Das Heer und Hitler: Armee und nationalsozialistisches Regime 1933-1940 [2. Aufl.] 9783486595581, 9783486553505

Der Zugang zu den deutschen Akten der Kriegs- und Vorkriegszeit eröffnet die Möglichkeit, auch die Beziehungen zwischen

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German Pages 726 [725] Year 1989

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Das Heer und Hitler: Armee und nationalsozialistisches Regime 1933-1940 [2. Aufl.]
 9783486595581, 9783486553505

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Ein Werk des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, das sich ebenso an das allgemeine Publikum wie an die Fachwelt wendet. Es ist eine umfassende, aufgrund bisher unbekannter Akten und unter Heranziehung zahlreicher Befragungsergebnisse erarbeitete Darstellung des vielschichtigen und wechselvollen Verhältnisses zwischen dem Heer und dem nationalsozialistischen Regime, wobei ein besonderes Augenmerk des Verfassers den Anfängen des militärischen Widerstandes gegen Hitler gilt. Das Verhältnis von bewaffneter Macht une' nationalsozialistischem Regime ist ein wichtiger Aspekt der Geschichte der Jahre zwischen 1933 und 1945. Der Autor analysiert die politischen Vorstellungen der führenden Militärs, berücksichtigt die Strukturen, in deren Rahmen sie zu handeln hatten, und zeigt die Wandlungen des Verhältnisses zwischen Heeer, Staatsführung und Partei mit ihren Organisationen, insbesondere SA, SS und SD. Eingehend untersucht werden die Konflikte zwischen Reichswehr später Wehrmachtführung und Heeresleitung. Im Gegensatz zu bisherigen Auffassungen hebt der Verfasser hervor, daß beide Institutionen im Grunde das gleiche Konzept für die Rolle der Armee im Staate Hitlers hatten, so daß die teilweise sehr heftigen Meinungsverschiedenheiten in Wirklichkeit ein Methodenstreit waren. Erst mit dem Wechsel von Fritsch-Beck zu Brauchitsch-Halder an der Spitze des Heeres änderte sich das Konzept der Heeresleitung grundlegend. Brauchitsch zog sich in die Grenzen seines Ressorts zurück, ohne für das Heer eine eigenständige Stellung im Staat zu beanspruchen, Halder dagegen erwog einen Staatsstreich. -

Für beide Haltungen waren durch die grundsätzlich regimekonforme Politik der Wehrmachtführung die Voraussetzungen überaus ungünstig geworden. Der Mißerfolg der Militäropposition zwischen Polen- und Frankreichfeldzug, deren Aktivität aufgrund neuer Quellen ausführlich dargestellt wird, hatte letztlich auch darin seine Ursache. DEUTSCHE VERLAGS-ANSTALT

SCHRIFTENREIHE DES MILITÄRGESCHICHTLICHEN FORSCHUNGSAMTES

BEITRÄGE ZUR MILITÄR- UND KRIEGSGESCHICHTE

HERAUSGEGEBEN VOM

MILITÄRGESCHICHTLICHEN FORSCHUNGSAMT

ZEHNTER BAND

DEUTSCHE VERLAGS-ANSTALT

STUTTGART

DAS HEER UND HITLER Armee und nationalsozialistisches 1933-1940

Regime

VON

KLAUS-JÜRGEN MÜLLER

1969

DEUTSCHE VERLAGS-ANSTALT STUTTGART

2. Auflage 1988

© 1969 Deutsche

Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart

Schutzumschlag: Edgar Dambacher Druck und Bindung: Georg Appl, Wemding Printed in Germany

Müller Heer u.BM 10 2.A

ISBN:978-3-486-55350-5

II Uli III

783486 553505

INHALT

Vorwort

7

Vorwort zur 2. Auflage

8

Einleitung

9

I. Armee in der Krise II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

13

Machtergreifung

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler IV. Zeit der Spannungen und Illusionen:

