortung innerhalb einer Gruppe, die eindeutige Beantwortung der Frage ‚Wer bin ich?‘ im Rahmen eines Kollektivs, und somit die Herausbildung einer sozialen Identität werden als Voraussetzungen für das Auftreten und Verhalten als

7

Ebd., S. 16.

8

Vgl. ebd., S. 22ff. Gerade die künstlich erzeugte Herstellung von ‚sozialer Identität‘ in den Fallstudien eignet sich für eine Untersuchung der Entstehung der Wahrnehmung der eigenen Zugehörigkeit in gesellschaftlichen Netzwerken, in denen z.B. durch politische Instrumentalisierung das Bewusstsein einer Homogenität des ‚Eigenen‘ hervorgerufen werden soll.

9

Vgl. Tajfel: Gruppenkonflikt und Vorurteil, S. 85.

10

Ebd., S. 69.

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Gruppenmitglied innerhalb und außerhalb dieser Gruppe angenommen. Zu einer Sinnkrise innerhalb von Kollektiven kann es kommen, wenn die Frage nach der eigenen Identität nicht eindeutig beantwortet werden kann, weil die Gesellschaft unterschiedliche Signale und Antworten auf die im Verhalten implizierte Frage gibt. Berger und Luckmann thematisieren dies anhand der Identitätsbildung des Kindes, räumen aber ein, dass es auch in späteren Lebensphasen durchaus zum Problem werden kann: Erhält das Kind auf die in seinem Verhalten immer mitenthaltene Frage „Wer bin ich?“ keine einigermaßen übereinstimmenden Antworten, dann muß es bei der Übernahme von Selbstverantwortung auf große Schwierigkeiten stoßen. Auch wenn unter günstigeren Umständen die Identität einer Person problemlos aufgebaut worden ist, kann deren Festigkeit später noch durch andauernde, sozusagen systematische Inkonsistenz in der Widerspiegelung ihres Handelns im Handeln anderer gefährdet werden.11

In den untersuchten Romanen entspringen Zweifel an der sozialen Identität und Zugehörigkeit sowie Problematiken und Katastrophen, die sich aus falschen Annahmen der Gemeinsamkeiten zu gewissen Gruppen ergeben, häufig mangelnder oder missverstandener Kommunikation zwischen den Protagonisten und den sie umgebenden Figuren. Dies ist etwa bei dem Protagonisten und aus proletarischem Elternhaus stammenden Polzer in den Verstümmelten der Fall, indem eine der Nebenfiguren, der Doktor, annimmt, Polzer gehöre einer höheren Schicht an und sei lediglich verarmt. Aus diesem Grunde verhält er sich ihm gegenüber gleichberechtigt und erklärt sich bereit, dem irritierten Polzer einen Anzug zu schenken, der ihn plötzlich äußerlich einer sozialen Gruppierung zuordnet, der er nicht angehört. Polzers Unfähigkeit, entweder das Missverständnis aufzuklären oder sich der neuen Identität anzupassen, führt schließlich zu seiner Entlarvung und Entblößung als unfreiwilliger Schwindler. Das unerwartete Verhalten des Doktors, das nicht Polzers Selbstwahrnehmung entspricht, führt bei Polzer somit zu einer Unsicherheit über seine soziale Position. Ähnliche Momente, welche die soziale Selbstverordnung des Individuums erheblich erschweren, ergeben sich auch in double-bind-Situationen innerhalb eines Assimilationsprozesses, wobei dem Individuum, das außerhalb eines Kollektivs steht und sich in dieses integrieren möchte, einerseits signalisiert wird, dass durch Assimilation eine Annäherung und eventuell gar eine Integration stattfinden kann, andererseits jedoch die Bezugsgruppe mehr und mehr unterscheidende Merkmale aufstellt und der Assimilationsprozess somit niemals vollständig gelingen kann. Entscheidend bei Assimilationsprozessen ist nur sekundär die Selbstwahrnehmung der Person oder der Gruppe, die sich assimilieren möchte, sondern primär die Bereitschaft der Bezugs-

11

Berger/Luckmann: Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, S. 24f.

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gruppe zur Re-Evaluation der veränderten Charakteristika und somit die Anerkennung der Legitimität des sozialen Wandels oder der sozialen Mobilität. Die Gründe, warum eine Bezugsgruppe die Anerkennung trotz vollständiger äußerlicher Assimilation verweigert, hängen mit der Abhängigkeit jeden Kollektivs vom ‚Anderen‘ zur Bildung eines positiven Selbstbildes zusammen,12 das durch den Assimilationsversuch bestätigt wird, indem die Bezugsgruppe daraus Schlüsse für ihre Überlegenheit zieht: „Je mehr du versuchst, zu sein wie ich, um so klarer wird mir der wahre Wert der Macht, die du mit mir teilen willst, und um so deutlicher wird mir bewußt, daß du nichts bist als ein Emporkömmling, ein Abklatsch, ein Außenseiter.“13 Der Versuch, als Außenseiter Integration und Halt in einer spezifischen Gruppierung oder auch der normativen Gesellschaft zu finden, ist unter diesen Prämissen zum Scheitern verurteilt. Der Prozess der Annäherung an verschiedene Kollektive, die jeweilige Zurückweisung und die zunehmende Vereinsamung des Individuums findet sich, wenn auch in jeweils differenzierterer Form, in den hier behandelten Romanen. Als prominentes Beispiel kann der Arme Verschwender von Ernst Weiß gelten, in dem der Protagonist versucht, seinem Vater als Arzt nachzueifern, der ihn immer wieder bis zu einem gewissen Grad fördert, nur um ihm umso deutlicher machen zu können, dass der Sohn sein Vorbild nie erreichen wird. Hier soll jedoch zunächst interessieren, wie es aus soziologischer Perspektive zu solchen Ausschließungsmechanismen kommt. Dabei ist es von Bedeutung, wie das Kollektiv Fremdes und Eigenes wahrnimmt und warum und inwiefern es Alterität schafft, potenziert und diskriminiert.14 Die Bestimmung des ‚Eigenen‘ einer kollektiven Identität, sei es eine kulturelle oder nationale, wird immer erst möglich durch die Abgrenzung des ‚Anderen‘.15 Die

12

Tajfel nennt zwei Funktionen, welche die Kategorisierung und somit auch das Fortbestehen des ‚Anderen‘ für die eigene Gruppe hat: Zunächst trägt es „zum Überdauern der Gruppe als ausgeprägter sozialer Entität bei“, zum anderen zur Verbesserung der Selbsteinschätzung und der Selbstachtung: „Wir sind, was wir sind, weil sie nicht das sind, was wir sind.“ (Tajfel: Gruppenkonflikt und Vorurteil, S. 160.)

13

Gilman: Jüdischer Selbsthaß, S. 12f. (Kursiv im Original.)

14

Die Bedeutung der Interdependenz von Eigenem und Fremden für die Untersuchung der Literatur der ‚Dreivölkerstadt Prag‘ hat bereits Takebayashi zur methodischen Basis ihrer Studie gemacht und hier aufgezeigt, inwiefern diese Prozesse auch in die Literatur einfließen. (Vgl. Takebayashi: Zwischen den Kulturen, v.a. S. 52ff.)

15

Dieses Phänomen konstatiert Schroubek auch für die Darstellung der Tschechen insbesondere in der ‚sudetendeutschen‘ Literatur: „Die auch sonst zu übertriebener Begeisterung wenig Anlass gebende conditio humana offenbart hier eine dunkle Seite mehr. Es scheint, dass Gruppenzusammenschlüsse nach innen nicht möglich seien ohne Abschluss nach außen. Um uns recht behaglich in der Nestwärme des Kollektivs […] einrichten zu können, brauchen wir den inferioren anderen, genauer: eine Gruppe inferiorer anderer,

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Bildung der Identität ist somit immer ein „dialektischer Differenzierungsprozeß“,16 indem das Fremde konstituierend wirkt und somit auch immer ein Teil des Eigenen ist. Gerade hierin äußert sich auch der Konstruktcharakter einer homogenen, essentialistischen kollektiven Identität, indem das ‚Eigene‘ diskursiv nur durch die Abgrenzung vom ‚Fremden‘ herausfbeschworen werden kann. Das Abhängigkeitsverhältnis des Eigenen vom Fremden wird deutlich, wenn die verschiedenen Funktionen einer Stereotypisierung des Anderen und ihre große Bedeutung für jegliche Kollektive betrachtet werden. Sie dient dazu, „1. komplexe und gewöhnlich unangenehme soziale Ereignisse in der Gesamtgesellschaft zu verstehen, 2. geplante oder ausgeführte Handlungen gegenüber Fremdgruppen zu rechtfertigen und 3. die eigene Gruppe von bestimmten Fremdgruppen […] positiv zu unterscheiden“.17 Als 4. Punkt ließe sich weiter anführen, dass eine Funktion auch darin besteht, das ‚Eigene‘ als homogene Form zu konstruieren und zu propagieren, die in dieser Form nicht besteht. Jan Budňák legt die Wechselwirkung zwischen der Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden seiner Untersuchung des stereotypen Bilds der Tschechen in der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur zugrunde, denn „das Heterostereotyp, das „Bild vom Anderen“, weist strukturelle sowie inhaltliche Merkmale auf, die im Autostereotyp ihren Ursprung haben und eine bestimmte Parallelität damit erkennbar machen lassen.“18 Am prägnantesten beobachten lässt sich die Korrespondenz zwischen positiver Selbstwahrnehmung und komplementärer negativer Fremdwahrnehmung in den deutschnationalen Romanen, so z.B. in „Rothackers konsequent dualisierten Nationalismus“,19 der anhand des Romans Das Dorf an der Grenze offen zu Tage tritt. Stereotypisierungen und Vorurteile dienen somit der Selbstverortung, Orientierung und dem inneren Zusammenhalt des Kollektivs, was laut Turner bereits Konkurrenz und Diskriminierung hervorruft, selbst wenn es keinen eigentlichen Konflikt zwischen den Gruppen gibt.20 Die Vorteile, die sich aus der Macht des Kollektivs ergeben, sind natürlich mit erheblichen Nachteilen für die jeweiligen Ausgeschlossenen verbunden, vor allen Dingen, wenn es sich hierbei um eine kleine oder sozial schwächere Gruppierung handelt, zu denen die in diesen Romanen behandelten Protagonisten fast ausnahmslos als Grenzgänger, Außenseiter oder Vertreter minoritärer

die wir von Herzen verachten und auf die wir alle unsere eigenen kollektiven und individuellen negativen Eigenschaften projizieren können, die wir uns selber natürlich nicht so gerne eingestehen möchten.“ (Schroubek: Studien zur böhmischen Volkskunde, S. 168.) 16

Lauterbach: Nationalkulturelle Identitätskonstruktionen, S. 8.

17

Tajfel: Gruppenkonflikt und Vorurteil, S. 54f.

18

Budňák: Das Bild des Tschechen, S. 35.

19

Ebd., S. 333.

20

Vgl. Turner: Towards a cognitive redefinition of the social group, S. 34.

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Gruppen gehören. Wird eine Gruppierung oder ein Individuum aufgrund einer (tatsächlichen oder nur angenommenen) Gruppenzugehörigkeit auf negative Weise sozial kategorisiert und diskriminiert, so kann versucht werden, eine Verbesserung der Lage durch soziale Mobilität (des Individuums) oder sozialen Wandel (der gesamten minoritären Gruppe) zu erzielen. Dieser vollzieht sich in der Regel durch Akkulturation bzw. Assimilation.21 Der Komplex der kulturellen Annäherung kann nicht nur inter-, sondern auch intrakulturell angewendet werden, denn Auffassungen des Anderen und Fremden sind immer schon kulturspezifisch akzentuiert, da Menschen einem bestimmten kulturellen Gedächtnis angehören und Fremdheitserfahrungen nicht nur im interkulturellen, sondern auch im intrakulturellen Referenzrahmen gemacht werden; insbesondere in den modernen Gesellschaften gibt es auch die subkulturelle Fremdheit der Schichten und Generationen.22

Der Begriff der Akkulturation wird in diesem Kontext dementsprechend nicht nur für die Annäherung an nationale, religiöse oder anderweitig kulturell konnotierte Kollektive verwandt, sondern durchaus auch für die Annäherung an Gruppierungen, die sich innerhalb einer ‚Kultur‘ bilden und wie sie in den Romanen ausgemacht werden können; für soziale Schichten, politische Strömungen, hierarchisierte Verwandtschaftsverhältnisse etc. So trägt auch eine diffus bleibende Differenz, z.B. etwa zwischen Polzer in Die Verstümmelten und den ihn umgebenden Figuren, die als selbstbewusste Mitglieder zwar nicht eindeutig benannter, aber als sozial konnotierter und

21

Bei der Beschreibung des Phänomens der Annäherung einer Gruppierung oder eines Individuums an ein anderes Kollektiv wird neben dem Begriff der Akkulturation auch häufig jener der Assimilation verwendet, wobei diese semantisch nicht klar unterschieden sind. Ben-Rafael unterscheidet zwischen Akkulturation und Assimilation, indem letztere eine höhere Stufe der Entwicklung markiere: “As part of a larger society, the [acculturating] group necessarily experiences some degree of acculturation in the sense that it is influenced by its environment and becomes increasingly similar to the strata that embody the values and norms predominant in society. Eventually, the group might even undergo assimilation, which means that acculturation comes to include identity.“ (Ben-Rafael: The Israeli Experience, S.115.) Bauböck unterscheidet weiterhin, dass für Assimilation im Gegensatz zu Akkulturation eine Akzeptanz der Zielkultur vonnöten sei: „[A]ssimilation is different from acculturation in that the former requires some ratification by the [reiceiving] group. [...] Assimilation indicates a change of membership which makes an individual similar to a receiving community in the sense that the members recognize her as one of their kind.” (Bauböck: The Blurring of Boundaries, S. 40ff.)

22

Wierlacher/Albrecht: Kulturwissenschaftliche Xenologie, S. 281.

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als homogen wahrgenommener Kollektive auftreten, Züge eines Akkulturationsprozesses. Assimilationsvorgänge sind häufig mit Gefühlen der Scham und Schuld verbunden. Gilman beschreibt dies konkret am Beispiel des Jüdischen Selbsthasses. Wenn die eigene soziale Identität, die aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und der Herkunft des Individuums konstruiert wird, zugunsten einer neu zu erringenden sozialen Identität innerhalb der Zielkultur abgelehnt wird, so wird das Eigene stigmatisiert, indem die negative Fremdzuschreibung des ‚Anderen‘ übernommen und auf die eigene, ursprüngliche Gruppe übertragen wird. Die Konsequenz ist ein Gefühl der sozialen Scham und implizit auch der Schuld. Für Neckel hat Scham eine normative und eine moralische Komponente, die beide auf die Ausbildung oder Ablehnung einer sozialen Identität bedeutende Auswirkungen haben. Somit entsteht Scham zum einen „aus dem Geflecht sozialer Beziehungen heraus und dem geringen Maß an Anerkennung, das man in diesem erfährt. Im Schamgefühl vergegenwärtigt sich eine Person, in einer Verfassung zu sein, die sie selbst als defizitär, als mangelhaft oder auch als entwürdigend empfindet.“23 Zum anderen geht dieses Gefühl der eigenen Selbstentwertung mit dem Bewusstsein einher, selbst für diesen Zustand verantwortlich zu sein, indem man gegen eine Norm verstoßen hat und somit Schuld daran trägt.24 Im Falle von ‚intergroup behaviour‘ und Minderheitendiskursen hat dies gravierende Konsequenzen. Normativ ermöglichen Machtdifferenzen zwischen Individuen und besonders Kollektiven Beschämung und Diskriminierung, was einen indirekt erzwungenen Akkulturationsprozess einleitet: „Zukünftig wird [der Beschämte] besonders konform sein wollen, um weiterer Scham zu entgehen.“25 Die moralische Komponente der Scham führt zusätzlich zu einer Verdammung des früheren Verhaltens oder der vorherigen Zugehörigkeit und somit zu einem Gefühl des Selbsthasses. Problematisch ist dies vor allem dann, wenn die Herausbildung eines neuen Zugehörigkeitsgefühls nicht möglich ist, entweder aufgrund der oben geschilderten doublebind-Situationen oder weil das ‚Ureigenste‘ (Herkunft, Religion, Sprache und/oder ähnliches) vom Individuum nicht vollständig aufgegeben werden kann, wie in den Romananalysen zu Natoneks Kinder einer Stadt oder Ungars Die Verstümmelten thematisiert wird. In diesem Fall findet eine massive Störung der angeeigneten sozialen und auch personalen Identität des Individuums statt, indem es zwischen Beschämung und Schamgefühlen, Selbsthass und Schuldgefühlen oszilliert und somit die Errichtung einer stabilen sozialen Identität nicht möglich ist. Auch wenn in den meisten deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen Akkulturations- bzw. Assimilationsvorgänge zumeist keine vordergründige Rolle zu spielen scheinen (als Ausnahmen können etwa die historischen Romane von Ernst 23

Neckel: Status und Scham, S. 16.

24

Vgl. ebd., S. 16f.

25

Ebd., S. 17.

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Sommer (Botschaft aus Granada) und Oskar Baum (Das Volk des harten Schlafes), welche die jüdische Assimilation konkret thematisieren, gelten), so sind sie doch latent in den Texten präsent. Jakob Dowidal aus Natoneks Kinder einer Stadt etwa versucht, sich in der Weimarer Republik durch das Auftreten als ein körperlich gestählter, eiskalter Geschäftsmann und Antisemit den politischen und publizistischen Gegebenheiten der Weimarer Republik anzupassen und gleichzeitig seine Prager jüdische Herkunft zu vertuschen, und die Protagonisten aus Kornfelds Blanche oder das Atelier im Garten setzen selbst im Umgang mit ihren Freunden tagtäglich Masken auf, um sich einer Gesellschaft anzupassen, die trotz ihrer nach außen getragenen Frivolität strengen Regeln folgt. In allen hier behandelten Romanen äußert sich ein Wunsch der Protagonisten nach Verständnis, Nähe, Heimat und Integration, der Versuch einer Annäherung an verschiedene Figuren oder Gruppierungen, wobei jedoch der Akkulturationsversuch zumeist bereits im Ansatz scheitert, indem das Eigene nicht verdeckt und versteckt werden kann oder soll. Betrachtet man Phänomene der Kollektivbildung, ihre Exklusions- und Inklusionsmechanismen sowie die Funktion des Individuums in- und außerhalb von Gruppen, so drängt sich unwillkürlich der Gedanke an die wohl rätselhafteste und am wenigsten greifbare Form menschlicher Kollektive auf: die Masse. Sie bildet eine Sonderform der Gemeinschaft, indem in ihr eine vollkommene Entindividualisierung des Subjektes stattfindet, das nur noch als Partikel der Masse existiert und nicht von ihr separiert werden kann. Von dieser Eigenschaft der Masse geht ihr Bedrohungspotential, aber gleichzeitig auch ihre große Faszinationskraft aus, weshalb unzählige wissenschaftlicheAuseinandersetzungen mit dem Begriff der Masse existieren.26 Das Phänomen ‚Masse‘ ist jedoch kein starres Konstrukt, sondern ein sich wandelnder Diskurs, der in durch diskrete Grenzen und Brüche voneinander getrennten historischen Diskursräumen jeweils neu konstruiert wurde. Das ‚Masse‘-Thema dehnt sich nicht als ein prinzipiell unabgeschlossenes historisches Werden über die Zeiten, sondern konfigurierte sich in bestimmten diskursiven Formationen, in denen dann auch die überlieferten Topoi ihre je spezifische Bedeutung entfalten.27

Der Diskurs der Masse ist somit auch immer ein Konstrukt, keine Bestimmung ihres tatsächlichen Wesens. Dies wird besonders deutlich, wenn man in Betracht zieht, dass die Äußerungen über die Masse nie von ihr selbst getroffen werden, sondern von

26

Vgl. als Überblick über den literarischen Massendiskurs Gamper: Masse lesen, Masse

27

Ebd., S. 15.

schreiben.

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außenstehenden Beobachtern, und ihre Beschreibung durch z.B. kulturelle Konventionen oder politische Ideologien geleitet ist.28 Massen und Bestimmungen von Massen existieren bereits seit der Antike, dennoch gilt die Moderne als das „Zeitalter der Massen“.29 Die Masse und ihre Komposita wie Massenmensch, Massengesellschaft, Massenproduktion etc. haben in der Regel in der modernen Gesellschaft eine pejorative Konnotation, die einhergeht mit Assoziationen wie Unberechenbarkeit, Verlust der Individualität, Mittelmaß oder Mitläufertum. Spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts galt die ‚Masse‘ somit auch als „Inbegriff jener rohen und gefährlichen Leidenschaften, die als nicht zivilisationsfähig aus dem Reich der „Kultur“ auszugrenzen waren“.30 Genau zu diesem Zeitpunkt jedoch beginnt auch eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen, das im Rahmen der Industrialisierung und Urbanisierung ungekannte Ausmaße an- und im gesellschaftlichen und politischen Umfeld eine wichtige Funktion einnimmt. Die semantischen Konnotationen und ihre Instrumentalisierungen, die der Begriff der Masse in dieser Zeit im öffentlichen Diskurs annimmt, sind eng mit der Sozial- und Mentalitätsgeschichte Mitteleuropas in der Moderne verknüpft, seine ambivalente Verwendung im Spannungsfeld der Begriffe Volk, Nation, Rasse und Klasse verweist auf seine Funktion innerhalb des politischen zeitgenössischen Diskurses. Die gedankliche Verschmelzung des Begriffs der Masse mit dem des (niederen) Volkes impliziert eine pejorative Bedeutung, die etwa bei Nietzsche und Ortega y Gasset noch eine große Rolle spielt. Diese enge semantische Verbindung legt es nahe, zu untersuchen, inwiefern die Begriffe ‚Volk‘ und ‚Masse‘ divergieren und wie ihnen der Begriff der ‚Nation‘ gegenübersteht; die Differenz ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die politischen Kategorisierungen etwa von Minderheiten im frühen 20. Jahrhundert. So wird bereits im 18. Jahrhundert bei Zedler das Volk als „eine Menge oder ein Haufen Leuten, welche sich in der Absicht, unter sich alle miteinander gleich durch einerley Rechte und Vortheile zu geniessen, aber um ihres gemeinen Bestens willens mit einander vereiniget und eine Art der Gesellschaft errichtet haben“31 bezeichnet, während im Gegensatz dazu die Nation als vorstaatliches Konstrukt als „eine vereinigte Anzahl Bürger, die einerley Gewohnheiten, Sitten und Gesetze haben“ dargestellt wird, wobei ein gewisser, grosser oder kleiner Bezirck des bewohnten Erd-Kreises, eigentlich nicht den Unterschied der Nationen ausmache, sondern […] dieser Unterschied einzig und allein auf die

28

Vgl. hierzu auch Lahl: Der literarische Massendiskurs, S. 89.

29

Le Bon: Psychologie der Massen, S. 2.

30

Mai: Zeiten der Gewalt, S. 12.

31

Zedler: Universallexikon, Bd. 50, Sp. 362, Art. Volck.

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Verschiedenheit der Lebens-Art und Gebräuche beruhe, folglich in einer oftmals kleinen Provinz, Leute von unterschiedlichen Nationen bey einander wohnen können.32

Diese Differenzierung, im 19. Jahrhundert durch den aufkommenden Nationalismus verschärft, deutet auf die Verbindung der Begriffsgruppen Volk – Masse, Nation – Rasse hin, die sich auch im 20. Jahrhundert fortsetzt. Durch die Industrialisierung und die damit einhergehende Verschärfung der Massenproblematik sowie den Sozialismus kommt zu dieser Einteilung noch ein weiteres Kriterium hinzu, das der Klasse. Marx schreibt: „Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital“.33 Im Streik und in Arbeiterkoalitionen formiert sich die Masse als Klasse, beteiligt sich somit aktiv am Klassenkampf und wird eine mächtige politische Komponente. Die Masse erfährt hier eine Aufwertung und entwickelt eine Anziehungskraft des Klassenbewusstseins und der Klassenzugehörigkeit sowie ein revolutionäres Potential, die sie in den proletarischen Kreisen des frühen 20. Jahrhunderts beibehalten werden. Mit der semantischen Annäherung der Masse an Klasse wird jedoch der Volkscharakter der Masse gebrochen, da die Masse hier nicht mehr als das Kollektiv einer Gesellschaft empfunden wird, sondern als Ausdruck einer bestimmten Gruppierung, der des Proletariats. So erklärt sich auch die Tatsache, dass rechte Kreise in der Weimarer Republik den Begriff des ‚Volkes‘, der seit Ende des 18. Jahrhunderts eine polemische und propagandistische Aufwertung vor allem im Gegensatz zum französischen Wort ‚Nation‘ erfuhr, für sich beanspruchen konnten,34 der Masse jedoch ablehnend gegenüberstanden.35 ‚Volk‘ lässt sich vor allem nach 1918 nur noch sehr schwer eindeutig definieren, da sowohl das linke wie das rechte Lager den Begriff für sich als ideologisches Schlagwort in Anspruch nehmen und ihre Legitimation aus ihm ableiten, wobei sie ihn gleichzeitig unterlaufen und zerfasern:

32

Zedler: Universallexikon, Bd. 23, Sp. 901, Art. Nation.

33

Marx: Frühe Schriften, 2. Bd, S. 809.

34

So etwa in dem Roman Volk ohne Raum von Hans Grimm.

35

Die Masse wird in der Weimarer Republik von rechten Gruppierungen als weibisch und proletarisch verurteilt. Vgl. hierzu Klaus Theweleits Untersuchungen zu den faschistischen Freikorpsmännern Männerphantasien. Die Massen, die der Nationalsozialismus selber so gerne produziert und präsentiert, werden gänzlich anders und positiv bewertet, sie sind die vom ‚Führer‘ geordneten Massen, die keine weiblichen Attribute mehr besitzen, sondern in starren Formen der ungeordneten Masse Einhalt gebieten.

162 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM Gleichwohl wurde der Grundbegriff in seiner fast immer emphatischen Verwendung, eine Identität des deutschen ‚Volkes‘ herzustellen und abzusichern, ganz entschieden unterwandert und relativiert: erstens durch den Begriff ‚Rasse‘ von rechts, zweitens durch den Begriff ‚Klasse‘ von links, drittens durch den Begriff ‚Masse‘ von links und rechts. Alle drei Begriffe, ‚Rasse‘, ‚Klasse‘ und ‚Masse‘ zielten darauf, die gemeineuropäische, spezifisch ‚nationalstaatliche‘ Komponente des Volksbegriffs auszuhebeln.36

Im nationalsozialistischen und deutschnationalen Sprachgebrauch findet eine semantische, ahistorische Verschmelzung der Begriffe ‚Volk‘ und ‚Rasse‘ statt, die es der Propaganda erlaubt, einerseits das ‚Volk‘ als die Einheit der Deutschen, als eine fest zusammenstehende Gemeinschaft mit einem Willen und Führer zu verkünden, andererseits aber alle nicht erwünschten Deutschen von dieser Gemeinschaft auszuschließen.37 Gerade die Uneindeutigkeit des Begriffs, seine Verschmelzung mit anderen politischen und gesellschaftlichen Bereichen (so hängt der Begriff auch eng mit anderen, im frühen 20. Jahrhundert virulenten Themenkomplexen wie z.B. der Psychoanalyse und Libido,38 der Frage nach freiem Willen und Führergehorsam,39 Genderkonflikten40 etc. zusammen) sowie seine unterschiedliche Verwendung und Instrumentalisierung vom rechten und linken Lager lässt erahnen, inwiefern die spezifische Diskursivierung von Masse eine paradigmatische Auseinandersetzung mit kulturellen, modernen Phänomenen widerspiegelt. Die ‚Masse‘ wird nicht nur zu unterschiedlichen Zeiten verschieden wahrgenommen, sondern sie erfährt auch regionale Bedeutungsverschiebungen, abhängig von der unmittelbaren sozialgeschichtlichen Situation. In der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens in der Zwischenkriegszeit ist ihre Beschreibung zumeist eng verbunden mit der Erfahrung von Kriegsmassen im Ersten Weltkrieg, mit nationalen Massen, etwa während der Revo-

36

Koselleck: Volk, Nation, Nationalismus, Masse, S. 390. Vgl. auch Hebenstreit: „Aufbauend auf Vorstellungen von politischer Macht, Machtergreifung und Machtausübung, die sich [im Volksbegriff] konzentrieren, war im Laufe des 20. Jahrhunderts das politische Subjekt des ‚Volkes‘ konstruiert worden, das im Rahmen der nationalsozialistischen Ideologie als ‚Rasse‘ und in der kommunistischen als ‚Klasse‘ bzw. ‚Masse‘ verstanden wurde.“ (Hebenstreit: Der Volksbegriff, S. 145.)

37

Vgl. das Programm der NSDAP von 1920, Artikel IV: „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.“ (http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/document/ artikel_44553_bilder_value _1_nsdap.jpg)

38

Vgl. hierzu v.a. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse.

39

Vgl. Ortega y Gasset: Aufstand der Massen. Vgl. auch Le Bon: Psychologie der Massen.

40

Vgl. Theweleit: Männerphantasien.

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lution oder der nationalen Ausschreitungen der frühen 20er Jahre, sowie mit der nationalsozialistischen Massensuggestion und dem ‚Führer‘ der Massen, die mit Besorgnis oder auch, von deutschnationaler Seite, Hoffnungen im Nachbarland beobachtet wurden.41 Der Modus der Beschreibung von Massen korreliert in Böhmen und Mähren eng mit der Selbstverortung des Individuums im zumindest bi-, wenn nicht multikulturellen und -nationalen Raum. Die brüchigen Konzepte einer essentialistischen deutschen oder österreichischen Identität müssen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und der neuen politischen Ordnung in Mitteleuropa überdacht, angepasst oder verworfen werden. In diesem Prozess lösen Massenmechanismen sehr unterschiedliche Wahrnehmungen aus, indem sie einerseits eine große Anziehungskraft ausüben und gleichzeitig auch auf vehemente Ablehnung stoßen können, je nachdem, ob die Masse als ein identitätsstiftendes Kollektiv oder als eine dem Individuum feindlich gegenüberstehende Menge wahrgenommen und beschrieben wird. Insbesondere die nationalen Massen werden in Böhmen und Mähren sehr ambivalent geschildert. Im eskalierenden Nationalitätenstreit, so etwa 1920, gab es vermehrt Massenkundgebungen, -aufmärsche und -pogrome sowohl von tschechischer als auch von deutscher Seite. In den deutschsprachigen Romanen auftretende tschechische Massen werden häufig als negativ, feindselig und gefährlich geschildert. Die deutsche Masse wurde jedoch von der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur sehr unterschiedlich beschrieben und fiktionalisiert. In Hedwig Teichmanns Im Banne der Heimat etwa werden zwei gänzlich unterschiedliche Massenerlebnisse geschildert: Die tschechische Masse nach Ende des Ersten Weltkrieges erscheint bedrohlich und unberechenbar; sie wird bezeichnet als „die tschechische Hochflut […], die alles überschwemmen wollte, was deutsch hieß.“42 Die deutsche Masse dagegen, die sich im Widerstand formiert, bietet den deutschnationalen Figuren des Romans ein Gefühl der Geborgenheit und der Heimat, indem „Freund und Feind, Parteien und Gegenparteien, Frauen und Männer […] ernst den Schwur der Treue [gelobten]“.43 Die Menschenmenge erhält hier im ‚Grenzlandroman‘ eine bestimmte Funktion, durch welche die vermeintliche Unterdrückung der Deutschen und ihr propagierter Rechtsanspruch sowie die kulturelle und moralische Überlegenheit unterstrichen werden.44 Auch Walter Seidl, ein weiterer ‚sudetendeutscher‘, aber nicht deutschnationaler Autor, beschreibt die Ereignisse im Jahre 1920 in seinem Roman Der Berg

41

Vgl. zum Massendiskurs in Böhmen und Mähren Lahl: Der literarische Massendiskurs.

42

Teichmann: Im Banne der Heimat, S. 207.

43

Ebd., S. 252.

44

Im frühen deutschnationalen Grenzlandroman treten die Deutschen im Gegensatz zu den Tschechen noch gar nicht als Masse auf, wobei sich hierin ihre Stärke äußert, die aber schließlich der tschechischen Übermacht weichen muss. Vgl. hierzu Budňáks Interpreta-

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der Liebenden, allerdings werden hier die Massen anders bewertet als bei Teichmann und keinem Schwarz-Weiß-Schema unterworfen. Der Protagonist gerät in einer nordböhmischen Kleinstadt ungewollt zwischen die sich wütend gegenüberstehenden Massen von tschechischen Arbeitern und Soldaten auf der einen und deutschen Demonstranten auf der anderen Seite.45 Die tschechische Bevölkerung ist ihm weitestgehend fremd, aber auch mit den deutschen Forderungen kann er sich nicht identifizieren, er bringt beiden Seiten sowohl Antipathien wie auch Sympathien entgegen. Ein Gemeinschaftsgefühl kann somit mit keiner der beiden Parteien entstehen, in der Eskalation der Situation kann der Protagonist nicht in der Masse aufgehen, sondern besinnt sich im Gegenteil auf seine eigene individuelle Rettung. Die auftretenden Massen bedrohen hier das Leben des zwischen die Fronten geratenen Individuums, eine Konstellation, die im Gegensatz zu Teichmanns Massenbeschreibung jegliche Form des Nationalismus kritisch beleuchtet und die prekäre Situation des ‚Grenzgängers‘ deutlich macht. Auch in Weiskopfs Slawenlied tauchen national konnotierte Massen auf, allerdings werden sie hier politisch im Sinne des kommunistischen Gemeinschaftsgedankens instrumentalisiert, indem zunächst die tschechischen Massen, die der deutschen Bevölkerung im Ersten Weltkrieg feindselig gegenüberstehen, als bedrohlich empfunden und negativ geschildert werden, schließlich jedoch die Integration in die kommunistische Arbeitermasse, die über nationale Grenzen hinweg ein gemeinsames Ziel verfolgt, als Identifikationsort des Protagonisten den euphorischen Abschluss des Romans bildet. Die Massen werden somit in allen drei Romanen unterschiedlich bewertet und jeweils ideologisch aufgeladen, in allen drei Fällen jedoch besitzt die Massenbeschreibung entscheidende Aussagekraft für die Verortung des Individuums in der Gesellschaft. Es werden jeweils feindselige und zerstörerische Massen beschrieben, die mit Mitteln der Exklusion das Individuum ausschließen und dieses bedrohen. In Seidls Roman kann der Protagonist dieser Bedrohung nur durch eigenen Überlebenswillen entkommen,46 ein positives Massenerlebnis ist von vornherein durch seine dif-

tion von Mauthners Der letzte Deutsche von Blatna: „[D]ie tschechischen Anführer [erweisen sich] als charakterschwach und das Volk als gewaltsam, unbändig und rachedurstig. Das lässt wiederum den topischen Charakterzug der Deutschen in den Vordergrund treten: ihre bedachtsame, und daher unbeirrbare Individualität. Die Massenszenen des Romans stellen also die eben nur in der Masse starken bzw. mutigen Tschechen gegen die lose Verbindung individueller reifer Einheiten: der deutschen Bauern.“ (Budňák: Das Bild des Tschechen, S. 202.) 45

Vgl. Seidl: Berg der Liebenden, S. 124ff.

46

Der Protagonist kämpft sich aus der Masse heraus, indem er nicht mit der Masse agiert, sondern gegen sie und ihre Teile: „Die Angst kriecht an ihm empor. Und auch die Wut. Er stößt mit dem Absatz nach hinten und trifft das Bein eines Mannes. In der nächsten

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ferenzierte Wahrnehmung der nationalistischen Strömungen auf beiden Seiten unmöglich. Bei Teichmann und Weiskopf, so unterschiedlich die beiden Romane auch sind, taucht aber jeweils auch das Konzept einer Masse auf, die Integration, Schutz und Heimat bietet, sei dies im Sinne einer nationalen, identitätsstiftenden Einheit oder in der Möglichkeit des gemeinsamen politischen Klassenkampfes. Somit können über die Positionierung der Protagonisten gegenüber auftretenden Massen Aussagenüber ihre jeweiligen Orientierungsstrategien getroffen werden; die Sehnsucht nach dem Aufgehen in der schützenden, Integration und Identifikation bietenden Masse stellt ebenso eine Reaktion auf die Problematik der Identitätsfindung und Selbstverortung im kulturell, national, politisch etc. pluralistischen Raum dar wie die Ablehnung der Masse und die Rückbesinnung auf die eigene Individualität. Massen müssen auch nicht zwangsläufig Menschenansammlungen sein, die jedermann sofort ins Auge springen und wie sie etwa bei Revolutionen, Streiks und Aufständen, aber auch bei Festen, kulturellen Veranstaltungen und sportlichen Wettkämpfen auftreten. Besonders die sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu vorher unbekannten Ausmaßen weiterentwickelten Massenmedien bieten die Möglichkeit für den etwa alleine Zeitung lesenden Menschen, Teil einer Masse zu werden, ohne sich mit anderen Menschen zu versammeln. Auf die Tatsache, dass auch der Einzelne Masse sein kann, hat Ortega y Gasset hingewiesen47 und er, der seine Interpretation von Geschichte als „radikal aristokratisch“48 bezeichnete, meint damit den Durchschnittscharakter des Massenmenschen, der den Eliten den Rang abgelaufen hat. Auch Theweleit spricht von einer ‚inneren Masse‘, nämlich dass „die Masse und was in ihr lebt, wimmelt oder verwest als Verkörperung seines eigenen ‚Inneren‘ erscheinen kann“.49 Theweleit spricht hier weniger die Mediokrität der Massen an, sondern urmenschliche Triebe und unterdrückte Wünsche. Auch Freud geht davon aus, dass die Quantität nicht allein ausschlaggebend sein kann für die Verhaltensweisen einer Masse. Er führt diese Phänomene auf einen sozialen Trieb zurück, dessen Anfänge „in einem engeren Kreis, wie etwa dem der Familie, gefunden werden können.“50

Sekunde schon tut ihm diese Roheit gegen einen Schicksalsgefährten leid.“ (Seidl: Berg der Liebenden, S. 124.) 47

Vgl. Ortega y Gasset: „Man kann von einer einzigen Person wissen, ob sie Masse ist oder

48

Ebd., S. 13.

49

Vgl. Theweleit: Männerphantasien, Band 2, S. 25.

50

Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 34. Allerdings muss bei Freuds Massen-

nicht.“ (Ortega y Gasset: Aufstand der Massen, S. 9.)

psychologie beachtet werden, dass er keine konkrete Massenphänomenologie formuliert, sondern die Masse als jegliche Form der Gesellschaft dem Individuum gegenüberstellt.

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Somit können auch zwischenmenschliche Interaktions- und Kommunikationsmechanismen, in denen keine quantitative Masse auftreten, mithilfe der Massenphänomenologie zu Teilen gedeutet werden. In Ernst Weiß’ Roman Der Augenzeuge treten am Rande Massen auf, nämlich in den Versammlungen, vor denen der nationalsozialistische ‚Führer‘ A.H. spricht und die er durch hypnoseartige Suggestionen in seinen Bann zieht. In Weiß’ zuvor publiziertem Roman Der arme Verschwender wird der Vater-Sohn-Konflikt, insbesondere das Verhalten des Vaters und seine Macht über den Sohn, die in einer „Sehnsucht nach Transzendierung des Ich und Integration in einer höheren Totalität“51 des Protagonisten kulminiert, anhand ganz ähnlicher Parameter wie die Massensuggestion des ‚Führers‘ A.H. im Augenzeugen dargestellt. Über Freuds Verweis auf die Korrelation zwischen Familiendynamiken und Massenphänomenen kann hierdurch eine Verbindungslinie zwischen den beiden Romanen hergestellt werden. Auch in vielen weiteren deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen weisen die Verhaltensweisen von einzelnen Figuren darauf hin, dass sie alsVertreter einer, wenn auch nicht unbedingt sichtbaren, Masse agieren, von der die jeweiligen Protagonisten zumeist ausgeschlossen sind. Eine bedeutende Rolle spielen hierbei etwa die Entindividualisierung der Figuren (so etwa die nicht mehr individuell agierenden, sondern sich hinter einer der Gesellschaft angepassten Maske versteckenden Charaktere in Kornfelds Blanche oder das Atelier im Garten), ihre nicht hinterfragten Vorurteile (z.B. der Antisemitismus und der Antislawismus einiger Figuren in Weiskopfs Slawenlied) oder ihre Gesichtslosigkeit (so etwa bei dem Strom der vergnügungssüchtigen Nachtschwärmer, denen der Protagonist von Winders Jüdischen Orgel in Budapest und Wien begegnet).

In dieser Definition kann nicht nur die Familie, sondern jegliche Bindung zweier Menschen als Masse angesehen werden. Vgl. hierzu König: „Der Bezug, der den Text [Massenpsychologie und Ich-Analyse] bestimmt, ist in der Tat nicht das Verhältnis von Masse und Gesellschaft als zwei unterschiedliche und sich widersprechende Formen der Vergesellschaftung. Es ist nicht die Frage nach den spezifischen Formen der Bindung, die die Glieder einer Masse im Unterscheid zur Gesellschaft zusammenhalten, sondern die Frage nach der Konstitution des Sozialen schlechthin, die Freud interessiert. Es geht ihm nicht um die verschiedenen Qualitäten und Abstufungen des Sozialen, um die Bestimmung der Unterschiede zwischen Masse, Gesellschaft, Stand, Klasse und Gruppe.“ (König: Zivilisation und Leidenschaften, S. 237f.) Dies stellt auch den größten Unterschied zwischen Freuds Arbeit und den anderen Massenanalytikern dar. 51

Längle: Ernst Weiß, S. 41.

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4.1.2 Orientierung und Pluralismus in der Moderne Besonders aufschlussreich und spezifisch für die Behandlung der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur in der Zwischenkriegszeit ist der Umstand, dass die Protagonisten in den behandelten Romanen Situationen durchlaufen, die sie als Vertreter einer Minorität auszeichnen, indem sie sich den in den Romanen auftretenden majoritären Kollektiven (seien dies ‚die‘ Deutschen, Tschechen, Christen, ‚das‘ Bürgertum etc.) nicht oder nur eingeschränkt zugehörig fühlen, sich aber selbst nicht als Mitglieder einer Minderheit empfinden, sondern vielmehr als individuelle Außenseiter erscheinen. Dies ist selbst der Fall in denjenigen Romanen, die offensichtlich eine konkrete Minorität behandeln. Als Beispiel kann hierfür Ludwig Winders 1922 erschienener Roman Die Jüdische Orgel dienen, dessen Problematik der Zugehörigkeit über den ihm häufig zugeschriebenen ‚Jüdischen Selbsthass‘ hinausweist. Wie der Titel bereits besagt, handelt der Roman vom Judentum, und in der meistzitierten Passage des Romans52 wird die Verbindung der Identitätsproblematik des Protagonisten Albert Wolf mit der jüdischen Tradition seiner Familie deutlich. Gleichwohl schildert Winder in dem Roman keinen Protagonisten, der einer fest umrissenen minoritären Gruppe angehört und sich als Teil derselben definiert, auch wenn er ihr entkommen will, sondern eine individualisierte Geschichte einer konfliktbeladenen Jugend zwischen Tradition, Familie, eigenem Glück, Eros, Hass, Schuld und Sühne, bei der das Judentum eine bedeutsame, aber in gewissen Punkten auch austauschbare übergeordnete Rolle spielt, da „die Diskrepanz zwischen individuellem Begehren und tradierten Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen [sich] in allen Bevölkerungsgruppen [findet].“53 Wenn Winder in diesem Roman also auch eine Geschichte des mährischen Judentums schreibt, so ist Albert Wolf doch ein Vertreter einer Generation, in der zwar die Religion der Ahnen noch eine Rolle als Mahnung und auch Belastung spielt, in der aber das moderne Individuum sich bereits zu weit vom Judentum entfernt hat und zu sehr von den Identitätsproblematiken der modernen Gesellschaft durchdrungen ist, um sich ihm noch zugehörig zu fühlen. Hinzu kommt der Umstand, dass das Schicksal Alberts zwar somit ein ‚Gruppenschicksal‘ sein mag, indem es paradigmatisch für seine Generation gelten kann, es wird jedoch nicht als ein kollektives Schicksal wahrgenommen, da kein Austausch mit ‚Leidensgenossen‘ stattfindet. Die

52

Vgl. Winder: „Dies alles ist, wie es ist, weil ich ein Killejüngel bin, wütete er. So sind wir Juden: nicht umzubringen, nicht kleinzukriegen, etwas Furchtbares steckt in dieser Zähigkeit, in dieser Lebenskraft. Verflucht und verfolgt, tausendmal ausgespien und ausgerottet – immer wieder stehen wir auf, immer wieder beginnt in unserer Brust die Orgel zu brausen, die jüdische Orgel, grauenhaft ist dieser Segen, dieser Fluch!“ (Winder: Jüdische Orgel, S. 67.)

53

Jäger: Minoritäre Literatur, S. 392.

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Problematik wird als Einzelschicksal wahrgenommen, eine Kommunikationsbasis wird von vornherein verhindert. Die hier erkennbare Spannung der „Problematik eines für ein Gruppenschicksal repräsentativen Einzelschicksals“54 hat auch zur schockierenden Wirkung von Ungars Verstümmelten bei den zeitgenössischen Rezensenten geführt, da hier ein ‚Durchschnittsmensch‘, ein kleiner Bankbeamter, ein grauenvolles, vollkommen außergewöhnliches Einzelschicksal erlebt. Ähnliches, wenn auch in nicht solch ausgeprägter Form, ist in den meisten untersuchten Romanen zu vermerken: Die Protagonisten leben und interagieren zwar einerseits innerhalb verschiedener Kollektive ‚der‘ Juden, Deutschen, Proletarier, Intellektuellen o.ä., können sich aber selbst nicht mehr mit den anderen Vertretern der nur vermeintlich in sich homogenen Gruppierung identifizieren; ihre Erlebnisse sind somit stark individualisiert und werden als Einzelschicksale eines Außenseiters wahrgenommen, was die Problematik der Desorientierung in der Gesellschaft umso stärker hervortreten lässt. Das Individuum ohne kollektive Identität kann im Pluralismus der unterschiedlichen Zuschreibungsmöglichkeiten klare Kategorisierungen und Grenzziehungen nicht mehr vornehmen.55 Im modernen Raum der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere in der multikulturellen Situation in Böhmen und Mähren, findet durch die Entwicklungen im und nach dem Ersten Weltkrieg eine massive Verschiebung der sozialen Verhältnisse im Sinne des Wertezerfalls und gleichzeitig der Neuordnung der Gesellschaft, die vormals festgeschriebene Normen und Entwicklungen außer Kraft setzt, statt. Hierdurch eröffnen sich unzählige neue Möglichkeiten der sozialen Re-, aber auch Desorientierung indem die Grenzen der sozialen, politischen und nationalen Zugehörigkeiten zunächst ausgehebelt werden, dann jedoch im Laufe der 20er Jahre wieder umso schärfer gezogen werden. Die Generation, der sowohl die jeweiligen deutschböhmischen und deutschmährischen Schriftsteller als auch ihre Protagonisten angehören, erlebt somit im Rahmen ihrer Sozialisierung eine Phase der Auflösung der Normen und anscheinend festgeschriebenen Identitäten, die ihnen eine zuvor nicht gekannte soziale Mobilität erlaubt. Im Laufe der 20er und vor allen Dingen 30er Jahre wird jedoch durch den Nationalitätenkonflikt, den nie verebbten, nun aber in ungekanntem Maße aufflammenden Antisemitismus und die sich verschärfenden politischen Konflikte erneut eine Identitätszuschreibung vorgenommen, die nicht zwangsläufig der Selbstwahrnehmung des Individuums, insbesondere der

54

Krolop: Ludwig Winder, S. 165.

55

Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Berger/Luckmann, die im Pluralismus und in der Interkulturalität der Moderne den entscheidenden Auslöser von Sinnkrisen und sozialer Desorientierung sehen. (Vgl. Berger/Luckmann: Modernität, Pluralismus und Sinnkrise.)

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‚Grenzgänger‘, so z.B. des (in den 20er Jahren so bezeichneten) ‚schwebenden Volkstums‘56 oder der assimilierten Juden entspricht. Wurde sich im vorangegangenen Kapitel mit dem Konstrukt der Identität als einem relativ konstant wahrgenommenen, das Eigene bestimmenden und den äußeren Wandel überdauernden Phänomen, auch definiert als „Empfinden[] der Kontinuität und Konsistenz der eigenen Person“,57 beschäftigt, so soll hier auch die Identifikation eine Rolle spielen, die im Gegensatz dazu einen dauerhaften Prozess ausdrückt und in Form einer Reorientierung in der Gesellschaft Sinnkrisen, die sich aufgrund einer mangelnden eindeutigen Identität als Orientierungsgröße ergeben, entgegenwirken kann. Der Prozess der Identifikation oder Orientierung lässt sich im Roman Das Slawenlied von F.C. Weiskopf beobachten, in dem der Protagonist seine ursprüngliche, in Herkunft und Familie angelegte soziale Identität im Hand in Hand gehenden persönlichen Heranreifungs- wie im politischen Umwälzungsprozess während und nach dem Ersten Weltkrieg als ungenügend und beengend in Frage stellt und sich daraufhin ‚reorientiert‘. Dabei soll der Begriff der Orientierung hier in seinem doppelten semantischen Sinn verstanden werden, einmal als räumliche Orientierung, in welcher der topographische Raum einen möglichen identitätsstiftenden und identifikatorischen Charakter einnimmt, andererseits in seinem sozialen Sinne, indem der Pluralismus der sinnstiftenden gesellschaftlichen Möglichkeiten der Moderne Einfluss auf die Identitätsbildung haben kann. Der Protagonist des Slawenliedssieht sich mit einer sich ständig verändernden Stadt konfrontiert, die mit dem sozialen und gesellschaftlichen Wandel während und nach dem Ersten Weltkrieg korreliert. Die Beschreibung der Stadt fungiert als Spiegelung der Identitätskonstruktionen der Romanfiguren: Während der identifikationssuchende und sozial desorientierte Protagonist die Veränderungen in der Stadt wahrnimmt und dokumentiert, ist die ältere Generation der Prager Deutschen, die ihrem Selbstverständnis eine starre Identitätskonstruktion im Sinne der alten Machtstrukturen zugrundelegt, blind gegenüber den Vorgängen auf der Straße. Für die Tschechen dagegen, die den Wandel initiieren, sind diese ein Ausdruck ihrer eigenen Identität, die mit der Rückgewinnung von Territorium, etwa durch die Zerstörung von deutschen Inschriften an Häusern, einhergeht. Der Protagonist befindet sich in seiner Re-Orientierungsphase in einer feindlichen Stadt, die er zwar als seine Geburtsstadt erkennt, jedoch nicht als seine Heimat im Sinne einer Zugehörigkeit. Die Herausbildung von sich feindlich gegenüberstehende Gruppierungen und kollektiven Identitäten geht mit räumlichem Wandel und Segregation einher. Die

56

Vgl. hierzu Lemberg: Quellen zur Alltagsgeschichte des Zusammenlebens von Tsche-

57

Welz: Identität und Alterität in soziologischer Perspektive, S. 90.

chen und Deutschen in der Ersten ČSR, S. 11.

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Stadt differenziert sich von einem bislang wahrgenommenen, wenn auch real in dieser Form nie existenten, homogenen Raum in ein heterogenes Gebilde, in dem verschiedene Räume entstehen, die nur bestimmten Gruppierungen und Kollektiven zugänglich sind, während sie von anderen nicht erschlossen werden können. Städte lassen sich in Segmente unterteilen, in denen verschiedene Machtstrukturen herrschen58 und in denen sich vor allen Dingen Bevölkerungsteile ansiedeln, die einer gemeinsamen Gruppierung angehören, wobei das verbindende Merkmal häufig einem entspricht, das auch entscheidenden Einfluss auf die soziale Identität des Individuums hat: Religion, Ethnizität, sozialer Status etc. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass „der von einem Akteur eingenommene Ort und sein Platz im angeeigneten physischen Raum hervorragende Indikatoren für seine Stellung im sozialen Raum abgeben“,59 was Strukturen der Inklusion und Exklusion nach sich zieht. Soziale und räumliche Ausschlussmechanismen gehen Hand in Hand, wobei letztere von der ersteren abhängen. Desorientierung und das Gefühl der Heimatlosigkeit, die im Slawenlied deutlich werden und auch in anderen Prager Romanen latent vorhanden sind (vgl. etwa Hannas wechselndes Verhältnis gegenüber der Stadt Prag im Rahmen ihres Exils in Alice Rühle-Gerstels Roman Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit, Kapitel 5.7), sind Resultate einer mangelnden Identifikation mit sozialen Kollektiven, und ihnen kann nicht durch reine Begehung des Raums, sondern nur durch soziale Re-Orientierung begegnet werden. Als Charakteristika moderner Gesellschaften sind von der Forschung wiederholt Pluralismus, Sinnkrisen und Orientierungsverluste konstatiert worden, die auf die Suche nach einer (neuen) Identität schließen lassen,60 wobei für die Desorientierungssymptome im modernen Menschen die verschiedensten Ursachen angegeben werden; sei es die Desintegration in der modernen Gesellschaft, die Überforderung des Menschen durch die technischen Möglichkeiten und die Vielfalt der wählbaren Lebensentwürfe oder als gegensätzliche These der Freiheitsverlust durch die Einschränkung der Möglichkeiten.61 Dieses Phänomen mag zwar paradigmatisch für die gesamte europäische Moderne sein und somit z.B. auch in der Weimarer Republik einen erheb-

58

Vgl. hierzu z.B. Bourdieu, der das Beispiel des Gegensatzes der „Rive gauche“ und der „Rive droite“ in Paris anbringt, welcher „der fundamentalen Teilung des Macht-Feldes zwischen, grosso modo, Kunst und Geschäft entspricht.“ (Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, S. 27.)

59

Ebd., S. 26.

60

Vgl. z.B.: Berger/Luckmann: Modernität, Pluralismus und Sinnkrise. Vgl. auch: Weidenfeld/Rumberg (Hrsg.): Orientierungsverlust – Zur Bindungskrise der modernen Gesellschaft.

61

Vgl. als Übersicht über die Forschung Spinner: Der Mensch als Orientierungswesen, S. 43ff.

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lichen Einfluss auf Identitätskonzepte gehabt haben, doch erscheint es besonders lohnenswert, sich ihm für eine Untersuchung der deutschböhmischen und deutschmährischen Romane der Zwischenkriegszeit anzunehmen, da es hier eine spezifische Ausprägung erfahren hat, welche tendenziell Entwicklungen der deutschen (Literatur-)Geschichte vorwegnimmt. Betrachtet man die politische Entwicklung der Weimarer Jahre in Deutschland, so verläuft diese analog zu den Bahnen, die Weidenfeld als typische Konsequenzen des Orientierungsverlustes heraushebt: Radikalismus und Jugendprotest sowie Fremdenfeindlichkeit.62 Unerheblich, ob man nun das linke oder rechte politische Spektrum betrachtet, so findet eine Re-Orientierung statt, die sich in neuen Kollektiven manifestiert, welche sich ex negativo gegen die vergangene oder gegenwärtige Norm stellen und ihren inneren Zusammenhalt durch Exklusion des ‚Anderen‘ stärken. In den deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen der Zeit (mit Ausnahme der deutschnationalen) findet ebenfalls eine Loslösung aus alten Strukturen und Gruppierungen und eine Desintegration statt, die aus ihr hervorgehenden Individuen formieren sich jedoch nicht im neuen Kollektiv einer radikalen Gegenbewegung neu, sondern verbleiben isoliert, von Zweifeln geplagt und heimatlos, dauerhaft auf der Suche nach sinngebenden Alternativen bzw. Integration und dabei beständig scheiternd. Dies ist etwa in der Darstellung des Generationenkonflikts und des Scheiterns der Protagonisten im Versuch der Loslösung aus den alten autoritären Strukturen in Weiß’ späten Romanen zu beobachten, ebenso wie in der Unmöglichkeit der Protagonisten in Natoneks Kinder einer Stadt, sich von den in sie eingeschriebenen und sie determinierenden Erlebnissen aus dem Prag der Vorkriegszeit zu lösen. Diese Problematik des zu keinem der möglichen identitätsstiftenden Bereiche, seien dies Gruppen, politische Strömungen oder topographische und soziale Räume, Zugang findenden Individuums, die sich in den meisten Romanen äußert, erscheint in Einzelfällen bereits in der Literatur der Weimarer Republik, als strukturgebendes Merkmal eines deutschen Literatursystems lässt sie sich ansonsten jedoch erst in der Exilliteratur der Jahre 1933-45 ausmachen.63 Zur Reorientierung des modernen Menschen in für den einzelnen unübersichtlichen Umbruchsituationen kann als einfachste und für den Moment effektvollste Methode ein Orientierungszwang in Form des Befehls eines ‚Führers‘ oder einer Führungsgruppe als „Unteroffiziersform sozialer Beziehungen“64 dienen. Diese Orientierungsform ist jedoch fragwürdig, weil das Individuum nicht nur keinerlei Eigenverantwortung für sein Tun übernimmt, sondern auch, weil das Handeln sowie die

62

Vgl. Weidenfeld: Einleitung: Orientierungsverlust, S. 5.

63

Hier ließen sich zahlreiche Beispiele anbringen. Zur Isolation im Exil vgl. z.B. Seghers Transit, zur Isolation im Deutschland der NS-Zeit Horváths Ein Kind unserer Zeit oder Keuns Nach Mitternacht.

64

Vgl. auch Spinner: Der Mensch als Orientierungswesen, S. 49.

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Motivation und das Ziel der Handlung nicht das Resultat einer eigenständigen Orientierung des rationalen Vernunftwesens sind. Im Sinne Kants fällt der Mensch in diesem Fall wieder in die „selbstverschuldete Unmündigkeit“65 des voraufgeklärten Menschen zurück (vorausgesetzt, dass er ihr jemals entkommen ist). Dies hat zur Folge, dass diese Form der Orientierung nur solange wirksam sein kann als die Befehlssituation vorhanden ist und der Grad der Orientierungslosigkeit nach ihrem Wegfall umso stärker hervortritt. Dieses Phänomen lässt sich bei den deutschen und österreichischen Kriegsheimkehrern aus dem Ersten Weltkrieg beobachten, die sich in der zivilen Welt nicht mehr zurechtfinden können, wie es in der Literatur der zwanziger Jahre mehrfach thematisiert worden ist.66 In der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur wird für einen Großteil der Protagonisten diese Option des Orientierens in der Umbruchphase des Ersten Weltkrieges jedoch negiert. Hier erhält der militärische Befehl zumindest aus der Retrospektive keinen identitätsstiftenden Charakter, da durch ihre bikulturellen Erlebnisse und den latenten Antisemitismus der christlichen Vertreter der k.u.k.-Monarchie eine starke Bindung zum nationalistisch gefärbten Militär und eine Kriegsbegeisterung ad absurdum geführt wird.67 65

Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, S. 9.

66

Vgl. hierzu z.B. Roth: „Das Militär war auch sinnlos. Aber man sah einen Vorgesetzten, er ersetzte den Sinn. Man wurde bestraft, belohnt, jeden Tag und jede Stunde. Man hatte einen Befehl, er ersetzte das Ziel. […] Wir können vielleicht nur noch zwei Sachen, die uns beweisen, daß wir lebendig sind. Wir können gehorchen und befehlen. Aber lieber gehorchen als befehlen. […] Heute denke ich, daß diese Welt, diese militärische Welt, die allerdings nur für Todgeweihte gut ist, eine sauber eingerichtete, bequeme Welt war. Sie ersparte uns das Leben, das Mühe bringt, Sorgen, das aus Plänen, Gedanken, Hoffnungen, Zusammenbrüchen besteht. Beim Militär gab es keine Hoffnung, keinen Plan, keine Gedanken.“ (Roth: Zipper und sein Vater, S. 53.) Dieses Phänomen ist jedoch selbstverständlich nicht das einzige Problem, mit dem die Kriegsheimkehrer sich konfrontiert sahen.

67

Vgl. hierzu auch Kapitel 3.3. Selbstverständlich gab es auch z.B. in Prag deutschnationale Juden und Christen, die den Krieg befürworteten, in der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur gibt es jedoch überhaupt nur eine sehr geringe Anzahl an Kriegsromanen, und in denjenigen, die den Krieg (nebenbei) behandeln, so. z.B. bei Ernst Weiß, F.C. Weiskopf und Hans Natonek, schildern die Protagonisten ihre Erlebnisse aus distanzierter oder ablehnender Haltung. Eine Ausnahme bilden hierbei wiederum nationalistische Texte, in denen, wie Bodenreuth es in seinem Roman Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland darstellt, Deutschnationale für Österreich in den Ersten Weltkrieg ziehen, da es auch ein ‚deutscher Krieg‘ sei. Wieder zurückgekehrt an die ‚Heimatfront‘ des nun zur Ersten Tschechoslowakischen Republik gehörenden Böhmens, suchen der Protagonist und ein Freund ihren alten Kommandanten auf, da sie von ihm einen

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Das auf lange Sicht effektive Modell des Orientierens in der (Um-)Welt ist nach Spinner das Menschenbild des ‚offenen Orientierers‘, der sich mithilfe der Doppelvernunft als Wechselspiel und Ergänzung zwischen prinzipieller und okkasioneller Rationalität durch „die freie Selbstbestimmung des mündigen Menschen […] in pluralen Welten[…] so oder so orientieren kann.“68 Prinzipielle Rationalität oder auch Grundsatzvernunft ist an Regeln und Leitsätze der Vernunft gebunden und situationsunabhängig. Sie orientiert sich an bestimmten, festgelegten Regeln und ist dementsprechend auf langfristige Ziele angelegt und durch diese motiviert. Okkasionelle Rationalität oder Gelegenheitsvernunft hingegen orientiert sich an der augenblicklichen Lage und reagiert auf diese situationsbezogen, weitestgehend frei von allgemeingültigen Regeln und Werten.69 Diese doppelte Rationalität, deren Dichotomie in allen menschlichen Handlungsweisen eine Rolle spielt, erlaubt es dem Menschen, nicht im Sinne des Identikers70 eine stark fixierte und eingeschränkte Position einzunehmen, sondern sich diversen Orientierungsrahmen anzunähern und, besonders in Krisensituationen, zwischen diesen zu wechseln. Die Untersuchung der Wirksamkeit dieser zwei sich gegenüberstehenden Rationalitätskonzepte ist besonders für die Umbruchsituation der 20er Jahre interessant, in der sich durch die veränderten politischen und gesellschaftlichen Strukturen ein Paradigmenwechsel in der Weltsicht und -wahrnehmung ergibt. Der Niedergang der autoritären alten Regime sowohl der k.u.k.-Monarchie als auch des Deutschen Kaiserreiches und der darauf folgende politische Machtkampf der Revolutionen sowie der Einfluss moderner kultureller wie sozialer Strömungen leiten vor allem bei der jüngeren Generation eine rationale Neuorientierung ein, die Auswirkungen auf entscheidende Bereiche des Lebens und des Verhaltens hat, denn mit den unterschiedlichen Vernunftmodellen geht ein jeweils anderes Weltverständnis einher:

Befehl zu erhalten wünschen, der ihnen das weitere Vorgehen verdeutlicht: „Ja. Ein Befehl. Soldaten brauchen Befehle auch als Stütze und Stab und Hilfe in der Not. Soldaten sind eben so!“ (Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland, S. 325.) 68

Spinner: Der Mensch als Orientierungswesen, S. 59. (Kursiv im Original.)

69

Vgl. Spinner: „Grundsatzrational wäre dann, […] wer oder was sich selektiv an einem Ausschnitt des Bezugrahmens mit den Positionen der idées générales orientiert, in allen Dimensionen: an der allgemeinen Form genereller Prinzipien bestimmten Inhalts und situationsunabhängiger Geltung, in der Raum-, Zeit- und Sozialdimension, also zeitlos, kosmopolitisch, unpersönlich […]. Gelegenheitsrational wäre […] die Orientierung an partikularen, konkreten, temporären, persönlichen, inhaltlich nicht im Voraus fixierten Gesichtspunkten“. (Spinner: Die ganze Rationalität einer Welt von Gegensätzen, S. 46. Kursiv im Original.)

70

Vgl. Spinner: Der Mensch als Orientierungswesen, S. 52f.

174 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM Für die Grundsatzvernunft ist die Welt ein nach inneren Sinn- und Sachzusammenhängen strukturierter Kosmos, der Mensch ein „prinzipiiertes Subjekt“, die Gesellschaft ein „soziales System“, das Leben ein „methodisch unter ein transzendentes Ziel gestelltes Ganzes“ (Weber), die Wirtschaft ein kapitalistisches Gesamtkunstwerk mit einem aus „ethisch gefärbten“ Grundsätzen gebildeten „Geist“. Für die Gelegenheitsvernunft dagegen ist die Welt das „fragmentarische Universum“ des modernen Großstadtromans […], deren Teile nur äußerlich verbunden sind durch die Gleichzeitigkeit, Gleichörtigkeit, Aufeinanderfolge der einzelnen Tatbestände. Der Mensch ist eine „Momentpersönlichkeit“ (Alexander Mitscherlich), die Gesellschaft ein Dschungel, die Wirtschaft ein kapitalistischer Krieg wildwüchsiger Interessen […], das Leben ein Abenteuer ohne geregelten „Lauf“.71

Diese äußeren Pole lassen sich in ihren Extremen auf die Lebenssituationen vor und nach dem Ersten Weltkrieg beziehen, wobei nicht nur in den 20er Jahren keines dieser beiden Modelle in seiner Exklusivität zu einer zufriedenstellenden und dauerhaften Identitätsstiftung führen kann. Eine Synthese der beiden Rationalitäten zur Doppelvernunft ist laut Spinner zur Orientierung in dem neuen gesellschaftlichen und politischen Rahmen vonnöten. Das Changieren zwischen verschiedenen Möglichkeiten, das Abwägen zwischen politischen Strömungen und Staatsformen, auch zwischen normativer Tradition und gegenwartsbezogenem Aktionismus mithilfe der Vernunft findet sich in den 30er Jahren bei dem Prager Philosophen und Schriftsteller Felix Weltsch, der mit seinem Essay Das Wagnis der Mitte eben gerade gegen extreme Stellungnahmen plädiert und sich für die (zumindest in der Zeit)72 sehr unbeliebte Strategie einsetzt, alle Seiten zu beleuchten und schließlich eben den Weg einer schöpferischen Mitte zu gehen. Eine analoge, literarisch umgesetzte Haltung nimmt Oskar Baum ein, indem er in seinem Roman Zwei Deutsche die problematische Freundschaft zwischen einem gutbürgerlichen Nationalsozialisten und einem proletarischen Marxisten zu Beginn der 30er Jahre beschreibt, die ohne konkrete Stellungnahme des Erzählers verbleibt und beiden Ideologien gleichen Raum beimisst, im Endeffekt dadurch jedoch eine Abkehr von beiden Extremen postuliert. Selbst F.C. Weiskopf, der für sich selbst den politischen Weg des Kommunismus gewählt hat, lässt in seinem Roman Das Slawenlied bei dem Protagonisten Zweifel aufkommen, welcher Weg zwischen Freiheit und Notwendigkeit, Geist und Gewalt, Entwicklung und Revolution73 der richtige sei. Weder die Figuren, die, um Spinners Termini zu übernehmen, im Rahmen der Grund-

71

Ebd., S. 48.

72

Es gibt auch den positiven Diskurs der Mitte seit der Antike als Harmonie und Normalität, dessen Normativität z.B. Prüwer kritisiert. (Vgl. Prüwer: Zwischen Skylla und Charybdis.)

73

Vgl. Weiskopf: Slawenlied, S. 198f.

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satzvernunft handeln (wie die alten schwarz-gelben Lehrer, die sich den neuen Verhältnissen nicht anpassen können), noch die der Gelegenheitsvernunft folgenden relativ konzeptlosen Kommunisten, die der Protagonist im Krieg trifft, können ihn in ihrem Handeln überzeugen, erst eine Verbindung von aktuellem Handlungsbedarf und Weitsichtigkeit führt für ihn zum richtigen Handeln. Orientierung vollzieht sich jedoch nicht nur mithilfe von Rationalitätskonzepten, sondern unterliegt gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Bestimmte Orientierungsrahmen, innerhalb derer sowohl Individuen als auch Gruppen sich bewegen, müssen vorhanden sein (und sind es auch in jeglicher Gesellschaftsform) und diese sind wiederum stark von Kollektiven abhängig. Spinner steckt drei Orientierungsrahmen ab, die er auch als ‚Nahbereichs- und Fernbereichsorientierung‘ bezeichnet: „erstens auf der untersten Ebene des sozialen Generalisierungsniveaus die Familie oder eine ähnliche Kleingruppe; zweitens auf der mittleren Ebene die Nation; drittens auf der höchsten Ebene die Menschheit, d. h. die ‚ganze Welt‘.“74 Zwischen diesen Orientierungsrahmen kann gewechselt werden, wobei in einer Orientierungskrise in der Regel nicht innerhalb eines Orientierungsrahmens (also von einer Gruppierung zur anderen) gesprungen wird, sondern sich der Wechsel in den höheren sozialen Rahmen vollzieht. Orientierungskrisen und -wechsel erscheinen relativ häufiger und schneller innerhalb von Jugendgenerationen und auch im Slawenlied ist die Mobilität der Jugend gegenüber den älteren Herrschaften ungleich höher. Der Protagonist des Slawenlieds entfernt sich von der Kleingruppe der Familie und direkten Umgebung, weil diese ihm im Sinne der Identifikation als wertfrei erscheint, doch die nationalen Kollektive sowohl der Tschechen als auch der Deutschen bieten in ihrem überzogenen Nationalismus keine Alternative. Sinn und Identifikation findet er schließlich in der proletarischen Masse, die ihm die Möglichkeit bietet, in ihr aufzugehen, auch wenn er Herkunft und Aspekte der personalen Identität nicht mit ihr teilt. Der nationale Bezugsrahmen wird somit übersprungen, nur ein kosmopolitischer Rahmen im Sinne des internationalen Kommunismus scheint sinn- und identitätsstiftende Möglichkeiten bereitzuhalten. Dies ist unter anderem der binationalen Situation Prags geschuldet, indem hierdurch der nationale Bezugsrahmen unmittelbar und spürbar die Exklusion des jeweils ‚Anderen‘ und dadurch eine Verengung des Orientierungsrahmens impliziert, die für den Freiheit, Gemeinsamkeit und Selbstbestimmung suchenden Protagonisten des Slawenlieds nicht attraktiv erscheint. Anhand der von Spinner formulierten Orientierungsrahmen können die heterogenen deutschböhmischen und deutschmährischen Romane der Zwischenkriegszeit in Hinblick auf die in ihnen auftretenden Identitätsproblematiken zusammengeführt werden. Zwar handelt es sich jeweils um unterschiedliche Kollektive und Gruppierungen, von denen die Protagonisten ausgeschlossen sind, sie changieren zwischen

74

Spinner: Der Mensch als Orientierungswesen, S. 61.

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dem Zugehörigkeitsbedürfnis in der Familie oder im Freundeskreis (z.B. bei Weiß und Kornfeld) über soziale (z.B. bei Ungar) und politische (z.B. bei Baum und Weiskopf) zu nationalen (z.B. Bodenreuth und Rothacker) bis hin zu religiösen bzw. ‚rassischen‘ (z.B. Natonek und Winder) Bereichen, wobei auch mehrere in einem Roman auftreten können (so z.B. am prominentesten bei Rühle-Gerstel). Dennoch sind sie sämtlich einem gemeinsamen Problemkreis zuzuordnen, nämlich dem Problem der Orientierung, der Identitäts- und Heimatsuche in der modernen Gesellschaft. 4.1.3 Heimat als Identitätsfaktor? Der Begriff der Heimat hat eine semantische Konnotation, die unmittelbar restaurative Assoziationen weckt. Wenn er hier aufgegriffen wird, so hat dies selbstverständlich weder zum Ziel oder Zweck, die hier behandelte Literatur in irgendeiner Weise dem Genre der ‚Heimatliteratur‘, wie auch immer genau definiert,75 zuzuordnen, noch geht es um eine genaue Abgrenzung von diesem Genre; eine solche Zuordnung oder Abgrenzung träfe weder den Kern und Gestus der betreffenden Romane noch den hier angewandten methodischen Ansatz, der den Texten und nicht vorgefertigten Mustern und Theorien gerecht werden möchte, denn die Genrebestimmung ‚Heimatliteratur‘ unterliegt einem „vorliterarischen sozialen Entscheid und […] eine[m] ideologischen Konsens gegen die Bildungsliteratur“.76 Daher soll auch nicht eine Definition von ‚Heimatliteratur‘ erfolgen, sondern der Blick auf das Schreiben über Heimat gerichtet werden. In den Romanen wird immer wieder explizit mit dem Begriff der ‚Heimat‘ operiert und die Identitätsproblematiken der Protagonisten sind eng mit Aspekten wie Heimatlosigkeit, Heimatsuche, Heimatsehnsucht etc. verzahnt. ‚Heimat‘ als Topos ist ein wichtiger Bestandteil der (nicht nur) deutschen Literatur, eine intensive Be-

75

Die Definitionsversuche zwischen Literatur, die Heimat behandelt, Heimatliteratur und Heimatkunstbewegung gehen in der Forschung auseinander. Rossbacher löst die Problematik, dass es eine Fülle von Literatur gibt, die sich mit dem Topos Heimat beschäftigt, jedoch keine ‚Heimatliteratur‘ ist, mit einer starken zeitlichen und poetologischen Einschränkung des konkreten Begriffs als „Literatur der sogenannten Heimatkunst, genauer: der Heimatkunstbewegung, […] eine gegenmoderne, völkisch-nationalistische, z.T. antiklerikale Kulturströmung“ um 1900. (Rossbacher: Die Literatur der Heimatkunstbewegung, S. 109.) Hohmeyer dagegen differenziert wiederum zwischen Heimatkunstbewegung und Heimatliteratur, „denn im Gegensatz zu letzterer, die [...] durchaus kritikfähig war, pflegte die Heimatkunstbewegung Heimat, Bauerntum und Dorfleben ausschließlich idealisierend zu verherrlichen.“ (Hohmeyer: „Böhmischen Volkes Weisen“, S. 374.)

76

Aspetsberger: Unmaßgebliche Anmerkungen, S. 55.

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zugnahme auf den Komplex findet sich in der deutschen Literaturgeschichte lückenlos spätestens seit dem 18. Jahrhundert, auch wenn ‚Heimat‘ sowohl diachron wie auch synchron mit unterschiedlichen Bedeutungsvarianten versehen wurde:77 „Kaum ein anderer Begriff der deutschen Sprache hat in seiner Vielschichtigkeit soviel Glorifikation und Entmystifikation, Ideologisierung und Entlarvung, soviel Zuspruch und Ablehnung erfahren“.78 Der Begriff ist jedoch spätestens seit dem Nationalsozialismus gerade wegen seiner Komplexität ein problematischer, da ihm ein nationalistischer, chauvinistischer, provinzieller und rechtskonservativer Beigeschmack anhaftet,79 der dann im Literarischen mit Gattungs- und Stiltypen wie ‚Heimatkunstbewegung‘ und ‚Blut-und-Boden-Literatur‘80 assoziiert wird: „Die Gestimmtheit der Epoche [der Nachkriegszeit] ist dem Heimatgedanken nicht günstig, das ist offenbar. Gleich denkt, wer davon reden hört, an engen Nationalismus, an Territorialansprüche von Vertriebenenverbänden, an Gestriges.“81 Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine Untersuchung des Topos der Heimat in wissenschaftlichen Werken aus ideologischen Gründen ausbleiben muss. Jean Améry schreibt in Wieviel Heimat braucht der Mensch?, nachdem er auch für die Werke James Joyces, Joseph Roths und Marcel Prousts die Bedeutung der Heimat postuliert: „Daß rückschrittliche Bärenhäuterei

77

Einen Abriss über den ‚Heimat-Begriff im Bedeutungsbereich der Literatur‘ seit der Auf-

78

Bozzi: Der fremde Blick, S. 43.

79

Diese Tendenz ist auch in der Forschung zum Heimatkomplex in der ersten Hälfte des

klärung bietet Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 174ff.

20. Jahrhunderts zu bemerken. Vgl. Blickle: „In recent years German scholars have been interested in Heimat mainly as one aspect of a völkisch, localized nationalism that eventually became an important element of National Socialism.” (Blickle: Heimat, S. ix.) 80

Dies wird dann teilweise wieder differenziert, indem z.B. Glaser et.al. in ihrer Literaturgeschichte Wege der deutschen Literatur in Abgrenzung von der Blut-und-Boden-Literatur der nationalsozialistischen Schriftsteller auch von einer anderen, „„seriösen“ Heimatkunst“ sowie in einer weiteren Unterscheidung von „idyllisch-trivialer und geistigdifferenzierter Heimatliteratur“ sprechen. (Glaser et.al.: Wege der deutschen Literatur, S. 462.)

81

Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 106. So scheint es selbst Jean Améry 1966 auch für angebracht zu halten, sich in seinem Aufsatz Wieviel Heimat braucht der Mensch? im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den Greueln der NS-Zeit, den Erfahrungen des Exils und der Konzentrations- und Vernichtungslager gegen den Vorwurf zu erwehren, den eine Thematisierung des Begriffes Heimat zu provozieren scheint: „Freilich, nur ungern lasse ich mich für einen verspäteten Nachzügler der Blut- und Boden-Armee halten, und darum will ich deutlich aussprechen, daß ich mir auch der Bereicherungen und Chancen, welche die Heimatlosigkeit uns [den Exilanten] bot, wohl bewusst bin.“ (Ebd. S. 93.)

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den Heimatkomplex besetzt hat, verpflichtet uns nicht, ihn zu ignorieren.“82 Auch in beinahe allen Publikationen zur Exilliteratur wird der Begriff der Heimat aufgegriffen, im Sinne des Heimatverlusts und den Problematiken (Sprachverlust, Entwurzelung, Bedrohung etc.), die dieser mit sich bringt.83 Ebenso gab es in der Zeit der Weimarer Republik bei linken Intellektuellen ein Heimatbewusstsein, das sich unpolitisch gab, sich vor allen Dingen auf die deutsche Landschaft und Sprache bezog und eine eindeutige Stellungnahme gegen den Nationalismus einbezog: „…es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik, und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses Land. […] Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen – wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand – nicht einmal von jenen, auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist. Unser ist es.“84 Die Bedeutungen, die dieser Heimatbegriff einschließt, unterscheiden sich selbstverständlich sehr stark von der Definition des provinziellen Begriffes im Bereich der Heimatkunstbewegung, den Boa und Palfreyman charakterisieren: Key oppositions in the discourse of Heimat set country against city, province against metropolis, tradition against modernity, nature against artificiality, organic culture against civilization, fixed, familiar, rooted identity against cosmopolitanism, hybridity, alien otherness, or the faceless mass.85

82

Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 97.

83

Es finden sich zahlreiche Publikationen, die bereits im Titel die Begriffe ‚Heimat‘ und ‚Exil‘ gemeinsam aufgreifen. Vgl. zur Bedeutung der Heimat gerade für den Exilschriftsteller auch Beer: Der Begriff Heimat ist „für niemanden so wichtig wie für den Schriftsteller. Denn dieser braucht mehr als jeder andere die Signale, die er in seiner Kindheit, in der Landschaft seiner Jugend erhalten hat. Sie befähigen ihn, Menschen, Lebenssituationen auf den ersten Blick, spontan, nach ihrer Sprache, Kleidung, Verhaltensweise und vielen anderen Zeichen, kulturell und gesellschaftlich einzuordnen. In der Fremde sind diese Zeichen anders, und es bedarf immer zuerst einer geistigen Überprüfung jeder Wahrnehmung, einer sprachlichen und intellektuellen Übersetzung aus der Matrix der Muttersprache und des Heimatlandes, um die Umwelt korrekt und für den Leser verständlich zu deuten.“ (Beer: Kaddisch für meinen Vater, S. 162.)

84

Tucholsky: Deutschland, Deutschland ueber alles, S. 226ff. Vgl. hierzu auch Geisler: „A schizoid dichotomy is thus inscribed into leftist discourse about Germany. The continued rejection of the political reality of the German state corresponds to a carefully de-politicized, emotional acceptance of the German language (even that is questioned in the wake of Klemperer’s LTI) and of Germany’s geographical contingencies.” (Geisler: “Heimat” and the German Left, S. 36. Kursiv im Original.)

85

Boa/Palfreyman: Heimat, S. 2.

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Der Verlust der Heimat bei den Exilautoren setzt eine ehemals besessene Heimat voraus, die Heimatlosigkeit impliziert die Sehnsucht nach einer Heimat und die Problematik der nicht vorhandenen Heimat, jedoch spiegelt sich in diesem Kontext in der Begrifflichkeit der verlorenen oder imaginierten Heimat oft ein größerer Rahmen; es geht nicht (nur) um einen lokalen Bezug als Heimat, sondern um ganz Deutschland, sowohl als Region als auch auf abstrakter Ebene, der Begriff umschließt Sprache, Kultur, Literatur, Musik etc., wobei all dies keine exkludierende, chauvinistische Funktion hat, sondern der Verlust auch des nach außen hin Geöffneten, Kosmopolitischen, mit anderen Nationen und Kulturen im Dialog Stehenden beklagt wird; ein Verlust, der sich nicht nur aus der Exilsituation ergibt, sondern von dem ganz Deutschland betroffen ist, indem auch eine Rückkehr nach Deutschland aufgrund der politischen Situation, der Unterdrückung und Verfolgung kein Heimatgefühl mehr evozieren könnte. Das Heimatverständnis des Exils ist jedoch nicht nur durch seinen Gegenstand und die damit verbundene Ideologie von dem der ‚Heimatkunst‘ unterschieden, sondern auch durch seine (nicht nur) literarische Herangehensweise an die Thematisierung des Topos. Mit der nüchternen Distanz zum Vaterland einerseits und andererseits der verklärten Erinnerung der Heimat aus dem Exil erklärt Andrea Bastian den „poetisch-realistische[n] Heimat-Begriff des Exil“, der ein „Gegenbild zu einem territorial und politisch expansiven Heimat-Begriff in Deutschland“ darstellt.86 Der Begriff Heimat im kulturwissenschaftlichen Kontext ist demnach doppeldeutig, einerseits in seiner wissenschaftlich relativ klar aufgearbeiteten Definition im Sinne der negativ konnotierten ‚Heimatkunst‘ bzw. ‚Heimatliteratur‘, die zudem „den Anspruch die literarische Gestaltung von „Heimat“ schlechthin vorzunehmen“87 beinhaltet, andererseits in einer wissenschaftlich diffus bleibenden positiven Konnotation, die bislang noch zu keinem konkreten theoretischen Ansatz geführt hat. In den deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen nimmt Heimat wiederum eine besondere Funktion ein, die recht heterogen ist, da in ihr Elemente des regionalen Heimatempfindens mit dem Gefühl der Exklusion, mit dem Topos der Anti-Heimat88 oder mit dem nationalen Kampf verbunden werden.

86

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 198.

87

Ebd., S. 189.

88

Vgl. zum Anti-Heimatroman in Österreich Schmidt-Dengler: Die antagonistische Literatur und Ludewig: Heimat- und Anti-Heimatliteratur. Diese Studien setzen sich primär mit der Nachkriegsliteratur auseinander, die Befunde lassen sich jedoch auch mit einigen Prag-Beschreibungen in den 20er und 30er Jahren in Verbindung bringen. Hans Natoneks Beschreibung des Prager Milieus etwa (vgl. Natonek: Kinder einer Stadt, S. 126) und Thomas Bernhards Darstellung des Dorfes Weng in seinem Roman Frost („Tatsächlich erschreckt mich diese Gegend, noch mehr die Ortschaft, die von ganz kleinen, ausgewachsenen Menschen bevölkert ist, die man ruhig schwachsinnig nennen kann. Nicht

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In Alice Rühle-Gerstels Roman Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit findet sich zum einen die Konstellation, die aus deutschen Exilromanen bekannt ist; die erzwungene Auswanderung aus Deutschland. Jedoch ergibt sich hier der besondere Umstand, dass die Protagonistin durch ihr Exil aus einem Land ausreist, in dem sie nie heimisch geworden ist, aber in die Heimat ihrer Kindheit emigriert. Böhmen, insbesondere der böhmische Wald und Prag tragen bei ihrer Rückkehr Attribute der Heimat, obwohl Hanna in ihrer Zeit in Deutschland keine Sehnsucht danach verspürt hat; sie sind Erinnerungsorte der Protagonistin, welche diese zunächst mit ‚Heimat‘ assoziiert. Jedoch haben sich Land und Zustände verändert und Hanna muss feststellen, dass sie nun auch in der Heimat eine verfolgte Fremde ist. Auch andere Kommunikations- und Identifikationsräume, die Partei, ihre Familie und andere Emigranten, tragen für sie das Potential einer ‚Heimat‘, diese Potentiale werden jedoch im Laufe der Handlung alle negiert, sodass Hanna schließlich in der Heimat ihre Heimatlosigkeit eingestehen muss. Im Roman verändert sich die Zuschreibung von Heimat analog zur Entwicklung der Protagonistin. Zunächst eine lokale Komponente, die mit Natur, Städtebild und Sprache verbunden ist, wechselt die Vorstellung von Heimat zu einer ideologischen und zwischenmenschlichen Komponente, um als Realie schließlich gänzlich negiert zu werden. Heimat wird hier in der Konfrontation mit der Wirklichkeit zu einer Utopie: „„Heimat,” it is said, is part of reality, something within us, the opposite of utopia. Yet if we compare this notion of “Heimat” with empirical reality, it will become utopian, the object of our desires.”89 Sämtliche topographischen und ideologischen Räume, die mit dem Begriff der Heimat gefüllt werden, können HannasBedürfnis nach Identität und Zugehörigkeit nicht befriedigen, die ‚Freiheit‘ findet sie erst am Ende des Romans, als sie sich von dem Konzept der Heimat und der Heimatssuche schließlich lossagen kann. In Hans Natoneks Kinder einer Stadt dagegen ist der Heimatbegriff nicht so zentral, spielt aber dennoch eine entscheidende Rolle, indem die Protagonisten des Romans von ihrer Heimat, ihrer Sozialisation und (unfreiwilligen) Verwurzelung in der Stadt Prag in ihrem ganzen weiteren Leben determiniert bleiben. Insbesondere am Beispiel des Protagonisten Dowidal wird dies deutlich. Seine Herkunft aus Prag, dessen Milieu als grotesk und skurril beschrieben wird, macht ihn als paradigmatischen größer als ein Meter vierzig im Durchschnitt, torkeln sie zwischen Mauerritzen und Gängen, im Rausch erzeugt. Sie scheinen typisch zu sein für das Tal.“ (Bernhard: Werke. Band I, S. 10f.)) tragen trotz der unterschiedlichen Topographie, Zeit und Demographie durchaus gemeinsame Züge; die Funktion der Literatur als „Basis eines von Haßliebe getragenen Auseinandersetzungsprozesses“ mit dem Herkunftsland (Ludewig: Heimatund Antiheimatliteratur, S. 257) ist hier wie dort auszumachen. 89

Edgar Reitz in einem Interview mit der AZ: „Warum ist Ihre ‚Heimat‘ so grausam, Herr Reitz?“, München, 9. Oktober 1984. Zitiert nach Geisler: „Heimat“ and the German Left, S. 48.

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Prager Charakter, als ‚Kind der Stadt‘, von Beginn an zu einer grotesken Figur, und seine Erlebnisse mit den Eltern und den Schulfreunden bestimmen all seine Handlungen auch nach seiner Auswanderung in die Weimarer Republik. Prag erscheint in diesem Kontext als Anti-Heimat, die konsequent bekämpft wird; zum einen geht Dowidal gegen die Personen, die an die Heimat erinnern (wie die Mutter und den ehemaligen Schulkamerad Epp) vor, bis sie im Irrenhaus oder Selbstmord enden, vor allem aber versucht Dowidal, an sich selbst alle Spuren der Heimat durch Assimilation und Selbstverleugnung zu vernichten. In dem Versuch, die Heimat in der Weimarer Republik abzuschütteln, muss er jedoch scheitern, da er in all seinem Tun und Wesen von dieser bestimmt ist. Zu dieser Einsicht gelangt er erst, als er sämtliche Brücken zu Prag abgebrochen hat, keine Aufgaben und keine Zukunft mehr in der Fremde besitzt und reuig feststellen muss: „Zu Hause bin ich am fremdesten.“90 In den deutschnationalen bzw. nationalsozialistischen Romanen Böhmens und Mährens taucht ein Heimatkonzept auf, das an dasjenige der Heimatkunstbewegung erinnert, es ist reaktionär, restaurativ und eng an den Ausschluss des ‚Fremden‘ gebunden. Für den Protagonisten in Rothackers Das Dorf an der Grenze, einen Dorfschullehrer, ist der nationale Kampf eng an die Vorstellung der (wohlgemerkt nicht seiner eigenen) Heimat gebunden, die aufgrund ihres früheren Namen (so wird in dem Roman immer wieder auf die Änderung des Ortsnamen vom deutschen Schatzdorf zum tschechischen Skopolnica hingewiesen) und ihrer historischen Relikte angeblich auf deutsches Besitztum verweist.91 Auch in Bodenreuths Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland wird die Landschaft als genuin deutsche Landschaft beschrieben, deren ‚Scholle‘ es vor den Tschechen zu bewahren gilt. Allerdings wird die Heimat in beiden Texten nicht verklärt, sondern sie erscheint als ein Kampfplatz, auf dem gegen den eindeutigen tschechischen Feind und gleichzeitig auch gegen den inneren Feind, die ‚Überläufer‘, gekämpft werden muss. Die Schilderung der Orte ist keine idyllische oder nostalgische Landschaftsbeschreibung,92 sondern bleibt über weite Strecken abstrakt, da in sie die konkrete Funktion des Nationalitätenkampfes eingeschrieben ist, der über den regionalen Bezugspunkt weit hinausreicht. Sie erhält ihre Bedeutung vor allen Dingen aus ihrem Dasein als ‚unsichtbare Front‘, als Ort, an dem Deutschland im Osten angeblich verteidigt wird, und hieraus wird das Heimatgefühl der Protagonisten evoziert. So unterschiedlich die Heimatkomplexe in den verschiedenen Romanen dementsprechend auch sein mögen, gemein ist ihnen, dass sie teilweise stark lokale bzw. regionale Züge annehmen können (so z.B. der böhmische Wald oder der Hradschin

90

Natonek: Kinder einer Stadt, S. 340.

91

Vgl. hierzu auch Lahl: Lehrerfiguren, S. 6f.

92

Vgl. z.B. Rothacker: Das Dorf an der Grenze, S. 127.

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als Attributträger der Heimat), diese lokale Komponente jedoch jeweils durch soziale, ideologische oder andere Komponenten erweitert wird und dadurch keine provinziellen Züge annimmt. Die Provinz wird in ihrer Existenz und auch in ihrem Determinationsfaktor nicht negiert, jedoch wird ihr keine Allgemeingültigkeit im Sinne der Heimatgebung bzw. des Heimatentzugs zugestanden, indem ‚Heimat‘ als ein komplexes Gefüge erscheint, für welches die lokale Komponente nur ein mögliches Kriterium ist. Der Fokus liegt in allen drei Beispielen zusätzlich nicht nur auf Böhmen, sondern auch auf Deutschland als ständigem Bezugs- und Referenzpunkt, die Heimat als Herkunftsort wird somit jeweils in einen größeren politischen und sozialen Rahmen eingebunden. In Der Umbruch verklärt Hanna ihre Erinnerung an den gemeinsamen kommunistischen Kampf, den sie in der Weimarer Republik mit ihrem Mann geführt hat und der ihr in Prag verwehrt bleibt; in Kinder einer Stadt glaubt Dowidal in Deutschland als antisemitischer Widahl seinen Komplexen zu entkommen; in Alle Wasser Böhmens fließen aus Deutschland erhofft sich der Protagonist aus Deutschland eine starke nationalistische Bewegung. All diese Hoffnungen und Erinnerungen erweisen sich jedoch als reine Wunschvorstellungen und entsprechen schließlich nicht der erlebten Realität. Im Rückbezug auf Deutschland, das als vermeintlich homogener Raum die Utopie einer erhofften eindeutigen Identität zu bieten scheint, wird offenbar, welche Anforderungen an den Raum der Heimat gestellt werden und inwiefern schließlich die Vorstellungen einer klar definierten Heimat als Zerrbild entlarvt werden.

4.2 Z UR K ORRELATION VON T HEMATIK UND S TRUKTUR DER T EXTE Die problematische Situation des Individuums zwischen verschiedenen Kollektiven und seiner Selbstverortung in der modernen multikulturellen Gesellschaft wird in den deutschböhmischen und deutschmährischen Romane der Zwischenkriegszeit nicht nur inhaltlich thematisiert, sondern sie schlägt sich auch in Struktur, Erzählperspektive und Sprache nieder, so dass eine komplexe Verbindung von Form und Inhalt festzustellen ist. Insbesondere die Verwendung und Montage verschiedener Motive und Schreibstile der heterogenen Strömungen der Moderne, die Erzählperspektive, die zwischen subjektiver und vermeintlich objektiver Darstellung oszilliert, sowie die Kommunikationssituation in den Romanen bieten Anhaltspunkte für eine spezifische Struktur der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur, die eng mit ihrer thematischen Schwerpunktsetzung korreliert.

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4.2.1 Moderne Strömungen und die Vermischung ihrer Motive In der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts wurde von der Forschung des Öfteren das konkrete Vorhandensein von Charakteristika der verschiedenen Strömungen der Moderne festgestellt, so beschäftigen sich Kurt Krolop93 und Ingeborg Fiala-Fürst94 z.B. mit dem Expressionismus in der ‚Prager deutschen Literatur‘, während Susanne Fritz95 die ‚stilistische Codierung‘ des ‚Prager Textes‘ anhand seiner jeweiligen Einordnung in die Décadence, den Expressionismus oder die Neue Sachlichkeit analysiert. Eine Untersuchung anhand dieser Parameter weist jedoch gewisse Grenzen auf, indem weder die einzelnen Strömungen eindeutig definiert werden können96 noch die Werke sich konsequent nur einer Stilrichtung zuordnen lassen.97 Nicht nur aufgrund der Heterogenität der in

93

Vgl. Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur.

94

Vgl. Fiala-Fürst: Der Beitrag der Prager deutschen Literatur.

95

Vgl. Fritz: Die Entstehung des „Prager Textes“.

96

Vgl. etwa zur Heterogenität des Expressionismus als Strömung und der Schwierigkeit seiner Definition Fiala-Fürst: „[D]er deutsche literarische Expressionismus [ist] in keiner Hinsicht eine einheitliche, in sich abgeschlossene Strömung […], deren Zusammenhalt sich durch grundsätzliche oder regelmäßige Parallelitäten in der weltanschaulichen, motivischen oder formalen Ebene der Texte demonstrieren würde.“ (Fiala-Fürst: Der Beitrag der Prager deutschen Literatur, S. 32)

97

Die Problematik der eindeutigen Zuordnung der Texte z.B. zum Expressionismus wird anhand der Romane Hermann Ungars und Ludwig Winders deutlich: Fritz etwa stellt fest, dass, im Gegensatz zu Deutschland, wo der Expressionismus seine Hochphase in den 10er Jahren erreichte, „sich expressionistische Schriften von Prager bzw. böhmischen deutschsprachigen Autoren wie etwa Ludwig Winders Die jüdische Orgel (1922) und Hermann Ungars Romane Die Verstümmelten (1922) und Die Klasse (1927) hauptsächlich in den zwanziger Jahren“ finden. (Fritz: Die Entstehung des “Prager Textes”, S. 67.) Diese Aussage ist kaum haltbar und sowohl Fiala-Fürst als auch Krolop verweisen in ihren grundlegenden Studien, auf die Fritz auch sonst Bezug nimmt, auf die Zeit zwischen 1900 und 1920 als entscheidende expressionistische Phase der Prager Literatur. Fritz’ Bezugnahme lediglich auf Werke von Ungar und Winder unterliegt zwei Verkürzungen: zum einen werden die expressionistischen Werke von Kornfeld, Baum, Weiß etc. aus den 10er Jahren unterschlagen, zum anderen wird gerade in den genannten Werken die bereits angelegte Distanzierung von der expressionistischen Strömung zugunsten ihrer noch vorhandenen expressionistischen Merkmale übersehen. Die eindeutige Zuordnung der Texte in den Expressionismus ist auch für Fritz nicht möglich, da sie nur vier Seiten später Hermann Ungars zwei Romane dann ohne weitere Erläuterung der Neuen Sachlichkeit

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den 20er und 30er Jahren entstandenen deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur, der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen und der Entwicklung der einzelnen Autoren in diesem Zeitraum (für die, z.B. für Ernst Weiß und Paul Kornfeld, in den 20er Jahren häufig eine Entwicklung vom Expressionismus zur neuen Sachlichkeit festgestellt wurde), sondern auch wegen der spezifischen stilistischen Besonderheiten der Romane, die auch das einzelne Werk nicht eindeutig einer der vorherrschenden Strömungen der Moderne zuordnen lassen, erweist sich eine kategorische stilistische Untersuchung der Romane, welche die Einordnung der Romane etwa in ‚den‘ Expressionismus oder ‚die‘ neue Sachlichkeit anstrebt, als problematisch. Dies bedeutet nicht, dass die einzelnen Texte bestimmte typische Merkmale nicht aufgreifen und sich Momente in den Romanen finden lassen, die es erlauben, sie in eine dieser modernen Strömungen einzureihen, jedoch findet, wie auch in anderen Texten der Moderne, ein spezifischer Umgang mit den verschiedenen thematischen Topoi und stilistischen Varianten statt, der genauer untersucht werden muss, wofür stilistische ‚Folien‘, die auf die Texte aufgelegt werden,98 nicht geeignet erscheinen. Bereits Tramer stellt fest, dass insbesondere die ‚Prager deutsche Literatur‘ einen spezifischen Stil entwickelte, der sich zwar mit den Strömungen der europäischen Moderne überschneidet, jedoch durch Vermischung und Modifikationen, die durch die kulturelle Lebenswelt der Stadt beeinflusst sind, eine Eigenheit aufweist: Was es an Richtungen und literarischen Strömen gab, Neoromantik, Mystik, Symbolismus, sie werden aufgenommen, entwickelt und mit einem eigenen Gepräge versehen und weitergegeben. Es ist, als verleihe Prag die Kraft, nicht nur zu hören und zu erfühlen, sondern vor allem zu gestalten, neu und mit Meisterschaft auszudrücken, was man ihm zuführt und was in seiner Luft vorhanden ist.99

Selbstverständlich finden nicht nur in Prag solcherlei Vermischungen der Strömungen statt, die Kritik an einer starren Kategorisierung in literarische Epochen und Strömungen ist bereits vielfach geäußert worden und ihre Grenzen wurden an Texten der gesamten europäischen Moderne aufgezeigt. Dagegen gilt gerade die Zeit seit 1910 bis hinein in die 30er Jahre in Bezug auf ihre künstlerischen Erzeugnisse als äußerst

zuordnet, obwohl sie diese Strömung zuvor als Überwindung des Expressionismus definiert hat. (Vgl. ebd., S. 68.) 98

Vgl. z.B. Fritz, welche die Décadence, den Expressionismus und die Neue Sachlichkeit als „Folien“ bezeichnet, „vor deren Hintergrund Werke aus dem böhmischen Kulturkreis interpretiert werden können.“ (Fritz: Die Entstehung des „Prager Textes“, S. 59, 63 und 68.)

99

Tramer: Die Dreivölkerstadt Prag, S. 139.

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dynamisch und facettenreich,100 verschiedene Strömungen existierten parallel101 und fanden in den einzelnen literarischen Werken jeweils mehr oder weniger Widerhall. In vielen der deutschböhmischen und deutschmährischen Romane der Zwischenkriegszeit äußert sich eine Hybridform der gängigen modernen Strömungen, insbesondere des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit, und in dieser Mischform lässt sich auch eine Verbindung zu den vorherrschenden Thematiken der Romane um Individuum und kollektive Wahrnehmung ziehen, da Form und Inhalt eng zusammenhängen. Denn während auf der thematischen Ebene, auf die in den Romananalysen in Kapitel 5 jeweils im Detail eingegangen wird, die Problematik der Selbstverortung des Individuums zwischen verschiedenen Kollektiven in der modernen multikulturellen Welt mehr oder weniger offensichtlich aufscheint, findet sich in der Struktur der Texte ein hiermit korrelierendes Spannungsverhältnis zwischen z.B. objektiver und subjektiver Darstellung sowie zwischen der Schilderung z.B. eines (‚neusachlichen‘) Alltagsmenschen, eines (‚expressionistischen‘) entfremdeten und zerrissenen Subjekts oder eines Einzelgängers (der ‚Décadence‘).102 Dies ist besonders auffällig in den Romanen der frühen 20er Jahren, in denen expressionistische Motive noch sehr präsent sind, diese aber mit einem sachlichen, präzisen Stil dargestellt werden und somit nicht leicht in die immer zwangsläufig konstruierten und verallgemeinernden Stilbeschreibungen der Literaturgeschichtsschreibung eingeordnet werden können. Fiala-Fürst unterscheidet daher in ihrer Behandlung von Ungars Texten (den Erzählungen Ein Mann und eine Magd sowie Geschichte eines Mordes und dem Roman Die Verstümmelten) zwischen Stil und Inhalt, wobei sie nur die Verstümmelten „in der extremen Thematik und der äußersten Ausschöpfung ihrer Möglichkeiten“103 eindeutig dem Expressionismus zuordnet; diesen Roman erachtet sie jedoch als einen der „Höhepunkte der expressionistischen Prosa Prager Provenienz“.104 Ungars Erzählstil dagegen bezeichnet Fiala-Fürst als „lakonisch, seine Sprache, dem „Kanzleistil“ Kafkas in vielem verwandt, nüchtern und fast puristisch, die Komposition wohlgeordnet, diszipliniert, streng kausal“,105 womit er

100 Vgl. z.B. Midgley: Writing Weimar, S. 15. 101 Vgl. z.B. Anz: „Das ‚expressionistische Jahrzehnt‘ war gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichen, war auch die Zeit eines noch keineswegs abgeschlossenen Naturalismus, eines weiter wirksamen Ästhetizismus, eines epigonalen Klassizismus oder der antimodernen Heimatkunst.“ (Anz: Literatur des Expressionismus, S. 9.) 102 Diese Begrifflichkeiten sind in sich selbstverständlich auch verkürzende Kategorien, die hier lediglich zur Illustration der möglichen Spannbreite der Darstellung des Individuums aufgegriffen werden. 103 Fiala-Fürst: Der Beitrag der Prager deutschen Literatur, S. 144. 104 Ebd., S. 153. 105 Ebd., S. 143.

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sich kaum in die zeitgenössische ‚Krise des Romans‘ einordnen lasse. Zudem finde mit Ungars bewusster Entscheidung, den Roman nicht aus der Perspektive eines homodiegetischen Erzählers zu schreiben, eine Verschiebung statt, denn durch die distanzierte Darstellung sind „die Helden Ungars […] keine außergewöhnlichen, aufsehenerregenden Menschen wie die Figuren Leppins, sondern es sind Durchschnittstypen, Massenmenschen“.106 Der Roman Die Verstümmelten ist in seiner Entstehungszeit der älteste der in dieser Arbeit behandelten Romane und er stellt ein Übergangsphänomen zwischen expressionistischer und neusachlicher Prosa dar, eine Entwicklung, die sich in der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur in den 20er und 30er Jahren weiter fortsetzt. Diese stilistische Zwischenstellung wurde auch von den zeitgenössischen Rezensenten wahrgenommen und stellt einen der Hauptgründe für die abstoßende Wirkung, die der Roman weitgehend auf die Leserschaft hatte, dar. Berthold Viertel fasst die Neuerung des Romans gegenüber den Werken des Expressionismus folgendermaßen zusammen: Ein abscheuliches Buch! Nicht, daß die Greuel Leibes [sic] und der Seele, die es berichtet, sonst von der Generation verschwiegen worden wären: nur daß hier, von allem Stilschmuck entblößt, eine besonders schmerzhafte Art von „nüchtern“ und „sachlich“ den Leidensgehalt unabweisbar macht. Gegenständlicher als vor den beneidenswerten Abstraktionen des Expressionismus ist hier die Häßlichkeit der Welt geworden, weil die Dinge nicht erst vorsorglich „gestimmt“ werden wie Instrumente, die in einem Orchester spielen sollen. Die Dinge haben ihre Atmosphäre in sich hineingefressen, damit sie nicht als Milderung zwischen ihnen weben könne.107

Die Thematisierung von Sexualität, Gewalt und Tod scheint expressionistische Abnormalitäten von außerhalb der Gesellschaft stehenden Figuren zu bezeichnen, die nüchterne Schreibweise und die Darstellung Polzers als eines Durchschnittsmenschen verweist wiederum auf die Verhaftung des Geschehens in einer Gesellschaft, in der das Abnorme zur Norm wird. Erst durch die Vermischung der expressionistischen Thematik mit der sachlichen Darstellungsweise entstehen die dezidierten Beschreibungen von grausigen Körperlichkeiten und der Text erhält erst hierdurch seine Drastik, welche Leser irritiert und verprellt, jedoch auch bis heute fasziniert hat. Das Scheitern des Protagonisten Polzer ist dadurch sowohl die Geschichte des scheiternden Individuums innerhalb der Gesellschaft als auch gleichzeitig die Darstellung einer Gesellschaft, für die der scheiternde Einzelgänger Polzer paradigmatisch ist. Die Vermischung des außergewöhnlichen Schicksals des Außenseiters, das an den Expressionismus erinnert, mit einer neusachlichen Erzählhaltung, die das Ge-

106 Ebd., S. 152. 107 Viertel, Bertold: Die Verstümmelten, S. 661.

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schehen nüchtern als Alltagsphänomene darstellt, und die desillusionierende Wirkung dieser künstlerischen Auseinandersetzung in der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur, haben bereits Sudhoff/Schardt thematisiert: Inzwischen traditionelle Themen und Topoi der Prager Literatur, wie die Furcht vor dem Unwägbaren und den Schrecken des Alltags oder die Neigung, das Menschliche in Extremsituationen von Eros und Thanatos aufzuzeigen, kehren bei ihnen [den Prager Autoren nach dem Ersten Weltkrieg] wieder, aber sie werden nicht mehr durch eine neuromantische oder expressionistische Stilisierung ästhetisiert und berühren, ja verletzen den Leser unmittelbar.108

Dies findet sich in ähnlicher, wenn auch nicht in solch drastischer Form in einigen der späteren hier behandelten Romanen, in denen die Vermischung von expressionistischen und neusachlichen stilistischen Elementen fortgeführt wird, wenn auch der nüchterne Erzählstil dort immer mehr in den Vordergrund rückt und die expressionistische Thematisierung von Innerlichkeit, Sexualität und abnormem Verhalten etwas zurücktritt. Als Beispiel seien hier Hans Natoneks Roman Kinder einer Stadt genannt, in dem die scheiternden Protagonisten typische Figuren einer grotesken Gesellschaft sind, ohne sich mit den anderen in ihr existierenden Einzelgestalten identifizieren zu können, und Paul Kornfelds Roman Blanche oder das Atelier im Garten, in dem die Protagonistin schließlich durch ihren Selbstmord den Ausweg aus einer Gesellschaft sucht, in der auch alle anderen Charaktere nur mithilfe der Selbstverleugnung ihres eigentlichen Ichs überleben können. Es zeigt sich auch besonders deutlich in Weiskopfs Slawenlied, das als pseudo-dokumentarischer Roman erscheint und durch Montagetechnik zeitgenössische Dokumente in die Handlung einfügt, um ein vermeintlich objektives Bild der Zeitgeschichte zu erstellen, gleichzeitig jedoch in monoperspektivischer Schilderung die individuellen Erfahrungen des Protagonisten behandelt, wodurch das Ziel der Darstellung einer kollektiv-kommunistischen Coming-of-age-story immer wieder durchbrochen wird. Insbesondere die frühen Romane der Zwischenkriegszeit, die an der Schwelle zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit stehen und in der Regel der Prager expressionistischen Prosa zugerechnet werden wie Ludwig Winders Die jüdische Orgel und Hermann Ungars Die Verstümmelten, bieten einen reichen Fundus an expressionistischen Motiven. Doch auch in den Romanen der späten 20er und frühen 30er Jahre finden diese Topoi noch ihren Niederschlag, wenn auch umgewandelt und weniger offensichtlich. In der parallelen Verwendung von verschiedenen Stilen und der Charakterisierung von verschiedenen Figuren, die gleichzeitig dekadente und nüchtern-sachliche Züge tragen, äußert sich die Übergangsstellung der Romane und auch ihrer Protagonisten, die sich von der vergangenen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg

108 Sudhoff/Schardt: Vorwort, S. 40.

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und der k.u.k.-Monarchie bereits losgesagt haben, jedoch noch nicht vollständig Teil einer neuen, von dieser alten Zeit vollkommen befreiten Generation sind. Die Analogien in der Darstellung der ersten Begegnung der Protagonisten mit der weiblichen Sexualität und dem Sexualakt in der Jüdischen Orgel und den Verstümmelten sind offensichtlich, da diese in beiden Werken auf drastische Weise Ekel hervorrufen, Neurosen verstärken und dennoch eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben.109 Beide Protagonisten sind von diesem grotesken Initialerlebnis dauerhaft getroffen. Während Polzer in den Verstümmelten nie über den Ekel und die Schuldgefühle, welche die Beobachtung des Vaters, der nachts aus dem Zimmer der Tante kommt, und jeglicher weitere Sexualkontakt in ihm auslösen, hinwegkommt und als Unterdrückter und Vergewaltigter neben und unter seiner Vermieterin Frau Porges dahinvegetiert, löst das erste Sexualerlebnis in Albert Wolf in der Jüdischen Orgel einen unstillbaren Drang nach dem weiblichen Körper aus, der in exzessiven nächtlichen Ausschweifungen und in der Tätigkeit als Zuhälter und Bordellbesitzer gipfelt, bevor Albert Wolf vor seinen eigenen Schuldgefühlen in die vermeintliche Sühne der Ehe mit der hässlichen, ekelerregenden und ungeliebten Malvine Spitzkopf flüchtet. Die Schilderungen der drastisch, pathologisch und schockierend dargestellten Sexualität erreichen zu Anfang der 20er Jahre in der Prager Prosa einen Höhepunkt;110 in der später erschienenen Literatur nimmt die Drastik der Darstellung stark ab, die Motive sind jedoch nach wie vor vorhanden. Der Ekel vor der fremden und eigenen Körperlichkeit, die Darstellung des Hässlichen und Grotesken in der Physiognomie und 109 Vgl. Ungar: „Polzer verbrachte nun seine Nächte bis gegen den Morgen schlaflos. Er horchte. Er glaubte Türen knarren zu hören und vorsichtig tastende Schritte auf den morschen Dielen des alten Hauses. Er fuhr aus leichtem Schlummer und ihm war, als hätte er einen unterdrückten Schrei gehört. Er war von bitterem Ekel erfüllt. Dabei trieb ihn die Neugierde, nachts vor die Tür der Tante zu schleichen. Nie konnte er etwas anderes als ihren Atem hören.“ (Ungar: Die Verstümmelten, S. 20.) Und Winder: „Da war ein schwarzes Gewimmel auf und unter dem Teppich, an den Wänden kroch es auf und nieder, kleine und große Russen krochen auf das Bett zu, wanderten vom Bett zur Tür, von der Tür zum Bett. Albert fürchtete sich, Ekel schüttelte ihn, aber im Nebenzimmer knarrte ein Bett, atmete es heiß, unwiderstehlich trieb es ihn, aufzustehen, durch das schwarze Gewimmel zu schreiten, durchs Schlüsselloch zu gucken. Ein Blick, dann sprang er mit einem Satz ins Bett, löschte die Kerze aus, schweißgebadet lag er im Bett, die Zähne zerschnitten die Decke, einen Polster stopfte er in den Mund, Grauen war da, marternder als alles Grauen im Vaterhaus.“ (Winder: Jüdische Orgel, S. 23.) Es gibt in beiden Romanen noch sehr viel drastischere Schilderungen der Sexualität und vor allen Dingen der weiblichen Körperlichkeit, doch diese frühen Stellen in den Romanen zeigen anschaulich das neurotische Verhältnis der Protagonisten zur Sexualität. 110 Vgl. die Analysen der Texte von Paul Leppin, Ludwig Winder und Hermann Ungar bei Fiala-Fürst: Der Beitrag der Prager deutschen Literatur, S. 132ff.

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dem Verhalten der Menschen, die für die expressionistische Literatur als paradigmatisch beschrieben wurde,111 begegnet z.B. auch in Hans Natoneks Kinder einer Stadt. Allerdings ist hier das Groteske nicht mehr das Außergewöhnliche, Schockierende, sondern ganz im Gegenteil erscheinen die grotesken Figuren als typische Charaktere der Stadt Prag, in der das Groteske zur Norm geworden ist, weshalb es auch in keinem stilistischen Widerspruch steht, dass der Erzähler eine objektive und sachliche Perspektive einnimmt. Die weibliche Sexualität wird auch bei F.C. Weiskopf als bedrohlich und beängstigend dargestellt. Die Begegnungen des Protagonisten im Slawenlied mit weiblichen Figuren, mit der dekadenten Französischlehrerin Jeannette, der Prostituierten im Krieg und einer geheimnisvollen jüdischen Krankenschwester, verlaufen jeweils problematisch, da er Angst vor ihrer überpräsenten Weiblichkeit hat. Erst die Beziehung zur kommunistischen Tschechin Jarmila, die sehr androgyn dargestellt wird und mit der er vor allen Dingen aufgrund der politischen Überzeugung und nur zweitrangig aus Gründen der sexuellen Anziehung zusammen ist, löst die Probleme des Ich-Erzählers mit dem weiblichen Geschlecht. Dem Undeutlichen, nicht Eindeutigen, Verschwommenen, der Dekadenz der Weiblichkeit, die sich auch im Stil äußert, wird durch die klare, sachliche und starke Besinnung auf die politische Bewegung, auch wiederum im Stil manifest, entkommen.112 Auch der Generationenkonflikt, der als so typisch für die jugendliche Bewegung des Expressionismus gilt, ist in der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur stark präsent, indem die Attribute der verschiedenen Figuren anhand unterschiedlicher Weltauffassungen und Verhaltensweisen dargestellt werden, die sich auch im Stil der Beschreibung äußern. Die ältere Generation des Bürgertums und das überkommene Frauenbild zeigen etwa bei F.C. Weiskopf dekadente Züge: Die Fran-

111 Vgl. z.B. Anz: Literatur des Expressionismus, S. 166ff. 112 Vgl. etwa die unterschiedliche Darstellung Jeanettes, der Krankenschwester Edith und Jarmilas: „[Jeannette] zog mein Gesicht trotz allem Widerstreben so nahe an das ihre heran, daß unsere Stirnen einander berührten. Ich sah das Graublau ihrer Augen sich verengen und das Schwarz wachsen. Ich bekam Angst.“ (Weiskopf: Slawenlied, S. 36.) „Ich sah erst jetzt, daß [Edith] noch ganz jung war, schlank und schmalhüftig wie ein Knabe. Nur der Mund, der sehr rot war, hatte nichts Jungenhaftes an sich und brachte mich in Verlegenheit, denn er schien mir wie eine Wunde an geheimer Stelle, die ich eigentlich nicht sehen dürfte.“ (Ebd., S. 128.) „Neben mir steht Jarmila. Sie hebt sich auf die Fußspitzen und stößt die Arme mit geballten Fäusten nach hinten, als wolle sie Schwung holen zum Springen. Das Haar hängt ihr in die Stirn; der zerfetzte Kragen baumelt nur noch an einem Faden. Ihre Lippe zittert ein wenig, ganz wie ihre Stimme, während sie singt: „Der Freiheit Morgenrot bricht an!““ (Ebd., S. 232.)

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zösischlehrerin Jeanette, die in ihrem gelben Himmelbett versucht, den damals 13jährigen Protagonisten zu verführen,wird als bürgerlich-dekadent und kränkelnd beschrieben: Als ich eintrat, sah ich zunächst nichts als ein riesiges Bett; ein Bett, das viel größer war als alle Betten, die ich je gesehen. Sein breites, der Türe zugewandtes Fußende trug eine bunte Blumengirlande; das Kopfende war von einem leuchtend gelben Betthimmel überdacht. […] Die Decke rutschte hinunter, das kurzärmelige Nachthemd verschob sich – und ich sah für einen Augenblick, was ich noch nicht gesehen hatte: die dunkle Achselhöhle einer Frau und eine halbe nackte Brust.113

Der Protagonist flieht regelrecht und sucht erst 1918, kurz vor Kriegsende, als überall die Rede vom Ende Österreichs auf den Straßen zu hören ist, Jeannette wieder auf. Obwohl der vorgeschobene Auslöser dafür, dass der Protagonist wiederum flieht, ohne Jeannette zu sehen, die Tatsache ist, dass ihr Mann die Tür öffnet, gibt auch die Farbsymbolik, die ihm im Hof begegnet, darüber Aufschluss: „Von der obersten Brüstung wehten blaue und hellrote Wäschestücke. Die Eisentreppe knirschte vertraut, und dort, am Ende der Veranda, leuchtete das ovale Schild aus weißem Porzellan!“114 Während Jeannette im gelben Bett im dunklen Raum an die überkommene Zeit der schwarzgelben Doppelmonarchie erinnert, in die sie, selbst als Französin, hineingehört, so entdeckt der Protagonist, der bei den Anzeichen des Zusammenbrauens einer tschechischen Revolution zunächst den Impuls hat, „[n]ur nicht allein [zu] sein unter den vielen Menschen, die alle zusammengehörten!“,115 dass eine Flucht in die dekadente Bürgerlichkeit der Monarchie anachronistisch ist. Das Verhältnis des Protagonisten zu den Farben rot-weiß-blau, die eine neue, revolutionäre und sozialistische Zeit zu versprechen scheinen, verändert sich im Verlauf des Romans auch folgerichtig von der Wahrnehmung von etwas Bedrohlich-Undurchschaubarem zu Symbolen der Freude, Freiheit und Hoffnung, mit denen auch die neue Frauenfigur der Jarmila verbunden wird. Auch in Hans Natoneks Roman Kinder einer Stadt steht die Beschreibung der Prager Mädchen, die für die jungen Protagonisten unerreichbar hinter den Mauern des bürgerlichen Hauses verborgen bleiben, in starkem Gegensatz zu den jungen Frauen der Weimarer Republik, welche die neusachliche Frau verkörpern, generell ist die ganze jüngere Generation von diesem Geist der Frische, Freiheit und Klarheit erfüllt. Epp, einer der Protagonisten, beobachtet eine Schulklasse und konnte sich nicht sattsehen an diesen von Leben trunkenen, von der weiten Fahrt und ihren Erlebnissen überwachen Augen. Er schlief nicht, nur um ihnen nahe zu sein; aber er spürte 113 Ebd., S. 37f. 114 Ebd., S. 58. 115 Ebd.

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deutlich die beinahe feindliche Generationswand, die höfliche, im Grunde kühle Konvention bei jeder Annäherung. Nein, er gehörte nicht hierher.116

Gänzlich anders als diese nachkommende Generation wird die Elterngeneration wahrgenommen, die bürgerlich-dekadent und grotesk das Leben ihrer Kinder determiniert und verdorben hatte. Ein anderer Protagonist des Romans, Waisl, sinniert über sein Schicksal, das von dieser Generation besiegelt wurde: Die erste Weltangst gab ihm den Instinkt des Versteckspielens, der ihm treu blieb. Da war die Mutter Dowidals mit gelblichweißen Strähnen, die wie in einem beständigen Luftzug zu flattern schienen, ein irres Märchengespenst; da war der alte Dowidl, der wie ein kleines Petrefakt aus dem Eis gehauen wurde. Da war die Tante Regina – Gott hab sie selig – der körpergewordene, unsinnige Plan seines Lebens.117

Die Protagonisten der deutschböhmischen und deutschmährischen Romane, die jeweils etwa der gleichen Generation wie die Schriftsteller angehören, sind weder Teil der jungen Generation, die im Weltkrieg noch nicht geboren oder kleine Kinder waren, noch gehören sie zu der alten bürgerlichen Bevölkerung, die den Weltkrieg zu verantworten hatte. Sie spüren im Gegensatz zu den Älteren, die gegenüber den Veränderungen blind zu sein scheinen, dass die Welt sich durch den Niedergang der k.u.k.-Monarchie massiv gewandelt hat und ein Umdenken erforderlich ist, wie anhand dreier analoger Passagen bei Weiskopf, Baum und Bodenreuth zu erkennen ist, wenn hier auch jeweils die politische Bewegung, die dahintersteckt, eine gänzlich andere ist.118 Sie gehören jedoch auch noch nicht zu den jüngeren Jahrgängen, von denen die kraftvolle Neuordnung (in welcher Form auch immer) erwartet wird, sondern sind Übergangsfiguren zwischen den Generationen. Die Thematik des zerrissenen Individuums korreliert somit stark mit der stilistischen und diskursiven Anlage der Romane, indem die Übergangsform zwischen expressionistischem und neusachlichem Stil jeweils auch an die auftretenden und verschiedene Generationen repräsentierenden Figuren gebunden wird, während die Protagonisten selbst sich zwischen ihnen bewegen, ohne weder der einen noch der anderen ‚Welt‘ anzugehören.

116 Natonek: Kinder einer Stadt, S. 301. 117 Ebd., S. 266. 118 Vgl. Weiskopf: „Die Prager Deutschen sahen die Veränderungen rundum, aber sie schienen nichts zu begreifen.“ (Weiskopf: Slawenlied, S. 86.) Vgl. Baum: „Die Welt ging aus den Fugen, und hier feierte man Silberne Hochzeit!“ (Baum: Zwei Deutsche, S. 9.) Und vgl. Bodenreuth: „Sie haben doch auch Augen im Leibe, und sehen sie denn nicht, wohin es mit uns geht?“ (Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland, S. 24.)

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4.2.2 Der Erzähler zwischen subjektiver und objektiver Darstellung Aus der unsicheren Situation des Individuums zwischen Kollektiven sowie alter und neuer Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg ergibt sich thematisch unter anderem die Identitätssuche und der Versuch der Selbstverortung des Individuums innerhalb der Romane, sie schlägt sich jedoch auch in dem Versuch der objektiven Schilderung im Stil der Neuen Sachlichkeit nieder, als deren Funktion Gay die Erkenntnis der Wirklichkeit der modernen Welt ausmacht: Was immer der letzte Sinn der Neuen Sachlichkeit sein mochte – und dieser Sinn war bei jedem Künstler ein anderer –, so war sie im Kern eine Suche nach der Wirklichkeit, nach einem Standort in der wirklichen Welt; sie war das Ringen um Objektivität, das die deutsche Kultur seit Goethe gekennzeichnet hat. Sie forderte eine realistische Darstellung, genaue Berichterstattung, die Rückkehr zu naturalistischer Redeweise und, wenn es denn schon Idealismus geben mußte, Einfachheit und Klarheit, der sich viele Expressionisten nicht nur deshalb anschließen konnten, weil sie der alten Methode müde waren oder sich korrupt neuen Methoden anpaßten oder gar eine richtige Bekehrung erlebten; der Expressionismus hatte selbst eine Neigung zu Objektivität in sich getragen, die jetzt die Oberhand gewann.119

Bei der objektiven Schilderung der ‚Realität‘ im Roman nimmt die Erzählperspektive eine bedeutende Funktion ein, indem der Standpunkt des Erzählers Unmittelbarkeit oder Distanz, Unzuverlässigkeit oder Authentizität vermitteln kann. Ein relativ großer Anteil der hier behandelten Literatur, ein Drittel der Romane, ist aus der autodiegetischen Perspektive geschildert, d.h., der Protagonist ist gleichzeitig der Ich-Erzähler und schildert in einer Art fiktionalen Autobiographie seine Erlebnisse; die Gefühle und Gedanken der anderen Figuren können lediglich aus ihren Handlungen und aus Mutmaßungen des Erzählers geschlossen werden, eine Innenansicht dieser anderen Charaktere erfolgt nicht. Dies geht einher mit einer stark subjektiven Zeichnung der Ereignisse, die versucht, in Bezug auf die Innenperspektive der Protagonisten einen unmittelbaren und authentischen Blick zu vermitteln, der eine Identifikation des Lesers herausfordert. Gleichzeitig jedoch erhebt der Großteil der Protagonisten den Anspruch auf eine objektive Schilderung der Wirklichkeit, was sich jedoch jeweils unterschiedlich im Text manifestiert. Am offensichtlichsten ist dies in Ernst Weiß’Augenzeugen, in dem der Protagonist zu Beginn des Textes versichert, „[n]üchtern und klar, schmucklos und möglichst wahrheitsgetreu“120 die Ereignisse zu schildern. Schon allein durch den Titel des Romans wird dieser Gestus heraufbeschworen, indem der Ich-Erzähler vermeintlich ein objektiver, außenstehender Beobachter ist.

119 Gay: Die Republik der Außenseiter, S. 162. 120 Weiß: Der Augenzeuge, S. 7.

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Tatsächlich aber ist er nicht nur sehr stark in seine eigene Lebensgeschichte verwickelt, was offensichtlich ist, sondern auch in die Geschehnisse seiner Zeit, indem er sich zu Teilen als Schöpfer A.H.s und hierdurch mitschuldig an der Massensuggestion des Nationalsozialsozialismus stilisiert. Er geht jedoch von einer kollektiven Wahrnehmung der Zeit aus, indem er seine eigenen Gefühle und Gedanken als objektive Eindrücke der Zeit erachtet und diese Gefühle bei anderen, die gleiche Erfahrungen, so zum Beispiel die der starken Schmerzen bei einer Lungenverletzung oder die der Erfahrung des Ersten Weltkriegs, gemacht haben, voraussetzt. Sein Scheitern in der Kommunikation mit den ihm nahestehenden Menschen, vor allen Dingen der Mutter und seiner Ehefrau, resultiert eben aus dieser Fehlannahme, dass seine subjektiven Empfindungen objektive und kollektive Wahrnehmungen darstellen. Durch die Unzuverlässigkeit seiner Erzählhaltung wird darüber hinaus auch die Identifikation des Lesers erschwert.121 In den Romanen Ernst Weiß’ äußert sich somit der Spagat zwischen objektiver und subjektiver Wahrnehmung in der Beschreibung der Erlebnisse des Individuums, das aus seiner Außenseiterposition einen Weg in die kollektive Wahrnehmung sucht, diese jedoch immer wieder von seiner subjektiven Erfahrung durchbrochen wird. Ähnliche Vermischungen, wenn auch literarisch gänzlich anders umgesetzt, finden sich in den anderen autodiegetischen Romanen, so z.B. in Weiskopfs Slawenlied, in dem die individuelle Sichtweise des Protagonisten immer wieder durch den in Teilen dokumentarischen Charakter des Romans und im Verlaufe der Handlung zunehmend durch die Schilderung des Massenerlebnisses im proletarischen Kollektiv relativiert wird, ohne jedoch gänzlich ausgeschaltet zu werden. Lediglich im Falle von Rothackers Roman Das Dorf an der Grenze, der im Brief- bzw. Berichtstil des Protagonisten geschrieben ist, erhält die autodiegetische Erzählperspektive mithilfe der im gesamten Roman durch- und nie in Zweifel gezogenen nationalsozialistischen Propaganda, hinter der jegliche individuelle Regung des Protagonisten, der in seinen Äußerungen immer Recht behält, zurücksteht, eine vermeintlich objektive Sichtweise, die jedoch für den aufmerksamen Leser nicht nur aus der Retrospektive so offensichtlich konstruiert ist, dass sich der Erzähler gegen den Zweifel an seiner Schilderung verwehren muss.122 In den frühen Romanen Ludwig Winders und Hermann Ungars, in der Jüdischen Orgel und den Verstümmelten, findet eine vermeintliche Distanzierung des Erzählers von seinen Protagonisten statt, indem hier auf die autodiegetische Erzählperspektive

121 Kindt macht auf die Unzuverlässigkeit des Erzählers in Weiß’ Werken aufmerksam, da diese „durch eine auffallende Zahl von inkonsistenten, redundanten, fragmentarischen, irrelevanten und chaotischen Passagen gekennzeichnet sind.“ (Kindt: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne, S. 209, vgl. auch im Detail ebd., S. 171ff.) 122 Vgl. Rothacker: Das Dorf an der Grenze, S. 254, vgl. auch Kapitel 5.9.2.

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verzichtet wird. Dies ist besonders deutlich bei Ungar, der seinen Roman in der IchPerspektive begonnen, sich schließlich jedoch für einen heterodiegetischen Erzähler entschieden hat. In beiden Texten stehen dennoch die Protagonisten stark im Vordergrund, der Erzähler erfährt auch hier nur die Gefühle und Gedanken der Hauptfiguren, häufig in erlebter Rede, Nebenhandlungen sind vollkommen ausgespart. Hierdurch wird der Leser mit der Schreckenswelt, in der beide Figuren leben, sowohl in ihrer Interaktion mit anderen als auch in ihrem zerrissenen Seelenleben, unmittelbar konfrontiert und hieraus resultiert wohl auch die Verstörung, welche die Lektüre zurücklässt.123 Gleichzeitig wird durch ironische Einschübe und die externe Fokalisierung ein Bild der Gesellschaft offenbar, das zu der Wahrnehmung der Figuren in einem gewissen Widerspruch steht. Durch diese Art des changierenden Blickwinkels wird die problematische Stellung des Individuums innerhalb der Gesellschaft deutlich, da die eigene Wahrnehmung stark von den inneren Neurosen der Protagonisten beeinflusst wird und nicht deckungsgleich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist. Exklusionsmechanismen, Schuld- und Schamgefühle, welche die Protagonisten aufgrund der kulturellen Konvention in ihrem Jugendalter erleben, determinieren sie dauerhaft in ihrer Persönlichkeit, weshalb sie sich auch zu späteren Zeitpunkten nicht in die Gesellschaft integrieren können, sondern Außenseiter bleiben. Sowohl Albert Wolf als auch Franz Polzer sind durch ihre orthodoxe Erziehung bzw. die proletarische Herkunft von klein auf von anderen Kreisen ausgeschlossen; dies wird von ihnen nicht in Frage gestellt und wird in ihrer erlebten Rede offenbar. Durch die an einigen Stellen vom Erzähler gewährte Außenperspektive wird jedoch auch deutlich, dass eine homogene Gesellschaft, wie sie von den Protagonisten wahrgenommen wird und von der sie sich ausgeschlossen fühlen, nicht existiert, sondern dass auch ihre Vertreter zu großen Teilen aus grotesken Außenseiterfiguren bestehen. So ist nicht nur Polzer in gewissem Sinne verstümmelt, sondern auch der körperlich behinderte Karl Fanta, die unterdrückte Dora Fanta, die geldgierige Witwe Porges und der psychopathische Pfleger/Metzger. Und nicht nur Albert Wolf ist verloren und innerlich zwischen zwei Welten zerrissen, sondern auch die unglaublich häßliche und unglückliche Malvine Spitzkopf, die zur Prostitution gezwungene Etelka, die anderen Rabbinatskandidaten in der christlichen Metropole und die Schnorrer im Ghetto, um hier jeweils nur ein paar Beispiele des Figurenarsenals zu nennen. Somit wird in der Erzählperspektive zweierlei offenbar: das zerrissene Bild einer Gesellschaft, in der beinahe jeder als Außenseiter erscheint, wenn er nur näher in den Blick rückt, und gleichzeitig jedoch die Wahrnehmung des Individuums als einziger Ausgestoßener aus einem vermeintlich homogenen, das Fremde exkludierenden Kollektiv. Das tragische Einzelschicksal wird dadurch zum desillusionierenden Gruppenschicksal, in dem jeder alleine zugrunde geht.

123 Vgl. hierzu auch Krolop: Ludwig Winder, S. 188.

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Wiederum eine gänzlich andere Erzählsituation, die dennoch ebenfalls mit der thematischen Problematik der Selbstverortung der Protagonistin korreliert, findet sich in Alice Rühle-Gerstels Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit. Hier folgt der heterodiegetische Erzähler ebenfalls der Hauptfigur, Hannas Gefühle und Gedanken werden wiedergegeben und teilweise kommentiert oder auch korrigiert, wenn die Wahrnehmung der Figur aus der Retrospektive die Ereignisse verzerrt darstellt, an einigen Stellen überlappen sich jedoch außenstehender Kommentar und Innensicht der Figur, sodass für den Leser kaum mehr ersichtlich ist, wer eigentlich spricht. Diese Brüche in der Erzählperspektive wie in der Zeitstruktur des Romans, der von Analepsen durchzogen ist, die unterschiedliche Wahrnehmung der Protagonistin abhängig von ihren Erfahrungen und Gefühlszuständen sowie die intertextuellen Verweise des Romans auf Musik und Literatur, die Hanna rezipiert hat, hängen eng mit Hannas innerer Zerrissenheit zusammen, die sich auf der thematischen Ebene des Textes äußert; die ‚Identitätskrise‘ der Protagonistinist eben das, was Bachtin erstmals anhand der Figuren in Dostojewskis Romanen beschrieben hat124 und später häufig aufgegriffen wurde: „Aufgrund des Aufbrechens stabiler ideologischer Positionen hört der Held auf, „Charakter“ im herkömmlichen Sinne zu sein, er wird zum „Mann ohne Eigenschaften“, ohne stabiles Persönlichkeitszentrum. Er gerät zum Stimmraum von Diskursen“.125 In Hanna hallen verschiedene Diskurse wieder, sei dies im Rahmen des Konfliktes zwischen Sozialismus und Stalinismus, in der Problematik der Rolle der neuen Frau und dem Spagat zwischen Kameradschaft und Weiblichkeit oder der ständig evozierten Thematisierung zwischen Heimat und Fremde. Durch die doppelte Reflektion, die diese Diskurse im Roman einmal durch Hanna und dann wiederum durch den Erzähler erfahren, erhält der Roman seine besondere Ausprägung: Zum einen erscheinen die Diskurse als individuell relevant für Hanna als Prager Deutsche, die ihre deutschböhmische Herkunft nicht abgestreift hat und als kommunistische Intellektuelle aus einem bürgerlichen Elternhaus nach dem Klassenkampf in Deutschland ins Exil der Heimat geht, zum anderen aber (und dies ist die Aufgabe des Erzählers, der die individuellen Makel der Figur, so z.B. Hannas Selektion in Wahrnehmung und Erinnerung, nivelliert) spiegeln sie auch kollektive moderne Erfahrungen der Sozialisten, Frauen, Exilierten etc. wieder. Der Roman verweist damit auf die Problematik des Zurechtfindens des Individuums zwischen Weltanschauungen, diskursiven Festschreibungen und subjektiver Wahrnehmung in der

124 Vgl. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Vgl. zur Polyphonie in Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit auch Byroum-Wand: Alice Rühle-Gerstels Exilroman, S. 29. 125 May: Das Ende des Erzählens, S. 166.

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Moderne, exemplifiziert dies jedoch anhand der speziellen und die Desorientierungserscheinungen potenzierenden Situation der topographisch wie ideologisch heimatlos gewordenen Deutschböhmin. Mit Oskar Baums Zwei Deutsche und Paul Kornfelds Blanche oder das Atelier im Garten finden sich in der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur der Zwischenkriegszeit auch Romane, in denen sich die Erzähler von ihren Figuren fast vollständig distanzieren und ein ‚sachliches‘ Bild der Gesellschaft der 20er und 30er Jahre entwerfen, denn „[u]nter dem Stichwort der Sachlichkeit wendet sich die angestrebte Wahrnehmungspraxis in der Mitte der zwanziger Jahre deutlich vom Primat des individuellen Gefühls oder gar der Vision zur objektiven, empirischen Validität“.126 Den beiden Romanen ist gemeinsam, dass sie im Gegensatz zu den anderen eine erstaunliche Fülle an direkter Rede aufweisen, wodurch die Gesellschaft und die politischen Diskurse der 20er und 30er Jahre aufgedeckt werden. Die Identifizierung oder bleibende Sympathie des Lesers mit einem der beiden Protagonisten in Baums Zwei Deutsche, die den Kommunismus und den Nationalsozialismus vertreten, wird bereits durch die gegenseitige Ablehnung ihrer politischen Ansichten und ihr Verhalten etwa gegenüber den Frauenfiguren verunmöglicht, während die philosophischreflektierenden Einschübe des Erzählers weiterhin darauf verweisen, dass zwischen den großen Kollektiven der politischen Strömungen und sozialen Klassen ein dritter, schöpferischer Weg der Mitte zu finden sein müsse, der jedoch nicht ausformuliert als Utopie im Raum schwebt. Bei Kornfeld dagegen wird durch die beinahe naturalistische Schilderung des gesellschaftlichen Gesprächs die Verleugnung der eigenen Identität der Figuren innerhalb der Konvention deutlich. Zusätzliche ironische Kommentare des Erzählers geben die Charaktere schließlich vollkommen der Lächerlichkeit preis, ohne dass diese sich ihrer Makel bewusst sind. Lediglich die Protagonistin Blanche hat kaum Redeanteile, was sie nicht von dem, hier allerdings teilweise gutmütig scheinenden Spott des Erzählers schützt, jedoch auf ihre Außenseiterposition verweist. Ihre innere Wahrnehmung steht damit dem gesellschaftlichen Geschehen und den konventionellen Erwartungen diametral gegenüber, wodurch die Unmöglichkeit der Vereinbarkeit von Individuum und Gesellschaft offenbar wird. 4.2.3 Kommunikationslosigkeit und Exklusion durch Sprache Die Bedeutung des Gesprächsverhalten für die Konzeption des Romans Blanche oder das Atelier im Garten wurde in den Rezensionen zum Text bereits angemerkt: „Unentwegt reden die Romanfiguren aufeinander ein, übereinander und aneinander vorbei. Denn für sie alle ist Reden Lebensersatz: der Versuch, die innere Leere und die

126 Steutermann: Zur Gänze zerfallen, S. 87.

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Verzweiflung darüber mit großen Worten zu überspielen.“127 Es ist dies der Versuch, eine soziale Identität herzustellen, welche das individuelle Sein übertüncht, da dieses innerhalb der Gesellschaft, in der erwartet wird, dass jede Figur eine bestimmte, von Konventionen festgelegte Rolle einnimmt, nicht nach außen getragen werden darf. Um mit Kornfelds Vokabular aus seinem expressionistischen Essay Der beseelte und der psychologische Mensch zu sprechen, wird hier durch das Kommunikationsverhalten nur der angeeignete Charakter offenbar, während die Seele des Menschen unter einer Maske verborgen bleibt. Die Verstellung geht so weit, dass die Figuren sich vollkommen von ihrer eigentlichen Persönlichkeit entfernt haben und diese nicht mehr verstehen bzw. sich vor ihr fürchten.128 Blanche, die an den gesellschaftlichen Gesprächen nur wenig Anteil nimmt, ist dennoch von diesen stark beeinflusst, wie sich z.B. an ihrem letzten Gespräch mit Müller-Erfurt, wo sie ihre Träume verleugnet, und in ihren Briefen an den imaginären Geliebten zeigt, in denen sie gängige, leere Liebesfloskeln verwendet; auch sie vermag nur innerhalb der gesellschaftlichen Konventionen zu kommunizieren. Gleichzeitig gibt sie sich jedoch in ihren nur halb-bewussten Träumen ihren wahren Wünschen und ihrer Persönlichkeit hin. Hieraus ergibt sich auch die Tragik der Figur, da sie die Diskrepanz zwischen den beiden Bereichen, dem gesellschaftlichen Kommunikationsraum des Charakters und dem innerlichen, nicht kommunizierbaren Raum der Seele, nicht überwinden kann. Auch in Hermann Ungars Die Verstümmelten ist die Kommunikationssituation von entscheidender Bedeutung für das Schicksal des Protagonisten. Polzer hat kaum Redeanteile in dem Roman, er ist nicht in der Lage, seine Gefühle und Ängste zu kommunizieren. Als er nach 17 Jahren des gemeinsamen Lebens in einem Haus das erste Gespräch mit seiner Vermieterin führt, nimmt das Unglück seinen Lauf. Um sie, die sich beschwert, dass er nie mit ihr rede, nicht zu verärgern, bietet er ihr einen Ausflug an und bereut unmittelbar darauf, dass er sich auf ein Gespräch eingelassen hat: „Er begriff erschrocken, was er gesagt hatte. […] Er begegnete ihr auf der Treppe. Sie sah ihn vertraulich an. Polzer beschloß zu fliehen.“129 Eine Flucht scheidet jedoch aus, da er sich dann anderen, fremden Menschen ausliefern müsste, und so bleibt er. Bei den darauf folgenden Erniedrigungen durch die Gesellschaft und die sexuellen Akte, die ihm von Klara Porges und ihrer Freundin aufgedrängt werden

127 Hübner: Konversation als Lebensersatz, S. 108. 128 Vgl. z.B. Müller-Erfurts Reaktion auf ein Gespräch mit Blanche, in dem er unvorsichtigerweise seiner ‚Seele‘ Raum gegeben hatte: „Er hatte die Seele dieser Stunde nicht verstanden, er hatte Blanche nicht verstanden, und jene paar Sätze, die Blanche wärmend ins Herz gefahren, waren aus einer fernen Tiefe gekommen, die sich längst wieder geschlossen hatte. Statt eines Gefühls des Glücks blieb ihm eines der Beunruhigung.“ (Kornfeld: Blanche, S. 512.) 129 Ungar: Die Verstümmelten, S. 29.

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und die einer Vergewaltigung nahekommen, kann Polzer sich nicht wehren; die Sprache als Mittel, sich aus seiner Opferrolle zu befreien, bleibt ihm verwehrt: „Da stieß Polzer einen schweren und tiefen Seufzer aus. Es klang wie ein unterdrückter Schrei oder das Weinen eines Kindes.“130 Durch seine Kommunikationslosigkeit ist Polzer der Gesellschaft restlos ausgeliefert, er ist nicht nur Außenseiter, sondern auch ein Opfer derjenigen, die sich durch Sprache und Körper Macht verschaffen. Der unheilvolle Widerspruch zwischen der gesprochenen Sprache als gesellschaftliches Medium und Machtinstrument und den Gefühlen, die nicht kommuniziert werden können, wie er bei Kornfeld und Ungar aufscheint, spielt auch in den Romanen von Ernst Weiß und Alice Rühle-Gerstel eine Rolle, wobei sich dies nicht in allgemeiner Kommunikationslosigkeit äußert, sondern in Missverständnissen, die umso bedeutsamer sind, da sich die Protagonisten im Augenzeugen und in Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit sehr wohl der Macht der Sprache und ihrer Gesetzmäßigkeiten bewusst sind; Hanna als Journalistin und der Augenzeuge als Psychiater. Dennoch gehen beide davon aus, dass eine Verständigung mit den geliebten Menschen auch ohne Sprache möglich ist, auf die verbale Kommunikation wird in Gefühlsfragen (bei Hanna gegenüber dem Geliebten Anatol, beim Augenzeugen gegenüber der Mutter) verzichtet, da von einer Art Seelenverwandtschaft ausgegangen wird, in der das gleiche Erleben auch gleiche Gefühlszustände und Gedanken bewirkt. Die Folgen sind jedoch im Endeffekt in beiden Fällen Missverständnisse, enttäuschte Erwartungen und schließlich Entfremdung. Insbesondere die Protagonisten von Weiß‘ späten Romanen werden immer wieder mit Situationen und Menschen konfrontiert, deren Handlungsmotivation sie falsch deuten oder nicht verstehen. Bei vielen der hier behandelten Romane zeigen sich dementsprechend die Isolation des Individuums innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen und ihre Unmöglichkeit der Integration in verschiedenste gesellschaftliche Kollektive durch ihre Unfähigkeit, an der durch Konvention geregelten Kommunikation teilzunehmen oder ihre Gefühle und Gedanken mitzuteilen. Dies ist etwa auch in Winders Jüdischer Orgel auffällig, indem eine gemeinsame Basis mit anderen ‚minoritären‘ oder unglücklichen Figuren nicht stattfinden kann, weil sie sich untereinander nicht austauschen. Die Gemeinschaft, die der Protagonist mit seiner Ehefrau durch Schweigen eingeht, ist somit auch illusorisch: Albert sprach nicht mehr als vorher mit ihr, aber sein Schweigen war ein Schweigen des Einverständnisses und der Gemeinschaft. Das kleinste Wort schlug Brücken, aber sie ahnte nur den Sinn, begreifen konnte sie nichts. Als er sie nach drei Monaten fragte, ob sie zufrieden sei, mußte sie verneinen.131

130 Ebd., S. 67. 131 Winder: Jüdische Orgel, S. 139.

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Dabei taucht in vielen der Romane auch eine andere Sprache auf, welche die ‚Mächtigen‘ benutzen, diejenigen, die in ein Kollektiv integriert sind oder diesem sogar vorstehen. Die Macht des hate-speech132 mit seiner exkludierenden Funktion steht der Kommunikationsmöglichkeit der Protagonisten entgegen, sie wird bewusst eingesetzt, um Einheit zu schaffen und Grenzen zu ziehen. Der Augenzeuge in Ernst Weiß’ gleichnamigen Roman beschreibt etwa die Redegewalt des ‚Führers‘ A.H., der die Massen mit sich reißt, indem er die Einheit gegen den ‚Feind‘ schafft: Nach einem ungeheuerlichen, unfaßbaren Haßerguss gegen die „marxistische Judenbrut“ kam es über ihn und über uns. Es war der Augenblick, wo der Redner mit seiner heiseren Stimme, seinem österreichischen Akzent plötzlich den Boden unter den Füßen verlor. „Deutsches Blut! Deutsches Blut! Deutsches Blut!“ schrie er, man wußte nicht, ob in Liebe zu diesem Blut oder in Angst um dieses göttliche Blut. Wußte er es selbst? Er sprach in Zungen. Es überwältigte ihn, es überwältigte uns, und wir waren nicht mehr die, die wir früher waren. […] Es sprang von Mann zu Mann, dreitausend wurden eine Seele.133

Die Massensuggestion des nationalsozialistischen ‚Führers‘ ist in den hier behandelten Romanen das prägnanteste Beispiel für die diskriminierende Sprache, die durch Exklusion Einheit schafft, sie begegnet aber auch in weniger auffallender Form, so zum Beispiel in Weiß’ Armen Verschwender, indem der Vater des Protagonisten durch die subtile Verwendung der Personalpronomen ‚er‘, mit dem der Protagonist bezeichnet wird, obwohl er im Raum anwesend ist, und ‚wir‘, mit dem der Vater sich und die Mutter meint, eine Einheit gegen den Sohn formuliert, unter der dieser stark zu leiden hat. Und sie taucht auch in anderen Romanen auf, indem insbesondere antisemitische Schimpfwörter benutzt werden, um die minoritäre und Außenseiterposition verschiedener Figuren zu unterstreichen. So beschimpft Epp in Natoneks Kinder

132 Vgl. hierzu Butler: Hass spricht. 133 Weiß: Der Augenzeuge, S. 195. Die Auswirkungen der faschistischen Rede auf die Masse hat auch Theweleit genauer untersucht. Es geht hierbei weniger um Überzeugung durch kausale Zusammenhänge als um das Versetzen der Masse in einen Rausch, der ihr sowohl ein Gefühl des Zusammenhalts als auch Aktionsdrang einimpft: Die Rede „macht den Teilnehmer am Ritual nicht zum Empfänger eines bestimmten Sinns – dort variiert der Redner zwanzig-, dreißigmal denselben Satz, den alle Anwesenden schon kennen und bejahen –, sie läßt ihn zu zu einer Produktion, die er als seine eigene erfährt. Von der Gestalt berührt, wird er zum Akteur. Er macht etwas mehr als der Eisenspan im Magnetfeld: er nimmt den Platz im Muster selbst ein, er fügt selbst zusammen zur Ganzheit und er sagt zum Nachbarspan: Kamerad, wir müssen zusammenstehen.“ (Theweleit: Männerphantasien, Band 2, S. 129f.)

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einer Stadt Dowidal (dessen Spitznamen Dowidl schon eine antisemitische Konnotation hat) als „Judenjunge“,134 während er ihn ohrfeigt, und der Feldwebel beleidigt den jüdischen Rekruten Siegfried Koretz in Weiskopfs Slawenlied als „Moretz Koretz, Sie Schriftgelehrter, Sie!“135 Welche Auswirkungen diese Beschimpfungen und Erniedrigungen haben, zeigt sich in Winders Jüdischer Orgel, indem der Protagonist sich hier selbst mithilfe der antisemitischen Beschimpfungen geißelt und die minoritäre Position, die ihn determiniert und sein Schicksal besiegelt, für sich selbst verinnerlicht hat: „Dies alles ist, wie es ist, weil ich ein Killejüngel bin, wütete er.“136 Verschiedene Sprachebenen, Kommunikationsverhalten und Kommunikationslosigkeit, als Machtinstrument eingesetzte Sprache etc. tragen in erheblichem Maße zu Exklusions- und Inklusionsmechanismen bei, und auch in den deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen spielt die Sprache eine bedeutsame Rolle bei der Verortung des Individuums, wobei zunächst von ‚außen‘ durch die Verwendung von hate-speech Ausschlussmechanismen zustanden kommen, die dann, vom Subjekt verinnerlicht und auf sich selbst projiziert, zu einem Kommunikationsverhalten führen können, welche eine innere Abschottung gegenüber der Gesellschaft bedingt.

134 Natonek: Kinder einer Stadt, S. 171. 135 Weiskopf: Slawenlied, S. 62. 136 Winder: Jüdische Orgel, S. 67.

5. Romananalysen

5.1 H ERMANN U NGAR : D IE V ERSTÜMMELTEN Hermann Ungars Roman „Die Verstümmelten“ ist ein schockierender und verstörender Text, hierin sind sich die Rezensenten seit beinahe 100 Jahren einig. Seine beunruhigende Wirkung erhält er durch die Erzählperspektive, die ausschließlich auf den Bankangestellten Polzer und seine Neurosen, Scham- und Schuldvorstellungen und Kommunikationsunfähigkeit ausgerichtet ist, und durch die Verbindung des Alltäglichen mit dem Grausamen und Ekelhaften in einer nüchternen, sachlichen Sprache. Die Probleme Polzers und die Albträume, in die er sich immer mehr verstrickt und die geprägt sind von Vergewaltigung, körperlicher und psychischer Gewalt, Exklusion und Bloßstellung, ergeben sich vorrangig aus seiner gesellschaftlichen Außenseiterposition und der damit verbundenen gleichzeitigen Abhängigkeit von und neurotischen Angst vor sozialen Interaktionen. Polzer wünscht sich, in die bürgerliche Gesellschaft integriert zu werden, scheitert jedoch darin, da er seine soziale Identität, die eng mit seiner Herkunft aus proletarischen Verhältnissen zusammenhängt, nicht abstreifen kann. Anhand von Polzers Versuchen, unbemerkt in der Menge unterzugehen, seinem Scheitern hierin und der darauf folgenden Beschämung lassen sich die double-bind-Strukturen von Assimilationsvorgängen und die tragischen Implikationen, die diese für das Individuum besitzen, beleuchten. Der Roman Die Verstümmelten von 1923 teilt sich in zwei Teile, die sowohl stilistisch wie inhaltlich stark unterschiedlich sind, sich jedoch im Laufe des Romans mehr und mehr ineinanderfügen und als voneinander abhängig erweisen. Sie sind jeweils gebunden an die titelgebenden Personen, den seelisch verstümmelten Bankangestellten Franz Polzer, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, und seinen reichen, aber körperlich verstümmelten Jugendfreund Karl Fanta, der an einer schrecklichen, nicht näher bestimmten Krankheit leidet. Polzer, der durch seine sozialen und sexuellen Neurosen, die jeweils an Kindheitserinnerungen geknüpft sind, unfähig ist, sich in

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die städtische Gesellschaft einzugliedern und massive Kommunikationsschwierigkeiten hat, gerät ohne eigenes Zutun immer stärker in die Abhängigkeit von seiner Vermieterin, der gewalttätigen, sex- und geldgierigen Witwe Klara Porges. Als Außenseiter an seinem Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, zu der er keinen Zugang findet, scheint Porges seine einzige Bezugsperson zu sein, die er zwar verabscheut, zu der er aber aus Angst vor Einsamkeit auch flieht. Erst nach einem Drittel des Romans bekommt der Leser die abrupt wirkende Information, dass sich der vollkommen isoliert scheinende Polzer regelmäßig mit dem zuvor nur kurz erwähnten Fanta trifft, den er in seiner Jugend sehr geliebt hat, wobei homoerotische Erlebnisse anklingen. Fanta, früher ein schöner Mann, ist inzwischen aufgrund einer rätselhaften Krankheit mit Abszessen übersäht, seine Beine wurden ihm bereits amputiert, im Laufe der Handlung wird noch ein Arm entfernt. Er leidet unter der paranoiden Vorstellung, dass seine Frau ihn betrügt und umbringen lassen will, um an das Erbe zu kommen. Von Verbitterung und Gehässigkeit getrieben, setzt er es durch, den ehemaligen Metzger und nun Pfleger Sonntag zu engagieren und zu Polzer und Porges zu ziehen, um seiner Frau zu entkommen. Der Pfleger jedoch stellt sich als religiöser Fanatiker und Psychopath heraus, der bereits gemordet hat und diesen Mord durch Wiederholung sühnen will. Während die mittlerweile schwangere Porges Fantas Frau erpresst und Geld von Fanta und seinem Sohn für sexuelle Dienstleistungen fordert, Polzer seine Stellung in der Bank verliert, Fanta panische Angst vor seinem Pfleger entwickelt und dieser sein Schlachtermesser wetzt, spitzt sich die Situation dramatisch zu und endet schließlich damit, dass Polzer eines Tages den abgetrennten Kopf von Klara Porges in ein Tuch eingeschlagen auf der Treppe findet. Erst ein 1924 als Fragment erschienenes letztes Kapitel des Romans deckt auf, dass der Pfleger aus Geldgier und aufgrund seiner psychopathischen Sühnetheorie Klara Porges ermordet hat. Hermann Ungar hatte 1922 begonnen, den Roman in der autodiegetischen Erzählform aus der Sicht Polzers zu schreiben, entschied sich jedoch später für die heterodiegetische Variante. Dennoch bleibt der Fokus des Romans konsequent auf Polzer gerichtet, der Leser erfährt nur seine inneren Gedanken, Gefühle, Ängste und Träume, während keine der anderen Figuren aus der Innenperspektive geschildert wird.1 Mit Ausnahme einiger ironischer Kommentare des Erzählers folgt der Leser somit der verstörenden Wahrnehmung Polzers, in der sich seine Identitätsproblematik unmittelbar und schonungslos offenbart: Die gestörten Beziehungen der Figuren untereinander, die Erfahrungen der Entfremdung werden durch die doppelt gebrochene Perspektive des Erzählens deutlich greifbar. Nicht nur erscheint Polzer durch seine monoperspektivische Sicht von den anderen Figuren des Romans

1

Die einzige Ausnahme bildet ein kurzes Gespräch zwischen Klara Porges und Dora Fanta, bei dem Polzer nicht anwesend ist.

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isoliert, auch dem Leser wird durch die Verengung auf die personale Optik eine identifikatorische Haltung zu dem „Antihelden“ aufgedrängt, die das Gefühl des Bedrückenden, schwer Erträglichen zusätzlich erhöht.2

Die Stellen des Romans, in denen Karl Fanta im Vordergrund steht, unterscheiden sich von den anderen dadurch, dass dieser enorme Redeanteile besitzt, die durch lange Monologe gekennzeichnet sind. Der Leser erfährt somit zwar einiges über Karl Fanta, jedoch kann man sich über seine Gefühle nicht eindeutig im Klaren sein; ob sein Verhalten gegenüber seiner Frau z.B. im Endeffekt aus Hass oder Angst entspringt, wird nicht abschließend deutlich. Fanta ist sich seiner Position und Stellung sehr wohl bewusst und er nutzt seine Redegewalt, um die lenkbaren Menschen um ihn herum, vor allen Dingen seine Frau und Polzer, zu manipulieren. Polzer dagegen geht jeglicher Kommunikation aus dem Weg, seine Aussagen beschränken sich zumeist auf einen kurzen Satz, der jeweils zu Fantas Ausschweifungen im Kontrast steht. Während bei Letzterem das nach Außen getragene Elend im Vordergrund steht, ist es bei Polzer die absolute Konzentration auf die Innerlichkeit. Beide sind scheiternde Figuren in einer bedrohlichen Umwelt, doch während Fanta mit seiner Aussätzigkeit aufgrund der festigenden Wirkung seiner hohen gesellschaftlichen Stellung und seines Geldes keine Fragen der eigenen Schuld oder der eigenen Verantwortung verbindet, stehen die persönlichen wie gesellschaftlichen Probleme Polzers in engem Zusammenhang mit der Frage nach seiner Identität, Herkunft und dem Gefühl der Andersartigkeit und des Ausgeschlossenseins. Aus diesem Grund steht in der Analyse der Handlungsstrang, der sich mit Polzers Verhältnis zu seiner Vermieterin und der Gesellschaft der Stadt Prag beschäftigt, im Vordergrund, während Fantas Krankheit beinahe vollkommen ausgespart bleibt. Dies hängt mit der Fragestellung der Studie zusammen, soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Verbindung der beiden Handlungsstränge nicht nur bedeutsam für die Erzählung ist und ihre schockierende Wirkung erst ermöglicht und begründet, sondern dass gleichzeitig die Kontrafaktur des innerlich verstümmelten Polzer und des äußerlich verstümmelten Fanta das desillusionierende Bild der modernen Gesellschaft entwirft, das 1923 wie auch heute die Leser verstört hat. Die meisten zeitgenössischen Rezensenten des Romans Die Verstümmelten zeigten sich entsetzt über dessen Inhalt. So schreibt z.B. Hans Demetz, der mit Hermann Ungar persönlich bekannt war, über den Roman, er erfülle ihn mit Grauen „mit seiner fürchterlichen, vor keiner Unappetitlichkeit zurückschreckenden Schilderung von abstoßenden Vorgängen in einem pervers-erotischen Milieu“,3 und Berthold Viertel

2

Lehnen: Krüppel, Mörder und Psychopathen, S. 56.

3

Demetz: Meine persönlichen Beziehungen, S. 145.

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nennt ihn ein „abscheuliches Buch“.4 Dem Großteil der Rezensionen, fallen sie auch im Großen und Ganzen negativ aus, ist jedoch eine starke Faszination des Lesers anzumerken,5 die nicht zuletzt mit dem verstörenden Erzählstil und der Schwierigkeit, dem im Prinzip leicht nachzuvollziehenden Plot nicht nur zu folgen, sondern ihn vor allen Dingen auch zu verstehen und zu deuten, zusammenhängt. Viertel etwa zeigt sich zugleich fasziniert und irritiert über den innewohnenden ‚Nihilismus‘ und die ‚Nacktheit‘ des Textes, welcher weder Licht noch Schatten male und somit mit der „entsetzlichsten erfrorenen Gegenständlichkeit“ aufwarte: „Einsamkeit ohne Hoffnung.“6 Die Unmöglichkeit, die Figuren in Hermann Ungars Roman eindeutig in ‚schwarz‘ und ‚weiß‘, in ‚gut‘ und ‚böse‘ einzuteilen, hat auch Kurt Pinthus, der eine der wenigen durchweg positiven Rezensionen zu den Verstümmelten verfasst hat, kommentiert. Er bezieht dies stark auf das Milieu der Figuren, das eines der Hauptmotive des Romans darstellt. Pinthus erkennt in den Figuren des Romans Verstümmelte, „die alle Böses tun, nicht weil sie böse sind, sondern weil in ihrer Armseligkeit, in ihrer dumpfen Wirrnis, in ihrer Sehnsucht nach dem geraubten Glück das Tun des Bösen und Grausamen ihre einzige Lust und Erlösung ist.“7 Dadurch entstehe gerade der Reiz des Romans, denn in den grausamen Ereignissen äußere sich ein „Symbol für das Leid der Menschen unserer Zeit.“8 Während Otto Flake den Handlungsmotivationen der Figuren im Roman Unglaubwürdigkeit vorwirft,9 machen die positiven Rezensionen zum Roman gerade auf den Umstand aufmerksam, dass sich in den extremen Erlebnissen der Figuren und in ihrem Handeln ein tiefes Verständnis für den zeitgenössischen Menschen äußere. Paul Kornfeld etwa schreibt über den Roman: Man soll nicht sagen, die Welten der Bücher seien, Visionen eines gequälten Gehirns, nur verzerrte Abseitigkeiten und hätten mit dieser unserer Welt nichts zu schaffen. Wenn sich die Natur ins Außerordentliche, ins Verbrecherische, ins Entartete steigert, zeigt sie uns am deutlichs-

4

Viertel: Die Verstümmelten, S. 661.

5

Vgl. zur „Ambivalenz der zeitgenössischen Rezeption“ von Ungars Gesamtwerk auch

6

Viertel: Die Verstümmelten, S. 661.

7

Pinthus: Die Verstümmelten. Vgl. hierzu auch Flake, der den Roman zwar abwertend

Schöning: Scham, Schuld und Verstrickung, S. 156f.

beurteilt, jedoch auch sehr stark auf die Herkunft der Figuren aufmerksam macht, die ihre Handlungsmotivation beherrsche: „Ungar schildert Menschen, die in der Provinzstadt eine gedrückte und unterdrückte Jugend gehabt haben. Ihr späteres Leben entwickelt sich logisch auf der Linie der Abdrängung.“ (Flake: Bücher, S. 508.) 8

Pinthus: Die Verstümmelten.

9

Vgl. Flake: Bücher, S. 509f.

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ten ihre Eigenschaften, am extremen Menschen lernen wir am besten die Elemente des gewöhnlichen Menschen kennen, und wer im Getriebe des Daseins Bescheid weiß, soll nur ja nicht glauben, daß er mehr über das Leben auszusagen imstande ist als derjenige, der dessen Dämonen kennt.10

Die teilweise stürmischen Reaktionen auf das Erscheinen des Textes hängen eng mit dem von Kornfeld lobend erwähnten Sachverhalt zusammen: Ungar schildert hier in klarer, präziser Sprache Ungeheuerlichkeiten und Abgründe der Moral, Körperlichkeit, Sexualität sowie physischer und psychischer Gewalt, die nicht, wie in vielen Publikationen des Expressionismus, als Ausnahmeerscheinungen und Einzelschicksale geschildert werden, sondern im Gegenteil sehr viel mehr über den Durchschnittsbürger aussagen: „Denn die Helden Ungars sind keine außergewöhnlichen, aufsehenerregenden Menschen […], sondern es sind Durchschnittstypen, Massenmenschen – wie die meisten Leser des Romans.“11 Der Einstieg in den Roman ist dementsprechend auch recht unspektakulär, es erfolgt eine Schilderung vom Alltag des kleinen Bankangestellten Polzers, in dem sich jeden Tag die gleichen Dinge zur gleichen Zeit wiederholen, und seines Arbeitsplatzes, an dem er seit 17 Jahren ohne Veränderung oder Beförderung zwischen anderen gesichtslosen Angestellten tätig ist, die sich in der gleichen Lage befinden: „Ringsum im Zimmer und in den Räumen saßen wie er an Tischen, die genau so aussahen wie seiner, viele andere Männer und Frauen.“12 Bucher hat mit Bezug auf Kracauers Die Angestellten darauf hingewiesen, dass dieses Bild „exemplarisch die Lebensbedingungen einer kleinbürgerlichen Beamtenexistenz [zeigt]. Es geht hier nicht nur um das zufällige Individuum Franz Polzer, sondern um den in die moderne Verwaltungsbürokratie eingespannten Menschen ganz allgemein“.13 Doch dies trifft nur bedingt den Kern des Romans. Es ist insofern richtig, als Polzers Leben von der aus dem Büro bekannten und sein gesamtes Dasein bestimmenden Ordnung abhängig ist; der Eintritt in die eintönige, aber sichere Tätigkeit bei der Bank markiert das Ende jeglicher Fähigkeit Polzers, mit Veränderungen in seinem Leben umzugehen, seien diese beruflich oder privat: In der Bank wurde er in kurzem ein anderer. Alles zerfloß an seiner Tätigkeit. Regelmäßigkeit, Pünktlichkeit, die unausweichliche Gewißheit des nächsten Tages zerstörten ihn. Er ging auf in Tätigkeiten, die seine Zeit zerlegten. In diesen siebzehn Jahren kam er kaum je unter Menschen. So wurde er unsicher, wenn er einmal etwas anderes tun sollte, als er zu tun gewöhnt war. Hatte er mit Fremden zu sprechen, fielen ihm die Worte plötzlich nicht ein, die er sagen

10

Kornfeld: Ungars Nachlaß, S. 131.

11

Fiala-Fürst: Der Beitrag der Prager deutschen Literatur, S. 152.

12

Ungar: Die Verstümmelten, S. 17f.

13

Bucher: Repräsentation als Performanz, S. 179.

206 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM sollte. Immer hatte er das Gefühl, daß seine Kleidung nicht entspreche, ihm nicht passe und ihn lächerlich mache. Die geringste Unregelmäßigkeit verwirrte ihn.14

An den ersten Seiten des Romans lässt sich jedoch nicht nur ablesen, dass Polzer durchaus ein durchschnittlicher Mensch ist, ohne besondere Fähigkeiten, voller Neurosen und pedantischem Ordnungswahn, ein unscheinbarer Anti-Held, sondern viel mehr noch, dass er, wie das Zitat zeigt, zwar innerhalb einer Gesellschaft agiert, aber dennoch kein integraler Bestandteil dieser ist, indem er sich als Fremdkörper fühlt, der den Normen nicht entsprechen kann. In allen sozialen Situationen, in die Polzer im Laufe des Romans verwickelt wird, sei es in der Stadt, auf Ausflügen oder eben auch an seinem Arbeitsplatz, ist Polzer eben nicht der durchschnittliche, angepasste Kleinbürger, sondern immer ein Außenseiter, und er empfindet sich auch ständig als ein solcher, was sich vor allen Dingen anhand seiner latenten Kleidungsneurose, an seiner Besessenheit von dem Bedecken gewisser Körperteile (insbesondere der Hände) zeigt. Sämtliche Versuche, sich richtig zu kleiden, das Richtige zu sagen und sich der Gesellschaft auf eine Art anzupassen, in der er nicht auffällt, misslingen, obwohl oder gerade weil Polzers tiefste Sehnsucht darin besteht, keine Aufmerksamkeit zu erregen, sondern innerhalb einer Gemeinschaft ohne Ängste aufzugehen. Worin genau besteht aber diese Andersartigkeit Polzers, wodurch ist die Isoliertheit dieser Figur, die den typischen Angestellten zu illustrieren scheint, bedingt? Bereits der erste Abschnitt des Romans, der nicht eindeutig in Kapitel aufgeteilt ist, führt in einer Analepse zurück in Polzers Kindheit und zur traumatischen Erfahrung des Inzestverhältnisses des Vaters zu dessen Schwester sowie zum Aufwachsen in ärmlichen Verhältnissen im Hause des gestrengen Vaters. In der Forschung ist ausführlich auf das problematische Verhältnis Polzers zu Frauen und der Sexualität eingegangen worden, und Polzers Neurosen, sein Ordnungswahn, seine Misogynie sowie seine Traumata wurden mithilfe psychoanalytischer Deutungen einem „völlig überdeterminierten Ödipus“ zugeschrieben.15 Fraglos stellt Polzers problematische Beziehung zu Frauen einen Kernaspekt des Romans dar, für die Untersuchung von Polzers Unfähigkeit, sich in gesellschaftlichen Situation angemessen und sicher zu bewegen, ist jedoch ein anderer ausschlaggebender: derjenige des sozialen Status. In seinem späteren und letzten Roman Die Klasse hat Hermann Ungar sich ausführlich diesem Sujet gewidmet; die Konflikte und Katastrophen dieses Romans ergeben sich vorrangig aus der sozialen Kluft, die den Protagonisten, den Lehrer Josef Blau, von seinen Schülern trennt. Das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer niedrigeren sozialen Klasse erfordert vom Lehrer, der „[u]nverkennbar […] in Herkunft,

14

Ungar: Die Verstümmelten, S. 23.

15

Jäger: Minoritäre Literatur, S. 521. Vgl. hierzu auch Sudhoff: Hermann Ungar, S. 534ff. und Hoff: Familiengeheimnisse, S. 124ff.

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Charakter und teils auch Schicksal ein naher Verwandter von Franz Polzer [ist]“,16 vermeintlich eine unablässige Aufmerksamkeit und Kontrolle. Die Angst davor, durch die Schüler, die bis auf eine Ausnahme alle reichen Bürgerhäusern entstammen, bloßgestellt zu werden, determiniert das Verhalten des Lehrers auf jedem Schritt. Die Theorien des hasserfüllten Dieners Modlitzki, mit dem sich Blau über seine Situation austauscht, besagen gleichzeitig, dass niemand der eigenen sozialen Herkunft entkommen kann, sondern dass jeder an seiner Körperlichkeit, seiner Haltung und seinem Verhalten erkannt wird, selbst wenn der Besitzunterschied nivelliert wird. So sagt Modlitzki über die Reichen: „Vielleicht, daß es unnütz ist, das Hab und Gut zu enteignen, solange das bleibt, das ganze Getue, was sie als Anstand bezeichnen, die Gesittung, die feinen Formen, die alten Bilder und so. Diese Dinge unterscheiden sie. Sie werden für höher gehalten.“17 Und ebenso kann auch der Mann aus ärmlichen Verhältnissen immer an seiner Art und Weise, die Arme zu halten, um den Rock zu schonen, oder vor allen Dingen an seinen roten Arbeiterhänden erkannt werden.18 Dieses soziale Modell, das in der Klasse genau ausgelotet wird, spielt schon in den Verstümmelten eine bedeutende Rolle, wenn es auch von den Momenten der verzerrt dargestellten Weiblichkeit, den körperlichen Details und der Mordgeschichte übertönt wird. Ein wiederkehrendes Motiv in der Klasse nimmt bereits in dem frühen Roman eine Schlüsselstelle in Polzers Verhalten ein: „Er verbarg seine Hände, die von der Arbeit im Laden rot und dick waren, eine Gewohnheit, die dazu beitrug, den Eindruck größter Unsicherheit und Unbeholfenheit hervorzurufen, die er auch später nie ablegte.“19 Die Körperlichkeit, vor allen Dingen das durch Kleidung nur schwer zu versteckende Aussehen der Hände, wird hier stark mit dem sozialen Motiv verbunden und gleichzeitig immer an die Figur des Vaters, der ein armer Krämer war, gebunden. Die Angst Polzers, in der Öffentlichkeit bloßgestellt zu werden, geht mit der Angst der Entlarvung seiner sozialen Herkunft einher, die er zwar leugnet, der er aber trotz seiner Stellung in der Bank zumindest finanziell nicht entkommen ist, wenn er auch nicht mehr körperlich arbeiten muss.20

16

Sudhoff: Hermann Ungar, S. 605.

17

Ungar: Die Klasse, S. 195.

18

Vgl. hierzu umgekehrt Baums Uferdasein, indem dort die Unentrinnbarkeit aus der reichen Familie thematisiert wird: „Wenn unsereins einmal in eine reiche, zärtliche Familie hineingeboren ist, wird er niemals ein freier Mensch.“ (Baum: Uferdasein, S. 158.) Die Determination durch die Herkunft wird hier wie dort, wenn auch komplementär, zu einem essentiellen Problemfeld stilisiert.

19

Ungar: Die Verstümmelten, S. 22.

20

Vgl. zur Situation der Angestellten in den 20er Jahren Kracauer: „Ueber das Quantum der Sklaverei hier und dort läßt sich streiten, aber die Proletarisierung der Angestellten ist nicht zu bezweifeln. Jedenfalls gelten für breite, im Angestelltenverhältnis befindliche

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Je mehr Polzer sich in die Gesellschaft einzugliedern versucht, sei es durch Imitation der Kleidung oder durch die Teilnahme an kulturellen und gesellschaftlichen Anlässen wie dem sonntäglichen Kaffeehausbesuch oder dem Ausflug in den Prager Stadtteil Troja, desto mehr wird er sich seiner Außenseiterposition bewusst, indem er verlacht und benutzt wird. Dies lässt ihn immer tiefer in einen Strudel aus Schamund Schuldgefühlen geraten, die sich aus seiner Außenseiterposition ergeben. Seine Bemühungen tragen nicht dazu bei, in der Menge aufzugehen und akzeptiert zu werden, sondern bringen ihm seine Andersartigkeit nur umso deutlicher zu Bewusstsein. Das Gefühl der Exklusion und Fremdheit wird dem Leser beinahe in jeder Situation vermittelt, in der Polzer sich mit Menschen konfrontiert sieht. Jeglicher Kontakt mit im Roman geschilderten Gesellschaften – bestehe diese nun aus einer einzelnen Frau, ein paar Arbeitskollegen oder der anonymen Menschenmasse auf der Straße – ist eine qualvolle und beängstigende Angelegenheit für den Bankangestellten. Die Angst, die ihn in Momenten der sozialen Interaktion martert, manifestiert sich immer in Vorstellungen und eingebildeten Szenarien, die eng mit Polzers Körperlichkeit verbunden sind und eine Entblößung Polzers beinhalten. Besonders deutlich wird dies bei der exponierten Stellung Polzers auf der Beerdigung seines Vaters: Die Blicke aller Menschen, die zur Beerdigung gekommen waren, lagen musternd und beobachtend auf Franz Polzer. Die Aufmerksamkeit, die er erregte, machte ihn unsicher. In seiner Hilflosigkeit tastete er mehrmals nach den Knöpfen seiner Hose, um sich immer von neuem zu vergewissern, daß sie geschlossen sei. Er schämte sich dieser auffallenden Bewegung zutiefst, konnte aber nicht verhindern, daß nach wenigen Minuten das Gefühl seiner Nacktheit ihn wieder unwiderstehlich zu ihr zwang.21

Bei seinem ersten Ausflug mit Frau Porges nach Kuchelbad besteht Polzers größte Sorge darin, dass es ihm nicht möglich sein wird, unbeobachtet seine Blase zu entleeren, und er legt nicht nur gesteigerten Wert darauf, dass Frau Porges in Gesellschaft einen Hut trägt, sondern versucht auch, seine eigenen „roten“, „schrecklichen Hände“22 zu verbergen. Die seiner Herkunft entspringende, ihn als Vertreter des dörf-

Schichten ähnliche soziale Bedingungen wie für das eigentliche Proletariat.“ (Kracauer: Die Angestellten, S. 17.) 21

Ungar: Die Verstümmelten, S. 24f.

22

Ebd., S. 97. Vgl. Flügel: “[F]ace and hands [...] are the most socially expressive parts of our anatomy and [...] we have learnt to devote an especially alert attention [to them].” (Flügel: Psychology of Clothes, S. 15.) Dies hat auch literarische Vorbilder. In Kleider machen Leute von Gottfried Keller wird der Schneider Strapinski ebenfalls an seinen

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lichen Proletariats und somit als Fremdkörper in der städtischen bürgerlichen Gesellschaft identifizierende Konstitution wird bei der Entblößung von Körperteilen visuell wahrnehmbar. Die Herkunft äußert sich als Vererbung im Körperlichen: Auch Polzers Vater hatte rote Arbeiterhände und „Polzer hatte selbst rötliches Haar auf der Brust wie der Vater“.23 Jegliche Erinnerung an seinen Vater, die Unentrinnbarkeit seiner eigenen Herkunft und somit seine individuelle Konstitution ist für Polzer mit einem heftigen Gefühl der Scham verbunden. Ein Beispiel soll hier genügen: Er wollte nicht mehr, als aus gutem Hause sein. Lange später noch errötete er, wenn man ihn des näheren über seine Abkunft fragte, und antwortete ausweichend. Manchmal log er und sagte, sein Vater sei Gymnasiallehrer gewesen oder Richter. […] Im nächsten Augenblick schon fühlte er den prüfenden Blick des Fragenden an seinem Anzug herabgleiten und wurde sich der Dürftigkeit seines Äußeren schmachvoll bewußt.24

Das mühevoll Verborgene und durch die Entblößung an den Tag Gebrachte ist zunächst das Proletarische bzw. Kleinstbürgerliche, es handelt sich also um das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer Klasse, die Polzer kategorisch ablehnt: „Die Indizien […] verweisen auf das Soziale, zeigen wiederum auf das Sozialgefälle, in dem der Sohn nicht den Status akzeptieren will, der ihm durch Tätigkeit, soziale und kulturelle Praxis des Vaters zugewiesen wird.“25 Die Zugehörigkeit zu einer ärmeren

Händen als Hochstapler erkannt: „Der Mann dort hat mir so wunderlich zerstochene Finger, vielleicht von Praga oder Ostrolenka her!“ (Keller: Die Leute von Seldwyla, S. 291.) 23

Ungar: Die Verstümmelten, S. 89.

24

Ebd., S. 22.

25

Jäger: Minoritäre Literatur, S. 520f. Jäger geht so weit zu behaupten, dass Polzer nicht nur die soziale Position seines Vaters ablehnt, sondern er spricht von einer „Ablehnung der Position in der sozialen Hierarchie – und [der] dahinter zu entziffernde[n] Ablehnung der Hierarchisierung überhaupt“ (ebd.). Betrachtet man Polzers Bestrebungen, durch optische Angleichung in der Mode unsichtbar in der Menge aufzugehen, so ließe sich die deterritorialisiernde Abneigung gegen Hierarchisierungen nicht als Sozialkritik Polzers (dies schließt jedoch eine sozialkritische Funktion des Romans nicht aus), sondern als Wunsch des Subjekts nach einer Zugehörigkeit deuten, das die in Polzers Falle durchweg negativen Implikationen des Individuellen verwischen und zunichte machen könnte. Hierfür spricht auch, dass in den Verstümmelten, anders als in anderen literarischen Texten, die den Topos der Verkleidung aufgreifen, wie etwa Kleider machen Leute oder Der Hauptmann von Köpenick, Polzer durch seine Maskerade keinen gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Aufstieg antizipiert, sondern lediglich auf Akzeptanz in den Kreisen hofft, in denen er sich auch zuvor bewegt hat.

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Klasse beinhaltet nicht nur materielle Nachteile, sondern durch die „Kommunikationsbasierung moderner Sozialsysteme“ geht hier, im Gegensatz zu vormodernen Gesellschaften, mit der Armut eine soziale Exklusion einher, die eine Verständigung mit der Außenwelt zu einem elementaren Problem werden lässt, da der „Ausschluß aus der Teilnahme an der Kommunikation […] an die Stelle eines klassischen Armutsverständnisses [tritt]“.26 So ist es Polzer nicht möglich, an den Gesprächen der Gesellschaft im Café oder beim Ausflug nach Troja teilzunehmen. Im Gegensatz zu den anderen Charakteren des Romans äußert sich Polzer nur an wenigen Stellen, und dann auch jeweils sehr knapp, in wörtlicher Rede. Kommunikation, sei sie verbal oder nonverbal, ist für Polzer keine Option der Verständigung oder gar Konfliktlösung. Deutlich wird dies beim ersten Gespräch mit seiner Vermieterin Frau Porges (nach 17 Jahren gemeinsamen Wohnens!), dem er durch Nicht-Reaktion zu entgehen hofft: „Er fühlte, daß sie ein Wort von ihm verlange, aber er sagte es nicht. Er wollte warten und sich nicht bewegen, bis sie ginge.“27 Polzer kann sich anderen Menschen weder verständlich machen, noch kann er die Äußerungen anderer richtig deuten (dies bezieht sich sowohl auf seine Gespräche mit Frau Porges als auch mit deren Freundin Camilla und dem Doktor, der ihm an sich wohlgesonnen ist). Kommunikation muss auf diese Weise fehlschlagen, ihr Scheitern führt zu Missverständnissen wie in der unten näher behandelten Anzugsepisode, in der Polzer die Herkunft des Anzuges nicht zu erklären vermag, oder zu Erniedrigungen, z.B. beim Ausflug, bei dem er die sexuellen Implikationen des Verschwindens von Klara und dem Studenten nicht verstehen kann oder will und der Erzählerkommentar ironisch bemerkt: „Polzer wusste, daß um diese Jahreszeit Vergissmeinnicht gar nicht zu finden seien, und machte die beiden auf das Vergebliche ihres Bemühens aufmerksam.“28 Im Endeffekt führt diese Kommunikationslosigkeit Polzers, bzw. seine Taktik der Nichtkommunikation zur Katastrophe, indem Polzer sich nicht wehren und seine Wünsche und Ängste nicht verständlich machen kann. Er ist somit die ideale Opferfigur und kann von den anderen Figuren im Roman sowohl sexuell missbraucht als auch für ihre Zwecke benutzt werden: Vergehen an ihm, seien es Misshandlungen, Diskriminierungen oder sexueller Missbrauch gelangen nicht an die Öffentlichkeit, da sie auf keine Art und Weise mitgeteilt werden. Polzers Verhalten innerhalb der Gesellschaft ist determiniert von zwei verschiedenen Bedürfnissen, die separat voneinander betrachtet werden müssen und in ihrer Dialektik die Problematik des Protagonisten aufdecken: Zum einem handelt es sich um das Verlangen Polzers, im Bürgertum als nicht separierbarer Teil aufzugehen,

26

Stichweh: Inklusion und Exklusion, S. 134. (Kursiv im Original.)

27

Ungar: Die Verstümmelten, S. 28.

28

Ebd., S. 67.

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zum anderen plagt ihn eine neurotische Angst vor der Einsamkeit, die paradoxerweiser einhergeht mit der Angst vor Menschen und ihren Verbrechen, insbesondere Diebstahl und Mord. Um seine Herkunft, die sich auf seinem nackten Fleisch abzeichnet, zu verbergen und sich der bürgerlichen Welt zu nähern, nutzt Polzer ein altbewährtes Mittel: Die Pedanterie in der Behandlung seiner Kleidungsstücke und die Besessenheit der Wahrung der Ordnung und des Eigentums sind Teil eines Assimilationsprozesses, der Polzer dem Bürger näher bringen soll, was ihm teilweise gelingt, wovon einige Textstellen zeugen. So empfindet Polzer eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl zur anonymen Masse, wenn er pünktlich morgens den Weg zu seiner Bank antritt: „Er schritt unter ihnen, den Menschen seiner Tageszeit, eilig, achtlos und ungeachtet als einer der ihren“,29 doch sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass das bürgerliche Auftreten Polzers im Endeffekt eine Maskerade ist. Er bedient sich der Mode als Nachahmung, um der Gesellschaft anzugehören, eine logische Konsequenz des Wunsches, sich in der Gemeinschaft zu assimilieren: Die Nachahmung gibt dem Individuum die Beruhigung, bei seinem Handeln nicht allein zu stehen, sondern erhebt sich über den bisherigen Ausübungen derselben Tätigkeit wie auf einem festen Unterbau, der die jetzige von der Schwierigkeit, sich selbst zu tragen, entlastet. Wo wir nachahmen, schieben wir nicht nur die Forderung produktiver Energie von uns auf den anderen, sondern zugleich auch die Verantwortung für dieses Tun; so befreit sie das Individuum von der Qual der Wahl und läßt es schlechthin als ein Geschöpf der Gruppe, als ein Gefäß sozialer Inhalte erscheinen. Der Nachahmungstrieb als Prinzip charakterisiert eine Entwicklungsstufe, auf der der Wunsch zweckmäßiger persönlicher Tätigkeit lebendig, aber die Fähigkeit, individuelle Inhalte derselben zu gewinnen, nicht vorhanden ist.30

Was Simmel hier beschreibt, schließt an die Massenphänomenologien des frühen 20. Jahrhunderts an: Die Angleichung an andere raubt zwar dem Subjekt seine Individualität, jedoch mit dem Gewinn, als Teil einer Gemeinschaft nicht alleine zu stehen und zur Rechenschaft gezogen werden zu können. Nachahmung und Assimilation sind somit Ausdruck der Schwäche, die Implikationen des Individuellen und des Außenseitertums nicht in seinen Konsequenzen tragen zu können. In den Verstümmelten wird diese Taktik jedoch in Frage gestellt, da der Schein nicht dauerhaft über das Sein hinwegtäuschen kann und die Gesellschaft, lässt sie sich auch von optischen Reizen kurzzeitig irreführen, das Fremde erkennen wird. Mimesis wird hier als Mimikry entlarvt.

29

Ebd., S. 17.

30

Simmel: Philosophie der Mode, S. 10.

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Das Ziel, das Polzer durch die Assimilation erreichen will, und die nicht zu unterschätzende Bedeutung der Kleidung wird anhand eines Traumes, der im Sinne Freuds die Wünsche und Ängste des Protagonisten spiegelt,31 deutlich. Richtig eingekleidet gelingt es Polzer, seine Neurosen zu überwinden: „Er hatte eine braune Jacke mit runden Schößen an und stand ruhig mitten unter den Leuten. Er wusste bestimmt, daß seine Hose fest verschlossen sei, und er ging, würdevoll sprechend, in den großen Zimmern auf und ab.“32 Die Sicherheit, die Polzer verspürt und durch die ihm auch freie Kommunikation möglich ist, ist jedoch nur eine angelegte, eine aufgetragene Fassade, die vernichtet werden und dadurch sein Inneres offenbaren kann. Die Hülle ist angreifbar und wird im Traum zerstört: „Plötzlich fühlte Polzer, daß jemand an seinen Hosen nestle, und er erschrak sehr.“33 Durch diesen Akt, der sowohl eine Entblößung als auch eine Vergewaltigung impliziert, schlägt der Traum um, die Sicherheit ist fort, die Ängste und Spukgestalten des Inneren bemächtigen sich des Traums, der nun geprägt ist von ekelhafter Körperlichkeit, Gewalt bis zum Mord, Inzucht und Panik. Der Traum verzerrt bzw. entstellt an dieser Stelle jedoch nicht,

31

Das Potential der psychoanalytischen Erkenntnisse Freuds für die Analyse von Ungars Texten, der Freud rezipiert hatte, wurde in der Forschung bereits hervorgehoben (vgl. z.B. Hoff: Familiengeheimnisse, S. 124). Freud stellt fest, dass alle Träume der Erfüllung von Wünschen dienen. Traumängste entspringen jedoch Neurosenängsten und sind damit nicht eng an den Trauminhalt geknüpft, sondern speisen sich aus anderen unbewussten Vorgängen. Durch die Bindung der neurotischen Angst an das Sexualleben lässt sich jedoch auf den Trauminhalt von Angstträumen schließen, die „sexuellen Inhalts sind, deren zugehörige Libido eine Verwandlung in Angst erfahren hat“ (Freud: Traumdeutung, S. 174). Diese enge Verbindung lässt sich auch in Polzers Traum erkennen, indem in seinem Traum sowohl der unbekleidete Karl Fanta bei den Hausaufgaben, eine positive und nicht angsteinflößende Erinnerung an die homosexuellen Erfahrungen der Jugendzeit, als auch Frau Porges und die imaginierte Schwester als traumatische sexuelle Erfahrung mit dem Dämonisch-Weiblichen auftauchen. Dass Wünsche und traumatische Erfahrungen nicht unbedingt sich widersprechende Konstanten des Unbewussten darstellen, erläutert Freud anhand von Traumbeispielen, die seiner These, jeder Traum sei eine Wunschvorstellung, scheinbar widersprechen. Hierbei lehrt er einerseits, zwischen „manifeste[m] und latente[m] Trauminhalt“ (ebd., S. 148, kursiv im Original) zu unterscheiden, indem eine dem ersten Anschein nach schreckliche Begebenheit im Traum einen Wunsch verbergen kann. Unter diesem Aspekt lässt sich etwa der abgeschlagene Kopf von Frau Porges in Polzers Traum betrachten. Der Mord erfüllt Polzer zwar mit Grauen, gleichzeitig jedoch fällt durch die Tat auch der Scheitel, der Inbegriff seines Schreckens vor dem weiblichen Geschlecht.

32

Ungar: Die Verstümmelten, S. 71.

33

Ebd.

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wie in vielen literarischen Texten dargestellt und von Freud bemerkt und entschlüsselt, die Wünsche und Ängste des Protagonisten, sondern er wiederholt und antizipiert in all seinen Grausamkeiten die von Polzer erlebten und ihn noch erwartenden Ereignisse. Somit verschmilzt der Traum mit der Wirklichkeit, ein klarer Trennstrich zwischen oneiroider Schreckenswelt und Realität ist nicht zu ziehen.34 Dies kann auch als ein weiterer Faktor für das von den Zeitgenossen und auch der aktuellen Forschung wahrgenommene Schockierende des Romans gelten. In Bezug auf die Kleidungsthematik unterscheidet sich der Traum nicht signifikant von Polzers realen Erlebnissen. Denn trotz aller Achtsamkeit, die Polzer auf sein äußeres Erscheinungsbild verwendet, können die abgetragenen und altmodischen Kleidungsstücke seine soziale Herkunft nicht verdecken. Die Momente, in denen die Gesellschaft ihn von Lachsalven begleitet auf diesen Sachverhalt aufmerksam macht, sind die demütigsten in Polzers Leben, zwei Beispiele können hierüber Aufschluss geben: Auf der Straße lachen ihn zwei Mädchen wegen seines Hutes, den er vom verstorbenen Herrn Porges geerbt hatte, aus: Die Mädchen hatten sich genähert. Sie lachten laut. Leute sammelten sich um Polzer. Er stand barhaupt in der Mitte. Immer neue Leute kamen. Es war die belebteste Straßenecke. Man bemerkte die Ansammlung aus der elektrischen Straßenbahn. Polzer sah hinter den Glasscheiben alle Gesichter sich zugewandt. Ringsum lächelten die Leute. Alle sahen ihn an.35

34

Zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft kann im Sinne Freuds im Traum kein klarer Trennstrich gezogen werden, denn die „Bedeutung der Zeit […] untersteht im Traum den Prozessen der Wunscherfüllung, in denen sich Vergangenheit (als Erinnerungsrest) und Zukunft (als Objekt der Wunschproduktion) […] geradezu organisch zusammenschließen“. (Alt: Der Schlaf der Vernunft, S. 318.) Vgl. auch Freud: „[A]us der Vergangenheit stammt der Traum in jedem Sinne. […] Indem uns der Traum einen Wunsch als erfüllt vorstellt, führt er uns allerdings in die Zukunft; aber diese vom Träumer für gegenwärtig genommene Zukunft ist durch den unzerstörbaren Wunsch zum Ebenbild jener Vergangenheit gestaltet.“ (Freud: Traumdeutung, S. 607.) In Polzers Traum verschwimmen die Zeitebenen, indem sich Gegenwart und Vergangenheit vermischen und auf die Zukunft hindeuten. Dieses Modell wird jedoch auch auf Polzers Wachleben transferiert, indem Vergangenheit und Zukunft als feststehende Konstanten und unentrinnbare Schicksalsmomente zu jeder Zeit Polzers Gegenwart beeinflussen und hemmen. Dies entspricht auch der kausalen Handlungsstruktur des Textes, die nicht nur in den Verstümmelten, sondern auch in den anderen Texten Ungars ausgemacht werden kann.

35

Ungar: Die Verstümmelten, S. 43.

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Die Erniedrigung vor der Masse und die Aufmerksamkeit, die er als fremdartige Erscheinung auf sich zieht, lassen dieses Intermezzo für den Protagonisten zu einem Ereignis werden, „das Polzers Leben von Grund aus veränderte.“36 An anderer Stelle wird sich Polzer schmerzlich bewusst, dass die übrigen Herren im Büro modischere und teurere Anzüge tragen als er: „Er hörte das Lachen der Herren und schämte sich, daß sie, die gute Kleider und frischgesohlte Schuhe hatten, über seinen Anzug lachten.“37 Sein optisches Erscheinungsbild lässt keine Möglichkeit des Kollektivgefühls aufkommen, da er als Außenseiter sofort erkennbar ist. In seiner falschen Kleidungswahl lässt sich ebenfalls ein Moment der gescheiterten Kommunikation zwischen Polzer und der Gesellschaft konstatieren. Die fehlende Integration in die Gesellschaft führt dazu, dass Polzer auch aus nonverbalen Kommunikationsvorgängen wie der Kenntnis und Anwendung bestimmter Konventionen, etwa dem ‚dresscode‘ bei bestimmten gesellschaftlichen Anlässen, ausgeschlossen ist. Dies führt zu Situationen, die für Polzer beschämende Wirkung haben: Beim Ausflug nach Troja versucht Polzer, sich angemessen zu kleiden, um einen gewissen sozialen Status aufzuweisen und als Bürgerlicher unter Bürgern nicht aufzufallen. Er trägt daher „seine besten Kleidungsstücke“, einen Kaiserrock für festliche Anlässe, einen Panamahut und gelbe Schuhe. Damit wählt er jedoch genau das Falsche für einen Ausflug und erscheint im Gegensatz zu den anderen Herren auf lächerliche Weise ‚over-dressed‘, wie ihm direkt zu verstehen gegeben wird: „„Sie haben sich angezogen wie zu einer Kindstaufe,“ sagte Herr Fogl. Alle lachten und sahen Polzer an.“38 Akkulturation ist Polzers einzige Möglichkeit zum Eintreten in die Gemeinschaft, doch bleibt sie oberflächlich und wird als Maske und Lügenkonstrukt entlarvt. Als der Doktor Polzer anbietet, ihm einen neuen Anzug zu kaufen, wählt Polzer den Kleidungsstil des verstorbenen, reichen und geachteten Bürgers Fanta, der ihm in seiner Jugend als Wunschvater und Gegenteil des leiblichen Vaters imponiert hatte. Er wagt nicht, Karl Fanta, dem Sohn und Polzers Jugendfreund, in diesem Anzug unter die Augen zu treten, da dieser „sofort die Verkleidung erkennen und Polzer als Betrüger entlarven“39 würde. Diese ‚Anzugsgeschichte‘ wurde in der Forschung oft thematisiert und interpretiert. Lehnen deutet die Anzugswahl Polzers als Höhepunkt der „wiederholt thematisierte[n] Identitätslosigkeit des ‚Antihelden‘ […], als er durch

36

Ebd., S. 42.

37

Ebd., S. 53.

38

Ebd., S. 65. Vgl. zur Wirkung von Momenten des ‚overdressed’- oder‚underdressed’Seins im betroffenen Individuum Flügel: „All such situations bring out exquisitely the sense of shame and guilt that attaches to appearance or behaviour which is different from that of our fellows”. (Flügel: Psychology of Clothes, S. 56.)

39

Ungar: Die Verstümmelten, S. 87.

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seine äußere Erscheinung in die Haut eines anderen Menschen zu schlüpfen versucht.“40 Die Übernahme der Rolle des anderen ist jedoch keine Konsequenz einer vorhandenen Identitätslosigkeit, sondern gerade ein versuchter Ausbruch aus einer für ihn mit dem Fluch des Außenseiters behafteten, übermächtigen sozialen Identität, die ihn als ‚Fremden‘ in der städtischen Gesellschaft Prags stigmatisiert. Polzer ist sich dessen bewusst, dass er diese Identität und somit seine Herkunft durch die Maskerade verleugnet und er fühlt, dass er damit eine vor sich und der Gesellschaft nicht wieder gutzumachende Schuld auf sich geladen hat. Doch er bringt es nicht über sich, die Lüge zu gestehen, da die Angst vor der Beschämung und der Wunsch nach Anerkennung größer sind: „Zu gestehen, daß er [den Anzug] als Geschenk vom Doktor angenommen habe, hätte ihn zum Gespött gemacht. Diese Schande durfte er nicht entdecken. Er musste sie mit einer Lüge verhüllen und für immer diese Schuld in sich verborgen tragen.“41 Der neue Anzug zeigt in der Bank seine Wirkung: Es wird angenommen, Polzer habe geerbt oder ein Los gewonnen, sei somit zu Geld gekommen und in den Kreis der wohlhabenden Bürger aufgestiegen. Der neue Anzug als optisches Angleichungsinstrumentarium erfüllt seine Funktion, Polzer wird nach 17 Jahren harter Arbeit erstmals ein beruflicher Aufstieg angeboten42 und seine Kollegen behandeln ihn mit Achtung als einen der ihren, eine Kehrtwende in ihrem Verhalten tritt somit ein. Doch das Glück währt nicht lange, da es sich herumspricht, dass der Anzug lediglich ein Geschenk war und somit nicht ein Bestandteil von Polzers Wesen ist, weder seiner Herkunft (wie ein Erbe) noch einer neu erworbenen Klassenzugehörigkeit und somit sozialen Identität (wie ein Geldgewinn). Die reine Assimiliation, die nicht in Integration überzugehen vermag, ist damit gescheitert. Die Schuld, die Polzer auf sich geladen hat, ist entdeckt, unhinterfragt erwartet er nun als Konsequenz die Bestrafung: „Er wusste, nun würden sie auf ihn eindringen, nun würde Fogl [ein Arbeitskollege] die Hand erheben, ihm den Anzug vom Leibe reißen. Nun war geschehen, was er gefürchtet hatte. Franz Polzer atmete ruhig. Nun würden sie ihn strafen.“43 Dass die Bestrafung lediglich in Form der gesellschaftlichen Ächtung und des Verlustes seiner

40

Lehnen: Krüppel, Mörder und Psychopathen, S. 97.

41

Ungar: Die Verstümmelten, S. 94.

42

Dass Polzer nicht in der Lage ist, die berufliche Chance zu ergreifen, interpretiert Sudhoff mit Polzers Ordnungswahn, der an Kafka erinnere und worauf es im Text eindeutige Hinweise gibt (vgl. Sudhoff: Hermann Ungar, S. 569f.). Seine Unfähigkeit, in eine höhere Position aufzusteigen und somit die Möglichkeit wahrzunehmen, den Schein in Sein zu verwandeln, ist jedoch auch ein weiteres Indiz für das Verhaftetsein Polzers an seine Herkunft. Immobilität äußert sich hier nicht nur räumlich und beruflich, sondern auch auf der sozialen Ebene.

43

Ungar: Die Verstümmelten, S. 122.

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Stelle und nicht, wie erwartet, in Form körperlicher Züchtigung erfolgt, ist überraschend für Polzer und hat fatale Konsequenzen für ihn. Mit körperlicher Bestrafung hat Polzer Erfahrungen und es ist ihm nicht nur möglich, damit umzugehen, sondern daraus auch eine Art Befriedigung im Sinne der Sühne zu ziehen. In seiner Jugend sucht Polzer die Züchtigung geradezu, um die empfundene Schande und Scham aus seiner Innerlichkeit in die Wirklichkeit zu überführen, sich von seinem Vater zu distanzieren und somit zu reinigen: Der Vater schlug Franz Polzer oft, und die Tante hielt ihn fest. Wenn Polzer nachts von ihm geträumt hatte […], daß er ihn quäle und schlage, wollte er am Tage, wenn er ihm begegnen musste, wieder von ihm geschlagen sein. Ihm war so, als müsste er alles wahr machen, auch seinen Haß gegen den Vater, dadurch, daß dieser wirklich mit seinen schweren Fäusten ihm in den Rücken schlage.44

Im Falle der Anzugsepisode bleibt die Schuld jedoch, zumindest im körperlichen Sinne, ungesühnt und wühlt somit weiter in seinem Inneren. Zudem findet hier weder eine Integration in die gewünschten Kreise noch eine endgültige Distanzierung durch körperliche Bestrafung und damit ein möglicher Hass auf die Peiniger statt. Polzer bleibt zurück als Ausgestoßener wider Willen und durch, so wird es zumindest empfunden, eigene Schuld. Bucher interpretiert die Wahl des Anzugs psychoanalytisch anhand des ödipalen Konfliktes Polzers, der ihn seit seiner Jugend verfolgt: Der Ausgang aus dem ödipalen Konflikt, die Identifikation mit der Vaterinstanz ist damit nicht nur ins Bild, sondern für Polzer auch für einen Moment in die Realität gesetzt: der Spiegel gibt ihm vor, dass er diese Identifikation in der Tat auch geleistet hat. Doch der Spiegel lügt, denn gerade diese Identifikation hat Polzer […] nicht leisten können. Dagegen stand bereits in seiner Jugend und auch später immer wieder das mächtigere mütterliche Identifikationsverbot, in dem letztlich seine masochistische Persönlichkeitsdisposition begründet ist.45

Tatsächlich scheint der Anzug zunächst die Möglichkeit für Polzer zu bieten, aus seinem von Neurosen, Unterdrückung und Passivität geschaffenen Teufelskreis auszubrechen und somit auch die inzestuösen und ödipalen Albträume zu verdrängen, indem er ein neues, selbstbewusstes und selbstbestimmtes Leben verspricht. Jedoch geschieht dies nicht primär durch eine ‚Identifikation mit der Vaterinstanz‘, da der alte Fanta zwar einen Wunschvater repräsentiert, gleichzeitig jedoch eine Welt, die

44

Ebd., S. 20.

45

Bucher: Repräsentation als Performanz, S. 205.

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von derjenigen der eigenen Herkunft und somit dem Ursprungsort der ödipalen Konfliktsituation meilenweit entfernt ist. Das Potential des Anzugs liegt dementsprechend vor allen Dingen in der Identifikation mit dem ‚Fremden‘, Anderen, Bewunderten, das jedoch nicht erreicht werden kann, und dies nicht aufgrund des ‚mütterlichen Identifikationsverbotes‘, sondern aufgrund der ausschließlich äußerlichen Annäherung an dieses Ideal, da die Verkleidung das Innerste nicht verändern, nur verdecken kann, „denn die äußere Kleider-Hülle soll über ihren schadhaften Inhalt hinwegtäuschen“.46 In diesem Sinne lässt sich die Anzugs-Episode auch als gescheiterter Akkulturationsvorgang lesen, der einhergeht mit einer Schwächung der eigenen Identität zugunsten des Aufgehens in der Masse bzw. Gesellschaft mithilfe von Angleichung und Übernahme verschiedener kultureller Normen und Verhaltensweisen: „[T]o some extend people can adopt an identity and get it accepted by others by their choice of an accent, a way of dressing, a set of leisure activities, a place of residence, and above all a set of associates.”47 Um von den sozialen, ethnischen oder kulturellen Gruppierungen, in die das Individuum integriert werden will, weil es entweder deren Vertreter bewundert und beneidet oder weil es Repressionen zu entgehen und Vorteile zu erlangen hofft, akzeptiert zu werden, bietet sich zunächst die Imitation der Gruppe an. Hierbei wählt Polzer mit der Nachahmung der Kleidung den ersten und aufgrund seiner unmittelbaren optischen Wahrnehmbarkeit den offensichtlichsten Schritt: „[W]hat more natural and, at the same time, more symbolic, than to start the process of imitation by copying their clothes, the very insignia of the admired or envied qualities?“48 Kleidung hat jedoch nach Flügel, neben der zu vernachlässigenden Tatsache, dass sie wärmt und vor Witterung schützt, zwei sich gegenseitig widersprechende Funktionen, die sich auch in den Verstümmelten zeigen: „[W]e tend to regard clothes from two incompatible points of view – on the one hand, as a means of displaying our attractions, on the other hand, as a means of hiding our shame.“49 Wie oben bereits behandelt, nutzt Polzer Kleidung nicht nur zur Bedeckung der direkten menschlichen Scham und Körperlichkeit, sondern ebenso, um seine Herkunft und das von der Gesellschaft als ‚Fremdes‘ Empfundene zu verdecken, mit dem Ziel, unbemerkt und unbehelligt in der Menge aufzugehen. Doch geht die Nutzung von Kleidung zwangsläufig einher mit ihrer ‚Schmuck‘-Funktion, die das Gegenteil erreicht, nämlich Aufmerksamkeit auf das Individuum zu ziehen, was bei Polzer durch die ungünstige

46

Fiala-Fürst: Der Beitrag der Prager deutschen Literatur, S. 148.

47

Barry: Culture and Equality, S. 74.

48

Flügel: Psychology of Clothes, S. 138.

49

Ebd., S. 20.

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Wahl des etwas altmodischen und dennoch stilvollen Anzugs nach dem Vorbild seines Wunschvaters Fanta ungewollt eintritt.50 Diese Doppelfunktion der Kleidung führt im Endeffekt nicht nur zum beruflichen und sozialen Ende Polzers, sondern trägt auch zur Potenzierung seiner Neurosen bei. Flügel macht darauf aufmerksam, dass die Verwendung von Kleidung in der Erfüllung zweier diametral entgegengesetzten Interessen dem Prozess ähnelt, in dem neurotische Symptome entstehen, da diese als Kompromiss das Resultat zweier widerstreitender Impulse formen.51 Dieser Zwiespalt der möglichen konträren Konsequenzen von Verhaltens- oder Erscheinungsformen ist in den Verstümmelten nicht nur in der Funktion der Kleidung, sondern auch in anderen Lebensbereichen Polzers zu bemerken und begründet die Problematik von Polzers Dasein. So versucht er, wie oben bereits bemerkt, durch kommunikative Passivität Aufmerksamkeit von sich abzulenken und Konflikten zu entgehen, offenbart sich dadurch jedoch nach Außen als Opferfigur, die eben nicht unbehelligt bleibt, sondern ausgebeutet und misshandelt werden kann. Auch der Wunsch Polzers, einer Gemeinschaft anzugehören, unterliegt einer solchen doppelten Wirkung, indem er hofft, durch das Aufgehen in der Gesellschaft seinen Traumata und seiner Paranoia zu entkommen, aber dadurch, dass er sich anderen Menschen anschließt, gerade die Schreckenswelt seines Inneren in die Wirklichkeit überführt wird: Trotz der neurotischen Angst der Entlarvung in und durch Menschenmassen hat Polzer eine unbezwingbare, pathologische Angst vor der Einsamkeit, welche sich in dem tiefen Bedürfnis äußert, einer Gemeinschaft, von der er ausgeschlossen ist, beizutreten. Als Einzelgänger im Café äußert sich sein Wunsch, integriert zu werden, doch durch seine Scham ist er dazu verdammt, der ewige Beobachter und Außenstehende zu bleiben: „Seine Sehnsucht war es, selbst Billard zu spielen. Sie erfüllte sich ihm nie. Polzer schrak davor zurück, seine Bewegungen52

50

Lehnen ist der Auffassung, dass diese Wahl mit dem Versuch Polzers einhergeht, in die Rolle des verstorbenen Herrn Fantas zu schlüpfen. Polzer sei „darum bestrebt, selbst dieser Vater zu werden. Daß er sich durch den Anzug nicht nur zum Sohn Fantas stilisiert, sondern darüber hinaus der idealisierte Fanta selbst sein will, steigert den Grad seiner Identitätsverleugnung zusätzlich.“ (Lehnen: Krüppel, Mörder und Psychopathen, S. 98.) Eine Annäherung an den alten Fanta findet in der Anzug-Episode mit Sicherheit statt, doch die Deutung der versuchten Identitätsübernahme greift hier etwas zu weit, da Polzer sich zu sehr dessen bewusst ist, dass dies nicht möglich ist. Seine Angst vor einer Entlarvung etwa durch Karl Fanta bezeugt, dass hier lediglich der Fall einer optische Angleichung und Maskerade und eben nicht einer angenommenen Identität vorliegt.

51

Vgl. Flügel: Psychology of Clothes, S. 20f.

52

Zumal die Bewegungen des Billiardspielens im Roman phallisch konnotiert sind, denn das Zitat geht weiter: „Der Doktor forderte ihn später einmal auf zu spielen. Polzer hatte das Queue schon in der Hand und war sich bewußt, daß er es nun sorgfältig kreiden

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öffentlich allen Augen preiszugeben.“53 Doch es ist nicht nur das Alleinsein an sich, was ihn Gemeinschaft suchen lässt, sondern vor allem eine panische Angst vor Dieben und Mördern. Besonders nachts spürt Polzer die Einsamkeit, die sich mischt mit einer undefinierten paranoiden Angst vor etwas Bedrohlichem.54 In diesen Momenten sucht er die körperliche Nähe zu Frau Porges, deren Leib ihn gleichzeitig abstößt: Franz Polzer sehnte sich nach einem Mitbewohner seines Zimmers, dessen greifbare Gegenwart das Geräusch der feindlichen Einsamkeit schweigen gemacht hätte. Er sehnte sich danach, neben einem Menschen zu schlafen. Er hörte das Bett der Frau Porges unter der Last ihres Körpers knarren und nahm sich vor, sie am Morgen zu bitten, daß sie ihn in ihr Zimmer aufnehme. […] Auch er wollte Erholung und Ruhe finden wie sie.55

Noch hält ihn die Angst vor einer sexuellen Annäherung durch Klara Porges von seinem Vorhaben ab, doch aus Furcht vor einer Konfrontation lässt er sie, wenn auch widerwillig, mehr und mehr in sein Leben und seine privaten Bereiche eintreten. Als

müsse. Da entsann er sich, daß er einmal schon ein Queue in der Hand gehalten habe. Es schien ihm, als seien Leute dabei gewesen. Er wußte im Augenblick nicht, ob es im Traum gewesen sei. Aber es konnte nicht gut anderswo gewesen sein. Als er zu kreiden begann, war es gewachsen und schwer geworden, und er hatte das Gleichgewicht verloren.“ (Ungar: Die Verstümmelten, S. 30.) 53

Ebd. Diese Einsamkeit in einem Café, der Ausgeschlossene in einer Gruppe gemeinsam im Gespräch oder im Spiel agierender Personen, wird auch in anderen Romanen der Zeit, so etwa in Zipper und sein Vater des Wieners Joseph Roth, dargestellt. Allerdings wird hier das außenstehende Individuum in die Gruppe integriert, indem seine beobachtende Position eine bestimmte, nicht wegzudenkende und wichtige Funktion innerhalb der handelnden Masse einnimmt: „Was macht eigentlich dieser Zipper hier? Denn man wußte, daß er nicht malte, nicht schrieb und nicht komponierte, aber alle, die malten, schrieben und komponierten, kannten Zipper. Er beschäftigte sich nicht einmal mit der Politik, die ebenso wie die Tätigkeit in einer Redaktion jeden Gast in diesem Kaffeehaus heimisch machte. Dennoch gehörte Arnold in dieses Kaffeehaus und in kein anderes.“ (Roth: Zipper und sein Vater, S. 473). Auf sein plötzliches Verschwinden hin wird Zipper sogar schmerzlich vermisst, da seine passive, doch affirmative Rolle wegfällt. Polzer dagegen bleibt ein Fremdkörper, der nicht in der Gesellschaft aufgehen kann, die ihn entweder ignoriert oder feindselig behandelt.

54

Die Analyse Sudhoffs dieser Bedrohung greift hier wohl etwas zu kurz, da sie zu stark verallgemeinert: „Polzers irrational wirkende Sorge, die sich in der Furcht vor Dieben und Mördern konkretisiert, spiegelt etwas von den tiefen Ängsten der Prager deutschen Bourgeoisie gegenüber Anarchie und Chaos“. (Sudhoff: Die Verstümmelten, S. 116.)

55

Ungar: Die Verstümmelten, S. 37.

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mit dem Pfleger Sonntag ein realer Dieb und Mörder in das Haus zieht, bleibt Polzer schließlich keine andere Wahl mehr, als sich mit Klara Porges das Zimmer zu teilen und somit seinen letzten Rückzugsbereich aufzugeben. Das Unheimliche, vor dem sich Polzer nachts fürchtet, ist nicht näher benannt, jedoch unentrinnbar. Polzer selbst ist es, der sich, indem er sich dem Willen der anderen nicht widersetzen kann, mit Karl Fanta Krankheit und Siechtum und mit dem Pfleger Sonntag die von ihm in der Einsamkeit gefürchteten Verbrechen Diebstahl und Mord in sein Haus holt. Darin besteht der Preis für das Leben in einer Gemeinschaft, die hier mit Karl Fanta als Ersatzvater (nach dem Wegfall der anderen Vaterfiguren des leiblichen Vaters und Fantas Vater) und der schwangeren Frau Porges die Form einer Familie annimmt. Die Sehnsucht, dem Unheimlichen durch menschliche Nähe zu entkommen, führt dementsprechend zu einer Übermacht des Dämonischen, das zwar nun, greifbar geworden, keine oneiroiden Angstzustände mehr auslöst, dafür jedoch fatale Realität geworden ist.56 Polzer kann seinem Schicksal nicht entkommen, da er keine Möglichkeit hat, sich mit der Gesellschaft oder dem eigenen Ich auszusöhnen. Seine eigene Identität und Herkunft verwirft er; nicht primär, weil die Gesellschaft, in der er aufgehen möchte, diese Herkunft ablehnt, sondern vor allen Dingen, weil Polzer selbst, wie Gilman es für den ‚jüdischen Selbsthass‘ beschreibt, eine „illusionäre Definition des Selbst, die Identifikation mit dem Wahnbild der Bezugsgruppe vom Anderen“57 vornimmt und seine Identität und Herkunft somit selbst dämonisiert. Eine Rückbesinnung auf die ureigene Identität und eine Stärkung des Ichs als Möglichkeit des Überlebens in einer feindlichen Umwelt ist nicht möglich, da ein solches Leben für Polzer durch die Ablehnung des Selbst mit einem ständigen Schamgefühl verbunden wäre, während ihm gleichzeitig die Integration in die ihn umgebende Gesellschaft verwehrt bleibt. Die Selbstverleugnung und die als nicht rechtmäßig erworben empfundene, vorgebliche neue Identität führen bei Polzer zu einer dauerhaften Angst der Entlarvung und Schuldgefühlen. Oszillierend zwischen den beiden Polen der eigenen kulturellen Identität und der Assimilation, und damit verbunden dem Gefühl der Scham und der Schuld, entspinnt sich für Polzer ein Leben, in dem nicht nur in seinem Inneren Traumata und Neurosen florieren, sondern in dem seine schlimmsten Traumvorstellungen schließlich grauenvolle Wirklichkeit werden müssen.