Innenpolitische Probleme 1934-1937 V. Probleme der Außenpolitik und der Führungsorganisation 1934-1937 VI. Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise VII. Drohende Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise VIII. Der Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938 IX. Von München bis zum Kriegsausbruch X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr XI. Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940 Schlußbetrachtung

35 88 142 205

255 300 345

378 422 471

574

Dokumentenanhang

585

Dokumente

589

Quellen

677

Literatur

682

Abkürzungen

697

Personenverzeichnis

701

Nachwort zur 2. Auflage

713

VORWORT

Der

Zugang zu den deutschen Akten der Kriegs- und Vorkriegszeit eröffnet die Möglich-

keit, auch die Beziehungen zwischen politischer Führung und bewaffneter Macht im Dritten Reich eingehender zu untersuchen. Dieser legitimen Aufgabe der Militärgeschichte ist die hier vorgelegte Arbeit gewidmet, in der sich die Generation zu Wort meldet, die nicht mehr unmittelbar von den Ereignissen betroffen ist, die ihre eigenen Akzente setzt, die überkommenen Probleme neu bewertet und unbefangene Fragen stellt. Das Ergebnis ist ein nicht unwesentlich revidiertes Bild der bekannten und umstrittenen Vorgänge, das der weiteren Diskussion manchen neuen Ansatzpunkt bieten mag. Mit Dankbarkeit weist der Verfasser auf ältere Arbeiten hin (Krausnick, O'Neill, Graml, Foertsch, Messerschmidt), die sich des Themas im Ganzen oder in Teilen angenommen haben und die ihm wichtige Anregungen auch dort gaben, wo er anders interpretiert. Besonderen Dank weiß ich führenden Soldaten der Wehrmacht, insbesondere Herrn Generaloberst Halder, die sich auf meine Bitte hin fast ausnahmslos zu ausführlichen Gesprächen zur Verfügung stellten. Diese Gespräche haben ganz wesentlich zur Deutung der Vorgänge beigetragen, die meist nur einen dürftigen Niederschlag in den Akten fanden. Sie haben den Verfasser bei der Bildung seiner Meinung unterstützt, wie er sie in den folgenden Kapiteln mit der eigenverantwortlichen Gewissenhaftigkeit des unbestechlichen Historikers ausführlich diskutiert und vorträgt. Ich danke dem Autor, der Schriftleitung des Hauses und allen Mitwirkenden für ihre Arbeit an diesem Buch. v.

Groóte

EINLEITUNG

Die täre

Frage, wie die deutsche Armee auf die Herausforderungen reagiert hat, die das totaliRegime Hitlers für sie und für die gesamte Nation bedeutet hat, ist nach dem Kriege