56

Dieses Phänomen steht im Gegensatz zu den von Canetti in Masse und Macht beschriebenen positiven Auswirkungen des Verlusts der Berührungsangst. Vgl. hierzu Kuhnau: „Die Masse sei daher – so Canetti – die einzige Situation, in der der Mensch von seiner Berührungsfurcht erlöst werden könne und die Furcht in ihr Gegenteil, die Erleichterung, umschlage“. (Kuhnau: Masse und Macht in der Geschichte, S. 56.)

57

Gilman: Jüdischer Selbsthaß, S. 12.

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5.2 L UDWIG W INDER : D IE

JÜDISCHE

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O RGEL

Ludwig Winders „Die jüdische Orgel“ erzählt die Geschichte des in der jüdischen Gemeinde einer mährischen Kleinstadt unter einem orthodoxen, strengen Vater aufgewachsenen Albert Wolf, der versucht, der engen Welt des Ghettos durch das Vergnügen in der Großstadt zu entkommen. Dort verstrickt er sich immer mehr in Sünde und Schuldgefühl, sodass er sich wieder in die Heimat rettet, wo er sich aber nicht mehr integrieren kann und will. Sowohl die jüdische, orthodoxe als auch die säkularisierte, liberale Welt sind unentrinnbare Bestandteile seines Wesens, die in ihm widerstreiten und ihn zu einem zerrissenen Individuum machen. Zwar ist diese innere Zerrissenheit paradigmatisch für seine Generation der deutschmährischen Juden zwischen Tradition und Assimilation, jedoch kann Albert auch unter seinen Leidensgenossen keine Zugehörigkeit und Hilfe finden, da er sein Schicksal als individuelles empfindet und eine Kommunikation des Konflikts ausgeschlossen ist. Die Einsamkeit, die Scham- und Schuldgefühle und der Zwiespalt der Identität müssen alleine bewältigt werden, jeder Ausweg erweist sich jedoch schließlich als Illusion. Zeit und Ort der Handlung von Winders Jüdischer Orgel sind auffällig, da sie sich mit den Lebensdaten des Autors überschneiden und somit eine autobiographische Auseinandersetzung mit Winders eigenen Jugenderfahrungen und seiner Familiengeschichte zu suggerieren scheinen. Das Schilderung des jüdischen Ghettos einer mährischen Kleinstadt um 1900 und die Darstellung der Konflikte des jüdischen Protagonisten haben dagegen einige Leser veranlasst, im Roman gleichzeitig eine paradigmatische Erzählung der Problematiken des mährischen Judentums in der Moderne zu erkennen. Kurt Krolop hat darauf hingewiesen, dass die 25 Jahre der Handlung höchstwahrscheinlich „mit den ersten fünfundzwanzig Lebensjahren des Autors (1889-1914) zusammenfallen.“1 Der Herkunftsort des Protagonisten und Handlungsort über weite Strecken des Romans ist in Winders Heimat angesiedelt,2 die Figur des

1

Krolop: Ludwig Winder, S. 162.

2

Vgl. ebd., S. 162ff. Krolop gibt mit Verweis auf die Geschichte Holleschaus, Winders Heimatort, an, dass es eine „jüdische Gemeinde von größerer Geschlossenheit und wohl auch Abgeschlossenheit […] um 1900 in den böhmischen Ländern kaum gegeben haben [dürfte], und Winder […] hier für die Lokalisierung der Vorgänge, Probleme und Gestalten seines Romans keinen geeigneteren Lebensbereich [hätte] finden können.“ (Ebd., S. 164.) Auffällig ist jedoch, dass trotz der relativ genauen Ortsangaben im Roman die Landschaft und das Stadtbild ebenso wie viele der im Ghetto lebenden Juden nicht eigens charakterisiert oder näher beschrieben werden. Sie stellen eine Kulisse dar, repräsentieren Typen, ohne eigenes Leben zu entwickeln. Hierdurch erhalten sowohl die mährische Pro-

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Wolf Wolf, des Vaters des Protagonisten, so wurde bemerkt, trägt Züge von Winders eigenem Großvater Wolfgang Winder,3 während weitere Sozialisationsorte des Protagonisten die zur mährischen Provinz im starken Kontrast stehenden modernen Zentren Wien und Budapest darstellen. Weder eine autobiographische Deutung4 noch die Interpretation von Winders Roman als Darstellung eines minoritären Gruppenschicksals der mährischen Juden und eines ‚jüdischen Selbsthasses‘5 trifft jedoch die komplexe Aussage des Romans, die auf die Problematik des Individuums im Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne sowie seiner Determination und versuchten Abnabelungsprozessen von Kultur und Heimat verweist und hierin die wechselseitige Bedingung von individuellem und kollektivem Empfinden und Schicksal illustriert. In der zeitgenössischen Rezeption und auch in der Forschung ist das Judentum als bedeutendster Faktor für die Problematiken des Protagonisten der Jüdischen Orgel angesehen worden.6 So gibt etwa Thomas Mann an, ihm sei „[s]elten […] jüdisches Wesen so visionär lebendig geworden“,7 Rudolf Kayser bezeichnete den Text als „jüdischen Milieuroman“8 und Pazi schreibt, in der Jüdischen Orgel werde die „Unmöglichkeit einer gewaltsamen ethnischen und spezifisch jüdischen Entwurzelung gezeigt: die emotionale Verwobenheit mit dem ethnischen Erbe siegt über die rationale Einsicht und Integrationswillen.“9 Diese starke Bezugnahme auf das Juden-

vinz als auch die Städte Budapest und Wien, die sich in ihrem Sündenpfuhl kaum unterscheiden, eine allgemeingültige Aussagekraft, die nicht zwangsläufig topographisch zu verorten ist. (Vgl. zur mangelnden Ortscharakterisierung im Roman auch Sternburg: Gottes böse Träume, S. 33f.) 3

Vgl. z.B. Pazi: Fünf Autoren des Prager Kreises, S. 273.

4

Gegen eine autobiographische bzw. familiengeschichtliche Deutung des Textes macht Sternburg auf die Unterschiede zwischen Albert Wolf und Ludwig Winders Vater Maximilian aufmerksam. (Vgl. Sternburg: Gottes böse Träume, S. 41ff.) Die Geschichte von Maximilian Winder schildert Ludwig Winder ausführlich in der aus seinem Nachlass veröffentlichten Geschichte meines Vaters.

5

Vgl. zu den Hinweisen auf einen ‚jüdischen Selbsthass‘ Alberts Sternburg: Gottes böse

6

Vgl. zum Lob und zur Kritik an Winders Darstellung des mährischen Judentums bei den

7

Zitiert nach Krolop: Ludwig Winder, S. 164.

8

Rudolf Kayser: Ludwig Winder: Die jüdische Orgel. In: Berliner Börsen-Courier, 24.

9

Pazi: Staub und Sterne, S. 106.

Träume, S. 44ff. zeitgenössischen Rezensenten Sternburg: Gottes böse Träume, S. 28f.

September 1922. Sonntags-Beilage. Zitiert nach Krolop: Ludwig Winder, S. 183.

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tum in der Rezeption verwundert nicht bei einem Roman, dessen Titel bereits so explizit auf das Judentum Bezug nimmt und in dem der Protagonist sich selbst aufgrund seiner Herkunft geißelt: Dies alles ist, wie es ist, weil ich ein Killejüngel bin, wütete er. So sind wir Juden: nicht umzubringen, nicht kleinzukriegen, etwas Furchtbares steckt in dieser Zähigkeit, in dieser Lebenskraft. Verflucht und verfolgt, tausendmal ausgespien und ausgerottet – immer wieder stehen wir auf, immer wieder beginnt in unserer Brust die Orgel zu brausen, die jüdische Orgel, grauenhaft ist dieser Segen, dieser Fluch!10

In der gesamten Anlage des Romans und auch in der Selbstwahrnehmung der Hauptfigur Albert Wolf stellen die Herkunft aus dem jüdischen Ghetto einer mährischen Kleinstadt, die Erziehung durch den strengen orthodoxen Vater, der „Religionslehrer, Rabbiner, Matrikenführer, Kantor, Schächter“11 war, und die Abkunft aus einer langen Reihe von „ehrliche[n], gerechte[n], gottesfürchtige[n]“12 Ahnen ebenso sehr die grundlegenden Determinanten für das Handeln, die Schuldgefühle und die Identitätsproblematiken Alberts dar wie auch die vermeintliche Unentrinnbarkeit der Herkunft und Abstammung. Doch auch andere Momente spielen in der Jüdischen Orgel bei der problematischen Selbstfindung von Albert Wolf eine entscheidende Rolle, die nicht zwangsläufig mit dem Judentum in Verbindung stehen:13 Der Generationenkonflikt, Sexualität und Liebe, ihre jeweilige Bindung an die Rolle von Geld und Macht, die Thematisierung von Schuld und Sühne sowie die Vorstellung einer Reinigung der Seele verweisen häufig über eine Verbindung zum Judentum hinaus auf die Brüchigkeit von moderner Welt und Identität, wie sie auch in der expressionistischen Literatur nichtjüdischer Schriftsteller thematisiert wird.14

10

Winder: Jüdische Orgel, S. 67.

11

Ebd., S. 7.

12

Ebd., 94.

13

Jäger etwa folgt einer Lesart, welche die Problematik Alberts auf eine allgemeinere Ebene verlagert: „Allerdings läßt sich weder historisch noch bei Albert Wolf ein Selbsthaß ausmachen, der als genuin jüdisch zu qualifizieren wäre, vielmehr findet sich die Diskrepanz zwischen individuellem Begehren und tradierten Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen in allen Bevölkerungsgruppen.“ (Jäger: Minoritäre Literatur, S. 392.) Jäger argumentiert ohnehin gegen die geläufige Interpretation der Problematik Alberts als jüdischen Selbsthass (vgl. z.B. Krolop: Ludwig Winder, S. 173ff.), denn „[d]er augenscheinliche double-bind dieser Denkfigur macht sie nicht nur verzichtbar, sondern müsste zu ihrer grundsätzlichen Verwerfung führen.“ (Jäger: Minoritäre Literatur, S. 385.)

14

Vgl. auch Sudhoff: Ludwig Winder, S. 3.

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Der Ansatz, Winders Jüdische Orgel autobiographisch zu deuten, birgt die Gefahr, die im Roman geschilderte Situation als zeitgenössischen Bericht der Lebenssituation einer jüdischen Gemeinschaft in Böhmen und Mähren zu verstehen. Bereits Albert Ehrenstein warnte in seiner Rezension des Romans: „Antisemitische Literaturidioten werden Winder mißverstehen.“15 Der Roman bildet zwar das Leben im jüdischen Ghetto einer mährischen Kleinstadt und die Probleme seines jüdischen Protagonisten ab, jedoch ist es kein historischer Bericht, sondern eine fiktionale Geschichte, die nicht als typischer Lebensbericht eines deutschböhmischen oder deutschmährischen Juden gelten kann. Dies wird bereits deutlich, wenn man andere zeitgenössische Quellen hinzuzieht. Eine gänzlich andere Kindheit im Vergleich zu Alberts schildert etwa Fritz Mauthner in seiner Autobiographie Prager Jugendjahre, da hier die Erfahrung des religiösen Judentums des in der böhmischen Provinz geborenen Kindes eine marginale Rolle spielt: Ich war von Abstammung Jude, Jude aus einem nordöstlichen Winkel Böhmens, und habe doch jüdische Religion und jüdische Sitten eigentlich niemals kennengelernt; höchstens häufiger als

15

Ehrenstein: Rezension Die jüdische Orgel. In: Wiener Allgemeine Zeitung, 28.9.1922. Zitiert nach Sternburg: Gottes böse Träume, S. 28. Winders Jüdische Orgel unterscheidet sich auch in der Darstellung des Judentums maßgeblich von den Ghettogeschichten des 19. Jahrhundert, im böhmischen Raum am meisten bekannt durch Leopold Kompert. Diese besaßen insbesondere für die Rezeption in der nichtjüdischen Gesellschaft eine gänzlich andere Funktion, die dem grassierenden Antisemitismus entgegenwirken sollte, und sparen nicht zuletzt aus diesem Grund die von der nichtjüdischen Öffentlichkeit mit Misstrauen und Intoleranz beäugten religiösen Praktiken und die orthodoxe Erziehung etwa in den Talmudschulen sowie den Aberglauben in den unteren Bevölkerungsschichten zugunsten einer positiven Schilderung des Allgemeinwesens und sympathischer Einzel- und Familienschicksale aus. (Vgl. Wittemann: Draußen vor dem Ghetto, S. 13.) Dass Winders Jüdische Orgel gänzlich anders wahrgenommen wurde und die Funktion eines Wirkens gegen den Antisemitismus im Roman keine Rolle spielt, illustriert Wolkans antisemitische Einschätzung des Textes. Im Vergleich mit Max Brods Jüdinnen (1911) und Arnold Beers Schicksal eines Juden (1912) schreibt er: „Die Hauptpersonen dieser Romane sind typisch unangenehme Juden, wie man sie überall trifft und die wesentlich zur Entwicklung des Antisemitismus beigetragen haben. In einen wahren Sumpf führt uns Ludwig Winders Roman „Die jüdische Orgel“ (1922). Deutlich sieht man, welch tiefen Einfluß das Sexualleben auf die Entwicklung jüdischer Seelen ausübt. Trotz aller Verworfenheit, in die wir hier zu blicken gezwungen sind, ergreift der Roman dank der Kunst des Verfassers, die elende und doch nach sittlicher Erhebung strebende, aber nur zu schwache Gestalt des „Helden“ rührend zu gestalten.“ (Wolkan: Geschichte der deutschen Literatur, S. 144.)

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ein deutsches Kind die jüdische Sprechweise und Mauschelausdrücke gehört. Mein Elternhaus stand dem jüdischen Wesen fremd gegenüber.16

Mauthner gibt zwar unmittelbar danach an, dass er sich hiermit „in einer seltenen und fast einzigen Lage“ befand, da sich seine beiden Großväter, nachdem sie das Ghetto verlassen hatten, vollständig vom Judentum abwandten. Dennoch ist davon auszugehen, dass die Figur des Wolf Wolf, der auch in der Jüdischen Orgel mit seiner orthodoxen Haltung eine einzigartige Rolle im jüdischen Ghetto der Kleinstadt einnimmt, eine Ausnahmeerscheinung und die Kindheitserfahrungen Albert Wolfs keine paradigmatische Schilderung jüdischer Kindheit um die Jahrhundertwende im relativ stark säkularisierten Böhmen und Mähren17 darstellen. Der Großteil der deutschsprachigen jüdischen Bevölkerung Böhmens und Mährens wuchs in einem Elternhaus auf, das sich noch nicht vollkommen von jüdischen Bräuchen gelöst hatte, diese jedoch nicht mehr orthodox praktizierte und sich auch aufgrund fortschreitender Assimilation weitestgehend von einer alleinigen Selbstidentifikation als Juden zugunsten einer Erweiterung der Identität als Tschechen, Deutsche oder Österreicher distanziert hatte. Die Tradition, die Karady noch für das frühe 19. Jahrhundert beschreibt, und die „den männlichen Gläubigen das Ideal eines unablässigen Lerneifers vorschrieb, nämlich vom Kindesalter (4-5 Jahren) an während des ganzen Lebens die heiligen Texte zu studieren, im Gedächtnis zu bewahren und zu deuten“,18 wurde am Ende des 19. Jahrhunderts bereits nicht mehr streng eingehalten. Bei der Perspektive Albert Wolfs und seinen Erfahrungen mit dem Vater handelt es sich dementsprechend nicht um die getreue Schilderung typischer jüdischer Lebenswelten um die Jahrhundert-

16

Mauthner: Erinnerungen, S. 110.

17

Vgl. hierzu Čapková: Tschechisch, Deutsch, Jüdisch, S. 76ff. Vgl. auch Glasenapp/Krobb, die aufzeigen, wie heterogen die jüdische Gemeinde Prags in Hinblick auf die religiösen Praktiken war: „Die jüdischen Bewohner Prags hingen religiösen und kulturellen Orientierungen an, die die gesamte Bandbreite von traditioneller Orthodoxie über eine sich kulturell bürgerlich gebende Neo-Orthodoxie bis hin zu einer liberalen, areligiösen oder religiös indifferenten Ausrichtung umfaßten.“ (Glasenapp/Krobb: Jüdische Geschichtsbilder, S. 204.) Die jüdische Gemeinde der mährischen Kleinstadt in Winders Jüdischer Orgel ist selbstverständlich von derjenigen in Prag unterschieden, da sie noch eine gewisse Geschlossenheit aufweist, die Vielfalt im Umgang mit den religiösen Riten ist jedoch auch hier stark zu spüren; so etwa bei den Unterschieden zwischen Wolf Wolf, dem Gemeindevorsteher Blum und den Schnorrern im Tempel.

18

Karady: Gewalterfahrung und Utopie, S. 120.

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wende.19 Die Probleme der Figur ergeben sich dagegen aus verschiedenen Konfliktfeldern – der Desorientierung des Individuums zwischen Heimat und Fremde, den verschiedenen Verlockungen und Möglichkeiten der Moderne und dem Teufelskreis zwischen Sünde, Schuld und Sühnemöglichkeiten –, die jeweils auch, aber nicht ausschließlich, an die jüdische Herkunft gebunden sind. Der Fortgang der Handlung ist schnell erzählt: Albert Wolf wird als Sohn von Wolf Wolf, einem Talmudgelehrten, in das jüdische Ghetto einer mährischen Kleinstadt hineingeboren und von seinem Vater in sehr jungen Jahren bereits zum strapaziösen religiösen Studium gezwungen, bis das Kind zusammenbricht. Freiheit erringt Albert zunächst, als er zum Besuch des Gymnasiums nach Prerau zieht, doch ist diese bald getrübt durch die ersten schockierenden Erlebnisse mit der Sexualität, die zuerst Ekel, dann starke Schuldgefühle auslösen. Nach dem Besuch bei einer Prostituierten folgen viele bedeutungslose Frauen und sexuelle Ausschweifungen, bis Albert während seines Studiums in Wien die Christin Etelka kennenlernt und sich in sie verliebt. Das dem Vater versprochene Rabbinerstudium ist vergessen, Albert folgt Etelka als ihr ‚Zuhälter‘ nach Budapest, wo sich die erfolg- und talentlose Sängerin von einem reichen jüdischen Geliebten aushalten lässt. Nachdem dieser sie fallen lässt, gleitet Etelka in die Prostitution ab und Albert eröffnet von ihrem Geld ein Nachtlokal mit Bordellbetrieb, in dem auch Etelka arbeitet. Von extremen Schuldgefühlen und seiner Unreinheit geplagt, kehrt Albert schließlich kurz vor dem Tod des Vaters nach Mähren zurück, wo er Buße tun will. Hier stößt er auf Verachtung, heiratet aus Sühnebedürfnis die hässliche und bösartige Malvine Spitzkopf und übernimmt das Amt des Vaters als Vorsänger der jüdischen Gemeinde. Nachdem er jedoch feststellen muss, dass er von Heuchlern umgeben und die sich selbst aufgezwungene Liebe zu seiner Ehefrau nicht Buße, sondern Gewohnheit ist, verlässt er die Gemeinde und wandert von Stadt zu Stadt, um als ‚Hausierer mit Reinheit‘ reine Liebe zu Gott und den Menschen zu predigen. Der Roman verfolgt keinerlei Nebenhandlungen und die Gefühle und Gedanken des Protagonisten stehen im Vordergrund des Erzählten.20 Hierdurch wird es dem Leser möglich, die Entwicklung des Antihelden genau nachzuvollziehen und seine verschiedenen Identitätsentwürfe, sein Scheitern und seine Suche nach einem reinen Ich zu verfolgen. Kurt Krolop sieht in dieser Erzählperspektive für Winder die Möglichkeit „jüdisches Leben und jüdische Umwelt, jüdische Gestalten und jüdische Probleme […], diesen Problembereich nach außen möglichst rein abzugrenzen, ihn

19

Vgl. auch Sternburg: „Die Konzentration der Perspektive auf Albert ermöglicht wenig oder keinen Einblick in die etwaigen Schwierigkeiten anderer jüdischer Figuren.“ (Sternburg: Gottes böse Träume, S. 56.)

20

Vgl. zur Erzählstruktur des Romans Krolop: Ludwig Winder, S. 187ff.

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primär als die innere Problematik eines für ein Gruppenschicksal repräsentativen Einzelschicksals zu gestalten“.21 Die Bedeutung dieser Differenz und gleichzeitigen Verbindung zwischen Einzel- und Gruppenschicksal ist konstitutiv für den Roman und eng verbunden mit der auch in den anderen deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen latenten Frage nach der Zugehörigkeit des Individuums, nach seiner Integrationsmöglichkeit in Kollektive. Denn Winder schildert nicht nur ein Einzelschicksal, das stellvertretend für das kollektive Schicksal einer Minorität angesehen werden kann. Zwar ist es durchaus genau beobachtet, dass sich in Albert Wolfs Unfähigkeit, in der ‚Fremde‘ der weiten christlichen Welt außerhalb des jüdischen Ghettos in Wien und in Budapest aufzugehen, obwohl sie so viele Faszinationen und Verlockungen bietet, „die gleiche Übergangssituation ohne Übergangsmöglichkeit [äußert], in der Kafka die Problematik vieler deutsch-jüdischer Autoren seiner Generation erblickte“,22 jedoch bietet diese gemeinsame Erfahrung, dieses Gruppenschicksal, keine Anknüpfungspunkte für eine mögliche kollektive minoritäre Identität, indem Albert Wolf auch in seiner Heimat seinen vermeintlichen Schicksalsgenossen entfremdet ist und keine Anstrengungen unternimmt, dieser Entfremdung entgegenzuwirken. Spector beschreibt in seinem Aufsatz Beyond Assimilation die Problematik der deutschen Juden, die um 1900 ihr Erwachsenenalter erreichten, sich zwischen den essentialistischen Kategorien ‚deutsch‘ oder ‚jüdisch‘ zu verorten, und legt hierbei entscheidenden Wert auf die Subjektivität des einzelnen Individuums, welche den Konflikt nicht als kollektives, mit bestimmten Kategorisierungen greifbares, sondern als jeweils individuelles Schicksal markiert: Subjectivity […] has escaped the sophisticated analyses of those discussing the limitations of the concepts of emancipation and assimilation. While these are classically understood to be twin figures, the former describing the “external” conditions offered by the host society, the latter the Jews’ “internal” response to those conditions, in fact both describe abstracted structural and collective phenomena. Yet, post-assimilationist Jews […] consistently identified the “internal” question as one taking place within the consciousnesses of individual German Jews.23

Mithilfe dieser Feststellung kann auch Alberts Verhalten gedeutet werden. Seine eigene Auseinandersetzung mit der orthodoxen Welt des Vaters und seiner Erziehung innerhalb der Grenzen des jüdischen Ghettos einerseits und andererseits mit der säkularisierten Sphäre der sündhaften Großstadt und ihren Verlockungen, seine Zerris-

21

Krolop: Ludwig Winder, S. 164f. (Kursiver Teil im Original gesperrt.)

22

Ebd., S. 171.

23

Spector: Beyond Assimilation, S. 97.

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senheit zwischen diesen beiden Welten und die Suche nach der eigenen Identität müssen von ihm individuell ausgefochten und gelöst werden; kollektive Erfahrung oder ein gemeinsam empfundenes Gruppenschicksal können somit nicht entstehen. Die Ausgeschlossenheit Alberts wird deutlich, als seine Mutter ihm von den Erfolgen seiner ehemaligen Klassenkameraden schriftlich berichtet, die verheiratet, reich und glücklich zu sein scheinen, während er in Wien unter zunehmender Seelenpein das Bordell betreibt und sich selbst verloren glaubt. Albert räsoniert über seine eigene Lage, wobei sich Kindheitserinnerungen und seine aktuelle Situation verzahnen. Der Grund der Isolation und Alberts Schuld ist hierin nicht mehr eindeutig zu benennen, da sich die Schuld des Vaters, der seinem Sohn nicht erlaubt hat, mit anderen Kindern zu spielen, und ihm somit keine ‚normale‘ Entwicklung ermöglichte, mit Alberts eigenen Vergehen kombiniert: Olga Kohn, Ritschi Rosenblatt, Fantschi Zwicker, Malvine Spitzkopf, Josef Tänzer, sie alle hatten einmal „Fangerl“ gespielt hinter dem Tempel, er aber war vorbeigezerrt worden von der furchtbaren Hand des Vaters. „Komm mitspielen“, hatten sie gerufen, er aber war ausgeschlossen gewesen von Anbeginn, Glocken des Schreckens die Musik seines Lebens, und so war es geblieben, die andern auf der hellen Seite, er auf der dunkeln, die anderen auf guten Wegen und viele schon am Ziel, sie heirateten, sie waren geachtet und geehrt – und er noch nicht einmal würdig, sich verkriechen zu dürfen, noch nicht einmal reif, seine Sünde und seine Reue zu bekennen. […] In ihren Häusern sah er sie sitzen, gewissenhaft und selbstbewußt erfüllten sie ihre Pflichten, auf sicherem Grund standen ihre Häuser, geschützt waren sie vor jedem Sturm, gut verriegelten sie Tür und Tor vor verdächtigem Gesindel, sie freuten sich ihrer Geborgenheit und zeigten mit den Fingern nach ihm, dem Verkommenen und Verfluchten, sie sprachen böse Worte und stießen ihn in den dunkelsten Schacht der Verzweiflung – da sagte eine Stimme in ihm: Auserwählt bist du doch, immer wieder du zu sein, heute und in tausend Jahren. Und er wußte den Geist Gottes über sich. Da wußte er, daß seine Zeit nicht mehr fern war.24

Diese Passage ist aus unterschiedlichen Gründen interessant. Zum einen stellt sie, wie oben schon angedeutet, an den Beginn der Isolation Alberts die Schuld des Vaters. Die Härte, mit welcher der Vater ihn in seinen jungen Lebensjahren gequält hat, ist zwar einerseits eine persönliche Charakterschwäche Wolf Wolfs, sie ist jedoch ebenso mit der orthodoxen Religion verbunden, da die körperliche Züchtigung den Knaben zum Studium der heiligen Bücher bringen soll. Die übertriebene Frömmig-

24

Winder: Jüdische Orgel, S. 96f.

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keit des Vaters, der sich selbst die Freude an der Frömmigkeit versagt, da er damit seinem Gott schlecht diene, ist der Ausgangspunkt der Misere des Sohns und verstärkt diese in seinem Erwachsenenalter noch, als er merkt, dass er sie in gewissem Sinne geerbt hat und sie ihn in seinem Tun, das an den Vater erinnert, determiniert: Der Sohn, der sich früh vom Vater distanziert, ertappt sich zunehmend in Situationen, in denen er seinem Vater ähnelt oder sich gleich verhält; dies äußert sich im Text sowohl durch Reflexionen Alberts25 als auch durch den Erzählerkommentar, der beider Handlungen beinahe wortgleich beschreibt.26 Dennoch ist es die Religion, die am Ende eine (vermeintliche) Rettung bietet: Der Schluss der oben zitierten Passage suggeriert Albert den Sinn seiner Ausgeschlossenheit aus der Gemeinschaft, indem er sie als seine ureigene Identität identifiziert. Assoziationen mit dem Martyrium Christi werden evoziert, während die Formel „du zu sein heute und in tausend Jahren“ an das Bild des Ahasver27 gemahnt.28 Diese Verbindung zwischen Judentum und Christentum in einer Person, indem Albert zum einen Züge Jesu Christi und gleichzeitig des ‚Ewigen Juden‘ trägt, deutet auf eine Verankerung Alberts in zwei Welten hin, die ihm beide in letzter Konsequenz sowohl das ‚Eigene‘ wie auch das ‚Fremde‘ dar-

25

Vgl. Ebd.: „Als mein Vater meine Mutter mit Worten schlug, saß sie auf dem Kanapee, wie Etelka jetzt sitzt. Wie mein Vater stehe ich in diesem Zimmer, hassenswert ähnlich bin ich ihm.“ (Ebd., S. 61.)

26

Vgl. die Art und Weise, wie sich der Vater von der unerlaubten Freude auf seinen ungeborenen Sohn am Anfang des Romans dem Talmud zuwendet: „In der Studierstube, befreit von den Kindern, arbeitete er mit Haupt, Händen, Füßen, Gemurmel wechselte mit lautem Geschrei ab, der Körper flog nach vorn und rückwärts, nach links und rechts, die Mahlzeit wurde nicht eingehalten, die Zeit reichte nicht aus, ein Rätsel der heiligen Bücher war gelöst, zehn neue stellten sich auf, standen da, unentrinnbar, den ganzen Mann heischend wie Gott selbst.“ (Ebd., S. 9.) Dies korreliert eng mit der Passage, in der Albert auf der Flucht vor den ersten sexuellen Regungen in der Religion Rettung sucht: „Von deinem Geist laß mich erfüllt sein, mein Gott, sagte Albert laut; da wurde lebendig das tote Wort, der Talmud ein großer Saal der Weisheit, sternenüberdeckt, besessen arbeitete Albert mit Haupt, Händen, Füßen, Gemurmel wechselte mit lautem Geschrei ab, der Körper flog nach vorn und rückwärts, nach links und rechts, die Zeit reichte nicht aus, ein Rätsel der heiligen Bücher war gelöst, zehn neue stellten sich auf, standen da, drohend, unentrinnbar.“ (Ebd., S. 29.)

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stellen. Eine unheilvolle Verschmelzung von jüdischer und christlicher Mystik erlebt schon das Kind Albert aus Furcht vor dem Vater; dies wird anhand einer Stelle deutlich, die an die Visionen Saras bei der Flucht und Rheinfahrt in Heines Rabbi von Bacherach erinnert: Aber ein Grauen wuchs in dem Knaben, er zitterte vor dem Vater, zitterte vor des Vaters Büchern, sie waren Ungeheuer mit Drachenzähnen, die Märchen der Mutter lebten in den Büchern des Vaters verwandelt auf, unheilvolle Verwandlung, böse Verzauberung schreckte. Das Lieblingsmärchen war Dornröschen, das beneidete: hundert Jahre Schlaf.29

Die oben zitierte Stelle, in der Albert sich an seine Schulfreunde erinnert, ist jedoch auch deswegen bedeutend, da in ihr deutlich wird, dass die gesamte Verspottung Alberts und die Erfolge seiner ehemaligen Freunde lediglich seinen eigenen Visionen

27

Vgl. zur Darstellung der Figur des Ahasver in der deutschsprachigen Literatur von der Aufklärung bis in die 20er Jahre Zirus: Ahasverus. Zirus zeichnet die verschiedenen Bedeutungszuweisungen, welche die Figur in der Literatur erfahren hat, nach, wobei besondere seine Thematisierungen in der Moderne, einerseits als „Symbol des ewigen Kampfes“, als „rastloses Menschenherz, das im Streit von Gut und Böse nie zur Ruhe kommt“ (ebd., S. 48), aber auch seine Möglichkeit zur Erlösung durch inneres Reifen und Lehre der Menschheit Verbindungen zu Winders Jüdischer Orgel aufweisen. In der deutschböhmischen Literatur wurde das Motiv auch schon 1882 von Mauthner in Der neue Ahasver aufgegriffen.

28

Auch Krolop weist auf eine mögliche Verbindung zwischen dem Ende des Romans mit Alberts Rolle als ‚Hausierer mit Reinheit‘ und der Figur des ‚Ewigen Juden‘ hin. (Vgl. Krolop: Ludwig Winder, S. 181f.)

29

Ebd., S. 15. Vgl. Heine: „So zogen der schönen Sara die alten Geschichten durch den Sinn, wie ein hastiges Schattenspiel; die Bilder vermischten sich auch wunderlich, und zwischendurch schauten halb bekannte, halb fremde bärtige Gesichter und große Blumen mit fabelhaft breitem Blattwerk. Es war auch als murmelte der Rhein die Melodie der Agade, und die Bilder derselben stiegen daraus hervor, lebensgroß und verzerrt, tolle Bilder: der Erzvater Abraham zerschlägt ängstlich die Götzengestalten, die sich immer hastig wieder von selbst zusammensetzen; der Mizri wehrt sich furchtbar gegen den ergrimmten Moses; der Berg Sinai blitzt und flammt; der König Pharao schwimmt im Roten Meere, mit den Zähnen im Maule die zackige Goldkrone festhaltend; Frösche mit Menschenantlitz schwimmen hinterdrein, und die Wellen schäumen und brausen, und eine dunkle Riesenhand taucht drohend daraus hervor.“ (Heine: Rabbi von Bacherach, S. 16.)

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entspringen und nirgendwo bestätigt werden. Tatsächlich stößt Albert später bei seiner Rückkehr ins jüdische Ghetto auf die Ablehnung der Gemeinde, die sich jedoch vor allen Dingen auch mit Neugierde paart und die Bewohner des Ghettos nicht davon abhält, Albert auf Anraten des reichen Gemeindevorstehers zu ihrem Vorsinger zu machen. Die Verachtung, die ihm zuteil wird, ist somit nicht ansatzweise vergleichbar mit der Verachtung, die er für sich selbst empfindet. Die Exklusion aus der Gemeinschaft, die in dem Zitat anklingt, Alberts exponierte Rolle und sein Außenseitertum sind somit zunächst nur imaginiert; bevor der Ausschluss aus dem Kollektiv der im Ghetto lebenden Juden stattfindet, exkludiert sich Albert selbst, indem er seine Andersartigkeit, seine Schuld und Sünden für sich selbst in den Vordergrund rückt und gar zur Basis seines Selbstverständnisses und seiner Identität macht. Ein ‚Gruppenschicksal‘ wird somit von vornherein verunmöglicht. Der Leser erfährt nichts Weiteres über die alten Freunde Alberts, doch die Schilderung der Gemeindebewohner, in welcher der reiche, manipulative Kultusvorstand Blum, die bösartige, häßliche Malvine und zahlreiche ‚Schnorrer‘ und Heuchler auftreten, die sich für den Tempelbesuch bezahlen lassen, lässt darauf schließen, dass Alberts Vorstellung der Geborgenheit, Reinheit und Gemeinschaft der Anderen nur eine Fiktion ist. Diese Erkenntnis, die er schließlich in seiner Tätigkeit als Vorsinger erlangt, bleibt jedoch für Albert ohne Konsequenz; Trost und Gemeinschaft kann auch sie nicht spenden. Lediglich für Malvine empfindet Albert ein gewisses Verantwortungsgefühl, indem er sie erretten und glücklich machen möchte, ein Verständnis zwischen beiden ist jedoch nicht möglich. Der Kultusvorstand Blum, ihr Onkel, rät Malvine, Albert mit einer List zur Verlobung zu bewegen: „Am besten wird es sein, wenn du ihm erzählst, daß du auch unglücklich bist, dann wird er dich vielleicht bemitleiden und wird sich für dich interessieren und wird meinen, du bist eine verwandte Seele.“30 Tatsächlich ist diese List nicht unklug, denn Malvine ist wirklich ein unglückliches Geschöpf, allerdings aus gänzlich anderen Gründen als Albert: Sie ist verbittert, da sie aufgrund ihrer Hässlichkeit noch keinen Mann bekommen hat, ist gierig nach Ansehen und Bewunderung in der Gesellschaft. Im gemeinsamen Eheleben Malvines und Alberts wird deutlich, welche unheilvolle Verbindung zwischen Gruppen- und Einzelschicksal im Roman existiert: Ein jeder ist unglücklich, allerdings jeder für sich allein. Eine Verständigung und Artikulation des Unglücks findet nicht statt, dies wird bereits in dem mangelnden Dialogverhalten im Roman deutlich. Diese Kommunikationslosigkeit scheint paradigmatisch für die deutschmährischen Autoren der Zwischenkriegszeit, auch in Ungars Die Verstümmelten (mit Ausnahme der langen Redeanteile von

30

Winder: Jüdische Orgel, S. 110.

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Karl Fanta) und in Ernst Weiß’ Romanen31 entsteht die Fremdheit zwischen den Protagonisten und den sie umgebenden Figuren und Gesellschaftskreisen sowie die daraus resultierende Isolation und Einsamkeit des Individuums aus der Unfähigkeit, die eigenen Gefühle, Probleme und Ängste mitzuteilen. Die in Winders Jüdischer Orgel auftretenden Figuren werden durch das von jedem einzeln empfundene Schicksal der Einsamkeit und des Unglücks in gewissem Sinne zusammengeführt, ein ‚Gruppenschicksal‘, eine kollektive Erfahrung wird jedoch gerade dadurch nicht möglich. Doch die Isolation Alberts und sein Unglück sind nicht nur im Rahmen des jüdischen Ghettolebens offenbar, sondern sie äußern sich bereits lange vor seiner Rückkehr in die Heimat. Der unmittelbare Grund für seine Selbstzweifel und sein Sühnebedürfnis ist sein hemmungsloser Umgang mit der Sexualität, der seiner Unfähigkeit, den Verlockungen zu entsagen, entspringt. Die tieferliegenden Ursachen hierfür sind jedoch seine Berührungspunkte mit den verschiedenen ihn umgebenden Welten, die ihn sich schließlich keiner zugehörig fühlen lassen. In seinem Sinnen um seine Position zwischen der Sphäre des orthodoxen Judentums in der Enge seiner Herkunft und derjenigen der christlichen Großstädte Wien und Budapest, in denen die Sünde immer gegenwärtig ist, lässt sich leicht eine Analogie zu den Identitätsproblemen erkennen, die von Zeitgenossen und in der Forschung immer wieder für die assimilierten Juden in Böhmen und Mähren zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg konstatiert worden ist.32 Albert führt in Wien ein Doppelleben, das ihn selbst abstößt:

31

Vgl. auch das Schweigen zwischen dem Protagonisten des Augenzeugen und seiner Mutter, das ein Verständnis voraussetzt, das tatsächlich keines ist (vgl. Kapitel 4.2.3 und 5.8.2). Auch Albert findet am Ende des Romans in seiner Beziehung zu Malvine eine Gemeinschaft im Schweigen, die jedoch eine illusorische ist: „Albert sprach nicht mehr als vorher mit ihr, aber sein Schweigen war ein Schweigen des Einverständnisses und der Gemeinschaft. Das kleinste Wort schlug Brücken, aber sie ahnte nur den Sinn, begreifen konnte sie nichts. Als er sie nach drei Monaten fragte, ob sie zufrieden sei, mußte sie verneinen. Eine Grenze war gezogen in der Mitte jeder Brücke, die er baute, diesseits stand sie, er stand jenseits.“ (Winder: Jüdische Orgel, S. 139.)

32

Vgl. etwa Glasenapp/Krobb: „Die Komplexität der kulturellen, sozialen und politischen Lage im Prag des 19. Jahrhunderts stellte für die jüdische Bevölkerung eine besondere Herausforderung dar: die Notwendigkeit, Stellung zu den verschiedensten Orientierungsmöglichkeiten, Identifikationsangeboten und Affiliationsoptionen zu beziehen und über diese Stellungnahme die Entwicklung eines eigenständigen kulturellen Selbstverständnisses zu versuchen.“ (Glasenapp/Krobb: Jüdische Geschichtsbilder, S. 204.) Vgl. auch Stölzls Kapitel zur „schwierige[n] Welt des Jakob und Hermann Kafka“. (Stölzl: Kafkas böses Böhmen, S. 20ff.)

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Er ging ins Rabbinerseminar und fand dort Karikaturen seines Vaters. […] Nur Äußerlichkeiten waren unverändert: lange schmutzige Bärte, unersättliche Augen, übelriechende Mäuler über entheiligten Büchern. Die Atmosphäre widerte ihn an und zog ihn an, er war in ihr verankert und machte sich jeden Tag gewaltsam frei zu einem Jenseits, das Licht, Freude, Frauen, Musik hatte. Am Abend in der Kneipe glitten im Zigarettenrauch zwei Welten ineinander: Tänzerinnen tanzten auf dem Teppich schmutziger Bärte, Chansonetten sangen aus der Bibel, feine Damen aus der Andrassystraße schnitten sich die Haare ab und saßen zusammengepfercht in der hebräischen Schule unter den Augen des Vaters. Er wußte, daß er träumte, er formulierte: in zwei Welten hatte er geblickt, nun störte eine die andere, in Wirklichkeit leugnete er beide. Darin wurde er bestärkt, als er eines Tages einen frommen Rabbinatskandidaten auf den Knien einer Kokotte sah. Es gab ihm einen Ruck: so bin auch ich. […] All dies war sinnlos, war Starrkrampf, Betrug, jeder betrog und jeder ließ sich betrügen, jeder war allein mit seinem Betrug, allein in seinem Starrkrampf.33

Die widerstreitenden Welten der religiös-traditionellen Enge des Kleinstadtghettos und des aufregenden Sündenpfuhls der modernen Großstadt sind zu gleichen Teilen Komponenten von Alberts Identität. Der Konflikt zwischen den beiden Lebenswelten, die in ihren Moralvorstellungen diametral entgegengesetzt sind, überträgt sich auf Albert, seine innere Zerrissenheit ist diejenige des Individuums zwischen Tradition und Moderne. Dabei kann es Albert nicht gelingen, sich von einer der beiden Sphären loszusagen, da er in beiden zu sehr verwurzelt ist und sich dies in einer Art Teufelskreis äußert: Um dem jüdischen Ghetto zu entkommen, rettet er sich in die Vergnügungsstraßen des christlichen Wiens und Budapests; um der Sünde der ausschweifenden Sexualität und der Gottlosigkeit zu entrinnen, flieht Albert schließlich wiederum zurück in die mährische Kleinstadt und in das Amt des gefürchteten und verachteten Vaters. Albert kann auch aus dem Umstand, dass es anderen Rabbinatskandidaten ähnlich ergeht, keinen Trost schöpfen, ein Austausch mit den Leidensgenossen findet nicht statt, vielmehr verschärft ihr Anblick Alberts Abscheu vor sich selbst. Die ‚Sünde‘, die Albert begeht und die über weite Strecken des Romans im Vordergrund steht, ist diejenige der freizügig ausgelebten Sexualität. In den jüdischen Gemeinden Mitteleuropas war der außereheliche sexuelle Kontakt selbst über die Aufklärung hinaus mit noch strengeren Sanktionen belegt als unter Christen, da er vor allen Dingen die eindeutig geregelten Familienstrukturen und Heiratskonventionen gefährdete. Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, bis ins 18. Jahrhundert, galt sexueller Kontakt oder Selbstbefriedigung vor der Ehe als Sünde, die kaum gebüßt werden konnte. Gleichzeitig wurde in den ethischen und rechtlichen jüdischen Schriften kein Zweifel daran gelassen, „daß jemand, der keine Frau hat, nahezu keine

33

Winder: Jüdische Orgel, S. 41f.

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Hoffnung haben kann, den Versuchungen des Fleisches zu widerstehen.“34 Während somit jegliche Art der sexuellen Handlung streng tabuisiert wurde,35 war die Sünde gleichzeitig implizit auch unausweichliches Schicksal des unverheirateten jungen Mannes. Diese Bürde, die auch aufgeklärte, bürgerliche Kreise betraf,36 potenziert sich in Alberts Fall durch die streng orthodoxe Haltung des Vaters, der etwa die Schwangerschaft seiner Ehefrau erst im siebten Monat erfährt, da [d]er Talmud […] den Talmudlehrer, Urenkel, Enkel, Sohn berühmter Talmudisten [hinderte], des Anblicks des Weibes Charlotte sich zu erfreuen, die Ölfarbe des schönen Antlitzes einzusaugen, die festen, prangenden Brüste in die Hände zu nehmen, das Schreiten der hohen, schlanken Beine zu bewundern.37

Der weibliche Körper und die mit ihm einhergehende sexuelle Verlockung wird in Alberts Jugendjahren zu einem sehr ambivalenten Gegenstand; er erweckt Ekel und Grauen und stellt sich als ein Fluch dar, dem nicht entkommen werden kann, gleichzeitig jedoch verspricht er auch das Gefühl von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, die Befreiung von dem beengenden Druck des Talmudstudiums, das der Vater ihm aufdrängen will und paradoxerweise auch eine Reinigung von den unreinen sexuellen Gedanken, die Alberts Geist belasten. Das erste Mal, dass Albert mit Sex konfrontiert ist, als er den Oberkantor, bei dem er während des Gymnasiumsbesuchs wohnt, und seine Frau des Nachts hört, und der erste Sexualakt, den Albert mit einer Prostituierten selbst erlebt, sind verbunden mit unattraktiven, aber dennoch unentrinnbaren weiblichen Geschlechtsmerkmalen, die Erfahrungen sind sowohl traumatisch als auch faszinierend für den Jugendlichen. Die Körperlichkeit der älteren und

34

Katz: Tradition und Krise, S. 139.

35

Vgl. zur Wirkmacht der sexuellen Repression und ihrer Verbindung mit Machtmechanismen Foucault: Der Wille zum Wissen.

36

So befindet sich im Hause von Alberts Schulkameraden Berthold ein Buch, in dem die angeblichen radikalen Folgen der Selbstbefriedigung aufgelistet sind: „Rückenmarkleiden, vollständige Verblödung, langsames Absterben des Körpers, zuletzt qualvoller Tod.“ (Winder: Jüdische Orgel, S. 32.) Berthold jedoch scheint dies nicht weiter zu beeindrucken, da er mithilfe des Zimmermädchens ohne Gefühle der Reue eine neue Möglichkeit der Triebbefriedigung gefunden hat. Die Verdammung der Selbstbefriedigung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein und die gruseligen Märchen ihrer angeblichen Folgen sind selbstverständlich auch nicht auf jüdische Gemeinschaften beschränkt. (Vgl. zur langen Geschichte des Tabuthemas Selbstbefriedigung Bloch: Masturbation und Sexualerziehung.)

37

Winder: Jüdische Orgel, S. 7.

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beleibten Frauen hat eine bedrohliche Komponente: die Kantorsfrau hat einen „großen, roten Frauenmund“, „ungeheure Frauenbrüste“, „ausgespreizte[] Schenkel[]“,38 die Prostituierte wird als „ungeheure[s]“ und „wildes Tier“ beschrieben.39 Gleichzeitigt scheint mit der neuentdeckten Sexualität und der Vereinigung mit dem weiblichen Körper auch eine Befreiung von den erdrückenden Gespenstern der Kindheit einherzugehen. Durch den Tabubruch fühlt sich Albert zum ersten Mal ungebunden und frei von den seine Identität, sein Denken und seine Ängste bestimmenden Mächten, seine Initiation als Mann geht einher mit dem Gefühl, sein Leben selbst bestimmen zu können: „[E]r saß im Mittelpunkt der Welt, jetzt wurde die Welt neu geschaffen.“40 Albert löst sich bei dem Vorgang scheinbar von zweierlei Bereichen, die auf den ersten Blick kontrafaktisch, jedoch in Albert eng miteinander verwoben sind: Zum einen bejubelt er die Tatsache, dass er sich von der Besessenheit vom weiblichen Körper befreit glaubt, indem er die unmittelbare sexuelle Erfahrung gemacht hat. Im Schwimmbad stellt er fest: „Nie hab’ ich das gesehen, dachte er, das Stadtbad war sonst immer die Hölle, das Plätschern der Nachbarkabinen regte mich immer auf, immer mußte ich an nackte Weiber denken, heute zum erstenmal sehe ich mich.“41 Zum zweiten jedoch glaubt Albert sich nun frei vom Talmud und damit verbunden von den Ansprüchen seines Vaters, mit dem er durch den sexuellen Akt gebrochen hat. Er vergräbt die heiligen Bücher tief im Koffer und wirft die Empfehlungsschreiben an Talmudgrößen in seinem Studienort Budapest auf der Reise aus dem Zugfenster. Doch die Euphorie der Freiheit hält nicht lange vor und stellt sich als Illusion heraus, da beide Bereiche, das Drängen nach der religiösen Läuterung durch den Talmud wie die Besessenheit nach dem weiblichen Körper, tief in seinem Inneren verwurzelt sind und er sich von ihnen nicht lösen kann. Durch die Hingabe an die Sünde versucht Albert also, dem Schrecken der orthodox jüdischen Erziehung und den Ansprüchen, die Vater und Religion an ihn stellen, zu entkommen; später, nach der Erkenntnis des eigenen sündigen Verhaltens, versucht Albert andersherum, durch Religiosität zur Sühne zu gelangen. Beides muss im Endeffekt scheitern, da die Bereiche miteinander verzahnt sind. Die Verwobenheit von Alberts Problematiken mit dem Talmud und der weiblichen Sexualität wird zuerst in Winders Sprache offenbar, indem beide Bereiche beinahe wortgleiche Ausbrüche und Gefühle in Albert hervorrufen: Geplagt durch das vom Vater aufgezwungene Studium bricht Albert als Kind zusammen, der Arzt diagnostiziert Platzangst:

38

Ebd., S. 24.

39

Ebd., S. 36f.

40

Ebd., S. 38.

41

Ebd., S. 37.

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„Im erleuchteten Korridor stand Albert, von den Wänden rieselte es, Gestalten rieselten nieder, an den Wänden schwangen Gestalten, schwangen Glocken.“42 Später, als Albert den Sexualakt des Oberkantors und seiner Frau belauscht, heißt es: „Da war ein schwarzes Gewimmel auf und unter dem Teppich, an den Wänden kroch es auf und nieder, kleine und große Russen [Schaben]43 krochen auf das Bett zu, wanderten vom Bett zur Tür, von der Tür zum Bett.“44 Und als Etelka Albert schließlich verlässt, nachdem er ihr als Zuhälter nach Wien gefolgt ist, spürt Albert: „[L]ängst Vergessenes war wieder da, von den Wänden rieselte es, ein Wecker in seiner Brust läutete wahnsinnig.“45 Diese Wahnvorstellungen, die Albert sein Leben lang verfolgen, resultieren aus den Kindheitstraumata, die mit dem Talmud und dem Tabu des weiblichen Körpers untrennbar verbunden sind. Mit der Sünde, die Albert Wolf durch seine sexuellen Ausschweifungen begeht, wächst in ihm das Bewusstsein einer unauslöschbaren Schuld, das im Laufe des Romans bei ihm psychische und physische Konsequenzen trägt; zunächst äußert sich das Schuldbewusstsein in der Selbstwahrnehmung seines Äußeren, das ihn mehr und mehr abstößt,46 danach in Wahnvorstellungen, Selbstgeißelungen und Gefühlen der Selbstentfremdung, die schließlich nach der Eröffnung des Bordells, in dem Etelka für ihn als Prostituierte arbeitet, in vollkommener Desorientierung und dem Verlust des eigenen Selbst gipfeln. Mantraartig wiederholt Albert, der nur noch „wie ein Gespenst“47 umherwandelt, vor sich selbst: „Mein Gott, […] wer ist das, der Mann, der hier steht und in die Sterne blickt, wer ist das.“48 Die Anrufung Gottes verweist bereits auf die enge Verschmelzung seiner Empfindung der Sünde und Schuld mit der Religion, tatsächlich hängt sie weniger mit konkreten jüdischen Moralvorstellungen und Tabus zusammen als mit der Verleugnung der eigenen Herkunft49 und der Ahnen. Diese Ahnen werden vom Vater immer wieder beschworen, aus ihnen leitet er

42

Ebd., S. 18.

43

Vgl. Sternburg: Gottes böse Träume, S. 58.

44

Winder: Jüdische Orgel, S. 23.

45

Ebd., S. 71.

46

Vgl. z.B. die Passage nach der Begegnung mit Berthold, der seine Gedanken an die Sexualität errät und ihn verführen möchte: „Verzweifelt blickte [Albert] auf die Hand nieder, die der andere krampfhaft gehalten hatte, die Hand war plötzlich ein widerwärtiges großes Tier, ekelhaft wie eine Ratte. Gewiß ist auch mein Gesicht verzaubert, alle Menschen blicken mich an, dachte er, mein Gesicht ist ein ekelhaftes Tier“. (Winder: Jüdische Orgel, S. 28.)

47

Winder: Jüdische Orgel, S. 86.

48

Ebd., S. 87, 89 und 91f.

49

Karady nennt als ‚hohe Kosten‘ für das Verlassen der geschlossenen Gemeinde „Fremdheit und Integrationsschwierigkeiten in der christlichen Umwelt und Scham darüber, die

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seine eigene Lebensaufgabe und diejenige des Sohnes als frömmige Talmudgelehrte ab, da sie in der Tradition ihres Geschlechts stehen.50 Für Albert ist diese Abstammung ein Fluch; in seinem Versuch, sich von ihr loszusagen und ein eigenes, selbstbestimmtes Leben zu führen, bemerkt er sowohl an seinem eigenen Verhalten als auch an den Reaktionen der Umgebung,51 dass die Ahnen nicht nur vergangene Traditionen repräsentieren, sondern dass sie auch ein Teil seiner selbst sind, dem er nicht entkommen kann und der ihn in seinem Tun und Fühlen determiniert: „Alles, was ich hasse, ist in mir, ich bin in meiner Ghettohaut eingeschlossen; und wenn ich mir die Haut vom Leib reiße, ist nichts gewonnen, unter der Haut schlägt das Herz meiner Ahnen, und mein Hirn ist meiner Ahnen Hirn.“52 Aus Trotz sagt Albert sich los von den Anforderungen, die sein ‚Geschlecht‘ an ihn stellt, und versucht dadurch, jegliche Brücke zwischen sich und seinem Vater, dem Ghetto und dem Judentum an sich einzureißen: „[D]er Erste und Letzte eines neuen Geschlechts wollte er sein, eines Geschlechtes ohne Namen und ohne Glauben und ohne Zucht, eine Rasse für sich wollte er sein, alle andern zu höhnen, zu schänden, zu verneinen.“53 Ein bewusst gewähltes Außenseitertum klingt hier an, das Bemühen Alberts, sich vollständig von allen Gemeinschaft bietenden Identifikationsräumen zu trennen. Sein Ziel ist keinesfalls die Assimilation an die christlichen Kreise der Großstadt, in der er lebt, sondern eine Dissimilation von jeglichen Kollektiven, eine absolute Individualisierung, die auf Konfrontationskurs steht mit sämtlichen anderen ‚Rassen‘, ‚Geschlechtern‘, ‚Religionen‘ etc. Doch diese muss gerade aufgrund der Abhängigkeit von seiner Herkunft scheitern. Durch die Negierung der Ahnen leugnet Albert gleichzeitig einen nicht unbedeutenden Teil seiner Identität, woraus die oben angesprochene Desorientierung, Alberts tiefes Unglück und Schuldbewusstsein sowie das daraus resultierende Bedürfnis nach Sühne entspringen. Der Versuch einer vollständigen Absage an menschliche Gemeinschaften ist somit unmittelbar gescheitert, statt einer inneren Erfüllung und einer Befreiung von den eige-

eigene Gemeinschaft verlassen zu haben.“ (Karady: Gewalterfahrung und Utopie, S. 149.) 50

Vgl. Winder: „Der Vater schrieb: Ehrliche, gerechte, gottesfürchtige Männer waren dein Großvater und dein Urgroßvater, geachtet war immer der Name unserer Familie, geehrt war immer unser Geschlecht, wir sind arm geblieben, kein Geschäftsmann ist aus unserer Familie hervorgegangen, dem Wort des Allmächtigen zu dienen war uns Lohn genug, warum willst du anders sein, Sohn, warum mußt du verleugnen unser Geschlecht?“ (Winder: Jüdische Orgel, S. 74.)

51

Vgl. etwa auch Etelkas Antisemitismus. (Ebd., S. 88.)

52

Ebd., S. 49.

53

Ebd., S. 74.

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nen Wurzeln wird Albert im Gegenteil wieder umso stärker auf seine Herkunft zurückgeworfen; die Schuld, die Albert auf sich geladen hat, kann nur, so scheint es, durch religiöse Sühne und eigenes Martyrium getilgt werden. Der Weg der Sünde wird als Prüfung apostrophiert,54 die Reinigung soll darauf folgen. Albert kehrt zurück nach Mähren, um dort seine Sühne zu vollenden. Dieser Weg darf jedoch nicht missverstanden werden als eine Reintegration in die jüdische Gemeinde, die etwa Halt und Sicherheit vor der Sünde der säkularisierten Großstadt sowie der eigenen Zerrissenheit und damit eine Rückkehr zum gottesfürchtigen, glücklichen Leben zu geben vermag. Eine Gemeinschaft mit den Gemeindemitgliedern und den Gläubigen strebt Albert nicht an, sondern er fordert das Außenseitertum geradezu heraus: „Nichts wollte er, nur im Tempel sitzen und den Hohn, Haß, Spott der Gemeinde fühlen. Er merkte nicht den Umschwung, der sich vorbereitete, er saß in seinen Gebetmantel gehüllt und fühlte: alle Gerechten verfluchen mich, alle Gerechten hassen mich, Gerechtigkeit wird mir endlich zuteil.“55 Die Gemeinde ist bereit, ihm zu verzeihen, ihn wieder zu integrieren, doch darauf kommt es Albert nicht an, sondern auf eine Sühne vor Gott und sich selbst. Die einzige Figur, mit der Albert interagiert, ist seine Ehefrau Malvine, da er es sich zur Märtyreraufgabe macht, „sie zu lieben, sie, die so häßlich war, daß niemand sie lieben konnte.“56 Die Schilderung des Ehelebens zwischen Albert und Malvine erinnert an einen späteren Roman Ludwig Winders, an den 1931 veröffentlichten Dr. Muff, in dem der gleichnamige Protagonist sich der entstellten Änne annimmt, die durch einen Freier in ihrer Jugend im Gesicht verstümmelt wurde. Muff heiratet sie, da er den Sinn seines Lebens darin erblickt, einen anderen Menschen glücklich zu machen: Wenn ihr Unglück unbehebbar ist, weiß ich, wozu ich mein nutzloses Leben aufbewahrt habe. Wenn ihr Unglück unbehebbar ist, gewinnt mein Leben einen ungeahnten Sinn. Es entsteht mir eine Aufgabe, die mir allein und keinem andern zugedacht gewesen ist. Ich werde versuchen und vollbringen, was kein anderer versuchen und vollbringen kann, weil kein anderer von allen weltlichen Wünschen so vollkommen losgelöst ist wie ich.57

54

Vgl. ebd., S. 92.

55

Ebd., S. 109.

56

Ebd., S. 111.

57

Winder: Dr. Muff, S. 94.

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Diese scheinbar altruistische Haltung, die allerdings im Endeffekt nur dem eigenen Seelenheil bzw. Lebensinhalt dient und keinen der beiden Partner tatsächlich glücklich machen kann, scheitert in beiden Romanen. Muff endet im Selbstmord, Albert als gespenstischer ‚Hausierer mit Reinheit‘ auf den Straßen Wiens.58 Das Ende der Jüdischen Orgel, in dem Albert verhöhnt und verlacht durch fremde Städte wandelt, aber „die Menschen [liebte], weil er ihr Geheimnis wusste und das Geheimnis Gottes“,59 ist unterschiedlich gedeutet worden, gemeinsam ist den Einschätzungen jedoch, dass diese Existenz eine Illusion der Rettung aus den im Roman thematisierten Problematiken darstellt. Oskar Baum hat in seiner Rezension des Romans ironisch bemerkt, dass Albert als ein „Don Quichote der […] Erlösung“ erscheint. Weiter schreibt Baum: „Hier, wo er sich gerettet glaubt, ist er nun wirklich zu jenen entselbsteten Schemen geworden, vor dem er in alle Höllen geflüchtet war.“60 Kurt Krolop weist auch darauf hin, dass weder vom Erzähler noch von der Figur Albert Wolf selbst suggeriert wird, dass es sich bei dem Ende tatsächlich um eine Erlösung handele, woraus auch das Gespenstische der letzten Szene resultiere, weil Albert Wolf nun die Symbolik des „ruhelos durch alle Länder und Zeiten wandernden ewigen Juden“ aufweise.61 Sternburg spricht sogar statt von einer Erlösung vom „Ausbruch seines Wahnsinns, der keine Änderung mehr erwarten läßt“.62 Albert Wolfs ‚Hausieren mit der Reinheit‘ im verschlissenen Gehrock ist jedoch unschwer auch mit Muffs Erscheinung in Verbindung bringen, den der Leser im ersten Kapitel von Ludwig Winders späteren Roman Dr. Muff mit einem einzigen Handschuh, verschmutzter Hose, löchrigen Schuhen und dem festen Glaube an die ‚Würde des

58

Auf den Zusammenhang der beiden Werke Winders hat bereits Sternburg aufmerksam gemacht: „Aus Albert Wolfs düsterer Jugend hat sich […] eine Perspektiv- und Haltlosigkeit entwickelt, die sich (subjektiv) in zügelloser Versündigung niederschlägt und in den Wunsch nach erneuter Kindwerdung und Reinheit mündet. In zweifelhafter Form wird das Ziel im Wahnsinn erreicht. Albrecht Muff ist demgegenüber zu Beginn des Romans eine unschuldige Figur, außerdem unkorrumpierbar und moralisch anspruchsvoll, die jedoch durch eine verbotene Leidenschaft aus dem Gleichgewicht und in (wiederum subjektive) Schuld gerät. […] Die Unerbittlichkeit, mit der Winder seine Protagonisten, den Sünder und den Reinen, gleichermaßen stürzen läßt, erschließt sich erst durch die gemeinsame Betrachtung in vollem Umfang.“ (Sternburg: Gottes böse Träume, S. 107.)

59

Winder: Jüdische Orgel, S. 151.

60

Oskar Baum: Der ewige Flagellant. In: Der Jude (Mai 1923), S. 298. Zitiert nach Krolop:

61

Krolop: Ludwig Winder, S. 182.

62

Sternburg: Gottes böse Träume, S. 30.

Ludwig Winder, S. 180.

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menschlichen Seins‘ kennen lernt.63 Muff hat somit bereits zu Beginn des Romans eine Ebene erreicht, die Albert Wolf erst am Ende der Jüdischen Orgel findet; an dieser Haltung, die ihn scheinbar von den Belangen der menschlichen Gemeinschaft abnabelt, geht Muff jedoch schließlich zugrunde, weil die Bedürfnisse des innersten Selbst nach Bindung, Liebe und Gemeinschaft nicht unterdrückt werden können, er sich in eine andere Frau verliebt, dadurch in seinem Selbstverständnis und in seiner Aufgabe Änne gegenüber gescheitert ist und sich erhängt. Die beiden Romane können komplementär gelesen werden, sie greifen ineinander und verweisen auf die zyklische Abfolge von Schuld und Sühne, Selbsterkenntnis und Identitätsverlust durch Wahnsinn oder Tod. In der Gewichtung der Problematiken, die das Individuum im Spannungsfeld zwischen eigener Identität und Gesellschaft erfährt, unterscheiden die Romane sich allerdings stark, was mit ihrer Entstehungs- und erzählten Zeit eng zusammenhängt. In der Jüdischen Orgel wird der erste Weltkrieg nicht thematisiert und die Schilderung des Wiener und Budapester Milieus verweist auf die Vorkriegszeit. Die literarische Thematisierung der unmittelbaren Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in Romanen, die zu Beginn der 20er Jahre erschienen, ist keine Seltenheit in der deutschsprachigen Literatur, man denke an die berühmten Beispiele von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften und Thomas Manns Zauberberg. Was die Romane gemeinsam haben, ist der Handlungsabbruch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, das ‚Aus-den-Augen-Verlieren‘ des Protagonisten.64 Der erste Weltkrieg erscheint hier als eindeutige Zäsur, als eine für den Erzähler unübersteigbare Hürde. Albert Wolf ist in seiner Entwicklung, Erziehung und Motivation eine mährisch-jüdische Figur der Vorkriegszeit, seine Geschichte ist vor Kriegsausbruch zu Ende erzählt. Im Roman Dr. Muff lässt der Erzähler jedoch seine Figuren über die Schwelle des Krieges gehen, die Erzählhandlung läuft zwar nicht über den Krieg hinweg, sondern setzt erst 1925 ein, durch die Analepsen wird jedoch deutlich, dass der Krieg massive Auswirkungen auf die Gesellschaft und die einzelnen Figuren gehabt hat, sodass sich neue soziale und industrielle Strukturen gebildet haben, denen es sich anzupassen gilt, was bei weitem nicht allen Figuren gelingt. Das moderne

63

Krolop konstatiert auch, dass Albert Wolf zum Ende des Romans Die jüdische Orgel eine Aufgabe angenommen hat: „„Groß“ an der Symbolik dieser Schlußfigur wirkt schließlich auch der in ihr gestaltete Verzicht auf eine voreilige Harmonisierung des Widersprüchlichen, die Standhaftigkeit des Bewusstseins, daß mit der Erkenntnis noch keine Lösung gegeben, sondern erst eine Aufgabe gestellt ist, die den, der sich ihr unterzogen hat, nicht zur Ruhe kommen läßt.“ (Krolop: Ludwig Winder, S. 182.) Eben eine solche Aufgabe sucht und findet Muff auch in dem Bestreben, Änne glücklich zu machen, woran er schließlich jedoch scheitert.

64

Vgl. Mann: „Und so, im Getümmel, in dem Regen, der Dämmerung, kommt er [Hans Castorp] uns aus den Augen.“ (Mann: Zauberberg, S. 984.)

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| 241

kapitalistische System der Großunternehmen und Börsenspekulationen, das in Winders Die nachgeholten Freuden ausführlich dargestellt wird und in dem nicht mehr Adel und Boden eine Rolle spielen, sondern vor allen Dingen das Geld, eröffnet nun dem skrupellosen Emporkömmling alle Möglichkeiten, während menschliche Tugenden in den Hintergrund rücken. Die inneren Probleme, mit denen Albert Wolf in der Vorkriegszeit zu kämpfen hat, die enge Bindung an die religiöse und soziale Herkunft, sexuelle Verfehlungen, Schuld und Sühne wirken in einer Umgebung obsolet, in der Untreue, Macht- und Geldgier gegen die Menschlichkeit ausgespielt werden. Dr. Muffs selbstloses Streben, das in vielen Zügen an Alberts spätere Bestrebungen erinnert, seine sich selbst auferlegte Bestimmung, Änne zu retten und glücklich zu machen, obwohl er sie nicht liebt, wirkt im Rahmen des im Roman gezeichneten Milieus der 20er Jahre zunächst fremd und unverständlich und so wird er auch von den anderen Bewohnern Kirstadts und den Arbeitern in Garbans Fabrik wahrgenommen.65 Für den Leser allerdings erschließt sich seine Motivation ziemlich genau in der Mitte des Romans, indem durch eine Rückblende die Zäsur des Krieges deutlich wird: Jeder Schuß, der einen seiner Soldaten traf, jeder Schuß, den einer seiner Soldaten abfeuerte, schmerzte ihn tiefer. Er begann, über die Ursachen menschlichen Unglücks nachzudenken. Er dachte über seinen Vater und über seine Mutter nach. Er dachte über den Krieg nach. Jedes Unglück fand er, entsteht dadurch, daß ein Mensch aufhört, an die Würde des menschlichen Seins zu glauben. Die Menschen, die aufgehört haben, an die Würde des menschlichen Seins zu glauben, haben den Krieg entfesselt. Als mein Vater aufhörte, an die Würde des menschlichen Seins zu glauben, verwendete er bei einem Hausbau minderwertiges Material, um rasch reich zu werden, auf die Gefahr hin, das Leben seiner Bauarbeiter und sein eigenes Leben zu opfern. Als meine Mutter aufhörte, an die Würde des menschlichen Seins zu glauben, warf sie sich weg.66

Für Dr. Muff ergibt sich hieraus die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Lebens und einer Aufgabe des individuellen Strebens für das Glück anderer, obwohl er von der Anlage der Figur her ein Außenseiter und Einzelgänger ist. Für Albert Wolf in der Jüdischen Orgel scheint ein Leben innerhalb der Gemeinschaft dagegen unmöglich, das Individuum muss den Weg seiner Selbsterkenntnis und seiner Erlösung von der Schuld alleine gehen. In seinem Sexualverhalten wird dies besonders deutlich:

65

Auch Peter Dupic in Winders Roman Die nachgeholten Freuden trägt ähnliche Züge, allerdings ist seine Handlungsweise eher nachvollziehbar, da er gleichzeitig gegen und für seinen Vater kämpft und die Menschen in Boran vor ihm beschützen möchte.

66

Winder: Dr. Muff, S. 152f.

242 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM

„Wenn alle Menschen mir gleichen, dachte [Albert], was kann ein Mensch dem andern bedeuten. Wie kann die Welt weiterbestehen, wenn wir alle ungeheurer Magie unterworfen sind! Wenn ich aber anders als die andern bin: kann es jemals eine Gemeinschaft geben, wo ich bin?“67 Der erste Weltkrieg und die Erfahrung der sozialen Veränderungen in den 20er Jahren verschieben die Perspektive Winders von der reinen Problematik des Individuums auf Gesellschaftsfragen68 und die Stellung des um seine Selbsterkenntnis ringenden Individuums innerhalb der menschlichen Gemeinschaft; die Erlösung des Individuums erscheint nicht mehr als individuelle Aufgabe der inneren Reinigung und Sühne, sondern ist nur mithilfe der Interaktion in der Gemeinschaft möglich. Der Umstand, dass jedoch in beiden Konzepten, im individuellen Weg Albert Wolfs und im altruistischen, gesellschaftlichen von Dr. Muff, weder Glück noch innerer Frieden gefunden werden können, und dass schließlich beide Protagonisten scheitern, zeichnet ein desillusionierendes Portrait der modernen Gesellschaft.

67

Winder: Jüdische Orgel, S. 48.

68

Winders sozialkritischer Roman Die nachgeholten Freuden (1927) setzt sich intensiv mit den Missständen der Zwischenkriegsgesellschaft auseinander.

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5.3 F.C. W EISKOPF : D AS S LAWENLIED Weiskopfs „Slawenlied“ ist einer der wenigen deutschböhmischen und deutschmährischen Romane, die sich explizit mit den Ereignissen in Prag zur Zeit der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik auseinandersetzen. Der Roman weist eine Mischform aus politischer wie persönlicher Coming-of-Age-Geschichte auf, indem der Protagonist im Prag der Jahre 1917-1920 zur Zeit der nationalen, klassenspezifischen und politischen Auseinandersetzungen seinen individuellen Ort der Zugehörigkeit sucht und schließlich im Aufgehen in das proletarische, internationale Kollektiv findet. Durch das besondere Spannungsverhältnis zwischen und der gleichzeitigen Verwobenheit von Deutschen und Tschechen, Juden und Christen sowie Bürgertum und Arbeiterklasse in Prag bezieht das Re-Orientieren des Protagonisten im modernen multikulturellen Raum die Pluralität der verschiedenen Möglichkeiten und eine starke Selbstreflexion des Erzählers ein, wodurch der Roman eine sich auf das Individuum rückbeziehende Komponente erhält, welche die rein funktionalistische, kommunistische Aussage des Textes immer wieder bricht. F.C. Weiskopfs Erstlingsroman Das Slawenlied beschäftigt sich, wie der Untertitel der Erstausgabe von 1931 bereits vorwegnimmt, mit den ‚letzten Tagen Österreichs und den ersten Jahren der Tschechoslowakei‘. Der autodiegetische Erzähler des Romans berichtet von seinen Erlebnissen und Wahrnehmungen ausgehend vom Jahr 1917, in welchem er in den Ersten Weltkrieg eingezogen wird, über den Umsturz in Prag und die Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik bis hin ins Jahr 1920, in dem zum einen die nationalen Streitigkeiten wieder aufflammen, zum anderen aber der Protagonist in der kosmopolitischen Bewegung des internationalen Kommunismus ein Zugehörigkeitsgefühl findet, das er in der zerrissenen Stadt zuvor vermisst hatte. Im Roman verarbeitet Weiskopf seine eigenen Erlebnisse, die biographischen Parallelen zwischen Autor und Erzähler sind deutlich; Weiskopf ist ebenso wie der Protagonist 1900 geboren, von der Abiturbank in die Armee geholt, dann aber mit seinem Regiment nicht an der Front, sondern in Prag zur Erhaltung von Ruhe und Ordnung eingesetzt worden, und hat die revolutionären Umwälzungen in der tschechoslowakischen Hauptstadt in den Jahren 1918-1920 aktiv miterlebt. Authentizität und Unmittelbarkeit des Berichteten erhält der Roman zusätzlich mithilfe häufig eingeflochtener „Proklamationen, Artikel und Bekanntmachungen […], mehr oder weniger gekürzt, nach den Originalen beziehungsweise deren Übersetzungen zitiert“.1 Diese autobiographischen Referenzen sowie der dokumentarische Charakter des Romans verweisen auf eine vermeintliche Historizität des Textes. Die Versatzstücke des Textes hängen eng mit Weiskopfs eigener Forderung nach einem Übergang

1

Weiskopf: Slawenlied, S. 234 (Anmerkung zur Erstausgabe).

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vom bürgerlichen zum proletarischen Roman zusammen. In einem Rundfunkgespräch über die Funktionen, Aufgaben und die Form des proletarischen Romans äußert sich Weiskopf folgendermaßen: Der Aufbau des proletarischen Romans dürfte ein anderer als der des bürgerlichen Romans sein. Es ist schon jetzt eine Sprengung der strengen Romanform zu konstatieren, starke Anklänge an das Chronikhafte, an die Selbstbiographie, an den Bericht, an die Rede. […] Stofflich wäre zu sagen, daß neben dem Gebiet des Psychologischen, das vom bürgerlichen Roman erobert wurde, jetzt die Eroberung des breiten Gebietes des kollektiven Handelns und der kollektiven Gefühle hinzukommt.2

Das Slawenlied setzt dieses Diktum nicht konsequent um, was vor allen Dingen in der Zeichnung des Protagonisten als Individuum begründet liegt. Der Protagonist, ohne konkret den Anspruch zu stellen, ein unparteiischer Beobachter seiner Zeit zu sein, zeichnet sich auf weiten Strecken des Textes durch eine passive, außenstehende und beobachtende Position aus, aus der er die gesellschaftlichen Umwälzungen der Revolutionsjahre schildert. Er erscheint weder als Stereotyp einer bestimmten sozialen Klasse noch als Vertreter eines politischen oder nationalen Lagers. Zwar wird er als Deutscher der Prager Mittelschicht beschrieben, doch äußert sich in dieser Herkunft kein Zugehörigkeitsgefühl und kein stereotypes Schicksal eines Kollektivs, sondern gerade das Gegenteil: Seine Erfahrungen und Gedanken identifizieren ihn als Außenseiter, indem sie individueller Natur sind. Er bewegt sich in verschiedenen Kreisen, die sich feindlich oder zumindest kontrastierend gegenüberstehen: Kontaktpunkte bestehen zum Judentum und Christentum, zu Deutschen und Tschechen, zum Bürgertum und zum Proletariat, zum linksrevolutionären und zum völkisch-nationalen politischen Spektrum. In jeder dieser Begegnungen verhält er sich zunächst als objektiv Berichtender, ohne eine klare Position zu beziehen, auch wenn sich in seine Beschreibungen vor allen Dingen der Prager deutschen Bürgerschicht bereits ironische Untertöne mischen. Seine Haltung ändert sich mit seiner Politisierung und dem Aufgehen in der kommunistischen Idee nach dem Zusammenbruch der k.u.k.-Monarchie, die ihm eine Integrationsmöglichkeit in die proletarische Masse bietet. Doch auch hier bleibt er zu einem gewissen Maße ein Außenseiter, der sich nicht vom Massenerlebnis vollständig einnehmen lassen kann, sondern er ist von Zweifeln an der Wirksamkeit seines eigenen Tuns und am durch die Revolution zu erreichenden Ziel durchdrungen. Der Roman zeichnet sich durch eine interessante Mischform aus, der Schluss verweist auf seine politische Instrumentalisierung im Sinne des proletarischen Romans mit kommunistischer, fast propagandistischer Aussage, aber die individuellen Selbstreflexionen des Protagonisten, die Thematisierung rein persönlicher

2

Weiskopf/Hirschfeld: Um den proletarischen Roman, S. 215.

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Probleme und Anliegen sowie die differenzierten Beschreibungen der verschiedenen Klassen, politischen Strömungen und Nationalitäten im Roman, die jeweils auch mehr durch Individuen als durch Stereotypen repräsentiert sind, brechen die reine Funktionalisierung des Romans wieder. Besonders in der Beschreibung der Massen und Massenerlebnisse im Roman äußert sich im Slawenlied eine Diskrepanz zwischen seinem Romanerstling und den von Weiskopf selbst aufgestellten und sowohl von kommunistischen Schriftstellern als auch Institutionen etwa der Weimarer Republik geforderten Kriterien des proletarischen Romans,3 nämlich, „daß die Motoren der Romanhandlung nicht mehr private, sondern große soziale, wirtschaftliche oder Klassenkonflikte sein werden, daß sich diese großen Konflikte aber widerspiegeln im Leben einzelner Menschen und Gruppen“.4 Dies wurde auch von kommunistischen Rezensenten kritisch angemerkt, die eine eindeutigere Stellungnahme Weiskopfs vermissten: „Hier geht ein Staat, das alte Österreich, fast ohne jedes Zutun von außen in Trümmer… Ist das wirklich die Geschichte jener Umwälzungen, die doch unter dem Druck der Masse standen […]?“5 Die nicht im Vordergrund stehende Ausrichtung des Romans am kollektiven Empfinden der kommunistischen Bewegung, das erst am Ende des Romans in vollem Ausmaß evoziert wird, ist vor allen Dingen den Erfahrungen des Protagonisten mit den besonderen Umständen in Prag zur Zeit des Ersten Weltkrieges, der Revolution und der Gründung der Tschechoslowakischen Republik geschuldet. Im Gegensatz zur Situation in Deutschland ist der von politischen und Klassenfragen dominierte kommunistische Diskurs noch um den nationalen Faktor ergänzt, der mit ersteren in engem Zusammenhang steht, die Verortung des (pragerdeutschen) Individuums im proletarischen Kollektiv allerdings erheblich erschwert. Aus diesem Grund nimmt die Reorientierung des Protagonisten in Bezug auf seine Selbstverortung im Roman einen sehr breiten Raum ein. Der Identitätsprozess des Erzählers erhält hierdurch keine allgemeingültige Komponente, sondern bleibt ganz konkret auf die individuelle Situation des Protagonisten bezogen, die durch die persönlichen Erlebnisse zwischen

3

Vgl. z.B. Möbius: Progressive Massenliteratur? und Rülcker: Ideologie der Arbeiterdich-

4

Weiskopf/Hirschfeld: Um den proletarischen Roman, S. 216.

5

Franz Braun in einer Rezension aus Linkskurve 1931, Nr. 9. Zitiert nach Václavek: F.C.

tung.

Weiskopf und die Tschechoslowakei, S. 17. Václavek erklärt die fehlende Darstellung der Macht der Masse mit Weiskopfs Ressentiments gegen die Regierung Masaryk, die eine Legende der Revolution schuf, „deren Ziel es war, die tschechische Bourgeoisie und ihre nationalen Verdienste zu glorifizieren. Weiskopf negiert diese Legende, dieses offiziell-feierliche Verhältnis zum Oktober 1918, und bagatellisiert deshalb auch die Ereignisse, die Arbeiter – und sozialistischen Faktoren dabei.“ (Ebd., S. 18.)

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Deutschen und Tschechen, Juden und Christen, deutschnationalen Lehrern und kommunistischen, tschechischen Soldaten etc. stark geprägt ist. Der unmittelbare Bezug zwischen der Entwicklung des Protagonisten und dem Chronotopos der Handlung, der die vermeintlich kollektive Besinnung auf die Notwendigkeit des Kommunismus zu einer persönlichen gerinnen lässt, wird durch die Wechselwirkung zwischen dem Reifen des Protagonisten und den Veränderungen im Stadtbild Prags und der sich wandelnden Perspektive auf die Stadt deutlich. Als Prager Deutscher ist der Protagonist von den tschechischen Massen, die 1918, vor Kriegsende, beginnen, sich als Opposition zu formieren und zu organisieren, ausgeschlossen. Auf eintägigem Heimaturlaub von der Armee bemerkt er erstmals die Veränderungen, die in seiner Heimatstadt Prag vor sich gehen, denn „Die Tschechen rührten sich wieder!“6 Das Versammlungsverbot, das von der k.u.k.-Regierung unter Androhung von Waffengewalt verhängt wird, kann die Bildung von kollektiv empfindenden und auftretenden einzelnen Passanten, die in ihrer Gesamtheit als feindselige Masse gegenüber den Deutschen erscheinen, nicht verhindern. Die heimatliche Stadt wird für den Deutschen zum Feindgebiet, indem er sich als Fremder zu behaupten hat und Anfeindungen ausgesetzt ist. Das Ausgeschlossensein aus der Masse resultiert in einem Gefühl der Fremdheit, Heimat- und Orientierungslosigkeit; dies sind Motive, die häufig wiederkehren: Ich begann schneller zu gehen. Ein Gefühl des Verlaufenseins unter all den Menschen, die mir fremd waren, überfiel mich.7 […] Wieder, wie schon einmal, überfiel mich ein Gefühl des Verlaufenseins; die Unruhe der Menschen rundum steckte mich an, ohne mich jedoch mit ihnen zu verbinden. Ich kam mir sehr einsam und verlassen vor.8 […] Aber sie [die Stadt] war ihnen schon fremd geworden, hatte sich abgekapselt, war unzugänglich für alle, die nicht mehr zu ihr gehörten.9 […] Ich spüre die Erwartung und Hoffnung, die Ungeduld und das Abschiednehmen ringsum und fühle zugleich, daß ich daran nicht teilhabe. Aber das bedrückende Gefühl des Ausgeschlossenseins und Nichtdazugehörens dauert nur einen Atemzug lang.10

6

Weiskopf: Slawenlied, S. 53.

7

Ebd., S. 54f.

8

Ebd., S. 58.

9

Ebd., S. 87.

10

Ebd., S. 102.

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In diesen Beschreibungen äußert sich ein doppelter Desorientierungseffekt: Auf der Oberfläche erscheint er in der Beschreibung der Stadt Prag, die als verändert wahrgenommen wird und dem Protagonisten ein Gefühl der Heimatlosigkeit vermittelt, indem er sie zwar als Geburtsstadt, aber nicht mehr als Heimat erkennen kann, da sie sich, und somit auch die zuvor vertrauten Orte in ihr, ihm verschließen. Dem liegt jedoch eine soziale Desorientierung zugrunde, die sich in den Veränderungen der Stadt artikuliert und der Umbruchsituation im letzten Kriegsjahr geschuldet ist. Es lohnt sich, sowohl den räumlichen als auch den sozialen Faktor genauer zu untersuchen, weil nur durch das Inbetrachtziehen beider Phänomene die erfolgreiche ReOrientierung des Protagonisten verständlich wird. Bereits am Tag seiner Einziehung in den Kriegsdienst beginnt der Protagonist, neue Dinge an Prag zu bemerken, die er bislang nicht wahrgenommen hatte, weil sie sich seinem Fokus entzogen hatten. Eine unscheinbar wirkende Stelle im Roman macht auf den sich neu formierenden Blickwinkel des Protagonisten aufmerksam: Während er auf seinen Freund Hans wartet, lässt er sich in einem Torbogen nieder und erblickt die Häuser auf der anderen Straßenseite: „Die Häuser gegenüber waren mir gut bekannt. Fast täglich war ich auf dem Weg zur Schule an ihnen vorbeigekommen. Aber erst heute entdeckte ich ihre oberen Stockwerke und Dächer.“11 Durch die Einberufung zum Militär ist der Protagonist abgeschnitten von den anderen Bewohnern der Stadt, zu denen er vorher gehört hatte, die eilig ihren Geschäften nachgehen und keinen Blick für die Dächer ihrer Stadt haben. Die neue Lebenssituation, die seine Lage verändert, beeinflusst auch seinen Fokus, indem Bereiche in den Blick geraten, die zwar schon immer dagewesen sind, jedoch nicht wahrgenommen wurden. Die Stadt Prag und ihre literarische Beschreibung sind in zweifacher Hinsicht mit dem Protagonisten eng verbunden: Zunächst spiegelt sich in ihr und in der Wahrnehmung von ihr die persönliche Veränderung des autodiegetischen Erzählers, andererseits jedoch wandelt sich die Stadt auch selbst, parallel und in Analogie zum Protagonisten. Der individuelle Heranreifungsprozess und der politische Umbruch der Stadt sind somit ineinander verzahnt: ersterer beeinflusst den auf die Stadt gerichteten Fokus, während letzterer wiederum als Motor für die Entwicklung des Erzählers gilt. Noch bevor eindeutig sichtbare Änderungen durch die Tschechen nach Kriegsende an der Stadt vorgenommen werden, so wie etwa das Entfernen der österreichungarischen Wappen und der deutschen Inschriften an Geschäften und öffentlichen Gebäuden, nimmt der Protagonist den sozialen Wandel unbewusst wahr, indem er sich, ohne sich dabei auf ein bestimmtes Ereignis beziehen zu können, als Fremder innerhalb der Stadt fühlt. Dies bedingt sein Verhalten auf der Straße und in seiner

11

Ebd., S. 28.

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Familie und seinem Freundeskreis, da es in ihm Zweifel an dem Festhalten an der k.u.k.-Identität der Prager Deutschen hervorruft. Dabei sind Segregationen im Stadtraum Prags nichts neues für den Protagonisten: Bereits vor den Veränderungen durch den Krieg erlebt der Protagonist ihre Auswirkungen, indem das jüdische Krankenhaus, in dem sein bester Freund Hans wohnt, nicht für ihn zugänglich ist. Der Ausschluss aus diesem Raum wird jedoch in seinen Implikationen und Konsequenzen nicht mit der Inklusion und Exklusion von in diesem Falle religiösen Kollektiven in Verbindung gebracht, sondern erhält für den noch jugendlichen Erzähler eine persönliche Konnotation. Er verhindert eine barrierenfreie Freundschaft und verleiht dem Ort die Aura des Geheimnisvollen und zu Erobernden, ohne jedoch Furcht oder Feindschaft zu suggerieren. Bedeutsam ist, dass dieses ‚Heiligtum‘ sich an dem Tag öffnet, an dem der Krieg vorbei ist und sich andere Segregationsräume in der Stadt gebildet haben, die nun auch vom Protagonisten in ihrer sozialen Bedeutung ergriffen werden. Die alte Ära der Donaumonarchie ist mit dem Ende des Krieges ebenfalls zu Ende gegangen und mit ihrem Untergang verändern auch die altbekannten Räume Prags ihre Struktur. Während sich zuvor lange verschlossene Türen öffnen und dem Protagonisten hierdurch die überaus wichtige Bekanntschaft mit Hans’ kommunistischen Onkel Rudolf ermöglichen, so erlebt der Protagonist andererseits neu entstandene Exklusionen, die mit dem Raum der Stadt eng zusammenhängen. Bei einer Patrouille durch Prag kurz vor Kriegsende schildert er eine Szene, in der das Verhalten der Masse gegenüber den Soldaten keinen Zweifel daran lässt, dass diese unerwünscht sind: Auf den Gehsteigen gerannen die Ströme der Fußgänger zu reglosen Klumpen. Wir marschierten durch ein dichtes Spalier. Die Menge stand ohne Bewegung. Nur hier und da winkte uns jemand zu; das war ein Deutscher. […] Eine taube, hinterhältige Stille breitete sich vor uns aus. Wir tappten unsicher und mißtrauisch in sie hinein, dämpften unwillkürlich den Schritt und hielten die Spaten fest, damit sie nicht klapperten. Vor den Eingangstüren der meisten Geschäfte schrien rot-weiße Zettel auf tschechisch herüber: „Jeder zu den Seinen! Wer nicht mit uns geht, der ist gegen uns!“ Es war eine feindliche Stadt, durch die wir marschierten wie fremde Besatzungstruppen.12

Die implizite Drohung richtet sich nicht nur gegen das Militär, das in österreich-ungarischem Dienst steht, sondern überhaupt gegen die ‚Deutschen‘, wobei hier keine Unterscheidung zwischen Österreichern, Deutschen und deutschsprachigen Pragern

12

Ebd., S. 82f.

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stattfindet. Die ehemalige Vormachtstellung und ihre Alterität gegenüber den Tschechen stigmatisieren sie als Feindbild der neuen machthabenden Gruppierung der revolutionären Tschechen. Die Abschottung zwischen Deutschen und Tschechen und die damit einhergehende räumliche Segregationhat eine doppelte Komponente: Erstens, indem geschildert wird, dass die deutsche Bevölkerung in bestimmten Straßen und Bezirken angesiedelt ist und somit vor dem Ersten Weltkrieg eine Segregation stattgefunden hat, die von der deutschen Bevölkerung ausging und sich, besonders aufgrund ihrer besseren wirtschaftlichen und sozialen Stellung von der tschechischen separiert hat.13 Und zweitens, indem nun neue trennende Mechanismen greifen, da die zunächst freiwillige Segregation durch Exklusion zu einer erzwungenen wird: Ich mußte dann immer an unsere Straße denken, wie ich sie vor kurzem gesehen hatte, scheinbar unverändert und doch völlig anders geworden, – und mir schien, die Deutschen hier lebten alle in einer solchen Straße: sie glaubten wahrscheinlich, daß sie die Stadt noch kannten, aber sie war ihnen schon fremd geworden, hatte sich abgekapselt, war unzugänglich geworden für alle, die nicht mehr zu ihr gehörten… nur ahnten sie es noch nicht.14

Die Desorientierung des Protagonisten über weite Strecken des Romans ergibt sich nicht lediglich aus dem Umstand, dass die Revolution und die Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg einen Wechsel in den Majoritätsverhältnissen Prags herbeigeführt haben und die deutsche zahlenmäßige Minderheit sich nun auch politisch in die Marginalität gedrängt sieht. Sie hat tiefere Wurzeln als die aktuelle gegebene Situation, indem diese lediglich die Brüchigkeit der veralteten österreichischen Identitätskonzepte aufdeckt. Für den Protagonisten, der im Umfeld des liberalen deutschen Prager Bürgertums aufgewachsen ist, das sich den neuen Verhältnissen nicht anpassen kann, bedarf es einer Loslösung von den essentialistischen Vorstellungen der Zugehörigkeit zu einer im Untergang begriffenen Schicht. Der Soziologe Helmut F. Spinner15 unterscheidet in Bezug auf das soziale Handlungsspektrum des Menschen zwischen dem Konzept des ‚Identikers‘ und dem des ‚Orientierers‘, wobei ersteres in seiner letzten Konsequenz ein theoretisches Konstrukt ist, dessen reale Ausformung lediglich in der Maschine bzw. dem Computer zu beobachten ist. Der Identiker ist durch eine starke Bindung an eine personale oder kollektive Identität charakterisiert, die Kommunikation besonders in einem inter- oder transkulturellen Rahmen erheblich erschwert. Wichtige, von Spinner angeführte Merkmale des Identikers sind hierbei der normative Charakter seines Handelns, das

13

Vgl. zur Ansiedlung der Deutschen und Tschechen in bestimmten Stadtteilen Prags

14

Weiskopf: Slawenlied, S. 87.

15

Vgl. Spinner: Der Mensch als Orientierungswesen.

Adam: Demografischer Wandel in Prag, S. 71f.

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als einzig richtiges betrachtet wird und die damit einhergehende geringe Kontingenz, also eine erhebliche Einschränkung der möglichen Lebenserfahrungen und des Reaktionsspielraums. Die Auffassung einer essentialistischen Identität, wie sie im Modell des Identikers aufscheint, ist immer verbunden mit dem Konzept der Alterität und somit mit einem ständigen Konfliktpotential behaftet: „Identifikationen […] sind auch bei toleranter Handhabung letztlich immer Abgrenzungs-, Ausschließungs- und oft auch Abstoßungsstrategien […]. Identität ist ein alternativenfreies Punktualisierungskonzept.“16 Diese Eigenschaften treffen auf einige, entweder negativ oder lächerlich gezeichnete Figuren im Slawenlied zu. So können die schwarz-gelben Lehrer und Doppelmonarchie-Anhänger Dorfleuthner und Trenk als Identiker gelten, indem sie ihre nationale und personale Identität am alten Österreich ausrichten und auch nach dessen Zusammenbruch nicht in der Lage sind, sich den neuen Begebenheiten anzupassen bzw. Toleranz und Empathie gegenüber Andersdenkenden oder den Tschechen zu entwickeln. Dorfleuthner erscheint dem Protagonisten hierbei als Karikatur des wandlungsunfähigen Menschen der älteren und überkommenen Generation, als ein Gespenst der untergegangenen Monarchie: „Ich sehe hochgezogene ängstliche Schultern, eingeknickte Beine und einen wackelnden Kopf. Ich sehe trübe Augen, rote Wangen und ein rasiertes Kinn, das zwischen zwei Bartflügeln rosig hervorleuchtet wie das Hinterteil einer Zelluloidpuppe.“17 Trenk dagegen verkörpert ein anderes Negativbild des Identikers. Er wird nicht der Lächerlichkeit preisgegeben, aber als boshaft beschrieben: „Er brauchte immer jemanden, den er ducken konnte, um sich und den anderen diese Überlegenheit und Autorität zu beweisen, und verfolgte alle, bei denen es ihm nicht gelang, mit einer versteckten, aber nachhaltigen Feindseligkeit.“18 Mangelnde Kontingenz und Selbsttäuschung sowie das Gestalten und Aufrechterhalten der eigenen Identität anhand von Alteritätskonzepten charakterisieren demnach die Vertreter des alten Österreich. Im Gegensatz dazu zeichnet sich der Protagonist durch gänzlich andere Attribute aus: Selbstzweifel, Toleranz und hohe Kontingenz. Er erscheint eher, zumindest bis kurz vor Ende des Romans, wo es ihm gelingt, in der kommunistisch-revolutionären, kosmopolitischen Idee eine Aufgabe und eine Art Heimat zu finden, als noch desorientierter ‚Orientierer‘. Wie in Punkt 4.1.2 bereits thematisiert, gibt es viele verschiedene mögliche Ursachen für Desorientierungserscheinungen in modernen Gesellschaften, wobei „als sozusagen unausgepacktes Ursachenpacket das Problem der kollektiven Identität(en)“19 immer wieder als Ausgangspunkt dient. Wahrscheinlich ist, dass nicht ein einzelnes Kriterium hinreichend ist für die Erklärung einer Orientierungslosigkeit,

16

Ebd., S. 52f. (Kursiv im Original.)

17

Weiskopf: Slawenlied, S. 113.

18

Ebd., S. 155.

19

Spinner: Der Mensch als Orientierungswesen, S. 43.

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sondern dass mehrere Momente akkumulativ wirken. Auch im Slawenlied lässt sich die Desorientierung des Protagonisten nicht durch einen bestimmten Lebensumstand erklären, sondern durch das Zusammenwirken mehrerer, die teilweise typisch sind für die junge Erwachsenengeneration Mitteleuropas nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Zu nennen wären z.B. der Generationenkonflikt, die unsichere persönliche wie politische Lage nach Kriegsende und der Wegfall der alten Autoritäten. Eine Möglichkeit der jungen Generation, der Orientierungskrise zu entkommen, stellt die Annäherung an nationalistische Gruppierungen dar, die z.B. in der Weimarer Republik auch Einfluss auf das rapide Wachstum der SA gehabt hat. In Prag jedoch fällt durch die Transkulturalität im Besonderen für die jüngere Generation der radikal nationale Bezugsrahmen fort.20 Das ambivalente Verhältnis des Protagonisten zu den Tschechen wird im Roman an verschiedenen Stellen thematisiert: Ja, so war es: man lebte in derselben Stadt; man sah die andern täglich; man hörte sie; man sprach, wenn auch nur notgedrungen, ihre Sprache; man hatte immer wieder mit ihnen zu tun, – aber man liebte sie nicht, kannte sie nicht, wollte von ihnen nichts wissen. Selbst beim Militär, wo man sich mit ihnen vertrug; wo man sogar zu ihnen zu halten begann, weil sie ganz besonders geschurigelt wurden (schließlich war man ihnen ja doch irgendwie nahe, näher vielleicht als den Deutschen aus dem „geschlossenen Sprachgebiet“ in den Sudetenbezirken), – selbst da blieb man ihnen im Grunde doch fremd!21

Das Ende des Ersten Weltkrieges, der Zusammenbruch der k.u.k.-Monarchie und die Errichtung der Ersten Tschechoslowakischen Republik verschärften die Lage weiter, indem sie eine noch stärkere Trennung der deutschen Bevölkerung von dem ‚geschlossenen Sprachgebiet‘ initiierten. Der Sturz der Monarchie vernichtete den zuvor überpräsenten österreichischen bzw. deutschen Repräsentations- und Identifikationsfaktor, der sich in den, nun zerstörten, Doppeladlern im ganzen Stadtbild geäußert hatte. Die deutschsprachige Prager Bevölkerung, vor allem ihre jüdischen und linken Kreise, war für die simpelste Orientierungsform, die Spinner als Option zur Reorientierung des modernen Menschen nennt, nämlich die des Befehls eines ‚Führers‘ vor

20

Selbstverständlich gibt es auch das Modell des Re-Orientierens im nationalen Kollektiv in der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens, wie anhand der deutschnationalen Romane von Bodenreuth und Rothacker deutlich wird. Allerdings ist auch hier die Herstellung einer nationalen Identität problematisiert, indem die Trennung vom ‚geschlossenen Sprachgebiet‘ eine Herausforderung darstellt. Bei Bodenreuth und Rothacker wird dies gelöst, indem die Protagonisten sich als Vorposten des Deutschtums im Osten stilisieren und identifizieren.

21

Weiskopf: Slawenlied, S. 54.

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allem im (para-)militärischen Bereich,22 aufgrund ihrer Zwischenstellung im Krieg und ihrer interkulturellen Situation nicht sehr zugänglich. Der Protagonist des Slawenlieds und seine Klassenkameraden hoffen dementsprechend auch auf ein baldiges Ende des Krieges, sodass sie nicht mehr eingezogen werden können, und nach dem Einrücken wird den Befehlshabenden nur widerwillig gehorcht. Hans lehnt sich gar gegen seinen Vorgesetzten auf, als dieser antisemitische Sprüche von sich gibt: „Herr Feldwebel, ich melde gehorsamst, ich hau’ Ihnen eine Ohrfeige herunter, wenn Sie noch einmal eine solche Bemerkung über die Juden machen!“23 Einen Orientierungsrahmen bzw. gar einen Identifikationsrahmen kann das Militär für diese jungen Soldaten nicht bieten. Doch ist die Kriegsteilnahme für die Orientierung des Protagonisten dennoch von Bedeutung, weil gerade in der Übereinstimmung der Ablehnung des Krieges und der mit ihm einhergehenden Regeln und Verfehlungen der Oberen eine gemeinsame Basis zwischen den Soldaten geschaffen wird. Im Krieg begegnet der Protagonist auch erstmals Revolutionären und Kommunisten, deren Bekanntschaft ihm bei der Reorientierung in der Nachkriegswelt Anhaltspunkt sein wird. Das Einrücken in den Krieg bietet den Ausgangspunkt der Loslösung von der sozialen Identität, die mit der Herkunft und Abstammung des Protagonisten verbunden und in der deutschsprachigen Prager Mittelschicht verhaftet ist. Als Kind und Jugendlicher dieser noch zugehörig und somit nicht von Zweifeln an der eigenen Identität geplagt, sieht sich der Protagonist nun auf einmal aus der bekannten Umgebung ausgestoßen und vom Kollektiv der ‚Heimatfront‘ ausgeschlossen. Noch bevor er die Kaserne betritt, spürt er, dass er kein Anrecht mehr auf eine Verbindung zu dem Treiben der Stadt Prag hat: „[I]ch war ja schon so gut wie gestorben; ich […] hatte keinen Teil mehr an dem Leben draußen auf der Straße; ich war ausgereiht, ausgeschaltet, ausgelöscht. Der Krieg hatte mich zu fassen bekommen.“24 Dieses Gefühl verstärkt sich noch auf dem ersten Heimaturlaub: „[D]er Krieg hatte mich verschluckt, das Leben aber ging weiter wie zuvor. Ich sah es noch, greifbar nahe, wie

22

Vgl. Spinner: Der Mensch als Orientierungswesen, S. 49. Vgl. auch Kapitel 3.3.

23

Weiskopf: Slawenlied, S. 64. Hans’ Vater war vor seinem Tod noch vor dem Ausbruch des Krieges in seinem Regiment „der einzige aktive Artillerie-Offizier jüdischen Glaubens“ (ebd., S. 65) und wurde bei einem Duell getötet. Die Hintergründe des „Ehrenhandels“ werden nicht abschließend geklärt, doch ist davon auszugehen, dass er aufgrund seines Judentums beleidigt wurde. Dies erklärt nicht nur, warum Hans in dieser Situation so heftig reagiert und seine Versetzung an die Front riskiert, sondern weist auch auf die schwierige Stellung der Juden beim Militär in der k.u.k.-Monarchie hin.

24

Ebd., S. 29.

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Kinder eine Puppe im Schaufenster sehen, aber zwischen mir und ihm war die Glasscheibe. Ich sah zu, aber ich war nicht mit dabei.“25 Was hier zunächst als erschreckend und isolierend erscheint, bietet jedoch für den Protagonisten auch die Chance, sich in einem weiteren kulturellen Rahmen neu zu orientieren und sich somit, im Gegensatz zu dem unzeitgemäßen Festhalten an alten Strukturen in sich wandelnden Zeiten der Vertreter seiner kulturellen Herkunft, der aktuellen Situation anzupassen und als moderner Mensch den Zeichen der Zeit, in diesem Kontext dem internationalen Kommunismus, zu folgen. Spinner gibt drei große Orientierungsrahmen an, die „[n]ach zunehmender sozialer, politischer und kultureller Weite oder Allgemeinheit geordnet sind“, nämlich die Familie oder eine kleine Gruppierung, die Nation und die Menschheit. Aus dem jeweiligen Rahmen ergeben sich die Möglichkeiten einer „lokalen, nationalen und internationalen bzw. kosmopolitischen Orientierungsrichtung.“26 Das Slawenlied dokumentiert den Orientierungsvorgang des Protagonisten, wobei eine Orientierung in den ersten beiden möglichen Rahmen fehlschlägt. Erst der Orientierungswechsel in die höchste Ebene, in diesem Fall die Orientierung an der Idee des internationalen Kommunismus, führt aus der Desorientierung in ein Zugehörigkeitsgefühl, das eng an die proletarische Masse geknüpft ist, und das weder die Familie noch die Freunde des Protagonisten ihm vermitteln können. Die engste Bezugsperson des Protagonisten ist sein Schulfreund Hans, doch obwohl er mit ihm seine Gedanken und Ängste teilt, kommt es zu keiner tiefgehenden Bindung zwischen den beiden. Vorwand hierfür liefert indirekt Hans’ Judentum, da es eine geheimnisvolle Komponente enthält, die Distanz schafft. Somit schweigt Hans über den mysteriösen Tod seines Vaters und der Freund fühlt misstrauisch, daß sich hinter seinem Schweigen etwas Feindseliges verbirgt: ein heimlicher Haß gegen alle, die keine Geheimnisse haben; deren Väter nicht unter seltsamen Umständen ums Leben gekommen sind; deren „zu Hause“ sich nicht hinter klinkenlosen Türen mit „Eintritt untersagt“ verbirgt. Gegen alle, – also auch gegen mich.27

Das Judentum steht hier als kultureller Faktor zwischen den beiden Freunden und verhindert den Aufbau eines eindeutigen Bezugsrahmens für den Protagonisten. Religion nimmt im Slawenlied keine entscheidende Bedeutung ein,28 doch der Konflikt

25

Ebd., S. 49f.

26

Spinner: Der Mensch als Orientierungswesen, S. 61.

27

Weiskopf: Slawenlied, S. 18.

28

Vgl. hierzu Kapitel 3.8, in dem näher verhandelt wird, auf welche Weise viele der deutschböhmischen und deutschmährischen jüdischen Schriftsteller in ihren Romanen christliche Protagonisten wählen und somit die Problematik des Antisemitismus und des

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zwischen den deutschen Juden und Christen Prags bzw. Böhmens wird, wo thematisiert, immer als isolierend und trennend beschrieben. Eine Gemeinsamkeit kann durch diese Spaltung nicht hergestellt werden, weder in einfachem, reibungslosem Zusammenleben, noch gar in einer Identifikation als Teile eines Kollektivs. Bezeichnend dafür ist die Haltung von dem jüdischen Soldaten Koretz, der den Krieg nicht als den der Seinen ansieht: „Ja, weißt du, das ist so eine Sache. Bei uns zu Hause spannt die Feuerwehr in der Christenstadt auch an, wenn’s bei den Juden brennt; aber sie spannt langsam an, weil sie sagt, das ist euer Feuer und nicht unser Feuer! – warum soll ich dann nicht sagen dürfen: das ist euer Krieg und nicht mein Krieg? Hat man mich denn gefragt, ob ich dafür bin, wie er erklärt worden ist? Na also!“29

Auch im Falle von Hans’ und des Protagonisten Freundschaft wird das Religiöse als Distanzierungsgrund angegeben, jedoch ist hier der noch gewichtigere Grund, warum sich der Protagonist an Hans nicht orientieren kann, nicht das Trennende, sondern gerade die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden. Der Bezugsrahmen ist zu eng, er bietet keinen Spielraum für Orientierung, sondern eher für Identifikation, da sie beide derselben Generation angehören und dieselben Erfahrungen gesammelt haben. Dies birgt die Gefahr, dass eine Weiterentwicklung nicht stattfinden kann, weil die Aufdeckung von Fehlern und das Aufkommen von Zweifeln bei zu großer Nähe nicht möglich sind. Die einsetzende Stagnation ist mit dem einhergehenden Mangel an Kontingenz eine Konsequenz des Identikers und für den Protagonisten eine politische Sünde. Hans ist keine potentielle Orientierungsfigur und der Protagonist hat demnach auch das Bedürfnis, die Freundschaft zumindest für eine gewisse Dauer zu beenden: „Wir sind zu sehr einer Meinung gewesen, Hans. Das war ein Fehler, wenn nicht mehr! […] ich bin nur ehrlich […] und werfe dir vor, daß du nichts getan hast, um mehr zu wissen als ich!“30 Als weiterer möglicher und häufigster lokaler Orientierungsrahmen bietet sich die Familie an. Diese wird im Vergleich mit anderen Romanen aus dem Prag der Zeit, aber auch mit Texten aus der Weimarer Republik, erstaunlich knapp und wertfrei beschrieben. Weder die Eltern noch die Schwester nehmen klare Konturen an, sondern bleiben Staffage. Sie agieren jedoch als Vertreter der deutschen Prager Mittelschicht, die politisch den liberalen Traditionen von 1848 anhängen und an diesen

Zusammenlebens zwischen Juden und Christen auf einen, wenn auch bedeutsamen, Nebenschauplatz verlegen. 29

Weiskopf: Slawenlied, S. 62f.

30

Ebd., S. 200.

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selbst nach dem Ersten Weltkrieg noch festhalten, auch wenn die liberale Deutschdemokratische Freiheitspartei zu diesem Zeitpunkt im Gegensatz zu den linken und rechten politischen Kräften keinen nennenswerten Einfluss mehr besaß. Das familiäre und soziale Umfeld, in dem der Protagonist aufwächst und von dem er sich später distanziert, ist eben jenes, das Kurt Krolop als typisch für das deutsche Bürgertum Prags beschreibt: „Diese in der malerischen Devise „Deutschtum und Fortschritt“ zusammengefasste Tradition „deutschen demokratischen Freisinns“ fanden, von Fritz Mauthner bis F.C. Weiskopf, zunächst alle intellektuellen Prager deutschen Bürgersöhne als Erbe vor.“31 Die politische Haltung, die vor allen Dingen von der Elterngeneration der hier behandelten Schriftsteller vertreten wurde, erwies sich angesichts der wachsenden Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen, dem Antisemitismus beider Nationen und den politischen wie sozialen Umwälzungen der Entwicklungen im frühen 20. Jahrhundert als unzeitgemäß und den Zeiterfordernissen nicht gewachsen.32 Eine Emanzipierung im Laufe des persönlichen und politischen Heranreifens und eine mit ihr einhergehende Radikalisierung waren somit typische Reaktionen der jüngeren Generation vor allen Dingen in den 10er Jahren. Die Problematik, die der Ich-Erzähler im Slawenlied an seiner Familie und dem deutschen, bürgerlichen Umfeld ausmacht, liegt vor allen Dingen darin begründet, dass sie sich durch eine Verhaltensweise auszeichnen, die anachronistisch und nichtrational ist.33 Für sie gelten die alten, festgeschriebenen Werte und Vorstellungen der k.u.k.-Monarchie selbst nach deren Untergang und auch, wenn ihr nicht sonderlich nachgetrauert wird. Takebayashi deutet die Unfähigkeit, die veränderten Bedingungen zu verstehen und sich ihnen anzupassen als mangelnde Distanz der im Roman geschilderten Prager Deutschen zu ihrer eigenen Situation, die nur durch den Kontakt mit dem ‚Fremden‘ zustande kommen kann.34 Dies gelingt dagegen dem Protagonisten: „Es ist das gewaltsame Fremdheitserlebnis, das dem Ich-Erzähler in Form des

31

Krolop: Ludwig Winder, S. 29f. (Kursive Stelle im Original gesperrt.)

32

Vgl. hierzu auch Fiala-Fürst: „Sie [die um 1880 geborenen Mitglieder der ‚letzten jüdisch-deutschen Generation‘ Prags] wurden in eine anachronistische, im Zeitalter der immer aggressiver um sich schlagenden Radikalismen, an bürgerlichen Idealen alter Prägung festhaltende Enklave hineingeboren.“ (Fiala-Fürst: Juden in Prag, S. 23.)

33

Vgl. hierzu Spinner: „Nichtrational […] wäre demnach etwa rein traditionales Verhalten als stereotypisierte Wiederholung seiner selbst, das keinen Orientierungsbezug außer sich hat und sich so im Kreise bewegt, anstatt transzendiert und systematisiert zu werden.“ (Spinner: Der ganze Rationalismus einer Welt von Gegensätzen, S. 77. Kursiv im Original.)

34

Vgl. hierzu die positive Darstellung und Einschätzung des tschechischen Arbeiters ebenso wie der sozialistischen Familie Jarmilas im Slawenlied, die Takebayashi heraus-

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Militäreinzugs widerfährt, das ihm eine genügende Distanz zum eigenen Umfeld verschaffen wird, um dieses zu begreifen.“35 Die bürgerliche, deutsche Gesellschaft jedoch kann, da sie die nötige Distanz zum ‚Eigenen‘ durch die Kenntnis des ‚Fremden‘ nicht schafft, den Wandel Prags nicht erfassen geschweige denn auf ihn reagieren. Veränderungen in der Stadt werden zur Kenntnis genommen, doch ihre Bedeutung wird nicht erkannt und es werden keine Konsequenzen gezogen, wie der Protagonist bemerkt: „Nichts war anders geworden! Nach all den Veränderungen, die ich in der Stadt beobachtet hatte, machte mich das stutzig.“36 Die aktuelle Situation hat keinerlei Auswirkung auf das Verhalten dieser Bevölkerungsgruppe. Bereits bei seinem ersten Heimaturlaub nach wenigen Wochen Abwesenheit wird dem Protagonisten bewusst, dass der lokale Bezugsrahmen seiner Kindheit und Jugend nicht mehr ausreichend ist, um der veränderten Situation in ihm und der Stadt gerecht zu werden. Und so verabschiedet sich der Protagonist von diesem Orientierungsrahmen: [E]s ist alles so wie früher, nur sieht, hört, fühlt es sich anders an. Nur gleicht es einem Traum im Halbschlaf: man weiß, jetzt träumt man noch, aber gleich wird man erwachen, – und der Traum, den man eben noch träumt, schmeckt schon nach verlorenem Paradies, halb herb, halb süß.37

Ganz im Gegensatz zum Verhalten und zur Einstellung der deutschen Prager Bürger stehen diejenigen der ersten Kommunisten, deren Bekanntschaft der Protagonist in den letzten Wochen des Krieges macht. Ihr Wesen zeichnet sich durch extreme Dualismen aus, die ihre Ausrichtung an der unmittelbaren Reaktion auf aktuelle politische Ereignisse und damit einhergehender Kontingenz deutlich macht. Es handelt sich hierbei zunächst um Stältner, einen „Sohn aus bester Familie“ mit „guter[r] Kinderstube“, aber „im Aussehen und Benehmen ganz […] aus der Art geschlagen[…]“,38 der sich nicht an den Werten seiner Vorfahren ausrichtet, sondern als Kommunist und Kriegsgegner rebelliert. Des weiteren trifft der Protagonist auf Wasserzug, der vor dem Krieg an Gott und Wunder glaubte und als gläubiger Jude kein Fleisch isst, weil er das Töten verabscheut, nun jedoch bekräftigt, „man könne den Krieg nur durch Blut und Gewalt aus der Welt schaffen: „durch Gewalt gegen die

arbeitet. Daraus gehe hervor, „daß das Fremde in diesem Text nicht nur als Erkenntnisquelle, sondern auch als Innovationspotential positiv besetzt ist.“ (Takebayashi: Zwischen den Kulturen, S. 180.) 35

Ebd., S. 177.

36

Weiskopf: Slawenlied, S. 85.

37

Ebd., S. 51.

38

Ebd., S. 90.

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Schuldigen“!“39 Der dritte im Bunde ist der Ukrainer Petruszkiewicz, der als Arbeiter bei einem Streik verhaftet wurde und gegen den Krieg schimpft, sich dabei aber nur in Kommisschimpfwörtern und militärischen Kommandos ausdrückt. Alle drei haben die ihrem Stand, ihrer Religion oder ihrer Herkunft entsprechenden Werte und Verhaltensweise in der Krisensituation des Krieges aufgegeben, um der Situation gemäß zu reagieren. In der ihnen inhärenten Dialektik spiegelt sich die Umbruchsituation der Moderne, in der es keine Konstanten mehr gibt und somit die Vorstellung von allgemeingültigen Werten ad absurdum geführt wird. Ihre Reaktionen sind impulsiv und leidenschaftlich und die Definition ihrer selbst erfolgt zunächst ex negativo aus dem Gegenteil dessen, was sie bekämpfen. Sie sind das Idealbild der Angehörigen der proletarischen Masse, die Revolutionen entfachen kann. Für wirkliche Veränderungen und eine dauerhafte Verbesserung der Lage jedoch ist es notwendig, diese okkasionelle Rationalität, die sich situationsbezogen an der augenblicklichen Lage orientiert, mit der prinzipiellen Rationalität, die situationsunabhängig an Leitsätze der Vernunft gebunden ist, im Sinne der Doppelvernunft zu verbinden.40 Dies wird dem Protagonisten allmählich klar, als er nach dem Krieg auf Hans’ kommunistischen Onkel Rudolf trifft, der in gewissem Sinne sein Lehrer wird und nicht nur eine Kenntnis der aktuellen Situation besitzt, sondern sich auch an Werten orientiert, die den gegebenen Zustand überdauern. Je eine der konträren Rationalitäten kann der Protagonist in seiner Umwelt an beinahe allen Menschen in Prag seit dem Kriegsende beobachten, doch wirken sie in ihrer Kurzsichtigkeit engstirnig und teilweise grotesk, so wie beispielsweise die beiden Lehrer Dorfleuthner und Trenk, oder zu unbesonnen, wie die kommunistischen Kriegskameraden. Bei Rudolf jedoch verbindet sich die Dichotomie der Vernunft zu einer Doppelvernunft, die sich auf eine Dualität in seinem ganzen Wesen ausübt, was den Protagonisten zunächst irritiert, jedoch auch fasziniert: Ich wurde nicht klug aus dem Menschen hier. Alles an ihm forderte zum Widerspruch heraus und wirkte doch nicht abstoßend – ganz im Gegenteil. Alles an ihm: sein Wesen, seine Art zu reden, seine Haltung, sein Gang, schienen genau aufeinander abgestimmt und gleichzeitig auch wieder voller Gegensätzlichkeit zu sein, und dieser Eindruck war so stark, daß ich mir einbildete, sein immer etwas vorgeneigter Oberkörper befinde sich in einem ewigen Streit mit den Beinen, die nie schnell genug waren und denen er deshalb vorauseilte.41

39

Ebd., S. 91.

40

Vgl. hierzu Spinner: Die ganze Rationalität einer Welt von Gegensätzen, S. 46. Vgl. auch

41

Weiskopf: Slawenlied, S. 161.

Kapitel 4.1.2

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In seiner Komplexität ist Rudolf als Orientierungsfigur geeignet, da er den Protagonisten einem Orientierungsrahmen näher bringen kann, ohne dogmatisch eine Richtung anzugeben. Die Erkenntnis des Weges zur Reorientierung nicht nur des Individuums, sondern der gesamten Gesellschaft wird nicht durch Lehren und Doktrinen vermittelt, sondern durch den Appell an den Menschen, seine Vernunft eigenständig einzusetzen. Zunächst wirkt der Protagonist, mit dieser Anweisung alleingelassen, überfordert angesichts der in die Betrachtung einzubeziehenden Möglichkeiten: Freiheit oder Notwendigkeit? Änderung des Menschen oder Umwälzung der Verhältnisse? Geist oder Gewalt? Entwicklung oder Revolution? …42

Auf eine dieser Fragen gibt Rudolf an anderer Stelle Antwort, indem er feststellt, dass „Freiheit nicht Unabhängigkeit von den Gesetzen des Notwendigen ist, wohl aber ihre Kenntnis und die Möglichkeit, sie planmäßig wirken zu lassen“.43 Und es ist anzunehmen, dass seine Meinung in Bezug auf die anderen Fragen ähnlich ausfallen würde. Es ist eine Verschmelzung der Dualismen, eine In-Betracht-Ziehung beider Möglichkeiten, die bei rationaler Handhabung zum Ziel führen, einem Ziel, dass sowohl der aktuellen Situation gerecht wird, als auch dauerhaft zeitlosen Bestand hat. Ein Orientierungsrahmen, der Gegensätze zu überbrücken sucht und auf der Idee der Verschmelzung heterogener Bereiche beruht, kann, besonders in der bi- bzw. multikulturellen Situation der Ersten Tschechoslowakischen Republik, nur ein internationaler, kosmopolitischer bzw. transkultureller sein. In der neuen sozialen Verankerung und der zunächst nicht vorhandenen und schließlich sich herausbildenden kollektiven Identität des Protagonisten wird deutlich, inwiefern sich die Wahrnehmung der Stadt, der in ihr agierenden Massen und ihrer Ausschließungsmechanismen durch das Selbstverständnis des Erzählers wandelt. Nachdem sich der Erzähler von den engeren Orientierungsrahmen der Familie und des deutschen, monarchistisch gesinnten Kollektivs gelöst hat und sich der Idee des internationalen Kommunismus zugewandt hat, muss er sich auf einem revolutionären Protestmarsch zunächst wieder denselben Erfahrungen der Exklusion wie beim Militär stellen: Die Straßen der inneren Stadt sind voller Menschen, aber die Menge, die den Fahrdamm säumt, steht stumm da, reglos, feindselig. Die meisten Geschäfte sind geschlossen, viele Häuser sehen

42

Ebd., S. 198f.

43

Ebd., S. 211.

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wie tot aus mit ihren heruntergelassenen Jalousien. „Wie im Krieg!“ denke ich wieder […]. „Wie damals – eine feindselige Stadt.“44

Doch dieses Mal endet das Erlebnis ganz anders, indem zwar auf die Demonstranten sogar geschossen wird, diese sich jedoch neu formieren und als Kollektiv die feindliche Stadt für sich wieder in Besitz nehmen: Rundherum sind viele Menschen. Man spürt sie. Man hört sie. […] Die Masse steht unbeweglich. Stille. […] Da beginnt, ein paar Schritte von uns entfernt, eine Frau das Lied von der „Fahne rot“ zu singen. Die ersten Takte singt sie allein; dann fallen auf einmal zehn, zwanzig, hundert Stimmen ein. Der Gesang steigt in der schmalen Gasse hoch wie volles, dunkles Glockengeläut. Über uns wird eine Jalousie hochgezogen. Ein breites Lichtband fällt quer über die Gasse.45

Das Zugehörigkeitsgefühl in der Masse wird verstärkt durch die sich öffnende Jalousie und den Lichtschein, der dem Vorgehen ein beinahe heiliges Ansehen verleiht und den Protagonisten mit der Stadt versöhnt. Der Unterschied in der Darstellung ergibt sich aus dem kollektiven Erlebnis, das es nun für den Protagonisten geben kann, da es ihm gelingt, in diesem neuen Orientierungsrahmen eine kollektive Identität aufzubauen, die neuen Sinn verleiht und somit Desorientierungserscheinungen entgegenwirkt.46 Und so endet der Roman im Sinne seiner linksrevolutionären Gesinnung auch in der Utopie des etwas martialisch anmutenden Kollektivgefühls im Aufgehen in der Masse: Da merke ich plötzlich, daß ich mitsinge; nein, nicht nur das, – auch daß ich mit zu ihnen gehöre. Und während der Gesang lauter, schneller und härter wird, habe ich wieder […] die berauschende Empfindung: Teil und Blutstropfen zu sein eines großen, stürmisch atmenden, kämpfenden Körpers.47

Dieses Zitat hat die Forschung wiederholt zu Interpretationen und auch ideologischer Kritik am Slawenlied herausgefordert. Vera Schneider etwa hebt hervor, dass Weiskopf sich an dieser Stelle einer „biologistische[n] Blut-und-Körper-Metapher“48 bediene, die eher im Rahmen der nationalsozialistischen Weltanschauung anzusiedeln sei. Der Unterschied zur nationalsozialistischen Idee des ‚Volkskörpers‘, der sich 44

Ebd., S. 225f.

45

Ebd., S. 232.

46

Vgl. zur Bedeutung dieser Passage für die Darstellung der Masse im Roman auch Lahl:

47

Ebd., S. 233.

48

Schneider: Wachposten und Grenzgänger, S. 172.

Der literarische Massendiskurs, S. 91ff.

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durch Abgrenzungsmechanismen gegen Außenstehende konstituiere, sei bei Weiskopf das „Moment der Inklusion, de[r] Anschluss an eine überindividuelle Gemeinschaft, die sich weder über Nation noch über Rasse definiert, sondern über ihren Glauben an die Befreiung durch eine sozialistische Revolution“.49 Diese Nivellierung von nationalen Unterschieden und die Entindividualisierung thematisiert auch Tazuko Takebayashi in ihrer Analyse des Slawenlieds, wobei sie davor warnt, dass die Ideologie der Nivellierung von Differenzen fatal für eine interkulturelle Verständigung sei: „Ein Universalismus, der die Vielfalt nicht toleriert, kann für das Zusammenleben der Kulturen keine Zukunftsvision darstellen.“50 Diese Erkenntnis ist jedoch für die literaturwissenschaftliche Analyse des Romans vollkommen bedeutungslos, indem sie den Roman aus einer wertenden Perspektive heraus analysiert, die zum einen dem xenologischen Ansatz von Takebayashis Studie und zum anderen dem (ideologisch und didaktisch durchaus berechtigten) postmodernen Argwohn gegen die Massen und die Vereinheitlichung von Individuen geschuldet ist. Die Absolutheit, die Schneider und Takebayashi dem inkludierenden und vereinheitlichenden Potential der sozialistischen Masse im Slawenlied zugestehen, ist auch zu hinterfragen. Das euphorische Aufgehen des Individuums in die Masse am Ende des Romans ist nicht zu leugnen, allerdings erscheint es bei genauerem Blick lediglich als Momentaufnahme, der aus Gründen politischer Instrumentalisierung und dem Anschein einer endgültigen Stellung das Ende des Romans als Platz zuteil wurde. Denn in dem Aufgehen in die Masse ist das Individuum durchaus noch präsent. Es ist zwar Teil und Blutstropfen, doch die häufige Verwendung des „Ich“ in dem Zitat markiert auch das Empfinden des Individuums in der Masse, das sich seiner eigenen Gefühle, Empfindungen und seinem eigenen Wollen durchaus noch bewusst ist. Das Changieren im Roman zwischen Individual- und Massenerlebnis ist auch ein Ideal der marxistischen Revolution, das sich bei Bloch findet: Das Kollektiv des kämpfenden Proletariats ist Protest gegen die privatkapitalistische Aneignung seiner Produktion. Eben dieser Protest kommt aber, als subjektiver Widerspruch, ohne die allemal individuellen Daseins- und Wirkungsformen der Subjektivität nicht aus. Individuum und Kollektiv, beide umfunktioniert, sind mithin im revolutionären Klassenbewusstsein einzigartig verschlungen; wieder nicht als Alternativen, wie der Vulgärmarxismus es sich dachte, sondern als wechselwirkende Momente. […] Wie es noch keine rechten Individuen gab, so noch kein rechtes Kollektiv; das rechte aber liegt auf der betretenen Bahn einer personreichen, höchst vielstimmigen Solidarität.51

49

Ebd., S. 173.

50

Takebayashi: Zwischen den Kulturen, S. 184.

51

Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 1137. Kursiv im Original.

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Im Slawenlied bleiben jedoch die Zweifel an diesem Modell noch präsent. Die Tatsache, dass der Protagonist, wie oben zitiert, 1920 „wieder“ das Empfinden hat, im Körper der Masse aufzugehen, ruft den Vergleich zur analogen Stelle, die im Jahre 1918 angesiedelt ist, hervor. Dieses Erlebnis hat sich im Nachhinein als nicht dauerhaft erwiesen, indem aus der Revolution nur die „alte Drehorgel mit einem neuen Strick“52 entstand und die sozialistische Komponente der Revolution schließlich abhanden gekommen ist. Zudem ist der Protagonist im Verlaufe des Romans zu sehr von Zweifeln an seinem eigenen revolutionären Tun im Rahmen des Schülerrates durchdrungen, und seinen Erfahrungen des Ausschlusses aus der tschechischen Arbeiterklasse als Deutscher und Angehöriger der Bildungsbürgerschicht wird im Verlaufe des Romans zu viel Raum gegeben, als dass seine Begegnung mit Jarmila und ihrer Familie, sein Erlebnis der Arbeiterdemonstration 1920 sowie das euphorische Ende des Romans als eine dauerhafte Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse erscheinen könnte. In diesem Kontext lässt sich der Roman analog zu Alice Rühle-Gerstels Roman Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit lesen, indem beide Autoren als Marxisten Kritik an der sozialistischen Realpolitik äußern und dies anhand der Erfahrungen ihrer Protagonisten in Prag 1917-1920 bzw. 1934-1936 deutlich wird. Selbstverständlich ist Rühle-Gerstels Kritik sehr viel offensichtlicher; während bei Weiskopf lediglich Zweifel an der Wirksamkeit des revolutionären Tuns anklingen und die ideologische Komponente nicht angegriffen wird,53 so findet bei Rühle-Gerstel eine eindeutige Abwendung von der sowjetischen Realpolitik statt. Dennoch bleibt in beiden Romanen aufgrund der Prager Sozialisation und Erlebnisse der Protagonisten ein „Totum der klassenlosen Synthese“,54 wie es Bloch formuliert, aus. Die Reflektion über die eigene transkulturelle Identität und die Dialektik der in verschiedenen Klassen, Nationalitäten und anderen Gruppierungen verhafteten Persönlichkeit verunmöglicht in beiden Romanen die bedingungslose Eingliederung in das kommunistische Kollektiv.

52

Weiskopf: Slawenlied, S. 204.

53

Weiskopfs Kritik richtet sich vor allen Dingen gegen den Nationalismus, der nicht nur auf deutscher Seite vertreten wird, sondern der auch in der tschechischen Befreiungsbewegung breiten Raum einnahm. Vgl. hierzu Václavek: F.C. Weiskopf und die Tschechoslowakei, S. 19f.

54

Vgl. Bloch: „„Darin tönt oder tagt das Allgemeine, das jeden Menschen angeht und die Hoffnung des Endinhalts ausmacht: Identität des Wir mit sich und mit seiner Welt, statt der Entfremdung.“ (Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 1143.)

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5.4 H ANS N ATONEK : K INDER

EINER

S TADT

Hans Natoneks Roman zeichnet das Bild dreier Jugendfreunde, die in Prag aufwachsen und nach dem Ersten Weltkrieg als Journalisten in der Weimarer Republik ihr Leben neu zu gestalten suchen. Insbesondere an der Hauptfigur Dowidal zeigt sich, wie die veränderte moderne Welt der ungeahnten Möglichkeiten vermeintlich die Option bietet, die verhasste eigene und von außen zugeschriebene Identität, die mit der sozialen, religiösen und topographischen Herkunft zusammenhängt, durch Assimilation und Selbstverleugnung aufzugeben. Dowidal scheitert jedoch in diesem Unterfangen, da er in seinem gesamten Handeln durch die Heimat determiniert bleibt und immer wieder auf sie zurückgeworfen wird. In seinem Versuch, der eigenen Identität zu entkommen, entfremdet er sich von sich selbst, während es ihm gleichzeitig nicht gelingt, sich neu zu orientieren, so dass er am Ende des Romans entwurzelt zurückbleibt. In seiner ständigen Außenseiterposition erscheint er als das paradigmatische Kind der Stadt Prag, in deren deutschen bürgerlichen Gesellschaft groteske Figuren die Norm zu bilden scheinen. Hans Natonek ist heute nahezu unbekannt. Obwohl er in den wenigen Rezensionen und Äußerungen zu seinem Werk durchweg lobend erwähnt wird und als „sehr begabt[]“,1 als bedeutender Feuilletonist der Weimarer Republik2 und sein Roman Kinder einer Stadt als „packender Roman aus der Presseszene“ bezeichnet wird,3 so ist doch das Interesse an seiner Person und seinem Werk marginal. Steffi Böttger schildert, dass er zur Zeit der Veröffentlichung seiner ersten drei Romane4 von der zeitgenössischen Presse gelobt, von den berühmtesten deutschsprachigen Schriftstellern der Zeit wie Thomas Mann, Stefan Zweig und Joseph Roth gewürdigt und mit dem Leipziger Goethe-Preis ausgezeichnet wurde,5 doch bereits nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten 1941, wo er bis zu seinem Lebensende 1963 zurückgezogen in Arizona lebte, scheint er aus dem öffentlichen Bewusstsein fast vollständig verschwunden zu sein. Es existiert nicht ein einziger Aufsatz zu Kinder einer Stadt6 und keine Monographie, die sich mit der Person und dem Schriftsteller Hans Natonek

1

Brod: Prager Kreis, S. 190.

2

Vgl. Schütte: Der Mann ohne Schatten, S. 356ff.

3

Schütz: Eure Sprache, S. 270.

4

Natoneks erste drei Romane sind Der Mann, der nie genug hatte (1929), Geld regiert die

5

Böttger: Vorwort, S. 10.

6

Die ausführlichste Analyse bietet Fritz: Die Entstehung des „Prager Textes“, 108.

Welt (1930) und Kinder einer Stadt (1932).

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auseinandersetzt.7 Für eine Untersuchung der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur der Zwischenkriegszeit erscheint sein Werk jedoch motivgeschichtlich als äußerst bedeutsam, da in seinen Romanen, insbesondere in Kinder einer Stadt, Themenkomplexe umfassend und in Akkumulation behandelt werden, die in der einen oder anderen Form in allen hier behandelten Romanen eine Rolle spielen; die soziale Topographie und die gesellschaftliche Besonderheit Prags, Entwurzelung und Heimatlosigkeit durch den Ersten Weltkrieg, Judentum und Antisemitismus, problematische zwischenmenschliche Beziehungen, Generationenkonflikte, Nationalismus und Liberalismus, Hass und Selbsthass. Trotz des geringen Bekanntheitsgrades des Autors und der ästhetischen Schwächen seiner Romane können Hans Natoneks Werke als paradigmatisch für die Identitätsproblematik in den deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen der Zwischenkriegszeit gelten, denn „[i]n zahlreichen Brechungen werden Menschen in ihren Isolierungen dargestellt, die aus verlorenen religiösen, sozialen oder nationalen Bindungen resultieren.“8 Trotz der starken thematischen Analogien in seinen Werken zu den Romanen anderer deutschböhmischer und deutschmährischer Schriftsteller wurde Hans Natonek bereits von seinen Zeitgenossen nicht als wichtiger Bestandteil der ‚Prager deutschen Literatur‘ gewertet. Obwohl er 1892 in Prag geboren wurde und dort seine Jugend verbrachte, wird er sowohl in den Literaturgeschichten zur deutschböhmischen Literatur als auch in den autobiographischen Zeugnissen der Vertreter der Prager Literaturszene höchstens am Rande erwähnt. Max Brod etwa, der über Natonek zwar schreibt, er sei ihm „[e]ine Zeitlang […] sehr nahe gewesen“,9 widmet ihm in Der Prager Kreis dennoch nur knapp zehn Zeilen, ohne zu erwähnen, in welchem Zusammenhang er mit Natonek in Berührung stand. Eine wichtigere Erscheinung war Natonek in der Szene der journalistischen Publizistik der Weimarer Republik. Er war seit 1917 Redakteur des Leipziger Tageblatts und der Neuen Leipziger Zeitung (1926

7

Die einzigen beiden ausführlichen Publikationen zu dem Autor stammen von Jürgen Serke, der in seiner Veröffentlichung über die ‚vergessenen‘ böhmischen Schriftsteller (vgl. Serke: Böhmische Dörfer) Natoneks Werk und Leben, das er akribisch recherchiert hat, knapp 40 Seiten widmet und sich auch um die Wiederauflage einige seiner Romane in den 80er Jahren bemüht hat, und von Klaus Ulrich Werner, der sich mit Natoneks Exilerlebnissen und -publikationen auseinandersetzt (vgl. Werner: Dichter-Exil, v.a. S. 159ff. und ders.: Der Feuilletonist und Romancier Hans Natonek). Der Exilroman Der Schlemihl, in dem Natonek sich in Form einer Biographie Adelbert von Chamissos auch mit den eigenen Erfahrungen des Exils und mit der Identitätsproblematik beschäftigt, ist der einzige Roman Natoneks, dem von der Forschung zumindest etwas Beachtung entgegengebracht wurde (vgl. auch Cyprian-Galková: Hans Natoneks Schattensuche).

8

Serke: Böhmische Dörfer, S. 94.

9

Brod: Prager Kreis, S. 190.

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fusionierten sie zur Neuen Leipziger Zeitung und Natonek wurde um diese Zeit Schriftleiter des Feuilletons)10 und publizierte in zahlreichen Organen Artikel,11 die „ihn als engagierten, auch direkt politisch schreibenden Redakteur aus[weisen], als Verteidiger der Republik und linken Kritiker von Militarismus, Nationalismus, von Ideologien und Machtpolitik sowie den herrschenden antidemokratischen bürgerlichkonservativen Eliten“.12 Trotz seines beruflichen Erfolges und seiner Etablierung in der Weimarer Republik blieb Natonek doch seiner Herkunft nah verbunden und hat vor allen Dingen seine Kinder- und Jugenderfahrungen in seinen Romanen verarbeitet: „In allen seinen Romanen taucht Böhmen auf – als etwas Verschollenes, Versunkenes.“13 Insbesondere der Roman Kinder einer Stadt, der von vier angehenden Journalisten in Prag handelt, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in einer nicht genannten Stadt, vermutlich in Hamburg, einfinden, behandelt Prag als Sozialisations- und Ausgangspunkt für die im Roman geschilderten Konflikte und Identitätsprozesse. Außer dem latenten Bezug zu Böhmen in seinen Romanen macht die Forschung auf den Umstand aufmerksam, dass in Natoneks Werken wiederholt jüdische Figuren auftreten, die sich von der Orthodoxie ihrer Väter und dem jüdischen Glauben distanziert haben und im Laufe ihres Lebens doch immer wieder gezwungen sind, sich mit ihrer jüdischen Herkunft auseinanderzusetzen.14 Dies geschieht einerseits aus dem Inneren der Figuren heraus im Rahmen eines Identitätsfindungsprozesses und andererseits erzwungenermaßen von außen in Form von Antisemitismus, der auf sie projiziert wird. Als entscheidend für Natoneks Verhältnis zum Judentum und als Interpretationsbasis für seine Romane wird immer wieder auf die Bedeutung eines kurzen Textes von Natonek hingewiesen, den er 1917 im Rahmen der Sammelschrift Das jüdische Prag veröffentlichte und der den Titel Ghetto trägt15 – Max Brod lobt ihn als der

10

Vgl. Böttger: Vorwort, S. 10.

11

Vgl. Schütte: Der Mann ohne Schatten, S. 356. Er nennt in diesem Zusammenhang Die Aktion, Das Forum, Der Friede, Das blaue Heft, Jugend, Das Leben, Der Drache, Das Stachelschwein, Berliner Tageblatt, Berliner Volkszeitung und Schaubühne, später Weltbühne.

12

Werner: Dichter-Exil, S. 195.

13

Serke: Böhmische Dörfer, S. 94.

14

Vgl. ebd.

15

Werner gibt fälschlicherweise an, die Erzählung Ghetto sei nach 1933 im Prager Exil als Reaktion auf die zeitgenössischen Ereignisse entstanden: „Der rassistische NS-Staat (und [Natoneks] plötzlich sich zur lärmenden Antisemitin wandelnde Ehefrau) zwingen ihn, sich mit seinem verschütteten Judentum auseinanderzusetzen.“ (Werner: Dichter-Exil, S. 203.) Diese falsche Chronologie verstellt den Blick darauf, dass eine Auseinandersetzung

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„neben Kafkas Traum wohl […] bedeutendste Beitrag dieser merkwürdigen Anthologie“, in dem „der Sohn eines entjudeten „freidenkerischen“ Vaters bei einem Zufallsbesuch in der alten „Judenstadt“ von atavistischen Strömungen seines tiefsten Seelengrundes überwältigt wird“.16 Der Impuls zum Besuch des Ghettos geht in der Geschichte nicht von dem Vater aus, der dort in seiner Kindheit gelebt hat, sondern von dem Sohn, der bereits in der ‚neuen Stadt‘, losgelöst von den jüdischen Bräuchen und vollständig assimiliert, aufgewachsen ist. Dies ist um so bedeutsamer, als die unwiderstehliche Anziehungskraft des Ghettos und seiner jüdischen Gebräuche sich nicht aus einer Sozialisation, aus einer Erinnerung an vergangene Zeiten und Nostalgie ergibt, wie dies beim Vater der Fall sein könnte, sondern eine Empfindung ist, die Zugehörigkeit auf unbewusste, aber unlösbare Wurzeln zurückführt und gleichsam als ‚Stimme des Blutes‘ bezeichnet werden könnte.17 Der Junge spürt die Schicksalsgemeinschaft mit den Ghettobewohnern und ohne dies rational erklären oder überhaupt in Worte fassen zu können empfindet er, „wie ungeheuer diese Welt mir ans Herz griff und wie eine Heimat, nie geschaut und gekannt, mit ahnender Gewalt schmerzlich-süß in meine Seele einzog.“18 Der Junge fühlt sich jäh als Teil dieser ihm bislang unbekannten Welt und muss dennoch erleben, wie er als Assimilierter von ihr ausgeschlossen ist. Diese paradoxe und schwierige Situation wird ihm bewusst, indem er „etwas in den Zügen der Knaben, in ihren Augen etwas [erkennt], das mir stumm „Bruder!“ zurief; es waren meine Züge und meine Augen. Und doch standen wir zwei [Vater und Sohn] da, abgesondert von den anderen und taten nicht, was jene taten.“19 Während der Vater den Fortzug aus dem Ghetto mit der fortschrittlichen Entwicklung und den besseren Lebensbedingungen in der ‚neuen Stadt‘ als ausreichend begründet erachtet, kann der Junge nicht verstehen, wie die Eltern die

Natoneks mit dem Judentum nicht erst im Exil beginnt, sondern auch in seinen vorhergehenden literarischen und publizistischen Werken, u.a. auch in Kinder einer Stadt eine entscheidende Rolle spielt. 16

Brod: Prager Kreis, S. 190.

17

Vgl. z.B. auch das Verhältnis von Charousek zu Wassertrum in Meyrinks Golem: „Ich aber wuchs ebenfalls im Ghetto auf, und auch mein Blut ist mit jener Atmosphäre höllischer Lust gesättigt“. (Vgl. Meyrink: Golem, S. 40.) Reitter macht drauf aufmerksam, dass die Verwendung der Bezeichnung des ‚jüdischen Blutes‘ in den 20er und frühen 30er Jahren nicht zwangsläufig im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie verwendet wurde: „More often, however, „Jewish blood“ still had „Jewish descent“ as its primary meaning, as it did for, say, Walter Benjamin in 1931.“ (Reitter: On the Origins of Jewish Self-Hatred, S. 11.)

18

Natonek: Ghetto, S. 37.

19

Ebd.

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Gemeinde verlassen und damit ihre Herkunft verleugnen und die religiösen Traditionen zurücklassen konnten. In dieser kurzen Geschichte äußert sich demnach zweierlei, was auch für Natoneks Romane von Bedeutung ist: Zum einen ist es das unmittelbare Gebundensein an die Herkunft und die religiöse Gemeinschaft durch Stränge, die selbst durch anscheinend vollständige Assimilation nicht zu lösen sind und die unsichtbar und unbewusst im vermeintlich frei agierenden Individuum wirken. Diese Thematik, die hier positiv beschrieben wird im Sinne einer Wiederkehr zu den verlorenen Wurzeln, wird in Kinder einer Stadt am Beispiele Dowidals im negativen Sinne aufgegriffen, indem dieser immer wieder versucht, seine Herkunft aus Prag und seine jüdische Abstammung zu verleugnen und doch von dieser immer wieder eingeholt wird. Zum zweiten jedoch wird durch die Erzählung Ghetto auch deutlich, welche Gefahren einer Loslösung von der Herkunft und einer Verleugnung der eigenen Zugehörigkeit innewohnen, indem dadurch eine Entfremdung des Subjektes von sich selbst und seiner Umgebung stattfindet. In dem kurzen Text zeigt zwar das Ende ein rührendes Bild der Rückbesinnung des Vaters, der tränenüberströmt seinen Sohn auf hebräisch segnet, jedoch bleibt auch dies eine einsame, isolierte Handlung auf der „stille[n], dunkle[n] Judengasse“, während der Rest der Gemeinde hinter verschlossenen Türen den Sabbat feiert.20 Durch die Assimilation können die Bande der Herkunft nicht gelöst werden, erscheinen jedoch problematisiert. Der Junge, der in den jüdischen Kindern seine ‚Brüder‘ entdeckt und dennoch nicht an ihrem Leben teilhat und ihre Riten nicht versteht, ist ein entwurzelter Mensch, der dies als noch schlimmer erleben muss, da er die Wunden der abgetrennten Wurzeln noch spürt. In dem Roman Kinder einer Stadt äußert sich dieses Phänomen in den problematischen zwischenmenschlichen Bindungen der Protagonisten, ihrem von der Herkunft determinierten Verhalten und ihrem Scheitern im Versuch, ihren Wurzeln zu entkommen, das sich in Gefühlen der Heimat- und Orientierungslosigkeit manifestiert. Die zentrale Figur des Romans ist Jakob Dowidal; an ihm wird die Bedeutung der Herkunft und Abstammung, der Heimat und seiner sozialen Identität, denen er im Verlaufe des Romans immer wieder zu entkommen versucht und von denen er sich doch nicht ganz lösen kann, am deutlichsten, seine Assimilation scheitert an der Gebundenheit an seine Herkunft. Dafür bietet seine Kindheit in Prag den Ausgangspunkt, und sie kann gleichzeitig Aufschluss darüber geben, inwiefern Dowidal einerseits Ausgeschlossener, andererseits integraler und typischer Teil der Prager Gesellschaft ist. Die entscheidenden Charakterzüge und sozialen Merkmale des jungen Dowidals, die mehr oder weniger unmittelbar mit seiner Herkunft zusammenhängen und die er später kontinuierlich zu verstecken und verleugnen sucht, werden bereits im ersten Kapitel des Romans, in dem die beiden Schulknaben, „[d]er kleine Dowidal,

20

Ebd., S. 38.

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verwahrlost und gemieden, und der große, reiche Epp, der Stolz der Klasse“,21 sich um eine Glaskugel streiten, die später im Roman immer wieder als Ausgangspunkt für ihre Feindschaft heraufbeschworen wird, deutlich. Am offensichtlichsten ist hier der Klassenunterschied innerhalb der bürgerlichen deutschen Schicht Prags der k.u.k.-Monarchie, der in Verbindung mit Dowidals schwacher Physiognomie und seinem Judentum von den Gleichaltrigen als Anlass für Erheiterung und Sticheleien dient. Sie nennen ihn ‚Dowidl‘, eine spöttische Bezeichnung, die auf Assoziationen zu ‚kleiner David‘ bzw. tschechisches Zwetschgenmus (Powidl) zurückgeht, und lachen ihn aus, „weil Dowidal, klein, gedrungen, mit dem großen, alten Kopf über dem schmutzigen, verwaschenen Matrosenkragen, so komisch aussah.“22 Besonders der Antisemitismus, der bereits seinen Spitznamen prägt, spielt eine entscheidende Rolle in der Sozialisation Dowidals und in seinem späteren Verhalten. Als er mit seinem Vater spazieren geht, werden die beiden aufgrund ihres Judentums angefeindet: „Ein alldeutscher Gesangverein feierte sein Sommerfest. Man erkannte den Redakteur [Dowidals Vater], der hier fehl am Orte war, und höhnische Zurufe „Dowidl! Dowidl!“ und „Hepp, hepp!“23 ertönten aus dem Hintergrund“.24 Diese Erfahrungen in der Kindheit tragen in entscheidendem Maße dazu bei, dass Dowidal schließlich als Widahl in der Weimarer Republik sich selbst als Antisemit und Arier stilisiert und seine größte Angst darin besteht, dass seine Herkunft aufgedeckt werden könnte. Obwohl immer wieder Dowidals Ausgeschlossenheit aus der Menge, seine Einsamkeit, seine Andersartigkeit und auch der Schmerz, der dadurch verursacht wird, bereits in seiner Kindheit thematisiert wird,25 ist Dowidal nicht nur deshalb die zentrale Figur des Romans, weil Hans Natonek das Einzelschicksal eines Ausgeschlossenen, eines Hassenden und Gehassten aufzeigt, sondern weil der Roman, wie der Titel ja bereits angibt, das Leben von typischen Prager Gestalten in den 10er und 20er

21

Natonek: Kinder einer Stadt, S. 7.

22

Ebd., S. 9.

23

Vgl. zu den antisemitischen Hep-Hep-Pogromen, die 1819 zunächst in Würzburg ausbrachen, Rohrbacher: „The ominous and enigmatic slogan of the 1819 rioters – HepHep – was to serve as a battle cry for Jew-baiters throughout the nineteenth century.” (Rohrbacher: Hep-Hep Riots, S. 297ff., hier S. 297.)

24

Natonek: Kinder einer Stadt, S. 58f.

25

Vgl. z.B. Dowidals Gedanken nach der Einladung zu Epps Geburtstagsfest: „Es wäre ja doch schön, dachte er, ein so vornehmes Haus zu betreten. Ein Eingeladener, einer, der mit dazu gehört. Im gleichen Augenblick fiel er mit Wolfszähnen über diese Illusion her und riß sie in Stücke: Ich gehöre nicht hin, ich habe nichts mit diesen spielenden, sauber angezogenen Knaben zu schaffen, und wenn ich doch hingehe, aber ich werde nicht hingehen, würde ich mich verstellen und so tun, als ob ich dazugehöre, wie auf dem Spielplatz.“ (Ebd., S. 32.)

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Jahren aufzuzeigen versucht. Dies macht Dowidal als zentrale Figur des Romans jedoch zu der Prager Figur per se. Die Tatsache, dass er dennoch von den anderen Pragern exkludiert wird, widerspricht dem nicht, sondern eröffnet eher das deprimierende Bild einer Gesellschaft, in der Misstrauen und Exklusion an der Tagesordnung sind und selbst den eigenen Mitgliedern der Gemeinde entgegengebracht werden. Kurt Krolop hebt mit Verweis auf Willy Haas hervor, dass die von den Tschechen isolierte, gutbürgerliche Prager deutsche Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg keine homogene Gruppe darstellte: Durch die fortschreitende Reduktion des öffentlichen Lebens auf ein Leben in mehr oder weniger „geschlossenen Gesellschaften“ differenzierte sich der verbliebene obere Teil der sozialen Skala zu einer schwer überschaubaren Vielzahl von Abstufungen und Nuancen nicht nur des Über- und Unter-, sondern auch des Nebeneinander.26

Dowidal ist zwar Teil dieser Prager bürgerlichen Gesellschaft,27 diese jedoch ist in sich selbst als Mikrokosmos wiederum gespalten und geht vehement gegen ihre Randgestalten vor, d.h. gegen die sozial schwächeren und die jüdischen Mitglieder sowie gegen im Verhalten und Auftreten groteske Figuren. In Dowidal sind alle drei Minoritäten ineinander vereint, indem er wegen seiner ärmlichen Herkunft verhöhnt, antisemitisch angefeindet und aufgrund seiner Familie, vor allen Dingen des Lebenswandels der unordentlichen und vergnügungssüchtigen Mutter und des duldsamen Verhaltens des Vaters, verspottet wird. Die angefeindeten Bevölkerungsgruppen sind jedoch gleichzeitig integraler Bestandteil der bürgerlichen Prager Gesellschaft und die verschiedenen Teile sind voneinander abhängig. Somit findet kein endgültiger Ausschluss statt, sondern ein Wechselspiel aus Anfeindung und dann wieder HandReichung, das im Endeffekt in Dowidal zu Hass und Selbsthass, zu dem dringenden Bedürfnis, sich von der Gesellschaft und der Stadt zu lösen und dem gleichzeitigen Bewusstsein, für immer ein Teil von ihr zu sein, führt. Als Dowidal das erste Mal eine eigene Wohnung nimmt und von einem hohen Stockwerk nun jeden Tag auf

26

Kurt Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur, S. 51. Vgl. auch, ebenfalls von Krolop zitiert, Ackermann: „Der Konfektionär in der Altstadt etwa hatte zum jüdischen Patrizier im Stadtparkviertel kaum mehr soziale Verbindungen als zum Fürsten Lichtenstein. Die Verkastung war streng und genau… Es war nicht eine Welt, sondern gleich eine ganze Menge abgeschlossener Welten.“ (Ackermann: Prager deutsche Gesellschaft, zitiert nach Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur, S. 75.)

27

Fritz hebt den bürgerlichen Charakter der Stadt Prag stark hervor: „Die Stadt an der Moldau erscheint […] als bürgerliche Stadt schlechthin“. (Fritz: Die Entstehung des „Prager Textes“, S. 114.)

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Prag hinunterschaut, wird die Analogie zwischen ihm und den anderen Gestalten der Stadt deutlich: „Nun war sie tief unter ihm, diese Stadt, die ihn reizte und ärgerte, in der es tausend Doppelgänger und Trugbilder seiner selbst gab. Diese Stadt, die ihn zu durchschauen und nicht anzuerkennen schien; aber er wird es ihnen allen eines Tages schon zeigen…“28 Die Anläufe Dowidals, seine Kindheit und Heimat hinter sich zu lassen, werden von deutlich sichtbaren Assimilationsinszenierungen begleitet; so versucht er etwa, seinen Körper zu stählen und seine Kraft trotz Kleinwüchsigkeit zu demonstrieren, er entmündigt seine Mutter und lässt sie öffentlich in ein Irrenhaus einweisen, in Berlin hält er sich pro forma eine Mätresse, um seine homosexuellen Neigungen zu verbergen und im Laufe des Romans wechselt er des Öfteren seinen Namen vom verhassten Jakob Dowidal/Dowidl zum lebensmännischen Jaques Dowidal bis hin zum ‚arischen‘ Arnold Widahl, um sowohl seine jüdische Abstammung als auch seinen Geburtsort Prag zu verbergen. Seine Herkunft, seine Vergangenheit und Kindheitserlebnisse sind jedoch so stark in ihn eingebrannt, dass er sich zwar nach außen hin eine neue Identität verschaffen kann, innerlich jedoch in all seinem Handeln und Streben von diesen determiniert ist. So reagiert er in der Weimarer Republik als Journalist des rechten Lagers unangemessen entsetzt auf das Auftauchen Waisls, eines alten Schulkameradens, in seinem Büro, nachdem sich bereits seine unerfüllte Jugendliebe Egon Epp auch in Deutschland niedergelassen hat; er fühlt sich bedroht und dies führt schließlich zu einer weiteren Radikalisierung seines Handelns: Widahl überlegte, länger als es der Bagatelle zukam, ob er Hans Waisl vorlassen sollte. Was wollte der? Hans Waisl – – das war fern wie die Jugend, wie die Vorkriegszeit, wie die Armut, wie die Herkunft. […] Eben erst hatte er erfahren, daß sich Egon von Epp vor kurzem in Deutschland niedergelassen hatte […] Das war zu viel auf einmal! Waisl und Epp im Lande! […] Zum Teufel, konnten sich diese heimatlos gewordenen Österreicher nicht anderswo niederlassen! Sie wußten zu viel von ihm. Sie brachten die tote Vergangenheit, die begrabene Jugend mit. Die bloße Erinnerung bewirkte, daß seine Augenlider zitterten und daß sein Herz sich wie gespalten anfühlte, als wäre es Schneewittchens Apfel: die eine Hälfte ist gut und rot und die andere giftig und gelb.29

Die Angst Dowidals vor seinen ehemaligen Klassenkameraden ergibt sich zum einen aus seiner Furcht, in der neuen Wahlheimat von ihnen bloßgestellt zu werden und damit seine Position einzubüßen. Er fürchtet um seinen Ruf als Preuße, der fest ver-

28

Natonek: Kinder einer Stadt, S. 78.

29

Natonek: Kinder einer Stadt, S. 213.

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wurzelt ist im nationalistischen Lager. Diese Angst erscheint nicht vollkommen unberechtigt, schließlich hatte Epp ihn bereits in einer Eifersuchtsszene in Prag und einem antisemitischen Ausbruch in einem vollen Lokal als „Judenjunge!“30 beschimpft. Doch der zwanghafte Wahn, mit dem Dowidal Epp in der Weimarer Republik unter Beobachtung stellen lässt und sich vor seinem Angriff fürchtet, während Epp noch nicht einmal ahnt, dass es sich bei dem politischen Gegner um den ehemaligen Freund handelt, ist allein dadurch nicht zu erklären. Das Bild des gespaltenen Apfels illustriert, dass es nicht nur der Hass auf seine Herkunft ist, der ihn verbittert macht, sondern gleichzeitig auch die Gebundenheit an die Heimat, die ihn das Gefühl der Nichtzugehörigkeit erst in ihrem vollen Ausmaß spüren lässt. Die Enttäuschungen und Erniedrigungen der im ersten Drittel des Romans erzählten Kindheitserfahrungen, der unerwiderten Liebe zu Epp, des Ausgeschlossenseins auf dem Kindergeburtstag, des Selbstmordes des Vaters und des Gefühls der Einsamkeit spielen bei seinem Verhalten im Erwachsenenalter ebenso eine Rolle wie der Versuch, diese Erlebnisse aus dem eigenen und dem öffentlichen Gedächtnis zu löschen. Der befürchtete und gleichzeitig forcierte politische und journalistische Kampf mit Epp in der Weimarer Republik erinnert dementsprechend auch stark an den Kampf der zwei Kinder Jakob Dowidal und Egon Epp um die Murmel, mit dem der Roman beginnt; Dowidal bemerkt hier: „[I]hm schien bei nachträglicher Betrachtung, als hätte er den Zusammenstoß herbeigeführt, damit Epp von ihm Notiz nähme, und weil ein Zusammenstoß besser ist als gleichgültige Fremdheit.“31 Der Kampf erscheint demnach nicht nur als feindliche Auseinandersetzung, Versuch der Distanzierung und schließlich Zerstörung von Epp als Personifizierung der Prager Herkunft und der schmachvollen Kindheit, sondern gleichzeitig auch als Annäherung und Beweis einer Sehnsucht und Liebe, die durch Zärtlichkeiten nicht ausgedrückt werden kann. Erst zum Ende des Romans löst sich Dowidal nach Epps Tod von dem Handlungszwang, dem er im Roman folgt und der vom Hass bestimmt ist, indem er fühlt, „daß dieser Tod mir endlich, nach dreißig Jahren Wahn, mein wahres Wesen zurückgibt und mich von dieser entsetzlichen Verzauberung des Hasses befreit!“32 Dieser Schluss des Romans ist jedoch etwas unglaubwürdig und wirkt aufgesetzt, indem er den Hass und den Selbsthass Dowidals, seine Selbstverleugnung, Assimilationsversuche und Zerstörungswut seiner selbst und anderer, die ihn an seine Herkunft erinnern, auf die Gestalt Epps und die Frage, ob dieser am Leben ist oder nicht, reduzieren. Epp ist zwar der Kristallisationspunkt von Dowidals Hass, die stellvertretende Figur für die Erniedrigungen seiner Kindheit, aber sein Tod kann nicht bedeuten, dass

30

Ebd., S. 171.

31

Ebd., S. 14.

32

Ebd., S. 343.

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Dowidal zu sich selbst zurückfindet. Das verklärende Ende des Romans wird dementsprechend auch relativiert durch vorherige Reflexionen Dowidals, die ihn auch nach Epps Tod bzw. gerade dann als entwurzelten, heimatlosen Menschen aufzeigen, der durch seine Assimilationsbestrebungen jegliche Chance auf echte Zugehörigkeit verspielt hat: Wohin? überlegte er und blickte auf den Globus. Zunächst werde ich die Gräber besuchen. Ich werde wieder Dowidl sein in den engen Straßen der alten Stadt. Ich werde auf der steinernen Brücke stehen, bei den Heiligen, die zusahen, als mein Vater in den Fluß sprang. Wer ist noch da von den Menschen jener Zeit? Gestorben sind sie und zerstreut in aller Welt. Zu Hause bin ich am fremdesten. Niemand wird Dowidl kennen, so gründlich hab ich mich verwandelt. Alles Lebendige ist treulos und wandelt sich; treu und beständig ist nur das Gewesene. Ich werde durchreisen und weiterfahren. Mein Leben raste hin in einer Bahn, die Epp bestimmte, raste über ihn hinweg. Aber jetzt, wo er zermalmt ist, spring ich aus dem Gleis und verschwinde ohne Spur.33

Der erste Gedanke nach Epps Tod, der Dowidals Existenz als Widahl in Hamburg ad absurdum führt, weil sein Leben auch in der Weimarer Republik immer um Epp kreiste, geht also nach Prag. Diese Stadt stellt den Ausgangspunkt nicht nur für die Beziehungen der ehemaligen Klassenkameraden Dowidal, Epp, Waisl und, wenn auch nur am Rande, Tomaschek, dar, sondern die gesellschaftliche Realität Prags vor dem Ersten Weltkrieg liegt auch sozialisierend und determinierend jeglichem Verhalten der Figuren im Roman zugrunde. Im ersten Teil des Romans entwirft Hans Natonek ein Panorama verschiedener Kindheitsgeschichten in Prag. Die Konfliktfelder, die sich vor allen Dingen für die zentrale Figur Dowidal ergeben und die für die Charakterisierung und das Verständnis seines späteren Verhaltens von entscheidender Bedeutung sind, sind nicht deutlich voneinander absetzbar, sondern steigern sich in ihrer Kombination zu einem Schicksal, das ihn bereits in dieser frühen Phase zu einem Außenseiter macht. Natonek verhindert durch die parallele Thematisierung von Homosexualität, Klassenunterschieden, Physiognomien und Judentum eine vereinfachende Deutung der Sozialisation unter einem bestimmten Gesichtspunkt. Der Hass und Selbsthass Dowidals sowie die ihm gleichzeitig von ihm selbst und der Gesellschaft auferlegte Außenseiterposition lassen sich somit nicht einfach z.B. durch Antisemitismus oder Homophobie erklären, sondern sie ergeben sich aus dem Einfluss der verschiedenen gesellschaftlichen Parameter Prags auf die Persönlichkeit Dowidals, die von dieser Gesellschaft geprägt ist.34

33

Ebd., S. 340.

34

Fritz marginalisiert die jüdische Herkunft als Faktor der Sozialisation und späteren Entwicklung, indem sie konstatiert: „Den grimmigen Dowidal treibt nicht etwa jüdischer,

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Die Stadt Prag hat jedoch nicht nur in ihrem zeitgenössischen Erscheinungsbild und ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einfluss auf die Protagonisten, die in ihr aufwachsen, sozialisiert und erwachsen werden, sondern in dem Roman Kinder einer Stadt hat auch die historische Vergangenheit Prags einen determinierenden Charakter auf das Verhalten der Figuren. In Bezug auf Dowidal klingt ein mystischer Charakter Prags an, der die Geschichte der Stadt, vor allen Dingen die kontinuierliche und uralte Thematik des immer wieder problematischen Zusammenlebens von Juden und Christen in Prag, auf die in ihr lebenden Kinder ablädt. In einem Streitgespräch verhöhnt Dowidal Waisls Versuche, im Militär Karriere zu machen, indem er auf Waisls jüdische Herkunft und die Unmöglichkeit der Assimilation spöttisch aufmerksam macht. In Dowidals Argumentation, die von seinem „eigene[n], heimliche[n] Ghettotum“35 motiviert ist, wird deutlich, inwiefern der uralte Prager Diskurs um Judentum und Assimilation seine Haltung, Selbstverortung und Überlebensstrategien beeinflusst und ihm Worte in den Mund legt, die nicht seiner selbständigen Persönlichkeit entspringen, sondern einem Hass und Selbsthass geschuldet sind, die historisch-gesellschaftlich generiert sind: „Verlogener Blödsinn!“ schrie Dowidal. „Nur wenn wir uns Macht verschaffen, sind wir da, sonst sind wir nichts! Verachtet: das ist unsere Ehre; belastet: das ist unsere Tradition; hinter uns nichts, vor uns nichts, aus dem Nichts muß man sich mit Fäusten und Zähnen herausarbeiten!“ – Der Rassenpessimismus ging seit je in der alten Stadt um, und die Debatten darüber waren leidenschaftlich und endlos.36

Die Vergangenheit der Stadt Prag wird aber auch an anderer Stelle und in vollkommen anderem Kontext thematisiert, diesmal in Bezug auf den christlichen Adeligen Epp. Für diesen weckt das Sinnieren über die Vergangenheit und Gegenwart Prags gänzlich andere Assoziationen und doch ist auch hier das Wesen der Heimatstadt determinierend für die Figur, indem der alternde Epp in seiner Dekadenz verfällt und an seinem Festhalten an der vergangenen Jugend schließlich politisch wie privat durch ein Verhältnis mit einer deutschen Minderjährigen, die repräsentativ für die

sondern bürgerlicher Selbsthaß um“. (Fritz: Die Entstehung des „Prager Textes“, S. 113.) Mit der Betonung des bürgerlichen Milieus hat sie sicherlich Recht, allerdings ist eine Verkürzung auf dieses Moment nicht weitreichend genug. Zum einen wurde oben bereits die Bedeutung des Antisemitismus für die Sozialisation Dowidals hervorgehoben, zum anderen stellt eben die Kombination und Vermischung der Bereiche der Klasse, der Sexualität und der Religion, all dies verbunden mit grotesken Elementen, in Kinder einer Stadt das Charakteristische des Prager Milieus dar. 35

Natonek: Kinder einer Stadt, S. 75.

36

Ebd.

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weibliche Jugend der Weimarer Republik erscheint,37 scheitert. Bei seinem ersten Besuch in Paris spürt Epp, dass sich dort „das Leben aus einer unerschöpflichen Vergangenheit [regenerierte]“, während in Prag die „große Vergangenheit […] unwiederbringlich dahin und gespenstisch [] und die Zukunft ungewiß [war], man lebte gleichsam ohne sie.“38 Die „vaterländischen Minderwertigkeitsgefühle“,39 die Epp bei Reisen nach Paris in Bezug auf die Geschichte seiner Heimat und die dem Untergang geweihte österreichische Größe empfindet, korrelieren mit seiner späteren Ohnmacht gegenüber der blühenden Jugend und den Reizen der die Weimarer Republik zu überfluten scheinenden Weiblichkeit, die es in der Verfallsphase des österreichischen Prags nicht mehr gegeben hat.40 In Analogie zu dem österreichischen Adel in Prag angesichts des jungen, aufstrebenden tschechischen Volkes vermag Epp es nicht, sich aus der Vergangenheit zu ‚regenerieren‘ und mit den neuen Entwicklungen umzugehen, sondern findet lediglich im pathetischen Versuch ‚mitzuhalten‘ seinen Untergang. So unterschiedlich die Auswirkungen der (nicht im vollen Umfang bewussten) Reflektion der deutschen Geschichte der Stadt Prag für Dowidal und Epp sein mögen, so determinierend sind sie doch für beider Verhalten. Sie agieren nicht als selbständige Individuen, sondern als gezeichnete Kinder ihrer Heimat; für Dowidal bedeutet dies eine latente Auseinandersetzung mit dem Gefühl des Ghettodaseins und dem Versuch, seine Herkunft abzuschütteln, für Epp zieht es die Konsequenz des Bewusstseins der Vergänglichkeit und Ohnmacht gegenüber den neuen Entwicklungen nach sich; in beiden Fällen handelt es sich um Minderwertigkeitskomplexe, die ihr Leben durchziehen und immer wieder auf die Herkunft aus Prag rückbezogen werden. Die Protagonisten des Romans unterscheiden sich durchaus in ihren Erfahrungen, ihren Lebens- und Leidenswegen, und doch ist ihnen allen gemeinsam, dass sie durch ihre Herkunft determiniert sind und als mehr oder minder groteske Figuren scheitern müssen; am Ende des Romans werden ihre individuellen Besonderheiten nivelliert. Der Umstand, dass sie im Laufe des Romans sich gegenseitig nie entkommen, ihre Wege sich immer wieder kreuzen und der Kampf mit den ehemaligen Schulkameraden auch in der Weimarer Republik nicht endet, sondern ihr Leben bestimmt (mit der Ausnahme Tomascheks, der, als ein Abbild Egon Erwin Kischs, tatsächlich als Reporter in der Welt beheimatet zu sein scheint), lässt sich damit erklären, dass sie alle

37

Vgl. auch Fritz, für die das Mädchen stellvertretend für die neusachliche Jugend steht.

38

Natonek: Kinder einer Stadt, S. 104.

39

Ebd., S. 105.

40

Vgl. ebd, S. 106: „Was haben uns die Väter hinterlassen? Liberalismus und ‚o du mein

(Vgl. Fritz: Die Entstehung des „Prager Textes“, S. 70.)

Österreich‘! Wo ist die Jugend Österreichs? In den Ballkomitees? Gibt es eine Jugend Österreichs?“

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dem Prager Milieu entstammen, das im Roman folgendermaßen beschrieben wird und an andere Darstellungen der überhitzten, dekadenten und überfüllten Atmosphäre des pragerdeutschen künstlerischen Zirkels erinnert:41 Den Geschöpfen dieser Stadt war ein scharfes Signalement eingebrannt, sie trugen gleichsam besondere Merkmale, an denen sie sich erkannten. Ihre Ähnlichkeit zog sie an und stieß sie ab. Sie waren alle untereinander verwandt, zum mindesten im Seelischen. Es gab da Geisterseher und verkrümmte Genies, Talmudisten und Tenöre der Literatur, Sozialreformer, Revolutionäre, Fauste und Mephistophelesse, so viel man wollte, und beides sogar in einer Person vereint, und alle übrigen waren begabte Enthusiasten oder begabte Verneiner, und selbst jene, die mit vierzig Jahren gewiegte Tarockspieler waren, hatten mit zwanzig talentierte Aphorismen von sich gegeben.42

Die Prager (die Schilderung bezieht sich in besonderem Maße, wenn nicht ausschließlich, auf die Prager Deutschen) werden in dieser Darstellung als groteske Figuren gekennzeichnet, wobei beinahe ein Bild der Heterotopie von gesellschaftlichen Grenzgängern in der Stadt Prag entworfen wird.43 Anhand dieser Beschreibung, die das Groteske, das per se definiert wird durch die Verbindung von Gegensätzlichem und „symptomatologisch auf Unversöhnlichkeit des Denkens und Unvermittelbarkeit zwischen Tradition und Innovation verweist“,44 hier als strukturgebendes Merkmal einer Gesellschaft auszeichnet, lassen sich interessante Rückschlüsse einerseits auf das Verhalten der Figuren im Roman und dementsprechend der Kinder einer (nämlich dieser) Stadt auch außerhalb Prags, andererseits jedoch auch auf die immer wieder hervorgehobene literarische Produktivität der deutschen Einwohner Prags in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ziehen. Die Wechselwirkung des Grotesken mit der kulturellen Norm birgt kreatives Potential, wie Fuß bemerkt:

41

Vgl. etwa Paul Kornfelds Antwort auf die Rundfrage: „Warum haben Sie Prag verlassen?“ im Prager Tagblatt: „[E]s herrschte damals, abgesehen von der ganz bürgerlichen Welt, die Stimmung einer überhitzten und vorwiegend destruktiven Intelligenz, die im Mißverhältnis stand zu allem übrigen Menschlichen; mehr des Witzes als der Fröhlichkeit, mehr der Debatte als des Ernstes, mehr der bewussten Paradoxie als der Heiterkeit. Die Kunst war Fachangelegenheit Aller, herausgerissen aus dem Zusammenhang, aus der Vielfalt des übrigen Lebens.“ (Prager Tagblatt: Bühne und Kunst. Prag als Literaturstadt, 47. Jg., Nr. 127 (2. Juni 1922), S. 6.)

42

Natonek: Kinder einer Stadt, S. 126.

43

Vgl. auch die Thematisierung der „ganz eigenartige[n] Vielzahl von Originalen und Son-

44

Rosen: Lemma „Grotesk“, S. 877.

derlingen“ in Prag bei Tramer: Dreivölkerstadt Prag, S. 187f.

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Als Dekomposition der Ordnungsstrukturen seiner Kulturformation ist das Groteske das ‚Fremde‘ dieser Kultur. In der grotesken Rezentrierung des im Zuge ihrer Konstituierung Marginalisierten stößt sie auf ihr Fremdes. Der Einbruch des Rahmens, die Konfrontation und Kollision mit ihrer eigenen Dekomposition erschüttert die Stabilität der symbolisch kulturellen Ordnung der Formation, die sich jener Abgrenzung von ihrem Fremden verdankt. […] Diese Liquidation kultureller Formationen und die mit ihr einhergehende Entbindung kreativer Potenz ist die zentrale Funktion des Grotesken. Während die Dekomposition also im Grotesken Gestalt gewinnt, vollzieht sich die Liquidation zwischen dem Grotesken und der kulturellen Formation.45

Hier wird das Groteske als Ausnahmeerscheinung der kulturellen Formation verhandelt, welche die Ordnung in Frage stellt und das in ihr vorhandene Fremde, Andere aufdeckt. Betrachtet man nun aber die Darstellung des Prager Milieus, so ist nicht mehr die kulturelle Ordnung, sondern das Marginalisierte und Groteske, also die Deformation der ‚Kultur‘ die Norm, die eigentliche Kultur. Das Groteske ermöglicht auch in diesem Falle einen kreativen Prozess, indem er sich aber nicht mehr aus der ‚Liquidation kultureller Formationen‘, sondern rein aus sich selbst entfaltet, nehmen die Erzeugnisse dieses Prozesses wiederum groteske Formen an; in der Passage aus dem Roman Kinder einer Stadt sind es die ‚verkrümmten Genies‘ und die ironisch bedachten ‚talentierte[n] Aphorismen‘. In anderen Darstellungen der Zeit, die sich mit der Selbstwahrnehmung der übermäßigen literarischen Produktivität der deutschen Zirkelder Stadt und vor allen Dingen der Jugendlichen auseinandersetzen, klingen ähnlich ironische Untertöne an: Die Weltanschauung, die mit Fünfzehn abgeschlossen ist, wird in den Zehnuhrpausen hinter Barrikaden von Belesenheit mit der rhetorischen Ausdauer einer noch unverbrauchten Jugend verteidigt. Ein allgemeiner Wettkampf tobt, aus allen Rocktaschen schauen die Zipfel der ersten schriftstellerischen Versuche hervor, so mancher fühlt sich von einer engeren Kollegenschaft lobend als frühzeitig unverständlich bezeichnet, die Schaffenskraft sieht sich gefördert, was Hände hat, schreibt, immer Neue kommen hinzu, alles schreibt, jeder kann schreiben…46

45

Fuß: Das Groteske, S. 154f.

46

Rosenfeld: Prag, eine literarische Stadt. In: DZB 21.11.1917, S. 3f. Vgl. auch das höhnische Urteil Karl Kraus’ über „Prag, wo sie besonders begabt sind, und wo jeder, der mit einem aufgewachsen ist, der dichtet, auch dichtet […], so daß sich dort die Lyriker vermehren sich wie Bisamratten […]. Ob es nicht endlich an der Zeit wäre, dieser Generation den Hintern auszuhauen?“ (Kraus: Die Fackel (AAC), XVI. Jahr, Nr. 398, (21. April 1914), S. 19f.)

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Die Kinder in Natoneks Roman wachsen in einem Milieu des Grotesken auf und die Erziehung, die sie in diesem Rahmen erhalten sowie ihre Kindheits- und Jugenderfahrungen prägen ihr Leben auch in der Weimarer Republik. Dort gelingt es den Prager Figuren in Kinder einer Stadt nicht, sich zu integrieren; sie nehmen zwar am öffentlichen Leben teil, bleiben jedoch dabei immer nur gegenseitig auf sich untereinander bezogen. Sie leben dementsprechend auch in Deutschland in einer mentalen Enklave, sie erscheinen als Figuren zwar nicht mehr so grotesk wie ihre Eltern und doch nimmt auch ihr Verhalten groteske Züge an, sie existieren ebenfalls gleichsam außerhalb der ‚kulturellen Formation‘. Die Sozialisation in dem beschriebenen Prager Milieu beginnt bei den Kindern einer Stadt jeweils in ihrem Familienkreis, wenngleich in gänzlich unterschiedlicher Ausführung. Die groteskeste Figur im Roman stellt wohl Dowidals Mutter dar. Dies beginnt bereits bei ihrem optischen Erscheinungsbild. Unter ausgefallenen Hüten trägt sie strähniges, flatterndes, gelblichweißes Haar, „sie ging immer in Seide, eine verwahrloste Eleganz, die man für bohèmehafte Eigenart hielt. Einzelheiten ihrer Kleidung, der Hut, Schuhe, Handschuhe oder der Schirm, waren kostbar und standen in einem schreienden Gegensatz zum verlotterten Ganzen.“47 Sie führt einen ‚lockeren Lebenswandel‘, ist verschwenderisch, beutet ihren Mann aus, der davon in den Selbstmord getrieben wird und häuft in ihrer Wohnung, die einem Trödelladen gleicht, allerlei Tand an. Als Dowidals Vater in einer Auseinandersetzung mit seiner Frau Schubladen aufreißt, wird der ganze Lebensstil der Mutter, einer „geborenen Pinkas“,48 deutlich, der den Beschreibungen der Trödler in der alten Judenstadt Prags gleicht, vergleicht man es z.B. mit dem Geschäft des Aaron Wassertrum in Meyrinks Golem:49 Seidene Strümpfe, Schleier, Stoffreste, unbezahlte Rechnungen quollen ihm entgegen; teure Parfüms, halb ausgegossene Schönheitstinkturen, ein einzelner Handschuh, dem der Partner fehlte, falscher Schmuck oder auch echter, zerbrochene Agraffen, Geldscheine, Brokatschuhe, Leihamtszettel, Wäschestücke, Straußenfedern – es sah aus wie im Hirn eines Geisteskranken, und jeder Kasten war ein Abbild davon.50

Stephan Berg hat herausgearbeitet, dass der Antiquitätenladen in der Literatur, insbesondere in der phantastischen, eine spezifische Funktion hat. Kinder einer Stadt ist

47

Natonek: Kinder einer Stadt, S. 18.

48

Ebd., S. 89.

49

Vgl. Meyrink: Golem, S. 14. Vgl. auch die Aussage Mirjams: „Wenn Sie einmal seinen Laden von innen gesehen hätten […], wüßten Sie sofort, wie es in seiner Seele ausschaut.“ (Ebd., S. 175.)

50

Natonek: Kinder einer Stadt, S. 25.

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kein phantastischer Roman und dennoch kann Bergs Interpretation des Antiquitätenladens und seiner Funktion innerhalb der Zeitstruktur im Roman in Ansätzen auch für Natoneks Roman nutzbar gemacht werden, indem das mit alten Möbeln und „phantastische[m] Gerümpel“51 vollgestopfte Elternhaus dem jungen Dowidal eine bizarre Welt eröffnet. Berg schreibt über den Antiquitätenladen, er stelle eine Art Zeitmaschine dar, indem Gegenstände aus früheren und aktuellen Zeiten nebeneinander lagern und sich der Laden und die in ihm gelagerten Gegenstände nicht zu verändern scheinen, obwohl teilweise Waren verkauft werden und neue hinzukommen. Somit hebe „sich die hierarchische, Kontinuität versprechende Stufe eines linear-kausalen Geschichtsbegriffs auf, zugunsten einer unverbundenen, gleichzeitigen Anwesenheit des Ungleichzeitigen.“52 Diese Beobachtung lässt sich durchaus anhand der Beschreibung der Rumpelkammer von Dowidals Elternhaus bestätigen, indem auch hier die Zeit stehen zu bleiben scheint und dadurch die Vergeblichkeit des ersten Abnabelungsversuches Dowidals von seiner Herkunft und Abstammung deutlich wird. Nachdem sich Dowidal nämlich bereits seit zwei Jahren von seinem Elternhaus gelöst hat und in einer Rechtsanwaltsfirma arbeitet, kehrt er noch einmal an die Stätte seiner Kindheit zurück, da er seine Mutter entmündigen will, um von dem Geld reiten, fechten und schießen zu lernen und es somit seinen ehemaligen Klassenkameraden gleichzutun bzw. ihnen zu imponieren. Beim Wiederbetreten der Wohnung jedoch holt ihn die aufgegeben geglaubte Vergangenheit und Kindheit angesichts des Gerümpels wieder ein und es kommt ihm so vor, als käme er gerade erst aus der Schule nach Hause. Die Verbindung zu diesem Haus und die Unlösbarkeit davon, selbst über eine lange Zeitspanne hinweg, wird ihm bewusst, denn „es war sein Name, es war seine Mutter, seine Heimat.“53 Somit bleibt ihm nichts übrig, als „mit den Wertobjekten die Qualen der Vergangenheit“zu inventarisieren.54 Die elterliche Wohnung erscheint trotz oder auch gerade wegen ihrer unentwirrbaren Unordnung als Bildnis des Kontinuums in Dowidals Leben und seiner, wenn auch unbewussten, Selbst- und Fremdbestimmung, dem räumliche und zeitliche Entfernung nichts anhaben kann, da es trotz Veränderungen in sich gleich bleibt. Durch das Aufwachsen in diesem Milieu lässt sich dementsprechend nicht nur die oben angesprochene Gefangenheit Dowidals in alten Vorurteilen und Problematiken der Stadt Prag erklären, sondern auch seine Unfähigkeit, sich von den Problemen seiner Kindheit zu lösen. Der Interpretation Bergs bezüglich der Antiquitätenläden sei am Beispiel Kinder einer Stadt noch hinzugefügt, dass dieser nicht nur den kausalen zeitlichen Ablauf

51

Ebd., S. 20.

52

Berg: Schlimme Zeiten, böse Räume, S. 221.

53

Natonek: Kinder einer Stadt, S. 91.

54

Ebd., S. 88.

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aus den Angeln hebt, sondern ebenso die räumlichen Strukturen. So vermag das Elternhaus Dowidals alle räumlichen Vorstellungen zu bieten außer der, die es tatsächlich vorstellen sollte, nämlich ein Heim. Das Kind Jakob Dowidal erlebt durch das teilweise sehr exotische Gerümpel „phantastische[] Abenteuer[] der weiten Welt“,55 er dringt in Zauberreiche vor und erfährt anhand von echten und unechten Luxusartikeln „den Inbegriff von Reichtum und großer Welt“.56 Der Vater dagegen, der das Haus betritt, muss im Dämmerzustand der Wohnung zunächst ein Streichholz anzünden, er „hielt es hoch bis zum Erlöschen und erkannte doch nicht, daß er zu Hause war.“57 Dies begründet in gewissem Sinne auch das Dilemma Dowidals im Umgang mit seiner Heimat, für die das Elternhaus paradigmatisch gesehen werden kann. Durch die oben bezeichnete zeitliche Eigentümlichkeit der Rumpelkammer wird die Zwecklosigkeit des Unterfangens der Loslösung von der Herkunft deutlich. Diese Herkunft bietet jedoch keine Sicherheit und Zugehörigkeit im Sinne einer Heimat, sondern lediglich ein Angebot an phantastischen Tagträumereien, um eben der Realität der unheimeligen Heimat zu entkommen. Das Paradoxon des einerseits In-diegroße-Welt-Hinausschickens bzw. -Hinausjagens und andererseits das Festhalten des Sprösslings selbst in der Ferne,58 mit dem Dowidal zu kämpfen hat, ist bereits in der räumlichen Atmosphäre des Elternhauses präsent. In diesem Chaos erlebt Dowidal seine Kindheit, die Wohnung bietet zwar dem Kind einen nie langweilig werdenden Abenteuerspielplatz, doch sie stellt in der Unpersönlichkeit ihrer Gegenstände und der Abwesenheit elterlicher Liebe auch eine Leere dar,59 die paradigmatisch für die Kindheitserlebnisse Dowidals ist. Die Mutter ist brutal und irrsinnig,60 der Vater liebt den Sohn zwar, kann seine Zuneigung jedoch

55

Ebd., S. 21.

56

Ebd., S. 22.

57

Ebd., S. 23.

58

Vgl. zur empfundenen Determination durch die Stadt Prag auch die vielzitierte Stelle aus Kafkas Briefwechsel: „Prag läßt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat Krallen. Da muß man sich fügen oder –. An zwei Seiten müßten wir es anzünden, am Vyšehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich, daß wir loskommen.“ (Brief an Oskar Pollak, 20.12.1902. Kafka: Briefe 1900-1912, S. 17.)

59

Vgl. Natonek: Kinder einer Stadt, S. 20.

60

Der Erzähler ist zu Beginn des Romans parteiisch, die Mutter wird sehr negativ beleuchtet, während der Vater als rechtschaffener, hart arbeitender, aber schwächlicher und von der Gesellschaft nicht verstandener Mann dargestellt wird. Erst in der späteren Episode, in welcher der junge Dowidal seine Mutter in ein Irrenhaus einweisen lässt, wird die eindimensionale Sicht auf die Mutter abgeschwächt, indem Dowidal ihr ihre Verfehlungen vorwirft, wobei ihm „[d]as Gemisch von Wahrheit und Trug, das er nicht zu trennen vermochte, […] den Zorn in die Augen [trieb]“. (Ebd., S. 90.)

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nicht zeigen. Er verbringt seine Zeit beinahe ausschließlich in der Redaktion, er ist dem eigenen Sohn fremd und dieser kennt nicht einmal den Namen des Vaters: „Er weiß nicht, was die Abkürzung „M.“ bedeutet; er hat den Vornamen seines Vaters nie gehört, als wäre die Zärtlichkeit des Rufnamens in diesem Hause erstickt.“61 Für den jungen Dowidal ist diese Herkunft in zweierlei Hinsicht bedeutsam und zeichnet seinen späteren Weg vor: Zum einen erlebt er in seiner Kindheit eine doppelte Isolation, nämlich das Gefühl der Einsamkeit und Heim(at)losigkeit zu Hause und die Exklusion aus den besseren Zirkeln der Stadt, deren Einwohner über die Verhältnisse des Dowidalschen Haushaltes zwar nicht in ihren Einzelheiten Bescheid wissen, aber die sich über den zweifelhaften Ruf von Mutter und Vater einig sind. Unschwer lässt sich hieraus Dowidals spätere Gefühllosigkeit und seine Geltungssucht erklären. Zum anderen aber tragen die diametral entgegengesetzten Charaktere der Eltern zu Dowidals eigener Charakterbildung bei. Die Verhaltensweisen der herrischen, grotesken Mutter, der dekadenten Trödlerin, und des schwächlichen, gutherzigen Vaters, des ärmlichen Journalisten, dieser stereotypen Figuren, die eng mit der Stadt Prag verbunden sind, formen bereits in dem Knaben Lehren, die er sein Leben lang befolgt, und gleichzeitig Zweifel und Ängste, die seine Zerrissenheit begründen: Jakob tat einen tiefen Blick in die gestörte Ordnung und bekam Angst vor dem Leben, das solche unlösbaren Widersprüche bereithielt. Er fühlte sich hingezogen zu der, die ihn vernachlässigte, schlug und verachtete, wie sie alles Kleine und Schwache verachtete. Und der ihn liebte, der Vater, den musterte er kalten Blickes und rückte von ihm ab wie von einem verwandten, drohenden Schicksal…62

Auch die Klassenkameraden Epp und Waisl bekommen die Prager Sphäre durch ihre Familien zu spüren. Sind die Verwandten in diesen Fällen auch nicht so optisch hervorstechende Repräsentanten einer bizarren Gesellschaft, so sind sie dennoch groteske Figuren in einer nach dem Ersten Weltkrieg überkommenen Lebenswelt. Hans Waisl wächst als Waise (der Name ist ebenso wenig wie der Dowidals zufällig gewählt) bei seiner schrulligen Tante auf, die es sich aufgrund eines falschen, in der k.u.k.-Monarchie verhafteten Familienstolzes in den Kopf gesetzt hat, aus dem zarten Kinde, das religiös-poetische Anwandlungen hat, ausgerechnet einen Offizier zu machen. Waisl reagiert auf diese Zumutung stoisch, ähnlich wie auf die nachfolgenden Schicksalsschläge; sein verlorenes Bein im Weltkrieg, die unglückliche Ehe mit einem Mädchen vom Land, das sich in der Weimarer Republik in eine ausladende, konsumsüchtige Megäre verwandelt und seine Unterdrückung und Ausbeutung durch Dowidal in dessen Redaktion. Der Knabe Hans Waisl, der bereits in seiner Kindheit

61

Ebd., S. 15.

62

Ebd., S. 60f.

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versuchte, der Macht des Schicksals zu gehorchen, eine religiös anmutende Moral aufrechtzuerhalten und durch Verständnis allen gerecht zu werden, bleibt hierdurch sein Leben lang ein Ausgeschlossener und Fremdkörper der Gesellschaft. Die Fremdheit und Einsamkeit, die bei beinahe jedem Auftritt Waisls suggeriert und durch seine Physiognomie, die dazu unpassende Kleidung und sein sanftes, duldsames Verhalten, das zunächst seinen Schulkameraden, dann den Soldaten und Vorgesetzten und schließlich seiner Frau befremdlich anmutet und dem mit Feindseligkeit begegnet wird, hervorgerufen werden, reflektiert Waisl gegen Ende des Romans selbst als Erbe einer Heimatlosigkeit, die ihn im Leidensschicksal verortet: „Ich war immer dort, wohin ich nicht passte, und da habe ich mir eingebildet, ich sei im Leid beheimatet und ich brauche keine Glück.“63 Eine Loslösung von diesem Schicksal gelingt jedoch auch nicht. Durch eine angebliche Rückbesinnung auf ein wahres Ich, das Waisl gegen Ende des Romans vornimmt, indem er sich von seiner Frau und Dowidal löst und diesen gar erpresst, reduziert er sich auf eine Figur, die zwar egoistisch Vergnügungen nachgeht und erstmals in eine dekadent-bürgerliche Gesellschaft integriert ist (so trifft er Epp bei einem Sanatoriumsaufenthalt und erzählt gönnerhaft von seinem Triumph über Dowidal), jedoch nun ihrerseits komische Züge annimmt, während sie zuvor in ihrem Elend erhaben schien. So durchschaut er selbst den Makel, der seinem neuen Leben anhaftet, indem er sein Verständnis der Welt zu seinen eigenen Zwecken nutzt: „Durchschauen genügt nicht, fühlte er stumm, man muß seine Wahrheit leben. Er trauerte um die verlorene Kraft der Einfalt.“64 Der Vorwurf Dowidals an Waisl, dieser habe nichts gegen seine Übeltaten und den Haß getan, sondern sich auf dem Schweigegeld ausgeruht, trifft Waisl somit nicht ganz unverdient. In diesem Sinne scheitern sowohl Dowidal als auch Waisl an dem Versuch, sich von dem Erbe ihrer Herkunft zu lösen; das Leben, das sie schließlich in der Weimarer Republik führen, bleibt ein Selbstbetrug. Die Lebens- und Scheiternswege Dowidals und Waisls sind stark voneinander unterschieden, und doch liegt der Grund für ihren Werdegang und ihr Verhalten in der Macht der Herkunft begründet. Diese Analogie, die beide dazu zwingt, den für sie in ihrer Kindheit vorgezeichneten Pfad nicht zu verlassen, wird bereits am Beginn des Romans gezogen, als Waisl über die Entscheidung seiner Tante nachsinnt: Hans Waisl wehrte sich nicht gegen den Familienbeschluß, den das überspannte Gehirn seiner Tante ausgebrütet hatte. Man mußte es hinnehmen, es war ein Teil des Unabwendbaren und Unbegreiflichen, wovon die Welt voll war. Es war vorläufig sinnlos und verhängt wie jedes

63

Ebd., S. 296.

64

Ebd., S. 297.

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Verhängnis. Von solchen unberechenbaren Mächten wimmelte das Leben, ja es war geradezu mit diesen identisch. Auch Dowidals Mutter war ein Teil dieser Macht.65

Auch Egon Epps sexuelle Getriebenheit, die ihn sein Leben lang verfolgt und schließlich zu seinem persönlichen wie beruflichen Sturz führt, ist in seiner Herkunft aus liberalem Hause in Prag angelegt. Der Vater, ein reicher Industrieller, gefällt sich in der Vorstellung des progressiven Bohème, der seinem Sohn die sexuellen Freuden nahe bringen möchte. Zu diesem Zweck bezahlt er eine Prostituierte, um den 16jährigen Egon in die Welt der körperlichen Liebe einzuführen. Diese Erfahrung mit der Prostituierten Olga markiert den Beginn einer lebenslangen sexuellen Gier nach Frauen und eines Eroberungsdrangs, der jeweils nach der kurzen körperlichen Befriedigung ein Gefühl der Leere in Epp zurücklässt. Der Name Olga wird stellvertretend für die Masse an Frauen, die unpersönlich an ihm vorbeizieht und der er dennoch nicht widerstehen kann. Bereits nach dem Akt der ‚Entjungferung‘ ahnt Epp sein Schicksal: Was habe ich nur vergessen, grübelte er. Und da fand er es mit plötzlichem Entsetzen: Er wusste nicht mehr, wie sie aussah. Sie war ohne Gesicht – grauenhaft. […] Ist das nun alles? Ich werde wiederkommen, um ihr Gesicht zu sehen. Lohnt es? Ich werde nicht wiederkommen. Ich werde hundert andere Gesichter sehen. Er fühlte in sich so viel Leere, Raum für Hunderte von Olgas, jede wie sie und doch anders. (Wie sie: das ist die Wahrheit; und doch anders: das ist die Illusion.) Er empfand, erst wenige Schritte von ihrem Haus entfernt, den trockenen Durst, den Olga geweckt hatte.66

Wenn es an einigen Stellen auch so erscheint, als sei Epps ständiger Rekurs auf Olga nach einem unbefriedigenden Liebeserlebnis und nach einem weiteren Betrug seiner Ehefrau eine Ausrede, um seine sexuelle Gier zu rechtfertigen, so liegt es dennoch nahe, diesem Erlebnis eine besondere Bedeutung beizumessen, indem der Vater mit seinem fortschrittlichen Verständnis der Sexualität für den Jungen eine Welt eröffnet, die in krassem Gegensatz zu der von diesem bislang wahrgenommenen gutbürgerlichen Welt Prags in den 10er Jahren steht. Die Welt der Prager besseren Gesellschaft und vor allen Dingen das Verhältnis zwischen den jungen, relativ freien, sich erwachsen und selbstbewusst gebenden Männern und den gleichaltrigen, ohne Anstandsdame nicht auf die Straße gehenden, von der männlichen Welt bis zur Hochzeit separierten Mädchen und die Problematiken, die sich hieraus ergaben, sind von vielen

65

Ebd., S. 28f.

66

Ebd., S. 51f.

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Autoren behandelt worden.67 Die Ansprache, die Egon Epp nach seinem Erlebnis mit Olga in der „Kanzel“ hält, in der er mit seinen Klassenkameraden über Fragen der Liebe und Sexualität fachsimpelt, lässt zum einen darauf schließen, dass Epps Vater mit seiner Aktion keine Seltenheit darstellt und begründet andererseits Egon Epps gespaltenes Verhältnis zu Frauen, das zwischen Begehren und Leere, Verführung und Schuldgefühlen oszilliert und das ihn schließlich ins Verderben führt: Wir alle lieben ein Mädchen, eine aus dem Lyzeum oder aus der Kirchnerschen Töchterschule […]. Wir steigen ihnen nach, wir machen nächtliche Fensterpromenaden und Gedichte, wir starren sie aus der Ferne an – und was tun wir dann? Das ist das Jämmerliche. […] Wir gehören zu diesen Mädchen, die Mädchen gehören zu uns, aber sie sind uns unerreichbar. Man nimmt uns nicht für voll; man läßt uns nicht erwachsen sein, man unterdrückt uns! Wir sind ‚grüne Jungens‘, und bestenfalls läßt man uns zu Huren gehen und in die Bordelle; und selbst da sind wir nur Spielzeug.68

Sein Verhältnis zu Valerie, seiner Jugendliebe und späteren Ehefrau, die ihre Jugend unter dem grotesken Widerspruch verbringt, dass sie zwar von den gleichaltrigen Jungen angehimmelt wird, von wenig attraktiven, aber halb vermögenden und daher potentiellen Heiratspartnern jedoch wie ein Stück Vieh kritisch beäugt und schließlich abgelehnt wird, ist bereits in der Jugend vorgezeichnet, indem die schwärmerische Liebe, die eigentlich Epps Naturell entspricht, durch die Konventionen der Gesellschaft und dem ‚Kennenlernen‘ aller Frauen durch Olga unterdrückt und durch einen brutalen Beigeschmack des rein sexuellen Eroberers erstickt wird. Sein Bild der Frauen wird neben dem Initialerlebnis mit der Prostituierten auch durch Dowidals Verleumdung Valeries begünstigt, jedoch wäre dies ohne die gesellschaftlichen Parameter, die es Egon Epp verwehren, auch nur ein Wort mit Valerie zu wechseln und sie somit nicht nur als entrückte Schönheit, sondern als Frau aus Fleisch und Blut wahrzunehmen, kaum möglich gewesen. Keine der drei Hauptfiguren aus Kinder einer Stadt schafft es im Laufe des Romans, ihren Weg in der Weimarer Republik zu machen, weder beruflich noch privat. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass sie alle abhängig sind von ihrem Prager Erbe, das sie nicht abschütteln können, und sich auch nach dem Verlassen Prags ihr

67

Vgl. z.B. Haas: „Die schönen Mädchen, die wir auf Gesellschaften und Hausbällen trafen, waren völlig unberührbar: es war ein Blütenkranz, so dicht geflochten, daß eine einzige herauszureißen, das Ganze zerstört hätte, und wer wollte das tun? Ihre Unberührbarkeit war ihre ganze Schönheit, ja, ihre ganze Existenz: wenn wir sie uns begehrend vorgestellt hätten, so wären sie ganz andere, unglaubhafte Lebewesen geworden.“ (Haas: Die Literarische Welt, S. 28.)

68

Natonek: Kinder einer Stadt, S. 53f.

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Leben nach wie vor um die Vergangenheit, um ihre alten Schulkameraden, die Entscheidungen ihrer Eltern, die ihr Leben für immer prägten, und alte Feind- und Freundschaften dreht. Waisl und Epp gehen schließlich daran zugrunde, dass sie sich nicht von der Bürde der gesellschaftlichen Rollen, die sie seit ihrem Aufwachsen in Prag spielen und leben, befreien können; in Waisls Falle ist dies das künstlerische Außenseiter- und Märtyrertum, in Epps Falle das Dasein als jugendlicher Frauenheld. Auch Dowidal ist von seiner Herkunft determiniert, er erscheint gar als die Prager Figur schlechthin: Durch seine Zugehörigkeit zu diversen minoritären Gruppierungen ist er von Kindheit an einerseits integraler Teil der Stadt, „in der es tausend Doppelgänger und Trugbilder seiner selbst gab“,69 andererseits wird er jedoch gleichzeitig im alltäglichen Leben angefeindet und ausgeschlossen. Diese Kindheits- und Jugenderfahrungen in Prag wirken sich massiv auch auf sein späteres Leben aus, indem er alles daran setzt, seine Herkunft hinter sich zu lassen, sich von der verhassten Stadt und ihren Einwohnern zu distanzieren und sich ein Leben in der Weimarer Republik aufzubauen, das von gegensätzlichen Parametern gekennzeichnet ist, nämlich von Erfolg und Reichtum, Macht und preußischem Ariertum. Im Versuch jedoch, sich von seiner Herkunft zu trennen, ist sein Handeln immer noch von dieser determiniert, und in der Angst, entlarvt zu werden, zeigt sich die Unmöglichkeit, Prag als Herkunft zu verleugnen oder abzulegen. Durch die Assimilation in der Weimarer Republik und den Versuch der Aufgabe der ‚Prager Identität‘ entfremdet sich Dowidal jedoch von seiner Heimatstadt, während es ihm gleichzeitig nicht gelingt, sich in der Weimarer Republik zu integrieren, da er in all seinem Tun den Fokus lediglich auf die Prager Figuren Epp und Waisl zu legen scheint. Figuren aus der Weimarer Republik tauchen in seinem Umfeld überhaupt nicht auf, scheinen auch keinerlei Rolle zu spielen. Schließlich geht Dowidal nur noch im Hass gegen Epp auf, der stellvertretend für seinen Kindheitserfahrungen und -enttäuschungen steht und nach dessen Tod muss er feststellen, dass er durch seine Assimilationsbestrebungen und die Verleugnung seiner Herkunft ein vollkommen entwurzelter Mensch geworden ist.

69

Ebd., S. 78.

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5.5 O SKAR B AUM : Z WEI D EUTSCHE In Oskar Baums „Zwei Deutsche“ treten zwei junge Protagonisten auf, der gutbürgerliche Nationalsozialist Rolf und der proletarische Marxist Erhard, die seit Jugendtagen befreundet sind. Der Roman begleitet beide in ihren Erlebnissen des Jahres 1932, in dem sie ihre politischen Ansichten radikalisieren und sich in heftigen Diskussionen langsam gegenseitig entfremden. Die Problematik der Selbstverortung des Individuums äußert sich hierbei nicht auf der Ebene der Charakteristiken der Hauptfiguren, die dogmatisch ihren Ideologien folgen, sondern auf einer Art MetaEbene: Der Erzähler gibt den politischen Ansichten Rolfs und Erhards in einer erstaunlichen Gleichberechtigung Raum, vor allen Dingen wenn man das Entstehungsdatum des Romans 1934 in Betracht zieht, keine der politischen Richtungen wird grundsätzlich und a priori verdammt. In der Schilderung der beiden im Roman thematisierten Positionen, ihrer Gleichberechtigung und der Darstellung ihrer Unzulänglichkeit ist eine dritte Position impliziert, die deutlich macht, dass ein neuer Weg zwischen den radikalen Polen gefunden werden muss, ohne diesen jedoch positivistisch und eindeutig zu formulieren. Die Suche nach einer ‚schöpferischen Mitte‘ und die Ablehnung von essentialistischen Abgrenzungen lässt sich auf die Anforderungen der multikulturellen Gesellschaft in Böhmen und Mähren rückbeziehen. Wenn der Name Oskar Baum heutzutage in Literaturgeschichten oder Überblicksdarstellungen noch genannt wird, so häufig lediglich in einer Fußnotennotiz, die auf seine Rolle in Brods ‚engerem Prager Kreis‘ Bezug nimmt und außerdem auf seine Sonderstellung als einziger „halbwegs prominente[r] blinde[r] Schriftsteller“1 der deutschen Literatur verweist. Diese beiden Merkmale haben auch die (spärliche) Rezeption seiner Werke weitestgehend beeinflusst. Sabine Dominik kritisiert in ihrer Monographie über Oskar Baum die Reduzierung Baums auf seine Beziehung zu Kafka in der Forschung,2 sie bleibt aber in ihrer Darstellung über weite Strecken denselben biographischen Eckdaten Baums verpflichtet, die sie dazu veranlassen, ihre Romananalysen unter den drei Oberpunkten Schuld, Judentum und Blindheit zu gliedern und hierdurch wiederum die Texte vorselektierten Interpretationsvorgaben zu unterwerfen. Romane wie Zwei Deutsche, die sich in dieses Raster thematisch nicht einordnen lassen, werden daher nicht erwähnt. Die stark biographische Deutung des Werkes von Oskar Baum begründet Dominik mit einem Ausspruch Baums dahinge-

1

Vgl. zur fehlenden Sekundärliteratur zu Baum Jäger: Minoritäre Literatur, S. 39 und

2

Vgl. Dominik: Oskar Baum, S. 8f.

Takebayashi: Zwischen den Kulturen, S. 203f.

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hend, dass Werk und Schöpfer weder durch Zeit noch durch Veränderungen voneinander getrennt werden können,3 und sie zieht daraus für ihre eigene Interpretation den radikalen Schluss: „So ist eine werkimmanente Interpretation in unserem Fall ausgeschlossen, da der biographische Hintergrund miteinbezogen werden muß.“4 Diese Behauptung steht dem Ansatz Jägers, der sich in einem Kapitel seiner Studie Minoritäre Literatur ausführlich mit Baums Werken beschäftigt, diametral gegenüber, da er den Anspruch formuliert, die „Texte unabhängig von Biographien“ zu lesen.5 Dies wird zwar nicht konsequent eingehalten, indem etwa in die Analysen von Baums Erstlingsnovellen unter dem Namen Uferdasein und dem programmatischen Untertitel Abenteuer und Tägliches aus dem Blindenleben biographische Momente entscheidend einfließen,6 es gelingt jedoch gerade bei den Werken Baums, die sich weder mit der Blindenthematik beschäftigen noch sich thematisch unter die von der Forschung immer wieder konstatierten Schlagwörter der ‚Prager deutschen Literatur‘ wie Schuld, Judentum, Selbsthass etc. einreihen lassen. Zu diesen Texten gehört auch der Roman Zwei Deutsche, den Max Brod als „merkwürdigen Doppelroman“ bezeichnet7 und damit eine leichte Irritation über die Themenwahl verrät. Tatsächlich entfernt sich Baum mit diesem Roman nicht nur von seinen früheren Texten,8 sondern auch von den Thematiken, die ihn leicht in einen literaturgeschichtlichen Zusammenhang oder in biographische Kontexte einreihen lassen: Auf den ersten Blick lässt sich hier weder eine Bezugnahme auf Prag oder den Kontext des ‚Prager Kreises‘ ausmachen,9 noch erscheint der 1934 publizierte Roman als typisches Beispiel eines frühen Exilromans oder einer frühen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.

3

Vgl. Baum: „Jeder Schaffende, der in seinem Werk nicht nur eine Äußerung, ein zu überwindendes Erlebnis, sondern einen Bestandteil seines Wesens sieht, der einmal aus ihm hervorgewachsen, [kann] durch keine Zeit, durch keine Umwandlung, welcher Art auch immer, von ihm getrennt werden“. (Oskar Baum: Die Augen des Publikums. In: Der Sturm 17. Jg. (1926/27), S. 91-94, S. 91. Zitiert nach Dominik: Oskar Baum, S. 42.)

4

Dominik: Oskar Baum, S. 42.

5

Jäger: Minoritäre Literatur, S. 9. Vgl. hierzu auch Kapitel 1.2.2

6

Vgl. hierzu auch Krappmanns Kritik an der Inkonsequenz Jägers, indem „im Kapitel zu Oskar Baum sowohl seine frühe Erblindung als auch seine jüdische Herkunft die Interpretationen einiger Texte weitgehend bestimmen“. (Krappmann: Allerhand Übergänge, S. 47.)

7

Brod: Der Prager Kreis, S. 125.

8

So formuliert auch Christian Jäger eine deutliche Zäsur zwischen Baums früheren Texten und dem Roman Zwei Deutsche. (Vgl. Jäger: Oskar Baum.)

9

Aus dem recht unsinnigen Versuch, den Roman in diesem Kontext zu lesen, ergibt sich auch die negative Kritik, mit der Margarita Pazi den Roman kommentiert: „Die unausreichend fundierten Streitgespräche der beiden Protagonisten versucht der Autor durch

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Er erzählt die Geschichte zweier unterschiedlicher Jugendfreunde, des gutbürgerlichen Rolf und des proletarischen Erhard, die beide, wenn auch unter gänzlich anderen sozialen Bedingungen, gemeinsam auf dem Land aufwuchsen. Der Roman setzt zum Zeitpunkt ihres Studiums in Berlin ein, wo sie 1932 wieder aufeinandertreffen. Ihre politischen Einstellungen sind grundverschieden, Rolf ist Anhänger der Nationalsozialisten geworden und argumentiert leidenschaftlich für die Einheit und Zukunft des deutschen Volkes, wobei er nur das ‚Gefühl‘ gelten lässt, während Erhard überzeugter Kommunist ist und mithilfe des rationalen ‚Geistes‘ für den internationalen Kampf gegen den Kapitalismus und die Unterdrücker des Proletariats eintritt. Auf einer gemeinsamen Wanderung und in ihrem Verhältnis zu der Proletarierin Inge kommen sie sich wechselseitig in Gesprächen näher, um sich jeweils schließlich immer weiter ideologisch voneinander zu entfernen. Als Rolf, von seinen Parteigenossen im Stich gelassen, unschuldig verhaftet wird und als Rolfs Schwester Hilde in Berlin auftaucht, erweist sich Erhard dennoch als wahrer Freund und es gelingt ihm sogar, Hilde für seine Überzeugungen zu gewinnen. Doch dann bricht der Nationalsozialismus im Januar 1933 über Deutschland herein und die Unvereinbarkeit der politischen Positionen der beiden Freunde wird nun auch in der Praxis offenbar. Erhard und Hilde fliehen nach Russland, Rolf bleibt zwar leicht zweifelnd, aber nach wie vor an das deutsche Volk glaubend, in Deutschland zurück. Das Besondere an dem Roman in seinem Entstehungskontext ist nun nicht die Thematik, der Konflikt zwischen einem Nationalsozialisten und einem Kommunisten, ihre gemeinsame Ausgangsbasis in der Jugend und ihre zunehmende Entfremdung in der ideologischen Radikalisierung. Dieser Handlungsstrang fügt sich problemlos in die Literatur der 20er und 30er Jahre ein. Interessant und außergewöhnlich ist dagegen die Art und Weise, wie die Auseinandersetzung geschildert wird, da die Erzählhaltung weitestgehend unparteiisch bleibt und beiden Ideologien gleichberechtigt Raum gegeben wird, was vor allen Dingen nach 1933 in der sich mit den politischen Strömungen beschäftigenden Literatur in dieser Form kaum anzutreffen ist. Auch von der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur der Zwischenkriegszeit unterscheidet sich der Roman gerade in Hinblick auf die Frage der Selbstverortung des Individuums, insofern als sich die beiden Protagonisten in Zwei Deutsche bereits zu Beginn des Romans eine essentialistische Identität im Rahmen ihrer politischen Ideologie und ihrer gesellschaftlichen Klasse konstruiert haben, die, bis auf kleine Unsicherheiten, auch im Laufe des Romans nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Ein Changieren zwischen verschiedenen Kollektiven, eine Außenseiterposition oder der

das im ‚Prager Kreis‘ häufige Motiv der Notwendigkeit der Sünde zu überspielen und entfernt sich damit vollends von einer sachlichen Darstellung des Geschehens.“ (Pazi: Staub und Sterne, S. 32.)

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unerfüllte Wunsch nach Zugehörigkeit, wie er in den anderen hier behandelten Romanen ausgemacht wird, spielt dementsprechend in Zwei Deutsche keine entscheidende Rolle. Und doch verweisen insbesondere die Aspekte, welche die zeitgenössische und spätere Kritik irritiert haben, auf eigenwillige Weise auf eine differenzierte Auseinandersetzung mit Identitäten, Ideologien und politischen sowie sozialen Kollektiven, wie sie auch in anderen Romanen der Region ausfindig gemacht werden können. Vor allen Dingen die besondere Erzählperspektive des Romans bedarf an dieser Stelle einer einführenden Bemerkung: Der Roman Zwei Deutsche führt direkt zu Beginn der Handlung zwei Protagonisten ein, die, wie bereits Christian Jäger feststellte, „ungewöhnlich schematisch“, als „reine Ideenträger“ gezeichnet werden.10 Eine Identifikation des Lesers mit einer oder gar beiden Figuren muss nicht nur aus diesem Grund, sondern auch durch die unten ausführlicher behandelte narrative Gleichberechtigung der von den Protagonisten artikulierten, sich widersprechenden Ideologien des Marxismus und des Nationalsozialismus scheitern. Obwohl im Rahmen der Erzählhandlung eine gewisse Entwicklung der Protagonisten vorhanden ist, bleiben diese doch in Hinblick auf ihr Wesen und ihre politische Überzeugung auf einer Stufe stehen; beide sind bereits zu Beginn in einer politischen Strömung mehr oder weniger ‚zu Hause‘, sind in Kollektive eingebunden, und die Versuche der Annäherung aneinander und des Verständnisses der ‚Anderen‘ bleiben halbherzig und in der Konsequenz unbedeutend. Somit scheint eine gänzlich andere Struktur des Romans gegeben als z.B. in Alice Rühle-Gerstels Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit oder in Ernst Weiß’ Der arme Verschwender, um an dieser Stelle zwei andere deutschböhmische und deutschmährische Romane der 30er Jahre zu nennen. Und doch äußert sich auch in Zwei Deutsche das für diese Romane beschreibbare problematische Identitätsgefüge, das ‚Zwischen den Stühlen sitzen‘, der Versuch der Annäherung an das ‚Andere‘ oder das ‚Fremde‘ sowie die Suche nach der eigenen Zugehörigkeit und dem eigenen Standpunkt, allerdings auf poetologischer Ebene: Denn in der Schilderung der beiden im Roman thematisierten politischen Positionen, ihrer Gleichberechtigung und gleichzeitig auch ihrer Infragestellung, Kritik und der Darstellung ihrer Unzulänglichkeit ist eine weitere Haltung impliziert, die versucht, den Figuren und ihren Ideologien gerecht zu werden, sie zu verstehen und zu beurteilen, ohne jedoch eine positivistische eigene formulieren zu können. Es handelt sich hierbei um eine „dritte Position“,11 die nicht nur in den reflektierenden Passagen des Erzählers auftritt, wo Jäger sie ausfindig macht, sondern in der gesamten Konzeption des Romans angelegt ist. Die Identitätsproblematik und die Frage der Verortung des

10

Jäger: Oskar Baum.

11

Jäger: Minoritäre Literatur, S. 104.

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Individuums zwischen zwei Kollektiven, die aufgrund ihrer ideologischen Unzulänglichkeiten und Exklusionsmechanismen beide keine Integrationsmöglichkeit bieten, werden gleichsam auf eine Meta-Ebene verlagert. Durch die Erzählung, größtenteils durch indirekte Charakterisierung der Figuren, aber auch durch Erzählerkommentare, wird deutlich, dass keine der beiden aufgezeigten Ideologien in ihrer letzten Konsequenz eine plausible und wünschenswerte politische Alternative und ‚Wahlheimat‘ bietet. Das Ziel dieser Darstellung liegt in der im Roman nicht ausformulierten dritten Möglichkeit, einer ‚schöpferischen Mitte‘ wie sie Felix Weltsch 1936 propagiert: „Der Mensch, vor den beiden Wegen stehend, die er gehen soll und doch nicht gehen darf, findet einen neuen, einen dritten Weg. Dieser Weg [liegt] nicht vorbereitet vor ihm, er muß[] sich ihn erst bahnen“.12 Es gibt allerdings auch innerhalb des Romans Figuren, die einen ‚dritten Weg‘ zu beschreiten scheinen und sich nicht auf die starren dichotomischen Vorgaben einlassen, welche die Zeit zu fordern scheint, d.h. Nationalsozialismus oder Kommunismus, Agieren nach reinem Gefühl oder reiner Vernunft, Zugehörigkeit zu der Klasse der Unterdrücker oder derjenigen der Unterdrückten: Die Nebenfiguren des Bettlers und Inges tragen die Merkmale von ‚Zwitterwesen‘, sind somit Figuren, die zwischen den Lebensentwürfen und Ideologien stehen und eigene Strategien entwickelt haben, um mit der Widersprüchlichkeit der sie umgebenden Welten umzugehen. Sie bieten zwei textimmanente Alternativen zu den beiden widersprechenden Polen, die jedoch jeweils scheitern, da sie entweder eine Selbstentfremdung oder eine Negation jeglicher politischer Lösung beinhalten. Ihre Strategien sollen unten näher beleuchtet werden, da hierdurch die Notwendigkeit eines alternativen dritten Weges in dem Roman Zwei Deutsche deutlich wird, der weder als Kompromiss noch als kategorische Ablehnung durch die Kenntnis der widerstreitenden Ideologien zu einem kreativen Neuen führt und jenseits von essentialistischen und radikalen Exklusionsstrategien eine Lösung bietet. Die Form dieses ‚dritten Weges‘ bleibt jedoch im Roman diffus, er wird nicht ausformuliert, sondern seine Dringlichkeit und seine notwendige Beschaffenheit müssen sich dem Leser ex negativo eröffnen. Um die Möglichkeit eines ‚dritten Weges‘ auszuloten, ist es notwendig, die bestehenden gegensätzlichen Pole, im Falle von Zwei Deutsche vor allem den Marxismus und den Nationalsozialismus, aber auch die Arbeiterklasse und das gehobene Bürgertum, in ihren Eigenheiten auszuleuchten. Obwohl die politischen Diskussionen an vielen Stellen auf oberflächliche Schlagwörter statt intensiver Analyse beschränkt bleiben, entwirft der Roman ein differenziertes Bild, indem er beiden Positionen gerecht zu werden versucht. Hierbei ist besonders die Erzählstrategie bedeutsam und einer näheren Betrachtung wert, da in vielen Punkten die egalitäre Haltung befremdlich wirkt, die der Erzähler gegenüber den beiden politischen Strömungen

12

Weltsch: Das Wagnis der Mitte, S. 35.