einem zentralen Thema der Forschung über die nationalsozialistische Epoche geworden. Das hatte seinen Grund nicht zuletzt in der Vorstellung, die Armee habe im Rahmen der damaligen politischen Entwicklung eine Art Schlüsselstellung eingenommen. Sie habe diese Entwicklung so wird mehr oder weniger unausgesprochen unterstellt in positiver oder negativer Hinsicht beeinflußt oder hätte sie wenigstens beeinflussen können. Ihr Tun und Lassen, kurz, ihr Verhältnis zum nationalsozialistischen Regime sei mittelbar wie unmittelbar von entscheidender Bedeutung für das politische Schicksal der Nation gewesen. Dies ist, etwas vereinfacht wiedergegeben, die Grundlage, auf der die obige Fragestellung aufbaute. Nun ist es ohne weiteres einleuchtend, daß das Verhältnis der Armee zum Hitler-Regime nicht isoliert gesehen werden kann, sondern in dem größeren Rahmen des Verhältnisses aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte des Volkes zum totalitären Herrschaftssystem betrachtet werden muß. Eine Armee, auch eine Berufsarmee, ist stets ein Teil der Nation, der sie zugehört, und ist daher auch den Krisenbewegungen des Ganzen in gewisser Weise ebenso ausgesetzt. Bei der Betrachtung von Rolle und Verhalten der Armee im nationalsozialistischen Staat sollte man daher immer auch der Rolle anderer staatlicher Organe und gesellschaftlicher Kräfte, wie zum Beispiel der Justiz, der Beamtenschaft, der Universitäten, der Kirchen und der Wirtschaft, eingedenk sein. Indessen ist die besondere politische Bedeutung des staatlichen Organs nicht zu übersehen, das allein im Besitz der massiven physischen Machtmittel ist und das infolge bestimmter historischer Entwicklungen und traditioneller Ansprüche in Deutschland außergewöhnliches Ansehen besaß. Von hier aus gewinnt die Frage nach der Rolle der bewaffneten Macht im Staate Hitlers ihre Berechtigung. In welchem Maße allerdings diese Armee unter den konkreten Gegebenheiten, nach den Voraussetzungen und Bedingungen ihrer tatsächlichen Struktur und ihrer historischen Entwicklung sowie infolge des Gewichtes und der Einstellung ihrer verantwortlichen Führer tatsächlich Handlungs- und Entscheidungsfreiheit besessen oder in welchem Maße sie sich dieser begeben hat, ist das historische Problem. Den meisten Arbeiten zu diesem Komplex standen die primären Quellen nicht oder doch noch nicht in hinreichendem Maße zur Verfügung. Die Autoren mußten sich überwiegend auf nachträgliche Aussagen, Prozeßakten und Memoiren stützen. Im Vergleich zu der Fülle dieser Materialien waren nur wenige, dazu noch recht unzusammenhängende Primärquellen greifbar, so, wie Zufall oder Interessentenwille sie gerade hatten ans Licht gelangen lassen. Trotz dieser mißlichen Quellenlage erstaunt immerhin das Ausmaß und die Gültigkeit der vorgelegten Forschungsergebnisse. Die vorliegende Arbeit ist daher all den bisherigen, teilweise sehr umfangreichen und tiefschürfenden Untersuchungen und Darstellungen in hohem Maße verpflichtet. Nachdem seit geraumer Zeit der Zugang zu den ur-

rasch

zu

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Einleitung

10

den noch erhaltenen Aktenbeständen der ehemaligen deutschen Wehrmacht vor allem, wieder frei geworden ist, stellt sich die Aufgabe, das Problem durch Befragung der archivalischen Quellen erneut zu bedenken. Das ist die erste Aufgabe, die sich diese Arbeit gestellt hat. Die Heranziehung dieser Materialien ließ, was die Fakten angeht, das Bekanntwerden mancher bisher unbekannter Einzelheiten erwarten; ebenso war zu erwarten, daß bisher bereits Bekanntes modifiziert oder differenziert werden könnte. Darüber hinaus wurden in allerdings geringerem Maße Einblicke in Ent-

sprünglichen Quellen,

scheidungsprozesse möglich. Weiterhin muß die Frage nach Bedeutung und Ursachen des Geschehens, nach dem, was die Fakten bedeuten und aussagen, erneut gestellt werden. In diesen Zusammenhang gehört, um nur eines zu nennen, das Problem der Kontinuität. 1918 und 1933 haben Berufsbeamtentum und Militär die Regimewechsel überdauert. Staatsbürokratie und Offizierkorps waren in diesen politisch-staatlichen Umbrüchen Faktoren der Kontinuität. Aber so richtig dies auch sein mag die veränderten politischen Verhältnisse wandelten auch die Stellung, das Selbstverständnis und die innere Struktur dieser staatlichen Organismen. Das war nach 1933 nicht anders als nach 1918. Die Art der Kontinuität und ihre konkreten Wirkungen zu erkennen sowie in der Kontinuität die spezifischen Veränderungen zu suchen, schließlich den Punkt aufzuspüren, von dem aus offensichtlich die neue Entwicklung so dominierend geworden ist, daß man von einem Bruch der Kontinuität sprechen kann, auch diese Fragen gehören zum Thema des Buches. Im übrigen sei gesagt, daß es nach Auffassung des Verfassers für den Historiker nicht so sehr darum geht, bei dem Thema „Heer und nationalsozialistisches Regime" moralische oder fatalistische Kategorien zu bemühen wie „Schuld und Verhängnis" oder „Nemesis der Macht". Auch wird man kaum eine oder einige bestimmte Persönlichkeiten ausschließlich mit der Verantwortung für unheilvolle Entwicklungen belasten können, sondern stets den Gesamtrahmen im Auge behalten müssen. Ebensowenig wird die Frage nach Bedeutung und Ursachen des Geschehens durch die Annahme beantwortet, vermeintlich übermächtige Verhältnisse hätten die Entwicklung bestimmt. Versailles erklärt nicht Hitler, und Hitlers Erfolge erklären nicht allein das Verhalten von Offizierkorps und Armeeführung im „Dritten Reich". Ebensowenig wird ein Mann wie dies von Reichenau oder Blomberg behauptet wird allein und ausschließlich zum Schicksal einer großen, festgefügten Armee, es sei denn, diese Armee war gar nicht so festgefügt, wie man annahm, oder dieser Mann ist doch Exponent vorherrschender Auffassungen und Tendenzen innerhalb der Armee. Auf der einen Seite erklären Strukturen allein nicht das Handeln der im geschichtlichen Raum wirkenden Menschen und den Ablauf historischer Entwicklungen. Andererseits aber handeln die Menschen nicht losgelöst und unabhängig in ihrer Zeit. Faktische Bedingtheiten, vorgegebene und normierende Tatbestände wirken hier ebenso mit wie Begrenzungen, die aus Denkgewohnheiten, traditionellen Standes- und Klassenbindungen, aus persönlichen Anlagen und Eigenarten herrühren. So wird es darum gehen, in enger Anlehnung an die Quellen personale und strukturelle Betrachtungsweisen einander ergänzen zu lassen, um möglichst viel von Eigenart und Sinngehalt des komplizierten Gewebes der Fakten zu erfassen. -

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Einleitung

11

Ein Wort ist noch zum zeitlichen Rahmen dieser Arbeit zu sagen. Eine Fortsetzung bis zum Ende des „Dritten Reiches" hätte das Buch noch umfangreicher gemacht. Zwei Momente sprachen dafür, den Beginn des Westfeldzuges zum Endpunkt der Darstellung zu nehmen. Erstens werden die Auswirkungen wichtiger, zwischen 1933 und 1939 erfolgter Entscheidungen erst im ersten Kriegshalbjahr besonders spürbar und entscheidend für die Position und das Gewicht der Armee, so zum Beispiel die Expansion der SS oder die Bedeutung der ideologischen Erziehung des jüngeren Offizierkorps oder die Tatsadie, daß Hitler selbst ObdW war. Zweitens stellte die tatsächliche Ausweitung des Krieges durch den Feldzug im Westen, der am 10. Mai 1940 begann, in doppelter Hinsicht einen wichtigen Einschnitt dar: einmal zeigt die Tatsache, daß Hitler gegen den Willen der Heeresführung die Westoffensive erzwang, wie wenig die Armee sogar strategisch-kriegspolitische Entscheidungen noch zu beeinflussen vermochte; sodann hat der unerwartet rasche und bedeutende Sieg im Westen die Einstellung zu Hitler und seinem Regime sowie zum Krieg innerhalb von Armee und Volk für geraume Zeit grundlegend beeinflußt. Die Chance für eine eigenständige oder gar oppositionelle Position der Heeresführung war damit zunächst nicht mehr gegeben. Compiègne bedeutete in dieser Hinsicht geradezu einen Wendepunkt. Diese Arbeit hätte nicht geschrieben werden können ohne vielfältige Hilfe und Unterstützung. Für sie habe ich aufrichtig zu danken. Mein Dank gilt zunächst den Leitern der Archive, die ich benutzen konnte, und deren Mitarbeitern: dem Präsidenten des Bundesarchivs, Herrn Dr. Mommsen, und seinem verstorbenen Vorgänger, Herrn Dr. Bruchmann, den Leitern des Militärarchivs, Herrn Oberarchivrat Teske und Herrn Archivdirektor Dr. Stahl, dem Leiter des Archivs des Instituts für Zeitgeschichte, Herrn Dr. Hoch, und allen meinen Kollegen von der Dokumentenzentrale des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. Von ganz besonderem Wert war für mich die Hilfe, die ich vom Leiter des Instituts für Zeitgeschichte in München, Herrn Professor Dr. Krausnick, und meinen einstigen Freiburger Kollegen, Herrn Privatdozenten Dr. Wohlfeil und Herrn Dr. Meyer, erhalten habe. Sie haben mich mit ihren Kenntnissen und Erfahrungen durch klärende Aussprachen und Hinweise in großzügiger Weise unterstützt. Ihnen gilt dafür mein besonderer Dank. Eine Reihe von höheren Offizieren der Wehrmacht haben mir freundlichst zahlreiche Auskünfte in teilweise ausführlichen Stellungnahmen und Aussprachen gewährt. Hierfür darf ich aufrichtig danken. Ebenfalls darf ich der Schriftleitung unter Frau Dr. v. Gersdorff sowie allen Mitarbeitern des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, die mir bei meiner Arbeit behilflich waren, danken.