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bewahrt, und dies in einem Roman, der 1934 erschienen ist, von einem jüdischen und gegen den Nationalsozialismus kämpfenden Schriftsteller verfasst wurde und nur im letzten Abschnitt die Gräuel der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten schildert. Zwar wird der Nationalsozialismus kritischer als der Marxismus behandelt, indem vor allen Dingen die Freunde Rolfs negativ gezeichnet werden und angedeutet, wenn auch nicht vollständig aufgedeckt wird, dass sie Rolf zu ihrem eigenen Vorteil verraten, als dieser unschuldig im Gefängnis sitzt. Zudem lässt sich eine gewisse argumentative Überlegenheit Erhards nicht leugnen, die vor allen Dingen daraus resultiert, dass er rational und logisch argumentiert, während Rolf im Gegensatz hierzu häufig nur das ‚Gefühl‘ gelten lässt und somit in den Diskussionen unterliegen muss.13 Diese implizite Sympathie des Erzählers für den Marxisten bedeutet jedoch nicht zwangsläufig eine klare Parteinahme für den Kommunismus in seiner politischen Realität, da Erhards und Hildes Emigration in die Sowjetunion am Ende des Romans zwar als Rettung aus dem Dritten Reich erscheint, die von Erhard propagierte Gleichstellung des Menschen jedoch auch fragwürdig bleibt, da die Gefahr einer Reduktion des Menschen auf ein Maschinendasein und des Verfalls des Geistes im Roman an einigen Stellen thematisiert wird.14 Diese Vorsicht gegenüber den russischen Verhältnissen und jeglichem Fanatismus beschreibt Max Brod in seinem

13

Hierauf hat auch Jäger aufmerksam gemacht: „Erhard hingegen zeigt sich unbeeindruckt klar, rational argumentierend als der souveränere Gesprächsteilnehmer, so dass in der Figuration auch der Marxismus dem Faschismus überlegen wirkt.“ (Jäger: Minoritäre Literatur, S. 102.)

14

Die Kritik am Faschismus ist im Roman offensichtlich, daher soll hier lediglich deutlich gemacht werden, dass auch der Marxismus nicht durchweg positiv beleuchtet wird: So beschuldigt Rolf Erhard in einer Diskussion: „Siehst du nicht die Teufelsfratze darin, […] dass Ihr jeden Menschen als Maschine anseht, dass die ganze Menschheitsgeschichte Euch als Maschine ohne Geist und Persönlichkeit erscheint?“ (Baum: Zwei Deutsche, S. 72.) Rolfs Argumentation büßt ihre Glaubwürdigkeit bald ein, da er unmittelbar darauf wieder von der ‚Gesundheit des deutschen Volkes‘ spricht und somit seine Kritik am Marxismus aus der nationalsozialistischen Ideologie offensichtlich wird. Anders verhält es sich jedoch mit der Einschätzung des Bettlers, dem Rolf und Erhard auf ihrer Wanderung begegnen, und der in seinem Nihilismus jegliche Ideologie ablehnt, dadurch aber auch ihre Gefahren hellsichtig aufdeckt. Auf seine Kritik am Nationalsozialismus folgt auch eine Abrechnung mit dem Kommunismus und der Argumentation Erhards: „Sie haben die Vernunft gepachtet. Wer nur ein bißchen mehr davon hat als für zuträglich befunden wird, wird erschossen. So ist es doch in ihrem Zukunftsstaat, wie? Geist wird als das gefährlichste Kapital zuerst beschlagnahmt und nur auf Karten verabfolgt.“ (Ebd., S. 135, kursiv im Original.) Zudem wird Erhard gerade in seinem Verhalten gegenüber Hilde als verbittert und ungerecht dargestellt, indem er ihren Vorsatz, Inge zu ‚retten‘,

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Nachwort zu Felix Weltschs Das Wagnis der Mitte aus der Retrospektive als ein böhmisches Phänomen: „Auch in Rußland war ein totalitäres Regime, das die demokratischen Prinzipien verwarf, zur Macht gekommen. Man hatte in dem relativ ruhigen, stabilen Böhmen, das vom Philosophen Masaryk regiert wurde, erst gerade begonnen, sich mit diesem System im Osten gedanklich auseinanderzusetzen.“15 Dies ist eine verkürzende Darstellung und trifft auf viele deutschböhmische und deutschmährische Autoren, die sich mit dem Kommunismus intensiv beschäftigten, kaum zu.16 Dennoch lässt sich auch in anderen politisch links ausgerichteten Romanen der Region, wie am Beispiel von Alice Rühle-Gerstels Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit gezeigt wird (vgl. Kap. 5.7), eine für die frühe Exilliteratur ungewöhnliche Skepsis an der Realpolitik Russlands und eine Fülle an kritischen Auseinandersetzungen mit der radikalen politischen Linken und Rechten beobachten, welche nicht nur die klar zutage tretenden Unterschiede, sondern auch ihre totalitären Gemeinsamkeiten beleuchten. Weltsch formuliert in diesem Sinne einen Zusammenhang, der in Alice Rühle-Gerstels Roman und in Oskar Baums Zwei Deutsche, hier in der Darstellung der Ideologien Rolfs und Erhards, eine entscheidende Rolle spielt: Trotz ihrer Unterschiede sei dem Bolschewismus und dem Faschismus eine Charakteristik gemein, die sie vom Liberalismus und der Demokratie unterscheide, nämlich „[d]ie Ablehnung der Freiheit des Individuums und der durch brutale Gewalt herbeigeführte Zwang, Weltanschauung und Willen des Individuums in einen von einer führenden Stelle bestimmten Sinn zu richten.“17 Oskar Baum beschränkt sich in seinem Roman aber nicht darauf, implizit die Gemeinsamkeiten der totalitären Ideologien zu thematisieren, sondern der Roman Zwei Deutsche bietet über weite Strecken sogar Rolfs nationalsozialistischer Ideologie und Gesinnung Raum, da dieser über seine Gedanken und die Ereignisse reflektiert. Besonders deutlich wird dies auf den letzten Seiten des Romans, welche die Entwicklungen des Februar 1933 behandeln. Trotz zuvor aufkeimender Zweifel ist er von der

verspottet und als Heuchelei bezeichnet (vgl. ebd., S. 249f.). Er hat im Endeffekt mit dieser Einschätzung recht, als sympathische, identifikationsstiftende Figur wird er dadurch jedoch nicht dargestellt. 15

Brod: Nachwort zum Neudruck, S. 172.

16

Das Urteil Brods gilt z.B. sicherlich nicht für die kommunistischen deutschböhmischen und deutschmährischen Autoren wie etwa F.C. Weiskopf und Egon Erwin Kisch. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Brod mit seiner Aussage nicht nur Felix Weltschs Einstellung zum Kommunismus thematisiert, sondern auch die derjenigen Autoren, welche er des Weiteren zum ‚Prager Kreis‘ zählte und auf die Weltschs „Werke großen Einfluß ausübten“ (Dominik: Oskar Baum, S. 21), wie etwa Oskar Baum.

17

Weltsch: Das Wagnis der Mitte, S. 65.

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Machtübernahme der Nationalsozialisten begeistert und vom Glauben an die Ideologie durchdrungen: In dem rauschhaften Glücksgefühl, das ihn in diesen Wochen der nationalen Erhebung beherrschte, schritt Rolf durch die Strassen, die wie nach einem grossen Sieg voll Fahnenschmuck und erregter Menschenmenge waren. Traumhafte Hoffnung der wiedererwachten geeinigten Gewalt des Volkstums, in manchem zaghaften Augenblick schon geschwächt, war über Nacht zauberhafte Erfüllung geworden.Als ein reissender Strom rollte der reinigende Wille durch das Land, durch das Volk.18

Insbesondere der letzte Satz, in dem jedes Personalpronomen und damit der konkrete Bezug zu Rolf fehlt (im zweiten Satz ist dieser zumindest durch die Hoffnung, die auf Rolf verweist, noch gegeben) und somit die Aussage auf eine allgemeingültige, auch vom Erzähler stammen könnende Ebene gehoben wird, markiert den Grad, in welchem die Gedankengänge Rolfs vom Erzähler ernst genommen werden. Hieran abzulesen ist nicht, dass der Roman in irgendeiner Form die nationalsozialistische Bewegung gutheißt, was selbstverständlich bei Oskar Baum undenkbar wäre.19 Jedoch zeigt sich das Bemühen, und dies ist beinahe ebenso überraschend, da bei antifaschistischen Autoren und vor allen Dingen in Exilpublikationen nach 1933 kaum anzutreffen, die vorherrschenden radikalen Ideologien zu Beginn der 30er Jahre, den Marxismus und den Nationalsozialismus, gleichwertig und objektiv als Ideologien in den Köpfen der heranwachsenden Generation zu beleuchten. Hierbei werden weder Erhard noch Rolf als Vertreter unterschiedlicher Schichten einem vereinfachten, stereotypen Modell (etwa des korrupten, opportunistischen und gewalttätigen Nationalsozialisten bzw. des kameradschaftlichen, mutigen und starken Kommunisten) unterworfen, sondern in ihren negativen wie positiven Eigenschaften, ihren Zweifeln, Hoffnungen, Wünschen und Verirrungen gezeichnet. Über die Motivation Baums, den Roman in dieser Form zu publizieren, bietet das Nachwort des Autors vom Februar 1934 Aufschluss, das aus diesem Grunde vollständig wiedergegeben wird: Es scheint zur Gewinnung des notwendigen Distanzgefühls zum heutigen Deutschland wichtig, nach den grellen Eindrücken des Umsturzes die unmittelbar vorangegangene Zeit, vor allem die Stimmung des Jahres 1932, ungetrübt von Parteilichkeit zu betrachten. Dieses Buch, das

18

Baum: Zwei Deutsche, S. 282.

19

Vgl. zur aktiven Rolle, die Oskar Baum zu Beginn der 30er Jahre im Widerstand gegen die Zustände im Dritten Reich (so z.B. seine Teilnahme am Prager Kongreß „Gegen die Vernichtung von Kultur und Menschenrechten in Deutschland“) spielte, Dominik: Oskar Baum, S. 30f.

292 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM im wesentlichsten Teil selbst während jenes Jahres entstanden ist, versucht es. Und ich glaube mich verpflichtet, die damalige Auffassung ohne Korrektur veröffentlichen zu sollen.20

Mit diesem Nachwort wird deutlich, welchen Ansatz Baum seinem Roman zugrunde legt und unter welchen Prämissen er zu lesen ist: Der Umstand, dass Oskar Baum den Text nach den Erfahrungen des Jahres 1933 nicht stark verändert hat, macht den Versuch deutlich, einen zeitgenössischen Roman zu schreiben, der so unmittelbar und objektiv wie möglich die von ihm geschilderte Zeit des Jahres 1932 wiedergeben soll, wobei sowohl das Verhalten der Figuren als auch die Haltung des Erzählers nicht durch aus der Retrospektive entstandene Erfahrungswerte beeinflusst werden sollen. Jäger wertet das Nachwort als Strategie, „die hinter dem Schein bürgerlicher Unparteilichkeit kassiberartig eine sozialrevolutionäre Gesinnung propagiert“,21 da der Roman selbst eine klare Stellungnahme zum Marxismus zeichne. Dies begründet er vor allen Dingen mit der positiven Charakterisierung Erhards, mit dessen Schlussworten und der Tatsache, dass sowohl Hilde als zeitweise auch Rolf22 von der marxistischen Ideologie überzeugt werden. Diese Deutung legt jedoch zu viel Bedeutung in das Schlusskapitel des Romans, das als einziges eine Überschrift, Unerwartetes Nachspiel, trägt, und in dem die Entwicklungen nach dem 30. Januar 1933 geschildert werden. Es ist eher davon auszugehen, dass dieses letzte Kapitel die ‚Strategie‘ darstellt, indem die historische Entwicklung eine deutliche Stellungnahme gegen den Nationalismus und Nationalsozialismus notwendig machte,23 während die im Nachwort behauptete Unparteilichkeit den Großteil des Romangeschehens beeinflusst, da in den Schilderungen des Jahres 1932 auch der Marxismus durchaus kritisch dargestellt wird (vgl. Fußnote 14).

20

Baum: Zwei Deutsche, S. 301.

21

Jäger: Minoritäre Literatur, S. 108.

22

Rolf liest im Gefängnis ein Buch, dessen Einband fehlt und ist davon begeistert, später

23

In diesem Sinne einer nachträglichen Stellungnahme und nicht einer Grundaussage des

muss er zu seinem Entsetzen feststellen, dass es sich hierbei um Marx’Kapital handelte. Romans ist m.E. auch das Schlusswort Erhards zu verstehen („Nicht auf Dich und nicht auf mich kommt es an, […] sondern auf das gewaltige Ringen zwischen den scheinbar und den wirklich fruchtbaren Ideen und Geschehnissen, die um die Seele der Massen werben.“ Ebd, S. 299.) , das Jäger dagegen als Quintessenz der politischen Aussage des Romans deutet: „So ist die Politisierung der Schrift deutlich, führt mit dem Marxismus über die frühere interpersonale Verantwortlichkeit hinaus in eine neue Kollektivverantwortung, in welcher, den Worten Erhards zufolge, der einzelne keine entscheidende Größe darstellt, vielmehr desubjektiviert ins kollektive Subjekt eingeht.“ (Jäger: Minoritäre Literatur, S. 107.)

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Die Hauptfiguren des Romans in ihrer extremen ideologischen Haltung, die eine, gleichwohl konstruierte, essentialistische Identität vorgeben, ebenso wie einige auftretende Nebenfiguren des Textes, die sich zwischen den radikalen Polen befinden und deren sozialer oder politischer Stand changiert oder nicht eindeutig bestimmt werden kann, sind jeweils ‚Kinder ihrer Zeit‘ und stark von dieser geprägt. Dabei hängt die historische Situation selbstverständlich mit der politischen Sichtweise und Haltung der Protagonisten zusammen, sie beeinflusst jedoch auch ihre persönlichen Charaktereigenschaften, wie etwa am Beispiel Inges besonders deutlich wird, deren Persönlichkeit zahlreiche Facetten aufweist und die von jeweils anderen Figuren des Romans vollständig unterschiedlich wahrgenommen wird. Einen unmittelbaren Konnex zwischen den zeithistorischen Umständen und der Zerrissenheit und dem Arbiträren der einen sowie dem Festhalten an dogmatischen Ideologien der anderen Figuren stellt Baum ungefähr in der Mitte des Romans her: Alles ist Sinnbild und Wirklichkeit zugleich, oder es ist in Wahrheit keines von beiden; nur leerer Schein. Die alte Kultur, innerlich unsicher, hält dennoch krampfhaft an dem Ueberwundenen fest. Die neue Zeit weiss noch nicht, wohin mit ihren Kräften und was mit ihrem neuen Wollen sogleich in dieser alten Umgebung anzufangen. Es ist aber nicht so, dass ein Mensch die alte und ein anderer die neue Welt vertritt. In den Gefühlen und Taten jedes einzelnen geht der Kampf vor sich, in der Hilflosigkeit wie in der Tobsucht. Wer den Gegner niedersticht, sticht damit etwas in sich selbst nieder, das er anders nicht zum Schweigen bringen kann. Und wer zum Feind überläuft, zur Phantasie, zum Abenteuer, der weiss nichts, als dass er von seiner Vernunft genug hat.24

Jäger deutet diese Stelle als „textuelle[n] Fremdkörper“,25 welcher der Distanzierung des Autors von seinen beiden Hauptfiguren dient, was aufgrund der ungewöhnlichen Erzählhaltung durchaus plausibel erscheint. Ohne konkrete Parteinahme für einen der beiden Protagonisten, sondern geradezu als Kritik am einseitigen Verhalten sowohl der Vertreter der reinen Vernunft als auch des reinen Gefühls nimmt der Erzähler hier „eine unausgefüllte, unterbestimmte dritte Position“ ein.26 Dennoch ist dieser ‚philo-

24

Baum: Zwei Deutsche, S. 138f.

25

Jäger: Minoritäre Literatur, S. 104.

26

Ebd. Aus diesem Grunde ist es auch Jägers vorherige Interpretation der Stelle als „Plädoyer für die aufklärerische Vernunft […], die in der Figuration des Romans der Marxist für sich beanspruchen kann“ (ebd.) nicht ganz nachvollziehbar, da die letzten beiden Sätze des Abschnitts sowohl die reine Vernunft, die das, was dem reinen Gefühl entspringt und das sie nicht begreifen kann, niedersticht, als auch das reine Gefühl, welches die Vernunft negiert, als unzulänglich markieren.

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sophische‘ Abschnitt nicht als reiner Fremdkörper im Text, sondern auch als möglicher Interpretationsschlüssel der Charaktere zu betrachten, da er auf spezifische Art auf das Verhalten der den Roman bevölkernden Figuren verweist. Zum einen wird mit diesem Zitat noch einmal unterstrichen, inwiefern Baum versucht, in seinem Roman die Problematiken der Figuren in ihrer zeitlichen Verortung des Jahres 1932 zu zeichnen. Dieses erscheint aus der Retrospektive als eine Übergangszeit der Radikalisierung, in der sowohl ‚neue‘ und ‚alte‘ Zeit27 als auch die verschiedenen politischen Positionen im Widerstreit liegen, wobei sich keine endgültig durchgesetzt hat, sie sich in den Ereignissen und den Figuren vermischen und die historische Entwicklung noch vollkommen offen ist (für viele der Exilautoren fallen in einer fatalen Fehleinschätzung auch die frühen Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft noch in diesen Zeitrahmen der Übergangszeit, indem davon ausgegangen wurde, dass die Machtübernahme keine dauerhafte Entwicklung sei, sondern Hitlers Herrschaft nur von kurzer Dauer sein könne). Zum anderen wird hier deutlich, mit welchen inneren und äußeren Widersprüchen die Figuren konfrontiert werden; dadurch wird ihre Handlungsmotivation verständlich, die sich zwischen Dogmatismus (bei Rolf und Erhard), Nihilismus (beim Bettler) und Selbstentfremdung (bei Inge) bewegt, die jeweils Reaktionen auf die zeitbedingten Anforderungen an das Individuum darstellen. Immer wieder werden die Protagonisten, die selbst mit widerstreitenden Empfindungen zu kämpfen haben, mit Figuren konfrontiert, die verschiedenste Charaktereigenschaften, politische Ansichten und Erscheinungsbilder miteinander zu einer komplexen Persönlichkeit kombinieren, die dennoch kein harmonisches Bild zu ergeben

27

Der Konflikt zwischen ‚alter‘ und ‚neuer‘ Zeit äußert sich auch in dem Generationenkonflikt, der vor allen Dingen bei Rolfs Besuch in seinem Elternhaus anklingt. Rolf hat hierbei Empfindungen, die in Analogien stehen zu denen der Protagonisten in Weiskopfs Slawenlied und auch Bodenreuths Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland, indem er die Veränderungen in der Welt wahrnimmt, gegenüber denen die ältere Generation blind zu sein scheint: „Die Welt ging aus den Fugen, und hier feierte man Silberne Hochzeit! Es schien ihm nur ein unbedeutendes Sinnbild dafür, wie fremd er hier geworden war.“ (Baum: Zwei Deutsche, S. 9.) Er versucht, dem durch eine essentialistische Weltsicht zu entgehen, in der er eine eindeutige Position jenseits von Kompromissen einzunehmen gedenkt. Als er wieder nach Berlin aufbricht, verwirft er die Welt seiner Kindheit als „Bild des verschlafenen, zu überwindenden Systems, ein Bild der Gesinnung, von der er sich löste, um aufatmend hinaus zum jungen, frischen, von allem Halben und Flauen gereinigten Wiederbeginn einer starken Welt zurückzukehren.“ (Ebd., S. 32.) Gleichzeitig gelingt ihm dies nicht zur Gänze, indem sein Verhalten im Laufe des Romans immer wieder auch von seiner sozialen Herkunft aus dem gehobenen Bürgertum abhängt und er auch als Vertreter seiner Klasse von Erhard wahrgenommen wird, der die Unterschiede in der Kindheit immer wieder heraufbeschwört.

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scheint. Der Bettler und Hausierer etwa, dem Rolf und Erhard auf ihrer Wanderung begegnen, wirkt auf beide gleichzeitig faszinierend und abstoßend, wenn auch aus vollkommen unterschiedlichen Gründen. Dies liegt nicht zuletzt an den vermeintlichen Widersprüchen, die er in seiner Person vereinigt. Äußerlich zerlumpt und heruntergekommen, dazu nicht mehr nüchtern, erweist er sich als hochgebildet, in der antiken griechischen ebenso wie in der zeitgenössischen englischen und französischen Literatur bewandert und politisch kritisch und scharf argumentierend. Aus dem Krieg verkrüppelt mit unliebsamen politischen Gedanken heimgekehrt, hatte er seinen Beruf als Lehrer aufgeben müssen, woraufhin er Politiker wurde. Nach einem Skandal und dem Bruch mit seiner Partei saß er vorübergehend im Gefängnis und schließlich verdiente er sich sein Geld mit Hausieren. Aufgrund seiner Erfahrung ist er in der Lage, sowohl Rolfs nationalsozialistische als auch Erhards marxistische Gedanken und Ideologien zu dekonstruieren, um ihnen eine pessimistische Weltsicht zu offenbaren, welche die gesamte Geschichte der Menschheit als unausweichliche Krise bewertet und anarchistischer Autoritätsverweigerung huldigt. Obwohl sowohl Rolf als auch Erhard die Lehre des Bettlers ablehnen (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen), so vereinigt er doch wichtige Argumentationsstränge und Eigenschaften, die beide gerne selbst für sich beanspruchen, und die Unterhaltung mit ihm gibt ihnen zu denken: Rolf gefiel die Festigkeit und Härte im Mut des Mannes, die Kraft und Gewandtheit, die man in seinem Körper vermutete, aber seine Reden stiessen ihn ab. Erhard wieder gefiel die schonungslose Schärfe der kritischen Betrachtung, die Verachtung der Gesellschaft aber die gewalttätige Natur und Selbstsucht, die man hinter seinen Reden fühlte, stiess ihn ab.28

Der Bettler vereinigt somit in sich die Gegensätze, die Rolf und Erhard voneinander trennen. Ohne sich für eine der radikalen politisch vorherrschenden Ideologien zu entscheiden, ist er in seiner Widersprüchlichkeit, dies ist sowohl an seiner Biographie als auch an seiner Einsicht in die verschiedenen politischen Strömungen und ihre Unzulänglichkeiten ablesbar, ein Geschöpf seiner Zeit, dessen Pessimismus aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik resultiert. Seinem Nihilismus verdankt er eine Freiheit der Sichtweise, welche die Problematiken und den Dogmatismus von Rolfs und Erhards Argumentationsweisen aufdeckt. Der Preis für die Aufgabe einer Ideologie und die Fähigkeit, beide Seiten kritisch und sarkastisch zu beleuchten, liegt jedoch in einer Abkehr vom gesellschaftlichen Leben, die sowohl durch äußere wie auch innere Abgrenzung bedingt ist. Als Bettler und Hausierer steht er am Rande der sozialen Gemeinschaft, dies ist jedoch offenbar ganz in

28

Ebd., S. 134.

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seinem Sinne, da es „wohl nur eine Verschleierung seines wirklichen Arbeitskreises“29 zu sein scheint. Was diese tatsächliche Arbeit sein mag, bleibt offen, deutlich wird jedoch, dass sie nicht mit dem sozialen und gesellschaftlichen Leben zu vereinbaren ist, denn des Bettlers Abscheu gegenüber dem Menschen, in dem er das Schrecklichste kennengelernt hat, wird überdeutlich: „Das Lächerlichste ist die Ehrfurcht vor dem Leben […]. Als ob es jemand für lebenswert hielte! Gebären ist hundertmal grausamer als töten.“30 So faszinierend die Bettlerfigur dargestellt ist und auch auf die beiden Protagonisten wirkt, so wird hier dennoch deutlich, dass er in seiner Außenseiterposition zum Scheitern verurteilt ist. Baum porträtiert in dieser Figur eine Möglichkeit, den radikalen Positionen zwischen Faschismus und Bolschewismus, und, damit weitestgehend diskursiv zusammenhängend, Gefühl und Geist, Natur und Kultur zu entkommen, indem beide kategorisch abgelehnt werden. Diese Option ist jedoch zwangsläufig eine negative, die zwar die Missstände der Gesellschaft scharfsinnig aufdecken kann, jedoch keine Lösung anzubieten vermag. Eine ‚schöpferische Mitte‘ im Sinne Felix Weltschs, eine wahre Alternative gegen die Extreme kann hierdurch keinesfalls erreicht werden. Interessant erscheint die Figur des Bettlers jedoch nicht nur als scheiternde Figur in einer von Gegensätzen durchsetzten Welt, sondern seine Argumentation stellt auch ein kontrafaktisches Moment zur Erzählerhaltung dar. In seiner Ablehnung von Rolfs und Erhards Ideen und Gedanken und der schonungslosen Aufdeckung ihrer Mängel und Defizite schafft er es zwar, diese zu dekonstruieren, zerstört damit jedoch auch jegliche Hoffnung auf ein positivistisches politisches und gesellschaftliches Modell, weshalb Rolf und Erhard nach dem Gespräch auch mit einem Gefühl der Aussichtslosigkeit, zutiefst deprimiert und energielos zurückgelassen werden: „Dieses Stumpfe, Matte, Willenlose, das sie empfanden, hatte es nicht manche Aehnlichkeit mit der lächerlichen Verzweiflung aller Welt, die sie in den letzten Tagen und Wochen so verachtet hatten?“31 Dieses Vorgehen des Bettlers wäre auch als Erzählhaltung des Romans denkbar gewesen, indem die radikalen Positionen konsequent und polemisch in ihren Schwächen und totalitären Zügen hätten aufgedeckt werden können. Stattdessen jedoch mischt sich der Erzähler kaum in das Geschehen ein – nur an wenigen Stellen erfolgen Kommentare –, sondern lässt die sich widerstreitenden Positionen in den Diskussionen Rolfs und Erhards für sich selbst sprechen. Durch die vermeintlich objektive Schilderung der Figuren, die einmal Rolf, dann wieder Erhard als den Sympathischeren und argumentativ Überlegeneren erscheinen lassen, wird zwar im Endeffekt die Unhaltbarkeit beider Standpunkte deutlich (unterstrichen

29

Ebd.

30

Ebd., S. 136f.

31

Ebd., S. 138.

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selbstverständlich noch von der Schilderung der brutalen politischen Realität des Nationalsozialismus), ohne jedoch die Möglichkeit einer Ideologie, die Notwendigkeit des politischen Interesses und die Hoffnung auf eine gesellschaftliche Verbesserung infrage zu stellen. Der Roman lässt zwar in letzter Konsequenz den ‚richtigen‘ Standpunkt offen, eine Lösung vermag auch er nicht zu bieten, jedoch wird der Versuch deutlich, die politischen Strömungen ernst zu nehmen und in ihrem Potential zu erwägen, um sich hierdurch einer möglichen, ‚schöpferischen Mitte‘ zu nähern. Das zweite ‚Zwitterwesen‘ des Romans, eine Figur, die sich in die durch Rolf und Erhard vorgegebenen Extreme nicht einordnen lässt, ist die Frau, um die sich weite Teile des Romans drehen, nämlich die Proletarierin Inge. Es scheint unmöglich, Aussagen über Inge zu fällen, da sie von sämtlichen Figuren des Romans vollkommen unterschiedlich wahrgenommen wird und ihre Persönlichkeit wie ihr Aussehen beliebig zu verändern in der Lage scheint. Erhard und Rolf begegnen Inge, als sie nachts unter Morphiumeinfluss von einem Mann belästigt wird. Rolf ist zunächst von ihr angewidert, da er in ihr, ganz gemäß seines nationalsozialistischen Denkens, das ‚Faule‘ des Volkskörpers zu sehen glaubt, während nur das ‚Gesunde‘ der Hilfe wert scheint. Dennoch von ihr aus ihm unerfindlichen Gründen angezogen, besucht er sie am nächsten Morgen und findet eine scheinbar komplett ausgewechselte Person vor sich: Nicht mehr unter Drogen stehend und kaputt, erscheint sie ihm nun frisch, munter und fröhlich auf dem Weg zur Arbeit, so dass es ihm nur übrig bleibt, über sie zu rätseln: „Rolf kam nicht ins Klare darüber, welcher Gesellschaftsschicht sie eigentlich angehörte und wie sie zwei so gänzlich verschiedene Wesen in sich vereinigen konnte.“32 Hierin erweist sich Inge als Meisterin und da sie merkt, dass Rolf überspannte Gefühle für die Idee von Ehre, Reinheit und Wahrheit besitzt, verschweigt sie ihm ihr Vorleben, in dem sie viele Männerbekanntschaften hatte und sich auch einige Male prostituiert hat. Rolf verliebt sich in die Inge, als die sie sich ihm präsentiert und ist schockiert, als er von Erhard die Wahrheit über sie erfährt. Doch nicht nur Rolf, der ohnehin sehr leichtgläubig ist,33 lässt sich von Inge täuschen. Auch Hilde, Rolfs Schwester, erlebt Inge in unterschiedlichen Situationen als völlig verändert, Momente zärtlicher Nähe wechseln sich mit distanzierter Fremdheit ab, was vor allen Dingen dem Umstand geschuldet ist, dass beide aus unterschiedlichen sozialen Klassen stammen und Hilde lediglich die Gefühlsseite Inges verstehen kann, nicht

32

Ebd., S. 39.

33

Vgl. etwa die Passage auf der Wanderung Rolfs und Erhards, auf der Rolf von einer verheirateten jungen Wirtin verführt wird, daraufhin mit Heiratsplänen umgeht, jedoch schnell feststellen muss, dass es der Frau lediglich um das Abenteuer ging und sie nicht daran denkt, ihren älteren Mann zu verlassen und mit ihm die finanzielle Absicherung einzubüßen. Rolf quittiert dies erstaunt mit dem naiven Gedanken: „Ist das eine Gesinnung von unverdorbener Natürlichkeit?“ (Ebd., S. 121f.)

298 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM

jedoch ihre soziale Determination. Erhard dagegen nimmt Inge vollkommen als Kind ihrer Klasse wahr, sieht in ihrem Verhalten jeweils die Proletarierin. Zu einem detaillierten Bild Inges, das ihre Persönlichkeit umfassen würde, kommt keiner ihrer Freunde, im Endeffekt bleibt sie allen, auch dem Leser, fremd. Aus diesem Grund bleibt Inge schließlich auch in ihrer ganzen Wandelbarkeit auf der Strecke, da sie sich selbst nicht treu bleibt, sondern sich je nach Bedarf und bester Aussicht verstellt. Ihre eigene Herkunft kann sie dabei doch nicht ganz abstreifen, indem diese besonders in dem Versuch, sich anders zu präsentieren, immer wieder aufscheint. Rolf, den sie liebt, wendet sich schließlich auch von ihr ab in einer Art Doppelmoral, wobei nicht ganz deutlich wird, ob ihre niedrige Herkunft und der damit einhergehende Lebenswandel oder aber ihr Versuch, diesen durch eine Lüge vor ihm zu verstecken,34 ihn stärker dazu motivieren. Erhard sieht hierin eine Analogie zum deutschen Volk, indem er Rolf vorwirft: „In Inge liebtest du das Volk, wie du es jetzt in ihr missachtest, verurteilst. Kein Volk wie das deutsche ist bis zum verkommensten, letzten Landstreicher hinab so besessen, hinaufzukommen; die Ständeleiter hinauf wie auch immer. Jeder möchte sich in den verwandeln, von dem er eben verachtet wird.“35 Die sozialkritische Aussage, die den ganzen Roman durchzieht, wird von Erhard ganz konkret zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung und Rolfs Behandlung Inges wird zum paradigmatischen Verhältnis des Nationalsozialismus zum Volk und seiner Manipulation: „Du hast das Mädel behandelt, wie Ihr es mit dem Volk überhaupt tut. Du verwirrst sie mit grossen Worten, grossartiger Gesinnung.“36 Doch Inge lässt sich nicht so leicht manipulieren, sie entscheidet sich nicht zwischen den verschiedenen Welten, die sie umgeben, weder zwischen den beiden Freunden Rolf und Erhard noch zwischen ‚sittlichem‘ und ‚unsittlichem‘ Lebenswandel, zwischen den Verlockungen des gehobenen Bürgertums und der Verbundenheit zur Arbeiterklasse etc., sondern bewegt sich zwischen den Sphären. Scheint diese Strategie auch zeitweise aufzugehen, so scheitert sie doch daran. Mit einem wirklichen sozialen Aufstieg ist selbst trotz ihrer Flucht mit dem bekannten Rechtsanwalt am Ende des Romans nicht zu rechnen, was ihre Erfahrung mit reichen Männern gezeigt hat, die ihrer nach einer Weile müde werden. Stattdessen verliert sie ihre Freunde, die Einbindung in ihre sozialen Kreise und schließlich sich selbst, da sie

34

Für Inge ist ein Unterschied, den man nicht wahrnimmt, keiner: „Sagen Sie mal, ist denn wirklich solch ein Unterschied zwischen mir und einem unschuldigen Geschöpf? Sie zumindest haben doch bisher keinen Unterschied bemerkt.“ (Ebd., S. 82.) Ganz anders allerdings für Rolf, für den, und dies hängt mit seiner sozialen Herkunft aus dem Bürgertum zusammen, es wichtig ist, im Bereich des Milieus zwischen Schein und Sein zu unterscheiden.

35

Ebd., S. 90f.

36

Ebd., S. 62.

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sich immer mehr in ein Netz von Lüge und Wahrheit, Gefühl und Kalkül verstrickt. Erst in der letzten Szene des Romans, in der Inge auftaucht, scheint ihre wahre Persönlichkeit durch, als Rolf ihr anbietet, ein neues Leben anzufangen: „Sie stand einen Augenblick. Es war, als ob im sinnenden Ernst eine unbewachte Miene ihrem Gesicht den wahren Ausdruck gäbe. „Schön wär’s ja, wenn man’s so machen könnt, dass alles nicht gewesen wär…““37 Diese Option besteht jedoch nicht mehr, und da ja ohnehin „alles scheißegal“38 ist, setzt sie ihre Strategie des Verstellens fort und steigt in das Auto des Rechtsanwaltes. Hildes darauf folgender Ausruf gegenüber den beiden Männern „Ihr wisst ja beide nicht, wie sie ist!“39 fasst die Problematik Inges noch einmal zusammen; sie kann im Endeffekt nicht als Persönlichkeit wahrgenommen werden, da sie ihre eigene aufgegeben hat. Sie stellt damit die tragischste Figur des Romans dar, die sich im Kampf um Anerkennung, gesicherte Lebensumstände und Liebe selbst verliert. Der Roman weist dementsprechend mit dem Bettler und Inge zwei Figuren auf, die kontrafaktisch zu den beiden Hauptfiguren alternative Identitätskonzepte entwerfen, indem sie sich nicht auf eine dogmatische oder essentialistische Ideologie oder Lebenshaltung stützen, sondern sich zwischen oder außerhalb der radikalen Pole bewegen. In beiden Fällen sind ihre Strategien jedoch problematisch, im Falle des Bettlers resultiert sie in einer Ablösung von der Welt, die pessimistisch als einzige Krise der Menschheit erachtet wird, und Inge verliert in ihrem ernsten Spiel mit den Facetten ihrer Persönlichkeit nicht nur den Kampf um die Befreiung aus dem proletarischen Milieu, sondern auch sich selbst. Wie ist also die ‚dritte Position‘, die in der Erzählhaltung impliziert ist, wie ist ein erfolgreicher Weg der ‚schöpferischen Mitte‘ zu gestalten? Wie oben bereits thematisiert, wird dieser im Roman nicht ausformuliert, doch es finden sich Anhaltspunkte für die Forderung und Beschaffenheit einer solchen Mitte, die jedoch einiger einleitender Bemerkungen bedürfen: Tobias Prüwer hat in einem Aufsatz anschaulich und anhand einer beeindruckenden Materialfülle herausgearbeitet, welche semantischen Implikationen der Begriff der Mitte seit der Antike besitzt, mit der Bemühung, das in ihn eingeschriebene Bild zu brechen, denn: „Mit Mitte wurde und wird Ebenmaß, Wohlgestalt und Harmonie assoziiert, das richtige Maßhalten und die ausgeglichene Balance oder Distanznahme zwischen zwei konträren Entitäten: Seien sie nun Laster, klimatische Bedingungen oder politische Ansichten.“40 Hieraus ergebe sich eine unreflektierte Inanspruchnahme des Topos, der die eigene ideologische, räumliche oder politische Positionierung a priori als sakrosankt erscheinen lässt, da er die Mitte als Norm und Normalität im Gegensatz zu

37

Ebd., S. 276.

38

Ebd., S. 277.

39

Ebd.

40

Prüwer: Zwischen Skylla und Charybdis, S. 60.

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den Extremen postuliert: „Dessen scheinbare „Natürlichkeit“ erzeugt ein Motiv mit immenser Ordnungsmacht. Durch das Axiom des Maßes gesetzt, kommt in der Mitte die Frage der Angemessenheit des Mittelmaßes gar nicht erst auf.“41 Dem soll hier nicht widersprochen werden, insbesondere für die bundesrepublikanische Geschichte der Nachkriegszeit mit ihren Parteien der Mitte hat eine differenzierte Betrachtung des Topos und eine Entlarvung der ungerechtfertigt ideologischen Implikationen des Begriffs seine Berechtigung.42 Allerdings gilt die positive Konnotation des Begriffes der Mitte, der ihn vor Hinterfragungen schützt, kaum für den hier betrachteten Zeitraum der Zwischenkriegszeit, der eine Zersetzung der Parteien der Mitte, des bürgerlichen Mittelstandes, der politischen Ausgleichspolitik etc. mit sich brachte und somit einer Dogmatisierung breiter Bevölkerungsschichten Vorschub leistete.43 Ist dies bereits im Deutschland der Weimarer Republik deutlich zu beobachten, so dehnt sich dieser Aspekt im böhmischen und mährischen Raum noch auf einen weiteren Bereich aus, nämlich auf den nationalen, somit auf das Verhältnis und die Wechselwirkung zwischen Deutschen und Tschechen. Während in Kapitel 3.1. bereits auf die Hybridität und Transkulturation in Böhmen und Mähren aufmerksam gemacht wurde, so wurde gleichzeitig auch deutlich, dass viele der kulturellen Akteure der Zeit, sowohl von tschechischer wie auch von deutscher Seite, auf den Differenzen zwischen den beiden Nationen beharrten und klare Abgrenzungen bevorzugten. Insbesondere die Mittlerfiguren und Grenzgänger, die sich im nationalen Sinne um eine Kultur der Mitte, Vermittlung und Interaktion bemühten, befanden sich in diesem Feld in einer Außenseiterposition, die von einem Großteil der machtausübenden Instanzen in Politik und Publizistik negativ beurteilt wurde. Dies fließt vor allen Dingen in der deutschnationalen Literatur Böhmens und Mährens auch in die Romane ein, indem dort häufig die kulturelle Differenz in den Mittelpunkt gerückt und hiermit die Berechtigung für den nationalen Kampf in den Grenzgebieten begründet wird, während Mittlerpositionen abgelehnt und gar verabscheut werden (vgl. hierzu Kapitel 5.9).

41

Ebd., S. 79.

42

Vgl. hierzu auch Prüwer, der jeweils einen Ausspruch Merkels und Schröders aus der jüngsten Vergangenheit zitiert: „Während Angela Merkel einmal klarstellte, dass die Mitte „rechts von links“ liege, orakelte Gerhard Schröder: „Wer die Mitte durcheinander wirbelt, erlebt schlimmste Tragödien““. (Ebd., S. 62.)

43

Felix Weltsch äußert sich über die Situation Mitteleuropas 1936 folgendermaßen: „Es gibt zentrifugale und zentripetale Phasen der Weltgeschichte. Die zentrifugalen streben von der Mitte weg, und erwarten das Heil von den Flügeln. In den zentripetalen Zeiten flutet das Leben wieder von den extremen Positionen gegen das Zentrum zurück. […] Wir leben in einer zentrifugalen Zeit“. (Weltsch: Das Wagnis der Mitte, S. 11.)

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Zugehörigkeit wird hier durch eine klare Stellungnahme im politischen und nationalen Bereich suggeriert und nicht durch eine Mittel- oder Mittlerposition.44 Wie problematisch der Begriff der ‚Mitte‘ in den 20er und 30er Jahren war und welcher Begründung eine Auseinandersetzung mit einer Philosophie der Mitte bedurfte, beweist bereits der von Felix Weltsch für sein Werk gewählte Titel Das Wagnis der Mitte.45 Zudem geht es Weltsch hierin nicht um eine Mitte, wie sie in der Politik der Nachkriegszeit als moralisch wertendes und einzig legitimes Demokratieverständnis und dadurch Machtinstrument benutzt wurde,46 sondern um ein Bewusstsein der Dialektik zwischen radikalen Lösungen, welche das heterogene Weltgefüge zu vereinfachend darstellen. Dementsprechend stellt die Mitte im Sinne von Weltsch keinen Kompromissversuch dar,47 sondern ein abwägendes Urteil, das zu einem schöpferischen Werden geriert: „Nicht von der Sicherheit und Bequemlichkeit mittlerer Lösungen ist die Rede, sondern das stürmische Neubeginnen auf vordem ungebahnten Wegen gilt dem Kampf gegen Radikalismus und sinnlos zerstörende Extreme.“48

44

Die NSDAP bedient sich dennoch in der Hoffnung auf Breitenwirkung in sozialer Hinsicht in den 20er Jahren des Begriffs der Mitte: „Als schwammige Zuschreibung, unter die man scheinbar allgemein anerkannt vieles fassen kann, dient „Mittelstand“ in erster Linie als Selbstbestätigung sich Zugehörigfühlender.“ (Prüwer: Zwischen Skylla und Charybdis, S. 75.)

45

Dass die Problematik vor allen Dingen unter den Exilautoren in ihrem politischen und philosophischen Denken eine entscheidende Rolle spielte, beweist etwa die Reaktion Stefan Zweigs auf Weltschs Zusendung seines 1936 erschienenen Textes. Carsten Schmidt hat eine Postkarte ausfindig gemacht, auf der sich Zweig erfreut über das Buch zeigt, „bei dem mich schon der Titel äußerst gespannt macht, er sagt genau das aus, wofür ich bisher vergebens das Wort suchte“. (Postkarte von Zweig aus Neapel an Weltsch vom 9. Januar 1937. Zitiert nach Schmidt: Kafkas unbekannter Freund, S. 210.)

46

In diese Richtung zielt die Kritik an der Mitte, wie sie etwa von Prüwer formuliert wird. Auch Weltsch wendet sich explizit gegen dieses Verständnis von Mitte, das sich aus der reinen Ablehnung von jeglichem Radikalismus und Extremismus definiert, und setzt seine Ausführungen davon ab: „Wählt etwa jemand die Mitte, weil er beiden Flügeln untreu ist, es würde nur eine faule Mitte werden – sittlich zu verwerfen. Wählt aber jemand die Mitte, weil er beiden Flügeln treu ist, zu treu, als daß er einem von beiden den Vorzug geben könnte, dann kann es geschehen, daß diese Mitte eine schöpferische wird.“ (Weltsch: Das Wagnis der Mitte, S. 59f., kursiv im Original.)

47

Vgl. Weltsch: „Im unermüdlichen Suchen der schöpferischen Mitte zwischen Rechts und Links führt der Weg in die Höhe; aber man muß auch hinzufügen: im müden Absinken ins Kompromiß zwischen Rechts und Links führt der Weg in die Tiefe.“ (Ebd., S. 35f.)

48

Brod: Nachwort zum Neudruck, S. 178.

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Die Kritik an der Mitte wird in dem Roman Zwei Deutsche von beiden Protagonisten deutlich geäußert. Für sie gilt die Politik der Weimarer Republik, welche die Not, insbesondere Arbeitslosigkeit, Hunger und, aus Rolfs Sicht, Entfremdung der Deutschen von ihrem Volke, verursacht habe und somit unhaltbar geworden sei, als lauer Mittelweg, der zu keiner Lösung führen könne. Wenn sie auch andere politische Ziele verfolgen, so sind sie sich doch in einem Punkte einig: „Keine der Parteien hatte die Macht und Entschlossenheit zum Aeussersten, und das Vorsichtige der schlauen Winkelzüge kannten sie schon zum Ueberdruss. Es brachte die unerträgliche Lage der Welt nicht um einen Schritt vorwärts.“49 Doch es wird auch deutlich, dass weder Erhards noch Rolfs Überzeugung eine wirkliche Lösung bieten können. Im Roman werden nun der Nationalitätenkonflikt ebenso wie die Region Böhmen und Mähren nicht behandelt, dennoch zeigt sich in seinem Umgang mit der Schilderung der nationalsozialistischen und kommunistischen Perspektive von Rolf und Erhard, ihrer Gleichberechtigung und der Infragestellung beider essentialistischen Weltanschauungen eine Haltung, die typisch für die deutschböhmische und deutschmährische nicht-nationalistische Literatur der Zwischenkriegszeit ist, indem sie versucht, verschiedene politische oder nationale Standpunkte differenziert zu betrachten und einen produktiven und ‚schöpferischen‘ alternativen Ausweg zu formulieren. Es ist wohl nicht zu weit gegriffen, diese Perspektive, die nicht ausschließlich in Böhmen und Mähren auftritt, hier aber in den 20er und 30er Jahren in ungewöhnlichem Ausmaß, auch auf die multikulturellen Eigenheiten der Region zurückzuführen, in der die nationalen und politischen Streitigkeiten zu einer essentialistischen Sichtweise verführen, welche jedoch, wie der Nationalismus auf deutscher wie auch tschechischer Seite zeigt, nicht zu einem Ziel führt. Auch Felix Weltschs Bemühen, so ist anzunehmen, ist vor diesem Hintergrund entstanden: Weltsch propagiert [in Das Wagnis der Mitte] den Mut, die Mitte in der Politik zu wagen, weil es seiner Meinung nach Größe und viel mehr Verständnis für mehrere Seiten erfordere, als sich an den radikalen Rand zu stellen und die ganz große Mehrheit der „anderen Politik“ zu opponieren und somit jeglichen Fortschritt sowie politisches Vorankommen zu bremsen.50

In Oskar Baums Roman ist es bezeichnenderweise eine naiv gezeichnete Frauenfigur, nämlich Hilde, welche die Hoffnung auf eine Aussöhnung in sich angelegt trägt, für die jedoch die Zeit noch nicht reif scheint. Christian Jäger trifft in Bezug auf die Frauenfiguren Ludwig Winders eine Feststellung, die sich problemlos auch auf Hilde anwenden lässt: Die

49

Baum: Zwei Deutsche, S. 95.

50

Schmidt: Kafkas fast unbekannter Freund, S. 210.

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Frauen sind charakterisiert durch ihre Flexibilität, die es ihnen gestattet, Wunsch und Realität immerhin soweit in Einklang zu bringen, dass sie keinen Schaden nehmen. Männliche Protagonisten hingegen sind durchweg verstrickt in Ideen oder Ziele, die keine koexistente Alternative zulassen, bewegen sich in einem objektiv schwankenden, subjektiv unabänderlichen Entweder-Oder.51

Hilde versucht im Roman nicht nur, sich über die sozialen Grenzen hinwegzusetzen, indem sie Inge aus ihrem Unheil zu befreien sucht, sondern sie bemüht sich ebenso, sowohl Rolf als auch Erhard zu verstehen, wobei sie sich aus einem Gerechtigkeitsgefühl dem Marxismus zuwendet, sich hierbei jedoch nicht in dem bedingungslosen Glauben an das Kollektiv verliert, sondern das Potential des menschlichen Individuums höher stellt. Am Ende des Romans versucht sie, den Konflikt zwischen Rolf und Erhard zu nivellieren, indem sie an das Gute im Individuum unabhängig von seiner Ideologie appelliert: „Wenn gute ehrliche Männer, selbst von einer falschen Idee besessen, zur Führung kommen, kann es zum Heil ausschlagen, und wenn die beste Idee von unfähigen oder schlechten Menschen verwirklicht werden soll, muss sie zum Untergang führen.“52 Dies wird jedoch von Erhard direkt abgelehnt durch eine Überhöhung der (männlichen und starken) Idee: „Das kann und darf nur eine Frau sagen“.53 Hilde erkennt in der Argumentation Erhards ihren Bruder wieder, die Ähnlichkeit zwischen den beiden so unterschiedlich scheinenden Freunden verweist auf die vergleichbare Totalität der beiden politischen Ideologien und ihrer Verfechter. Die daraus resultierende Feindschaft kann durch den Dogmatismus nicht gelöst werden, woraus deutlich wird, dass beide die angelegte Möglichkeit zur Versöhnung nicht wahrnehmen, worin sich die Ablehnung beider Haltungen und die Notwendigkeit einer Verständigung durch einen ‚dritten Weg‘ deutlich abzeichnet: „Zwei feindliche Brüder, denen ihre Verwandtschaft verheimlicht wurde, ganz wie es in alten Opern beliebt war, um Schauerszenen zu ermöglichen.“54

51

Jäger: Minoritäre Literatur, S. 407.

52

Baum: Zwei Deutsche, S. 298.

53

Ebd.

54

Ebd.

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5.6 P AUL K ORNFELD : B LANCHE ODER DAS A TELIER IM G ARTEN Paul Kornfelds „Blanche oder das Atelier des Gartens“ erscheint auf den ersten Blick als ein zeitloser Gesellschaftsroman, der weder mit Böhmen und Mähren noch mit der zeitgenössischen historischen Situation seines Entstehens im Laufe der 30er Jahre bedeutende Zusammenhänge aufweist. In der Unfähigkeit der Hauptfigur Blanche, sich den gesellschaftlichen Konventionen anzupassen und in ihrer seelischen Vereinsamung, die schließlich im Selbstmord endet, äußert sich jedoch das zeitkritische und desillusionierende Bild der Desintegration in das gesellschaftliche Kollektiv, das auch in den anderen deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen der Zeit aufscheint. Kornfeld führt in dem Roman auf sublime und ästhetisierte Art das in seinen expressionistischen Texten entwickelte Modell des gnostischen Denkens fort, das in Analogie zu Robert Musils Möglichkeitsdenken gelesen werden kann und die Identitätsproblematik Blanches aufdeckt, die sich in der unauflösbaren Dichotomie zwischen der Determination von kollektiver gesellschaftlicher Erwartungshaltung und ihrem eigenen, individuellen Seelenleben äußert, woran sie schließlich zugrunde geht. Paul Kornfeld gilt zwar als einer der Autoren des weiteren ‚Prager Kreises‘, dies wurde in den spärlichen Publikationen über ihn immer wieder festgestellt,1 doch Ansatzpunkte, sein Werk auch literaturhistorisch in diesem Kreise anzusiedeln, bezogen sich zumeist lediglich auf sein umfangreiches dramatisches Werk, das in der Regel als ‚expressionistisch‘ bezeichnet wurde.2 Sein später und einziger Roman Blanche oder das Atelier im Garten wurde von der Literaturwissenschaft bislang wenig beachtet3 und die Darstellungen und Rezensionen, die sich mit dem Erzähltext beschäftigen, hoben zumeist seine Verortung in einer Stadt der Weimarer Republik und seine

1

Vgl. z.B.: Härtling: „[U]nd wir reihen ihn – das Stichwort Prag – unverzüglich neben Kafka, Werfel, Brod, Willy Haas, Rilke, Oskar Baum und Johannes Urzidil“. (Härtling: Paul Kornfeld, S. 162.)

2

Müller kritisiert diese Pauschalisierung, indem diese „die künstlerische Entwicklung von der 1916 geschriebenen Tragödie Die Verführung bis zu dem 1929 in Berlin geschriebenen und 1930 von Leopold Jessner am Schiffbauerdamm-Theater in Berlin uraufgeführten Schauspiel Jud Süß“ verkenne. (Müller: Zu Paul Kornfelds posthum erschienenem Roman, S. 167.)

3

So widmet Haumann in seiner sehr umfangreichen Monographie über Pauls Kornfeld dem Roman Blanche kein eigenes Kapitel, obwohl er den Text als Kornfelds bedeutendstes Werk rühmt. Dies hängt damit zusammen, dass der Text bis heute nicht in seiner Urfassung vorliegt, sondern bereits bei der Erstfassung um ca. ein Drittel gekürzt wurde.

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erzählerische Gestaltung in der Nähe von Proust, Zola, Musil oder Stifter hervor,4 ohne auf Analogien zu den Prager Autoren zu verweisen. Arlett Möllers formuliert zwar in einem Vergleich von Paul Kornfelds und Hermann Grabs Erzählwerk die Frage, „ob sich vor dem gemeinsamen kulturellen Hintergrund der beiden Autoren Berührungen in der Gestaltung des Garten- und Parkmotivs ergeben beziehungsweise inwieweit sich dieser Hintergrund auf ihr Garten- und Parkbild auswirkt“,5 doch wird keine zufrieden stellende Antwort darauf formuliert; die autobiographischen Bezüge in Blanche werden hier nur auf eine allgemeine unsichere Exilsituation bezogen,6 die weder auf Kornfelds Herkunft aus Prag noch auf seine Sozialisation zurückzuführen ist, sondern eine kollektive Erfahrung jüdischer wie politischer, deutschböhmischer wie deutscher Exilanten in den Jahren 1933-1945 darstellte. Mühlberger unternimmt

4

Vgl. hierzu die Analyse der Rezensionen über Blanche in Weber: Expressionismus und Neue Sachlichkeit, S. 139 sowie Müller: Zu Paul Kornfelds postum erschienenen Roman, S. 175.

5

Möllers: Garten und Park, S. 73.

6

Vgl. z.B. Möllers Analyse: „Hier [in der illusionären Wirklichkeit des Ateliers] liegt ein Vergleich mit der Situation des Autors nahe, da Kornfeld sich in die Arbeit an seinem Roman, ein Leben gleichermaßen in der Imagination, zurückzog und trotz steigender äußerer Gefahr in Prag blieb, um seine Existenz als Schriftsteller zu behaupten und sie bis zuletzt der täglich werdenden Bedrohung entgegenzusetzen.“ (Möllers: Garten und Park, S. 80.) Wollte man so weit gehen und Kornfelds Rückzug in Prag und die Ablehnung des Exils, die seinen sicheren Tod bedeuteten, aus Kornfelds Werk heraus deuten, so liegt es näher, sie mit seinem gnostischen Denken, das vor allen Dingen in seinem Essay Der beseelte und der psychologische Mensch (vgl. hierzu Haumann: Paul Kornfeld, S. 234ff.), aber auch in Blanche anklingt, in Verbindung zu bringen. Die pessimistische Weltsicht des Gnostikers führt zu einer Suche „nach religiösen oder philosophischen Angeboten, von denen sie sich eine befriedigende Erklärung dieser Welt, die Bewältigung ihrer Krisen, Selbstfindung und (neue) Identität und nicht zuletzt seelischen Halt versprechen. […] Sie führte nicht zu einem gesellschaftlichen Wandel, sondern im Gegenteil zur Desintegration einer Gruppe von Menschen. Sie diente also nicht – wie sonst in der Regel Religion – der gesellschaftlichen Integration.“ (Tröger: Die Gnosis, S. 23.) Hieraus lässt sich Kornfelds Haltung in den 30er Jahren erklären, in denen er kaum in der Öffentlichkeit und mit anderen Prager Exilierten auftrat, da er „trotz aller Geschehnisse davon überzeugt [war], daß nicht „politisches“ Parteiergreifen eine Änderung herbeiführen könne, sondern einzig die – durch die Kunst zu befördernde – Besinnung jedes einzelnen auf seine Menschlichkeit.“ (Haumann: Paul Kornfeld, S. 63.) Der Roman Blanche ist in diesem Kontext entstanden und trägt somit, trotz seiner vermeintlichen Zeitlosigkeit, auch die Züge der Wahrnehmung und Auseinandersetzung Kornfelds mit den unmittelbaren historischen Ereignissen des Nationalsozialismus.

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als einer der wenigen den Versuch, Kornfeld in die Reihe der Prager Schriftsteller seiner Generation einzureihen, indem er Blanche als „Epilog und […] Requiem für die deutschsprachige Dichtung Prags und die Schicksale ihrer Dichter“ bezeichnet und in dem „unverrückbar klaren und zugleich hintersinnigen Deutsch“ Analogien zum Stil Rilkes, Musils und Kafkas erkennt.7 Man kann Markus Weber zustimmen, wenn er konstatiert, dass Paul Kornfeld und vor allen Dingen sein Roman Blanche „nur bedingt jener literarischen Einflußsphäre an[gehören], die in der Forschung seit einigen Jahren als „Prager deutsche Literatur“ zunehmend Beachtung findet“,8 allerdings nur unter dem Vorbehalt, dass man, wie Weber dies in Anlehnung an die etwas ältere Forschung tut, als charakteristisches und verbindendes Merkmal dieser Literatur unter anderem „die dominierende Erfahrung des Unheimlichen und Monströsen“, die ins Symbolische transformierten Tendenzen des Epochenwandels und die „Eigendynamik unkontrollierbarer psychischer Prozesse“ ansieht.9 Bezeichnenderweise sind die Beispiele, die für diesen Typus der Literatur von Weber genannt werden mit Texten von Meyrink, Kafkas Verwandlung und Sommers Aufruhr Werke, die vor 1920 entstanden sind. Weber folgt damit dem Mythos des ‚magischen Prags‘ vor dem Ersten Weltkrieg, den bereits die Zeitgenossen formuliert und entweder kolportiert oder aber kritisiert hatten. Ludwig Winder etwa verfasste bereits 1918 einen programmatischenAufsatz, der sich polemisch z.B. gegen Meyrink wendet und eine auch literarisch-stilistische Veränderung durch den Ersten Weltkrieg formuliert: Die Schokolade der Prager Romantik verträgt niemand mehr. Man hat sie zu oft getrunken. Aber warum übersehen die Dichter geflissentlich, daß neben den alten Häusern neue stehen? Neben den alten Stadtteilen neue, neben dem Mittelalter das harte, scharfe, schmerzhaft klare zwanzigste Jahrhundert? Schöngeister sagen: die neue Zeit hat Prag „verschandelt“, wie sie Wien verschandelt hat. Es ist nicht sehr weitherzig, solch ein Schöngeist sein zu wollen. Das alte Prag war auf den düster-tragischen Ton gestimmt. Es paßt nicht mehr in unsere Zeit. Gehet in die große Komödie, die wir erleben: wer beugt sich ihr? […] Die Formel Schokolade-Knoblauch setzt die Tragikomödie ein, die die Ausdrucksform des zwanzigsten Jahrhunderts ist. Tragik und Komik verschmelzen zu einer Einheit, die das Leben beherrscht. Die Tragik des alten Prag neben der Komik des neuen … wer dies gestalten könnte, liebevoll-brutal, mit zartfestem Griff –: der wäre ein Künstler, ein Dichter.10

7

Mühlberger: Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen, S. 265.

8

Weber: Expressionismus und Neue Sachlichkeit, S. 144.

9

Ebd., S. 145f.

10

Winder: „Prag als Stoff“, In: Deutsche Zeitung Bohemia, 91. Jg., Nr. 18 (19. Januar 1918), S. 3.

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Kornfelds Verzicht auf die unmittelbare Darstellung Prags in einem mystisch-verklärten Ton und seine naturalistische Schilderung im Gegensatz zu einem Gestus des Unheimlichen und Magischen bedingt dementsprechend nicht zwangsläufig eine Außenseiterrolle im Rahmen der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur der Zwischenkriegszeit, da diese Merkmale viele der zeitgenössischen Romane der Region aufweisen. Nicht von der Hand zu weisen ist aber Kornfelds persönliche Exklusion aus Brods ‚Prager Kreis‘, da er zwar mit den anderen Schriftstellern gut bekannt war (man unternahm z.B. gemeinsame Séance-Abende, die Werfel in seinem Abituriententag literarisch verarbeitete), jedoch insbesondere mit Max Brod persönliche Auseinandersetzungen hatte, die von tiefer Abneigung und literarischer Ausgrenzung gezeichnet waren. Brod äußert sich in seinem autobiographischen Text Der Prager Kreis harsch und arrogant über Kornfeld, eine Aussage, die viel zitiert wurde und aus der herausklingt, dass es sich hierbei nicht nur um eine literarische, sondern auch persönliche Geringschätzung handelt: Aber Paul Kornfeld war immer belanglos, er war die Belanglosigkeit in Person. Er versuchte, es auf eine auffallende Art zu sein. Auch das gelang ihm nicht. Für ihn gilt das Brodsche Gesetz, von mir entdeckt und wiederholt empirisch bestätigt gefunden: „Je talentloser, desto expressionistischer.“11

Diese Feindschaft, für welche in der Forschung unterschiedliche Gründe angeführt werden,12 führte unter anderem dazu, dass Kornfeld im Gegensatz zu den anderen wichtigen jungen Figuren der Prager Szene nicht zur Veröffentlichung in Brods Jahrbuch Arkadia (1913) eingeladen wurde. Zudem unterschied er sich von denVertretern des ‚Prager Kreises‘, indem er erstens zwar die tschechische Sprache und Kultur kannte und schätzte, sich jedoch nicht aktiv um die Förderung des Austausches zwischen Deutschen und Tschechen bemühte, und indem er zweitens auch für den Zionismus kein großes Interesse aufbringen konnte.13 Diese Sonderstellung ist jedoch nur dann eine, wenn man Kornfeld lediglich im Zusammenhang mit den Autoren

11

Brod: Der Prager Kreis, S. 179.

12

Pazi zufolge ist sie in nicht unerheblichem Maße Kornfelds und Brods unterschiedlichem Verhältnis zu dem Wiener Satiriker Karl Kraus geschuldet. Vgl. Pazi: „Das deutschsprachige literarische Prag […] hatte sich in Kraus-Anhänger und Kraus-Gegner, was gleichbedeutend war mit Brod-Anhängern, gespalten. Kornfeld gehörte in das erste Lager und es ist mehr als wahrscheinlich, daß der Zwischenfall mit Brod hierauf zurückzuführen ist.“ (Pazi: Fünf Autoren, S. 217.) Mühlberger dagegen führt die unterschiedliche Weltanschauung der beiden Autoren als Begründung ins Feld. Vgl. Mühlberger: Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen, S. 256.

13

Vgl. Pazi: Fünf Autoren, S. 218f.

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betrachtet, die Max Brod zum engeren ‚Prager Kreis‘ zählte, Pazi nennt an dieser Stelle ihn selbst, Weltsch und Werfel. Die Untersuchung in Kapitel 2.3 hat jedoch gezeigt, dass die Literatur Böhmens und Mährens, einschließlich Prags, vor allen Dingen in der Zwischenkriegszeit sich sehr viel differenzierter darstellte und dass von einem einheitlichen Literaturzirkel, der im Schwerpunkt entweder mystisch, zwischen Kulturen vermittelnd oder zionistisch war, nicht die Rede sein kann. Kornfelds einziger und später Roman lässt sich trotz seiner eigenen Spezifika in den Kontext der deutschböhmischen und deutschmährischen Romane der Zwischenkriegszeit einordnen, und dies vor allen Dingen im Bereich der Darstellung der Verzweiflung und Isolation des Individuums in gesellschaftlichen Strukturen, die im Folgenden aufgedeckt werden soll, auch wenn die fiktionale Handlung nicht in Böhmen oder Mähren angesiedelt ist.14 Die einzigen Anhaltspunkte, die der Roman zu einer historischen Verortung anbietet, ist die wiederholte Anspielung auf den vergangenen Krieg und der Verzicht auf eine Bezugnahme auf das Dritte Reich, die es ermöglichen, den Handlungsverlauf auf das Ende der 20er Jahre zu datieren, was bei der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft von großer Bedeutung ist. Diese erinnert vor allen Dingen in ihren abendlichen Zusammenkünften und Diskussionen, die häufig im Hause von Blanches Vater, einem Rechtsanwalt, stattfinden, erstaunlich stark an eine Einschätzung von Kornfelds Bekannten Hermann Ungar, der sich 1924 über die Gesellschaft in der Weimarer Republik zynisch geäußert hat:

14

Im Roman selbst wird der Ort der Handlung nicht näher bestimmt und auch aus den Beschreibungen der Stadt lässt sich kein eindeutiges Urteil hierüber fällen. Die Rezensionen zu Blanche sprechen häufig von Berlin als Handlungsort (vgl. zu diesen Mutmaßungen Müller: Zu Paul Kornfelds postum erschienenem Roman, S. 168), andere Literaturwissenschaftler wie Schütz und Pazi nennen in diesem Zusammenhang Prag (vgl. Schütz: Eure Sprache, S. 275 und Pazi: Fünf Autoren, S. 242f.), wobei jedoch konkrete Anhaltspunkte hierfür nicht zu finden sind, eine Behandlung etwa der Sprachsituation z.B. im Umgang mit Arbeitern, in Geschäften, in der Straßenbahn etc. sind an keiner Stelle auch nur angedeutet. Auch der Versuch, Blanches Gartenhaus als Rückzugsort mit der Lebenssituation und dem Versteck des von den Nationalsozialisten verfolgten Autors seit 1938 in Prag gleichzusetzen, den Mühlberger unternommen hat (vgl. Mühlberger: Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen, S. 265), scheitert an der autobiographischen Reduktion des Textes, die diesem nicht gerecht wird. Müller dagegen hat nachvollziehbar dargestellt, dass als Vorlage sowohl für Blanches Gartenatelier als auch für die sozialen Beziehungen der Bürgerschicht die Provinzstadt Darmstadt diente, in der Kornfeld 1927/28 am Landestheater tätig war. (Vgl. Müller: Zu Paul Kornfelds posthum erschienenem Roman, S. 168f.)

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Bei „Gesellschaft“ denke ich an Salons. Ich habe nicht die Absicht, die berühmtesten Salons der Vergangenheit auszuschließen, wenn ich sage, daß die Salons ein schönrednerischer schleimiger Snobismus sind und waren […]. Ein Kreis von schöngeistigen Rechtsanwälten, emeritierten höheren Töchtern und Literaten versammelt sich am ersten Dienstag jeden Monats um eine geistige Hausfrau, die – heute – Freud gelesen hat, trinkt Tee und übt eine hochgeistige Unterhaltung aus. Schöngeistige Rechtsanwälte – ich habe nichts gegen Rechtsanwälte, solange sie brav sind –, schöngeistige Rechtsanwälte sind zum Kotzen!15

In Blanche findet diese Art des Salons abends statt und es sind sehr viel mehr Alkohol und Provokationen im Spiel als Ungar thematisiert, der Kern der Kornfeldschen affektierten und hochnäsigen Gesellschaft im Hause des Rechtsanwalts Riediger ist jedoch der gleiche wie bei Ungar. Was die erzählerische Gestaltung betrifft, so liegt der Vergleich mit naturalistischen und realistischen Autoren nahe.16 Die Überwindung des Expressionismus, der sich in seinen Dramen so deutlich abzeichnet, äußert sich bei Kornfeld in der akkuraten Beschreibung der Szenerie und der handelnden Personen, in der genauen Beobachtung und Wiedergabe der kleinen Gesten und unscheinbaren Dinge, die auf diese Art ihre Wirkung entfalten. Dieses Vorgehen ist programmatisch, hatte doch Kornfeld bereits 1924 in einem Drama eine Figur fordern lassen: Clara: Nichts mehr von Krieg und Revolution und Welterlösung! Laßt uns bescheiden sein und uns anderen, kleineren Dingen zuwenden –: einen Menschen betrachten, eine Seele, einen Narren, laßt uns ein wenig spielen, ein wenig schauen, und wenn wir können, ein wenig lachen oder lächeln!17

Thematisch und motivisch bleibt Kornfeld im Grunde den Bereichen treu, die ihn auch in seinen Dramen immer wieder beschäftigt haben. Maren-Grisebach weist auf eine gewisse Dichotomie zwischen Stil und Thematik hin, indem sie konstatiert, dass, „obschon es wegen der stilistischen Zugehörigkeit höchst unbequem und anachronistisch ist, […] immer noch das expressionistisch zentrale Motiv der Weltflucht zwecks Steigerung innerer Kräfte eine zentrale Rolle spielt.“18 Weber weist, ebenfalls neben Rückbezügen auf Kornfelds Dramen, auch auf gewisse Ähnlichkeiten des Romans mit Musils Mann ohne Eigenschaften und Brochs Schlafwandlern hin, „wenn man sie als Gestaltungen der Entpersönlichung, des Zerfalls des Subjektes in Zeiten des

15

Ungar: Publikum und Gesellschaft, S. 212f.

16

Haumann weist z.B. auf die Vorbildfunktion Fontanes bei der Gestaltung der Dialoge hin

17

Kornfeld: Palme oder Der Gekränkte, S. 7.

18

Maren-Grisebach: Paul Kornfeld, S. 524.

(vgl. Haumann: Paul Kornfeld, S. 62.)

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Umbruchs liest“, obwohl Blanche „der Impetus einer ähnlich tiefgründigen und gleichzeitig raumgreifenden Analyse enzyklopädischen Ausmaßes“, wie ihn der Mann ohne Eigenschaften aufweist, fehlt.19 Die Eigenständigkeit und das Charakteristische am Erzählstil Kornfelds sind jedoch die spezifische wechselnde Erzählhaltung; Kornfelds auktorialer Erzähler changiert nicht nur in seinem point-of-view, so z.B. von einem Außenblick, der wertende und, vor allem bei der intimen Betrachtung der Frauenfiguren, auch voyeuristische Züge annimmt, zu einer Innenansicht, die dem Leser die Gedanken und Gefühle der Figuren mitteilt, sondern auch in seiner Haltung gegenüber den Figuren, indem er einmal als galant-rücksichtsvoller Erzähler die Charaktere und ihre Handlungen verständnisvoll kommentiert, während er an anderen Stellen ähnliche Verhaltensweisen ironisch und satirisch karikiert.20 Die Frage nach der ironischen Distanz, der beschreibenden und beinahe voyeuristisch anmutenden Nähe, der Allwissenheit und der Parteinahme des Erzählers bietet auch den Schlüssel zu der Interpretation des Romans in Bezug auf die konfliktbehaftete Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Während die Problematik des scheiternden Individuums in einem kollektiven Rahmen in anderen deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen, z.B. bei Weiß’ späten Romanen und in Weiskopfs Slawenlied, unmittelbar aus den Schilderungen des autodiegetischen Erzählers hervorgeht, so liegt hier der Fokus anders; es handelt sich um eine changierende Außensicht, welche die Charaktere nicht durch die Darstellung ihrer Gedanken, sondern durch ihre Handlungen, ihre Mimik und ihren Umgang mit anderen Figuren entlarvt. Der auktoriale Erzähler nimmt hier zwar keine objektive Sichtweise ein, indem er durch ironische Einschübe Stellung bezieht, die Fokalisierung wechselt und filtert, welche Figuren direkt und welche indirekt charakterisiert werden, doch erlaubt

19

Weber: Expressionismus und Neue Sachlichkeit, S. 143.

20

Vor allem der Wechsel zwischen Ernsthaftigkeit und Spott in der Charakterzeichnung hat zu recht unterschiedlichen Leseerfahrungen und zu sich widersprechenden Beurteilungen in den Kommentaren zu dem Roman geführt. So spricht z.B. Siegfried Lenz davon, dass „das Verhältnis des Autors zu seinem erfundenen Personal […] nicht durch eine (erwartete) ironische Distanz bestimmt [wird], sondern durch Nachsicht und Güte“. (Lenz: Weltflucht mit Komfort, S. 165.) Peter Härtling dagegen ist skeptischer: „Die Ironie kann einen allerdings in Unsicherheit stürzen: meint er’s denn nun ernst mit Blanche oder dem Dichter Joachim, oder veranstaltet er ein hintersinniges Puppenspiel vor unseren Blicken?“ (Härtling: Paul Kornfeld, S. 164.) Die ironische Erzählhaltung des Autors bricht die Erwartung des Lesers, der aufgrund des Titels in der konkreten Benennung der Hauptfigur und seiner ‚oder‘-Formulierung einen Bildungs- oder Entwicklungsroman suggeriert. Die Statik der Figuren, die sich aus ihren ‚undiskutierten, unbedachten Voraussetzungen‘ ergibt, denen sie nicht entkommen können, wird durch die ironischen Einschübe vollends aufgedeckt.

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die Erzählsituation, ein gesellschaftliches Panorama zu erstellen, das die Problematik des Individuums nicht nur in dessen subjektiver Wahrnehmung schildert, sondern ihr einen breiteren Rahmen gibt, der die Mechanismen der Isolierung aufdeckt. Die Titelperson des Romans ist gleichzeitig seine Hauptprotagonistin,21 und eine Analyse der scheiternden Identitätskonzepte im Text anhand der Vereinsamung und Verzweiflung Blanches, die schließlich in ihrem Selbstmord gipfelt, liegt nahe. Dies würde jedoch zu kurz greifen, denn die Problematik, die zu ihrer Isolation führt, liegt in der sie umgebenden Gesellschaft begründet und die anderen Handlungsträger sind gleichzeitig ebenso Produzenten wie Leidtragende des gesellschaftlichen Zustandes, seiner Kommunikation und Netzwerke,22 wobei sie jedoch Mechanismen und Strategien entwickelt haben, um mit dieser Situation umzugehen. Diese Strategien bestehen jeweils in einer Stärkung des eigenen Ich-Gefühls durch Maskerade, Egoismus und Selbstüberschätzung, in einer Art seelischem Panzer, der es ihnen ermöglicht, wiederum im Kollektiv zu bestehen. Hieraus ergibt sich das Bild der Gesellschaft und Blanches Unfähigkeit, daran teilzunehmen, denn [d]er poetisch gestaltete Konflikt des „beseelten“ Menschen (vor allem Blanches) ist in Kornfelds Roman das Dilemma eines Suchenden, der sich Menschen gegenübersieht, die ihre wahre innere Beschaffenheit hinter der Maske einer gespielten Identität (die durch Sprach- und Verhaltensstereotype festgelegt ist) verbergen.23

In den akkuraten Beschreibungen der Szenerie nimmt die Darstellung der Äußerlichkeiten der handelnden Figuren einen besonderen Platz ein. Sie sind ausufernd, nicht so sehr in der Genauigkeit der einzelnen Darstellung der Kleidung und der Gesichtszüge als vielmehr in der Beschreibung der Außenwirkung der Figuren. Während Natur und Gegenstände umfassend und genau lediglich in ihrem Ist-Zustand geschildert werden, in dem die Dinge der Welt ihren angestammten Platz einnehmen und ihre Erscheinung nicht in Frage gestellt wird, sondern sie in ihrer Natürlichkeit als Spiegelobjekte bedeutend sind für das von jeglicher Maskerade verdeckte, echte Gefühls-

21

Das Schicksal Blanches ist sehr eng mit demjenigen ihres Ateliers verbunden, worauf

22

Vgl. auch Paulsen: „Es geht nicht eigentlich um Blanche, die in den Mittelpunkt gerückte

bereits der Doppeltitel verweist. Nebenfigur, es geht vielmehr um die Welt, in der sie lebt und für die ihre Existenz symptomatisch ist.“ (Paulsen: Kornfeld, S. 359.) 23

Weber: Expressionismus und Neue Sachlichkeit, S. 165.

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und Seelenleben der Figuren,24 so mischt der Erzähler in die Beschreibung der Figuren häufig ein ‚Was-wäre-wenn-nicht?‘, das darauf verweist, dass die äußere Erscheinung in diesen Fällen immer auch eine Inszenierung ist, eine bewusste und teils gewaltsame Beugung der Natur, um sich nach außen den Anschein von etwas zu geben, was es natürlicherweise nicht ist. Als Beispiel soll die erste detaillierte Charakterisierung des Romans dienen, die Beschreibung von Heinzfurth, der Blanche den Hinweis für ihr Atelier gibt und später um sie wirbt: „Heinzfurth war etwa vierzig Jahre alt und hatte einen großen, fleischigen Körper, der sich ohne Zweifel ins Kolossale ausgedehnt hätte, wenn ihn nicht tägliche Massagen und pflichtgemäß jeden Morgen ausgeführte Turnübungen davor bewahrt hätten.“25 Die natürliche Körperfülle wird dementsprechend durch künstliche Mittel in den Schranken gehalten und muss sich dem menschlichen Willen beugen. Die Herrschaft des Menschen über seinen Körper wird aber von dem Erzähler nivelliert und die Bestrebungen, über die Natur zu siegen, werden ad absurdum geführt, indem dem Leser genau mitgeteilt wird, wie Heinzfurth aussehen würde, wenn er seine tägliche Routine nicht durchführte. Das, was verdeckt und versteckt werden soll, wird damit vom Erzähler wieder an die Oberfläche gebracht und dient der Charakterisierung der Person. Doch damit nicht genug, denn der Erzähler schiebt noch eine offenere Kritik direkt hinterher, die Heinzfurth und sein Bestreben, anders zu wirken, als er tatsächlich von der Natur geschaffen wurde, der Lächerlichkeit preisgibt und beweist, dass das geschulte Auge in der Lage ist, das Gewollte an seiner Fassade zu durchschauen und ihn als Emporkömmling zu entlarven: „Er war außerordentlich sorgsam gepflegt und in gute Kleider eingepresst, doch war die Gepflegtheit zu sehr in die Augen springend, und was er an sich trug, war immer zu neu, als daß er die eigentliche Eleganz hätte erreichen können.“26 Heinzfurth befriedigt mit seiner Aufmachung jedoch nicht nur ein persönliches Bedürfnis, sich als reich, erfolgreich und begehrenswert darzustellen, sondern er folgt den Spielregeln der Gesellschaft, für die Selbstdarstellung durch Gebärde, Rede und Mode zu einem so festen Ritual gehört, dass die darin implizierte Selbstverleugnung sowohl von den Darstellern als auch von den Betrachtern nur noch in seltenen Momenten wahrgenommen wird. Dabei geht es gar nicht einmal so sehr darum, dass die Maskerade für wahrhaftig gehalten wird, sondern dass mit ihr ein Verhaltenskodex aufrechterhalten wird, der von gesellschaftlicher Seite in den bürgerlichen Kreisen, die im Roman geschildert werden, erwartet wird. Dies gilt für Heinzfurths Äußeres ebenso wie für die anderen in der Gesellschaft auftretenden Nebenfiguren, so z.B. für Stadel,

24

Die Spiegelfunktion von Dingen und der Seele wird wiederholt betont bei Weber: Expressionismus und Neue Sachlichkeit, z.B. S. 191, vgl. auch Möllers: Garten und Park, S. 79.

25

Kornfeld: Blanche, S. 10.

26

Ebd.

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der sich durch seine ungepflegte Erscheinung als Rebell stilisiert und dabei doch so wenig radikal ist, dass er noch nie aus einem bürgerlichen Haus hinausgeworfen wurde. Es gilt auch für Müller-Erfurts Aphorismen und seine Ansprachen über die körperliche Liebe, obwohl er diese tatsächlich nur bei Prostituierten erlebt, und für des Dichters Joachims Erzählungen über seine Reisen nach Indien, angebliche Regierungsgeheimnisse und begehrenswerte, exotische Frauen. Jede dieser Figuren wird vom Erzähler an mehreren Stellen ironisch kommentiert,27 es wird hierdurch deutlich, dass sie alle nicht das sind, was sie scheinen, und doch beherrschen sie ihre selbst erfundenen Rollen so hervorragend, dass ihr eigentliches Wesen weder für den Leser noch für die anderen Charaktere offenbar wird.28 Der Großteil der Kommuni-

27

Als Beispiele sollen hier drei Kommentare des Erzählers dienen, die veranschaulichen, welch entscheidende Rollen falsche Selbsteinschätzung, das Bedachtsein auf äußerliche Erscheinung und Selbstverleugnung im gesellschaftlichen Leben der Charaktere spielen. Stadels Verhalten z.B. basiert auf einer falschen Grundannahme über seine eigene Person, die der Erzähler enthüllt: „Stadel [verharrte], als einer Voraussetzung seines Lebens, bei seinem Gefühl, in gegenseitiger Feindschaft und im Kampf mit der Gesellschaft zu stehen, als Verteidiger der Liebe, der Seele und Gottes. Aber Gott nimmt nicht jeden als Anwalt an. – Ohne diese Voraussetzung wäre Stadel vielleicht aller Lebensatem ausgegangen, sie gab ihm vor sich selbst seine Existenzberechtigung. Es liegt eben der Irrtum, in dem sich ein Mensch über sich selbst befindet, nicht in den Gedanken, die er über seine Person hegt, nicht in den Schlußfolgerungen, die er zieht, sondern schon in den undiskutierten, unbedachten Voraussetzungen, von denen er ausgeht.“ (Ebd., S. 131.) MüllerErfurt dagegen ist sich seiner körperlichen Mängel durchaus bewusst (wenn auch nicht seiner geistig-charakterlichen), und inszeniert daher ein Selbstbewusstsein, das von seinem wahren Wesen ablenken soll: „Mit harten Schritten ging der kleine buckelige Mann übers harte Pflaster, gleichmäßig laut schlugen und klappten unbeirrt die Absätze auf, jede Bewegung schien Kraft und Energie wiederzugeben, und es war, als riefe die ganze Gestalt: Seht, wie sicher ich dahinschreite! Es geht mir gut! Es geht mir gut! Ich fühle mich sicher auf der Welt!“ (Ebd., S. 105). Joachim dagegen praktiziert eine Art Selbstverleugnung, indem er seine Herkunft übertüncht und doch nicht ganz verstecken kann. Nach einer Beschreibung seines attraktiven, eleganten und weltmännischen Auftretens folgt die ironische Spitze und die Entzauberung der Figur durch den Erzähler: „Im ganzen stellte er eine nicht ganz sichere Mischung aus einem Dandy und einem Sportsmann dar. […] Mit seinem bürgerlichen Namen hieß er Ferdinand Müller, und er war der Sohn eines Lehrers aus einer norddeutschen Stadt mit dreißigtausend Einwohnern.“ (Ebd., S. 73.)

28

Wenige Ausnahmen stellen die seltenen Momente dar, in denen die wahre Persönlichkeit der Charaktere unter der Maske durchzuschimmern scheint, so etwa bei Müller-Erfurts Gespräch mit Blanche nach dem Besuch bei Carola, in dem er „die beste und klügste

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kation, die im Roman dargestellt wird, ist somit nicht aufrichtig, sondern reine Inszenierung; sie wird zwar als solche entlarvt, doch können kaum Rückschlüsse auf die wahren Beweggründe der Figuren gezogen werden. Die Charaktere selbst scheinen ihre Rollen verinnerlicht zu haben, und obwohl an einigen Stellen, vor allem bei Müller-Erfurt, durchscheint, dass sie tatsächlich tief unglückliche Menschen sind, erlaubt ihnen ihre Maskerade, innerhalb der Gesellschaft zu funktionieren und integriert zu sein. Diese Integration in die bürgerlichen Kreise hat jedoch nur eine oberflächliche Funktion, die sich in Einladungen zu gesellschaftlichen Anlässen, wilden Diskussionen und Besuchen von anrüchigen Bars erschöpft, sich also lediglich auf den Aspekt des Vergnügens und der Sensationen beschränkt. Innere Bindungen, Zusammenhalt, Treue und Ehrlichkeit entstehen dadurch nicht, sie werden durch die Kommunikationsregeln geradezu unmöglich gemacht: Diese [Sprechrollen als Charaktermasken] sind es, worüber sich die Teilnehmer des gesellschaftlichen Lebens definieren und voneinander abgrenzen; Identifikation mit einem anderen Menschen, die zu einer innerlichen Annäherung führen könnte, ist innerhalb dieses Kreises verunmöglicht.29

Durch die Selbstinszenierungen und -verleugnungen (als Folge der Maskerade) gelingt den gesellschaftlich erfolgreichen Personen zwar eine vermeintliche Integration in die Gemeinschaft, allerdings zum Preis der Selbstentfremdung und der inneren Vereinsamung. Es ist missverständlich, in diesen Fällen in Anlehnung an Kornfelds Essay Der beseelte und der psychologische Mensch von einem „unbeseelten“ Personal zu sprechen,30 das sich von den „beseelten“ Figuren Blanche und Feding abhebt.31 Die Erzählerkommentare, insbesondere das oben erwähnte „Was-wäre-wenn-nicht“

halbe Stunde“ seines Lebens hat (ebd., S. 505) und Joachims Reaktion, als er erfährt, dass Frau Leonhard zwei Kinder hat, denn hier „verlor er zum erstenmal die weltmännisch geglättete Form, die er sich in allen Lebenssituationen gab, und gewann ein natürliches Temperament.“ (Ebd., S. 276.) 29

Weber: Expressionismus und Neue Sachlichkeit, S. 165.

30

Vgl. etwa Pazi: Fünf Autoren, S. 242ff.

31

Ganz abgesehen davon, dass auch die beinahe durchweg positive Charakterisierung Fedings in den Rezensionen zum Roman kritischer beleuchtet werden müsste, wie z.B. an seinem Verhalten gegenüber Gisela zu bemerken ist, da er sie in einer Notsituation, in der sie ihn um Hilfe bittet, verspottet. Vgl. zur durchweg positiven Einschätzung Fedings in der Forschung z.B. Paulsen: Kornfeld, S. 359 und Haumann: Paul Kornfeld, S. 61f. Pazi bezeichnet Feding z.B. als „Sprecher des Autors, [der] nach dessen eigenen Angaben einem von ihm sehr verehrten und geschätzten Freund des Großvaters nachgebildet ist“, wofür sie jedoch keinerlei Belege nennt. (Pazi: Fünf Autoren, S. 255.)

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verweisen darauf, dass diese Figuren durchaus eine Seele besitzen, eine individuelle Identität unter stereotypen Masken, die jedoch in einem Akt der Selbstverleugnung innerhalb der Regeln der bürgerlichen Gesellschaft gewaltsam verdrängt wurde. Webers Formulierung, das „Unbeseelte“ etwas abschwächend, scheint daher in diesem Zusammenhang geeigneter, indem er die Nebenfiguren als Charaktere kennzeichnet, „die, anstatt aus einer unveränderlichen seelischen Substanz zu leben, durch Leben und Wechselwirkung mit der Umwelt eine Persönlichkeit als fait social ausbilden.“32 Oben wurde bereits angerissen, dass Weber auf Analogien zwischen Kornfelds erzählerischem Werk und dem Robert Musils aufmerksam gemacht. In der Darstellung der ‚unbeseelten‘ und ‚beseelten‘ Charaktere im Roman äußert sich ein ähnlicher Gedankenstrang zu demjenigen, den Musil in seinem Mann ohne Eigenschaften als Wirklichkeitssinn im Gegensatz zum Möglichkeitssinn bezeichnet, wodurch eine Betrachtung des Utopiediskurses bei Musil einen brauchbaren Zugang zur Charakterisierung Blanches und der sie umgebende Gesellschaft bieten kann. In seinem Essay Der beseelte und der psychologische Mensch setzt sich Kornfeld mit der Unterscheidung von Seele und Charakter und ihrer Darstellung in der Kunst auseinander. Dieser Essay wurde in der Forschung durchweg als wichtigster Bezugstext Kornfelds zu Blanche angesehen, obwohl er bereits 1918 erschien. Zumeist wird auf die gnostische Komponente des Essays hingewiesen, da Kornfeld eine scharfe Trennung zwischen dem ‚Diesseits‘ und dem ‚Jenseits‘ formuliert: „Die Erlösung des Menschen besteht in seiner Abkehr vom Diesseits und in der Rückkehr zu seiner Seele. Die Erlösung hat der Dichter zu verkünden.“33 Weber macht auf den zeitkritischen Aspekt des Essays aufmerksam, in dem „Ungeistigkeit, Geschäftssinn, Weltrelativismus und Politisierung (auch der Kunst) als Mißstände der Zeit“34 angekreidet würden. In diesem Zusammenhang findet sich im Essay jedoch auch eine Passage, die stark an Musils Konzept des Wirklichkeitssinns und des Möglichkeitssinns erinnert, indem Musil unterscheidet zwischen Menschen, die das Gegebene hinnehmen und sich innerhalb dieses Rahmens betätigen und nach diesen Regeln funktionieren, ohne sie in Frage zu stellen, und den Utopisten, die von der Determiniertheit des Menschen im Rahmen der Geschichte, der Gesellschaft, des Milieus und auch des Charakters absehen und die Fähigkeit besitzen, „alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“35 Kornfeld schreibt bereits 1918, vor Beginn von Musils Arbeit am Mann ohne Eigenschaften:

32

Weber: Expressionismus und Neue Sachlichkeit, S. 196.

33

Mühlberger: Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen, S. 257.

34

Weber: Expressionismus und Neue Sachlichkeit, S. 71. Vgl. zum zeitkritischen Aspekt

35

Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 16.

des Essays auch Haumann: Paul Kornfeld, S. 208ff.

316 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM Das einzig Wirkliche war die Wirklichkeit, Materialismus ward, bewusst oder unbewusst, zur Weltanschauung, Monismus zur Religion, und Subjektivismus und Relativismus die Mittel, um mit der Welt fertig zu werden; und der Kunst höchstes Ziel war, all dem entsprechend, Abbild der Wirklichkeit zu sein. […] Man glaubte den Menschen erschöpft, wenn man ihn auf die Kausalität seiner psychischen Vorgänge hin beobachtete hatte, und da sein höherer Teil sich selbst verleugnete, funktionierte um so mehr alles dem Tatsächlichen Zugewandte, alles, was allzu irdisch, was Charakter in ihm war.36

Hat sich Kornfeld in diesem Manifest für den Expressionismus darum bemüht, eine Ästhetik zu erstellen, indem der Mensch als ‚Nur-Beseelter‘ dargestellt wird, „befreit von den Launen eines Charakters und den Zufälligkeiten einer Individualität, unabhängig von ihrem Körper und ungestört von allem, was nicht ihres wahren Wesens ist“,37 gleichsam als entblößte Seele, und dies etwa in seinem expressionistischen Drama Himmel und Hölle 1919 auch selbst künstlerisch umgesetzt, so kann man sein Romanprojekt Blanche 15 Jahre später als Versuch erkennen, beide Sorten von dem Charakter- bzw. Wirklichkeitsmenschen und dem Seelen- bzw. Möglichkeitsmenschen darzustellen und im Scheitern beider Figurentypen im Text die Mängel der Gesellschaft aufzudecken. In dem Versuch Heinzfurths etwa, seinem Körper ein attraktiveres Äußeres zu verleihen, lässt sich der Versuch der Realisation der, um Musils Vokabular zu verwenden, ‚wirklichen Möglichkeiten‘ ablesen, jedoch zu dem Preis des Verlustes des wahrhaftigen Seins, der Seele. Blanche dagegen gibt sich in ihren Tagträumereien und am prägnantesten in ihren Briefen an den imaginären Geliebten den ‚möglichen Wirklichkeiten‘ hin, einer Utopie der Liebe, da sie im Wirklichkeitssinn der sie umgebenden Gesellschaft keinen Halt finden kann. Dadurch jedoch isoliert sie sich aus der Wirklichkeit der Gesellschaft, ihr wird ein Schicksal zuteil, das Musil formuliert: Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feinen Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung und Träumerei; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler.38

Weitere Analogien im Denken der beiden Schriftsteller finden sich in Kornfelds gnostischer Vorstellung der ‚nur-beseelten‘ Kunst39 und Musils Beschreibung des

36

Kornfeld: Der beseelte und der psychologische Mensch, S. 35f.

37

Ebd., S. 33.

38

Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 16.

39

Vgl. Kornfeld: „[B]efreit von den Launen eines Charakters und den Zufälligkeiten einer Individualität, unabhängig von ihrem Körper und ungestört von allem, was nicht ihres

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‚anderen Zustandes‘ als „wunderbare[m] Gefühl der Entgrenzung und Grenzenlosigkeit des Äußeren wie des Inneren, das der Liebe und der Mystik gemeinsam ist“.40 Der utopische Zustand, mit dem bei Musil41 wie auch in Blanche eine Todesmetaphorik verbunden ist, wird in Kornfelds Roman angestrebt, jedoch nicht erreicht. Dies liegt nicht zuletzt an Blanches Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Realität ihres Umfelds, in dem sie nicht aufgehen kann, von dessen Ansprüchen sie sich jedoch auch nicht befreien kann, weder in der Kunst noch in ihren Träumen. Der gesellschaftliche ‚Charakter‘ der Männer im Roman, der durch eine Verleugnung und Verdeckung ihres wahren Seins gekennzeichnet ist, wurde oben beschrieben. Für die Frauen der in Blanche dargestellten Gesellschaft gelten etwas andere Regeln, und sie sind es auch, die in ihrer direkten wie indirekten Charakterisierung mehr ‚Persönlichkeit‘ entwickeln. Die Emanzipation, die im Roman reichlich Diskussionsstoff bietet, hat sich zwar als Modeerscheinung durchgesetzt, man geht in Bars, die homosexuelle Frauen als Attraktion bieten, bei körperlicher Züchtigung wird Gleichberechtigung vorausgesetzt und selbständige Frauen, sowohl im beruflichen als auch im privaten Leben, sind Normalität. Gleichzeitig jedoch kommt ihnen in der Gesellschaft eine andere Rolle als den Männern zu. Von den Frauen wird keine Verstellung oder Verleugnung ihrer selbst erwartet, sondern eine Äußerung ihrer eigenen, femininen Persönlichkeit. In den gesellschaftlichen Zirkeln wird ihnen eine gleichberechtigte Rolle z.B. in den Diskussionen um die Liebe zugeschrieben, allerdings wird hierbei diese Gleichberechtigung zugleich unterlaufen, indem das alte Dualitätsschema Geist/Mann – Gefühl/Frau beibehalten und besonders die Frau nach ihrem äußeren Erscheinen beurteilt und bewertet wird.42 Es wird von den Frauen weibliche Natürlichkeit in Form von emotionalem Verhalten und körperlicher Schönheit erwartet, im Prinzip ist dies jedoch nichts als eine Inszenierung eben dieser, in der erwarteten Form nicht existierenden Natürlichkeit und dient den Männern zur

wahren Wesens ist, sind sie, die ihren Weg ungehemmt dahinstürmen, sind sie, diese Rasenden, diese Nur-Beseelten, abseits von aller Entwicklung des Unprinzipiellen, sind sie die Urmenschen und die reine Schöpfung Gottes.“ (Kornfeld: Der beseelte und der psychologische Mensch, S. 33.) 40

Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 765. Zudem lässt sich auch der Titel des Romans mystisch deuten: „Die Formel „ohne Eigenschaften“ oder auch „weiselos“ […] meint den Menschen selbst – ganz rein, als Substanz, ohne Akzidenz, also ohne Eigenschaften. Ist dieser „weiselose“ Zustand erreicht, kann die ersehnte unio mystica gelingen.“ (Hönig: Robert Musil.) In Kornfelds Terminologie entspräche dies dem Menschen, der frei von Charakter und stattdessen nur Seele ist.

41

Vgl. z.B. Gies: Musils Konzeption des ‚Sentimentalen Denkens‘, S. 219.

42

Vgl. hierzu auch die in Alice Rühle-Gerstels Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit aufgegriffene Problematik der Geschlechterdichotomie, Kapitel 5.7, Fußnote 52.

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Bestätigung der Geschlechterhierarchie. Die emotionale Komponente der Frauen erweckt in ihnen das Gefühl geistiger und argumentativer Überlegenheit sowie die Option der Beschützerfunktion, während die körperliche Komponente die Frau als Objekt erscheinen lässt. Es gibt mehrfach Beispiele im Roman, wie Frauen dieses Prinzip annehmen, wobei sowohl Mann als auch Frau gegenseitig Vorteile ziehen. Frau Leonhard etwa, die Ehefrau eines reichen Industriellen, macht sich die Fixierung auf das Körperliche zunutze; ihr perfekter Körper, in dessen Pflege sie ihre gesamte Lebenszeit investiert, zieht die attraktivsten Männer im Kreise an, die sie erobern und sich damit schmücken können, während sie, eine „Quartalssäuferin der Erotik“,43 ihre Wirkung auf Männer genießt. Blanches Freundin Carola dagegen macht sich ihren Weltüberdruss und ihre Melancholie zunutze, um sämtliche Männer (und auch Frauen) ihren Wünschen gefügig zu machen. Nach ihrem zweiten Selbstmordversuch, wobei sie, wie bereits beim ersten, sorgsam darauf bedacht war, dass er schlussendlich nicht zum Tode führen wird, sind sämtliche Charaktere des Romans (mit Ausnahme Stadels, der ihr die Aufmerksamkeit neidet) um sie besorgt, ihr Zimmer ist mit Geschenken angefüllt und sie wird von allen Seiten bemitleidet. Besonders ihr Mann Ruge opfert sich für sie auf, und doch kann auch er, so scheint es, nur als Märtyrer für seine Frau und als ihr Beschützer existieren. Dies ist umso bemerkenswerter, da der Leser davon ausgehen kann, dass sich das Ehepaar nicht mehr liebt, da sie sich vor Carolas erstem Suizidversuch in gegenseitigem Einverständnis voneinander getrennt hatten. Auch hier gibt es dementsprechend eine symbiotische Einheit, an dieser Stelle nicht auf der körperlichen Ebene, sondern auf der emotionalen; die Bedürfnisse Carolas und Ruges, komplementär egoistischer und altruistischer Natur, als umsorgte Porzellanpuppe und unablässig gebender Beschützer, werden durch Carolas Schauspiel und dessen Akzeptanz in der Gesellschaft befriedigt. Während bei Frau Leonhard der künstliche Charakter durch ihr Äußeres, durch das puppenhafte Wesen beschrieben wird (sie antwortet auch auf Fragen nach ihrem Leben immer wie eine Aufziehpuppe gleich: „Ich lese sehr viel, und der große Haushalt gibt viel Arbeit“),44 so ist das Künstliche bei Carola etwas subtiler, aber nicht weniger deutlich. Ihre Selbstinszenierung als an Weltschmerz leidende, überirdisch schöne und zarte Frau zwischen den um sie herum drapierten Köstlichkeiten, denen sie, solange sie Besuch hat, gleichgültig gegenüber scheint (sobald Blanche ihr Zimmer verlässt, stürzt sich die vorgeblich Todkranke mit Appetit auf die exotischen Leckereien), lässt sie „inmitten von Allegorien zu ruhen“45 scheinen. Dementsprechend ist Pazis Einschätzung des Verhältnisses der beiden Figuren, Frau Leonhard sei „das „unbeseelte“

43

Kornfeld: Blanche, S. 276.

44

Ebd., S. 270, 589, 618.

45

Weber: Expressionismus und Neue Sachlichkeit, S. 176.

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Spiegelbild der schönen Melancholikerin Carola“,46 nur bedingt zuzustimmen. Eine Spiegelfunktion ist insoweit gegeben als hier analoge Frauenfiguren geschildert werden, ‚beseelt‘ im Sinne von Kornfelds Der beseelte und der psychologische Mensch jedoch ist keine von beiden; selbst Carolas Mitgefühl mit den Armen und Prostituierten instrumentalisiert sie als Mittel zur Manipulation ihrer Umgebung, indem sie es als Rechtfertigung für ihren Weltschmerz und als Überlegenheitsgefühl gegenüber dem unwissenden ‚Kind‘ Blanche einsetzt. Große Ausnahmen in der Charakterisierung der jüngeren Generation des Romans stellen Blanche und ihre Freundin Gisela dar. Gisela kommt schon deshalb eine Sonderrolle zu, da sie die einzige Person im Roman ist, die ein Happy-End erfährt. Sie ist charakterisiert als emanzipierte Frau, die beruflich selbständig als Fotografin arbeitet und für die Gleichberechtigung der Frau sowohl im geistigen wie auch im körperlichen Sinne eintritt. Ihre Jugenderfahrungen, in denen sie mit ihren Freundinnen in wütendem Protest für die Rechte der Frau gekämpft hatte, haben Gisela geprägt und stellen einen wichtigen Teil ihrer nach außen getragenen Persönlichkeit dar: Was Gisela in jener Zeit getan, erfahren und erlebt hatte, ist unbekannt, sicher ist, daß sich in die empfangsbereite Seele ihres damaligen Lebensalters jene Debatten, Probleme, Konflikte und Erlebnisse eingegraben und sie mit geformt haben müssen, und daß sie, wie die Intensität bewies, mit der sie an den heutigen Disputen teilgenommen hatte, nie ganz von ihnen loskam.47

Interessant macht die Figur jedoch eine gewisse Inkonsequenz, die sie in diesem Kampf um Gleichberechtigung an den Tag legt, da sie ihrem aufbrausenden Wesen in ruhigeren Stunden, in denen nicht nur ihr Kampfgeist, sondern auch ihr Verlangen nach Liebe sich rühren, eine andere Seite ihrer Persönlichkeit entgegensetzt, indem auch sie auf Äußerlichkeiten und ihr Erscheinungsbild enormen Wert legt und ihrem Geliebten schließlich eine Erniedrigung durch körperliche Züchtigung verzeiht. Gerade diese Inkonsequenz individualisiert sie und lässt sie eben nicht nur als Typus einer kämpferischen, emanzipierten Frau erscheinen, sondern gleichzeitig auch als ein menschliches Wesen mit Bedürfnissen und sich widersprechenden Gefühlen und Wünschen. Gisela ist auch die einzige Person im Roman, der es gelingt, ihre eigenen, ihr peinlichen Probleme und ihre inneren Zweifel und Gedanken direkt zu kommunizieren, nämlich in ihrem Gespräch mit dem alternden Rechtsanwalt und als Vaterfigur auftretenden Feding. Bezeichnenderweise macht dieser sich dabei offen über sie lustig und lacht sie aus, eine für ihren darauf folgenden Nervenzusammenbruch und nicht ganz ernstzunehmenden Selbstmordversuch nicht unerhebliche weitere Erniedrigung. Diese Öffnung ihres Seelenlebens gegenüber einer anderen Person und

46

Pazi: Fünf Autoren, S. 243.

47

Kornfeld: Blanche, S. 155.

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die Reaktion darauf verweisen zum einen auf die Unsensibilität Fedings, dessen Funktion als Ratgeber und Vertrauter er hier missbraucht (selbst wenn sein Ratschlag, sie solle sich doch „zum Schein“ wieder mit ihrem Geliebten zusammentun, schlussendlich zu einer Wiedervereinigung der beiden führt), zum anderen aber auch auf die Schwierigkeit, die Maske der Selbstverleugnung und der emotionalen Kühle in der bürgerlichen Gesellschaft abzulegen. Ihre Versöhnung mit dem Freund, der sie in Folge einer Auseinandersetzung darüber, ob die Frau eine Seele habe oder nicht, wie ein kleines Kind verprügelt hat, wird im Text nicht dargestellt, doch dass sie stattgefunden hat, setzt eine Kompromissbereitschaft Giselas voraus, nicht nur das Gewesene zu verzeihen, sondern auch von ihrem Standpunkt, im Recht zu sein, zumindest in gewissen Graden abzurücken. Wird Gisela im Roman auch nicht durchweg positiv gezeichnet (so weist sie etwa gegenüber Blanches Problemen keine große Sensibilität und wenig Empathie auf und wirkt an einigen Stelle trotz ihrer Großzügigkeit auf sich selbst fixiert und egoistisch), so zeugt doch ihre Fähigkeit, sich über ihre „undiskutierten, unbedachten Voraussetzungen“48 hinwegzusetzen, von einer individuellen Person, die sich dem Maskenspiel der Gesellschaft entzieht und somit zu eigenem Glück finden kann. Eine gänzlich andere Figur ist dagegen die Hauptfigur Blanche. Sie ist nicht die einzige unglückliche und einsame Figur in Kornfelds Roman und doch ist sie die einzige, deren seelische Isolation zwangsläufig zu ihrem Tode führt und die bereits zu Beginn des Romans und in seinem gesamten Verlauf ständig von Vorboten des Todes und Vergänglichkeitsmetaphorik umgeben ist.49 Der Grund hierfür liegt darin, dass sie gemäß der gesamten Anlage der Figur nicht in der Lage ist, sich hinter einer gesellschaftlichen Maske zu verbergen und hieraus gesellschaftliche Anerkennung und Lebenskraft zu ziehen, andererseits jedoch auch ihre innersten Probleme und Wünsche nicht artikulieren kann und somit die Hoffnung auf einen Seelengefährten, wie sie sich ihn in ihren Briefen an den imaginären Geliebten ausmalt, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Sie besitzt von allen Figuren im Roman den geringsten Wirklichkeitssinn und findet in der Welt, wie sie tatsächlich um sie herum funktioniert, in der Gesellschaft mit ihren Regeln und Strukturen, in der Träume keine Berechtigung haben, sondern nur nach außen sichtbare, tatsächliche Errungenschaften und Erscheinungen, keinen Halt. Ihrem Möglichkeitssinn gibt sie sich in ihren Träumen hin, ohne jedoch daraus eine bewusste utopische Haltung zu konzipieren. Durch

48

Kornfeld: Blanche, S. 131, vgl. auch Fußnote 32.

49

Auf die ständige Anwesenheit des Todes in der Umgebung Blanches ist in der Forschung wiederholt hingewiesen worden. Vgl. z.B. Weber: Expressionismus und Neue Sachlichkeit, S. 160.