Freiburg im Breisgau, September 1968

Klaus-fürgen Müller

I.ARMEE IN DER KRISE

In jedem Staat und zu jeder Zeit hat eine Armee ihr eigenes Gewicht und ihre politischstaatliche Bedeutung. Wenn der bewaffneten Macht allerdings innerhalb des politischen und staatlichen Schicksals der Nation eine ausschlaggebende Rolle zufällt, so ist dies ein Zeichen für eine erhebliche Gefährdung, wenn nicht gar Zerrüttung des staatlichen Lebens. Im konkreten Fall der deutschen Armee ergab sich diese Situation aus der Konfrontation der Nation mit dem damals so neuartigen Phänomen des Totalitarismus, der wiederum ein Symptom der Krise des modernen Staates, mehr noch der modernen Gesellschaft war1. Dominierender Faktor in der Entwicklung des Verhältnisses von Armee2 und nationalsozialistischem Regime wurde die Tatsache, daß die Streitkräfte mit dem Phänomen einer totalitären Herrschaft gerade in dem Augenblick konfrontiert wurden, als sie sich in einer besonders kritischen Phase ihrer Geschichte, nämlich in einer tiefgreifenden Existenzkrise befanden. Man wird Rolle und Schicksal der deutschen Armee im nationalsozialistischen Deutschland nur begreifen können, wenn man zurückgreift auf die Situation der bewaffneten Macht in der Zeit des Zusammenbruches des Kaiserreiches und der Weimarer

Republik. Für das Offizierkorps

bedeutete der Zusammenbruch des Kaiserreiches im Jahre 1918 mehr als nur Erschütterungen erfolgender Übergang von einer Staatsform zu einer anderen bei gleichzeitiger Wahrung der Staatskontinuität. Für das Offizierkorps war es der Zusammenbruch einer seiner Welt3. Es war von seinem geschichtlichen Ursprung und Werden her wesenhaft auf die Krone und erst durch sie auf den Staat ausgerichtet gewesen4. Im Monarchen als dem Obersten