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die Unmöglichkeit, ihre ‚Seele‘ zu artikulieren, und das Unverständnis der sie umgebenden Gesellschaft erscheint sie zunehmend isoliert, während gleichzeitig ihre Fluchtorte wie das Atelier von der Wirklichkeit eingeholt und ihr entrissen werden. Die Unfähigkeit Blanches, ihre verträumte und der gesellschaftlichen Welt fremde Persönlichkeit zu verbergen, äußert sich vor allen Dingen in der Darstellung ihrer Physiognomie und in ihrem Auftreten. Das unbarmherzige Auge, das sowohl Männer wie Frauen im Roman als auch der Erzähler auf sie werfen, die Kommentare, die schonungslos ihre Makel aufdecken und gleichzeitig die Tatsache, dass Blanche sich dieser voyeuristischen und wertenden Blicke und ihrer Implikationen nur in wenigen, kurzen Augenblicken bewusst wird, zeigt einerseits ihre Verletzlichkeit in den sozialen Kreisen, in denen sie sich bewegt, und andererseits ihre Außenseiterposition in diesem gesellschaftlichen Zirkel. Blanches’ Äußeres wird bereits zu Beginn des Buches sehr genau geschildert, und wenn der Erzähler auch wohlwollend berichtet, dass sie „groß und gesund“ sei und „das Leben […] sich prächtig in ihrem Körper entwickelt“ habe,50 so wird doch umgehend festgestellt, dass sie in der Zeit, in die sie hineingeboren wurde, einen Fremdkörper darstelle, der sich für spöttische Beurteilungen eigne: Innerhalb eines Geschlechts von Menschen, die im Durchschnitt nur um wenige Zentimeter größer wären und, diesen anderen Maßen entsprechend, kräftiger gebaut, hätte man sie nicht nur wegen ihrer Zierlichkeit bewundert, sondern auch wegen der vollendeten Proportionen ihres Körpers und des vollkommenen Zusammenklangs seiner Glieder; wie die Größenverhältnisse auf der Erde nun aber einmal sind und wie der Modegeschmack dieser Jahre nun einmal war, erschien alles an ihr zu massiv, ihr Gang zu schwer, ihre Glieder ungelenk, ihre Bewegungen manchmal ein wenig unbeholfen und ungeschickt.51

Ihr Erscheinungsbild, wobei zu ihrer körperlichen Statur noch der Umstand hinzukommt, dass sie nicht viel Wert auf ihre Kleidung und ihr Make-up legt, sondern sich häufig überhastet und gedankenlos ausgehfertig macht, sorgt für bissige Bemerkungen sowohl unter Fremden als auch innerhalb Blanches engerem Bekanntenkreis. So unterhalten sich zwei Menschen, die Blanche nur einmal gesehen und sonst keine Verbindung zu ihr haben, Angestellte in dem Industriekonzern, der benachbart neben Blanches Atelier in einer Villa seinen Sitz hat, nachdem sie Blanche fortgehen sehen:

50

Kornfeld: Blanche, S. 12.

51

Ebd.

322 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM Er [Der Prokurist] kam ihrer Kritik zuvor und sagte: „Eigentlich hat sie einen Körper wie eine Kuhmagd!“ Die Sekretärin rümpfte ihr Näschen und rief schnippisch: „Wie eine Kuhmagd? Eher wie eine Kuh!“52

Die Schadenfreude und Boshaftigkeit, mit der Blanches’ unmodische Körperlichkeit von der Gesellschaft wahrgenommen wird, äußert sich am deutlichsten in der Bar ‚La Princesse‘, in der Blanche mit Heinzfurth, der ebenfalls groß und kräftig ist, wild tanzt. Von den sie umgebenden Menschen werden sie offen und höhnisch ausgelacht, ohne dies jedoch selbst zu merken; Heinzfurth zieht es aufgrund seiner Selbstüberschätzung nicht in Betracht, dass die Tanzenden ein lächerliches Paar darstellen könnten, und Blanche ist zu sehr in dem Moment des Tanzes gefangen, um auf die Reaktionen um sie herum zu achten. Auch Blanches’ engste Freunde halten ihre Kritik über Blanches Erscheinung und Auftreten nicht zurück. Gisela schämt sich wiederholt für Blanches’ Auftreten, wobei sie vor allen Dingen die Unachtsamkeit und Indifferenz gegenüber dem Körperlichen angreift. Als Blanche sie während eines gesellschaftlichen Beisammenseins im Hause Riediger bittet, sie in ihr Zimmer zu begleiten, um mehr über den Selbstmordversuch Carolas zu erfahren, fährt Gisela sie an: Weißt du, wie du aussiehst? Wie ein riesiger Pudel, auf den es geregnet hat! Es ist ja zum – ! […] Also komm! Zieh dich an! Und frisier dich auch! Übrigens, schmink dich besser! Oder schmier wenigstens die alte Schminke weg! Du hast dich ja bemalt, wie ein Kind seine gekritzelten Figuren koloriert! Es ist ja – !53

Das unterschiedliche Verhältnis, das Gisela und Blanche jeweils zu ihrem Körper und der Repräsentation ihres Äußeren haben, wird in zwei Szenen deutlich, die analog gelesen werden können. Beide Figuren werden, an unterschiedlichen Stellen des Romans, minutiös beim Aus- und Umkleiden beschrieben. Während Gisela pragmatisch vorgeht, konzentriert auf ihre Aufgabe, mit der Sicherheit einer Frau, die weiß, wie sie sich fehlerlos schminkt ohne geschminkt auszusehen, ist Blanche zerstreut und nicht bei der Sache, die ihr zwar als wichtig erscheint, da ihre Mutter, ihre Freunde und die Gesellschaft von ihr erwarten, dass sie hübsch aussieht, aber nicht einem eigenen Empfinden und Wollen entspringt. Abgelenkt von inneren Regungen schweifen ihre Gedanken immer wieder in Reflexionen über die Liebe und ihre Phantasien ab. Jeweils ein Beispiel soll hier genügen, um den Unterschied deutlich zu

52

Ebd., S. 15.

53

Ebd., S. 118.

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machen. Die Analogie der Szenen bietet bereits die Ausgangskonstellation, die halbnackte Frau, die das Kleid noch nicht übergestreift hat, vor dem Spiegel, und doch bietet sich dem Leser hier jeweils ein ganz anderes Bild: [Gisela:] Sie ging daran, sich anzuziehen, öffnete im Schlafzimmer alle Kästen und Schränke und zog die Laden und Fächer hervor, so weit es ging. Nachdem sie Strümpfe und die Wäsche angezogen hatte, strichen ihre Hände zuerst von den Knöcheln aufwärts über die Beine, dann aber genießerisch über den ganzen Körper, dem nach dem harten Bad der weiche, sanfte Stoff wohl tun mochte. Ihr fehlte nur noch das Kleid. Sie setzte sich vor den Toilettentisch, frisierte sich, massierte ein wenig ihre Nägel und zog den Schminkstift über die Lippen, doch mit so vorsichtiger Genauigkeit sich innerhalb der Grenzen des natürlichen Rots haltend und mit nur so leichtem Druck, daß ein ungeübtes Auge die Nachhilfe gar nicht bemerkt hätte. Schließlich hob sie ihr Gesicht an den Spiegel heran, um ihren Teint zu studieren, doch die frisch gerötete Haut war fehlerlos.54 [Blanche:] Nun ging sie daran, ihre Nägel in Ordnung zu bringen, doch sie erstarrte für einige Sekunden, die eine Hand schon mit gekrümmten Fingern sich zugekehrt, in der anderen die Feile, und blieb regungslos mit leerem Blick. – Der großen Liebe wahrhaft würdig ist nur der Tod. Des Todes wahrhaft würdig ist nur die große Liebe. So geht es, so schließt sich’s. Es dreht sich ein Mühlrad im Nebel. Ach, man soll nicht denken. Ach, was ist das Leben! […] Blanche saß noch immer, und die Zeit verflog. Endlich ging sie doch daran, sich ganz anzuziehen. Sie hatte nur noch das Kleid überzustreifen. Je mehr Zeit sie versäumte und verträumte, desto hastiger warf sie sich dann in die Arbeit, desto mehr hetzte sie sich selbst, desto schneller folgen ihre Hände, um die Dinge zu ergreifen und wieder beiseitezuwerfen.55

Ebenso wenig wie das ‚Funktionieren‘ Blanches innerhalb des gesellschaftlichen Zirkels ihrer Freunde und Familie im Rahmen des rein äußerlichen Erscheinungsbildes, also in Betreff auf Physiognomie, Mode, Körperpflege und Make-Up, gelingt, tut es dies in ihrem Kommunikationsverhalten bei feierlichen Anlässen. Die meiste Zeit sitzt Blanche schweigend in der Runde, beteiligt sich nicht an den lauten Streitgesprächen, die häufig von Stadel und Gisela entfacht werden und die Blanches Vater und gleichzeitig Gastgeber Riediger versucht, zusätzlich anzuheizen, und wird von den Anwesenden kaum wahrgenommen. Sie scheint vor sich hinzuträumen, obwohl in diesen Situationen dem Leser meist nicht mitgeteilt wird, was in ihr vorgeht, da der Fokus auf den lauter sich zur Kenntnis bringenden Personen liegt. Wenn Blanche angesprochen wird, antwortet sie häufig kurz angebunden, wie aus Gedanken aufgeschreckt und teilweise etwas unhöflich, ein Umstand, den Blanches Mutter beklagt

54

Ebd., S. 441f.

55

Ebd., S. 122f.

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und der Gisela dazu veranlasst, Blanche vorzuwerfen, sie würde mit ihrer Stimmung Giselas Party verderben. In einem Gespräch mit dem Offizier Passow, der Blanche laienhaft über ihre Malerei ausfragt, wird zudem deutlich, dass Blanche auch über die Dinge, die ihr am Herzen liegen, nicht sprechen will, gleichsam als würde die Erörterung ihrer Träume mit einem Unwissenden diese zerstören. Auf wiederholte und begeisterte Nachfragen Passows, der in der Gesellschaft ebenso fehl am Platze scheint wie Blanche selbst, reagiert sie mit unverhohlener Arroganz: „Sie murmelte undeutlich einige Worte und wandte sich, sobald es anging, nach der anderen Seite. Er sah dem sich wegdrehenden Kopf ein wenig traurig nach wie einem Menschen, der einen verlässt, und blieb ganz allein.“56 Blanches Wünsche und Träume werden auch dem Leser nicht in seiner Gänze offenbar. In den Reflexionen Blanches, vor allem deutlich in den Briefen an den imaginären Geliebten und ihren Gedankengängen im Gartenhaus, öffnet sich nur ein unvollständiges Seelenbild, der Erzähler schaltet sich allzu häufig aus der Innenperspektive der Figur aus, wobei er illustriert, dass Blanches Tagträumereien nicht kommunizierbar sind, da sie diese selbst in einer Sphäre am stärksten empfindet, die sich zwischen bewusstem und unbewusstem Empfinden bewegt und jenseits der Möglichkeiten von Kommunikation verläuft: Sie legte sich auf die Seite und stützte den Kopf in die Hand. So blieb sie, mit jenem entspannten und leeren Gesicht, das der Mensch zeigt, wenn er nicht denkt und sich in seinem Innern nicht orientiert, sondern in passiver Hingegebenheit sich seine Gedanken, Vorstellungen, Träumen überliefert, sie, Welle auf Welle, in sich aufsteigen und sich von ihnen überströmen läßt.57

Auch die Liebesbriefe, die sie in der Einsamkeit schreibt, lassen keine Charakterisierung von Blanches Seelenleben zu. Nicht zufällig benötigt Blanche immer mehrere Anläufe, die von konventionellen Briefanfängen oder übermäßigem Pathos gekennzeichnet sind,58 bis sie zu einer Briefform findet. Und selbst dann sind ihre Briefe stark gezeichnet von der gesellschaftlichen Konvention sexueller Beziehungen; beschwörende Liebesbeteuerungen, Komplimente, Erinnerungen an die gemeinsam verbrachte Nacht, Blumenmeere, die der Verehrer schickt, der Mann als sensibler, aber ‚großer, starker‘ Kerl und ‚Bär‘. Nur an wenigen Stellen dringt das Seelenleben Blanches als individuelles Empfinden durch. Anhand dieser Briefe äußert sich ein

56

Ebd., S. 78.

57

Ebd., S. 37.

58

So z.B. „Zuerst will ich Dir erzählen, wie ich den heutigen Tag verbracht habe. Im Augenblick sitze ich vor meinem Sekretär.“ oder „Aber wie gerne bliebe ich hier! Was bin ich dort zwischen den Menschen! Nur die Einsamkeit, nur die Gedanken an –“ (Ebd., S. 40.)

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ähnlicher Sachverhalt, den Weber in Bezug auf Blanches Malerei, insbesondere auf ihr letztes Bild, das sich von den Malereiversuchen in verschiedenen Stilrichtungen, die Blanche zuvor unternommen hatte, unterscheidet, formuliert und was er in Anlehnung an Walter Benjamin als „Form eines zusammengesetzten Bewusstseins“ bezeichnet:59 Blanches Bilder enthielten keine individuellen Nuancen, der Mann im Bild bleibe gesichtslos, und auch in der Art der Darstellung äußere sich kein subjektives, künstlerisches Empfinden. Vielmehr greife Blanche auf kollektive Vorstellungen und in den Konventionen geläufige Motive und Topoi zurück, wodurch die Darstellung des Inneren misslingen müsse, was sich auf die Problematik der Figur Blanche übertragen lasse: Die Differenz zwischen der Darstellungsabsicht, die von seelischen Antrieben ausgeht, und den tatsächlichen zur Darstellung gelangten Bildelementen spiegelt den Zwiespalt zwischen Lebenspraxis und den Sehnsüchten, die Blanche als Mangel und Unausgefülltheit empfindet.60

Das „Öffne Dich!“, dass sich Blanche selbst in den Briefen zuruft, wird weder in diesen noch in ihrer Malerei vollständig umgesetzt, da Blanche sich lediglich in ihren Träumereien ihrem Seelenleben überlassen kann, nicht jedoch in der künstlerischen Umsetzung, die ein Medium der Artikulation benötigt. In diesen Fällen ist sie zurückgeworfen auf die determinierten Stilformen und Motive, die kollektiv rezipiert werden können, dadurch aber das individuelle Empfinden in den Hintergrund verdrängen. Dass die Kommunikationslosigkeit, die Blanches Inneres kennzeichnet, sich dementsprechend nicht nur in ihrem künstlerischen Monolog, sondern auch in Gesprächen noch potenziert äußern muss, ist daher nicht verwunderlich; ein Beispiel eines solchen Dialogs Blanches mit Müller-Erfurt über Träume und Sehnsüchte gibt Aufschluss darüber, dass die Utopie der Liebe nicht umsetzbar ist. Denn das Problem ist nicht nur die Unfähigkeit der sie umgebenden Gesellschaft, Blanche zu verstehen, sondern auch ihre Ohnmacht, ihr wahres Selbst überhaupt zu kommunizieren und sich damit bewusst über die gesellschaftlichen Schranken hinwegzusetzen. In diesem

59

Weber: Expressionismus und Neue Sachlichkeit, S. 169. Damit wird hier jedoch nicht Webers Auffassung geteilt, der Blanches Briefe im Gegensatz zu ihrer Malerei als „besondere Wahrhaftigkeit“ auszeichnet, indem Kornfeld dieser Art von Kunst einen höheren Wert als der mimetischen Abbildung einräume. (Vgl. ebd., S. 172.) Tatsächlich sind die Briefe von ungleich höherer Bedeutung für Blanche, so gibt sie am Ende des Romans ausdrücklich den Befehl, sie zu verbrennen, und trägt sie ständig mit sich herum. Dennoch äußert sich im Schreibstil Blanches doch ein ähnliches Problem der Darstellung des individuellen Empfindens gelöst von gesellschaftlichen Konventionen, wie dies in ihren Bildern zutage tritt.

60

Weber: Expressionismus und Neue Sachlichkeit, S. 170.

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Gespräch verleugnen sowohl Blanche als auch Müller-Erfurt ihre Träume von der großen Liebe. Während Müller-Erfurt damit prahlt, Träume seien Kindereien und er habe sich seine Träume bereits erfüllt,61 versteckt Blanche sich hinter ihrer Rolle als Malerin, die lediglich im Bereiche der Kunst zum Zwecke der Produktivität Phantasien besitze, ansonsten aber ein rationaler Mensch sei.62 Den Grund für diese Unaufrichtigkeiten und das Verstecken des Innersten bietet Müller-Erfurt kurz darauf indirekt, indem er die Wirkungen der Träume verteufelt: Und dabei habe ich bisher nur von dem Schaden gesprochen, den solche Menschen sich selbst zufügen, und ich habe noch nicht […] das Moralische erwähnt, denn das ist es, was ich an diesen Träumereien so hasse, was so quälend sein muß: das verzweifelt Unfruchtbare, dieser Mangel an Kontakt mit der Welt, dieses, daß einer sich ganz auf sich stellt, sein Glück aus sich selbst herausholt, statt es von der Welt zu empfangen und ihr zurückzugeben, dieses extrem Egoistische. Ja, manchmal scheint es mir etwas Verbrecherisches zu haben.63

Dass Müller-Erfurt diesen Ausspruch nicht ernst meinen kann, geht aus seinen Reflektionen über die Liebe und seiner narzisstischen Phantasie, er könne mit seinem Wortwitz sich sämtliche Frauen gefügig machen und sich zum Heros der Liebe aufwerfen, hervor. Aus seiner Äußerung spricht zum einen das Bedauern, eben kein Glück aus sich selbst schöpfen zu können, vielmehr aber noch die Angst vor einer Exklusion aus dem Kollektiv durch das Leben und Formulieren der Träume. In einer Gesellschaft, in welcher der Wirklichkeitssinn und die Produktivität den einzig respektierten Lebenswandel darstellen, sind die Träume verpönt, wie Blanche anschließt: „Der Erwachsene träumt nicht, er handelt, er ist, er will, er bezweckt etwas, er muß sein Leben formen, ihm einen wirklichen Erfolg geben, und da darf er nicht träumen.“64 Blanche, und Müller-Erfurt ohnehin, sind trotz ihrer Außenseiterstellung und ihres Seelenlebens in bedeutendem Maße von der sie umgebenden Welt abhängig. Um das in Kornfelds Essay Der beseelte und der psychologische Mensch verwendete Vokabular aufzugreifen, sind ihre ‚Seelen‘ zu sehr von ihrem ‚Charakter‘ verdeckt, von der Rolle, die sie innerhalb der Gesellschaft spielen oder zu spielen

61

„Vor zwanzig Jahren vielleicht […] hätte ich von ihr geträumt. Aber heute –? Mein Gott, das Leben hat uns die Wirklichkeit und die Erfüllung gebracht, die große Liebe, die kleine Liebe, die mittlere Liebe, man hat geliebt, man wurde geliebt, man hatte all die Affären und Abenteuer, man ist sozusagen gesättigt, der Traum aber lebt doch vom Hunger.“ (Kornfeld: Blanche, S. 501.)

62

„Meine Phantasie geht ganz in meiner Malerei auf, und für private Träumereien bleibt

63

Ebd., S. 504.

64

Ebd., S. 505.

nichts übrig. […] Was sollte auch […] das unfruchtbare Phantasieren.“ (Ebd., S. 502f.)

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meinen. Das Eingeständnis ihrer Seele und die Kommunikation ihres Innersten würden in einem Ausschluss aus der an Konventionen und Verhaltensregeln so reichen Gesellschaft gipfeln. Für Blanche bedeutet diese Situation eine ausweglose Lage. In ihrem Verhalten und Auftreten innerhalb der Gesellschaft wird ihre Außenseiterrolle doppelt deutlich: Zum einen wird sie von den sie umgebenden Personen als außenstehend wahrgenommen, man macht sich über sie lustig oder ärgert sich über sie; zum anderen wird deutlich, dass Blanche sich selbst in ihrer Sonderrolle erkennt, indem sie sich nicht mit der Gesellschaft identifizieren kann, dort unglücklich ist und keinen Halt erlangt. Ihre Fluchtorte jedoch, sowohl der reale, das Gartenhaus, als auch der imaginäre in ihrer Phantasie sind zu sehr durchdrungen von den Gepflogenheiten und Ritualen der Gesellschaft als dass sie einen Ausweg bieten könnten. Das Gartenhaus wird von der Realität der tatsächlichen Welt eingeholt und Blanche muss mit ansehen, wie es vor ihren Augen an Heinzfurth verscherbelt wird, der aus ihm ein Liebesnest machen möchte. Die Phantasiewelt Blanches dagegen kann keinen Halt bieten, da sie kein Ventil findet. Der Wunsch nach der großen Liebe, die Utopie Blanches, kann nicht verwirklicht werden, weil eine Kommunikation ihres Innenlebens an eine zweite Person durch gesellschaftliche Barrieren, die das Eingestehen eines verletzlichen Seelenlebens nicht erlauben, nicht stattfinden kann. Gleichzeitig scheitert eine Artikulation der Träume in einem künstlerischen Monolog daran, dass Blanche zu sehr in kollektiven Dimensionen gefangen, von überkommenen Stilrichtungen, Motiven und Topoi durchdrungen und nicht Künstlerin genug ist, um aus sich selbst heraus dem subjektiven Empfinden entweder durch Sprache oder durch Malerei Ausdruck zu verleihen.

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5.7 ALICE R ÜHLE -G ERSTEL : D ER U MBRUCH ODER H ANNA UND DIE F REIHEIT Alice Rühle-Gerstels Roman „Der Umbruch oder Hanna und Freiheit“ ist ein Exilroman, allerdings ein besonderer, spezifisch deutschböhmischer. Die Protagonistin, in Prag aufgewachsen, kehrt nach 17-jähriger Abwesenheit aus dem nationalsozialistischen Deutschland ins Exil in ihre Heimat zurück. Dort gelingt es ihr nicht, sich wieder vollständig zu integrieren; die verschiedenen Identifikationsangebote der kommunistischen Partei, der alten Freunde und der Familie, des topographischen Heimatraums, der neuen Arbeitsstelle, des Flüchtlingsheims u.a. können für Hanna keine materielle oder ideologische Heimat bieten, sie bleibt überall eine Außenseiterin. Nur auf den ersten Blick scheinen ihre Identitätsproblematiken sich jedoch lediglich aus der Exilsituation zu ergeben, vielmehr ist die vielschichtige Persönlichkeit Hannas, die kein starres Identitätskonstrukt und somit keine bedingungslose Zugehörigkeit ermöglicht, in ihrer Sozialisation in Prag angelegt. Erst eine Loslösung von der Utopie einer essentialistischen Identität und Heimat am Ende des Romans ermöglicht die ‚Freiheit‘ Hannas, die im Titel anklingt. Der Roman Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit, entstanden im mexikanischen Exil in der Mitte der 1930er Jahre, ist der einzige abgeschlossene Roman von Alice Rühle-Gerstel und erschien erst sehr spät postum 1984.1 Zu Lebzeiten trat Alice Rühle-Gerstel vorrangig als Publizistin und Essayistin hervor,2 ihre literarischen Texte sind bis auf den Roman und eine Gedichtsammlung entweder verschollen oder befinden sich unveröffentlicht im Nachlass.3 Dies ist wohl auch der Hauptgrund, warum Alice Rühle-Gerstel in den Literaturgeschichten und Anthologien zur ‚Prager

1

Einen guten Überblick über die wichtigsten biographischen Eckdaten zur Autorin und die Rezeptions- und Publikationsgeschichte des Romans, den Alice Rühle-Gerstel 1939 vergeblich bei einem Exilliteratur-Preisausschreiben der American Guild for German Cultural Freedom (bei dem auch Ernst Weiß sein Manuskript für Der Augenzeuge einsendete) eingeschickt hatte, bietet das Vorwort der Erstausgabe. Vgl. Herbst/Klemm: Vorwort.

2

Die Werke, welche die größte Resonanz erfuhren, waren Der Weg zum Wir. Versuch einer Verbindung von Marxismus und Individualphilosophie sowie Das Frauenproblem der Gegenwart. Eine psychologische Bilanz, die sich jeweils mit zeitgenössischen Themenkomplexen um Marxismus, Psychologie, Frauenbewegung und Klassenkampf auseinandersetzen und in der Weimarer Republik entstanden sind und veröffentlicht wurden.

3

Vgl. Rohlf: Exil als Praxis, S. 86ff.

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deutschen Literatur‘ nicht erwähnt wird, obwohl die Herausgeber teilweise händeringend nach Prager Autorinnen suchen.4 Der Roman wurde von der Forschung bislang als Exilroman definiert und unter diesem Gesichtspunkt betrachtet. Dies ist zweifellos grundsätzlich richtig, da er im Exil geschrieben wurde und ebenso Exilerfahrungen der Protagonistin behandelt. Die Tatsache jedoch, dass sowohl Autorin wie auch Protagonistin des Romans mit ihrer ersten Exilstation in die Heimatstadt Prag zurückkehren und hierdurch Grenzen zwischen Heimat und Exil verschwimmen, verleiht dem Roman seine Charakteristik, die sich mit der Zuschreibung ‚Exilroman‘ nicht vollständig greifen lässt, sondern erst aus seiner Spezifik als deutschböhmischer bzw. Prager Exilroman heraus verständlich wird. In der Forschung ist immer wieder auf den zentralen und nicht zu überlesenden Punkt des Romans, die Zerrissenheit der Heldin, aufmerksam gemacht worden. Und doch gibt es gerade in der Behandlung der Frage, an welcher Stelle der Lebensgeschichte der Protagonistin die Identitätsproblematik auftaucht und virulent wird, eine gewisse Unsicherheit in den Darstellungen. So schreibt Sabine Rohlf etwa zu Beginn ihrer ausführlichen, textnahen und beobachtungsreichen Darstellung mit Bezug auf die erzählte Zeit des Romans, das Exil: „Die Sicherheiten der Heldin, die identitätsstiftenden Elemente ihrer Weltsicht und Selbstwahrnehmung wie ihre lebenspraktischen Existenzgrundlagen geraten in Bewegung und werden in ihrer Brüchigkeit und Inkonsistenz sichtbar.“5 Diese Aussage impliziert, dass Hanna Aschbach zu einer Zeit, die vor der Romanhandlung liegt, zumindest in Teilen eine konstante und ‚sichere‘ Identität besitzt, die sie für sich selbst und innerhalb der Welt verortet. Dies wird auch von Rohlf selbst bald in Frage gestellt, indem konstatiert wird, dass die Heldin „von Anfang an mit einer Reihe von Fragen, Unsicherheiten und Widersprüchen zu kämpfen hat“6 und kulminiert schließlich ausgehend von der Schilderung von Hannas heterogener Persönlichkeit, die in der Figur und ihrer Biographie, unabhängig von der folgenden Exilwahrnehmung, bereits angelegt ist, gegen Ende der Betrachtung in dem Schluss: „Der Roman schickt eine Frau ins Exil, die ohnehin nie ganz zuhause war.“7 In Bezug auf die Vokabeln „aber“, „zugleich“, „weder noch“ und „auch“, die, wie Rohlf herausarbeitet, für die Charakterisierung der Protagonistin von Anfang an immer wieder verwendet werden, lässt sich kaum eine Sicherheit der Heldin im Hinblick auf ihre Identität und Selbstwahrnehmung vor dem Exil ausmachen, die entscheidend durch ihre Auseinandersetzungen mit der eigenen Person im Exil schwinden würde. Auch Sonja Hilzinger widerspricht sich auf ähnliche Weise in ihrer Analyse des Romans, wenn sie zunächst von der Zeit Hannas im Exil

4

Vgl. z.B. Sudhoff/Schardt: Einleitung, S. 43. Vgl. hierzu auch Punkt 2.3.2.

5

Rohlf: Exil als Praxis, S. 88.

6

Rohlf: Exil als Praxis, S. 92.

7

Ebd., S. 137.

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schreibt, dass „nach dem Verlust aller Gewissheit nichts als Leere, Einsamkeit und Zweifel, der auch vor der eigenen Identität nicht haltmacht“,8 bleibe, unmittelbar darauf jedoch von der „Uneindeutigkeit“ als „Hannas Lebensproblem von Anfang an“ spricht und diesbezüglich auf ihre Herkunft aus Prag, ihre Bikulturalität und Zweisprachigkeit aufmerksam macht.9 Diese Widersprüche in der Forschung liegen darin begründet, dass der Großteil der Sekundärliteratur als Analyse mit dem Schwerpunkt auf den Exil-Charakter des Romans angelegt ist, die das Erlebnis des Exils zum Ausgangspunkt der Identitätsproblematik stilisiert. So stellt Hilzinger Hannas Erfahrungen im Exil, ihr ‚Ins Leere fallen‘, in unmittelbare Analogie zu anderen Exiltexten, indem dies „eine charakteristische, in der Literatur der Emigranten wieder und wieder gestaltete Zeiterfahrung“10 sei. Das Untypische an dem Roman sei dagegen seine schonungslose und biographisch verhaftete Auseinandersetzung mit dem Stalinismus. Jedoch wird eine ausschließliche Analyse unter diesem Aspekt der Komplexität des Romans nicht in seiner Gänze gerecht, woraus sich die Unstimmigkeiten ergeben. Die Probleme der Protagonistin, ihre Identitätssuche, Heimatlosigkeit und scheiternden Modelle der Zugehörigkeit finden zwar im Exilerlebnis ihren Kristallisationspunkt, sind aber bereits vorher vorhanden und in der Biographie der Figur von Anfang an angelegt, was in den vielen Rückblenden des Romans deutlich wird und von der Forschung ja auch bemerkt wurde. Die vielschichte Identität Hannas kann aufgedeckt werden, indem der Roman nicht primär als Exilroman gedeutet, sondern er von seiner Genese als deutschböhmischer Roman der Zwischenkriegszeit aus verstanden wird,11 da die verschiedenen Konstrukte von Identität, die von der Protagonistin errichtet werden und schließlich scheitern müssen, ihren Ausgang in der Sozialisation Hannas in Prag nehmen. Bevor nun im Detail auf die Lebenserfahrungen der Protagonistin vor dem Exil, die ihre spezifischen Probleme antizipieren, die nicht viel mit den Schicksalen der

8

Hilzinger: „Ins Leere fallen“, S. 45.

9

Vgl. ebd.

10

Ebd., S. 44.

11

Bereits Rohlf macht darauf aufmerksam, dass „[e]in allein mit Exil begründeter Diskurswechsel […] jedoch spekulativ [bleibt], da die Autorin bereits in der Weimarer Zeit Romane verfasste“, auch wenn diese verschollen seien. (Rohlf: Exil als Praxis, S. 91.) Sie begründet hiermit ihren Ansatz, der sich neben der Exilthematik auf die Geschlechterproblematik in Verbindung mit der antistalinistischen Tendenz des Textes bezieht, um dadurch herauszuarbeiten, „wie der Roman die Heimatkonstruktionen und Sinnstiftungsstrategien seiner Heldin verabschiedet“ (ebd., S. 92). Hierbei bezieht sie sich jedoch primär auf die Erfahrungen der Autorin und ihre essayistischen Publikationen in der Weimarer Republik, wobei eine mögliche Verbindung zur deutschböhmischen Literatur der Zeit unberücksichtigt bleibt.

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anderen Emigranten gemeinsam haben, eingegangen wird, sollen zwei Textstellen beleuchtet werden, die aufdecken, inwiefern Hanna auch als unzuverlässig in der Beschreibung ihrer Selbstwahrnehmung der Vergangenheit gelten kann. Gerade durch diese Unzuverlässigkeit leistet sie Interpretationen dahingehend, dass ihre Zweifel und ihre Zerrissenheit erst mit der Rückkehr nach Prag ins Exil begonnen haben, Vorschub. In ihrem zweiten Winter in Prag, zur Zeit der Entfremdung von ihrem Geliebten Anatol und einer Phase der Depression und des Gefühls der Einsamkeit, rekapituliert Hanna den Ausflug, den sie im Sommer mit Anatol unternommen hatte, folgendermaßen: „Das war auch so ein glücklicher Tag damals, im Wald bei Štěchowitz. Da sieht man. Wenn’s einem gut geht, nimmt so ein Tag gar kein Ende, und man ist immerfort froh, daß man lebt.“12 Die Tatsache, dass dieser Tag mit einem Zerwürfnis endete, wird an dieser Stelle nicht thematisiert. Dies folgt erst einige Seiten später, indem Hannas aus der Retrospektive verklärte Wahrnehmung der Vergangenheit vom Erzähler aufgedeckt wird und mit der irrigen Wahrnehmung der Selbstgewissheit und Eindeutigkeit von Hannas Zeit in Deutschland in Verbindung gebracht wird, die in Wirklichkeit getrübt war von der nationalen und sozialen Herkunft Hannas und der daraus resultierenden Isolation: Wie schön und beglückend war die Parteiarbeit in Deutschland gewesen, die Zellensitzungen, die Delegationen, die Kleinarbeit unter den Genossen, die wirklich Proletarier waren. Wie schön war Deutschland gewesen! Sie vergaß, daß sie auch in Deutschland nie heimisch geworden war, weder national noch sozial heimisch. Gerade die Arbeiter waren von instinktivem Misstrauen gegen die Ausländerin erfüllt gewesen, entgegen ihrem bewussten Internationalismus. Und die intellektuelle Frau, die nicht einmal mit den Genossinnen über Säuglingsernährung sprechen konnte, weil sie selbst keine Kinder hatte, war nie ganz für voll genommen worden. Aber Hanna vergaß es, wie sie die ganze zweite, verregnete, zerstörte Hälfte jenes Herbstausfluges mit Anatol vergessen hatte – ihre Erinnerung suchte unbewusst nach Stützen, die ihr die klägliche, graue, wankende Gegenwart irgendwie fest und bestrahlt machen sollte.13

Diese Stellen machen nicht nur darauf aufmerksam, dass den Gedanken und Gefühlen der Protagonistin über ihre Vergangenheit nicht in vollem Ausmaß zu trauen ist,

12

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 202.

13

Ebd., S. 207. Eine ganz ähnliche Passage findet sich auch später im Roman noch einmal: „Hanna dachte an Halle. Das war eine sonnige Stadt gewesen! Aber sie traute ihren Erinnerungsbildern nicht mehr. Vieles, was ihr jetzt so schön und klar schien, war nur durch das sehnsüchtige Gedenken seiner Schatten entkleidet worden, ahnte sie. Wer, wie Hanna Last [dies ist der Name ihres Mannes Karl, den sie nach der Hochzeit angenommen hat], voll Misstrauen und Verlangen lebt, hat viele Schatten in der Erinnerung, die Sonne kommt selten hervor.“ (Ebd., S. 249.)

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da diese immer subjektiv verändert und zumeist verklärt dargestellt werden, sondern sie zeigen auch die besondere Verwobenheit des Erzählduktus’ auf, indem die Perspektive von Hanna und dem Erzähler häufig ohne Übergang wechseln. Die Figur, die sich selbst ständig reflektiert, wird wiederum vom Erzähler reflektiert, ihre Selbstwahrnehmung dementsprechend kontinuierlich in Frage gestellt. Bereits hierin, und nicht nur in ihrer expliziten Thematisierung, äußert sich die Problematik der Identitätssuche Hannas und muss bei der Betrachtung der Schilderung des Exils ebenso beachtet werden wie bei den zahlreichen Analepsen, die als Basis für Hannas spezifische Exilerlebnisse gelesen werden müssen. Ein prägnantes Beispiel für die Unzuverlässigkeit der von Hanna erinnerten Kindheit ist ihre Darstellung des Verhältnisses zu ihrem erfolgreichen und kapitalistischen Bruder, indem Hanna ihre Deutung von Heinrichs snobistischem Verhalten gegen Ende des Romans revidieren muss, da sie erst hier von seinen Motiven und Gefühlen erfährt, als er ihr eröffnet, dass er sich ihr und ihrer Intelligenz gegenüber immer unterlegen gefühlt und darunter stark gelitten hatte. Die hochnäsige und herablassende Haltung des Bruders, seine Geldgier und sein Opportunismus erscheinen nun plötzlich in völlig anderem Licht: Plötzlich verstand sie, daß der Bruder, vielleicht sogar bewusster als sie, seit je darauf hingelebt hatte, ihr zu imponieren; genauso war’s bei ihm wie bei ihr, beide waren sie aufeinander bezogen, in all ihrem Handeln und Tun. Das viele Geld, das er aufhäufte, die Aufsichtsratstellungen, das nicaraguanische Konsulat, das Diplomatenabzeichen am eleganten Chrysler – das alles sollte sagen: sieh her, Schwester, dazu hat’s dein dummer Bruder gebracht! Sonderbar ist das: Geschwister – dachte sie. Daß man doch nie die Kindheit los wird.14

In den Beschreibungen von Hannas Kindheit wird die Problematik einer klaren Definition der Zugehörigkeit sehr stark evident. In den drei bedeutendsten Aufsätzen über Der Umbruch, von Sonja Hilzinger, Christina Thurner und Sabine Rohlf, wird der Aspekt der Sozialisation in einem binationalen Elternhaus hervorgehoben, die Erinnerung Hannas an die Sprachenproblematik und die scheiternde Integration der Eltern in die gesellschaftlichen Zirkel der Stadt Prag wird im Roman bereits sehr früh evoziert: Schon der Umstand, daß ein Prager Deutscher eine Tschechin zur Frau hatte, war außergewöhnlich und brachte es mit sich, daß die Aschbachs weder in der deutschen noch in der tschechischen Gesellschaft rechten Anschluß fanden und daß es so gut wie kein geselliges Leben im Hause gab.15

14

Ebd., S. 339.

15

Ebd., S. 41.

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Für die Kinder bedeutete dies, dass sie sich in der Schule wie Außenseiter fühlten und keine Freunde hatten. Die Erfahrungen in der Kindheit schärften aber gleichzeitig auch Hannas Abneigung gegen nationalistische Strömungen und begünstigten somit auch ihre Affinität zum Kommunismus und dem damit verbundenen Internationalismus. Als sie 1908 im Rahmen des Jubiläums der 60jährigen Regierungszeit Kaiser Franz Josephs I. erlebt, wie auf den Prager Straßen Barrikaden errichtet werden und die Jungtschechen gegen die Deutschen revoltieren, werden ihr zum ersten Mal ihre kämpferische Seite und ihr Bestreben, gegen bestehendes Unrecht zu handeln, bewusst, gleichzeitig jedoch auch ihre Unfähigkeit, sich auf eine nationale Seite zu begeben. Sie spürt, „daß sie dabei sein möchte, mitschießen, mitschlagen, aber auf welcher Seite denn? Ihr Vater war Deutscher, ihre Mutter war Tschechin, sie gehörte nicht hierhin, nicht dorthin.“16 Eine entscheidende Stellung bei Hannas Problemen der Selbstfindung und Zugehörigkeit nimmt der Begriff der Heimat ein, mit ihm eng verbunden sind die Stadt Prag und die Landschaft Böhmens. Als Hanna das erste Mal nach ihrer langen Abwesenheit als Exilierte wieder durch Böhmen fährt, kommt ihr das Land fremd vor, doch sie schiebt das Gefühl der Heimatlosigkeit mit Bezug auf den internationalen Kommunismus, der das Bedürfnis nach Verwurzelung überwunden hat, von sich: „Hat sie gemeint, daß die Heimat Freudenfeuer anzünden würde für die verlorene Tochter? Was heißt überhaupt Heimat für eine Kommunistin, es ist nicht mehr 1908, es ist nicht mehr Sprachenstreit, sie weiß jetzt, auf welcher Seite sie steht, […] überall

16

Ebd., S. 48. Im Roman bezieht sich die Zwischenstellung Hannas in ihrer Kindheit lediglich auf den nationalen Konflikt, religiöse Zugehörigkeiten werden nicht ausdrücklich verhandelt. Während Thurner, wahrscheinlich in Anlehnung an Rühle-Gerstels Biographie, über Hanna angibt, sie wachse „in ihrer jüdischen Familie in katholischer Umgebung auf“ (Thurner: Diskurswechsel und Utopie, S. 98), thematisiert Rohlf die implizit mögliche, aber im Roman explizit vollkommen ausgesparte Frage der Religionszugehörigkeit differenzierter. Sie gibt an, dass „die mehrfach betonte, an die Mutter gebundene und schwer greifbare Fremdheit auch an die Möglichkeit einer jüdischen Herkunft denken“ ließe (Rohlf: Exil als Praxis, S. 116), sie hebt aber auch hervor, dass am Ende des Romans eine jüdische Herkunft Hannas ausdrücklich verneint wird (vgl. ebd., S. 137). Diese Verneinung ist tatsächlich vorhanden, erscheint bei genauerem Hinsehen allerdings nicht ganz so explizit, denn es ist nur eine Feststellung, die von dem österreichischen jungen Sozialisten, den Hanna bei ihrer zweiten Flucht an der Grenze trifft, getroffen wird: „Eine Jüdin ist’s nicht, dachte er. Wird’s eine Unsrige sein? „Politisch?“ wagte er sich vor. Hanna lächelte. Ja, politisch.“ (Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 352.) An dieser Stelle wird eine jüdische Herkunft Hannas nicht eindeutig negiert, sondern die Frage nach der religiösen Zugehörigkeit wird hauptsächlich im Vergleich mit der politischen hintangestellt, was der Grundthematik des Romans entspricht.

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ist revolutionärer Boden“.17 An dieser Stelle wird wieder die Unzuverlässigkeit der Selbstdarstellung Hannas deutlich, die hier, wie häufig in unsicheren Situationen, das Marx-Zitat zur Selbstbestätigung ihres politischen Standpunkts und in gewissem Sinne als Selbstzensur verwendet, da ihre Gefühle im Gegensatz zur kommunistischen Doktrin stehen. Der ständige Bezug auf den Begriff der Heimat im Roman im Wechselspiel mit Hannas Gemütslage macht deutlich, wie bedeutsam Heimat und Herkunft tatsächlich für Hanna sind, auch wenn sie dies selbst in bestimmten Gesprächen über ihre Ideologie, die gleichzeitig Versuche der Selbstvergewisserung sind, abstreitet. Je mehr zuvor identitäts- und identifikationsstiftende Bereiche (z.B. der Ehemann Karl und die kommunistische Partei), die vorgeblich Momente der Ruhe, Beständigkeit und Sicherheit zu sein scheinen, wegbrechen oder sich wandeln, desto wichtiger wird das Auffinden einer konkreten oder abstrakten Heimat, denn „„Heimat“ stillt, was nicht stillzustellen ist, den Prozeß „Identität“.“18 Mit dem Begriff Heimat werden im Verlaufe des Romans verschiedene Orte, Menschen und Ideologien versehen, wobei die Möglichkeit der Zugehörigkeit, der Ruhe und des Daheimseins jeweils nach längeren Reflexionen negiert wird. Aus diesem Grund kann Sabine Rohlfs Auffassung, Hanna stelle „die Möglichkeit einer Heimat, sei es in Deutschland oder der tschechischen Republik, sei es in einem Sprachraum oder einem politischen „Wir“ massiv in Frage“19 nicht ganz geteilt werden. Der Roman stellt das Modell der Heimat zwar schließlich in Frage, Hanna findet jedoch zu dieser Sichtweise erst am Ende des Textes. Denn ihrer Heimatsuche, die sich durch den gesamten Roman und durch verschiedenste mögliche Kommunikationsräume zieht, ist doch der unerschütterliche Glaube an die Bedeutung und die Möglichkeit des Modells der Heimat inhärent, auch wenn sich alle Integrationsangebote letztendlich als Konstrukt erweisen. Anhand der verschiedenen Bereiche, mit welchen Hanna die Leerstelle des Begriffs ‚Heimat‘ zu füllen versucht, lässt sich die grundlegende Thematik der Identitätsproblematik Hannas aufzeigen;20 es sind dies die topographischen Komponenten

17

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 49.

18

Aspetsberger: Unmaßgebliche Anmerkungen, S. 53.

19

Rohlf: Exil als Praxis, S. 99.

20

Die Thematisierung der Heimat, der Heimatlosigkeit und des Heimatverlustes in Verbindung mit Identitätsproblematiken, Orientierungslosigkeit und Entfremdung ist ein typischer Topos der Exilliteratur. Vgl. hierzu z.B. Améry: „[M]ein, unser Heimweh war Selbstentfremdung. Die Vergangenheit war urplötzlich verschüttet, und man wusste nicht mehr, wer man war.“ und „Hat man […] keine Heimat, verfällt man der Ordnungslosigkeit, Verstörung, Zerfahrenheit.“ (Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 89 und S. 96.) Ein interessanter Unterschied jedoch zwischen Der Umbruch und anderen Exilromanen, der in der besonderen Sozialisation Hannas in Prag seinen Ursprung hat, ist die

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Deutschland, Böhmen und Prag, zwischenmenschliche Bezugspersonen wie ihr Mann Karl, der Bruder und der Geliebte Anatol, soziale kollektive Erfahrungsbereiche wie das Treiben in der Redaktion der ‚Svoboda‘ und das Flüchtlingsheim und schließlich ideologische Zugehörigkeiten, allen voran die Partei, der Kommunismus und der Klassenkampf.21 Böhmen als Landschaft wird mit dem Gefühl der Heimat verbunden, es evoziert Kindheitserinnerungen und ein gewisses Einssein mit der Natur, das jedoch nicht rational begründet, sondern mit den Sinneseindrücken wahrgenommen wird und in der Beschreibung diffus bleibt. Böhmen agiert in seiner Naturhaftigkeit, Uneindeutigkeit und seinem Geheimnisvollen als Gegenpol zu Deutschland, dem klare und geordnete, zivilisierte und technische Attribute verliehen werden und das jedoch in seiner Eindeutigkeit das Fremde, das Hanna in Deutschland verkörpert, exkludiert. Der Antagonismus zwischen Deutschland und Böhmen wird in den ersten zwei Kapiteln, in denen die Flucht Hannas aus Deutschland in den böhmischen Wald geschildert wird, deutlich. Der Autobus, mit dem sich Hanna in Deutschland der Grenze nähert, ist „so perfekt, so sauber, so gut in Funktion, man spürte kaum, wenn der Fahrer an den steil aufsteigenden Kurven die dritte Geschwindigkeit einschaltete.“22 Eindeutig ist der Kontrast, wenn Hanna jenseits der deutsch-böhmischen Grenze in einen anderen Bus steigt: „Mit einer Hand hielt [der Chauffeur] das Volant, mit der andern die Tür, deren Schloß nicht funktionierte. Wenn er sie ab und zu losließ, um die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, flog die Tür krachend auf und hing lächerlich-hilflos nach dem

Tatsache, dass ausgerechnet Sprache, die laut Joachim Stark bei Schriftstellern, Intellektuellen und Kosmopoliten im Exil am häufigsten die Assoziation mit Heimat hervorruft (vgl. Stark: Überlegungen zum Heimatbegriff, S. 11), für Hanna keine entscheidende Rolle spielt. Kommunikationsprobleme oder Identitätsproblematiken aufgrund ihrer Zweisprachigkeit werden nicht thematisiert, obwohl davon ausgegangen werden kann, dass Hanna vor ihrer Rückkehr nach Prag über zehn Jahre lang kein tschechisch mehr gesprochen hat. Im wahrsten Sinne des Wortes ist tschechisch dennoch Hannas Muttersprache. 21

Diese Bereiche decken die nach Bastian vorhandenen räumlichen und sozialen Kategorien des Heimat-Begriffes ab und können sich gegenseitig ablösen bzw. ergänzen: „Neben Familie, Verwandtschaft, Freunde und Nachbarn treten im Laufe des Sozialisationsprozesses Institutionen wie Kindergarten, Schule, Arbeitsplatz, Vereine, Verbände, Gewerkschaften, Parteien. Aus all diesen Beziehungen, die dem Individuum potentiell zur Verfügung stehen, kann sich, bedingt durch das Bewusstsein von Zusammengehörigkeit, Heimatgefühl entwickeln.“ (Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 42.)

22

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 25.

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Wald zu“.23 Doch dem wackligen Bus in Böhmen werden mehr Sympathien entgegengebracht als dem komfortablen Gegenpart in Deutschland. Dies lässt sich zunächst deutlich mit der politischen Unterdrückung begründen, indem im vollgepackten deutschen Bus Sonntagsausflügler mit dem Hitlergruß grüßen und auf die Juden schimpfen und Hanna nicht unterscheiden kann, wer dies ernst meint und wer nur aus Furcht daran teilnimmt, während im böhmischen Bus lediglich zwei alte Frauen sitzen, die ein Kruzifix schlagen. Doch der innere Vorzug des ‚unzivilisierten‘ Böhmens vor dem hochtechnisierten Deutschland hat nicht nur politische Gründe, da Hanna bereits vor 1933 das exkludierende Moment des Landes, das sie zwar liebt, zu dem sie aber innerlich nicht gehört, spürt: Deutschland, Deutschland, siebzehn Jahre, und immer eine Fremde geblieben […]. Wie viele Fremde, die in Deutschland leben, liebte Hanna dieses unzugängliche Land, in dem sie nicht hatte heimisch werden können; liebte das ungestüme und dabei bedächtige Temperament der Menschen, ihre Zuverlässigkeit, in allen Dingen des Alltagslebens und der Arbeit, diese kluge Verringerung des Reibungsverlusts… alles lief so wohlgeölt wie die Fenster in dem langen weißen Autobus vorhin.24

Der Kontrast zwischen Deutschland und Böhmen auf der Ebene des klaren, rationalen und des uneindeutigen, gefühlsmäßigen mit dem Vorzug des Letzteren, wird in der Beschreibung der Erde offenbar. In der Betrachtung der Landschaft assoziiert Hanna mit Deutschland unmittelbar das Wort der Scholle „(ein Wort so neudeutsch, man möchte es gar nicht denken, aber zu diesem Braun kommt kein anderes in den Sinn)“,25 eine Begrifflichkeit also, die zum einen konnotiert ist mit bebautem, kultiviertem Boden und zum anderen mit Besitztum. In Böhmen jedoch ist es die Muttererde, die Hanna im Geruch, in der Farbe und im Gefühl mit dem böhmischen Wald in den Sinn kommen und die sie versucht ist, zu küssen, wobei die böhmische Erde,

23

Ebd., S. 43.

24

Ebd., S. 35f.

25

Ebd. 34f. Der Verweis auf die Scholle, den Bauer auch als paradigmatisch für die Darstellung der Heimat in ‚sudetendeutscher‘ Dichtung behandelt (vgl. Bauer: Das Bild der Heimat, S. 42ff.), greift ein gänzlich anderes Heimatverständnis auf als jenes, das Hanna im Roman besitzt, da es auf die nationalsozialistische Heimatkunstbewegung und die Blut-und-Boden-Literatur verweist, denn „[d]as Element des Bodens, der Topos „Scholle“ spielt auch in die zweite entscheidende Konstellation des Heimatkunst-Programms hinein: Heimat = Liebe zu Landschaft, Volkstum, Stamm“. (Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 193.) Die Landschaft Deutschlands wird assoziiert mit dem nationalen Heimattopos überhaupt und schließt somit eine Exklusion all derjenigen aus, die nicht an diesem Heimatverständnis teilhaben dürfen.

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indem sie neben der vergangenen Kindheit Hannas an den Geruch von Hannas Mann erinnert, auch sexuell konnotiert ist: „Hanna neigte sich über den grünen Waldboden und fühlte sich hingegeben. Karls Mund war es und zugleich der Wald.“26 Das klare, kultivierte Deutschland muss hinter dem natürlichen, geheimnisvollen, aber gefühlsmäßig und visuell, haptisch und olfaktorisch erfassbaren Böhmen zurückstehen.27 Am Boden Deutschlands, der als Scholle eine Kultur und einen Besitz anzeigt, konnte Hanna, die trotz erworbener deutscher Staatsbürgerschaft dort immer eine Fremde geblieben war, nie teilhaben,28 ganz im Gegensatz zum böhmischen Boden, der in seiner Natürlichkeit und Unbezähmbarkeit als Heimaterde die Zurückgekehrte willkommen heißt. Die Zugehörigkeit zu dieser Heimaterde entsteht zu einem nicht geringen Teil auch aus der Kindheitserinnerung, die an diese Landschaft geknüpft wird, denn Hanna kommt nicht nur durch die Grenzüberschreitung in die Heimat, „sondern in einem viel eindringlicheren, viel intimeren Sinne noch: in diesen paar Quadratkilometern […] war ein großer, ein bedeutsamer Teil ihrer Kindheit abgelaufen.“29 Das

26

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 39.

27

Die Sinne als Erfassungsmedien von Heimat sind auch für Améry von Bedeutung: „Noch öffnet uns, was wir Heimat nennen, den Zugang zu einer Realität, die für uns in der Wahrnehmung durch die Sinne besteht.“ (Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 110f.)

28

Der Aspekt des Landbesitzes wird auch in der Heimatkunstbewegung als bedeutsam für das Gefühl der Heimat angesehen. So schreibt Julius Langbehn, einer der Vorläufer dieser Gattung: „Eine wahre Heimath hat der Mensch erst, wenn er Grundbesitz und insbesondere Landbesitz hat.“ (Langbehn: Rembrandt als Erzieher, S. 137.) Rossbacher beschreibt am Beispiel des Heimatromans, wie schwierig sich die Integration für einen Menschen ohne Landbesitz darstellt: „Wer nicht selbst Boden besitzt, muß sich […] in der Wertidentifikation hervortun oder sich in die Ganzheit des Sozialmodells hineindienen.“ (Rossbacher: Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 188.)

29

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 39. In der Referenz auf die Kindheitserinnerungen wird deutlich, inwiefern Hannafrühere Erlebnisse aus der Retrospektive verklärt, indem die Kindheitserfahrungen mit Heimat gleichgesetzt werden. Ernst Bloch schreibt in seinem Werk Das Prinzip Hoffnung an einer vielzitierten Stelle über die Heimat, sie sei „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“. (Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 1628.) Blickle analysiert dies schlüssig als Aussage darüber, dass Heimat nicht einfach mit Kindheit gleichgesetzt werden darf: „Heimat shines into childhood. But to do so it has to exist outside of it. Heimat is not childhood itself. It is that which is seen to lie in childhood from an adult point of view.” (Blickle: Heimat, S. 131.) Die Verbindung des böhmischen Waldes mit der Kindheit, die aus der Retrospektive als Heimat stilisiert wird, antizipiert bereits die Problematik im Text, die entsteht, sobald Hanna realisiert, dass das Versprechen der Heimat, welches die Region zu vermitteln scheint, nicht eingehalten werden kann.

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Stiftersche Ideal des Heimatgefühls, „[w]o die Verbundenheit von Mensch und Natur, die Aussöhnung von Mensch und Mitmensch gelingt“30 und das der unhinterfragten, natürlichen Zugehörigkeit wird allerdings bald gebrochen, indem Hanna aus der Einsamkeit der Natur in die böhmische Zivilisation einer Zeit eintritt, in der Misstrauen und politische Verfolgung auch die heimkehrende Kommunistin erwarten. Hanna wird bei ihrer ersten Begegnung mit Menschen in Böhmen die Problematik ihrer Situation bewusst; die formale Aufgabe der tschechischen Heimat durch die Erlangung des deutschen Passes nach der Hochzeit mit dem deutschen Ehemann Karl macht sie nun zur Außenseiterin. Direkt nach dem Zusammentreffen mit einem tschechischen Leierkastenmann und einem Polizisten wird Hanna die (Un)Möglichkeit des Modells Böhmens als Heimat bewusst: „[H]atte jener ihr, vor Minuten noch, ein Gefühl des Zuhauseseins und wehmütiger Geborgenheit zugespielt, dieser brachte ihr schneidend zum Bewusstsein, daß sie hier in der Heimat – wie in der Heimat drüben! – eine unwillkommene Fremde war.“31 Während auf der Symbolebene der Erde, des Busses, auch der Farben der Natur etc. eine starke Divergenz zwischen Böhmen und Deutschland errichtet wird, die Deutschland als Fremde und Böhmen als Heimat stilisiert, so wird diese Dichotomie in der Begegnung mit der politischen Realität wieder nivelliert. Auch Böhmen kann die Leerstelle der Heimat nicht füllen, Böhmen wie Deutschland ähneln sich aufgrund ihrer gemeinsamen Exklusion der Heimatsuchenden. In diesem Sinne befindet sich Hanna in einer Zwischenstellung zwischen der Heimkehrerin, die aus der Fremde in die Heimat der Kindheit zurückkehrt und der Exilantin, für die zumindest die gesamte europäische Region (so besteht Russland zu diesem frühen Zeitpunkt der Handlung noch als Utopie der Heimat) einen fremden, dem Asylsuchenden feindlich gesinnten Raum darstellt. Das Paradoxon der divergierenden und zugleich verschmelzenden Räume Böhmen und Deutschland geschieht durch die illegale Grenzverletzung bei Hannas Flucht, ein Moment, das für Romane transregionaler Thematik oder, wie Ottmar Ette formuliert, in Literatur ohne festen Wohnsitz, keine Ausnahme darstellt, denn „Grenzverletzung unterläuft und verfestigt zugleich vorhandene Grenzziehungen, so daß eine komplexe Dialektik der

30

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 185. Auch für Stifter ist es im Besonderen der Böhmerwald (wenn bei Stifter auch zumeist eine Region im südlichen Teil Böhmens beschrieben wird, schließlich stammt er aus der Nähe des „Platzes, an welchem die Moldau ihren Lauf nach Morgen abbricht, und ihn nach Mitternacht wendet“ (Stifter: Witiko, S. 57.), also fast 250 km südlich von dem bei Rühle-Gerstels beschriebenen Teil des böhmischen Waldes), bei dem in seinen Werken häufig die Assoziationskette Bäume-Wald-Natur-Heimat entsteht.

31

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 42.

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Raumkonstruktion durch häufig wiederholte […] Bewegungsmuster in Gang gesetzt wird.“32 Während Böhmen somit den Gegenpol zu Deutschland einnimmt und in dieser Funktion Attribute der Heimat annimmt, die jedoch auch wieder negiert werden, erscheint Prag als Stadt, frei von Vergleichs- und Kontrastmomenten, geeigneter, die Leerstelle der Heimat zu füllen. An ihrem Lieblingsplatz im Café Slavia, von dem aus sie die Moldau und den jenseits sich erhebenden Hradschin beobachten kann, stellt sich bei Hanna ein genuines Heimatgefühl ein: „Hier hätte ich immer sitzen und schauen sollen, hier ist zuhause, hier ist Ruhe, und die Ohren klangen ihr voll langvergessener geheimer Melodie.“33 Diese und andere Stellen, in denen Hanna die Stadt Prag betrachtet, sind der gesellschaftlichen Wirklichkeit enthoben, indem die Stadt Prag als utopisches Bild, immer verbunden mit Fluss und Burg, fungiert, das Hanna mit ihren Sehnsüchten und Erinnerungen anfüllt. Prag erscheint hier als historische Topographie, die in der Unveränderlichkeit ihres Äußeren einerseits als Konstante in einer sich ständig verändernden Welt erscheint, andererseits stark personalisiert nicht nur als Heimatort, sondern auch als agierendes Geschöpf Wärme, Zugehörigkeit und Einverständnis vermittelt. Der Blick auf den Hradschin wird zumeist aus der gleichen Perspektive der Protagonistin wahrgenommen, nämlich durch das Fenster des Cafés. Wertheimer hat auf die Funktion des Fensters in der Literatur aufmerksam gemacht, die auch auf Der Umbruch angewendet werden kann.34 Zum einen fungiert das Fenster „als Ort einer symbolischen räumlichen wie zeitlichen Grenzüberschreitung. Ein Ort, der die Blockaden zu lösen scheint, die die gemeinhin voneinander getrennten Welten separieren.“35 Im Kaffeehaus, das ebenfalls einen ‚Zwischenraum‘ darstellt, kann das Bild des Hradschin eine Welt eröffnen, die Hannas Vergangenheit und Gegenwart harmonisch eint. Bezeichnend ist, dass Hanna kein einziges Mal im Roman den Hradschin besteigt, es ist das Bild aus der Ferne und der doppelten Distanz durch das Fenster, das die Heimatgefühle in ihr hervorruft, nicht die Burg selbst. Wertheimer macht jedoch auch auf das Illusorische der Fensterblicke aufmerksam: „Doch häufig erweist sich das Versprechen der Fenster als trügerisch, die Wärme als Täuschung, die Heimeligkeit als Ent-Täuschung.“36 Auch Hanna verspürt zunehmend das Trughafte ihres verklärten Blickes auf die Stadt. Mit zunehmender Isolation in der Stadt wird auch Hannas Gewissheit über ihre Zugehörigkeit zu Prag in Frage gestellt, indem die Realität in das Traumbild der Stadt einbricht. Die euphorische Hingabe an Prag als Zuhause wird dementsprechend bald zurückgenommen: „Im

32

Ette: ZwischenWeltenSchreiben, S. 24.

33

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 108.

34

Vgl. auch Byroum-Wand: Alice Rühle-Gerstels Exilroman, S. 40.

35

Wertheimer: Augenblicke durch Fenster, S. 403.

36

Ebd., S. 404.

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feuchten Abenddunst sah sie unten den Fluß und die Stadt liegen. Fremde Stadt? Heimatstadt? Auch hier war es schwer, Ja oder Nein zu sagen.“37 Der Anker, den Hanna in das Bild Prags, vor allen Dingen des Hradschins hineinprojiziert, erweist sich als eine Täuschung, denn die Burg bleibt ein untätiges Monument, das für die Bedrohungen der Emigrantin weder Antworten noch tatkräftige Unterstützung bereithält. Als Hannas Aufenthaltsgenehmigung abläuft und sie die Dokumente für ein weiteres Gesuch in den Händen hält, wird ihr die Realitätsferne des Heimatsymbols bewusst: „Damit war sie zwei Blocks weiter ins Café „Slavia“ gegangen und hatte vom Fenster aus auf den Hradschin hinausgeschaut, der im Herbstnebel lag, über dem roten Weinlaub der Schloßstiege. Aber auch von dort her war keine Hilfe gekommen. Von nirgendwo kam Hilfe.“38 Die Zugehörigkeit zu einem Bild reicht in der Wirklichkeit nicht aus und Hanna wird bewusst, dass das unveränderte Bild der Stadt Prag eine Illusion ist, phantastisch etwas vorgebend, das weder greifbar noch real ist. Prag fungiert hier nicht mehr als Heimat, sondern als gleichzeitig viel weniger und viel mehr, indem die Stadt als Sinnbild der Ungreifbarkeit des Seins und zugleich als Spiegelbild von Hannas Selbst erscheint.39 An dieser Stelle wird Hannas unmittelbare Verbindung zu Prag als ihrer Herkunft und als Dreh- und Angelpunkt ihres gesamten Wesens deutlich: In einem Gespinst von Phantasmen ging man einher, der Boden trug nicht, den man trat, die Gegenwart war nicht die Gegenwart, war nur ein Spinnwebvorhang zwischen Vorher und Nachher, hier galten die Spielregeln nicht, die anderswo das Tun und Treiben der Menschen beherrschten, sie war in ein Spielfeld der Verschworenen getreten, gespenstisch sie selbst in ihrer Doppeltheit von Tschechisch und Deutsch, fremd und zu Hause, Bürgermädchen aus dem zweiten Stadtbezirk Prags und militante Kommunistin aus dem zweiten Zellenbezirk der Partei, gemischt aus vielerlei Geistern, die ihr unseliges Leben bedrängten, wo sie auch schritt und stand … und dahinter der lagernde Berg Hradschin, der diese gespenstische Welt abschloß, so daß man nicht wusste: hätte man nie über ihn hinausverlangen oder hätte man nie über ihn zurückgelangen sollen?40

Eng mit Prag verbunden ist Hannas Familie, welche die Stadt auch nach 1918 nicht verlassen hatte. Unmittelbar nach ihrer Ankunft sind Hannas erste Anlaufpunkte und Orientierungsversuche in Prag mit ihren engsten Verwandten verbunden. Intuitiv

37

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 154.

38

Ebd., S. 226.

39

Auf die Spiegelfunktion des Hradschin als eines der Symbole im Roman, die, „[a]nalog zum melodischen Motiv […] über die wörtliche Sprache hinaus[weisen]“ macht bereits Thurner aufmerksam. (Vgl. Thurner: Diskurswechsel und Utopie, S. 104.)

40

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 276.

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macht sie sich auf den Weg zu ihrem Elternhaus, doch der altvertraute Ort kann sie nicht mehr aufnehmen: Mitten im Gewühl der Ausflügler steht Hanna um elf Uhr nachts auf der Straße und geht nach Hause. Das Elternhaus ist nur ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt […] Als sie vor dem Gitter steht, fällt ihr erst ein, daß hier keiner mehr wohnt. Die Eltern sind tot […]. Hier wohnt niemand mehr. Wo wohnt jemand?41

Die Adresse des Bruders kennt Hanna zwar, der Weg zu ihm gestaltet sich dennoch nicht einfach, da Hanna zum einen mit einer veränderten Stadt konfrontiert wird und zum anderen mit Stadtteilen, die sie zuvor nie betreten hatte. Bezeichnend ist an der Suche des Hauses des Bruders, dass Hanna völlig orientierungslos ist, aber selbst nicht bestimmen kann, ob dies einer äußeren Veränderung geschuldet ist oder der Tatsache, dass sie einen neuen Blickwinkel einzunehmen gezwungen ist. So kommt ihr z.B. die Prager Burg von Dejvice aus gesehen fremd vor, denn „[i]hr Bild vom Hradschin stammt von einem andern Blickpunkt“.42 Als sie schließlich das Haus ihres Bruders findet, wird sie zunächst vom Diener schroff abgewiesen. Nach längerem Warten wird sie von ihrem Bruder dann zwar freundlich begrüßt, jedoch stößt sie bei ihm auf vollkommenes Unverständnis über ihre Situation und auf eine ihr fremde Welt des unbeschwerten Luxus, weshalb sie feststellen muss: „Nein, auch hier war keine Heimat.“43 Das Verhältnis zum Bruder erweist sich auch im weiteren Verlauf als gespalten, der Kontakt bleibt auf der oberflächlichen Ebene, indem Hanna zwar einmal in der Woche zum Essen geladen wird, hierbei jedoch Gespräche, die Hannas unmittelbare Probleme und Zweifel betreffen, weder von ihr noch von ihrem Bruder begonnen werden, da gegenseitiges Missverstehen vorausgesetzt wird. Der Konflikt gipfelt in der Verleugnung Hannas durch ihren Bruder, der seine gesellschaftliche Stellung gefährdet sieht. Am Ende des Romans findet, wie oben bereits angesprochen, eine zu späte Aussprache statt, in der deutlich wird, wie sehr voreingenommene und doktrinäre Unterstellungen Hanna daran hindern, enge Bindungen aufzubauen und eine Art Heimat, die nur in Kompromissen möglich scheint, zu finden. Der Bruder lebt ein Leben, das Hanna gerade aus dem Grunde verdammt, weil es ihr nicht

41

Ebd., S. 51.

42

Ebd., S. 57. Auch Rohlf macht auf diese Stelle aufmerksam, die Hannas Orientierungslosigkeit in ihrer Heimatstadt illustriert. Bezeichnend ist auch, dass Hanna vergeblich versucht, sich einen Stadtplan zu kaufen, ein „signifikantes Merkmal der Fremdheit und typisches Accessoire der Reisenden“. (Rohlf: Exil als Praxis, S. 96.)

43

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 62.

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fremd ist, denn ihre Herkunft aus der privilegierten Bürgerschicht ist bei ihrer Parteiarbeit in Deutschland der Antrieb gewesen, umso mehr und härter für das Proletariat und den Klassenkampf zu arbeiten. In Hannas Unerbittlichkeit ihrem Bruder und auch sich selbst gegenüber zeigt sich ihr Wille, Dinge rational zu betrachten und zu ordnen, worin sich die Sehnsucht manifestiert, mithilfe einer klaren Ideologie einen eindeutigen Weg zu beschreiten. In ihrem Ehemann Karl, der aufgrund politischer Verfolgung in Deutschland inhaftiert ist, hatte Hanna einen festen Punkt, der durch seine Ruhe und Sicherheit Hannas emotionale und leidenschaftliche Seite beruhigen konnte. Karl wird in Rückblenden und Erinnerungen Hannas als ein Mann dargestellt, der keinen Zweifeln unterliegt, das Richtige im richtigen Moment zu tun und zu sagen weiß und mithilfe einer festen, unbeirrbaren Persönlichkeit als Anker dient. Dabei muss jedoch beachtet werden, dass Karl lediglich aus Hannas Retrospektive charakterisiert wird, welche, wie oben bereits dargestellt, häufig ein verklärtes Bild der Vergangenheit aufzeigt, das der Realität nur bedingt entspricht. Konflikte in der Beziehung, die aus Karls Unverständnis über die Dinge, die Hanna liebt, ohne rational erklären zu können, warum, resultieren, sind demnach nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sogar wahrscheinlich.44 Der Geliebte Anatol ist ein Gegenpol zu Karl, beide verkörpern jedoch Seiten von Hannas Selbst, die sie in ihrer Widersprüchlichkeit nicht zu vereinen vermag. In ihrem Verhältnis zu Anatol, dem Chef der Zeitschrift ‚Svoboda‘, in der Hanna Arbeit findet, erfährt Hanna eine gänzlich andere Liebe, die von Leidenschaft und heftigen Gefühlsausbrüchen gekennzeichnet ist, wie sie sie in ihrer Ehe mit Karl nie erlebt hatte. Bereits der Liebesakt ist grundverschieden. Mit Karl hatte sie nur ganz selten, und dann jeweils in Verbindung mit der gemeinsamen Parteiarbeit, eine leidenschaftliche Nacht verbracht,

44

So kann er Hannas Festhalten an dem Bruder nicht nachvollziehen und rät ihr, sich von ihrer bürgerlichen Familie loszusagen und nennt ihren Bruder einen „herzlosen Snob“ (vgl. ebd., S. 113.). Auch Hannas Liebe zur Musik kann Karl nicht verstehen und äußert ihr gegenüber geradezu eine „Musikfeindschaft“ (vgl. ebd., S. 175): „Musik – das war der einzige Punkt, über den sie sich mit Karl nie hatte verständigen können. Hanna wollte die Musik vor jeder rationalen Deutung bewahrt wissen, Karl analysierte, wie alles andere, so auch ihre Götter: Bach, Beethoven, Mahler, von soziologisch-historischem Standpunkt aus. Hanna empfand das wie einen Raubzug in heiliges Land. Musik, das war für sie Versinken, sich Auflösen, Untertauchen, Gefahr, Krankheit, Wollust. Sie konnte es nicht so benennen, aber Karl spürte es und sagte, halb zärtlich, halb bitter: „Du schwelgst ja…““ (Ebd., S. 126.)

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[a]ber die andern, vielen, hunderte, tausende Male mit Karl, war es eher wie eine fleischliche Bestätigung ihrer geistigen Brüderlichkeit gewesen, Vertrauensbeweis und herzliche, menschliche Teilnahme, die das widerspenstige Fleisch zwingt, daß es die Antwort nicht versagt. Mit Anatol aber […] hatte es sie völlig hingerissen, Augen und Haut, und tief drinnen das Glühende, Langheranschwellende, das sich nicht in einen einzigen spärlichen Funken entlud, sondern in großem, ständigem Brausen weiter dumpf lärmte durch den ganzen Körper, bis es dann langsam auslief und verebbte in ruhigen tiefen Atemzügen.45

Anatol trägt viele Züge, mit denen sich Hanna identifizieren kann, worin zugleich ihre Zuneigung zu ihm als auch der Konflikt, den Hanna heraufbeschwört, begründet liegt. Anatol verkörpert gleichsam Hannas künstlerisch-ästhetische Seite, wobei auch Gemeinsamkeiten in der Biographie zu einem Einverständnis beitragen, da Anatol halb Tscheche, halb Ungar ist: „Hanna erzählt, daß auch sie aus einer sprachlich gemischten Ehe stammt, und sie sind beide der Meinung, daß man da anders ist als die andern, und sie lachen ein bißchen, weil es kindisch ist für so erwachsene Menschen, sich anders zu finden als die andern.“46 Mit Anatol kann Hanna eine Facette ihrer Identität ausleben, die sie im Zusammenleben mit ihrem Mann Karl unterdrücken musste: ihre Liebe zu Musik, Literatur und Sprache. In langen Reflexionen über die Kunst kommen Anatol und Hanna sich näher, sobald jedoch die Diskussion sich politischen Feldern nähert, kommt es wieder zu einer Entfremdung der beiden. Zu Beginn der Beziehung ist die liberale politische Ausrichtung Anatols, die in Widerspruch steht zur kommunistischen Hannas, noch von marginaler Bedeutung, indem Anatol andere Bedürfnisse Hannas befriedigen kann, die sie anhand einer Art Seelenverwandtschaft festmacht, die jenseits von verbaler Kommunikation und politischer Anschauung liegt: Hanna wurde klar, daß ihr an dem Mann nicht das wichtig war, was er sagte. Damit war sie oft nicht einverstanden, ärgerte sich darüber, focht streitbar mit ihm. Und wenn sie auch einverstanden war, so nicht so sehr, weil er ihr Neues gesagt hätte, vielmehr, weil es eine Bestätigung schien, daß dort hinten, im unbekannten Hinterland hinter den Augen, weite Felder lagen, auf denen es aussah, wie bei ihr: Stoppeln vom Vorjahr, Unkraut und prachtvoll blühende Blumen. Was er ungesagt ließ, was hinter seinen Augen, wenn sie weit und vage wurden, sich ereignete, was sie ahnte und spürte, das war das Wichtige. Worte sind nichtig, Worte trügen, wir haben nur Deckworte.47

45

Ebd., S. 179.

46

Ebd., S. 139.

47

Ebd., S. 160f.

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Dieses vorausgesetzte tiefe Verständnis bleibt in der Beschreibung ebenso diffus und rational nicht greifbar wie Hannas Liebe zur Musik und ihre Naturverbundenheit zum böhmischen Wald, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat.48 Diese Bereiche werden von Hanna nicht gedanklich erfasst, sondern sind Sinneseindrücke, die Gefühle vermitteln, aber nicht verbal kommunizierbar sind. Dass sich die Annahme, Worte seien nichtig, jedoch für Hanna, die sich als gebildeter Mensch mit Worten und Sprache ständig auseinandersetzt und auch in ihrer Tätigkeit als Redakteurin Artikel über die semantische Verwendung von Wörtern schreibt,49 letztendlich als trügerisch erweist, offenbart sich sehr schnell, indem Hanna unglücklich ist, dass Anatol ihr nur mitteilt, dass er sie hochschätze, nicht aber, dass er sie liebt.50 Sich widerstreitende Charakterzüge Hannas werden hierin deutlich: das Sinnliche, Nonverbale, nur mit dem Gefühl erfassende Selbst, das sich auch in der Wahrnehmung der böhmischen Natur, der Musik und des Prager Bildes des Hradschins äußert und das andere, rationale Selbst, das auf Wissenschaft, Sprache und Politik gegründet ist und versucht, Irrationales und Uneindeutiges auszuschließen.51

48

In der Analyse der ersten Wiederbegegnung Hannas mit dem böhmischen Wald macht Rohlf darauf aufmerksam, dass „die Grenze zwischen erotischen Erinnerungen und Naturerlebnis durchlässig wird“ (Rohlf: Exil als Praxis, S. 94.), weshalb es nicht verwundert, dass Hannas Erfahrungen mit der Natur und mit Anatol ähnliche Gefühlsregungen hervorrufen.

49

Hanna schreibt etwa: „Alle Worte sind bipolar, nichts ist so, alles ist so und anders, und erst später, als sie schon aus der Allfalt des Seins aufgestiegen waren zu schneidendem Entweder-Oder, haben die Menschen die Gegensatzworte dazu erfunden“. (Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 99.)

50

Vgl. ebd., S. 201.

51

Der Pluralismus von Hannas Selbst kann zum einen als Negierung der zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgestellten Charakterisierungen der Frau gelesen werden, die sowohl von männlichen wie auch weiblichen Emanzipationskritikern vorgebracht wurden, indem hier die Frau im Sinne der bereits im 18. Jahrhundert gängigen Geschlechterdichotomie mit der Natur in Verbindung gebracht wird, während der Mann dem Bereich Geist und Kultur zugeordnet wird. Die Frau stehe im Einklang mit ihrer Natur, habe eine ungeteilte und einheitliche Persönlichkeit, die jedoch dem Kulturschaffen entgegenwirke. Es sei „das Einheitliche, Naturhafte, In-sich-Gesammelte, wodurch das weibliche Wesen sich vom männlichen abhebt“, und dies bedinge auch die „weiblichen Tätigkeitsinhalte: die ein Verfließendes und dem einzelnen Hingegebenes sind, ein mit der Forderung des Augenblicks Werdendes und Vergehendes, nicht ein Bauen an einer in irgendeinem Sinn bleibenden, überpersonalen Kulturwelt, sondern ein Dienen an den Tagen und an den Personen, die diesen Bau sich erheben lassen.“ (Simmel: Philosophische Kultur, S. 162 und S. 287. Vgl. zu dieser Thematik auch Janz: „Die Frau“ und „das Leben“, S. 37ff.) Zum

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Je unsicherer sich Hanna ihrer eigenen politischen Position wird, desto mehr häufen sich ihre Auseinandersetzungen mit Anatol. Der Geliebte wird zum Sinnbild ihres vermeintlichen Verrates an der Ideologie der kommunistischen Partei. In ihrer Ablehnung seines Daseins als reiner Ästhet und Individualist äußert sich eine Selbstkritik Hannas,52 wobei sie selbst merkt, wie sehr sie in Momenten der Gemeinsamkeit mit Anatol Gefahr läuft, von ihren Parteiidealen abzurücken und den damit verbundenen festen ideologischen Boden unter den Füßen zu verlieren: „Auf der Hut sein mußte sie, sollte sie, um die Gelegenheit zur Agitation gut auszunützen. – Wo wir stehen, ist revolutionärer Boden, hat Marx gesagt! – Und auf der Hut sein mußte sie, schließlich, um nicht zu verraten, wie sehr sie in vielem, das Russland betraf, Anatol recht gab.“53 Dieses auf der Hut sein gelingt ihr immer weniger, je mehr sie sich in

anderen kann man die Charakterisierung Hannas auch als eine Fortführung von RühleGerstels eigener essayistischer Auseinandersetzung mit der Frauenfrage deuten, die sie in ihrem Werk Das Frauenproblem der Gegenwart 1932 aufgreift. Rühle-Gerstel stellt hier Typen der Frau dar, gemessen an ihrem Verhältnis zur männlich dominierten Welt. Diese Klassifizierung von Frauentypen ist nicht neu, bereits Hedwig Dohm lässt 1902 in ihrem Roman Christa Ruland die Figur Marie verschiedene Frauenkategorien als „Übergangsgeschöpfe“ auf dem Weg zur ‚neuen Frau‘ aufzählen. (Vgl. Dohm: Christa Ruland, S. 161ff. Vgl. zur Darstellung der verschiedenen Charaktertypen bei Rühle Gerstel: Dampc-Jarosz: Die ersten deutschen Essayistinnen.) Hanna dagegen lässt sich in diese Typologien nicht eindeutig einordnen, da bei ihr „männliche“ wie „weibliche“ Charaktereigenschaften ebenso eine, wenn auch nicht konfliktfreie, Synthese eingehen wie ihr künstlerisches und politisches Selbst. (Vgl. zur Mischung männlicher und weiblicher Attribute in der Figur Hanna auch Rohlf: Exil als Praxis, S. 93.) Hanna ist in ihrer Zerrissenheit und Differenziertheit als Figur auf dem schwierigen Weg zur ‚neuen Frau‘, die in den 20er Jahren so häufig beschworen wurde, jedoch weder zu Beginn des Jahrhunderts, wie Dohm es schildert, noch in den 30er Jahren bereits eine reale Entität darstellte: „Die neue Frau entsteht. Diese neue Frau, der so viele Lobeshymnen und so viele Pamphlete der neuen Frauenliteratur gelten; diese neue Frau, von der manchmal so gesprochen wird, als wäre sie schlechthin die Frau von heute, während sie doch eine seltene Vorbotin des Morgen ist. […] Denn die neue Frau ist noch keine ausgeprägte psychologische und nur eine sehr rare soziale Erscheinung.“ (Rühle-Gerstel: Die Frau und der Kapitalismus, S. 408.) 52

Dies geschieht in zunehmendem Maße, als sie realisiert, dass auch sie in der Liebe die individuellen Aspekte des Menschen wertschätzt und nicht seine parteipolitische Gesinnung: „„Klassengegner“, dachte sie und zuckte schmerzlich. Das sind auch so doktrinäre Worte. Sie liebte ihn. Man liebt einen Menschen und nicht den Angehörigen einer Klasse…“ (Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 211.)

53

Ebd., S. 159.

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Anatol verliebt, weshalb sie auf politische Gespräche mit ihm immer gereizter reagiert. Dies geschieht nicht aus ideologischer Überzeugung, sondern aus einem Versuch der Sicherung der eigenen Ideologie, die in der Erfahrung mit den Vertretern der kommunistischen Partei im Exil immer mehr Brüche bekommt, als eine Art Selbstvergewisserung: Daß sie die Politik der „Svoboda“ (des Kleinhändler-Konzerns, nicht der Zeitung) so herzbewegt verteidigte, geschah wohl eher zum Selbstschutz, den sie unbewusst suchte: so sehr war sie dem Mann, der Atmosphäre der „Svoboda“ (der Zeitung, nicht dem Kleinhändler-Konzern)54 schon verfallen. Ab und zu mußte sie polemisch werden, um sich selbst noch glauben zu können, wo sie stand, wo sie noch stand.55

Die Situation eskaliert schließlich, als Hanna Anatol einen Fragebogen der Partei über das Privatleben der Mitglieder zeigt und dieser kurz darauf in der Zeitung ‚Svoboda‘ als Skandal abgedruckt wird. In ihrer maßlosen Empörung über den mutmaßlichen Verrat Anatols (,der mit der Veröffentlichung nichts zu tun hatte), zeigt sich vor allen Dingen Hannas schlechtes Gewissen über den eigenen Verrat an der Partei. Jedoch zeigen sich in der Affäre mit Anatol nicht nur Hannas wachsende politische Zweifel, sondern es wird auch ihr problematisches Selbstverständnis als Frau offenbar, indem sie einerseits von starken Gewissensbissen gegenüber ihrem in Deutschland inhaftierten Ehemann geplagt ist und andererseits extrem emotional und eifersüchtig auf Anatols Verhalten gegenüber anderen Frauen reagiert. Hanna selbst verwehrt sich, zumindest in geistigen und politischen Belangen, gegen eine Differenzierung in männlich und weiblich und eine Benachteiligung der Frau,56 weshalb sie auch entsetzt über den neuen Fragebogen der Partei über das Privat- und Sexualleben der Mitglieder ist, den ihre Freundin Jarmila ihr zeigt:

54

Im Roman wird des Öfteren auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass viele Institutionen und Personen den Namen Svoboda tragen, was auf Deutsch Freiheit bedeutet. Sie alle scheinen Angebote der Freiheit zu vermitteln, die schließlich nicht eingelöst werden.

55

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 187.

56

Vgl. auch einen Zeitungsartikel Rühle-Gerstels aus dem Jahr 1919, in dem sie die anachronistische Frauenfrage behandelt: „[W]eil sich alle wichtigen Lebensfragen als geschlechtlich indifferent, sagen wir lieber: als geschlechtlich transzendent erweisen, wenn man sie ohne Sentiments und Vorurteile anpackt, wissen wir Sozialisten, daß es eigentlich doch keine Frauenfragen gibt, nur Menschenfragen; keine Frauenfrage, nur eine Menschheitsfrage, die heute eine Klassenfrage ist.“ (Rühle-Gerstel: Die neue Frauenfrage, S. 34.)

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Mußten die nächsten Schritte, nach der Hochpreisung der Monogamie und der neuerdings gepriesenen und anempfohlenen Traulichkeit des Heims, nicht das Verbot der Abtreibung sein, die Erschwerung der Ehescheidung, die Rückverweisung der Frau aus dem Berufsleben ins Haus, in die Abhängigkeit vom Einzelmann…?57

Im Verlaufe des Romans zeigt sich jedoch auch, dass Hanna das, was sie als ‚bürgerliche Vorurteile‘ kritisiert, d.h. Monogamie, eheliche Treue und emotionales Verhalten der Frau, selbst verinnerlicht hat, bzw. dass diese Aspekte auch ihrer Persönlichkeit entsprechen, weshalb die Beziehung zu Anatol und ihr leidenschaftliches Verhalten in dieser ihr den Kontrast zu ihren politischen Idealen verdeutlichen, in denen die Emanzipation der Frau und die Loslösung aus bürgerlichen Ehestrukturen revolutionäre Errungenschaften ausmachen. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich eine Zerrissenheit in Hannas Persönlichkeit, die durch die Liebesbeziehung zu Anatol, der in ihr vor allen Dingen die Frau sieht, während Karl in ihr mehr den politischen Kameraden wertschätzte, deutlich wird; in Hanna kämpft das revolutionäre Ideal der Gleichberechtigung der Geschlechter gegen ihr Verlangen nach weiblichen Emotionen und auch patriarchalen Zuschreibungen. Wenn Anatol Hanna nach ihrem ersten gemeinsamen Sex als „Frau wie alle anderen“ bezeichnet, hat dies für Hanna nicht nur die negative Implikation, die Rohlf benennt (als „Zuschreibung einer eindeutigen Geschlechtsidentität, die Hannas Individualität auslöscht und gleichzeitig diverse Rollennachteile mit sich bringt“),58 sondern es hat auch eine inkludierende Implikation, indem Hanna, die in jeglichen Belangen im Roman eine Außenseiterin darstellt, sich zu einem Kollektiv der Weiblichkeit zugehörig fühlt: Es klang ein bisschen männerhaft-roh, aber sie hatte es wie eine verführerische Liebkosung empfunden, und hatte sich herausgestürzt, jauchzend, aus der Strenge aller Meinungen und vorgefaßten Ansichten, hatte den Harnisch abgelegt und sich hingegeben wie eine Frau, die ist, wie alle anderen, gesichtslos, namenlos.59

In diesem Moment fühlt sich Hanna gleichzeitig frei von der Doktrin, die ihr Leben stark bestimmt und die es ihr bislang verboten hat, eine weibliche, ‚bürgerliche‘ Rolle einzunehmen. Dass dieser Moment der gedankenlosen Hingabe an ihre körperlichen Bedürfnisse und ihre Emotionen jedoch nicht von Dauer sein kann, ist eindeutig, weshalb das Verhältnis zu Anatol auch zwangsläufig scheitern muss, was vor allen Dingen in Hannas problematischem Verhältnis zu ihrer Weiblichkeit begründet liegt, denn schließlich kann „Hanna […] auch in dem Identitätsangebot der Weiblichkeit

57

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 152.

58

Rohlf: Exil als Praxis, S. 118.

59

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 179f.

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nicht vollständig aufgehen, selbst wenn sie es wollte.“60 Hanna trägt somit Attribute der ‚neuen Frau‘, die Alice Rühle-Gerstel bereits 1932 in ihrer Abhandlung Das Frauenproblem der Gegenwart am Rande behandelt,61 während sie jedoch, was ebenfalls charakteristisch für die Vorkämpferinnen dieser neuen Frauenrolle ist, gleichzeitig nicht vollkommen in ihr aufgehen kann, denn „jede Einzelne unter diesen neuen Frauen trägt mit sich Reste und Bruchstücke ihrer individuellen Biographie, jede Einzelne ist bedroht von hintergründigen Überfällen aus dem Dunkel der bisherigen Weiblichkeit.“62 Neben ihrer Beziehung zu Anatol und der damit eng zusammenhängenden Arbeit in der von ihm geleiteten liberalen Zeitung ‚Svoboda‘, die zeitweilig auch als Ort der Heimat für Hanna fungiert63 und gleichzeitig mit ihrem täglichen Umbruch unter anderem titelgebend für den Roman ist, sucht Hanna vor allen Dingen zu Beginn ihres Exils in Prag eine Annäherung an ihre vermeintlichen Schicksalsgefährten im Flüchtlingsheim der emigrierten deutschen Kommunisten. Der erste Weg in Prag führt Hanna zwar zur Zentrale der tschechischen kommunistischen Partei, was auf ihr Selbstverständnis als Kommunistin im Widerstand und nicht als Exilierte hinweist, doch dort wird sie aufgrund ihres deutschen Passes abgewiesen: „Wir befassen uns nicht mit Flüchtlingsangelegenheiten. Das da ist das sogenannte Flüchtlingsheim, für die Deutschen. Sie haben ihre eigene Organisation.“64 Im Flüchtlingsheim trifft Hanna auf Menschen, die mit ihrem Schicksal nicht viel gemein haben und Hanna wird sofort in einen politischen Streit verwickelt, weil sie von der Niederschlagung der kommunistischen Partei in Deutschland als Niederlage spricht. Ihr wird vorgeworfen, dies sei eine ultralinke Abweichung von der Parteilinie, denn das Proletariat habe sich auf keinen Kampf eingelassen, habe dementsprechend auch keine Niederlage erleiden können. Diese Auseinandersetzung entsteht nicht nur, weil die Flüchtlinge selbst dem deutschen Proletariat angehörten und darum sich selbst verteidigen, sondern auch aus dem Umstand, dass es sich bei den im Heim lebenden Kommunisten um ein Volk handelt, „das keine Gegenwart kennt, das außerhalb der Zeit lebt, außerhalb des Raums, mit allen Klammern des Herzens der Heimat, der verlorenen,

60

Rohlf: Exil als Praxis, S. 121.

61

Alice Rühle-Gerstel nennt als Charakteristika der neuen Frau berufliche und menschliche Unabhängigkeit, persönliche Freiheit, das Dasein als Kameradin und Mitmensch, Tapferkeit, Klugheit, Fröhlichkeit und Leistungsstärke. (Vgl. Rühle-Gerstel: Die Frau und der Kapitalismus, S. 409.)

62

Ebd.

63

Vgl. z.B. Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 103.

64

Ebd., S. 55.

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verhaftet, die sie bald, bald wiederzusehen hoffen“.65 Zu diesen Exilierten, die aufgrund ihrer Hoffnung, wieder in die ihnen entrissene Heimat zurückkehren zu können, sich nicht erlauben können, an eine Niederlage zu glauben und die auch im Exil nicht über die Gegenwart des Exils sinnieren, sondern sich immer und immer wieder die gleichen Geschichten der Heimat erzählen, findet Hanna, die die Fremde verlassen hat, um ins Exil in die Heimat zu gehen, keinen Bezug. Ein Zugehörigkeitsgefühl kann hier nicht entstehen, das kollektive ‚Wir‘ kommt Hanna nur schwer über die Lippen: „Und die tschechische Partei… tut die nichts für euch… für uns?“66 Das Selbstverständnis Hannas als Exilantin setzt erst sehr viel später ein, nachdem sie zunehmend merkt, dass auch sie in ihrer Heimat als Kommunistin nicht mehr willkommen ist. In einem Streit mit Anatol, in dem sie über die Exilpolitik der Ersten Tschechischen Republik schimpft,67 endet sie mit den Worten: „Was wisst ihr von uns? Ihr, die Ihr hier zuhause seid! Ihr, die Ihr irgendwo zuhause seid!“68 Diese Identifikation als Exilierte führt Hanna jedoch nicht näher an die deutschen Flüchtlinge heran, deren Misstrauen bleibt ebenso bestehen wie Hannas Unwillen, sich mit deren Schicksal zu identifizieren. Die Problematik bleibt bis zu Hannas Verlassen der Tschechoslowakischen Republik bestehen: Sie wird von der kommunistischen Partei und vom Staat einer Gruppierung zugeordnet, die nicht ihrem Selbstverständnis entspricht und von der sie aufgrund ihrer Andersartigkeit auch nicht akzeptiert wird. Erst

65

Ebd., S. 65.

66

Ebd., S. 67.

67

Die Erste Tschechoslowakische Republik hat in ihrer Exilpolitik „großzügiger gehandelt als jedes andere europäische Gastland.“ (Walter: Asylpraxis und Lebensbedingungen, S. 143.) Allerdings berichten viele Quellen davon, dass es starke Unterschiede in der Behandlung der Flüchtlinge abhängig von ihrer politischen Zugehörigkeit gegeben habe, wobei vor allen Dingen die kommunistischen Exilierten schlechter behandelt wurden: „Berechtigt ist die Kritik der tschechoslowakischen Historiker, wo es um die Praxis bei kommunistischen Exilierten geht. Vor allem Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre seien sehr scharf angefasst worden: man habe sie „ziemlich rücksichtslos“ abgefertigt, als „politische Agitatoren“ qualifiziert und sich bemüht, „sie möglichst schnell wieder aus der Tschechoslowakischen Republik herauszubekommen.“ (Ebd., S. 145.) Diese antikommunistische Politik geht noch auf die ersten Jahre der Konsolidierung der jungen Republik zurück: „Bei der Lektüre der Quellen des Jahres 1919 gewinnt man den Eindruck, daß die am akutesten empfundene Bedrohung des neuen Staates neben der Grenz- und Versorgungsfrage die des sozialen Umsturzes war, der in den Quellen meist mit dem Etikett „bolševictví“ belegt wird.“ (Lemberg: Die Tschechoslowakei im Jahr 1, S. 12.) Vgl. hierzu auch die Niederschlagung des proletarischen Streiks im Slawenlied von F.C. Weiskopf.

68

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 195.

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am Ende des Romans, bei der Grenzüberschreitung nach Österreich, wodurch Hanna schließlich endgültig auch die Heimat hinter sich lässt, gehört sie vollständig dem Exil an. Als wichtigster Identifikationsfaktor im Roman, der immer mehr abbröckelt und schließlich zur Desillusionierung führt, kann die kommunistische Partei gelten, wobei es explizit deutlich wird, dass es hierbei nicht um Hannas eigene politische Ideale oder um den Sozialismus als solchen geht, sondern um die Parteilinie. Die Auseinandersetzung mit der Parteipolitik spiegelt sich auf mehreren Ebenen, die in einen kollektiven und einen privaten Bereich getrennt werden können. Zum einen kritisiert Hanna das Aufgeben der revolutionären Ideale, repräsentiert durch den Luxus in Russland, die Exilpolitik in der Ersten Tschechoslowakischen Republik und die korrupte Bereicherung der Parteileitung. Zum anderen aber gerät sie genau dort immer mehr in Opposition zur Parteilinie, wo ihre eigene Freiheit und ihre individuelle Persönlichkeit direkt in Konflikt damit geraten. Oben wurde bereits geschildert, inwiefern der Fragebogen der Partei über das Privatleben der Mitglieder Hanna gerade aufgrund ihrer aktuellen privaten Position verärgert, und auch in der Gewichtung des Begriffs der Heimat weicht Hanna stark von der Parteilinie ab, indem es einen zunehmend starken Gegensatz gibt zwischen der von der Partei vorgegebenen Einstellung zur Heimat als rein ideologisch und nicht topographisch verhafteten Begriff und Hannas teilweise verleugneter und dennoch latent evidenter Heimatsuche auch in den Bereichen, die mit Ideologie und Klassenkampf keinerlei Verbindung haben. Dennoch bleibt über weite Strecken des Romans die kommunistische Partei als Heimat und Identität per se präsent, weshalb Hanna auch nach vielen Enttäuschungen entsetzt auf Jarmilas Eröffnung reagiert, sie wolle aus der Partei austreten: „„Aus der Partei…?“ rief Hanna bestürzt, als wolle sie sagen: „Die Haut willst du dir ausziehen?““69 Doch mit den zunehmend schlechten Erfahrungen und spätestens nach der Verleumdung Hannas durch das Parteiblatt gegen Ende des Romans, sagt sich Hanna schließlich ideologisch von der Partei los, wenn sie auch nie den letzten Schritt unternimmt, aus der Partei auszutreten. Auch die Partei kann für Hanna schließlich keinen Heimatersatz mehr darstellen und die Kritik an der Politik wird im Laufe des Romans überdeutlich. In einigen Punkten stimmt die Thematik des Romans in dieser Hinsicht mit den typischen Merkmalen überein, die Michael Rohrwasser für die ‚Renegatenliteratur‘ benennt, denn diese stehe „im Zeichen des doppelten Verlustes der geographischen und politischen Heimat“,70 wobei letztere als schwerwiegender bewertet wird. Insbesondere bei der Literatur, die im Exil 1933-1945 entsteht, entwickele sich eine neue literarische Gattung, die sich auf politischen Identitätsverlust und Neuorientierung

69

Ebd., S. 212.

70

Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten, S. 3.

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konzentriere: „Ihre Texte handeln von Desillusionierung und Wandel, die zumindest den politischen Glauben betreffen, häufig aber die ‚Neugeburt einer Identität‘, eine radikale Zäsur der Biographie postulieren.“71 Hier scheinen die Analogien jedoch zum Großteil erschöpft. In Der Umbruch findet sich weder „eine existentielle Läuterung vom Dunkel ins Licht, eine Rettung aus Lebensnot oder eine Heilung aus schwerer Krankheit“,72 noch spiegelt sich darin die „Suche […] nach einer neuen Öffentlichkeit und die Intentionen des Mitteilens, Überzeugens oder Rechtfertigens“, indem „eine historische Wahrheit […] vermittelt, ein verfälschtes Bild entzerrt, ein Heilungsprozeß […] erläutert werden“ soll.73 Auch bleibt eine heftige Abkehr von der Parteilinie74 ebenso aus wie der endgültige Austritt aus der Partei. Die Suche nach Begründungen für die Besonderheiten des Romans, der zwar nach Selbstaussage der Autorin neben der Exilerfahrung und einer Liebesgeschichte auch die „Abwendung der Heldin von der Kommunistischen Partei“75 behandelt und sich dennoch so wenig in das Genre der ‚Renegatenliteratur‘ im Exil einzufügen scheint, führt wieder zurück zur Figur Hanna, die nicht nur geographisch „ohnehin nie ganz zuhause war“.76 Die Probleme, die Hanna in Prag im Kontakt mit der Partei erlebt, sind lediglich Übersteigerungen des Misstrauens, mit dem sie bereits in Deutschland im Laufe ihrer gesamten Parteikarriere aufgrund ihrer Herkunft und Persönlichkeit als Intellektuelle, Bürgerliche und Ausländerin konfrontiert wurde. Die Anschuldigungen in Prag und die Reaktionen auf ihre Lebensweise sind nur ins Groteske übersteigerte Wiederholungen der Erfahrungen in Deutschland. Der Vorwurf des Verrats oder zumindest einer Mitschuld an der Hilflosigkeit der Partei im ersten Jahr des Nationalsozialismus

71

Ebd.

72

Ebd.

73

Ebd., S. 8f. Rohrwasser führt den Roman Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit, der in die Untersuchung konkret leider ebenso wenig wie die Autorin Eingang findet, in der Bibliographie auch nicht unter dem Stichwort ‚Renegatenliteratur‘, sondern unter der Rubrik ‚Sekundärliteratur und andere Literatur‘.

74

Vgl. z.B. die teilweise drastischen Aussagen in Koestlers Sonnenfinsternis: „Der heiße, atmende Leib der Partei erschien ihm [Rubaschow] von Geschwüren überzogen, eiternden Geschwüren, blutenden Stigmen, aus denen rostige Nägel hervorragten. Wann und wo in der Geschichte hatte es jemals so defekte Heilige gegeben? Wann war eine gute Sache schlechter vertreten worden?“ (Koestler: Sonnenfinsternis, S. 55.) und „Das Regime von Nummer Eins hatte die Idee des sozialistischen Staates besudelt wie die mittelalterlichen Päpste die Idee des Reichs Christi auf Erden. Die Flagge der Revolution wehte auf halbmast.“ (Ebd., S. 229.)

75

Brief Alice Rühle-Gerstels an Eva Schumann, 4.8.1938, zitiert nach Herbst/Klemm: Vor-

76

Rohlf: Exil als Praxis, S. 137.

wort, S. 15.

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klingt bereits auf den ersten Seiten an, indem die Überlegungen des proletarischen Kommunisten Ernst, der Hanna bei der Flucht hilft, geschildert werden: „Ernst weiß, daß in der Partei nicht nur Arbeiter sind, und hat sich manchmal gedacht, es wäre besser, wenn nur Arbeiter drin wären und man diesen Aktenmappenherren und feinen Damen keinen Zutritt gelassen hätte, vielleicht wäre es dann anders ausgefallen 1933.“77 Der Intellektuelle und Schriftsteller ist dem Misstrauen der anderen Parteimitglieder ausgesetzt, da er, wie Jean-Paul Sartre aus der Perspektive nach dem Zweiten Weltkrieg schildert, im Gegensatz zum kommunistischen Proletariat aus freier Wahl in die Partei eingetreten [ist]; also kann er auch wieder austreten. Er ist eingetreten aus Kritik an der Politik seiner ursprünglichen Klasse, also kann er auch die Politik derer kritisieren, die seine neue Klasse repräsentieren. So liegt selbst in der Aktion, mit der er ein neues Leben eröffnet, ein Fluch, der sein Leben lang auf ihm lasten wird.78

Sartre vergleicht die Situation des Intellektuellen mit derjenigen Josef K.s aus Kafkas Prozeß, indem gegen ihn ein Verfahren laufe, dessen Richter unbekannt und dessen Akten geheim seien, wobei ihm unbewiesen Taten vorgeworfen werden könnten, weil alles, was er sagt und schreibt, zweideutig erscheine: „Es geht nicht darum, daß seine unsichtbaren Ankläger, wie es in der Justiz üblich ist, den Nachweis seines Verbrechens erbringen: vielmehr ist es seine Aufgabe, seine Unschuld zu beweisen.“79 Ganz ähnlich gerät auch Hanna immer wieder in Situationen, in denen sie sich objektiv nichts hat zu Schulden kommen lassen, dennoch werden ihr, noch bevor sie sich verteidigen kann, Unterschlagung, Verrat und Kollaboration mit einem NaziSpitzel vorgeworfen. In diese Situationen gerät Hanna, weil sie zum einen eine gewisse Naivität gegenüber ihren Mitmenschen an den Tag legt, worin sich einmal mehr äußert, dass die feinfühlige und sensible Protagonistin nicht für den politischen Untergrundkampf geschaffen ist, zum anderen jedoch auch, weil ihr als großbürgerliche Intellektuelle von vornherein ein massives Misstrauen entgegengebracht wird,

77

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 29. Ähnliche Ideen äußert der tschechische Proletarier Domansky in Ludwig Winders Roman Die nachgeholten Freuden über Karl Buxbaum, den intellektuellen deutschjüdischen Kommunisten: „Da stellt sich so ein Herr hin und deklamiert von den ‚Leiden des Proletariats‘ und von den ‚Aufgaben der Revolution‘ und redet mit mir, als ob er jahrlang neben mir an der Maschine gestanden hätte. Auf einmal ist er Genosse. Auf einmal haben wir lauter solche ‚Genossen‘ an der Spitze […]. Da wird auf die Regierung geschimpft und auf den Krieg geschimpft, wenn’s aber ernst wird, sind sie die ‚einsichtigen Politiker‘, die ‚in höherem Interesse‘ mit den Bürgerlichen zusammengehn.“ (Winder: Die nachgeholten Freuden, S. 216.)

78

Sartre: Was ist Literatur, S. 152.

79

Ebd.

R OMANANALYSEN

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von dem sie sich nur zeitweise unter Bezug auf ihren unter Kommunisten bekannten und, da er aufgrund politischer Verfolgung in einem deutschen Gefängnis sitzt, über jeden Zweifel erhabenen Ehemann Karl befreien kann. Eine Loslösung aus einer beinahe religiösen Bindung an die Partei wie in der Renegatenliteratur setzt eine vorherige unbedingte Integration in diese Kreise voraus, diese ist jedoch von Anfang an nicht gegeben; aus dem Kollektiv, dem ‚Wir‘ der Arbeiter bleibt Hanna immer ausgeschlossen: „Unsereiner – das hatte wieder so geklungen, wie sie es schon so oft gehört hatte: Du gehörst nicht zu uns.“80 Diese Exklusion aus den eigenen Reihen ermöglicht keinen inneren, tiefen Glauben an einen der Grundpfeiler der kommunistischen Partei, der üblicherweise in der Renegatenliteratur zunächst als unumstößlich dargestellt wird und schließlich ein entscheidender Faktor für den Bruch mit der Partei ist, nämlich die Negierung des Individuums. Der Protagonist in einem der bekanntesten Renegatenromane, in Arthur Koestlers81 Sonnenfinsternis, ein Revolutionär, der im Rahmen der Moskauer Prozesse hingerichtet wird, konstatiert demnach zunächst: „Es gab kein „Ich“ außerhalb des „Wir“ der Partei; das Individuum war nichts, die Partei alles; der Ast, der sich vom Baume brach, mußte verdorren.“82 Während der Bruch mit der Partei hier mit politischen Auseinandersetzungen und der Frage nach dem richtigen Fortlauf von Revolution und Geschichte einhergeht, die dann in der Entdeckung des Ich kulminieren,83 wird Hannas ideologischer Konflikt durch die Bereiche der Parteipolitik ausgelöst, die Hannas Privatleben und ihr individuelles Empfinden betreffen, so etwa die Frage der Heimat und der Bereich des Sexuellen und der Partnerwahl, die inkompatibel sind mit Hannas Persönlichkeit. Auch parteipolitische Gründe spielen eine Rolle, so z.B. das Vorgehen im Milchskandal84 und die Entwicklungen in Russland,85 jedoch behalten diese Problematiken eher episodenhaften Charakter, es findet keine intensive Auseinandersetzung mit der Politik und der Parteilinie statt. Die stark individualisierte Sichtweise,

80

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 34.

81

Koestler und Rühle-Gerstel kannten sich nicht, aber Stephen S. Kalmar schildert, dass Koestler von dem Romanmanuskript Der Umbruch, das Kalmar ihm mit der Bitte um eine Empfehlung für die Veröffentlichung in einem Verlag über 30er Jahre nach RühleGerstels Tod zusandte, begeistert gewesen sei und sich bereit erklärt hatte, ein Vorwort zu schreiben. Dies kam allerdings vor Koestlers Selbstmord nicht mehr zustande. (Vgl. Kalmar: Nachwort, S. 360.)

82

Koestler: Sonnenfinsternis, S. 75.

83

So steht der Protagonist am Ende des Romans, kurz vor seiner Hinrichtung, in seiner Zelle und klopft immer wieder den Code an die Wand: 2-4, 1-3, 2-3: Ich, Ich, Ich. (Vgl. ebd., S. 225.)

84

Vgl. z.B. Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 144f.

85

Vgl. z.B. ebd., S. 212.

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die keine Allgemeingültigkeit anstreben kann, ganz im Gegensatz zu anderen autobiographischen Renegatenromanen, ermöglicht auch keinen ‚Konversionsauftrag‘ im Rahmen einer Funktionalisierung des Romans als Renegatenliteratur. Lässt sich der Roman somit nicht leicht in das Genre der Renegatenliteratur einordnen, da er mit der Protagonistin Hanna eine individuelle Abwendung von der Parteilinie schildert, die aufgrund Hannas Persönlichkeit keine Verallgemeinerung ihrer Erlebnisse ermöglicht, so stellt einen wichtigen Aspekt des Romans seine in der Forschung oft beobachtete sowohl antifaschistische als auch antistalinistische Aussage dar. Diese beiden politischen Bereiche werden nicht nur getrennt voneinander kritisiert, sondern auch zunehmend miteinander verglichen und gleichgesetzt, was nicht unerheblich zu Hannas Desorientierung in Prag beiträgt: „Aber man weiß nicht mehr ganz genau, wo rechts und wo links ist.“86 Zunehmend bemerkt Hanna, dass die Partei für Dinge eintritt, die sie zuvor in Deutschland bekämpft hat und die den Idealen der Revolution widersprechen. Auf einmal ist Hanna sich nicht mehr sicher, auf welcher Seite sie stehen sollte, denn „bürgerliche Liberale der Gesinnung nach, falls sie überhaupt eine Gesinnung hatten, vertraten mit einem Mal die radikale Linke“,87 während in Russland eine starke Rechtsschwenkung zu bemerken ist. Doch scheinen nicht nur die Rollen auf einmal vertauscht, sondern Faschismus und Stalinismus nähern sich einander zunehmend an. Dies manifestiert sich vor allen Dingen in einem Bereich, der für Hanna als polyglotte Redakteurin von großer Bedeutung ist: der Sprache: Es erscheint plötzlich einerlei, ob man im Radio Berlin oder Moskau hört,88 und auch das Vokabular von Nationalsozialisten und Kommunisten gleicht sich immer mehr an. Auf die Spezifika der Lingua Tertii Imperii hat Victor Klemperer nach dem Krieg ausführlich hingewiesen und auch viele Exilromane setzen sich mit der nationalsozialistischen Sprache des Alltags im Dritten Reich auseinander.89 In Der Umbruch wird allerdings zudem auch gezeigt, inwiefern die nationalsozialistische Sprache auf die Exilanten übergegriffen hat und die martialischen Ausdrücke nun im gleichen Sinne benutzt werden. Im Autobus auf deutscher Seite lauscht Hanna einem Gespräch von zwei Deutschen, in dessen Verlauf der eine sich damit brüstet, dass die Nationalsozialisten (er benutzt das ‚wir‘) „die Juden und die Schieber […] mit eisernem Besen

86

Ebd., S. 149.

87

Ebd., S. 157.

88

Vgl. ebd.

89

Reichen Fund bietet in dieser Hinsicht zum Beispiel Irmgard Keuns Roman Nach Mitternacht, in dem die Kritik der jugendlichen Protagonistin durch vorgeblich naives Missverstehen und Infragestellen des Vokabulars und Kommunikationsverhaltens des Dritten Reiches offenbar wird.

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hinausgefegt“90 hätten. Der Begriff ‚eiserner Besen‘ ist nicht nur der Titel einer österreichischen antisemitischen Zeitschrift aus den 20er Jahren,91 sondern er wurde auch im Dritten Reich explizit mit Hitler und den ethnischen und politischen ‚Säuberungen‘ in Verbindung gebracht.92 Doch auch in der Ersten Tschechoslowakischen Republik hört Hanna diese Worte, dieses Mal allerdings von deutschen Exilierten im Flüchtlingsheim, die über einen vermeintlichen Verräter in den eigenen Reihen sagen: „Der hat sich ein bisschen gar zu dicke getan, der Dussel, war wahrscheinlich ein Spitzel… solche fegt die Partei mit eisernem Besen raus…“93 Dieser Ausspruch wird von Hanna weder kommentiert noch gar kritisiert und die Tatsache, dass gerade die als anständig und freundlich charakterisierte Luise Kulicke diesen Satz „ruhig bemerkt“, verweist darauf, wie schleichend der Annäherungsprozess zwischen nationalsozialistischem und stalinistischem Sprachgebrauch und totalitärer Indoktrinierung ist. Die schleichende Annäherung der kommunistischen Partei an eine totalitäre Macht, die sich in Inhalt und Sprache äußert, wird Hanna auch erst im Laufe des Romans mehr und mehr bewusst und beeinflusst schlussendlich auch ihre Abkehr von der Partei, in der sie keine ideologische Heimat mehr finden kann. Im Exil in Prag entschwinden demnach langsam alle Momente der Sicherheit und der Dinge, die Hanna in ihrem Leben zumindest vorübergehend Struktur und Halt zu geben vermocht hatten, und schließlich erweist sich auch die sicher geglaubte eigene Identität als Illusion: Plötzlich bekam Hanna furchtbares Heimweh. Nach Deutschland, nach Karl, nach der Parteiarbeit in Halle, nach dem Elternhaus, nach dem Flüchtlingsheim, nach der Setzerei, nach Bíleks Zimmer, nach dem Mann neben ihr, von dem sie nichts wusste, obwohl sie ihm so nahe war,

90

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 26.

91

Vgl. hierzu Schäfer: „Herausgeber des Eisernen Besens war der Deutsche Volksrat für Wien und Niederösterreich, verantwortlicher Schriftleiter war Alois Thiel. Jeweils am 5. und 20. eines Monats erschien der Eiserne Besen und verstand sich als offen antisemitisch. Sein Motto war: „Der Eiserne Besen kehrt überall, wo es nötig und erwünscht ist. Bitte allfällige Mistwinkel uns gütigst bekannt zu geben, auf dass unser Eiserner Besen seines Amtes walte.““ (Schäfer: Vermessen, gezeichnet, verlacht, S. 45.)

92

Vgl. hierzu Klemperer: „Die philologischen Fachzeitschriften und die Zeitschrift des Hochschulverbandes bewegen sich derart im Jargon des Dritten Reiches, daß jede Seite buchstäblich Brechreiz verursacht. „Hitlers eiserner Besen“ – „die Wissenschaft auf nationalsozialistischer Basis“ – „der jüdische Geist“ – „die Novemberlinge““. (Klemperer: LTI, S. 50.)

93

Rühle-Gerstel: Der Umbruch, S. 84.

356 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM am meisten aber Heimweh nach sich selbst, nach der Hanna, die sie so lange gekannt hatte und die jetzt also wegging, wer weiß, wohin?...94

Am Ende verlässt Hanna nicht nur die Heimat, sondern sie lässt auch den zuletzt belastenden, da sie immer wieder enttäuschenden Glauben an das Vorhandensein einer ideologischen oder topographischen Heimat zurück und lässt sich auf das Exil ein. Der Roman endet damit nicht bedrückend oder resignierend; Hanna, die „tapfer ausschreite[t]“,95 scheint sich bewusst zu sein, dass ein schwerer Abschnitt vor ihr liegt, jedoch ebenso ein anderer hinter ihr, den sie nun abgelegt hat. Der Kampf um die Zugehörigkeit und die Suche einer Identität in verschiedenen Kollektiven, Ideologien, Personen, Orten oder Institutionen, in die sie aufgrund der Ambivalenz ihrer Persönlichkeit und Biographie sämtlich nicht vollständig integriert war, scheint nun beendet, da Hanna mit dem Zurücklassen all dessen, was für sie Heimat bedeutet hat, freier und ungezwungener in eine Zukunft gehen kann, auch wenn diese ins Unbekannte führt. Hanna durchschaut die Dialektik der eigenen Identität und versucht dennoch, gegen sie anzukämpfen: Hatte sie nicht das ganze Leben hindurch immer wieder dasselbe getan? Immer geforscht, gegrübelt, leidenschaftlich misstraut, weil sie ein so leidenschaftliches Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Klarheit hatte, und hatte sie doch nie erringen können. Sie sah zuviel Aspekte… Deshalb ja hatte die Marxsche Dialektik sie so angezogen, weil sie so viele Aspekte zeigte. Alles hängt mit allem zusammen. Alles ist miteinander verwickelt. Oft wurde man verwirrt, konnte es nicht mehr überblicken. Man wusste ja auch so wenig Tatsächliches von den Dingen, von den Menschen, von den letzten, innerlichsten Zusammenhängen.96

94

Ebd., S. 264.

95

Ebd., S. 355.

96

Ebd., S. 217. Nordmann sieht in der kreativen Deutung der marxistischen Dialektik auch Rühle-Gerstels literarisches Potential: „Ihre [Alice Rühle-Gerstels] Entscheidung für den Marxismus entsprang dem Verlangen, sich auf die Komplexität der Realität einzulassen, und vor allem die Realität in Sprachen zu übersetzen, die im wissenschaftlichen Diskurs keine Rolle sielten: die der Frauen und der Arbeiterkinder. […] Sich auf marxistische Weise einen Zugang zur Realität verschaffen, heißt nicht notwendig jenem Ideal aus Selbstverleugnung und historischem Objektivismus zu folgen und das alles erschöpfende Über-Werk zu schreiben. Der Zusammenhang zwischen Sein und Bewußtsein läßt sich auf vielfältige Weise ausdeuten, zum Beispiel indem man sich in sprachliche Zwischenzonen begibt, in besondere Zonen der Spontaneität und der spielerischen Vergegenwärtigung von Beobachtungen.“ (Nordmann: Alice Rühle-Gerstel, S. 252.)

R OMANANALYSEN

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Mit der Loslösung von dem Versuch, die Dinge zu entwirren, klare Verhältnisse und eine klare Identität zu schaffen, die Hanna als deutschböhmische Protagonistin auszeichnet, erlangt Hanna schließlich die im Titel des Romans antizipierte Freiheit, die sie in Deutschland und Prag vergeblich gesucht hat, auch wenn dies um den Preis des Verlustes der Idee der Heimat geschieht.

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5.8 E RNST W EISS ’

SPÄTE

R OMANE

Ernst Weiß’ späte Exilromane „Der Augenzeuge“ und „Der arme Verschwender“ sind gekennzeichnet durch die autodiegetische Erzählperspektive der jeweiligen Protagonisten, die ihren Lebensweg seit der Kindheit schildern. Dieser reicht von Konflikten mit den Eltern über zwischenmenschliche, zumeist scheiternde Bindungen und eine schwierige Karriere als Arzt bis hin zu ihrer problematischen Selbstverortung in der Gesellschaft im Österreich und Deutschland des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Ihr Oszillieren zwischen verschiedenen Identifikationsmustern, einerseits der Selbstprofilierung ihrer Individualität als übermächtiger, gottähnlicher Arzt und Schicksalsbestimmer, andererseits ihr Drang nach einer Unterordnung unter eine höhere Totalität etwa des Vaters oder der Masse, ihre Kommunikationslosigkeit in der Formulierung ihrer Wünsche und Probleme sowie der Versuch, in der politisch wie klassenspezifisch geteilten Gesellschaft objektiv und unparteiisch zu urteilen, lassen sie in ihren sozialen Netzwerken scheitern, während die vorgeblich sachliche und doch stark subjektive Erzählhaltung sie im Spannungsfeld zwischen individuellem Einzelschicksal und paradigmatischen Figuren ohne Halt in der Moderne ansiedelt. Die beiden Romane von Ernst Weiß, die hier gemeinsam behandelt werden, Der arme Verschwender und Der Augenzeuge, sind im Exil entstanden, zu einer Zeit, in der sich Weiß bereits in Paris befand, nachdem er 1933 aus Deutschland, wo er seit Beginn der 20er Jahre lebte, zunächst nach Prag geflohen war. Die späten literarischen Werke, die jeweils autodiegetisch die Lebensgeschichte eines Arztes schildern, weisen viele thematische und narrative Gemeinsamkeiten auf,1 die auf die problematische Selbstverortung des Individuums und seine Isolation innerhalb der Gesellschaft verweisen: So setzt Weiß in den Romanen Georg Letham, Der arme Verschwender und Der Augenzeuge konsequenterweise einen Ich-Erzähler ein und sorgt dementsprechend für die literarisch erfasste Unmittelbarkeit individuellen Erlebens durch die Verengung der Erzählperspektive auf den subjektiven Blickwinkel, was gleichfalls den Verlust des ehedem verbürgten Bezugs von Ich und Welt zum Ausdruck bringt. Durch die distanzierende Spannung zwischen erlebendem

1

Die motivischen Ähnlichkeiten in Weiß’ späten Romanen wurden jedoch nicht immer positiv gewürdigt. Vgl. Haas zum Augenzeugen: „Die erste Hälfte ist ein lauer Aufguß von bekannten Weißschen Roman-Ingredienzien, eine Anhäufung von Sentimentalitäten und Klischees aus früheren Romanen, die durch das Fehlen der stilistischen Geschliffenheit nur peinlich berühren.“ (Haas: Der Dichter von der traurigen Gestalt, S. 245.)

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und erzählendem Ich in diesen Romanen wird das zentrale Individuum zum Prisma sowohl des eigenen als auch des gesellschaftlichen Lebens, von dem es sich ausgeschlossen fühlt.2

Diese besondere Erzählperspektive der Texte wurde von der Forschung häufig angemerkt,3 wobei immer wieder auf das Spannungsfeld zwischen individueller und kollektiver Wahrnehmung aufmerksam gemacht wurde. Längle z.B. geht davon aus, dass weite Teile des Romans Der arme Verschwender Darstellungen einer kollektiven Erfahrung der Generation ausmachen, die, wie auch Ernst Weiß, im frühen Erwachsenenalter im Ersten Weltkrieg kämpfte und sich in der Zwischenkriegszeit neu orientieren musste. Das Scheitern des Protagonisten werde „als existentielle Grunderfahrung […] zum symbolischen Ausdruck der Lebensmöglichkeiten einer „lost generation“, für die Selbstverwirklichung und individuelles Glück unmöglich und unerreichbar sind.“4 Auch die Darstellung der Väter in Ernst Weiß’ Romanen diene nicht einer subjektiv-individuellen Beschreibung, sondern „als Medium der Kritik an bürgerlichen Normen und bürgerlicher Lebenspraxis“,5 die Figuren würden zu entindividualisierten Funktionsträgern, die leitmotivisch wiederkehrende Beschreibungen zu Stereotypen ihrer Generation machten. Jedoch sind insbesondere die Erzähler von Weiß’ späten Romanen nicht nur paradigmatische Figuren einer Generation, sondern sie repräsentieren gleichzeitig isolierte Einzelschicksale. Die Protagonisten schildern ihre Geschichte mit einer vermeintlichen Objektivität, die eine Allgemeingültigkeit ihrer Erlebnisse suggeriert.6 Im Laufe der Handlung zeigt sich jedoch in beiden Romanen, dass die durch die Wahrnehmung der Protagonisten gefilterte Realität nicht mit derjenigen der anderen in den Romanen auftretenden Figuren übereinstimmt. Missverständnisse und Zerwürfnisse sind die Folge dieser Fehleinschätzung und markieren das Schicksal der Protagonisten, die als integraler Bestandteil ihrer Zeit und gesellschaftlichen Schicht dennoch nicht vermögen, sich in die sie umgebende Gesellschaft, zu der sie gehören, einzufügen. Der von Becker erwähnte Roman Georg Letham nimmt in diesem Kontext eine Sonderposition ein, da große Teile der Erzählung in eine Strafkolonie in den Tropen verlegt sind, die in ihrem heterotopischen Charakter nur partiell die europäische moderne Gesellschaft widerspiegelt. Der Augenzeuge wie auch der arme Verschwender

2

Becker: Maschinentheorie oder Autonomie des Lebendigen?, S. 252f.

3

Vgl. z.B. Kindt: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne, S. 158.

4

Längle: Ernst Weiß, S. 102.

5

Ebd., S. 223.

6

Vgl. Weiß: „Einerlei, ich will mein Leben vorerst bis zu jenem Tage Ende Oktober oder Anfang November 1918 in kurzen Zügen darstellen. Nüchtern und klar, schmucklos und möglichst wahrheitsgetreu.“ (Weiß: Der Augenzeuge, S. 7.)

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spielen dagegen in Deutschland bzw. in Österreich, sie sind in einem ähnlichen Zeitrahmen angelegt und ihre Protagonisten weisen entscheidende Übereinstimmungen in ihrem Charakter auf, wodurch die Romane sich in ihrer Thematisierung der Identitätsproblematiken des Individuums ergänzen. In diesen ‚Pseudobiographien‘7 oder ‚fiktiven Autobiographien‘8 schildert Weiß jeweils das Leben eines Menschen von seiner Kindheit bis zu seinem (wahrscheinlichen) Tod. Weiß gab in einem Brief an, er habe im Roman Der arme Verschwender keine außergewöhnlichen Figuren oder Ereignisse darstellen wollen, sondern es sei „mehr der Ton der Erzählung und die alltägliche bittere Wahrheit der Tatsachen, die [er] darzustellen versuch[]e.“9 Ähnliches gilt auch für den Augenzeugen, der keine herausragende Persönlichkeit ist,10 sondern eher durch Zufall in die Lage kommt, einen gewissen Einfluss auf das Weltgeschehen auszuüben, indem er im Ersten Weltkrieg den Gefreiten A.H. (der selbstverständlich auf Hitler verweist, jedoch nicht vollständig mit der historischen Person gleichgesetzt werden darf, sondern eine fiktionale Projektion darstellt) von einer hysterischen Blindheit heilt und hiermit gewisse Macht über ihn und Einsicht in seine Massenwirkmächtigkeit erlangt. Weiß wählt somit durchschnittliche Charaktere, die paradigmatisch für das Gruppenschicksal derjenigen Generation gelten können, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg ihr Erwachsenenalter erreicht und den Niedergang der alten Mächte und Normen unmittelbar miterlebt; ihre Erlebnisse und Erfahrungen erscheinen jedoch aufgrund der personalisierten Erzählhaltung, der Unfähigkeit der Protagonisten, ihre Probleme zu kommunizieren, und ihr berufliches wie menschliches Scheitern als Einzelschicksal, das alleine getragen werden muss. Gemeinsam ist den Romanen weiterhin das Vorhandensein des Vater-Sohn-Konfliktes und ihre Entstehung im Exil, die hier eines Kommentars bedürfen, da sie jeweils zu nur bedingt Geltung beanspruchenden autobiographischen Analysen verführen können. Die autodiegetische Erzähltechnik und die in Weiß’ späten Romanen stark verhandelte Auseinandersetzung der Protagonisten mit ihren Vätern hat, in Verbindung mit der leitmotivischen Rekurrenz dieses Topos’ in Weiß’ anderen Werken, die Forschung dazu verleitet, vor allen Dingen in Bezug auf den armen Verschwender die

7

Die Bezeichnung stammt von Hermann Kesten, vgl. Engel: Nachwort (Der Augenzeuge),

8

Vgl. Haas: Der Dichter von der traurigen Gestalt, S. 243.

S. 294. 9

Zitiert nach Engel: Nachwort (Der arme Verschwender), S. 488.

10

Vgl. auch die Rezension von Heinz Liepmann in der FAZ 1963 über den Augenzeugen: „Ein Thema, das vom Alltag eines Menschen handelt und doch, scheinbar unbeabsichtigt, eine ganze Epoche präsentiert.“ (Zitiert nach Engel: Nachwort (Der Augenzeuge), S. 291.)

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Vater-Sohn-Problematik bevorzugt zu behandeln.11 Dies erscheint nicht verwunderlich, da neben der vorherrschenden Thematik im Roman sich auch problemlos weitere Verbindungen zu dem in den 10er und 20er Jahren für die Literatur häufig als paradigmatisch bezeichneten Generationenkonflikt ausmachen lassen, nämlich sowohl stilgeschichtlich, in Anlehnung an Weiß’ frühe Schaffensperiode im Expressionismus, als auch sozialgeschichtlich und biographisch, angesichts von Weiß’ Verbindungen zu Prag und Prager Literaten, allen voran Kafka,12 denen eben gerade diese Motivik immer wieder – ob berechtigt oder nicht sei an dieser Stelle dahingestellt – als für ihre Werke konstituierend unterstellt wird. Tatsächlich spielt die Bindung zum Vater und die Konflikte, die mit ihm ausgetragen werden müssen, eine entscheidende Rolle in den Romanen und sie hat auch nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das spätere Sozialverhalten und die Kommunikationsstrategien der Protagonisten sowie auf ihre allgemeine Weltwahrnehmung. Problematisch wird jedoch der Fokus auf den Generationenkonflikt, wenn durch ihn andere Themenbereiche der Texte ausgeblendet werden oder wenn die Analyse gar nach autobiographischen Zusammenhängen sucht,13 da die Vater-Sohn-Problematik lediglich den Startpunkt einer Untersuchung der Integrationsmöglichkeiten des autodiegetischen Erzählers bzw.

11

So bezeichnet z.B. Pazi Weiß’ letzte Schaffensperiode (seit 1928) als eine, „in der zwei Merkmale hervortreten: die äußere Form der Ich-Erzählung und das Kernmotiv des Vater-Sohn-Verhältnisses.“ (Pazi: Staub und Sterne, S. 83.)

12

Pazi betont ausdrücklich die Gemeinsamkeiten zwischen Kafka und Weiß, die sich auch persönlich gekannt haben und zeitweise sogar befreundet waren, in der Behandlung des Vater-Sohn-Konflikts. Am Beispiel des Armen Verschwenders macht sie in diesem Zusammenhang auf den Namen des Vaters des Protagonisten aufmerksam: Maximilian K. (Vgl. ebd., S. 89.)

13

Vgl. etwa die stark autobiographische Deutung der Werke von Ernst Weiß bei Lattmann: Posthume Wiederkehr. Der Vater Ernst Weiß’ ist sehr früh verstorben und bereits Pazi stellt fest, dass eine autobiographische Deutung des Vater-Sohn-Konfliktes in Weiß’ Romanen der Überprüfung nicht standhält: „Über die Beziehung Ernst Weiß’ zu dem Vormund ist nichts bekannt und es besteht kein Grund für die Annahme, daß dieser Vormund oder ein anderes männliches Familienmitglied in seinem Leben die Rolle gespielt hätte, deren Nachwirkung sich in den Vatergestalten seiner letzten Romane absetzt.“ (Pazi: Ernst Weiß, S. 2.) Dagegen stimmen die Erfahrungen Ernst Weiß’ mit den Schwierigkeiten, durch den Arztberuf das Überleben zu sichern, mit denen des Armen Verschwender überein. Vgl. die Selbstaussage Weiß’: „Im Jahre 1911 kehrte ich nach Wien zurück […], ging dort an die Klinik und wollte mit Medizin Geld verdienen. Aber ich lernte es nie, und die Medizin wurde für mich nie zu einer Geldquelle. Ich lebte in sehr schlimmen Verhältnissen, und als erwachsener Mensch mußte ich noch meine Verwandten um Unterstützung bitten – jetzt wo ich mit Arbeit überlastet war, wo ich täglich zwölf Stunden

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der Ausbruchsversuche aus vorgeschriebenen Gesellschaftsstrukturen und -bindungen bietet, die sich nicht auf den Vaterkonflikt reduzieren, sondern sich auf das Verhältnis des Protagonisten zu den ihn umgebenden Figuren auswirken. Die Romane Der Arme Verschwender (1935/36) und Der Augenzeuge (1938/39) sind im Exil entstanden, zu einer Zeit, in der sich Ernst Weiß nach einem längeren Aufenthalt in Prag zur Pflege seiner kranken Mutter bereits in Paris befand, wo er 1940 kurz vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten Selbstmord beging.14 Die Verzweiflung und Einsamkeit, die Ernst Weiß zu dieser Tat trieben und von seinen Zeitgenossen und Bekannten an ihm wahrgenommen wurden, hatten ihn wohl damals bereits zu Teilen ergriffen. Eine Textstelle aus einem Brief an Stefan Zweig verführt dazu, das Schicksal des Autors konkret mit der Thematik seiner späten Romanen zu verknüpfen: „Ich bin sehr allein, obwohl es an Gesellschaft nicht fehlen würde, wenn ich es darauf abgesehen hätte, aber die meisten sagen mir nichts.“15 Pazi folgt dieser autobiographischen Deutung und schreibt, das Exil spiegle

am Operationstisch und im Krankenhaus verbringen mußte.“ (Zitiert nach Wondrák: Einiges über den Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß, S. 23.) 14

Anna Seghers hat die Geschichte des Romanmanuskripts Der Augenzeuge nach dem Tode Weiß’ in dem Roman Transit fiktional verarbeitet. Hier soll der Protagonist einen Brief an den Schriftsteller Weidel, der starke Gemeinsamkeiten mit Ernst Weiß aufweist, zustellen. Weidel hat sich jedoch bereits das Leben genommen, so dass der Ich-Erzähler nur dessen Koffer ausgehändigt bekommt, in dem sich das Manuskript eines Romans befindet. Das Schicksal der Figuren des hinterlassenen Romans kommt dem Protagonisten beim Lesen bekannt vor durch ihr „blödes Auf-den-Leim-gehen, durch ihr Hineinschlittern in ein Schicksal […] bis zu dem Punkt, wo alles kam, wie es kommen mußte.“ (Seghers: Transit, S. 26.) In Transit bleibt der Roman ein Fragment, tatsächlich hatte Ernst Weiß die erste Fassung des Textes bereits 1938, ebenso wie Alice Rühle Gerstel ihren Roman Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit, bei einem Preisausschreiben der American Guild for German Cultural Freedom eingeschickt, wo allerdings keiner der beiden Romane gewann; als Begründung für die Ablehnung des Augenzeugen wurde der „allzu plakative[] Bezug auf Hitler und die – scheinbar – zu gradlinige politische Entwicklung des Helden zum Spanienkämpfer“ angegeben. (Trapp: Der Augenzeuge – ein Psychogramm, S. 16.) Diese frühe Fassung ist die einzige erhaltene des Romans und wurde erst 1963 veröffentlicht.

15

Brief von Ernst Weiß an Stefan Zweig vom 8.6.1939, zitiert nach Längle: Ernst Weiß, S. 49.

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sich in der seelischen Vereinsamung seiner Romangestalten wider. Versuche der Liebes- und Freundschaftsbeziehungen können – da diese sich stets als trügerisch erweisen – die Verkapselung des Ichs nicht aufhalten; das Ende sieht die Erzähler in völliger Isoliertheit, in einer seelischen Einöde, die ohne Bitterkeit als Strafe erduldet wird.16

Der Zeitraum der Handlung des Romans Der arme Verschwender reicht jedoch nicht über das Jahr 1928 hinaus, der Protagonist ist somit nicht der Erfahrung des Exils ausgeliefert. Die Vereinsamung und die gesellschaftlichen Konflikte des Subjektes ergeben sich dementsprechend nicht aus dem Exil heraus, sondern haben ihre Wurzeln in der Vor- und Zwischenkriegsgesellschaft; auch im Augenzeugen, wo die Problematiken des Exils geschildert werden, entstehen die Konflikte nicht ausschließlich aus der Exilsituation heraus, sondern deuten sich bereits in der gesamten Vorgeschichte an. Wollte man an dieser Stelle eine autobiographische Deutung der Romane vornehmen, so ließe sich diese nur in dem Sinne verstehen, dass das Exil Ernst Weiß’ Blick für die Konflikte und Problemstellung des Individuums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und die Gefahren, die sich daraus für eigene und kollektive Identitäten ergeben (wie etwa die Isolation des Individuums einerseits und faschistische Massenerscheinungen andererseits), geschärft haben mag.17 Der arme Verschwender, der zu Großteilen im ehemaligen Österreich-Ungarn spielt, lässt sich damit auch nicht in eine Reihe mit den Texten von Autoren stellen, welche in der Zwischenkriegszeit und im Exil die k.u.k.-Monarchie nostalgisch beschwören,18 da die Probleme, mit denen der Protagonist zu kämpfen hat, bereits in seiner Kindheit angelegt

16

Pazi: Staub und Sterne, S. 91. Sie führt weiter aus, dass die „Neurose des Autors […] in ihrer Entwicklung in den Ich-Gestalten reflektiert ist“ und die Funktion der Verlegung der Handlung in die Vorkriegszeit „nicht die Bewältigung der Vergangenheit, sondern die Beschwörung der Gegenwart“ sei. (Ebd., S. 91.) Diese Deutung ist jedoch zu stark autobiographisch motiviert; indem sie das persönliche Schicksal des Autors auf die literarischen Figuren projiziert, nimmt sie diesen ihre fiktionale Potenz.

17

Vgl. auch Adler: „Weiß bezieht damit nicht nur aus dem Exil zu den tagespolitischen Geschehnissen in Deutschland Stellung, sondern spannt den Bogen vom positivistischsozialdarwinistischen Zeitalter zu Hitlers menschenverachtender Gewaltherrschaft.“ (Adler: Vom “Roman expérimental“ zur Problematik des wissenschaftlichen Experiments, S. 151.)

18

Wie es etwa Haas vorgenommen hat: „Weitgehende Übereinstimmung herrschte in den dreißiger Jahren zwischen Roth und Weiß in der Beurteilung politischer Fragen, in der verklärenden Beschwörung der Monarchie, in ihrem resignativen Konservatismus, der die altösterreichische Welt trotz ihrer Morbidität und Dekadenz als verlorenes Ideal literarisch auferstehen ließ“. (Haas: Der Dichter von der traurigen Gestalt, S. 215f.) Eher trifft Haas es mit der Analogie zwischen Österreich und dem Protagonisten des Armen

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sind. Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs sowie des Niedergangs der Monarchie stellen zwar eine entscheidende Erfahrung im Leben des Protagonisten dar, jedoch markieren diese keine klare Zäsur, sondern verlaufen im Rahmen einer Entwicklungslinie, die sich bereits in der Monarchie abzeichnet. Der Ich-Erzähler ist somit nicht nur ein „Vertreter der durch den Weltkrieg heimatlos gewordenen verlorenen Generation“,19 sondern auch einer Generation, die bereits in der altösterreichischen Monarchie keinen ihr zugehörigen Platz mehr finden konnte. 5.8.1 Der arme Verschwender Obwohl sowohl im Armen Verschwender als auch im Augenzeugen die historische Verortung des Romangeschehens eine bedeutsame Rolle spielt, vollziehen sich die Problematiken der Protagonisten in ihrer Suche nach einer Zugehörigkeit im Rahmen eines sehr engen gesellschaftlichen Geflechts. Weiß legt den Schwerpunkt der Betrachtung nicht auf eine Analyse der modernen öffentlichen Gesellschaft, sondern auf die Beziehungen der Protagonisten mit den sie unmittelbar umgebenden Figuren der Romane, die in der Regel aus dem Umfeld der Familie, Freunde oder Kollegen stammen. In der Interaktion des armen Verschwenders mit anderen Figuren und in den Konflikten seiner Bindungen nehmen zum einen Auflehnungs- und Unterwerfungsbestrebungen, die in der Beziehung zum Vater in der Kindheit beginnen, einhergehen mit Machtphantasien und sowohl ausübender als auch masochistisch anmutend erduldender Art sind und sich schließlich auch auf seine Jugendfreunde, Geschwister und Geliebten ausdehnen, und zum anderen die Kommunikationssituation bzw. Kommunikationslosigkeit im Roman eine bedeutende Rolle ein. Hierbei werden zwei Tendenzen deutlich, die den Roman durchziehen und Aufschluss darüber geben können, warum der Protagonist in der modernen Welt und gleichzeitig zwangsläufig jegliche Beziehung, die er aufbaut, scheitern müssen und er als Folge immer mehr isoliert wird. Diese Tendenzen sind charakteristisch für Ernst Weiß’ spätes Erzählwerk und fügen sich in die untersuchte Problematik des Individuums in den deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen der Zwischenkriegszeit ein: Die innere Zerrissenheit des Protagonisten zwischen einerseits dem Anspruch, ein gottähnliches Individuum zu sein und selbst zu lenken, und andererseits dem inneren Drang, gesichtslos in der Masse unterzutauchen und sich lenken zu lassen, begründet das Scheitern des armen Verschwenders in seinen zwischenmenschlichen und beruflichen Beziehungen. In ihrer Studie Ernst Weiß – Vatermythos und Zeitkri-

Verschwenders: „Ein Österreicher als Sachverständiger des Untergangs steuert geschickt an allen Rettungsmöglichkeiten vorbei direkt auf den Abgrund zu.“ (Ebd., S. 226.) 19

Ebd., S. 230.

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tik stellt Längle Zusammenhänge zwischen Ernst Weiß’ wenig homogenen essayistischem Werk und seinen Romanen her, bedeutsam für diesen Zusammenhang ist vor allem ihre Herausarbeitung der Weiß’schen Aussagen zu den gegensätzlichen Reaktionen des Subjekts auf die Herausforderungen einer Industrie- und Massengesellschaft, nämlich der Idealisierung des Individuums auf der einen und der Auflösung in ein Kollektiv auf der anderen Seite: Als Komplementärströmung zum Kult des Individuums tritt bei Weiß ein Zug in Erscheinung, den man als Sehnsucht nach Transzendierung des Ich und Integration in einer höheren Totalität bezeichnen könnte und der seine Wurzeln in der extremen Isolation des einzelnen und in der Orientierungs- und Bindungslosigkeit der Nachkriegszeit hat.20

Beide Optionen scheinen im Protagonisten des Armen Verschwenders im ständigen Widerstreit zu liegen, was die Tragik der Person besiegelt: Hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, dem allmächtigen Vater im Bereich des gottähnlichen Arztberufes gleichzukommen und somit unverwechselbare Individualität in Verbindung mit Macht zu erlangen und der Versuchung, sich der Macht des Vaters, aber auch nicht minder der Frauenfiguren und der bürgerlichen Gesellschaft an sich zu beugen und somit unter der Führerschaft stärkerer Persönlichkeiten in die Gesellschaft und Familie integriert zu werden, erringt der Protagonist weder das eine noch das andere; sein Ende nach dem Aufreiben zwischen den Orientierungsinstanzen ereilt weder ihn noch den Leser unerwartet. Dies wird nicht nur textimmanent an mehreren Stellen thematisiert, sondern verweist auch auf den zeit- und kulturgeschichtlichen Zwiespalt zwischen konkurrierenden Weltauffassungen und ästhetischen Konzepten. Wie Längle hervorhebt, ist Weiß zunächst der Vorstellung der autonomen Persönlichkeit und des Stolzes auf die Individualität in der Tradition Goethes und Nietzsches verpflichtet, „[i]n seinen späten Romanen setzt er sich allerdings kritisch mit dem Ideal des „Übermenschen“ auseinander, der meist in der Gestalt des nach ‚Gottähnlichkeit‘ strebenden Arztes auftritt.“21 Die alten Lebensauffassungen sind somit aus den Fugen geraten, die Konzentration auf das Individuum als Genie, das autonom und keinen Zweifeln an der eigenen Identität unterworfen ist, wird in Frage gestellt, ohne dass eine definitive Zusage an ein Gegenmodell erfolgt. Die Konsequenz ist ein Changieren im Zwischenraum der Pole des autarken Individuums und des, einer höheren Führergestalt, Macht oder Masse folgenden, Kollektivmenschens, das zum Scheitern verurteilt ist; die Erfahrungen des Protagonisten können so in gewisser Weise paradigmatisch für den wurzellosen modernen Menschen einstehen.

20

Längle: Ernst Weiß, S. 41.

21

Ebd., S. 41.

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Die Isolation des Protagonisten rührt jedoch nicht nur aus seiner inneren Spaltung zwischen Identitätskonzepten, sondern ebenso aus einer scheiternden, von Missdeutungen und Missverständnissen dominierten Kommunikationssituation her, die es ihm nicht ermöglicht, als integrierter Bestandteil seiner Umwelt durch sein Handeln berufliches Glück und zwischenmenschliche Erfüllung zu erreichen. Der arme Verschwender, ähnlich wie auch der Augenzeuge, arbeitet ständig, wenn auch unbewusst, seinem eigenen Unglück in die Hände, nicht durch Sünde (in den Romanen Weiß’ spielt die Religion zwar eine kleine, doch nicht zu unterschätzende Rolle, jedoch wird der Katholizismus in seiner inhumanen Ausübung der Frommen entlarvt), sondern durch ein profundes Unverständnis der ihn umgebenden Welt. Dieses Prinzip, das sich durch den gesamten Roman zieht, begegnet dem Protagonisten bereits in seiner Jugendzeit, verdeutlicht in der Beschreibung einer Mathematikarbeit in der Schule, die einen größeren Raum einnimmt und daher einer genaueren Betrachtung wert erscheint. Drei Aufgaben werden gestellt, bei der Lösung der ersten Aufgabe stößt der Protagonist bereits an seine Grenzen, kommt immer wieder auf ein Ergebnis, das, wie er glaubt, nur falsch sein kann. Schließlich widmet er sich den anderen Aufgaben, die er, wenn auch langsam, zu lösen vermag. Am Ende muss er jedoch konstatieren: „Als wir in der Zehnuhrpause die Resultate verglichen, stellte sich heraus, daß sowohl die zweite als die dritte Aufgabe von mir falsch gelöst waren, die erste aber, an deren Resultat ich nicht hatte glauben wollen in meiner wahnsinnigen Ungeduld, war richtig gewesen.“22 An dieser Stelle geht es kaum nur um harmlose Mathematikaufgaben, zumal das „aufrührende[], herrlich schreckliche[] Erlebnis in der Mathematikstunde“23 die zunehmenden Konflikte mit dem Vater einläutet, sondern vielmehr um die Tragik des Protagonisten als eines einsamen Menschen in einer nicht mehr begreifbaren, unverständlichen Welt. Denn auch später stellen sich die Dinge, die als richtig erscheinen, als Trugbilder heraus, und die dem Protagonisten unsinnig vorkommenden Verhaltensweisen und Geschehnisse erweisen sich von seiner Umgebung und der Welt, in der er sich bewegt, als folgerichtig wahrgenommen, als seien sie unumstößlich wie mathematische Gesetze. Dementsprechend sind die Deutungen und Reaktionen des Protagonisten auf die Ereignisse um ihn herum auch jeweils ‚falsch‘ und tragen weiter sowohl zu seinem Unglück als auch zu seiner zunehmenden Vereinsamung bei. Wenn auch im Einzelnen die Gründe für das Scheitern des Protagonisten differenzierter dargestellt werden, so lassen sich doch sowohl sein berufliches Scheitern als auch, und dies ist noch entscheidender, seine problematischen menschlichen Beziehungen hierauf zurückführen. Das Missverstehen, bzw. die Unmöglichkeit des Verstehens der Welt und die Missinterpretation der Ver-

22

Weiß: Der arme Verschwender, S. 44.

23

Ebd., S. 45.

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haltensweisen ihrer Akteure gipfeln in fehlgeleiteter Kommunikation und dem Gefühl, selbst konsequent missverstanden zu sein, was eine Isolation des armen Verschwenders zur Folge hat. Der Roman kann somit auch nicht mit einer wie auch immer gearteten (Wieder-)Herstellung eines Glückes enden, sondern lediglich mit einem Gefühl der Ruhe, das im Tod ausläuft, als sich der Protagonist entscheidet, sich von der Welt und dem Handeln in ihr zu lösen. Der Arme Verschwender beginnt mit den Kindheitserinnerungen des Protagonisten, wobei beinahe ausschließlich die Erlebnisse geschildert werden, die entweder bedeutsam für die Entwicklung des Berufswunsches Arzt sind, oder diejenigen, die zum ersten eindeutigen Bruch mit dem Vater führen (wobei die beiden Aspekte miteinander verbunden sind).24 Längle hebt die Bedeutung der Kindheit des Erzählers für dessen weitere Entwicklung hervor, indem sie, auf Freud verweisend, auf den lebenslangen inneren Konflikt des Protagonisten zwischen Über-Ich und schwachem Ich hinweist. Das Über-Ich entstehe durch die Identifikation des Ichs mit der Vaterfigur, nachdem der Protagonist diese rebellisch zurückweise, bleibe es als Ich-Ideal beständig und sogar verstärkt bestehen und zensiere das schwache Ich mit „außerordentlicher Härte und Strenge“.25 In der Kindheit des Protagonisten sieht Längle die Auflösung des Ichs in einer höheren Totalität, indem der Erzähler sich in „einer quasi symbiotischen Einheit und totalen Identifikation mit dem Vater“26 befindet. Diese Situation ist zu Beginn des Romans durchaus gegeben, so beginnt der Erzähler seinen Bericht doch mit seinem ersten Schreibversuch, in dem er nicht etwa originell etwas eigenes schafft, sondern einen Artikel des Vaters reproduziert, dies jedoch vor allem deswegen tut, weil er unter dem Artikel den Namen seines Vater und aller Wahrscheinlichkeit nach auch seinen eigenen findet: „es war unser Name, der Name meines Vaters, ohne Angabe des Titels einfach Maximilan K.“27 Die Leistung des Vaters wird somit auch als eigenes Verdienst betrachtet, die Identifikation mit dem Vater befreit den Protagonisten von der Bürde eigenen originellen Schaffens und Denkens. Jedoch hat dieser Zustand einer „regressiven Utopie einer konfliktfreien Kindheit, in

24

Schließlich führt erst die Begegnung mit einem Irren zur einsetzenden Verschwendung des Geldes, das dem Protagonisten vom Vater zum Sparen anvertraut wurde, die Bewusstwerdung der Macht des Arztes läutet die ersten Anzeichen von Größenwahn des Protagonisten gegenüber seinem Freund Perikles ein und das dem Vater entwendete Buch über die Geisteskrankheiten verbrennt teilweise während eines Streits über das schlechte Zeugnis.

25

Vgl. Längle: Ernst Weiß, S. 136f., hier S. 137.

26

Längle: Ernst Weiß, S. 216.

27

Weiß: Der arme Verschwender, S. 7. (Kursiv im Original.)

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der der einzelne in einer höheren Totalität aufgehoben ist“28 nicht so lange Bestand wie Längle dies darstellt, sondern ist bereits in diesem frühen Stadium des Lebens des Protagonisten und seiner Erzählung gebrochen, wenn dies auch noch nicht zu offener Rebellion führt. Diese bahnt sich jedoch in Momenten an, in denen eine gewisse Schwäche des Vaters gespürt wird, so zum Beispiel als dieser ihm ein Vertrauen entgegenbringt, von dem der Protagonist selbst spürt, dass er es nicht verdient und immer wieder missbrauchen wird: „Er nahm mich ernst und er vertraute mir immer wieder. Manchmal hätte ich ihm – wie soll ich es nennen? – widerstreben mögen. Ich hätte meiner Mutter mehr beistehen können. Ich konnte es nicht.“29 Die Zeit zum Widerstreben ist in diesem frühen Stadium noch nicht reif, aber an dieser Stelle wird nicht nur die ödipale Grundsituation heraufbeschworen, in welcher der Sohn seine Mutter gegen den Vater verteidigt (wozu es im Verlaufe des Romans auch nicht kommen wird, obwohl der Roman immer wieder Anspielungen in diese Richtung bietet30 und sich die Konkurrenz zum Vater im späteren Verlauf der Erzählung auch auf die sexuelle Potenz bezieht), sondern hier wird auch bereits der Wille zur Überhöhung des eigenen Ichs und der Herausbildung einer eigenen starken Individualität als ‚Führer‘ offenbar, die sich im folgenden durch den immer wieder thematisierten Größenwahn des Protagonisten offenbart. Nicht zufällig werden im darauf folgenden Absatz die Kämpfe mit den Klassenkameraden geschildert, bei denen der Erzähler „natürlich auch einer der Führer war“,31 und in deren Folge er sich gegenüber seinem Freund als Imperator stilisiert. Somit sind bereits zu Beginn des Romans beide Möglichkeiten des Bestehens des Subjekts in der Gesellschaft geschildert: einerseits die Unterordnung unter einen ‚Führer‘, die zwar die Befreiung von eigener Verantwortlichkeit und originellem Schaffen, gleichzeitig aber auch die Aufgabe der eigenen Individualität mit sich bringt, und andererseits die Überhöhung des eigenen Ichs, die Gewalt über andere verspricht, aber auch die Notwendigkeit der vorangehenden Machtkämpfe und der Profilierung der eigenen Identität beinhaltet. Dass beide Modelle für den Protagonisten in seinen sozialen Kontakten problematisch sind, lässt sich an seinen zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Familie, zu seiner Ehefrau und Geliebten sowie zu seinem Schulfreund Perikles ablesen, den Ausgang nimmt dies jedoch in

28

Längle: Ernst Weiß, S. 216. Dies erinnert auch an die moderne Massenpsychologie im Bezug auf die Teile der Masse, die nicht mehr als Individuen, sondern nur noch als Bestandteil eines Kollektivs existieren (vgl. z.B. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 17).

29

Weiß: Der arme Verschwender, S. 10.

30

Vgl. z.B. das Capricepölsterchen, ein Geschenk der Mutter, das, mit ihrem Parfüm ge-

31

Weiß: Der arme Verschwender, S. 10.

tränkt, die ersten sexuellen Regungen beim Protagonisten hervorruft.

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den frühen Auseinandersetzungen mit dem Vater. Eine zweideutige Aussage des Protagonisten soll hier als Hinweis darauf dienen: Nachdem sein Mitschüler Robert, später Perikles, ihm im Kampf auf die Hand tritt, droht der Erzähler ihm: „Ja, mit dem schwarzen Augenspiegel komme ich, der meinem Vater gehört, und du wirst ganz blind, Schengler, du.“32 Die Macht über andere und eine gottähnliche Überhöhung des Ichs (schließlich gibt er vor, entscheiden zu können, ob der andere sehen soll oder nicht) kann der Protagonist nur erreichen, indem er sich mit den Insignien des Vaters schmückt und, vielmehr noch, indem er als Personifikation und totale Identifikation als Bestandteil des Vaters auftritt (nämlich nicht nur mit dem Spiegel des Vaters, sondern auch als „ich, der meinem Vater gehört“). Die Entwicklung vom einen Modell des Subjekts ins andere bleibt also auf halbem Wege stecken, die rebellische Loslösung vom Vater bleibt immer an die Übermacht des Vaters gebunden.33 Diese Übermacht verweist auf eine neue Sichtweise des Generationenkonflikts, die sich erheblich vom Selbstverständnis der jungen Generation im Expressionismus (und somit auch des jungen Ernst Weiß’) unterscheidet und der veränderten Sichtweise der Retrospektive aus dem Exil Mitte der 30er Jahre geschuldet ist. Pazi sieht den Ursprung der Vater-Sohn-Konflikte bei den Autoren des ‚Prager Kreises‘ im Unterschied zur Entwicklung in der Literatur des deutschen Expressionismus nicht in einer Auflehnung gegen den Staat und wirtschaftliche Missstände, sondern im Lebensentwurf: Wenn es dennoch in der Literatur dieser Autorengruppe eine in Richtung des Vaterhasses tendierende Nuance gab, entsprang sie einem anderen Moment. Die Loslösung von der Tradition

32

Ebd., S. 13.

33

Die Schwierigkeiten, die sich beim Versuch der Loslösung eines Individuums aus dem ‚Archetypus‘ der Familienstrukturen ergeben, beschreibt C.G. Jung in seinem Aufsatz Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen. Er macht darauf aufmerksam, dass diese nicht nur für ‚Neurotiker‘ oder ‚Degenerierte‘ gelten: „Die Einen befreien sich Schritt für Schritt unter beständigem Kampfe gegen die unsichtbaren Mächte aus den Klauen des Dämons, der die Ahnungslosen von einem brutalen Schicksale ins andere zwängt; die anderen bäumen sich auf und gewinnen das Freie, um später, von der Schlinge der Neurose eingefangen, auf ihre alten Pfade zurückgeführt zu werden.“ (Jung: Die Bedeutung des Vaters, S. 25f.) Wenn auch die Beispiele, die Jung einzeln nennt, keine Analogien zum Vater-Sohn-Verhältnis im Armen Verschwender aufweisen, so lässt sich doch anhand der Schlussfolgerung, zu der Jung kommt, die Problematik der endgültigen Loslösung des Protagonisten vom Vater und dessen beständiger Einflussnahme auf das Leben und das Verhalten (auch wenn ihm dies nicht immer bewusst ist) des Protagonisten nachvollziehen.

370 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM der Familie war in vielen Fällen gleichbedeutend mit der Aufgabe des „Brotberufes“. Hier stießen die Söhne auf entschiedenen Widerstand. […] Die Söhne sahen keinen Sinn in der Fortsetzung der väterlichen Ambitionen zu ökonomischem Aufstieg.34

Diese Ausführungen erweisen sich jedoch für die Interpretation des im Armen Verschwender dargestellten Generationenkonflikts als nicht ganz zureichend. Denn hier versucht der Protagonist, in die beruflichen Fußstapfen des Vaters zu treten, wird jedoch von diesem als nicht talentiert, ausdauernd und leidensfähig genug zurückgewiesen. Dies verweist auf eine Umkehrung der im Expressionismus dargestellten Konstellation des schwächlichen Vaters und des tatendurstigen Sohnes und markiert die Auseinandersetzung mit den Problemen der jüngeren Generation, die keinen festen Stand mehr in einer aus den Fugen geratenen Welt besitzt und diesen auch nicht durch Tatendrang erlangen kann (dies können nur die Negativbeispiele der Radikalen, in diesem Falle Perikles, der in Teilen ähnlich Charakterzüge wie die Figur des A.H. im Augenzeugen trägt). In diesem Kontext nimmt auch der Vater eine neue Funktion ein: Verkörpert der Vater einerseits den erdrückenden Aspekt der Autorität und trat er in dieser Funktion in einer Vorkriegsgesellschaft in Erscheinung, so erscheint er nun in einer Zeit allgemeiner Unsicherheit als das Wunschbild einer abwesenden und deshalb ersehnten helfenden Führerfigur und als Garant für feste Werte.35

Diese Vorstellung bleibt jedoch im Armen Verschwender nur eine Wunschprojektion, da der Vater als gefühlskalter Charakter auftritt. Seine Autorität erscheint dem Protagonisten bis zum Zeitpunkt des Schlaganfalls des Vaters als unbezwingbar, aber auch folgerichtig aufgrund der gottähnlichen Fähigkeiten des Vaters. Dessen Arroganz jedoch ergibt sich genau betrachtet nicht nur aus dem Glauben an seine eigene Vormachtsstellung und sein Können, sondern ebenso sehr aus einem Gefühl des Neides und der Angst heraus, das Zepter aus der Hand geben und der jüngeren Generation überlassen zu müssen. Er glaubt an die Gültigkeit autoritärer Strukturen und leitet aus ihnen und dem monarchischen Prinzip des Herrschertums seine eigene Macht innerhalb der Familie ab, denn „die Obrigkeit hat immer recht. Denn wer wollte sie hindern?“36 Sein Verhalten nach dem Krieg, in dem er zu den neuen Kräften im Staat überschwenkt und sich auch am Niedergang der Monarchie bereichert, widerspricht dem nicht, denn einer Autorität, die ihre Macht eingebüßt hat, bringt er keine Loya-

34

Pazi: Ernst Weiß, S. 80f.

35

Längle: Ernst Weiß, S. 190.

36

Weiß: Der arme Verschwender, S. 166.

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lität entgegen. Aus diesem Grunde ist der eigene Machterhalt sowohl in der Gesellschaft als auch in dem Mikrokosmos der Familie entscheidend. Der Sohn wird somit bewusst manipuliert und herabgesetzt, um dessen Konkurrenzpotential auszuschalten. Wie sich im folgenden Verlauf des Romans herausstellt, besitzt der Protagonist durchaus medizinisches Können, er erarbeitet wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse, von denen er jedoch aufgrund der Abhängigkeit von seinem Vater und der Vertrauensbrüche in seinem Umfeld nicht profitieren kann. Dennoch versucht der Vater, ihn von der Ergreifung des Arztberufes abzuhalten, indem er sein Selbstbewusstsein angreift und ihn herabsetzt: „Kannst du mir denn je ein gefährlicher Konkurrent sein? […] Kann man uns denn je miteinander verwechseln? Nein!“37 Der unbändigen Liebe, die der Protagonist ihm, zumindest in der ersten Hälfte des Romans bedingungslos entgegenbringt, begegnet er mit dem lapidaren und belehrenden Satz: „Du liebst zuviel“.38 Gefühlsregungen der älteren Generation werden unterdrückt, erscheint die Mutter zwar an einigen Stellen sensibel, so ist sie dies jedoch vor allen Dingen aus ihrer mütterlichen und weiblichen Funktion und Konstitution heraus, ihre Liebe zu ihrem Sohn erkaltet in Konfliktsituationen mit dem Ehemann oder in Krisensituationen um ihre eigene Körperlichkeit, etwa in Zeiten der späten Schwangerschaften. Obwohl der Protagonist verspürt, dass ein ‚wir‘-Gefühl im Sinne eines inneren Zusammenhaltes in der Familie ausbleibt oder zumindest in bestimmten Situationen ausgeschaltet wird,39 benötigt er gerade als Kind und Heranwachsender die Vorstellung, dass diese Einheit durchaus vorhanden ist. Dies führt zu den größten Konflikten in den ersten zwei Teilen des Romans, indem der Protagonist von der Ehrlichkeit und Integrität der Erwachsenengeneration innerhalb der Familie ausgeht, hierbei jedoch wiederholt durch Wortbrüche betrogen wird. Dies erscheint umso schlimmer, als aufgrund der Kommunikationsproblematik zwischen den Familienmitgliedern diese Vertrauensbrüche unerwartet erscheinen. Es handelt sich hierbei nicht um ein einfaches Missverstehen sprachlicher Äußerungen, sondern um ein angenommenes Von-Grund-Auf-Verstehen auch ohne Sprache, also um eine vorgebliche Familien- und hiermit Seelenverwandtschaft, die sich als trügerisch herausstellt.

37

Ebd., S. 162.

38

Ebd., S. 126.

39

Die Personalpronomen er, ihr, wir werden des Öfteren im Roman hervorgehoben und dienen regelmäßig entweder Gefühlsbekundungen oder aber bewusst der Exklusion eines Familienmitglieds, in der Regel des Protagonisten. Vgl. etwa die Reaktion des Vaters in der Situation um die angeblich gestohlenen Krawatten, die der Sohn von seinem eigenen Geld dem Vater zum Geschenk machen wollte: „„Wie konntest du? Hätten wir“ – er versöhnte sich wieder mit meiner Mutter, während sich eine tiefe Kluft leise zwischen mir und ihm auftat auf viele Jahre – „hätten wir dir nicht eine neue Krawatte geschenkt, wenn du darum gebeten hättest?““ (Ebd., S. 57. Kursiv im Original.)

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Ebenso wie im Augenzeugen verläuft Kommunikation mit nahe stehenden Personen häufig durch Schweigen (vom Vater wiederholt angemahnt: „Wenn du reden willst, so schweig!“)40 oder durch kleine, ritualisierte Handlungen (etwa das kleine Pflaster auf die große Wunde von der Mutter). Die für den Protagonisten hierbei angenommenen Implikationen und Verpflichtungen dieser nonverbalen Kommunikation werden jedoch von der Elterngeneration nicht eingehalten, da sie von diesen nie in einem bindenden Maße verstanden wurden und der Vater in keinem Moment von seinem Eigennutz und seiner Vorherrschaft in der Familie absieht, während die Mutter auf das Heil in der Familie bedacht ist, indem sie im Zweifelsfall immer zum Vater steht. Die Mutter lässt ihn demnach im Stich, nachdem sie die Unterschrift des Vaters gefälscht hat, das Kinderzimmer wird entgegen der Abmachung an die kleine Schwester Judith abgetreten und zu guter Letzt bricht auch der Vater sein Versprechen, dem Protagonisten zu helfen, Arzt zu werden. So sehr der Protagonist es auch versucht, innerhalb der eigenen Familie ein Zugehörigkeitsgefühl und Geborgenheit zu finden, muss er immer wieder darin scheitern. Für den Vater, der dem Protagonisten als Prototyp des gottähnlichen Individuums erscheint, hat der Sohn lediglich als untergeordnetes Familienmitglied, das bewundert und gehorcht, seine Daseinsberechtigung. Der Sohn allerdings, dem der Vater als Vorbild erscheint, strebt zur Nachahmung des Vaters und somit zur Konkurrenz, die nicht geduldet werden kann. Mit der Mutter kommt es dagegen zu einer Nebenbuhlerschaft um die Gunst des Familienoberhauptes, in der Verrat als ein adäquates Mittel zur positiven Selbstdarstellung von ihr eingesetzt wird. Im Laufe des Romans wird hierdurch die Vorstellung der Familie als Hort von Harmonie, gegenseitigem Verständnis und Liebe als Illusion entlarvt. Auf ähnliche Art und Weise wird der Protagonist zu späteren Zeitpunkten auch von Vally und Eveline betrogen, jedoch liegen die Vertrauensbrüche und die scheiternden Bindungen innerhalb der eigenen Generation etwas anders begründet. Die wichtigsten Beziehungen des Protagonisten außerhalb des engeren Familienrahmens sind diejenigen zu seiner Ehefrau Vally, der Geliebten Eveline und dem Schulfreund Perikles, die jeweils stellvertretend für einen Typus der Zwischenkriegsgesellschaft stehen und mögliche Rahmen bieten, innerhalb derer sich der Protagonist theoretisch von der starren Autorität und der Determiniertheit durch sein Elternhaus befreien und seiner zunehmenden Isoliertheit entkommen könnte. Die Verbindung mit Vally kommt durch eine jugendliche Leidenschaft zustande, die, auf Seiten des Protagonisten, auch nicht mehr ist als dies. Ihm ist von Beginn an klar, dass er Vally nicht liebt, der erste Kuss entsteht aus ‚Mitleid‘ und auch an späteren Stellen erklärt der Ich-Erzähler seine Zuneigung zu Vally mit diesem Begriff.41 Dass ihre Beziehung überhaupt weitergeführt wird und nicht nach einigen Nächten

40

Ebd., S. 33. (Kursiv im Original.)

41

Vgl. Weiß: Der arme Verschwender, etwa S. 171, 175 u. 199.

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endet, liegt an Vallys Verrat, ihrer zunächst vorgetäuschten Schwangerschaft. Bedeutend hieran ist jedoch nicht eine individuelle Entscheidung Vallys, sondern ihre Determiniertheit innerhalb des sozialen Komplexes sowie die Gründe, warum der Protagonist sich dafür entscheidet, sie zu heiraten, und wie es schließlich zum Bruch zwischen den beiden kommt. Als selbstbewusste und aufstrebende Angestellte im Dienstbotenverhältnis ist Vallys Schritt für sie nur folgerichtig und fügt sich in das latent im Roman vorhandene gesellschaftskritische Moment ein. Ein Liebesverhältnis zwischen dem Sohn des Hauses und dem Dienstmädchen, aus dem sich eine Ehe ergibt, wird vom Vater unter keinen Umständen geduldet, auf dem legitimen Weg ist somit kein Aufstieg für Vally möglich.42 Im Armen Verschwender gliedert sich diese Problematik eng an die Behandlung der sozialen Frage und die unterschiedlichen Auffassungen, die Vater und Sohn hierin einnehmen. Daher ist es auch kein Zufall, dass dem Bruch mit dem Vater aufgrund der vorgetäuschten Schwangerschaft im Roman eine Passage vorangeht, in der geschildert wird, wie der Vater auf den Vorschlag des Sohnes reagiert, die alternde Köchin den Aufzug benutzen zu lassen, denn er ist der Meinung: Wir sind keinesfalls da, die sozialen Unterschiede zu verwischen. Die Gesellschaft privilegiert uns, dank diesen Vorurteilen, wenn du willst. Unsere Pflicht ist es, sie, die Gesellschaft, wie sie nun einmal ist, zu erhalten. Der Dienstbote im herrschaftlichen Lift, das ist die Revolution.43

Dies gilt auch für Vally, die, obwohl sie mit der Familie lebt, durch die Ehrenbürgerschaft des Vaters des Protagonisten in ihrem Dorf privilegiert erscheint und von der Mutter sogar als ‚Freundin‘ und unentbehrlich betrachtet, nach dem Eklat der Schwangerschaft als ‚das Mensch‘ und ‚Hure‘ bezeichnet wird. Die Haltung des Vaters gegenüber dem Proletariat kommt an einigen Stellen in extremer Form zum Ausdruck und eine sozialkritische Komponente des Romans zeigt sich auch in der ständigen Thematisierung der Fixiertheit des Vaters auf das Monetäre. Der manipulative Charakter des Vaters wird an dieser Stelle deutlich, indem er dem Sohn nun anbietet, das Medizinstudium aufzunehmen, wenn er Vally fallen lässt. Die Entscheidung des Protagonisten, sich dem zu widersetzen, Vally zu heiraten und Unabhängigkeit, wenn auch in Armut, von seinem Elternhaus zu wählen, ist jedoch nicht als sozialkritische Auflehnung gegen die Haltung des Vaters zu verstehen. Diese wird zwar als falsch erkannt, doch bietet der Protagonist keine Alternative im Sinne eines ideologisch motivierten Handelns. Seine Entscheidung erfolgt aus einem unbestimmten Bedürfnis, das ‚Richtige‘ zu tun:

42

Vgl. allgemein zur Darstellung der Situation des Dienstpersonals in der Literatur des 20.

43

Weiß: Der arme Verschwender, S. 168.

Jahrhunderts Pauleweit: Dienstmädchen um die Jahrhundertwende.

374 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM Der Ich-Erzähler ist jedoch kein Sozialrevolutionär, der aufgrund einer Analyse der sozialen Verhältnisse Partei für die Unterdrückten ergriffe, er handelt vielmehr gefühlsmäßig und begreift sein Verhalten stets individuell und nicht im sozialen Kontext wie der Vater, doch gerade diese naive Emotionalität, die in Kontrast steht zur opportunistischen Rationalität des Vaters, macht ihn zum sozialen Nonkonformisten.44

Diese Nonkonformität seines Verhaltens wird dem Protagonisten wiederholt zum Verhängnis. Zum einen macht er sich durch sein gefühlsgeleitetes Handeln verletzlich, da er sich in einer Umgebung bewegt, in der entweder Egoismus oder ideologischer Radikalismus vorherrschen. Zum anderen begibt er sich außerhalb der ihm bekannten sozialen Gefüge in eine Lebenssituation, die er weder kennt noch versteht. Seine Verhaltensweise und Gefühlswelt sind für die Gesellschaft um ihn herum nicht nachvollziehbar, was ihn im Folgenden immer weiter isoliert. Der Vater erkennt sofort, dass die Haltung seines Sohnes keine revolutionäre Handlung ist, sondern lediglich seiner Empfindung entspricht, Vally nicht im Stich zu lassen, und tut dies als Gefühlsduselei ab, indem er sie ironisiert: „Sieh da, ei, ei, ei, ei, du hast also die soziale Frage individuell gelöst.“45 Diese Herabsetzung des Sohnes, die bislang als erzieherisches Mittel funktionierte, bleibt jedoch in diesem Moment erfolglos, da der Protagonist erstmals Standhaftigkeit beweist.46 Er nutzt die Möglichkeit, sich vom Elternhaus zu trennen und erkennt, dass er nun zum ersten Mal in seinem Leben frei ist und eigenen Besitz, nämlich einen Sohn, erlangen wird, was ihn gewissermaßen auf die Stufe seines Vaters stellt. Dieser Ausbruchsakt bleibt jedoch auf halbem Wege stecken, da der Protagonist sich nicht vollständig lösen kann. Als Vally ihn darauf aufmerksam macht, dass er nun „dem alten Satan aus den Händen“ ist, reagiert er schockiert, da er sie so über seinen Vater, den er „mehr als alles andere liebte“, sprechen hört.47 Diese unentschlossene Haltung und halbe Trennung vom Elternhaus äußert sich im Folgenden in einer Reihe von Konflikten, in denen der Protagonist zwischen zwei Stühlen sitzt und dementsprechend weder in der einen noch der anderen Umgebung eine Art innere Heimat finden kann, und kulminiert nach dem Bruch mit Vally und dem Vater in dem Gefühl der absoluten Isolation: „Ich hatte eben keine Frau, ich hatte keinen Vater, ich hatte keinen Beruf, denn die Augenheilkunde füllte mich nicht aus, ich hatte kein festes Vaterland, denn das alte große Österreich war

44

Längle: Ernst Weiß, S. 131.

45

Weiß: Der arme Verschwender, S. 187.

46

Dass der Vater damit nicht gerechnet hat, zeigt seine hysterische Reaktion, als seine Tochter Judith durch den Aufruhr im Haus und das Fortgehen Vallys einen Anfall bekommt. Er schreit: „Er [der Protagonist] hat sie mir umgebracht! Damit sein Hurenkind das Einzige ist!“ (Ebd., S. 189.)

47

Ebd., S. 195.

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dahin auf immer.“48 Diese Zerrissenheit zieht sich durch den gesamten Roman und verschärft sich noch durch seine Beziehung zu Eveline. In dem Versuch, es allen Recht zu machen, reibt sich der Protagonist physisch, psychisch und finanziell auf, ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer der möglichen Welten, deren Unvereinbarkeit immer deutlicher zu Tage tritt, kann somit nicht einsetzen.49 Als der Protagonist erfährt, dass Vally ihn belogen hat und erst zu einem späteren Zeitpunkt von ihm schwanger geworden ist, bricht der schwelende Konflikt zwischen dem ehemaligen Dienstmädchen und dem Bürgerssohn aus. Er reagiert fassungslos und möchte die sofortige Auflösung der Beziehung, wenn auch nicht der Ehe, während sie ihm, nur in gewissem Sinne zu Recht, eine Doppelmoral vorwirft, indem sie auf die Lügen seiner Eltern aufmerksam macht: „Deinem Vater verzeihst du alles, deiner Mutter verzeihst du den gebrochenen Eid, und mir nichts?“50 und dann: „Ja, […] die Herrschaft darf es, natürlich, der Dienstbot’ darf’s nicht. Ihr seid alle die Gleichen…“51 Doch ebenso wenig wie der Protagonist Vally aus sozialrevolutionärer Einstellung zur Frau genommen hat, ist sein Verhalten gegenüber Vally sozial bedingt. Er verzeiht seinen Eltern, weil er sie liebt und dadurch auch von ihnen abhängig ist, während er sich moralisch Vally, die er lediglich bemitleidet, überlegen glaubt und ihr daher nicht vergeben kann. Vally entwickelt sich im Laufe des Romans zu einer Figur, die dem Protagonisten möglicherweise Halt geben könnte, dies wird jedoch nicht angenommen. In ihrer Ausbeutung durch die gesamte Familie teilt sie das Schicksal des Protagonisten, ihm bleibt sie jedoch fremd: „Ich konnte mich ihr nicht anvertrauen. Wir lebten zusammen. Das war alles.“52 Stattdessen lebt er an ihr seinen Größenwahn aus, den er innerhalb der Familie nicht umsetzen kann, da er selbst nach dem Schlaganfall des Vaters untergeordnet bleibt und sich nicht aufzulehnen vermag. So greift er sie körperlich an (bezeichnenderweise von oben herab: „Ohne daß ich wusste, was ich tat, hatte ich die Marmorplatte des Nachtkästchens heruntergerissen

48

Ebd., S. 333.

49

Die Deutlichkeit, mit der sich das Proletariat vom gut situierten Mittelstand unterscheidet, tritt zu Tage, als der Protagonist, der sich während seines Studiums kaum ernähren und kleiden kann, seine Mutter und Schwester auf der Straße sieht: „Meine Mutter sah schön und gesund, aber fremd und etwas zu reich und hochmütig aus, Judith ging an der Hand eines neuen Kinderfräuleins, entzückend anzusehn in einem weichen Pelzchen aus Kaninchenfell, über dessen Kragen ihre brandroten Locken in reicher Fülle herabfielen. Nur viel zu schnell verschwanden sie im Winternebel.“ (Ebd., S. 208.)

50

Ebd., S. 226.

51

Ebd., S. 227.

52

Ebd., S. 465.

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und wollte sie von oben auf meine Frau schleudern“)53 und befiehlt ihr unter Drohungen, sich nach deren Tod um das Kind von Eveline zu kümmern: „Du musst dich fügen, oder wir trennen uns, und du siehst mich nie wieder.“54 Dieses überlegene Verhalten gegenüber Vally ist ihm möglich, da sie sich zu der einzigen Figur im Roman entwickelt hat, die er richtig einschätzen kann, „denn ich konnte in ihr lesen, oder ich hatte es jetzt gelernt“.55 Unreflektiert übernimmt er jedoch somit auch die Verhaltensweise und die Rolle des Vaters, der seine Überlegenheit gegenüber dem Sohn in ähnlichem Maße ausgenutzt hat, da er dieselbe Macht über ihn besaß: „[E]r kannte mich zu gut, er konnte in mir lesen. Ich in ihm nie.“56 Das Potential einer Unterstützung und eines Zugehörigkeitsgefühls, das Vally aufgrund des gemeinsamen Schicksals im Sinne der Unterwerfung unter den tyrannischen Vater und der Ausnutzung durch die Familie für den Protagonisten besitzt, nutzt der arme Verschwender nicht (und auch hiermit und nicht nur mit dem monetären Aspekt oder dem Aufreiben seiner Kräfte57 lässt sich auch die Namensgebung des Protagonisten und Romans begründen), sondern verwirft es leichtfertig durch Übernahme der egoistischen Verhaltensweisen des Vaters. Er geht somit auch nicht an der allgemeinen Lieblosigkeit ihm gegenüber zugrunde, was er durchaus erkennt, sondern an seiner festen Vorstellung von Funktionen des Geliebtwerdens und Liebens, die durchaus mit Machtstrukturen verknüpft sind: „An Liebe, das heißt an Geliebtwerden, hat es mir nie gefehlt. Aber ich wollte selbst lieben und das Geliebte besitzen“.58 Die Figur im Roman, die der Protagonist so sehr wie oder mehr als seinen Vater liebt, ist Eveline und in seinem Verhältnis zu ihr werden auch die Hierarchiekämpfe des/der Geliebten und des/der Liebenden deutlich. Der Protagonist ist hin und her gerissen zwischen seinem Bedürfnis, sich Eveline zu unterwerfen und für sie zu sorgen, und andererseits einer Leidenschaft, in der Besitzansprüche und Zerstörungsphantasien eine Rolle spielen:59 Ich erinnerte mich, wie sie eine Zigarette geraucht hatte und wie ein Fäserchen Papier an ihrer Unterlippe hängen geblieben war. Ich träumte davon, dieses Fäserchen zu sein, aber ich träumte

53

Ebd., S. 227.

54

Ebd., S. 413f.

55

Ebd., S. 414.

56

Ebd. S. 332.

57

Vgl. ebd., S. 296.

58

Ebd., S. 475.

59

Vgl. zum Verhältnis des Armen Verschwenders zu Frauen auch Kindt, der ihn gefangen zwischen Skylla und Charybdis sieht. (Vgl. Kindt: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne, S. 184f.)

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auch, sie in meinen Arm zu nehmen, sie zu verbrennen, nicht allmählich wie eine Zigarette, sondern wie eine frische, starke, alles durchdringende Flamme.60 Ich hätte sie erdrücken, verbrennen, vernichten mögen. Ich mußte sie aber schonen.61

Eveline selbst ergeht es in dieser Liebesbeziehung nicht anders, jedoch lebt sie ihr Changieren zwischen Machtausübungen und Unterwerfung verbal wie körperlich aus. Wiederholt drehen sich ihre Konversationen im Kreis um „Liebst du mich denn auch?“ und „Liebe mich nicht zu sehr!“62 Gleichzeitig ist ihr Lieblingsplatz zu Füßen des Protagonisten, zu ihm aufsehend, während sie sich nachts mit nackten Füßen auf seine Brust stellt. Trotz ihres irrationalen Verhaltens ist Eveline diejenige, die berechnend vorgeht und somit zu keinem Moment ihre Machtposition über den Protagonisten verliert. Sie trennt sich nie von ihrem Mann, kehrt zu ihm zurück und erscheint erst wieder beim Ich-Erzähler, als sie schwanger und ihr Ehemann auf dem Kriegsschauplatz verschollen ist. Die Schwangerschaft, die sie das Leben kostet, ist gewollt und sie nimmt ihren eigenen Tod bewusst in Kauf, indem sie keine Abtreibung vornimmt. Ihr gelingt es durch ihr arbiträres Verhalten, den Protagonisten an sich zu binden, indem dieser sich ihr zu Zeiten überlegen fühlen kann, da sie vorgeblich seiner Fürsorge und Pflege bedarf, andererseits jedoch durch ihre Lügen und ihren Verrat sich ihrer nie sicher sein kann. Hierin ähnelt Eveline dem Vater, der seine Alterskrankheiten benutzt, um den Protagonisten in seinem Sinne auszubeuten, indem er durch seine Berechnung und Manipulation tatsächlich das Zepter in der Hand behält und seinen Sohn dazu bringt, genau das zu tun, was er wünscht. Der Vater und Eveline tragen auch in gleichem Maße zum Tod des Protagonisten bei; Eveline, indem sie ihn mit Lungentuberkulose ansteckt, und der Vater, indem er ihn dazu bringt, sich körperlich für die Familie aufzureiben. Die Beziehung zu Eveline kann dementsprechend als eine Fortführung zur Beziehung zum Vater gedeutet werden, sie folgt denselben Strukturen von Machtausübung und Unterwerfung. Die dritte Figur im Roman, welcher der Protagonist eine Art Liebe entgegenbringt und deren Entwicklung durch den ganzen Roman geschildert wird, ist die des Jugendfreundes Perikles. Dieser, als Kind gehänselt aufgrund seiner körperlichen Schwächen, entwickelt sich zu einem Philosophen im Geiste Nietzsches, bis er als Spätfolge einer frühen Syphilis an Paralyse erkrankt. Die von ihm entwickelten Ideen des ‚Imperators‘ über die Massen und des Übermenschen steigern sich im Laufe dieser Krankheit, und nach seiner Entlassung aus der Klinik und vorgeblichen Heilung nimmt die Figur Züge an, die an Hitler in den 20er Jahren erinnern: „Wehr, Wurzeln

60

Ebd., S. 289f.

61

Ebd., S. 342.

62

Vgl. etwa S. 339.

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und Ehre der Kraft waren die Ideale, die er der Jugend – und wieviel alten verblühten, aber machtlüsternen Menschen – predigte.“63 Anhand dieser Figur lassen sich viele Analogien zu der Darstellung des A.H. im Augenzeugen ziehen. Im Armen Verschwender wie im Augenzeugen erringt zunächst der Protagonist eine Suggestionskraft über die Figur, die aus den Machtphantasien der Protagonisten entspringt. Im Laufe der Romane jedoch verselbständigt sich das Objekt und wird zu einer Bedrohung, die im Augenzeugen ausführlich geschildert, im Armen Verschwender nur angedeutet wird. In der Figur des Perikles potenziert sich der Gedanke des Imperators, den der Protagonist in ihn eingepflanzt hat und der sowohl das Leben des Protagonisten, als auch das des Vaters und Evelines bestimmt. Perikles ist somit als Figur nicht nur eine Verkörperung der Bedrohung durch die Machtpolitiker des Nationalsozialismus, sondern ebenso sehr eine Ausgeburt und ein Geschöpf einer machtversessenen Gesellschaft. Der Protagonist erkennt in Perikles auch nach seiner ‚Heilung‘ noch den Irren und bezeichnenderweise macht Mohrauer, der Direktor des Sanatoriums, über die Geisteskranken dieselbe Bemerkung, die zuvor der Vater über die Obrigkeit konstatierte: „die Irren sind mächtig, denn wer wollte sie hindern?“64 5.8.2 Der Augenzeuge Außer dieser offensichtlichen Verbindung zwischen der Figur des Perikles und A.H.s sowie dem gemeinsamen Arztberuf der Protagonisten, weisen auch die Problematiken, die sich in der familiären und gesellschaftlichen Bindung der beiden Ich-Erzähler im Armen Verschwender und im Augenzeugen äußern, starke Gemeinsamkeiten auf. So treten analoge Kommunikationsschwierigkeiten und das Changieren zwischen gottähnlicher Individualität und dem Reiz der Unterwerfung unter eine höhere Macht auch im Augenzeugen auf, die am besten anhand der in seiner Bezeichnung implizierten (angeblichen) Charaktereigenschaften des Protagonisten zu exemplifizieren sind. Der Anspruch, der indirekt in Weiskopfs Slawenlied aufscheint, die Wirklichkeit und historische Ereignisse objektiv darzustellen und als unparteiischer Beobachter ein Chronist der Zeit zu sein, spielt auch in Ernst Weiß’ Augenzeuge eine entscheidende Rolle, hier gar plakativ bereits im Titel. Diese Selbstbezeichnung, die der homodiegetische Erzähler im Text an mehreren Stellen vornimmt, scheint eine passive Rolle im geschichtlichen Geschehen zu implizieren, indem ein Augenzeuge in der Regel nicht an der Entwicklung der Ereignisse beteiligt ist. Zudem ist der Beobachter dem Namen nach nur Zeuge und nicht Richter, dementsprechend erwartet man von ihm lediglich die objektive Beschreibung des Gesehenen, ohne Wertung und Deutungen. Um als Augenzeuge von Wert zu sein, muss dieser auch in der Lage

63

Ebd., S. 443f.

64

Ebd., S. 450, vgl. auch Fußnote 37.

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sein, das Beobachtete zu artikulieren und an Dritte weiterzugeben. Diese drei Eigenschaften des Augenzeugen, Passivität, Objektivität und Berichterstattung, werden vom Erzähler bei Weiß zwar selbst bei sich eingefordert, doch können sie alle drei in letzter Konsequenz nicht durchgesetzt werden. Denn gerade die Rolle des ‚Zeugen‘ trennt den Augenzeugen von der Objektivität und Mitteilbarkeit, die er anstrebt, und dies entfremdet ihn auch von jeglichen Kollektiven: „Das Zeugnis und die Rede im Namen eines Kollektivs widersprechen sich […] insofern, als der Gestus des Bezeugens in einer fehlenden unmittelbaren Gleichzeitigkeit mit dem geschichtlichen Geschehen bzw. in einer unteilbaren Erfahrung gründet.“65 Der Augenzeuge scheitert bereits zu Beginn des Romans an der Berichterstattung des Erlebten, an der Wiedergabe des empfundenen Schmerzes nach dem Tritt des Pferdes, indem seine Sprache aufgrund ihrer Unzulänglichkeit versagt: „Ich beschreibe diesen Nachmittag, diesen Abend, diese Nacht nicht. Nachzufühlen ist eine solche Lage nur von dem, der etwas Ähnliches erlebt hat. Tröstende Worte empören nur und helfen nichts.“66 Der titelgebende Anspruch ist hiermit bereits zerstört, wie Meister richtig bemerkt: Ist schon der objektive Bericht über ein Erlebnis eine Fiktion, so ist selbst das mögliche Nachfühlen des Erlebten an eine schier uneinlösbare Voraussetzung gebunden: Das Erleben von Vergleichbarem. Das Projekt eines historischen Berichts aus der Augenzeugenperspektive, mit dem der Erzähler ja immerhin angetreten war, ist nach nur sechs Seiten und noch lange bevor wir zu dem eigentlich historischen Gehalt kommen, gescheitert.67

Dieses Scheitern vollzieht sich an mehreren Stellen des Textes, an denen sich der Protagonist in Schweigen hüllt, weil die Artikulation des Erlebten unmöglich erscheint. Es sind dies die Stellen physischer oder psychischer Schmerzen und Gräueltaten, die der Augenzeuge nicht vermitteln kann. Explizit erwähnt wird das Unvermögen der Schilderung bei der Thematisierung der Tierversuche, dem Gemetzel im Krieg oder der Folter im Konzentrationslager. Doch sind es nicht nur diese offensichtlichen traumatischen Erlebnisse, deren Mitteilung sich als nicht möglich erweisen, sondern große Teile des Innenlebens des Protagonisten an sich, kurz alles, was er mit dem Begriff DAS ZERMALMENDE umschreibt, ein Zustand, der von dem Protagonisten von Beginn an als für Außenstehende nicht nachvollziehbar dargestellt wird. Der Augenzeuge distanziert sich etwa in der Beschreibung seiner Erlebnisse im Ers-

65

Weigel: Zeugnis und Zeugenschaft, S. 116f.

66

Weiß: Der Augenzeuge, S. 15.

67

Meister: Sprachloser Augenzeuge, S. 298.

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ten Weltkrieg von seinem Leser, indem er das Innere als genuin Individuelles bezeichnet, was das Individuum von allen anderen trennt und durch das eine Verständigung nicht möglich ist:68 Das innere, DAS ZERMALMENDE und das prachtvoll Bestialische, das Barbarenglück, den Barbarenrausch, den beschreibt man nicht. Man kann ein Delir nicht mit Worten beschreiben. Man kann nicht die Worte in einem stillen Zimmer niederschreiben, und ein anderer, in einem anderen stillen Zimmer, für sich allein, die Zigarre im Mund, den Hund zu seinen Füßen, soll dies begreifen und dann wissen, wie einem dabei zumute ist.69

Dieses Kommunikationsproblem äußert sich nicht nur in der scheiternden Wiedergabe des Erlebten in der Aufzeichnung, sondern auch unmittelbar in der direkten Kommunikation mit den Figuren, die den Augenzeugen umgeben und ihm nahe stehen. Die Darstellung der wörtlichen Rede, Passagen von A.H.s Reden ausgenommen, beschränkt sich im Augenzeugen auf ein Minimum. Dies bedeutet nicht, dass der Protagonist keinen Kontakt zu Menschen hat oder Gesprächen per se ausweicht, sondern dass der Kommunikation über Sprache keine große Bedeutung beigemessen wird, weil sich nur Dinge von oberflächlichem Belang mit ihr ausdrücken lassen. Die wahren Beweggründe, Gefühle und Leiden bleiben unausgesprochen. Mit der Mutter verbindet den Protagonisten ein besonderes Band, das geradezu ödipal anmutet.70 Der Augenzeuge betrachtet sie wie ein Stück seiner selbst: „Ich liebte sie nicht wie etwas Fremdes, wie eine zweite Person, sondern ich liebte sie, wie ich mich selbst liebte. Ich und sie gingen ohne Unterbrechung ineinander über.“71 Die Mutter hat durch ihre Lungenkrankheit ähnliche Beschwerden, wie der Augenzeuge sie als Kind nach einem Pferdetritt erleben musste,72 und erfüllt somit die Vo-

68

Vgl. hierzu Benjamin, der angibt, dass das „Vermögen, Erfahrungen auszutauschen“ durch den Ersten Weltkrieg reduziert wurde: „Mit dem Weltkrieg begann ein Vorgang offenkundig zu werden, der seither nicht zum Stillstand gekommen ist. Hatte man nicht gemerkt, daß die Leute verstummt aus dem Felde kamen? nicht reicher – ärmer an mitteilbarer Erfahrung.“ (Benjamin: Der Erzähler, S. 439.)

69

Weiß: Der Augenzeuge, S. 137. (Kapitälchen im Original.)

70

Vgl. Weiß: „Nur wollte ich nicht ihr Sohn sein, den sie zuerst mit überschwenglicher Liebe verwöhnt und für den Lebenskampf geschwächt und schließlich doch im Stich gelassen hatte dem Gatten zuliebe, sondern ich wollte die Rolle meines Vaters spielen, mit dem sie jetzt durch dick und dünn zusammenging.“ (Weiß: Der Augenzeuge, S. 90.)

71

Ebd., S. 26.

72

Trapp deutet diesen Unfall als Mutprobe, durch die das Kind „die Liebe der Eltern – und darin zugleich seine Selbstachtung – zurückgewinnen [will]. Der Unfall soll die Eltern

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raussetzung, auch ohne die genaue Schilderung der Schmerzen das Erlebte nachzuvollziehen.73 Aufgrund dieser angenommenen Ähnlichkeit zwischen Mutter und Sohn verzichtet der Augenzeuge oftmals auf die direkte Kommunikation mit der Mutter: „Ich ahnte jeden ihrer Gedanken, sie brauchte nichts zu sagen.“ Doch diese angenommene telepatische Verbindung schadet der Beziehung zwischen Mutter und Sohn, und der Protagonist relativiert sogleich: „Aber das erleichterte uns unser Leben nicht.“74 Der Bruch mit der Mutter nach ihrer Rückkehr aus dem Sanatorium und der Erkenntnis, dass der Ehebruch ihres Mannes vor ihr verheimlicht wurde, vollzieht sich vor allen Dingen aufgrund der Unfähigkeit des Sohnes, sich für sein Tun zu rechtfertigen und die Umstände und seine selbstlosen Beweggründe zu erklären. Der Vater, der von keiner telepathischen Verbindung zur Mutter ausgeht, versöhnt sich mit ihr problemlos durch ein paar antisemitische Lügen, die sie nur zu gerne glaubt. Nachdem die Mutter ihren Sohn verstößt, zieht sich dieser vollkommen auf die vergangene spirituelle Bindung zur Mutter zurück, indem er in Gedanken Gespräche mit ihrem Bild führt, diesem die Aussicht aus dem Fenster zeigt und sich in einem heißen Glas Glühwein, das er sich an die Wange hält, die wärmende Wange der Mutter vorstellt. Der Bruch mit dem Menschen, der dem Augenzeugen am nächsten steht, vollzieht sich durch die Fehlannahme der funktionierenden nonverbalen und spirituellen Kommunikation und der daraus resultierenden mangelnden direkten Kommunikation durch Sprache. Der Augenzeuge, der stets gewillt ist, allen Seiten gerecht zu werden und ‚auf beiden Achseln zu tragen‘, kann zwar die Mutter verstehen, diese jedoch,

zwingen, dem Kind Zuwendung zu schenken.“ (Trapp: Der Augenzeuge – ein Psychogramm, S. 25.) 73

Vgl. zur Bedeutung der genauen Beschreibung von Körperlichkeiten Oschatz: Die Konstitution des „Bösen“. Sie gibt an, dass körperliche Vorgänge, so zum Beispiel Schmerz, Rausch und Wahrnehmungsstörungen im Roman genau beschrieben werden und ihnen große Bedeutung zugemessen wird, indem dargestellt wird, dass der Mensch abhängig von seinem Körper sei. Diese Schilderungen verbleiben jedoch auf der Ebene des autodiegetischen Erzählers, der als Protagonist diese Vorgänge keiner anderen Person im Roman mitteilt. Dies lässt sich, wie oben behandelt, am Verschweigen der Erlebnisse nach dem Pferdetritt gegenüber der Mutter ebenso feststellen wie auch am Ende des Roman, als der Protagonist seinem Sohn die Narben aus dem KZ zeigt, um diesen von seinem anerzogenen Antisemitismus zu heilen. Der Augenzeuge zeigt zwar die sichtbaren Spuren der Qual und Folter im Konzentrationslager, schweigt jedoch dazu, eine kommunikative Mitteilung des Erlebten scheitert an Sprachlosigkeit, die Geste muss als Lektion genügen.

74

Weiß: Der Augenzeuge, S. 40.

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die, wie der Augenzeuge kurz vor ihrem Tode bemerkt, durch ihren unerschütterlichen katholischen Glauben immun gegen die UNTERSEELE ist, ist nicht in der Lage oder willens, das Nichtausgesprochene zu begreifen. Die vom Augenzeugen vorausgesetzte Kommunikation ohne Sprache scheitert nicht nur im Falle des Verhältnisses zur Mutter. Gewisse Analogien lassen sich auch in der Behandlung A.H.s durch die Hypnose erkennen, als der Protagonist den Gefreiten nach dem Ersten Weltkrieg von seiner hysterischen Blindheit heilt. Die Ähnlichkeit der Biographien des Augenzeugen und A.H.s sind deutlich vorhanden, in der Beschreibung der Familienkonstellation lässt der Erzähler hier auch keinen Zweifel daran: „Der Vater war mehrmals verheiratet gewesen, hatte Kinder aus drei Ehen (fast wie der meine). Die Mutter hatte H. bald verloren (ich dachte an die meine, von der nicht die besten Nachrichten kamen).“75 Diese Schicksalsgemeinschaft gibt Aufschluss über die besondere Beziehung des Protagonisten zu A.H., die über eine reine Arzt-Patienten-Bindung hinausgeht. Wie zur Mutter setzt der Augenzeuge hier eine Kommunikationsbasis voraus, die sich aus einem pseudoverwandtschaftlichen bzw. durch das gemeinsame Schicksal konstituierten Verhältnis ergibt, und eine Verständigung nicht durch Sprache, sondern durch das Wissen um gleichwertig Erlebtes wird vorausgesetzt. Die Heilung findet durch telepathische und suggestive Kommunikation statt, indem der Arzt versucht, A.H. seinen Willen aufzuzwingen. Dies gelingt zunächst reibungslos: Ohne es ihm zu befehlen, dachte ich mit aller Energie daran, er solle seine Hände über dem Schoß falten. Er tat es. Er solle an seinem Eisernen Kreuz nesteln, als wollte er es abnehmen. Er gehorchte. Ich befahl ihm, er solle mir sein Geheimnis mit den Frauen mitteilen. Ich überwand den Widerstand, und er sprach. Ich befahl ihm, er solle den rechten Arm ausstrecken, er zögerte, aber dann tat er auch dies.76

Doch die Stärkung A.H.s durch die Heilung und die Suggestion des Arztes, es handele sich bei seinem Patienten um einen außergewöhnlichen, gottähnlichen Menschen, ähnlich den Propheten Jesus und Mohammed, gibt diesem eine Willenskraft und Macht, welche dem Arzt die Kontrolle über die ‚Unterseele‘ und somit die Beeinflussung seiner Taten und Gedanken entzieht. Bei ihrem nächsten Aufeinandertreffen haben sich die Machtverhältnisse bereits umgekehrt und in den folgenden Reden A.H.s, denen der Augenzeuge beiwohnt, wird dies immer deutlicher: „Nun hatte ich keine Macht über den Mann auf der Tribüne. Ich mußte mich glücklich schätzen, wenn er keine hatte über mich. Ich habe oft in der ersten Reihe gesessen, habe seinen

75

Ebd., S. 148. Vgl. auch Trapp: Der Augenzeuge – ein Psychogramm, S. 31ff.

76

Weiß: Der Augenzeuge, S. 153.

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Blick fesseln wollen. Es war unmöglich. Er sah nichts.“77 Das Monster, das der Arzt selbst durch die Heilung geschaffen hat, ist nicht mehr in Schranken zu halten, da es sich der Kommunikationsform des Augenzeugen entzogen und eine eigene, die der politischen Hassrede des Führers, gefunden hat, durch die er nun seinerseits den Massen seinen Willen aufzwingt.78 Ist es im Falle der Mutter das familiäre und Liebesband, das den Protagonisten auf eine Verständigung hoffen lässt, so ist es bei A.H. der Glaube an die Festigkeit der Arzt-Patienten-Beziehung bzw. an die Macht, die der Arzt über den Patienten besitzt. In beiden Fällen unterliegt der Augenzeuge einer Fehlannahme über die Wirksamkeit dieser bindenden Strukturen und muss somit in seiner Kommunikation scheitern. Auch in seinem Verhältnis zu den anderen beiden Frauen, die in des Augenzeugens Leben eine entscheidende Bedeutung spielen, Angelika und Viktoria, findet die Entfremdung durch mangelnde Kommunikation statt, deren Ursache hier nicht in der vollkommenen Sprachlosigkeit, sondern in der Verständigungsproblematik der Fremdsprache, in beiden Fällen Französisch, liegt. Mit Angelika, die der Protagonist nie geliebt hat, beginnt er Anfang des Ersten Weltkriegs französisch zu sprechen, die Motivation hierfür bleibt spärlich. Der formelle Umgang in der Sprache führt in Verbindung mit der schwierigen Lebenssituation zum Bruch und Angelika kehrt zu ihrem ersten Mann zurück. Im Falle der Ehe mit Viktoria, die der Augenzeuge wirklich liebt, ist die Motivation für das Sprechen der Fremdsprache eine eindeutigere: das Exil in der Schweiz und später in Frankreich steht unmittelbar bevor. Noch vor der Emigration äußern sich beim Augenzeugen die Symptome einer Sprachlosigkeit im Sinne einer Sprache, die über das Praktische hinaus Innerlichkeit vermitteln kann und die paradigmatisch für die vor den Nationalsozialisten geflohenen Emigranten war;79 hier wird der Entfremdung durch Sprache jedoch auch eine positive Seite abgewonnen: Wir unterhielten uns jetzt französisch. Und genau wie vor Jahren bei Angelika entfremdete uns diese Unterhaltung in einer fremden Sprache mehr als alles andere bisher. Ich merkte es mit stummer Freude. Ich machte Fortschritte. Ich hörte auf zu lieben und begann fließend zu sprechen.80

Interessant ist durchaus, dass sich das Scheitern der Kommunikation und somit die Einsamkeit des Protagonisten aus der mangelnden sprachlichen Verständigung

77

Ebd., S. 201.

78

Vgl. zur Wirkmächtigkeit der Sprache des ‚Führers‘ Theweleit: Männerphantasien, Band

79

Vgl. zu Zweisprachigkeit im Exil z.B. Utsch: Sprachwechsel im Exil.

80

Weiß: Der Augenzeuge, S. 252.

2, S. 129f. Vgl. auch Kapitel 4.2.3.

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ergibt, da dem Protagonisten als Arzt, insbesondere als Psychologe, die Bedeutung und die Notwendigkeit der Sprache in vollem Ausmaße bewusst ist. So interessiert er sich für die innere Medizin, denn sie „war an kein Land, an keine Sprache gebunden, wie etwa die Psychiatrie, die Kenntnis von den kranken Seelen (Seele und Sprache sind beinahe eins)“.81 Es ist demnach davon auszugehen, dass die Entfremdung durch eingeschränkte Kommunikation vor allem in den Beziehungen zu Angelika und Viktoria ein bewusster und gewollter Prozess ist, da eine engere Bindung nicht wünschenswert und möglich erscheint. Ein häufig im Text wiederholter Anspruch des Augenzeugen ist die Objektivität des Beobachters und der Darstellung der Ereignisse. Diese Forderung ergibt sich vor allen Dingen aus seinem Selbstverständnis als Arzt, das wiederholt geäußert wird: „Ich bin immer gegen die Rolle des Arztes als Helfer des Gerichtes gewesen. Er soll neben dem Kranken stehen oder über ihm als objektiver Zeuge, aber nicht gegen ihn. [… R]ichten sollen andere.“82 Alle möglichen Seiten sollen beleuchtet und aufgedeckt werden, ohne dass jedoch ein Urteil gefällt und für eine Seite Partei ergriffen wird. Dieses Credo, das der Arzt auch als Privatperson lebt, scheint die Ursache all seiner Probleme darzustellen. Beim Versuch, Mutter und Vater, den Halbgeschwistern und der Geliebten des Vaters gerecht zu werden, zerbrechen die Familienbande; die Überbrückung der Kluft zwischen dem Judentum seiner Frau und dem Katholizismus der Mutter scheitert; der Anspruch, auch den Nationalsozialismus und A.H. zu verstehen, und gar in ihm sowohl Fürchterliches als auch Gottähnliches zu sehen, endet für Deutschland in der Katastrophe und für den Augenzeugen im Konzentrationslager. Es ist nicht zu übersehen, dass die vermeintliche Objektivität des Arztes im besonderen Maße auf A.H. angewendet wird und seine Taten und Aussagen nicht nach sittlichen oder moralischen Maßstäben beurteilt werden: „Er war abstoßend, aber es war sein Recht, abstoßend zu sein. Für mich hieß es nicht, sich für oder gegen ihn zu entscheiden, ich hatte ihn nicht zu richten.“83 Gerade diese Objektivität, mit welcher der Protagonist allen Seiten gerecht werden will, macht ihn zum Ausgestoßenen in der Gesellschaft und zu einem Subjekt mit individueller Weltwahrnehmung, da alle ihn umgebenden Figuren sich aus einem bestimmten ideologischen, religiösen, politischen oder persönlichen Grund bestimmten Gruppen oder Menschen anschließen und sich anderen wiederum verweigern. So ist die Mutter immer zuerst Katholikin und definiert sich hierüber, Helmut und Angelika sind überzeugte Nationalsozialisten, Viktoria hat durch ihr Judentum in den Nationalsozialisten ein eindeutiges Feindbild. Dem Augenzeugen gelingt es nicht,

81

Ebd., S. 109.

82

Ebd., S. 123f.

83

Ebd., S. 147.

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eine Identität und Selbstdefinition über eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit zu erlangen. Im politischen Bereich gibt es zwar eindeutige Präferenzen, indem der Protagonist in der demokratischen Partei aktiv ist, doch bleibt diese politische Tätigkeit, vor allem neben der Darstellung von A.H.s Reden, durchaus blass und zudem scheint eine radikale politische Positionierung durch die persönliche Involviertheit mit A.H. und den Freund- oder Bekanntschaften mit den überzeugten Nazis Angelika und Helmut unmöglich. Der Augenzeuge ist auch selbst nicht religiös, ist jedoch durch den fundamentalistischen Katholizismus seiner Mutter beeinflusst, während er gleichzeitig mit der Jüdin Viktoria verheiratet ist. Selbst auf der beruflichen Ebene trifft der Augenzeuge keine konkrete Entscheidung für einen bestimmten Berufszweig, so ist er sein Leben lang zwischen der inneren Medizin und der Psychologie hin- und hergerissen, genauso wie er versucht, beiden Ziehvätern und Vorbildern als Arzt, dem Juden- und dem Narrenkaiser, gerecht zu werden und Achtung zu erweisen. Diese mangelnde Ideologie, die sich vor allem aus dem Fehlen von Feindbildern ergibt und ihn von allen anderen Figuren im Roman unterscheidet, lässt den Augenzeugen zwischen allen Stühlen und in allen menschlichen Bindungen im Endeffekt scheitern. Kurz vor dem Hitlerputsch 1923 und nachdem er in einer Mannschaftsstube A.H.s Redemacht erlebt, kommt der Protagonist zu der Erkenntnis, dass er seinen objektiven Augenzeugenstatus aufgeben muss, um der Gefahr, die von den erstarkenden Nationalsozialisten ausgeht, zu bekämpfen: „Ich […] trat der demokratischen Partei wieder aktiv bei, denn es war mir bei der Rede des H. aufgegangen, es sei nicht mehr die Zeit für den wissenschaftlichen Beobachter des Weltuntergangs, für den objektiven Augenzeugen.“84 Sehr schnell jedoch muss er einsehen, dass die Mittel, die ihm zum Kampf zur Verfügung stehen, nicht ausreichen, um gegen die Rücksichtslosigkeit A.H.s zu bestehen. Dies liegt nicht nur an der humanitäreren und menschlicheren Weltsicht des Protagonisten und der Demokraten, sondern nicht zuletzt ist es auch ein Resultat aus dem vorhergehenden Bestreben, dem Feind gerecht zu werden, ihn verstehen zu wollen und objektiv und unparteiisch zu bleiben: „Konnten wir ihm auf der anderen Seite etwas Gleiches entgegensetzen? Wir konnten es nicht. Wir hatten uns in den Gegner zu sehr hineingelebt. Das war unsere tödliche Schwäche.“85 Der Protagonist wie auch seine Partei bleiben ohnmächtig gegenüber den Strategien der Gegner und der Ich-Erzähler verfällt zunehmend wieder in eine beobachtende, passive Haltung. Erst am Ende des Romans, nachdem er als Familienmensch, Arzt und Augenzeuge (denn seine Aufzeichnungen über die Krankheit A.H.s sind in die Hände der Nazis gefallen und werden nie Zeugnis ablegen) gescheitert ist, gelingt es dem Protagonisten, seine Parteilosigkeit und somit vermeintliche Objektivität abzulegen und sich bewusst für eine Seite zu entscheiden und dies nicht

84

Ebd., S. 199.

85

Ebd., S. 200.

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nur im Geiste, sondern auch mit Tatkraft Partei zu ergreifen, indem er auf Seiten der republikanischen Armee in den Spanischen Bürgerkrieg zieht. Auf einen anderen Schauplatz verlegt wird hier der Kampf begonnen, den er in Deutschland nicht gewagt hat, gegen den Faschismus, gegen die Stärkeren und Ungerechten. In der Aufgabe der Unparteilichkeit schwingt Selbstaufgabe mit, doch auch eine gewisse Erlösung aus dem unerträglichen Dasein als objektiver, untätiger Beobachter. Die an sich selbst geforderte Objektivität des Augenzeugen, die er lange versucht, aufrechtzuerhalten, kann jedoch in ihrer letzten Konsequenz in Zweifel gezogen werden.86 Dies schließt an eine Jahrtausende alte Diskussion um die Möglichkeit der objektiven Schilderung von Wirklichkeit an. Glasersfeld hebt hervor, bereits Pyrrhons Schule sei davon ausgegangen, „daß es eben die Vernunft und nicht ihre Unzulänglichkeit ist, die zu der Überzeugung führt, daß der Erlebende niemals erkunden kann, inwieweit oder ob überhaupt das, was er erlebt, mit einer von ihm unabhängigen Welt übereinstimmt.“87 Zum Aufbau einer objektiven Wirklichkeit sei zunächst eine Bestätigung des Erlebten durch ein anderes Individuum mithilfe von verbaler Kommunikation und das Interpretieren des Verhaltens der Mitmenschen durch Kognition vonnöten.88 Wie oben behandelt, findet im Augenzeugen verbale Kommunikation im Sinne des Erlebnisaustausches nicht statt. Wird vorausgesetzt, dass der Rezipient nichts Ähnliches erlebt hat, so wird auf die Wiedergabe des Erlebten verzichtet, weil ein Verstehen von Beginn an ausgeschlossen ist. Wird allerdings davon ausgegangen, dass der Rezipient ein ähnliches Erlebnis hatte, so wird ebenfalls auf die sprachliche Verständigung verzichtet, weil eine Verständigung ohne Worte angenommen wird. Subjektive Empfindungen werden somit nicht mit dem Erleben anderer Menschen abgeglichen, sondern als objektiv vorausgesetzt. Die eigenen kognitiven Strukturen werden umstandslos auf andere übertragen, dass diesem System allerdings ein Fehler innewohnt, zeigt sich in der gestörten und von Missverständnissen durchzogenen Kommunikation des Augenzeugen mit seinen Mitmenschen. Die vorgebliche Objektivität in der Weltanschauung und -darstellung des Protagonisten lässt sich somit als durchaus subjektives kognitives Welterleben entlarven. Der Augenzeuge geht davon aus, dass es keine verschiedenen Erlebnismöglichkeiten der gleichen Ereignisse geben kann, und somit wird etwa der Mutter, A.H. und Viktoria eine Seelenverwandtschaft unterstellt. Dass dies auf einer Fehlannahme beruht, beweist die katastrophale Entwicklung jeder dieser Beziehungen. Das vorgebliche

86

Vgl. hierzu auch Pazi: „Der Augenzeuge gerät bei seiner Menschenbeurteilung in die Rolle eines Zuschauers. Er wird von einem objektiv beobachtenden Zeugen zum subjektiv interpretierenden Betrachter.“ (Pazi: Ernst Weiß, S. 116.

87

Glasersfeld: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. S. 9f.

88

Vgl. ebd., S. 36f.

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Verstehen dieser Menschen kann sich nur in Unparteilichkeit ihnen gegenüber äußern, die aber nicht objektiv, sondern bewusst gewählt wird und dadurch eigentlich Partei für das eigene kognitive Erleben und die subjektive Wirklichkeit des Augenzeugen ergriffen wird.89 Am Beispiel des Romans Georg Letham hebt Adler hervor, dass in der autodiegetischen Erzählhaltung, die Weiß wählt, kein objektives Erzählen möglich ist, da der Protagonist nicht die nötige Distanz zum eigenen Erleben besitzt: „Die quasiautobiographische Form bringt es dagegen mit sich, daß [der Ich-Erzähler] auch in die Rolle des unmittelbar betroffenen, subjektiv erlebenden Ich überwechselt und seinen exponierten Standpunkt verliert.“90 Dies gilt auch für den Augenzeugen, wobei zusätzlich die Schilderung des vermeintlich unmittelbar Gefühlten und Erlebten durch die Retrospektive kommentiert, bewertet und dadurch verzerrt wird, wie bereits direkt im ersten Absatz des Romans deutlich wird. Hier behauptet der Ich-Erzähler, nicht entscheiden zu können, was ihn „damals im Herbst 1918 zu jenem Eingriff bewogen hat, ob es Wißbegierde, die Haupteigenschaft eines in der ärztlichen Wissenschaft tätigen Forschers, war oder eine Art Gottähnlichkeit, der Wunsch, auch einmal das Schicksal zu spielen.“91 Die letztere Möglichkeit würde jedoch voraussetzen, dass das erlebende Ich 1918 bereits um A.H.s Entwicklung, die Ereignisse bis 1936 und seinen Einfluss darauf gewusst hätte, was ein Ding der Unmöglichkeit ist. Die Glaubwürdigkeit des Protagonisten und seiner Objektivität wird zusätzlich dadurch in Frage gestellt, dass selbst die objektive medizinische Wissenschaft dort versagt und außer Kraft gesetzt wird, wo menschliche Gefühle und Motive ins Spiel kommen. Das prägnanteste Beispiel hierfür im Roman ist das falsche gerichtliche Gutachten, das der ‚Narrenkaiser‘, ein als rationaler und akkurater Wissenschaftler dargestellter Psychiater und geistiger Ziehvater des Protagonisten, einem epileptischen Raubmörder ausstellt. Er befindet ihn als Simulanten, was die Hinrichtung des Mannes zur Folge hat, lediglich weil dieser denselben Namen trägt wie der Schauspieler, mit dem seine Frau ihn zuvor betrogen hatte. Eine zumindest vermeintliche Objektivität und Unparteilichkeit des Erzählers impliziert in gewissem Sinne auch eine Passivität, indem für keine der Parteien, Ideologien, Meinungen und Figuren Partei ergriffen wird. Ein Augenzeuge agiert in der

89

Die Unmöglichkeit der Unparteilichkeit hat bereits Lichtenberg thematisiert: „Alle Unparteilichkeit ist artifiziell. Der Mensch ist immer parteiisch und tut sehr recht daran. Selbst Unparteilichkeit ist parteiisch.“ (Lichtenberg: Schriften und Briefe (Sudelbücher, Heft F, Nr. 578), S. 539.)

90

Adler: Vom „Roman expérimental“ zur Problematik des wissenschaftlichen Experi-

91

Weiß: Der Augenzeuge, S. 7.

ments, S. 244.

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Regel nicht als aktiv am Geschehen Beteiligter, sondern als außenstehender Beobachter. Wie oben bereits thematisiert, trifft der Protagonist erst am Ende des Romans eine eindeutige, einer Ideologie entspringende Entscheidung. Als Rechtfertigung für sein vorheriges Tun dient ihm häufig der Rückgriff auf seine Position als unschuldiger Beobachter, der nicht als Täter auftritt, so zum Beispiel in Bezug auf seine Patienten: „Ich konnte ihm vielleicht noch nicht helfen, ich war nur der lernbegierige Augenzeuge. Aber mich traf dabei keine Schuld, ich hatte keine Absicht.“92 Doch im Gegensatz zu dieser Aussage ist er bereits von Beginn der Handlung an das Gegenteil eines passiven Beobachters, indem er die von ihm bezeugten Ereignisse direkt beeinflusst, ja sich gar als ihr Schöpfer stilisiert.93 Dies wird bereits im ersten Abschnitt des Buches überdeutlich, in dem er angibt, durch seine Einflussnahme auf A.H. eine historische Rolle gespielt zu haben. Es bleibt dahingestellt, welche Rolle der Protagonist tatsächlich bei der Entwicklung A.H.s gespielt hat und ob die Heilung der hysterischen Blindheit und vor allen Dingen die Art der Behandlung, in welcher der Arzt suggeriert, A.H. habe übermenschliche Kräfte, verantwortlich ist für die Rücksichtslosigkeit und den Herrschaftsanspruch A.H.s bereits in den 20er Jahren. Während der Leser dies betreffend nur Vermutungen anstellen kann, macht der Augenzeuge an einigen Stellen deutlich, dass seiner Auffassung nach sein Einwirken tatsächlich Auswirkungen auf den Charakter A.H.s und somit auch auf das Zeitgeschehen hatte und er sich somit in gewissem Maße auch schuldig gemacht hat.94 Diese Einschätzung des Augenzeugen zeugt zum einen von einer starken Akzentuierung der Erklärung des Phänomens des Nationalsozialismus in Deutschland auf die Person Hitlers und den Personenkult um ihn, zum anderen aber vor allen Dingen von der Hybris, die durch die Verschmelzung von Arzt und gottähnlichem Herrscher zustande kommt und welcher der Protagonist unterliegt, und dem Glauben an die eigene Macht, die auch eine Selbstüberschätzung beinhaltet. Hierin lässt sich ein parabelhafter Bezug zu den gebildeten Schichten der Weimarer Republik erkennen, die eine gewisse Mitschuld an der Macht der Nationalsozialisten tragen: Die Schuld der Intelligenz […] liegt also auch darin, zu starr an den „Tatsachen“ festgehalten und die Macht des Irrationalen sowie ihre Wirkung auf die Menschen unterschätzt zu haben,

92

Ebd., S. 106f.

93

Vgl. auch Müller-Funk: „Der Ich-Erzähler ist der hybride Schöpfer des kommenden Diktators“. (Müller-Funk: Diagnostik mit literarischen Mitteln, S. 338.)

94

Vgl. etwa Weiß: „War er [A.H.] nicht mein Werk?“, „Ich kannte das Wunder an der Quelle. Denn ich hatte ihm [A.H.] den Glauben an sich als göttliches Wunder gegeben.“ (Ebd., S. 183 und S. 217)

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so daß sich Hitler das Bedürfnis nach Befriedigung des ausgegrenzten Gefühlsbereiches ohne nennenswerten Widerstand zu Nutze machen konnte.95

Während Adler hier eher darauf abzielt, die Bedeutung der ‚Unterseele‘ im Gegensatz zur rationalen Wissenschaft im Augenzeugen für den rasant wachsenden Einfluss A.H.s bei der Bevölkerung hervorzuheben, entspricht der erste Teil ihrer Einschätzung auch der Deutung Hans-Albert Walters, der die Gründe der mangelnden Vorbereitung der Exilschriftsteller auf die Entwicklungen nach 1933 mit einer gewissen Kurzsichtigkeit und Sorglosigkeit beschreibt.96 Trotz der individuellen (Selbst)Zeichnung des Ich-Erzählers spricht demnach einiges dafür, dass er in gewissem Sinne stellvertretend für das Verhalten und die Schuld demokratischer Kreise durch Zurückhaltung und Blindheit97 in der Weimarer Republik steht; an einer Stelle setzt sich der Augenzeuge gar in gewissem Maße in Analogie zur Weimarer Republik, die durch ihre Toleranz Mitschuld am eigenen Untergang trägt: „Aber [die Republik] glaubte, unparteiisch gegen rechts und links sein zu müssen. Sie schwächte ihre Verteidiger und machte ihre unerbittlichen, unersättlichen Feinde groß. Sie war der Augenzeuge ihres Untergangs“.98 Die Weimarer Republik und der Augenzeuge, in ihren Wesenszügen verwandt, haben durch vermeintliche Objektivität und Passivität ihren eigenen Erzfeind A.H. erschaffen und gekräftigt und somit ihr Schicksal besiegelt. Im Gegensatz zum armen Verschwender bezieht sich der Roman Der Augenzeuge somit in der Charakterisierung seines Protagonisten nicht nur auf die umittelbaren zwischenmenschlichen Komponenten, sondern Weiß dehnt diese ausdrücklich auf gesellschaftliche Phänomene aus. Dies äußert sich auch im Spannungsfeld des Protagonisten zwischen individueller und Massenerfahrung. Ächtler wertet die Annäherungen des Protagonisten an die Masse im Sinne der Massenphänomenologien, vor allen der Canettis und Freuds, als Fluchtversuch des Protagonisten aus dem Individuellen in die schützende, da von Verantwortung befreiende Masse:

95

Adler: Vom „Roman expérimental“ zur Problematik des wissenschaftlichen Experiments, S. 157.

96

Vgl. Walter: Bedrohung und Verfolgung, S. 89ff.

97

Der Protagonist heilt zwar bezeichnenderweise A.H. von seiner hysterischen Blindheit, erkennt jedoch erst aus der Retrospektive, dass er selbst blind gewesen ist: Dass er ihn „durch eine ingeniöse Verkuppelung seiner zwei Leiden mit seinem Geltungstrieb, seinem Gottähnlichkeitstrieb, seiner Überenergie […] nicht von seiner Grundkrankheit heilen konnte, gestand ich mir nicht ein. Da war ich blind.“ (Weiß: Der Augenzeuge, S. 151.)

98

Ebd., S. 204.

390 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM Selbst der Doktor, ein Intellektueller, der sich durch seine Erzählung hinweg als ein unbeteiligter Augenzeuge stilisiert, kann die eigene wachsende Orientierungslosigkeit nicht verhindern. Der Veteran mischt sich unter die Massen. Als einer unter vielen wird es ihm möglich, das Denken einzustellen und seine Not zu vergessen […]. Der Identitätsverlust als ein anonymer Teil der Menge bedeutet hier auch einen Bewusstseinsverlust. Dementsprechend kann die Flucht in die Masse betrachtet werden als ein Akt der Unterdrückung der persönlichen Krise durch die „Regression der seelischen Tätigkeit auf eine frühere Stufe“, wie Freud es nennt.99

Und auch Pazi ist der Überzeugung, „[d]aß der Augenzeuge, trotz der betont individuellen Reaktion als paradigmatisches Opfer der Masseneinwirkung dargestellt wird“.100 Diese Deutungen setzen jedoch voraus, dass Weiß im Roman ein Massenkonzept verfolgt, dass mit den oben genannten Massentheorien im Einklang steht. Doch die Masse bleibt im Augenzeugen sehr vage, da der Protagonist als Individuum die Massenmechanismen weder erkennen noch deuten kann, lediglich der Einfluss des ‚Führers‘ auf die Massen wird näher beleuchtet.101 Die Masse wird zwar wahrgenommen, doch unterstellt die These der Flucht des Individuums in die Masse ein gewolltes Aufgehen in deren höhere Totalität, die über weite Strecken des Romans aufgrund der starken individuellen Zeichnung des Protagonisten nicht angestrebt wird, was sich auch in der extrem subjektiven Fokalisierung äußert, welche die Implikationen des Massenerlebnisses im Sinne der Massenphänomenologien nicht wiederzugeben vermag.102 Das oben genannte Zitat von Ächtler bezieht sich auf die einzige Passage, in welcher der Augenzeuge schildert, wie er dem Elend der Nachkriegszeit sowie seinen eigenen Sorgen und Problemen durch das Aufsuchen von

99

Ächtler: Kriegstrauma und Massenpsychologie, S. 40. Vgl. auch Golec: Von der Individual- zur Massenhypnose, S. 286.

100 Pazi: Ernst Weiß, S. 119. 101 Vgl. Lahl: Der literarische Massendiskurs, S. 100f. 102 Vgl. Müller-Funk: „Die radikal eigene Qualität der Masse, die bereits Le Bon aufgefallen war und den Ausgangspunkt seiner Studie bildet, kann im Rahmen dieser (im Vergleich etwa zu Freud) freihändigen Individualpsychologie gar nicht ins Blickfeld kommen, weil und obschon die hypnotischen Begleiterscheinungen unübersehbar sind. Die Hypnose der Massen folgt ganz offenkundig anderen Gesetzen als die des Individuums.“ (MüllerFunk: Diagnostik mit literarischen Mitteln, S. 343. Vgl. auch Haas, der sich über die falsche Einschätzung der Massen in Weiß’ Briefen an Stefan Zweig äußert: „Die Reduzierung des Nationalsozialismus und der deutschen Massenhysterie mit ihrer mörderischen Aggressivität auf die dämonische Gestalt von deren Führer, zeugt an vielen Stellen in diesen Briefen von (massen)psychologischer Unkenntnis und von politisch-idealistischem Schwärmertum, das die Bewohner eines mystischen Weltgebäudes in gute und böse Geister einteilt.“ (Haas: Der Dichter von der traurigen Gestalt, S. 221.)

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Massen entgeht. Es ist dies hierbei ein Versuch, seiner rationalen Individualität zu entkommen: „Ich, der ich den Vormittag in der Klinik verbracht hatte als ein klar beobachtender, verantwortungsvoller klinischer Arzt, ein einzelner, hier ging ich in der Masse auf, sie trieb mich unwiderstehlich mit sich. Und ich vergaß mich, die Zeit und ihre Not.“103 Das Bedürfnis, in der Masse aufzugehen, ist bedingt durch das Kriegserlebnis, in dem durch das Erleben des Ungeheuerlichen die eigene Persönlichkeit ausgeschaltet wird und der einzelne zwangsläufig als Teil eines Kollektivs handelt: „Einer für sich allein erlebt dies nicht. Ich habe es nur als einer in der Masse erlebt.“104 Im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg und die unmittelbare Situation danach wird dementsprechend tatsächlich ein kollektives Schicksal vorausgesetzt, das im Massenerlebnis Linderung erfährt, und in der Folgezeit versucht der Protagonist kurzzeitig, durch Kirchenbesuche und Massenprozessionen wieder eine Eingliederung in ein Kollektiv zu finden, das die eigenen Probleme erleichtert. Doch diese Wahrnehmung ändert sich in den 20er Jahren sehr schnell wieder, indem die Massenphänomene des Nationalsozialismus und der anderen politischen Parteien105 distanziert dargestellt werden, das Aufgehen in der Masse als erlösendes Erlebnis erscheint nicht als dauerhafte Lösung für den Protagonisten. Bei der ersten Rede A.H.s, welcher der Ich-Erzähler beiwohnt, wird er zwar im unmittelbaren Erlebnis von der Masse mitgerissen, die Suggestion hat jedoch keine längere Wirkung auf ihn, da seine rationale Individualität sich nicht bezwingen lässt. Ich war schnell wieder zu Bewusstsein gekommen. Ich war für meine Person der geistigen Übermacht H.s entgangen, denn ich sah die Gefahr. Vielleicht bereute ich einen Augenblick lang, was ich im Herbst 1918 getan hatte. Ich hatte eingreifen, handeln, herrschen wollen. Ich war dem Schicksal unterlegen, während ich es in meiner Gottähnlichkeit hatte kommandieren wollen. Ich war machtlos, denn ich war allein.106

In diesem Zitat äußert sich nicht nur die Begründung für seine Immunität gegen die Massensuggestion, sondern auch die Problematik seiner Isolation, die eng verbunden ist mit derjenigen des armen Verschwenders: Der Herrschafts- und Gottähnlichkeitsanspruch des Arztes und des Individuums steht seinem Bestreben nach Gemeinschaft diametral entgegen. Schließlich gelingt es ihm weder, in seinem Sinne Einfluss auf das Geschehen zu nehmen, noch, beständige Bindungen aufzubauen. Erst das Ende

103 Weiß: Der Augenzeuge, S. 175. 104 Ebd., S. 137f. 105 Vgl. das Verhältnis des Protagonisten zu den Befürwortern der demokratischen Partei, der er angehört: „Mich hemmte die Anwesenheit einer größeren Menge nicht. Sie feuerte mich aber auch nicht an.“ (Ebd., S. 179.) 106 Ebd., S. 197.

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des Romans lässt ihn zu einer transzendentalen Erfüllung gelangen, allerdings zum Preis der Selbstaufgabe. Dass er aus dem Spanischen Bürgerkrieg zurückkehrt, wird nicht antizipiert, vielmehr wird der Abschied von seiner ihm entfremdeten Frau und seinen Kindern als ein endgültiger dargestellt. Dennoch findet der Augenzeuge hierin sein ‚Göttliches‘, das er zuvor angestrebt hatte und seinen Frieden: Aber mit diesem Fürchterlichen war auch etwas Göttliches in mir erwacht, eine Hoffnung, eine Erleuchtung, ein Ziel und eine letzte Freude am Dasein. Ich wusste auf einmal, ich war noch nicht bei lebendem Leibe abgetötet. Ich war lebendiger als Kaiser und sein Sohn, ich wollte handeln. ich wollte wirken, mich nicht mehr in mir verzehren. „Hilf anderen“, sagte ich mir, „dann hilfst du dir selbst, Gott laß beiseite.“107

Auch der arme Verschwender findet schließlich seinen Frieden, allerdings auch hier erst, als er sich von der Gesellschaft und der Welt der Lebendigen losgesagt hat. Bereits todkrank, dies jedoch nicht realisierend, schreibt er noch an seinen Aufzeichnungen: „Das Verstorbene lieben, und dem treu sein in seinem Sinn, was nun einmal nicht mehr wiederkehrt. Verschenken, was man nicht hat. Wenn es nun einmal so Freude macht. Der liebe Gott mag auch so eine Art Verschwender sein.“108 Beide Protagonisten gehen am Ende in den Tod und dennoch sind sie ruhiger und glücklicher als in ihrem gesamten Leben zuvor.

107 Ebd., S. 285. 108 Weiß: Der arme Verschwender, S. 485.

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5.9 D EUTSCHNATIONALE ‚G RENZLANDROMANE ‘ Mit Friedrich Bodenreuths „Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland“ und Gottfried Rothackers „Das Dorf an der Grenze“ werden zwei deutschnationale Romane aus dem Jahr 1938 betrachtet, die in der Behandlung der Frage nach der Verortung des Individuums innerhalb von Kollektiven einen kontrafaktischen Beitrag zur deutschböhmischen und deutschmährischen nicht-deutschnationalen Literatur der Zwischenkriegszeit darstellen. Im thematisierten ‚Daseinskampf‘ der Deutschen in der Ersten Tschechoslowakischen Republik wird die Unvereinbarkeit der kulturellen Differenzen zwischen Deutschen und Tschechen hervorgehoben, das Individuum kann hier nur mit der Besinnung auf seine nationale kollektive Identität seine Erfüllung finden und wird in diesem Rahmen entpersonalisiert. Durch das Aufdecken der Strategien der nationalistischen und rassistischen Argumentation der Romane kann somit zum einen der Hintergrund der Ausschlussmechanismen, mit denen die Protagonisten der nicht-deutschnationalen Literatur zu kämpfen haben, geschärft werden. Zum anderen verweist der Antagonismus zwischen nationalistischer und kulturvermittelnder Darstellung der multikulturellen Situation auf die Aktualität der Literatur des modernen Raums Böhmen und Mähren, indem die kulturrelativistische Argumentation der deutschnationalen Romane zahlreiche Analogien zu den nationalistischen Exklusionsstrategien des heutigen Neorassismus aufweist. 5.9.1 Friedrich Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland Friedrich Bodenreuths (eigentlich Friedrich Jaksch) 1938 erschienener Roman, ein „germanoschwulstige[s] Weltkriegs- und Kriegsende-Epos“,1 schildert die Erlebnisse seines Protagonisten Christopher Jakobs, ausgehend von seiner Jugend in den 10er Jahren und seinem beginnenden Studium, das bald durch den Ausbruch des Weltkrieges ein jähes Ende nimmt. Den Großteil der Schilderungen nehmen die Kriegserfahrungen ein und der Roman ist somit einer der wenigen Kriegsromane der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur. Im Vordergrund steht hierbei die Auseinandersetzung mit den Tschechen, deren Großteil als aufrührerische Verräter am österreichischen Staat dargestellt wird, sowie die ambivalente Haltung des Protagonisten, der sich als Deutscher fühlt und einen Anschluss von ‚Deutschböhmen‘ an Deutschland wünscht, gegenüber dem Vielvölkerstaat, dessen Politik vor allen Dingen in Bezug auf die ‚Völkerfrage‘ er nicht gutheißt, für den er aber dennoch freiwillig in den Krieg zieht.

1

Pustejovski: Die deutsche Literatur Böhmens und Mährens, S. 73.

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In Hinblick auf die zeitgenössische Situation kurz vor der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik lassen sich Motive ausmachen, die auch in den nicht-deutschnationalen Romanen der Region eine entscheidende Rolle spielen, hier jedoch gänzlich anders politisch motiviert sind. Noch vor dem Ersten Weltkrieg bemerkt Christopher gesellschaftliche und politische Veränderungen, indem die tschechische Bevölkerung an Einfluss und Macht gewinnt. Er verfällt in eine Depression, seine Schulnoten verschlechtern sich rapide, da ihm das Lernen angesichts der, wie er meint, drohenden Gefahr für das Deutschtum in Böhmen unsinnig erscheint: Das alles ist doch gleichgültig! Dazu ist doch jetzt keine Zeit! Sie haben doch auch Augen im Leibe, und sehen sie denn nicht, wohin es mit uns geht? ‚Nicht für die Schule, sondern fürs Leben!‘ steht über der Schultüre. Aber sie sagen kein Wort davon, was wir tun müssen, wenn es ans Leben geht!2

Diese Passage erinnert an das Gefühl des Protagonisten in Weiskopfs Slawenlied, der im Prag des letzten Kriegsjahres die Veränderungen der Stadt durch die an Selbstbewusstsein gewinnenden Tschechen wahrnimmt, mit seiner Beobachtung jedoch innerhalb der bürgerlichen deutschen Bevölkerung allein steht; seine Eltern und deren Bekannten scheinen blind gegenüber den Vorgängen zu sein, seine Lehrer unterrichten weiter in schwarz-gelber Manier Vergil und Logarithmen. Es besteht somit eine gemeinsame Grundsituation in den beiden Romanen: Die Hierarchieverhältnisse im Staate verschieben sich, der Wandel fordert von der jungen Generation eine Stellungnahme, das Verhalten der älteren Generation wird als gescheitert betrachtet, eine ReIdentifikation scheint notwendig. Doch die Wege, welche die Protagonisten daraufhin gehen, sind selbstverständlich grundverschieden. Während der Protagonist des Slawenlieds die Veränderungen in der Stadt zum Anlass nimmt, seine Sozialisation als bürgerlicher Prager Deutscher auszudehnen, indem er bewusst Kontakt zu Tschechen aufbaut und seine nationale Identifikation zugunsten des kommunistischen Gedankens einer internationalen Arbeiterbewegung jenseits von Nationalitätengrenzen ausweitet und aufgibt, findet in Bodenreuths Roman komplementär eine Verengung der Identifikation auf die deutsche Identität statt. In der Auseinandersetzung mit einem kommunistischen Klassenkameraden wird die Haltung Christophers deutlich, die einen eindeutigen nationalen Standpunkt fordert, der an Heimat und Generationenfolge gebunden ist: International? Das gibt es ja nicht. Das ist doch unmöglich. Keiner kann doch aus sich heraus. Man ist doch ein Kind und hat Eltern, und die haben Eltern, und so fort. Man kann doch nicht aus der Reihe treten und plötzlich nirgends mehr stehen wollen. Und wenn ich verhungere,

2

Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland, S. 24.

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dann verhungere ich eben auch als Deutscher. Das kann nicht anders sein. Nein, das kann gar nicht anders sein.3

In der Absage an alternative Modelle äußert sich die Strategie des Protagonisten, mit den veränderten Verhältnissen umzugehen. Diese unterscheidet sich diametral von den in den anderen behandelten Romanen auszumachenden, in denen die Protagonisten versuchen, durch ein Abwägen der verschiedenen Möglichkeiten, durch einen Weg der Mitte oder durch eine vermeintlich objektive Sichtweise den Herausforderungen der multikulturellen und -nationalen modernen Welt zu begegnen. Für Christopher stellt sich die Frage nach dem Weg des Individuums nicht, denn es gibt, wie der Erzähler konstatiert, für den Einzelnen einen determinierenden Faktor, der aus der Geburt resultiert und die Zugehörigkeit festlegt: „Ursprung und Ziel sind das gleiche: das Volk.“4 Konflikte treten für ihn dennoch auf, und zwar in der Frage danach, was bindender ist: der Staat oder das Volk, wobei diese Frage von vornherein als eine rhetorische erscheint. Gegenüber Österreich hat der Protagonist gemischte Gefühle, da er sein Volk nicht angemessen repräsentiert glaubt. Dies führt zu Wut und Verzweiflung in seiner Kindheit, indem er das Gefühl hat, alles, „was dem Volkstum diente, war ja immer irgendwie verboten in Österreich.“5 Aus diesem Grunde fühlt er sich zunächst auch nicht verpflichtet, in den Ersten Weltkrieg zu ziehen, als dieser ausbricht, da er ihn als ‚österreichischen Krieg‘ ansieht. Erst seine darauf folgende Überzeugung, dass der Krieg auch ein deutscher sei, nicht nur, da Deutschland mit Österreich im Bündnis steht, sondern „als Wissen des Gefühls oder des Blutes“, das „doch höher und tiefer als das Wissen des bloßen Verstandes“6 sei, bringt ihn dazu, sich freiwillig zu melden. Diese Stimme seines ‚Blutes‘ oder ‚Gefühls‘7 beeinflusst all seine Handlungen, er identifiziert sich so sehr über sie, dass selbst das eigene Leben im Vergleich nichtig erscheint. Auf dem Weg zur Front lächelt er über seine eigenen Worte „Deutschland ist im Bündnis mit Österreich“ und „Es ist ein deutscher Krieg.“. Darüber befragt, gibt er an: „Weil vor diesen beiden Sätzen unser eigenes Schicksal zu nichts gerinnt und weil es in ihnen gleichzeitig doch wieder so unsagbar groß wird. Das Leben ist nichts; erst der Einsatz macht es etwas wert.“8

3

Ebd., S. 33.

4

Ebd., S. 18.

5

Ebd., S. 22.

6

Ebd., S. 85.

7

Vgl. auch die Argumentationsweise des Nationalsozialisten Rolf in Baums Roman Zwei Deutsche, der im Gegensatz zu seinem kommunistischen Freund und Counterpart Erhard immer nur das Gefühl gelten lässt.

8

Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland, S. 189.

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Christopher definiert sich an keiner Stelle des Romans als Österreicher, sondern immer als Deutschböhme oder als Deutscher. Erst die gedankliche Verbindung des deutschen Volkes mit dem österreichischen Staat ermöglicht es ihm, für diesen in den Krieg zu ziehen. Dieses enge Zugehörigkeitsgefühl zum nationalen Volksgedanken beeinflusst auch seine Einschätzung der Tschechen, die durchaus ambivalent im Roman geschildert werden und keineswegs nur entindividualisiert, funktionalisiert oder durchweg negativ gezeichnet werden, wie dies etwa in Rothackers im gleichen Jahre erschienen Roman Das Dorf an der Grenze der Fall ist. Drei Figuren nehmen besondere Bedeutung ein: Zunächst begegnet Christopher dem alternden Tschechen Kovalinka, der einen Großteil seines Lebens in Deutschland verbracht hat, dann jedoch in seine Heimat zurückgekehrt ist. Christopher und er kommen sich in Gesprächen näher, da sie über ihre Heimatliebe und ihre feste Verankerung in ihrem jeweiligen Volk verbunden sind. Ihr gemeinsamer Feind ist Russland, in dem Kovalinka, auch wenn die jungen Tschechen ihre Hoffnung in den Kommunismus setzen, eine Gefahr für die Beibehaltung der eigenen Nation sieht. Von seinem eigenen Bruder hat er sich stark entfremdet, da dieser, als er ihn einlud, in das Elternhaus zurückzukehren, nur von Russland gesprochen hat, „und daß es bald keine Nationen mehr geben werde, sondern nur mehr eine Menschheit und eine Brüderlichkeit.“9 Mit Christopher sei das ganz anders: „Aber vielleicht gerade weil wir beide so fest an unserem Volk hängen, Sie an dem deutschen und ich an dem meinigen, können wir deshalb so gut miteinander über diese Felder gehen.“10 Der Vertreter des anderen Volkes kann hier nicht nur respektiert, sondern auch verstanden werden, die Differenzen sind deutlich, führen jedoch nicht zu Hass, sondern zu einem Einvernehmen. Gänzlich anders wird ein tschechischer Bahnbeamter, der Christopher aufgrund seiner perfekten Tschechischkenntnisse für einen der ihren hält und ihm revolutionäre Gedanken gegen den österreichischen Staat und für einen Kampf mit Russland mitteilt, von diesem bewertet. Die Abneigung Christophers ergibt sich nicht nur aus dem Gesagten, sondern vor allen Dingen aus dem Namen des Beamten, der Bohdan Körner heißt. Hieraus schließt der Protagonist, dass der Beamte deutsche Eltern hat, die „viel deutsche Liebe im Herzen haben“.11 Die tschechische Gesinnung des Mannes erregt daher in Christopher Abscheu und Hass, einen Wechsel von der einen nationalen Zugehörigkeit in die andere sieht er als den größtmöglichen Verrat an seinem eigenen Volk an: „Dieser Bohdan Körner ist ein Verräter, denn er steht auf gegen sein eigenes Blut.“12 Es ist nicht der aufrührerische Gedanke gegen den österreichi-

9

Ebd., S. 75.

10

Ebd., S. 76.

11

Ebd., S. 104.

12

Ebd., S. 106.

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schen Staat, der Christopher so aufbringt, dass er den Beamten am liebsten niederschlagen will, sondern die Lossagung von der eigenen Herkunft, die für Christopher das bedingungslose Wesen des Einzelnen ausmacht. Dies wird deutlich, als er kurz darauf räsoniert: „Aber die anderen, die echten Tschechen, die auf der Seite ihres slawischen Blutes stehen wollen, sind das Verräter? – Was ist heiliger: Volk oder Staat? – Darauf kommt es an!“13 Dieser Gedanke Christophers wird nicht zufällig von einem weiteren, ‚echten‘ Tschechen aufgegriffen, dem Kommandanten in der österreichischen Armee Mlejnek, der aufgrund von Sabotage und der Preisgabe seines Regiments an den Feind zum Tode wegen Hochverrats verurteilt ist. In einem letzten Gespräch mit Christopher werden seine Beweggründe, mit einer ganzen Reihe von Ausrufezeichen, deutlich: Österreich ist zu eng geworden für die Reife meines Volkes! Der Wille meines Volkes zu einem eigenen Raum ist das Recht seines Lebens! Blut ist der stärkste Eid! […] Was diesem Staate dient, verstößt gegen die Lebensrechte unseres Volkes. Was unser Volkstum für sich verlangt und braucht, untergräbt den Staat! Was ist für uns Verrat, was ist für uns Treue? Treue ist Verrat! – Verrat ist Treue! Was steht höher: Volk oder Staat? Das ist zu entscheiden! Volk ist mehr als Staat! Tötet mich! Der Tod ist für mich keine Strafe. Eine Ehre ist der Tod! Heilt meine Wunden wieder, laßt mich an die Front und stellt mir noch größere Foltern in Aussicht, wenn ich noch einmal versuchte, was ich bereits einmal getan! Ich würde es wieder tun! Volk ist mehr als Staat! Deutscher, kannst du das verstehen? Vielleicht lernt ihr es einmal verstehen wie wir. Und dann wird Friede sein in Böhmen.14

Diese Haltung imponiert Christopher, der Kommandant erscheint nicht als Verräter, sondern ihm wird sogar eine gewisse Hochachtung gezollt. Der Tscheche, der an sein Volk glaubt und für es kämpft, erscheint als Feind und Gegner, allerdings als ein respektierter und ebenbürtiger. Die Darstellung dieser drei Tschechen illustriert die nationale Haltung Christophers, die nicht zwangsläufig eine Hierarchie der Völker impliziert, sondern sich eines kulturellen Relativismus, der Betonung der Differenz bedient, die nicht minder

13

Ebd.

14

Ebd., S. 238.

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rassistisch ist,15 und Gemeinsamkeiten mit der neorassistischen Bewegung des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts aufweist, denn „[m]it einer antirassistischen und kulturrelativistischen Rhetorik setzt sich die neorassistische Ideologie als implizite, unterschwellige Erklärung für die Legitimation von Ausgrenzungs- und Diskriminierungspraktiken durch.”16 Bodenreuth formuliert zwar keine ‚rassische‘ Überlegenheit der Deutschen und er lässt auch positive Beschreibungen der Tschechen in seinen Roman einfließen, die Aussage des Romans ist dennoch überdeutlich: Die tschechische Liebe zum eigenen Volk wird zwar akzeptiert und verstanden, ihr wird sogar ein Recht auf Entfaltung zugestanden, dies jedoch keinesfalls auf Kosten des deutschen Volkes und in den von Deutschen besiedelten Gebieten. Hier, wo die Interessen miteinander in Konflikt geraten, ist mit dem vorgeblich rechtmäßigen Anspruch der

15

Bodenreuth bedient sich einer Argumentation, die zwar auch imperialistisch geprägt und von der Forderung des Raums für das eigene Volk bestimmt ist, jedoch in seiner Akzentuierung nicht auf eine ‚arische Überlegenheit‘ der ‚Rasse‘, sondern auf die Gleichstellung, aber Unvereinbarkeit der Völker aufgrund ihrer kulturellen Unterschiede als Vorläufer des späteren Neorassismus gelten kann. Vgl. zur neorassistischen Ideologie Taguieff: „Der neuformulierte „Rassismus“ im Vokabular der Differenz tendiert dazu, die Konzepte der Ungleichheit und Hierarchie zu verschleiern. Auf der rhetorischen Ebene findet dementsprechend ein Austausch des Arguments der Ungleichheit (klassischer Indikator für den „Rassismus“ in der antirassistischen Terminologie) durch das Argument des Unterschieds – oder die ausschließliche Benennung von Unterschieden – statt. Dies wiederum flankiert die rassenbildenden Phantasien und die Angst vor der Mischung (interethnische Verbindungen und „Kulturmischung“) und führt zur Norm einer bedingungslosen Bewahrung der einzelnen Einheiten in der Gemeinschaft so, wie sie sind (oder hätten bleiben sollen oder wie sie werden müßten), mit all ihren Besonderheiten und Eigenarten. Das Gegenstück dieser Norm ist die Angst, die auf der Vision einer endgültigen Vernichtung der kollektiven Identität gründet.“ (Taguieff: Die Macht des Vorurteils, S. 22.) Diese Angst des Untergangs des deutschen Volkes äußert sich bei Bodenreuth z.B. in den Karten, die Christophers Freund Emil Breuer einem Tschechen abgenommen hatte und in denen ein angeblicher Plan der Tschechen eingezeichnet ist, nach dem Deutschland zwischen den Slawen und Frankreich aufgeteilt werden soll und „dazwischen kein Deutschland mehr, sondern nur eine deutsche Reservation, ein Naturschutzpark für die letzten Reste des deutschen Menschen!“ (Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland, S. 314.)

16

Leicht: Multikulturalismus auf dem Prüfstand, S. 134. Vgl. auch Taguieff: „Die neorassistischen Diskurse nähren sich aus der Beschwörung des Verschwindens der Vielfalt in der Welt des Menschen, eines unmerklichen, aber irreversiblen Übergangs einer positiven Heterogenität von Kulturen und Ethnien zu einer Homogenität des Untergangs von Individuen und Kulturen.“ (Taguieff: Die Macht des Vorurteils, S. 22.)

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Deutschen auf das Land zum Erhalt des eigenen Volkes die Rechtfertigung für einen rücksichtslosen Kampf gegeben. Die Differenzen zwischen Deutschen und Tschechen werden stark betont, vor allen Dingen die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens in Böhmen wird von vornherein negiert.17 Dies wird besonders deutlich in den Momenten, in denen Christopher mehreren Tschechen gegenübersteht, beginnend bei den Prügeleien nach der Schule, über die Musterung und den Krieg bis hin zu den Kämpfen, die nach dem Ersten Weltkrieg in Nord- und Südböhmen ausgetragen werden. Im Böhmerwald, so wird es im Roman dargestellt, ist schon immer Krieg gewesen18 und der Kampf wird nicht enden, solange Deutsche und Tschechen dort in einem National- oder Vielvölkerstaat zusammen leben.19 In diesem Sinne sind sich Christopher und Mlejnek einig, und dies erklärt auch die Funktion des Zitates des zweiten tschechoslowakischen Präsidenten, des „von deutscher Seite so angefeindete[n] Beneš“,20 das dem Roman als Vorwort vorangestellt ist und im Text noch einmal aufgegriffen wird: „Tatsächlich ist zwischen den zwei Nationen in Böhmen eine Versöhnung nur möglich, wenn beide Völker vollkommen autonom sind. Es muß eins vom anderen getrennt werden.“21 Eine Aufteilung Böhmens in Verwaltungsbezirke, die sich an der Sprachgrenze orientieren und jeweils unter Selbstverwaltung stehen, somit eine vollständige Trennung der beiden Völker erscheint Christopher vor dem Ersten Weltkrieg als einzige Lösung für den Nationalitätenkampf. Hierfür wäre er sogar bereit, Prag zu opfern,22 das stellvertretend für den gesamten Problemkomplex steht: „Alle [Deutschböhmen] aber gingen sie durch Prag, denn Prag ist überall, auch hier in Budweis. Denn auch hier ist dieselbe Liebe und derselbe

17

Vgl. hierzu auch Lozoviuk, der anhand des Romans Vier Brüder von Josef Rank, den er als Vorläufer für den ‚Grenzlandroman‘ charakterisiert, feststellt: „Für dessen Entstehungsgeschichte [des Grenzlandromans] spielte Böhmen, wo das Vorhandensein der Andersnationalen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr oder weniger als ein unnatürlicher und deshalb auch unerwünschter Zustand betrachtet wurde, eine besondere Rolle.“ (Lozoviuk: Interethnik im Wissenschaftsprozess, S. 65.)

18

Vgl. Bodenreuth: „Ich bin in einer Sprachinsel zu Hause. Und da kämpft man doch von Kind an.“ (Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland, S. 119.) Wiederholt wird auch von Böhmen als ‚unsichtbare Front‘ gesprochen (vgl. ebd., S. 91 und 101.)

19

Vgl. ebd.: „Wir Deutschböhmen aber müssen in einem ewigen Graben liegen, vom ersten

20

Kural: Konflikt anstatt Gemeinschaft?, S. 27.

21

Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland, S. 44 (kursiver Teil im

Tag des Lebens bis zu seinem Ende.“ (Ebd., S. 347.)

Original gesperrt). Dies ist ein Zitat aus Benešs Le problème austrichien et la question tchèque. 22

Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland, S. 46.

400 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM

Haß, dasselbe Glück und dieselbe Not.“23 Ein Selbstbestimmungsrecht nach Wilson für die Deutschböhmen nach dem Ersten Weltkrieg, auf das sowohl Sozialdemokraten wie auch Nationalisten ihre Hoffnung setzten, war von vornherein von den Siegermächten nicht vorgesehen,24 und Christopher hofft, sobald er dies erkennt, auf einen Anschluss an Deutschland oder Waffenhilfe aus dem ‚geschlossenen Sprachgebiet‘, um die Selbstverwaltung mit eigenen Mitteln durchzusetzen.25 Eine Verständigung mit den Tschechen und ein Akzeptieren der Ersten Tschechoslowakischen Republik kommen für ihn nicht in Frage. In diesem Punkt wird der Antagonismus zwischen den deutschnationalen und den (sozial)demokratischen und kommunistischen Deutschen Böhmens und Mährens deutlich, der nicht nur durch eine unterschiedliche Haltung gegenüber den Tschechen und dem neuen Staat gekennzeichnet war, sondern sich auch in offener Feindschaft äußerte. Christopher sieht die sozialdemokratische Partei als ‚inneren Feind‘ an, den es ebenso wie die Tschechen zu bekämpfen gelte: Während alle anderen deutschböhmischen Parteien sich in die mühsamen Arbeiten der Wahlvorbereitung stürzten, benützten die Sozialdemokraten die Gelegenheit der gebundenen Hände der politischen Gegner zum Ausbau ihrer eigensüchtigen Belange. Gegen die verzweifelten Rufe „Deutscher, denke doch an dein Volk!“, gegen die Bitten aus todwunder Not schickten sie ihre Sendlinge und Prediger von Freiheit, Brot und Ruhe, Völkerfrieden und Internationalismus. Das ausgeblutete Volk hörte von Freiheit und sah die Knechtschaft nicht, die sich dahinter verbarg; hörte von Brot und sah nicht den Hunger hinter diesem Worte lauern; hörte von Ruhe und glaubte an Ruhe im Leben, aber erkannte nicht, daß die Sendlinge nur die Ruhe nach der Selbstvernichtung anboten; es hörte von Internationalismus und erkannte nicht, daß der

23

Ebd., S. 18.

24

Vgl. Leoncini: Die Sudetenfrage in der europäischen Politik, S. 39.

25

Vgl. zur fehlgeleiteten politischen Strategie der ‚Sudetendeutschen‘ nach dem Ersten Weltkrieg Leoncini: „[I]m Herbst 1918 [hatten] die Tschechen ein wirkliches Interesse daran […], zu einem direkten Einverständnis mit den Deutschböhmen zu gelangen. Daraus hätte sich für letztere die Chance ergeben, präzise Garantien zu fordern und Bedingungen an ihre Teilnahme am neuen Staat zu knüpfen. Hier, an diesem Scheideweg, bot sich den Sudetendeutschen die Möglichkeit, entschieden mit der Vergangenheit und mit dem deutschen Nationalismus zu brechen, um zu einem wichtigen Bestandteil des Gleichgewichts innerhalb der Tschechoslowakei und zu einem dynamischen Faktor für die Entwicklung des friedlichen Zusammenlebens in Mitteleuropa und besonders zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei zu werden.“ Stattdessen jedoch hielten es die ‚Sudetendeutschen‘ „für angebracht, die alte alldeutsche Politik fortzusetzen und in der Opposition gegen jede Verständigung mit den Tschechen zu verharren“. (Ebd., S. 45.)

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Machthunger des Feindes von seinem Opfer bloß noch die Selbstentrechtung verlangte. Was sich den Sendlingen nicht willig fügte, bogen sie durch Zwang.26

Neben der offensichtlichen nationalsozialistischen Propaganda, die hier verkündet wird, zeigt das Zitat auch den diametralen Zusammenhang zwischen Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland und den nicht-deutschnationalen deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen. Denn diejenigen, die Christopher hier verteufelt, sind, neben den Politikern, die er konkret anspricht, eben auch kulturelle Mittler, Figuren, die nicht das eigene nationale Volk über alles stellen, die Wege des Kompromisses und der Verständigung der Kulturen anstreben; Charaktere also wie z.B. Ludwig Winder und F.C. Weiskopf, Max Brod und Hans Natonek. Die politische Einstellung und Argumentation, gegen die sich Christopher in diesem Zitat wendet, ist auch diejenige der politisch aktiven Protagonisten der hier betrachteten Romane, etwa im Slawenlied, in Der Umbruch oder im Augenzeugen. Hieraus lassen sich in Bezug auf den Zusammenhang zwischen den deutschnationalen Grenzlandromanen und den anderen in der Region produzierten Texten folgende Schlüsse ziehen: Es ist eine Fehlannahme, dass die deutschnationale und die nicht-deutschnationale, oder, um die Begrifflichkeiten der Liblice-Konferenz zu verwenden, die ‚sudetendeutsche‘ und die ‚Prager deutsche‘ Literatur, außer der Sprache keine Gemeinsamkeiten aufweisen27 und dass eine Untersuchung beider Literaturen nicht zur Kenntnis der jeweils anderen beitragen kann. Vielmehr setzen sich beide ‚Literaturen‘ explizit mit der unmittelbaren zeitgenössischen Situation auseinander und verweisen komplementär aufeinander. Sie sind jeweils ein Kommentar zu den Herausforderungen des Individuums im multikulturellen Raum und können als Beiträge zu einem unerbittlichen Disput verstanden werden.Sowohl die kulturvermittelnde Tendenz der ‚Prager deutschen Literatur‘ als auch die kulturrelativistische und rassistische der ‚sudetendeutschen‘ Literatur der Ersten Tschechoslowakischen Republik können auf Traditionen zurückgreifen,28 wobei die massiven Hierarchieverschiebungen und der Wegfall der alten Ordnungen durch den Ersten Weltkrieg die Positionen verschärft, den

26

Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland, S. 331f.

27

Vgl. etwa Bock: Relationship of the Prague German Writers to the Czechoslovak Repub-

28

So kann etwa als ein sehr frühes Beispiel eines kulturverständigenden Ansatzes und des

lic, S. 275. sprachlichen Utraquismus der Schriftsteller Josef Wenzig gelten, der bereits Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst z.B. tschechische Lyrik ins Deutsche übersetzte, sich für zweisprachige Schulen einsetzte und schließlich auch Werke auf tschechisch schrieb (vgl.

402 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM [d]ie Entstehung der Tschechoslowakei machte nach dem Ersten Weltkrieg bei allen, die diesem neu entstandenen demokratischen Nationalstaat angehörten, eine Revision ihres personalen wie kollektiven Selbstverständnisses notwendig. So erfuhren mit Ausnahme der Tschechen alle anderen Einwohner dieses neuen Staates die politischen Veränderungen als Geschichtsund Identitätsbruch.29

Die Unterschiede in der Literatur dürfen selbstverständlich nicht nivelliert werden,30 dennoch sollte eine Untersuchung der ‚Prager deutschen Literatur‘ das Vorhandensein der ‚sudetendeutschen‘ Literatur und die Spannung nicht nur zwischen Deutschen und Tschechen, sondern auch unter den Deutschböhmen und -mährern nicht außer Acht lassen, die nicht nur in den ‚Sudetengebieten‘, sondern auch in Prag vorhanden war. Die politische wie kulturelle Spaltung der Deutschen in Böhmen und Mähren, die von beiden Seiten aus unterschiedlichen Gründen heftig kritisiert wurde, hatte auf die Texte ebenso einen Einfluss wie die Auseinandersetzung mit den Tschechen (dies ist etwa an Urzidils Einschätzung der ‚sudetendeutschen‘ Kulturpolitik und Pauls Kischs Verriss von Picks Anthologie Deutsche Erzähler aus der Tschechoslowakei (jeweils näher behandelt in Kap. 2.2.2) abzulesen). Die Überbetonung der Gemeinschaft der Deutschböhmen und des nationalen Zusammenhaltes bei Bodenreuth ist der nationalen, politischen und sozialen Zerfaserung der Region ebenso geschuldet wie die Desorientierungserscheinungen der Protagonisten etwa bei Weiskopf oder Rühle-Gerstel. Dem Protagonisten Christopher in Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland ist der innere Zusammenhalt der Deutschböhmen gegen die Tschechen und eine scharfe Kritik an Versuchen von Deutschen, sich mit dem neuen Staat der Ersten Tschechoslowakischen Republik zu arrangieren, auch deshalb so wichtig, weil er sich vom ‚geschlossenen Sprachgebiet‘, vom Deutschland der Weimarer Republik im Stich gelassen fühlt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der von den Deutschnationalen erhoffte Anschluss an Deutschland nicht befürwortet: „Deutschland hatte keine

hierzu: Maidl: Landespatriotismus, Nationalitätenwechsler und sprachlich-nationale Divergenz, v.a. S. 33ff.). Als frühes Beispiel für den nationalen Grenzlandroman dagegen gilt Fritz Mauthners Der letzte Deutsche von Blatna aus dem Jahre 1887. 29

Schönborn: Im Labyrinth der Kulturen, S. 253.

30

Genauso wenig wie Gemeinsamkeiten zugunsten einer vereinfachenden Dichotomisierung oder aus ideologischen Gründen verschwiegen werden sollten. Vgl. hierzu Spector: „If it becomes clear that discursive resemblances between texts of, say, völkisch German nationalism, Zionism, and expressionism exceed comfortable levels, this should only accentuate the deceptive aspect of the kind of history of ideas that erases these original marks from the „arguments“ distilled from texts.” (Spector: Prague Territories, S. 33.)

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Begeisterung für die Anschlußpläne gezeigt, es begrenzte sich auf die Pflege der nationalen und kulturellen Gemeinsamkeiten, verzichtete auf politische Einmischung und unterstützte eher eine staatsbejahende Einstellung der Sudetendeutschen.“31 Diese Haltung wird im Roman vor allen Dingen den Kommunisten in Deutschland angelastet32 und das Verhalten der Sozialdemokraten in Böhmen wird als ‚Dolchstoß‘ aufgefasst.33 Von Deutschland ist keine Hilfe zu erwarten: „Es hat keinen Sinn, Deutschland zu rufen. Deutschland hört die Stimme des Blutes aus Böhmen nicht mehr, Deutschland zerfleischt sich selbst.“34 Christopher hat zwar einen Traum von einem Mann, „der noch an Deutschland glaubt“35 und der auf Hitler gemünzt ist, für den Zeitpunkt, in dem der Roman endet, um 1920, bleibt ihm jedoch nur das Bewusstsein des ewigen Kampfes und Verzichts in Böhmen, woraus er den gesamten Sinn seines Daseins schließt, hinter dem er als Individuum zurückstehen muss und will. Dieser ewige Kampf ist auch das vorherrschende Thema eines anderen deutschnationalen Romans, Gottfried Rothackers Das Dorf an der Grenze, der hier in groben Zügen umrissen werden soll, da er einerseits thematisch eng an Bodenreuths Roman anschließt, andererseits jedoch vor allen Dingen in Bezug auf die Darstellung der tschechischen Bevölkerung anders argumentiert und somit ein weiteres Beispiel der Darstellung der nationalen Kollektive im Böhmen und Mähren der 30er Jahre bietet. 5.9.2 Gottfried Rothacker: Das Dorf an der Grenze Der ebenfalls 1938 erschienene Roman Rothackers (eigentlich Bruno Nowak) schildert die Erlebnisse des Dorfschullehrers Ortwin Hartmichel, der wahrscheinlich Anfang der 30er Jahre als junger Mann nach einigen Jahren Arbeitslosigkeit die Leitung der deutschen Schule des Grenzdorfes Skopolnica, vormals Schatzdorf übernimmt. Im Vordergrund steht dabei der ‚Überlebenskampf‘ der deutschen Gemeinde gegen die größer werdende tschechische Bevölkerung, welche sich das Dorf und die deutschen Besitztümer vorgeblich einverleiben will. Der Roman ist in Kapitel unterteilt, die jeweils mit den Phrasen „Der Schullehrer Ortwin Hartmichel erzählt:“ oder „Der

31

Křen: Nationale Selbstbehauptung, S. 46. Dies wurde von vielen Deutschböhmen als Katastrophe aufgefasst: „Statt einer Befestigung ihrer schwankenden nationalen Identität durch eine Verschmelzung mit dem deutschen „Muttervolk“ hatten [die sudetendeutschen Politiker] sich mit dem Leben im Staat des alten Gegners abzufinden. Dieses Umdenken stellt in seinem Wesen ein wirkliches nationales und geistiges Drama dar“. (Ebd., S. 47.)

32

Vgl. Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland, S. 301.

33

Vgl. ebd., S. 333.

34

Ebd., S. 341.

35

Ebd., S. 342.

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Ortwin Hartmichel hat einen Brief geschrieben:“ eingeleitet werden und ausschließlich aus der Perspektive des Protagonisten die Vorgänge im Dorfe beschreiben. Diese Erzähltechnik ermöglicht es zum einen, eine angebliche Authentizität und Unmittelbarkeit des Geschilderten zu suggerieren,36 zum anderen wird durch die Fokussierung auf die Gedanken und Einschätzungen des Lehrers keiner anderen Perspektive der Situation Raum gegeben,37 zumal dieser immer Recht zu haben scheint. So gelingt es ihm mühelos, einen deutschen Kommunisten davon zu überzeugen, dass seine Wut auf die deutschen Industriellen, welche in der Wirtschaftskrise immer weniger Löhne zahlen, fehlgeleitet ist, da der eigentliche Feind die Tschechen seien, welche die deutschen Fabrikbesitzer in den Ruin trieben. Der Kommunist antwortet darauf: „Das ist so, Herr Schullehrer, gewiß ist das so. Und ich glaube, es hat mir einen gewaltigen Ruck gegeben. Ich glaube, es sind mir da einige Schuppen von den Augen gefallen. Ich sehe die Dinge jetzt klarer und einfacher.“38 Durch die vereinfachenden Schilderungen des Lehrers und seine stark verzerrenden Darstellungen der politischen wie wirtschaftlichen Situation und der Geschichte in Böhmen und Mähren gerinnt der Roman zu einer reinen nationalsozialistischen Propaganda, die sich, sehr viel stärker und eindeutiger als in Bodenreuths Roman, vor allen Dingen auf eine rassistische Einschätzung des tschechischen Volkes und die Ideologie des nationalen Sozialismus konzentriert.39

36

Die Instrumentalisierung der Darstellung wird dem kritischen Leser, vor allen Dingen aus der heutigen Retrospektive, offenbar, Hartmichel jedoch verwehrt sich gegen den Vorwurf: „Ich muß alles so erzählen, wie es sich zugetragen hat, der Reihe nach, sonst könnte einer glauben, es verhalte sich nicht alles nach meinen Worten, ich gäbe etwas dazu oder lasse etwas weg und entstelle das Bild so, wie ich es für meine Absichten brauche.“ (Rothacker: Das Dorf an der Grenze, S 254.) Diese Passage verweist darauf, dass Rothacker sich der Konstruiertheit seines Romans durchaus bewusst war.

37

Vgl. hierzu auch Budňák: „Diese „Authentizität“ unterstützt selbstverständlich den Eindruck von der einzigen und absoluten Richtigkeit der nationalen Kategorien, die der Schullehrer unfehlbar vertritt.“ (Budňák: Das Bild des Tschechen, S. 226.)

38

Rothacker: Das Dorf an der Grenze, S. 164f.

39

Vgl. zur Funktionalisierung des ‚Grenzlandromans‘ auch Lozoviuk: „Für eine Art Anweisung zu einer bewusst nationalen Handlung wurde der Grenzlandroman bereits in der Zwischenkriegszeit gehalten. Selbst die Grenzlandroman-Autoren neigten dazu, mit ihren Romanen eine Art ‚Volksbildungsarbeit‘ zu leisten. Sie appellierten in ihren Werken an das nationale Bewusstsein ihrer ‚Volksgenossen‘ und waren in ihren Werken darum bemüht, positive Prototypenbeispiele der ‚anständig‘ nationalen Haltung zu zeigen. Der Literat tritt so immer wieder als Lehrer und Erzieher des ‚Volkes‘ und der eigenen Nation auf.“ (Lozoviuk: Interethnik im Wissenschaftsprozess, S. 70. Kursiv im Original.)

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Während in Bodenreuths Roman einzelne Tschechen als Individuen oder als Vertreter ihres Volkes auftreten, sie selbst auch zu Wort kommen und die Motivation ihrer nationalen Handlungsweise somit aufgedeckt und vom Protagonisten zumindest teilweise auch respektiert wird, so erscheinen sie im Dorf an der Grenze vollkommen entindividualisiert,40 als feindliche Masse mit dem einzigen Willen, die Deutschen zu vertreiben. Häufig dient als Antagonist nicht einmal ein Tscheche, sondern das personifizierte tschechische Dorf, die ‚Fratze Skopolnica‘, „feindselig wie ein drohendes Schicksal, mit hackigen Klauen und grausamen Augen, eine fratzenhafte, blutgierige Maske mit einem Rachen und grünen Zähnen.“41 Einzelne Tschechen werden kaum geschildert, und wenn sie auftreten, so etwa in Form eines Polizisten, prügelnder, betrunkener Knechte oder Bauern, die versuchen, den ‚deutschen‘ Boden an sich zu reißen, so bleiben sie namenlos und werden nicht in ihren persönlichen Eigenschaften geschildert, sondern erscheinen alle im Dienste ihres Volkes und folgen darin einem hanebüchenen Plan,42 der darin besteht, den Deutschen alles zu nehmen. Hierbei dient Rothackers Argumentation die Situierung der Handlung in der schlimmsten Phase der Weltwirtschaftskrise in Böhmen und Mähren, die nationalistische Strömungen förderte und Unmut gegen die tschechoslowakische Regierung innerhalb der deutschen Bevölkerung laut werden ließ: [I]n der ČSR wurden verschiedene Nationalitäten von der Krise ungleich berührt; gerade diese Tatsache, verstärkt durch die schnellere Erneuerung der Produktion und Beschäftigung in Deutschland, wurde für die ČSR und die tschechisch-deutsche Beziehung ein hoch brisanter Sprengstoff und war mitbestimmend für das Entstehen einer zusätzlichen nationalen Krise und damit auch für das Schicksal des tschechoslowakischen Staates und seines Staatswesen.43

Bezirke, in denen primär Deutsche wohnten, waren stärker von der Arbeitslosigkeit betroffen als andere. Dies hatte vor allen Dingen wirtschaftliche Gründe, die sudetendeutsche Leicht- und Exportindustrie war bereits zu Zeiten Österreichs-Ungarns veraltet und hatte der Krise nichts entgegenzusetzen. Der tschechoslowakische Staat

40

Vgl. auch Budňák: Das Bild des Tschechen, S. 227.

41

Rothacker: Das Dorf an der Grenze, S. 7.

42

Vgl. etwa die Schilderung, wie neu zugezogene Tschechen vier deutschen Bauern ein zunächst verlockendes Angebot machen, das sie schließlich zu Sklaven der tschechischen Bank macht. Hier handeln die Tschechen nach einem genau ausgeklügelten Plan, der natürlich Unsinn ist. Die Absurdität des gesamten Vorgangs wird schon darin deutlich, dass die Deutschen zuerst den Vertrag unterschreiben und sich erst danach nach dem Preis für den erworbenen Acker erkundigen. (Vgl. ebd., S. 173ff.)

43

Kural: Konflikt anstatt Gemeinschaft?, S. 146.

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hatte daran mit seiner Ökonomiepolitik einen gewissen Anteil,44 es war jedoch keine tschechische Verschwörung gegen die ‚Sudetendeutschen‘, wie Rothacker unterstellt. Er steht mit dieser Darstellung allerdings nicht alleine, sondern diese Haltung wurde vor allen Dingen zu Beginn der 30er Jahren als antitschechische Propaganda für den Anschluss an (Hitler-)Deutschland verwendet.45 Auch die Siedlungspolitik der Tschechen, die bei Rothacker eine entscheidende Rolle spielt, da durch Zuzug weiterer Tschechen die deutsche Majorität im Dorf und damit die Möglichkeit, den Gemeindevorsteher stellen zu können, gefährdet ist, ist ein Politikum, das im öffentlichen Diskurs der 20er und 30er Jahre eine entscheidende Rolle spielte und nicht nur von den deutschnationalen Parteien, sondern auch von Sozialdemokraten heftig kritisiert wurde.46 Rothacker greift somit die unmittelbare, tatsächlich vorhandene Problematik der Deutschen in Böhmen und Mähren auf, versucht jedoch nicht, Ursachenforschung zu betreiben oder die Möglichkeit eines Ausgleiches zu formulieren, sondern instrumentalisiert die Situation im Sinne eines bedingungslosen Kampfes der Deutschen gegen die tschechische Vorherrschaft, der mit grenzenlosem Hass geführt wird und eine Verständigung zwischen den Völkern von vornherein ausschließt, solange Tschechen und Deutsche an einem Ort wohnen.47

44

Vgl. hierzu Kural: Konflikt anstatt Gemeinschaft?, S. 147.

45

Der deutsche Gesandtschaftsbericht aus Prag schildert im April 1933 das „Unbehagen des sudetendeutschen Volkes“: „Seit Bestehen der Tschechoslowakei haben die regierenden Kreise des Staates an einer Richtung unbeirrt festgehalten, der nämlich, daß der Nutznießer des Staates … das tschechoslowakische Staatsvolk sei. Aus diesem Gedanken erfand man sowohl die Bodenreform, die neben deutschen Großgrundbesitzern auch Güterbeamte, Angestellte und Arbeiter traf, als auch die vorzeitige Pensionierung deutscher Staatsbeamter zugunsten geringer qualifizierter Tschechen.“ (Brief von Joosten, Deutsches Konsulat an das Auswärtige Amt, 18. April 1933, in: Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag IV, S. 40.)

46

Vgl. hierzu Wenzel Jaksch in einer Rede vor nordböhmischen DSAP-Vertrauensleuten am 26. April 1936 in Karlsbad: „Die deutschen Sozialdemokraten haben im Grenzgebiet ein positives Verhältnis zu den tschechischen Minderheiten gefunden. Sie sind aber im schärfsten Gegensatz mit dem Geist jener Minderheitsorganisationen, die in jedem Deutschen einen Staatsfeind sehen. Wer den letzten deutschen Briefträger oder Eisenbahner ausrotten will, ist ein Totengräber der Staatsgesinnung im Grenzgebiet. Vom staatspolitischen Standpunkt aus ist es Wahnsinn, in die übervölkerten Krisengebiete immer neuen Menschenzuzug zu lenken. Dadurch wird in der deutschen Bevölkerung die Krisenstimmung immer mehr auf das nationale Gebiet verschoben.“ (Zitiert nach Hasenöhrl (Hrsg.): Kampf. Widerstand. Verfolgung, S. 31.)

47

Vgl. Rothacker: „Ich hasse dich, Skopolnica! So groß auch meine Liebe zu Schatzdorf ist, so heiß ist mein Haß gegen dich. Der Ausgleich ist natürlich und unabänderlich.

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Zur Mobilmachung der deutschen Bevölkerung ‚Schatzdorfs‘ bedient sich der Lehrer Hartmichel der Strategie, die Dorfbewohner an die ‚deutsche Scholle‘ zu binden. Zu diesem Zwecke stellt er Forschungen an, um zu beweisen, dass die Siedlung germanischen Ursprungs ist, womit ein rechtmäßiger deutscher Besitz der Region durch die Verbindung von Blut und Boden suggeriert wird. Dieser Machtanspruch in Böhmen und Mähren wurde auch von der sudetendeutschen Volkskunde durch historische Begründungen untermauert, wobei sich nicht gescheut wurde, bis zur Zeit der Völkerwanderung zurückzugehen; die Devise galt: „Einst germanisch, für immer deutsch“.48 Durch die Wahrung der germanischen Tradition in Schatzdorf, etwa durch die Wiederverwendung der ‚Heidenkanzel’ aus der frühen Steinzeit zum Sonnwendfeuer, sollen die deutschen Bewohner wieder an ihre Aufgabe gemahnt werden, die über ihren persönlichen Kleinkrieg gegen die Tschechen hinaus auf einen größeren Zusammenhang verweist. Das Feuer soll noch in Deutschland zu sehen sein, damit sie dort sagen können: Seht, dort brennt das Notzeichen von Schatzdorf, wo eine Handvoll armseliger Menschen gegen eine übermächtige Flut standhält. Wir wollen sie nicht vergessen, die dort einsam und auf wenig beachtetem Vorposten den großen Kampf kämpfen, von dessen Ausgang das Geschick unseres Volkes abhängt.49

Erst in diesem Rahmen erhält das Schicksal jedes Einzelnen für Hartmichel seinen Sinn. Er selbst stellt jegliche persönlichen Ansprüche zugunsten des nationalen

Trotzdem will ich in Frieden mit dir leben, wenn du dorthin zurückkehrst, wo du gewesen bist und dich begnügst mit dem, was dir gehört.“ (Rothacker: Das Dorf an der Grenze, S. 90.) Ein Frieden ist somit angeblich nur dann möglich, wenn Skopolnica nicht mehr existiert, damit propagiert Hartmichel eben den Vernichtungskampf, den er den Tschechen vorwirft. 48

Vgl. Braun: „Der Waffenmeister neben den Kämpfenden“, S. 269. Vgl. hierzu auch die Propagandaschrift von Vorbach: „Die tschechischen Behauptungen von der Erstbesiedlung des Sudetenraums durch die Slawen haben durch die Ergebnisse der Forschungsarbeiten der Archäologen und Sprachwissenschaftler ihre Widerlegung erfahren.“ (Vorbach: 200.000 Sudetendeutsche zuviel!, S. 25.) Lemberg fasst diese Instrumentalisierung der verkürzten (denn „[a]usgespart aus der eigenen Geschichte waren […] vor allem die Rolle der Juden, die Arbeiterbewegung, in gewisser Hinsicht auch die katholische Bewegung, und […] die tschechische Nation an sich“) Geschichte folgendermaßen: „Geschichte diente zur Präsentation eigener Leistungskataloge und zur Anprangerung auch schon vergangener ethisch verwerflicher Handlungen des nationalen Gegenübers.“ (Lemberg: Von den Deutschböhmen zu den Sudetendeutschen, S. 103.)

49

Rothacker: Das Dorf an der Grenze, S. 136.

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Kampfes zurück, und auch die Dorfbewohner und die Darstellung ihres Schicksals sind in dieser Hinsicht funktionalisiert; dies gilt auch für die wenigen, die eingehender charakterisiert werden (so für den Dorfvorsteher Nagler, der zu alt für den Kampf erscheint und daher zu Kompromissen neigt, die von Hartmichel selbstverständlich kategorisch abgelehnt werden, und den Kommunisten Riedel, der aufbrausend ist, dessen Energie sich allerdings von Hartmichel gut kontrollieren und verwenden lässt). Das Individuelle hat keine Berechtigung, einzig der Wert der Gemeinschaft ist von Bestand: „Wir hatten gesehen, daß der Vorteil des Einzelnen ein sehr vergängliches Ding war wie der Einzelne auch.“50 Ähnlich wie bei Bodenreuth wird aus diesem Grunde die Loslösung von der kollektiven nationalen Identität des Deutschtums als das größte Verbrechen angesehen. Der Bauer Neuwirth z.B., der mit den Tschechen verhandelt hatte, wird als abscheulicher Verräter dargestellt und es wird kein Zweifel daran gelassen, dass er sich sein eigenes Grab geschaufelt hat. Ein hartes Los trifft auch seine Kinder, die er auf die tschechische Schule geschickt hat. Hartmichel belehrt diesbezüglich die anderen Deutschen im Dorf: Ihr habt gesehen, daß Neuwirths Kinder schließlich nicht das und nicht das waren, nicht Deutsche und nicht Tschechen, so daß sie hier den Halt, den jeder haben muß, verloren und dort nicht gefunden hatten. Entwurzelt waren die Kinder hier und dort nicht eingepflanzt. Wenn sie darum verdorren mußten und zu nichts mehr taugten als zu Luderei und Schamlosigkeit, so darf euch das nicht wundern. Nicht besser und tüchtiger will der Tscheche eure Kinder, wenn er es auch sagt, sondern schlechter und minder tüchtig will er sie haben, weil das in seine Pläne und Absichten paßt. Denn mit den mindertüchtigen und entwurzelten Menschen wird er leichter und schneller fertig als mit den tüchtigen und wurzelstarken.51

Dieses Zitat macht den Antagonismus zwischen der deutschnationalen und der nichtdeutschnationalen Literatur Böhmens und Mährens nicht nur auf der politischen Ebene, sondern ebenso in der Funktion und Darstellung des Individuums deutlich. Jeglicher Versuch, die Kultur und Sprache der Tschechen zu erlernen, wird von Rothacker kategorisch abgelehnt, und die Problematiken des entwurzelten Subjektes zwischen den nationalen Kollektiven wird überspitzt als Untergang des Individuums dargestellt. Diese Haltung Hartmichels im Roman fügt sich, wie breite andere Teile des Romans, in den öffentlichen Diskurs des Nationalitätenstreits ein und illustriert die Ausgrenzung der Kulturvermittler aus dem nationalen Kollektiv, auf dessen Definition und Verwendung die Deutschnationalen in den 30er Jahren zunehmend einen alleinigen Anspruch erheben.

50

Rothacker: Das Dorf an der Grenze, S. 209.

51

Ebd., S. 210.

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5.9.3 Abschließende Bemerkungen Eine kritische Betrachtung der nationalistischen bzw. nationalsozialistischen deutschböhmischen und deutschmährischen Romanen kann einen wichtigen Beitrag leisten, nicht nur zur Literaturgeschichte Böhmens und Mährens und zum Verständnis auch der Problemkomplexe des Individuums in den nicht-deutschnationalen Romanen der Region, sondern auch zu kulturellen Erscheinungen und nationalistischen Strömungen der europäischen Moderne. Die multikulturelle und –nationale Situation in Böhmen und Mähren sowie die verschiedenen Strategien, mit ihr umzugehen, d.h. einerseits die Propagierung einer klar definierten nationalen Identität oder andererseits die Absage an essentialistische Identitätsmuster und eine Rückbesinnung auf das jeweilige Individuum, können als paradigmatische Vorläufer der im heutigen Europa immer noch und wieder heftig umstrittenen Auseinandersetzung um Multikulturalismus, die Neue Rechte, Globalisierung, Integration etc. gelten. Die fortgeführten Debatten um ‚Multi-Kulti‘, ‚Leitkultur‘, ‚Kopftuchdebatte‘ und Sarrazin etwa in Deutschland verweisen ebenso auf das noch immer ungelöste Problem eines friedlichen Zusammenlebens verschiedener Kulturen oder Nationalitäten, wie der alarmierende Machtzuwachs nationalistischer oder rechts-konservativer populistischer Parteien in ganz Europa52 darauf aufmerksam macht, dass nationalistische Strömungen, Rassismus und Antisemitismus immer noch alltägliche Phänomene darstellen. Der Schweizer Soziologe Hans-Rudolf Wicker konstatiert, dass im Europa des späten 20. Jahrhunderts Nationalismus, kultureller Fundamentalismus und Rassismus als „Bewegungen, welche zuerst einmal Zugehörigkeit zu markieren suchen“,53 die in der Nachkriegszeit überwunden schienen, wieder an Bedeutung gewinnen. Die politischen Umwälzungen in Mitteleuropa nach dem Zerfall der UdSSR, die zunehmende Globalisierung und auch aktuell die Eurokrise, die vorgeblich essentialistische Identitäten verschütteten und politische wie soziale Normen außer Kraft setzten, führten zu Gesinnungen und Ideologien, welche ein neues ‚Wir-Gefühl‘ durch rassistische Vorstellungen des ‚Anderen‘, des ‚Fremden‘. des ‚kulturell Andersartigen‘ und ‚ethnisch Differenten‘ zu etablieren suchen.54 Der Diskurs der ‚Neuen Rechten fügt sich hierbei in die aktuelle Diskussion um Multikulturalismus ein:

52

Vgl. Stekelenburg/Klandermans: “[T]he populist radical right parties [are] the most important contemporary actor mobilizing against the consequences of globalization […]. As a matter of fact, since the 1990s, right-wing populist parties are well represented in national politics in many Western European countries.” (Stekelenburg/Klandermans: Radicalization, S. 186.)

53

Wicker: Nationalismus, Multikulturalismus und Ethnizität, S. 39.

54

Vgl. auch ebd., S. 39.

410 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM So verzichtet der „intellektualisierte“ Diskurs der Neuen Rechten heute auf den Begriff der ‚Rasse‘ und folgt damit dem gesellschaftlichen Konsens. Dafür macht sie den Begriff der Kultur zu einem zentralen Schlagwort ihrer Argumentationen. Auf diese Weise konnte sie problemlos an der Debatte um die ‚multikulturelle Gesellschaft‘ partizipieren.55

Analogien zur Auseinandersetzung mit kultureller Differenz in der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur sind hier nachzuvollziehen, indem auch die Romane auf unterschiedliche Art und Weise am gleichen Diskurs um interkulturelles Zusammenleben und kulturelle Differenzen teilhaben, wenn auch aus unterschiedlicher Motivation und Instrumentalisierungsabsicht. Insbesondere Bodenreuths Roman Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland bietet ein Beispiel einer massenkompatiblen rassistischen Argumentation, da er dem zerrissenen Individuum die Heilsvorstellung einer nationalen Identität vorhält und dabei auf eine offene antisemitische und rassistische Argumentation verzichtet, worin genau sein gefährliches Potential begründet liegt. Um das volle Ausmaß der Anreize, welche die nationalistische und rassistische Ideologie ihren Anhängern bietet, und der Bedrohung, die diese für die Gesellschaft darstellen, zu greifen, ist es von wesentlicher Bedeutung, die zugrundeliegenden Identitätskonzepte dieser Bewegungen aufzudecken.

55

Flatz: Kultur als neues Weltordnungsmodell, S. 96.

6. Schlussbetrachtung

Mithilfe einer eingehenden Betrachtung der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur der 20er und 30er Jahre sowie der soziokulturellen Situation ihres Entstehungszusammenhanges wird deutlich, inwiefern die Romane die gesellschaftlichen und historischen Herausforderungen der multikulturellen Region aufgreifen und die Diskurse der Zeit in den Texten transformieren und fortschreiben. Dabei fällt insbesondere ins Auge, dass die deutschsprachige Literatur Böhmens und Mährens in diesem Zeitraum eine Fülle von Auseinandersetzungen mit den Problematiken des Individuums zwischen verschiedenen Identifikationsangeboten aufweist. Literarisch jeweils unterschiedlich aufgearbeitet, findet sich in den Texten eine Vielfalt der Strategien und Versuche der Selbstverortung des Subjektes, das sich als Außenseiter oder Grenzgänger in einer scheinbar klar strukturierten Gesellschaft wähnt, indem essentialistische Identitätszuschreibungen für vermeintlich homogene Gruppierungen wie ‚die‘ Deutschen und Tschechen, ‚das‘ Judentum oder Bürgertum, ‚den‘ Kommunismus etc. bestehen, mit denen sich das Individuum jedoch nicht identifizieren und deren Ansprüchen es nicht genügen kann. Die gelebte ‚Realität‘ der Protagonisten der Romane widerspricht den ihnen von außen auferlegten und erwarteten Identitäten als Angehörige eines gesellschaftlichen, sozialen oder nationalen Kollektivs. Durch die interkulturellen Kontakte, komplexen Persönlichkeiten und die differenzierte Wahrnehmung der Protagonisten bewegen sie sich zwischen verschiedenen Gruppen, Ideologien und ‚Kulturen‘. Obwohl sie in einer Zeit der gesellschaftlichen Umwälzungen agieren, in der sich fest verankert geglaubte Strukturen auflösen, gelingt es ihnen nicht, aus ihrer sozialen ‚Heimatlosigkeit‘ ein selbstbewusstes Manifest des Individuums zu formulieren, da der Wunsch nach fester Zugehörigkeit in ihnen und der sie umgebenden Gesellschaft präsent ist und das Konstrukt eindeutiger, unhinterfragbarer Identitäten aufrecht erhalten wird. Im Scheitern der Protagonisten vollzieht sich somit ein vielschichtiger Kommentar der Literatur zur Wirkmacht von Konstrukten der Differenz des Eigenen und des Fremden. Die einzelnen Romananalysen seien an dieser Stelle noch einmal rekapituliert:

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Franz Polzer, der Protagonist aus Ungars Die Verstümmelten ist durch seine proletarische Herkunft und, sehr viel entscheidender, seine hiermit einhergehenden Neurosen eine Außenseiterfigur in der ihn umgebenden bürgerlichen Gesellschaft. Er hegt den Wunsch, in der Menge unbemerkt aufzugehen, durch seine Unbeholfenheit in sozialen Situationen jedoch zieht er gerade Aufmerksamkeit auf sich. In ihm streitet das Bedürfnis nach sozialer Nähe mit seiner gleichzeitigen pathologischen sozialen Berührungsangst. Die Unfähigkeit, einerseits alleine zu sein, andererseits aber seine Gefühle zu kommunizieren, führen Polzer immer tiefer in einen Abgrund, in dem Vergewaltigung, Erpressung und schließlich Mord vom Alptraum zur Realität werden. Mit Franz Polzer hat Hermann Ungar eine Figur geschaffen, deren Schicksal viele Leser gerade darum verstört, da er ein Durchschnittsbürger zu sein scheint, kein außergewöhnlicher Charakter, der von seinem Beruf und seinem Leben innerhalb der gutbürgerlichen, modernen Gesellschaft der Großstadt vereinnahmt wird, sich jedoch innerhalb dieser Welt als Fremdkörper fühlt und schließlich furchtbare Dinge zu erleiden hat, die teilweise aus der Gesellschaft um ihn herum in sein Leben eindringen, gleichzeitig aber auch durch sein ständiges Bedürfnis, sich einzugliedern, von ihm heraufbeschworen werden. In Winders Jüdischer Orgel befindet sich der Protagonist Albert Wolf zwischen zwei Welten, der jüdischen des mährischen Kleinstadtghettos, verbunden mit dem orthodoxen und herrischen Vater, und der säkularisierten Welt der Großstadt, die mit ihrer ausschweifenden Sexualität im krassen Widerspruch zum Heimatort steht. Aus der erdrückenden Religion und den Forderungen des Vaters rettet Albert sich in die Sünde, bis er sich vor sich selbst ekelt und wiederum Zuflucht in der Synagoge und Sühne in der unglückliche Ehe mit einer hässlichen Frau sucht. Beide Wege scheitern, da Albert keine Synthese seiner zerrissenen Persönlichkeit gelingt. Sein Konflikt erscheint als derjenige des Individuums zwischen Tradition und Moderne, wobei die beiden ‚Welten‘ sowohl jeweils Teile der Bedürfnisse Alberts spiegeln als auch eng miteinander verflochten sind, indem sie aufeinander verweisen. Albert steht mit dieser Problematik nicht allein, der Roman gibt Hinweise darauf, dass andere Figuren ein ähnliches Dilemma durchleiden. Durch die Fokussierung auf Albert und dessen Unfähigkeit, sich selbst und anderen zu verzeihen, wird jedoch deutlich, dass der innere Konflikt zwischen den Identitätsangeboten alleine bewältigt werden muss. Die Stellung des Individuums zwischen verschiedenen Ideologien und Gruppierungen mag ein kollektives Schicksal des modernen Menschen sein, durch fehlgeleitete Kommunikation und mangelnden Zusammenhalt muss es jedoch jeweils als Einzelschicksal alleine getragen werden. Das Slawenlied von F.C. Weiskopf schildert den sozialen und politischen Orientierungsprozess des Protagonisten in Prag nach dem Ersten Weltkrieg. Er erkennt den Wandel der Zeit und schließt daraus, dass die alten sozialen Hierarchisierungen und nationalen Streitigkeiten anachronistisch sind. Im Roman durchläuft er verschiedene

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Stationen der sozialen Desorientierung und persönlichen Zweifel, bis er in der kommunistisch-proletarischen Masse ein Zugehörigkeitsgefühl jenseits der Betonung von nationalen oder kulturellen Differenzen findet. Der Roman setzt sich mit der unmittelbaren historischen Situation der ersten Jahre der Ersten Tschechoslowakischen Republik auseinander und beleuchtet die verschiedenen Strategien zur Bewältigung der sozialen Umbrüche. Auch wenn das Slawenlied durchaus tendenziöse Momente in Bezug auf die kommunistische Bewegung aufweist, so fällt doch das Bemühen des Protagonisten um eine differenzierte Sicht auf die gesellschaftliche Situation ins Auge. Nach und nach kommt er zu der Erkenntnis, dass eine Lösung sowohl in der Frage nach der eigenen Zugehörigkeit als auch nach der sozialen und politische Neugestaltung der Region nur durch eine Einbeziehung und Verbindung der zahlreihen verschiedenen Facetten des neuen Staates, der Ideologien und Weltanschauungen erreicht werden kann. Die Handlung von Natoneks Kinder einer Stadt dreht sich um die Jugenderlebnisse dreier Schulfreunde in Prag und ihr Wiedertreffen in der Weimarer Republik der 20er Jahre. Zentrale Figur ist Dowidal, ein Junge aus jüdischer, kleinbürgerlicher Familie, der versucht, in Deutschland seine verhasste Herkunft zu verleugnen, indem er seinen Namen ändert und sich als körperlich gestählter Arier präsentiert. In seinem gesamten Streben bleibt er jedoch von der Heimat determiniert, während er sich gleichzeitig von ihr entfremdet. Schließlich muss er erkennen, dass er durch die Verleugnung der eigenen Identität vollkommen entwurzelt zurückbleibt. Ähnlich ergeht es seinen alten Schulkameraden Waisl und von Epp. An den Protagonisten vollzieht sich, wenn auch jeweils aus anderen Gründen, das Scheitern der von der Herkunft und Sozialisation Gezeichneten, die sich einer neuen Zeit und einem neuen Raum anpassen wollen, was ihnen nicht gelingt. Der Fokus des Romans liegt hierbei auf Prag, selbst wenn große Teile in Deutschland spielen. Prag wird als grotesker Mikrokosmos gezeichnet, der die Figuren in ihrem Selbsthass (Dowidal), ihrer Dekadenz (Epp) und gottergebener Demut (Waisl) prägt und in ihrem Dasein ständig präsent bleibt, insbesondere dann, wenn die Protagonisten mit aller Kraft versuchen, sich von ihm zu lösen. Den Figuren gelingt die Symbiose dessen, was sie durch ihre Herkunft sind, und dessen, was sie zu sein wünschen, nicht. Oskar Baums Roman Zwei Deutsche verlegt die Identitätsproblematik zwischen dogmatischen Ideologien auf eine Meta-Ebene. Die Protagonisten, der Nationalsozialist Rolf und der Kommunist Erhard scheinen ihren Weg und ihre Identität in ihrer politischen Überzeugung gefunden zu haben. Ihre Freundschaft wird durch ihre unterschiedliche dogmatische Weltsicht auf eine harte Probe gestellt. Durch die Erzählhaltung, die beiden Positionen gleichberechtigt Raum zumisst und gleichzeitig ihre Missstände aufdeckt, wird die Notwendigkeit eines ‚dritten Weges‘ offenbar, der sich differenziert und losgelöst von essentialistischen Vorstellungen um die Gestaltung einer ‚schöpferischen Mitte‘ bemüht. Dieser Weg der Mitte wird nicht positivistisch

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ausformuliert, sondern ergibt sich ex negativo aus der Spannung zwischen den ideologischen Positionen und ihrer Unvereinbarkeit, die sowohl die politische Diskussion als auch das zwischenmenschliche Verständnis zu einer unproduktiven und feindseligen Stockung bringt. Rolf und Erhard werden beide in ihren Hoffnungen enttäuscht, vermögen jedoch nicht, ihre Weltanschauungen zu modifizieren. Der Roman endet mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten; Erhard muss Deutschland verlassen, Rolf bleibt mit Zweifeln zurück und ihre Freundin Inge wurde zwischen ihren Machtkämpfen aufgerieben. Das Modell der radikalen Positionen ist somit eindeutig gescheitert. In Paul Kornfelds Blanche oder Das Atelier im Garten wiederum wird die Problematik auf das scheiternde Individuum in der Gesellschaft verlagert. Blanche ist umgeben von einer Gesellschaft, die sich zwar frivol gibt, dabei jedoch strengen Regeln der Selbstdarstellung (und damit einhergehend -verleugnung) folgt. Die Figuren des Romans tragen sämtlich eine gesellschaftliche Maske, durch die sie den Konventionen des Bürgertums entsprechen und Stereotypen der verletzlichen oder selbständigen Frau, des sinnlichen Eroberers oder des weltgewandten Geschäftsmannes verkörpern. In ironischen Erzählkommentaren eröffnet sich die Brüchigkeit dieser Selbstdarstellungen, die nicht der Persönlichkeit der Charaktere entsprechen. Blanche gelingt es nicht, ihr inneres Selbst mit diesen Konventionen in Einklang zu bringen, während sie gleichzeitig in ihrer (auch künstlerischen) Artikulation von diesen durchdrungen ist. Sie erscheint als ein Fremdkörper innerhalb ihres sozialen Kreises, ihre Träumereien und künstlerischen Ambitionen werden nicht für voll genommen. Gleichzeitig ist sie jedoch von der Gesellschaft abhängig und sie vermag es nicht, sich in letzter Konsequenz von ihr loszusagen. Als Blanche ihr letzter Zufluchtsort, das Gartenhaus, genommen wird, begeht sie schließlich Selbstmord. Hanna, die Protagonistin aus Alice Rühle-Gerstels Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit ist in Prag in einem gutbürgerlichen, gemischtsprachigen Elternhaus aufgewachsen und nach dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland emigriert, wo sie sich gemeinsam mit ihrem deutschen Mann in der kommunistischen Partei engagiert hat. Mitte der 30er Jahre kehrt sie alleine ins Exil nach Prag zurück, kann jedoch dort die alte Heimat nicht wiederfinden. Sie gehört nirgendwo mehr richtig dazu, weder zu ihren alten Prager Freunden noch zu den deutschen Emigranten, weder als Kommunistin zu ihren Kollegen in der liberalen Zeitschrift, in der sie Arbeit findet, noch als Intellektuelle zu den proletarischen Kommunisten. Hannas facettenreiche Persönlichkeit wird von ihr wiederholt reflektiert, sie leidet unter der vermeintlichen Unvereinbarkeit der Stationen ihrer Herkunft, ihres Lebensweges und ihrer Gefühle, da sie das Konzept einer eindeutigen sozialen, ideologischen und räumlichen Identität zwar rational ablehnt, aber emotional einfordert. Ihr Exil in Prag ist geprägt von der Suche nach der eigenen Zugehörigkeit und der politischen wie persönlichen Selbstpositio-

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nierung, bis sie schließlich ausgewiesen wird und darin in gewissem Maße die Freiheit in der Heimatlosigkeit findet, die sie in ihrer Suche nach einer Heimat nicht erreichen konnte. Die beiden späten Exilromane von Ernst Weiß, Der Arme Verschwender und Der Augenzeuge, sind, obwohl die Romane in sich durchaus unterschiedliche Züge aufweisen, geprägt von dem Bedürfnis der Protagonisten, einerseits selbst Macht auszuüben und als Arzt gottähnlich zu wirken, andererseits sich aber einer höheren Macht zu unterwerfen, wodurch die Selbstverantwortung abgelegt werden kann. Gleichzeitig versuchen sie jeweils, allen Seiten der familiären, gesellschaftlichen und politischen Ansprüche gerecht zu werden, leiten jedoch aus ihrer individuellen Empfindung eine objektive Kommunikationsbasis ab, die zwangsläufig scheitern muss, sodass sie in ihrem Bestreben um Verständnis immer weiter isoliert werden. Beide Romane greifen historische Umbruchsphasen des Ersten Weltkriegs, der Weimarer Republik und, im Augenzeugen, des Nationalsozialismus auf, die Problematik der Protagonisten in Bezug auf ihre Zugehörigkeit äußert sich jedoch primär im unmittelbaren sozialen Umfeld. Zwischen den sich widerstreitenden Forderungen der sie umgebenden Figuren in Bezug auf die ideologische und soziale Haltung sowie Macht- und Besitzansprüche reiben sie sich auf, da sie nicht in der Lage sind, einen konkreten Standpunkt einzunehmen, sondern versuchen, allen Belangen gerecht zu werden, was zu ihrer psychischen und physischen Zerstörung beiträgt. Gemeinsam ist allen Romanen, mit Ausnahme von Baums Zwei Deutsche, in welchem dies auf einer Meta-Ebene ausgedrückt wird, dass die Protagonisten sich zwischen verschiedenen Gruppierungen, Konventionen oder ‚Welten‘ bewegen, die etwa durch ideologische Positionierungen, rassistische Zuschreibungen, nationale oder soziale Differenzierungen, Konventionen, Traditionen und Umbrüche geprägt sind. Dabei markiert die Suche nach der Selbstverortung und Zugehörigkeit des Individuums die zugrunde liegende Thematik der Romane. Der imaginierte Raum, in dem sich die Protagonisten befinden, ist nicht zwingend zwischen, neben oder über ‚Kulturen‘ zu finden, sondern formiert sich im Spannungsfeld zwischen den Polen von Gesellschaft und Individuum, Bürgertum und Proletariat, Deutschen und Tschechen, Juden und Christen, Nationalsozialismus und Kommunismus und zahlreichen anderen sozialen und ideologischen, mit essentialistischen Vorstellungen verknüpften Feldern. Die Identitätsproblematik der Protagonisten ergibt sich aus ihrer Stellung zwischen den verschiedenen Kollektiven, die in der Eigen- oder Fremdwahrnehmung auf spezifische Weise codiert, also mit Identitätsmustern versehen sind, mit denen das Individuum sich entweder nicht restlos identifizieren kann oder aber durch die es von den Kollektiven exkludiert wird. Das Scheitern des Individuums vollzieht sich immer dort, wo es versucht, einem der Pole gerecht zu werden, wodurch ein Teil der Persönlichkeit verleugnet wird. Dies ist bei Jakob Dowidal ebenso zu sehen wie bei Blanche Riediger, beim Augenzeugen wie auch bei Albert Wolf. Die beiden einzigen

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hier behandelten Romane, die ein zumindest in Teilen versöhnliches Ende bieten, sind Der Umbruch und Das Slawenlied, da es hier jeweils den Protagonisten gelingt, sich über die endgültige Zugehörigkeitsentscheidung ‚deutsch oder tschechisch‘, ‚bürgerlich oder proletarisch‘ u.a. hinwegzusetzen und dadurch wieder zu sich selbst finden (wenn dies auch im Slawenlied stark politisch verklärt ist). Friedrich Bodenreuths Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland und Gottfried Rothackers Das Dorf an der Grenze thematisieren die multikulturelle Situation der Ersten Tschechoslowakischen Republik auf gänzlich andere Weise, indem die nationalen und kulturellen Differenzen in den Mittelpunkt gerückt und betont werden. Durch ihre Stereotypisierungen, durch die Negierung des Individuums in den Erfordernissen des nationalen Kampfes und durch die propagierte Notwendigkeit der Integration in das nationale Kollektiv hat die nationalistische Literatur erheblichen Anteil an der öffentlichen Wahrnehmung von vermeintlich essentialistischen Kollektiven. Denn gerade durch die Hervorhebung der kulturellen Differenz entsteht das gesellschaftliche Konstrukt der homogenen Einheit nationaler Identitäten: Die verschiedenen kulturellen, sozialen oder nationalen Kollektive, denen die Protagonisten der anderen Romane gegenüberstehen, sind in sich durchaus keine homogene Einheit mit festgeschriebener Identität, sie werden jedoch als solche stilisiert und wahrgenommen. Die gesellschaftliche Konstruktion und Definition des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘ hat eine enorme Wirkmacht, deren fatales Potential sich in den Romanen äußert. Deutschnationale und nicht-deutschnationale Literatur in Böhmen und Mähren der Zwischenkriegszeit ergänzen sich somit, indem sie den gleichen thematischen Komplex aufgreifen und aufeinander verweisen. Sie nehmen jeweils Bezug auf die transkulturelle, historische Situation und die Rolle des Individuums innerhalb oder zwischen den nationalen, kulturellen und sozialen Gruppierungen. Dabei transformieren sie jeweils fiktional die historische Situation und wirken aktiv an der Konstruktion der gesellschaftlichen Wahrnehmung von kulturellen Differenzen und den Problematiken des Individuums in der Moderne mit. In der Verkettung der zwar entgegengesetzten und dennoch gerade deswegen aufeinander Bezug nehmenden Argumentation und Haltung gegenüber der personalen und kollektiven Identität, der Mittlerfiguren und Positionierung des Individuums in oder zwischen Gruppierungen wird deutlich, dass die heterogenen deutschsprachigen Romane Böhmens und Mährens als Teile einer zusammenhängenden Literaturlandschaft betrachtet werden können, die auf spezifische Weise die Identitätsproblematiken der multikulturellen Situation aufgreift und hierin einen nicht zu übersehenden Aktualitätscharakter besitzt, der auf die Herausforderungen der heutigen globalisierten Welt verweist. Hieran wird eine Problematik der in den Liblice-Konferenzen der 60er Jahre wissenschaftlich formulierten und seither häufig wiederholten und übernommenen Ein-

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teilung der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens in zwei eindeutig definierbare und voneinander vollständig separierte Literaturen, nämlich der zumeist jüdischen, kommunistischen oder demokratischen ‚Prager deutschen‘ und der deutschnationalen, provinziellen ‚sudetendeutschen‘ Literatur deutlich. Problematischer als die Differenzierung der Literaturlandschaft als solche sind jedoch die Parameter, anhand welcher die Kategorisierungen vorgenommen wurden: Die der ideologischen und historischen Situation geschuldeten Argumentation der Liblice-Konferenzen bezieht sich nicht nur auf eine qualitative und politische Unterscheidung zweier Literaturen, von denen die eine als ideologisch ‚gute‘ Weltliteratur, die andere als ‚schlechte‘ Trivialliteratur abgestempelt wurde, sondern diese Kategorien wurden durch die Bezeichnung ‚Prager deutsche‘ sowie ‚sudetendeutsche‘ zugleich untrennbar an den geographischen Raum gebunden. Mit dieser Einteilung betreffen somit die Wertungen der Literatur nicht nur die Texte an sich, sondern ihren breiteren Entstehungszusammenhang. Dadurch werden Dichotomien geschaffen, welche qualitative Merkmale eng an die Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie, Stadt und Region, Welt und Provinz binden. Nicht all diejenigen Texte, die ideologisch der ‚Prager deutschen Literatur‘ zugerechnet werden, sind tatsächlich von Prager Autoren, während gleichzeitig auch deutschnationale Romane in Prag entstanden sind, die jedoch, da sie nicht zur ‚Prager deutschen Literatur‘ zu passen scheinen, als ‚sudetendeutschen Literatur‘ gelten. Dies ist nicht nur problematisch, indem die topographische Bezeichnung dadurch als willkürlich entlarvt werden kann, sondern vielmehr, indem sie die mit der ‚sudetendeutschen Literatur‘ assoziierten Merkmale, so etwa ‚deutschnational‘ oder ‚nationalsozialistisch‘, ‚qualitativ minderwertig‘ sowie ‚eindimensional‘, eng an die Region und Provinz bindet und somit an der pejorativen Konnotation von ‚Regionalliteratur‘ oder ‚Provinzliteratur‘ ungerechtfertigter Weise mitwirkt. Die Literaturlandschaft Böhmen und Mähren lässt sich nicht einfach aufteilen in ein literarisches Zentrum ‚Prag‘ und eine homogene, von Prag abgeschlossene und keine interkulturellen Vernetzungen pflegende Region oder Provinz ‚Sudetenland‘. Es bestehen selbstverständlich Unterschiede zwischen der ideologischen Argumentation und auch der literarischen Qualität der deutschnationalen und der nichtdeutschnationalen Literatur der gesamten Region, wobei diese jedoch nicht an den topographischen Raum gebunden werden können. Dies bezeugen insbesondere die in dieser Studie analysierten Romane von Hermann Ungar und Friedrich Bodenreuth, indem der erstere, Die jüdische Orgel, von einem mährischen Autor geschrieben wurde, zu großen Teilen in der mährischen Provinz spielt und dennoch als ein herausragendes Beispiel der Weltliteratur der ‚Prager deutschen Literatur‘ gilt, in der Antisemitismus, Nationalismus und Provinzialismus keine Geltungsberechtigung besitzen. Der andere aber, ein ‚sudetendeutscher Grenzlandroman‘, spielt zu großen Teilen in Prag und stilisiert das ‚Zentrum‘ Prag zum Kernpunkt der Frage nach

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deutschnationalen bzw. nationalsozialistischen territorialen Besitzansprüchen und ihrer ideologischen Berechtigung.1 Um den Vorverurteilungen und der starren Kategorisierung der Bezeichnungen ‚Prager deutsche Literatur‘ und ‚sudetendeutsche Literatur‘ zu entkommen und auf Dauer einen Beitrag zu einer differenzierten Neuevaluierung der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur zu leisten, ist es somit von essentieller Bedeutung, dass die Texte selbst im Mittelpunkt der Analyse stehen. Die Kenntnis ihres Entstehungszusammenhang ist zwar durchaus entscheidend, indem die Texte die unmittelbare historische und transkulturelle Situation aufgreifen und an der Wahrnehmung von politischen Phänomenen, Identitäten und nationalen Stereotypen in entscheidendem Maße mitwirken, sie darf jedoch nicht dazu verleiten, die Romane a priori abzuurteilen. Die textnahen und ausführlichen Analysen der Romane in Kapitel 5 zeigen, dass die deutschsprachige Literatur Böhmens und Mährens eine enorme Vielfalt aufweist. Die Heterogenität ergibt sich jedoch weniger aus ihrer Entstehung in Prag oder im ‚Sudetenland‘, sondern aufgrund ihrer unterschiedlichen Aufarbeitung der Identitätsproblematiken in der neu entstandenen Ersten Tschechoslowakischen Republik und der differenzierten ideologischen, sozialen oder kulturellen Ausrichtung. Eine gemeinsame Betrachtung der verschiedenen Romane zeigt auf, inwiefern die Texte als eigenständige literarische Werke jenseits von essentialistischen Zuschreibungen Berechtigung besitzen, hierbei jedoch einen Beitrag zur polyphonen Auseinandersetzung mit der multikulturellen modernen Situation in Böhmen und Mähren insbesondere im Hinblick auf ihre Thematisierung der Problematik des Individuums in seiner Suche nach Zugehörigkeit und Selbstverortung leisten. Über diesen Ansatz kann eine neue Literaturgeschichtsschreibung des Raums Böhmens und Mährens antizipiert werden, in der die Eigenständigkeit der Texte berücksichtig wird und dennoch die Spezifika der Literaturlandschaft herausgearbeitet werden, ohne jedoch starre Raster zu schaffen, denen sich die Analyse der Romane unterwerfen muss. Durch eine differenzierte Analyse der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur, insbesondere in Hinblick auf die literarische Aufarbeitung der transkulturellen Situation, der Verwobenheit von Individuen innerhalb verschiedener sozialer und kultureller Gruppierungen sowie der Diskurse, die diesen Prozess innerhalb der Gesellschaft begleiten, lassen sich nicht nur Aussagen über den literarischen und kulturellen Raum Böhmens und Mährens als Paradigma einer modernen, interkulturellen Region fällen, sondern sie zeigt auch den Aktualitätscharakter der Literatur. Die hier betrachteten Romane zeigen anschaulich und in einer enormen Vielfalt, wie Wahrnehmungen des Eigenen und des Fremden konstruiert werden und wirken sowie welche diskursive Macht Vorstellungen der Heimat und nationaler oder sozi-

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Vgl. Bodenreuth: Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland, S. 18 und S. 46.

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aler Identitäten besitzen. Die literarische Auseinandersetzung mit der Selbstverortung des Individuums zwischen verschiedenen Identitätsangeboten und gesellschaftlichen Zuschreibungen ist selbstverständlich nicht auf die deutschsprachige Literatur Böhmens und Mährens in der Zwischenkriegszeit beschränkt, sie äußert sich hier jedoch in einem ungewöhnlich vielschichtigen Maße. Die interkulturelle moderne Situation in der neu entstandenen Ersten Tschechoslowakischen Republik und die Umbruchstrukturen im Europa nach dem Ersten Weltkrieg werden hierin reflektiert, kommentiert und literarisch transformiert. Vor allen Dingen in diesem Zusammenhang äußert sich die Aktualität der Literatur, die auf die Herausforderungen und Möglichkeiten einer transkulturell vernetzten Welt verweist. Daher verwundert es auch nicht, dass sich durchaus Analogien zur postmodernen interkulturellen Literatur ausmachen lassen. Anhand eines Beispiels soll dies deutlich werden: In seiner Erzählung The Courter schildert Salman Rushdie Kindheitserfahrungen eines indischen Jungen, der weite Teile seiner Jugend mit seiner Familie in London verbringt. Der Text bildet den Abschluss des Kurzgeschichtenbandes East, West, in dem jedoch, dies wird anhand der Erzählungen deutlich, der Osten und der Westen nicht als dichotomische Entitäten mit unvereinbaren kulturellen Differenzen thematisiert werden, sondern deren Verbindung einen ‚dritten Raum‘ ergibt, innerhalb dessen eine Selbstverortung des Individuums jenseits von essentialistischen kulturellen Identitätsvorstellungen möglich ist. Die Erlebnisse des Protagonisten umfassen gängige Motive der Adoleszenz; erste sexuelle Erlebnisse, Auflehnung gegen den Vater, die Erfahrung des Verlustes geliebter Personen, erste Erfolge und Niederlagen. Sie sind jedoch gleichzeitig immer mit bedingt durch das Migrationsschicksal des Jungen, indem auch Sprachunsicherheiten, kulturelle Unterschiede und Fremdenhass zu den alltäglichen Erfahrungen gehören. Diese finden jedoch in einem Rahmen statt, der weder die ‚östliche‘ Herkunft der Familie noch die ‚westliche‘ Welt des Handlungsortes in den Mittelpunkt stellt, sondern diese in der Figur des Protagonisten vereint. Hieraus wird ein neues Identitätskonzept geschöpft, das sich explizit gegen die Eindimensionalität des Beharrens auf kulturellen Differenzen stellt: „[I]n dieser komplizierten Verflechtungslage zwischen Ost und West eröffnet sich eine dritte Erfahrungsdimension: die Herausbildung neuer überlagerter, heimatloser Identitäten („displaced identities“).“2 Die Heimatlosigkeit erscheint trotz der erfahrenen Xenophobie nicht als bedrückendes Manko, sondern als Option der Selbstverwirklichung jenseits der kulturellen Grenzen und Fesseln. Am Ende der Erzählung formuliert der Protagonist eine selbstbewusste und kämpferische Ablehnung der essentialistischen Festlegung seiner Identität:

2

Bachmann-Medick: 1 + 1 = 3?, S. 520.

420 | D AS I NDIVIDUUM IM TRANSKULTURELLEN RAUM But I, too, have ropes around my neck, I have them to this day, pulling me this way and that, East and West, the nooses tightening, commanding, choose, choose. I buck, I snort, I whinny, I kick. Ropes, I do not choose between you. Lassoes, lariats, I choose neither of you, and both. Do you hear? I refuse to choose.3

Entstehungskontext und Inhalt der Erzählung The Courter sind weit entfernt vom Untersuchungsgegenstand dieser Untersuchung, von der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur der Zwischenkriegszeit. 60 Jahre später erschienen greift sie zusätzlich gänzlich andere Lebensumstände, Räume und kulturelle Momente auf, die gleichzeitig von einer postkolonialen Perspektive bestimmt sind. Und dennoch lassen sich Analogien ausmachen, die insbesondere in der Heimatlosigkeit, der Präsenz des Fremdheits- und Exklusionsgefühls und in der Auflehnung gegen die Determination der Herkunft angelegt sind. Wenn der Protagonist über seinen Vater reflektiert, so ist es nicht schwer, Gemeinsamkeiten etwa zu Albert Wolf aus Winders Jüdischer Orgel oder Franz Polzer aus Ungars Die Verstümmelten zu entdecken: At sixteen, you still think you can escape from your father. You aren’t listening to his voice speaking through your mouth, you don’t see how your gestures already mirror his; you don’t see him in the way you sign your name. You don’t hear his whisper in your blood.4

Herkunft, Abstammung, Erlebnisse und Zugehörigkeiten sind in das Individuum eingeschrieben und bestimmen es, gleichzeitig jedoch erfordern die eigene Individualität, das Selbstbestimmungsbedürfnis des (nicht nur) Adoleszenten, wandelnde soziale Umstände, Konfrontationen mit dem Anderen u.a. Faktoren eine Reflektion und Infragestellung der kulturellen und sozialen Determinanten. Insbesondere soziale und kulturelle Umbrüche (im Falle der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur die Phase nach dem Weltkrieg, im Falle des in Bombay geborenen Protagonisten aus The Courter die Migration und die Boarding-School-Erlebnisse in England) erfordern eine soziale Re-Orientierung und eine Selbstverortung des Individuums im multikulturellen, transnationalen Raum. In den einzelnen Romananalysen wurden die Strategien und Identitätskonzepte, die hiermit einhergehen, näher beleuchtet. (Der Umstand, dass die Handlung der Romane chronotopisch teilweise nicht in Böhmen und Mähren der Zwischenkriegszeit angesiedelt ist, sollte dabei nicht verdecken, dass die Texte ein literarisches Produkt ihres Entstehungskontextes darstellen.) Das Dilemma des sich zwischen zwei oder mehreren ‚Welten‘, charakterisiert durch ‚Kulturen‘, soziale Klassen, Religionen oder Weltanschauungen, bewegenden Individuums findet sich beim Protagonisten des Courter (hier ist es verkürzt ‚der‘ Osten und

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Rushdie: East, West, S. 211.

4

Ebd., S. 202.

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‚der‘ Westen) ebenso wie z.B. bei Albert Wolf (zwischen Christentum und Judentum, zwischen Tradition und Moderne) und Hanna Aschbach (zwischen Deutschen und Tschechen, zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse etc.). Während jedoch die Protagonisten der deutschböhmischen und deutschmährischen Romane der Zwischenkriegszeit beinahe ausschließlich bei dem Versuch scheitern, ihre komplexen Erfahrungen und Wahrnehmungen mit den Anforderungen der Gesellschaft nach klar definierbaren Identitäten in Einklang zu bringen, gelingt es Salman Rushdies Charakter, sich den Herausforderungen der multikulturellen Moderne erfolgreich zu stellen. Indem er sich bewusst dazu entschließt, keine Entscheidung zwischen ‚Ost‘ und ‚West‘ zu treffen und damit den multiplen Facetten seiner Persönlichkeit und Herkunft gerecht zu werden, bietet er eine Lösung aus eben dem Identitätsdilemma, an dem die Protagonisten der deutschböhmischen und deutschmährischen Romane scheitern. Über die Frage, warum ihnen die selbstbewusste Stellungnahme für ein ‚Dazwischen‘ nicht gelingt (mit Ausnahme des Protagonisten in Weiskopfs Slawenlied), gibt der Blick auf die deutschnationale Literatur, in der Mittlerfiguren und Grenzgänger stigmatisiert und diskriminiert werden, Aufschluss. Auch hierin erweist sich somit erst die differenzierte Inbezugnahme der verschiedenen literarischen Erzeugnisse der Region Böhmen und Mähren als geeignet, die inhärenten Diskurse und (literarischen) Strategien aufzudecken. Die Betrachtung der deutschböhmischen und deutschmährischen Romane in der Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik anhand des Schwerpunktes der fiktionalen Aufarbeitung der Zwischenstellung des Individuums zwischen Kollektiven, der Identitätsproblematik und der Selbstverortung des Individuums im modernen multikulturellen Raum hat somit verschiedene Ergebnisse erzielt: Zum einen konnte ganz konkret für den behandelten Gegenstand herausgearbeitet werden, dass in Bezug auf die deutschsprachige Literatur Böhmens und Mährens durchaus von einer Literaturlandschaft ausgegangen werden kann, deren Texte zwar eine Vielfalt an verschiedenen Thematiken und (ideologischen, sozialen, stilistischen etc.) Schwerpunktsetzungen aufweisen, jedoch jeweils die unmittelbare historische und interkulturelle Situationen aufgreifen und die Diskurse fort- oder umschreiben und dabei auch direkt oder indirekt aufeinander verweisen. Die Ergebnisse der Untersuchung machen nicht nur deutlich, dass die bisherige dichotomische Einteilung in eine ‚Prager deutsche‘ und eine ‚sudetendeutsche‘ Literatur der komplexen Beschaffenheit der Literaturlandschaft nur unzureichend gerecht wird, sondern über die differenzierte Betrachtung der Literatur hinaus liefert die Auseinandersetzung mit den Identitätskonzepten in den Romanen auch Aufschluss über die Kulturgeschichte Böhmens und Mährens und die Wirkmacht der Literatur in Bezug auf die Darstellung, Kommentierung und auch Produktion von Diskursen um Identität und Alterität, Heimat und Fremdheit, Nationalismus und interkulturelle Vernetzung.

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Anhand des Aktualitätsbezugs der behandelten Literatur wird jedoch auch das Potential der Untersuchung deutlich, über den konkreten regionalen Rahmen hinaus ein paradigmatisches Modell zur Beschreibung heterogener und transkultureller Phänomene zu bieten. Zum einen hat die Auseinandersetzung mit der Regionalliteraturforschung gezeigt, dass es notwendig ist, die Literatur selbst (und nicht nur die Sozialgeschichte der Literatur) in den Mittelpunkt des Fokus zu rücken und hierbei auch Diskontinuitäten, Heterogenitäten und Brüche zu berücksichtigen. Zu diesem Zwecke müssen sowohl die regionalen Eigenheiten und der Entstehungskontext der Texte konkret thematisiert werden, während gleichzeitig aber auch die Rückbindung des Regionalen an größere Zusammenhänge der europäischen Moderne von Belang ist. Hierbei erweist sich eine Verbindung von gründlicher literaturwissenschaftlicher Analyse in Verbindung mit interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Ansätzen genau dort, wo sie sich aus den Texten heraus für eine Analyse als fruchtbar erweisen, als geeignete Methode, um eine komplexe Literaturlandschaft zu umreißen. In der Vielfalt der literarischen Auseinandersetzung mit den Strategien individueller Selbstverortung in einem multikulturellen Raum, der gleichzeitig jedoch auch Diskurse der kulturellen Differenz und der Diskriminierung des ‚Dazwischen‘ produziert und forciert, zeigt sich das Potential einer literaturwissenschaftliche Untersuchung der Region Böhmen und Mähren nicht nur als Erkenntnis von partiellem Interesse, sondern auch als Beitrag zu einer Literaturgeschichtsschreibung der europäischen Moderne.

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Die zitierten Zeitungsartikel aus der Deutschen Zeitung Bohemia und dem Prager Tagblatt sind jeweils in der Fußnote mit Autor und Titel (soweit vorhanden), Jahrgang, Ausgabe, Datum und Seitenzahl bibliographisch vermerkt.

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)

Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014

Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften ­– die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4. Jahrgang, 2013, Heft 2

Dezember 2013, ca. 200 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2375-8 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht.

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Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß August 2014, ca. 260 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel November 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0

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Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Dezember 2014, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Heinz Sieburg (Hg.) Geschlecht in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen November 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Oktober 2014, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

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3) ANZ2748.p 370626301508

Lettre Angela Bandeili Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre Zur Poetologie des Raumes bei Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und Peter Handke Oktober 2014, ca. 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2823-4

Christoph Grube Warum werden Autoren vergessen? Mechanismen literarischer Kanonisierung am Beispiel von Paul Heyse und Wilhelm Raabe September 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2852-4

Paul Fleming, Uwe Schütte (Hg.) Die Gegenwart erzählen Ulrich Peltzer und die Ästhetik des Politischen November 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2489-2

Leonhard Fuest Poetopharmaka Heilmittel und Gifte der Literatur Februar 2015, ca. 150 Seiten, kart., ca. 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2830-2

Carola Gruber Ereignisse in aller Kürze Narratologische Untersuchungen zur Ereignishaftigkeit in Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel Juli 2014, 340 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2433-5

Teresa Hiergeist Erlesene Erlebnisse Formen der Partizipation an narrativen Texten Juli 2014, 422 Seiten, kart., 43,99 €, ISBN 978-3-8376-2820-3

Claudia Liebrand, Rainer J. Kaus (Hg.) Interpretieren nach den »turns« Literaturtheoretische Revisionen August 2014, 246 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2514-1

Caroline Roeder (Hg.) Topographien der Kindheit Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen August 2014, 402 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2564-6

Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing November 2014, ca. 290 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6

Sarina Schnatwinkel Das Nichts und der Schmerz Erzählen bei Bret Easton Ellis August 2014, 372 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2791-6

Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 Juni 2014, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2793-0

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2014-07-01 12-07-24 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c1370626301500|(S.

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