Repräsentant und Verkörperung der

Armee ein unter

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Vgl. zu diesem Komplex u.a. Hans Herzfeld, Die moderne Welt, 1789-1945, Teil II: Weltmächte und Weltkriege. Die Gesdiichte unserer Epoche (1890-1945), Braunschweig 41964; Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a. M. 21955, sowie Hans Buchheim, Totalitäre Herrschaft, Wesen und Merkmale, München 1962. 2 Der Begriff „Armee" ist vieldeutig. Im allgemeinen Sprachgebrauch kann er das „Heer", also die Landstreitkräfte, meinen; er kann jedoch audi als Synonym für den Begriff „Streitkräfte" überhaupt stehen. In der militärisdien Terminologie ist „Armee" ein Großverband zwischen Heeresgruppe und Armeekorps. Fortan werden in dieser Arbeit „Armee und „Heer" synonym gebraucht; die Ausdrücke „bewaffnete Macht" bzw. „Streitkräfte" dagegen meinen die „Wehrmacht", also alle drei Teilstreitkräfte: Heer Marine Luftwaffe. 3 Vgl. Francis L. Carsten, Reichswehr und Politik 1918-1933, Köln-Berlin 1964, S. 13. 4 Das kam, im Vergleich zum Beamten, insbesondere im Eid des Offiziers zum Ausdruck: Vgl. Reinhard Höhn, Verfassungskampf und Heereseid, Der Kampf des Bürgertums um das Heer, 1815-1950, Leipzig 1938, sowie allgemein: Gerhard Papke, Offizierkorps und Anciennität, in: Untersuchungen zur Geschichte des Offizierkorps, Anciennität und Beförderung nach Leistung, Stuttgart 1962 Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forsdiungsamt Bd 4, und Manfred Messerschmidt, Werden und Prägung des preußischen Offizierkorps Ein Überblick, in: Offiziere im Bild von Dokumenten aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1

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I. Armee in der Krise

14

Kriegsherrn und Souverän, und in ihm allein hatte sich dem Offizierkorps der Staat verkörpert. Die ausschließliche Treuebindung ganz personaler Art an die Krone als der Verkörperung des Staates konstituierte es als den ersten, den einzig staatsadäquaten Stand, der nicht bloß funktionalen Charakter als Verwalter und Träger des primären „und gewissermaßen sogar einzigen Machtmittel des Herrschers"5 hatte, sondern die entscheidende Repräsentanz und Stütze der Monarchie war. Die Bezogenheit von Krone und Offizierkorps blieb unbeschadet zeitweiliger Akzentverschiebungen grundsätzlich bestehen6. Mehr noch: Sie wurde weder von den säkularen Veränderungen wie der Industrialisierung mit all ihren ökonomischen und sozialen Folgeerscheinungen noch von der damit de facto erfolgenden Veränderung der Stellung des Offizierkorps im ganzen der gesellschaftlichen Struktur berührt. Das Offizierkorps bewahrte seine aus der vorindustriellen Welt stammenden Wesenszüge und paßte auch sein subjektives Bewußtsein und sein besonders geartetes Selbstverständnis diesen bereits längere Zeit währenden faktischen Veränderungen kaum an7. Das hätte allerdings wohl auch jenseits seiner Möglichkeiten gelegen, da es einen prinzipiellen Wandel des Beziehungsgefüges zwischen Krone und Offizierkorps als auch der Staatsstruktur erfordert hätte. Das aber hat weder der Lauf der Tatsachen erzwungen, noch wurde es durch eine wie auch immer geartete Willensentscheidung der Krone vollzogen. Das Offizierkorps, aus dem politischen Tagesgeschehen zwar ausgeklammert, durch seine spezifische Stellung im Staat aber doch ein Politikum ersten Ranges, blieb so gleichsam ein sekundäres System mit primärem Stellenwert im Funktionsgefüge. Als im Verlauf des Ersten Weltkrieges es sich dann ergab, daß die Repräsentanten der Dritten Obersten Heeresleitung, Hindenburg und Ludendorff, in«! Bewußtsein der Öffentlichkeit und der Armee geradezu als „alter ego" des Kaisers in den Vordergrund rückten8, erfolgte gleichwohl weder eine grundsätzliche Ablösung des Monarchen durch die nebst dem Kaiser vornehmsten Repräsentanten des Offizierkorps noch eine Emanzipierung des Offizierkorps aus dem Bindungsgefüge zur Krone, sondern es ergab sich neben einer starken Ausprägung des Reichsdenkens im Grunde nun wieder eine Entwicklung wie einst im 19. Jahrhundert auf dem krisenhaften Höhepunkt der -

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Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, hrsg. vom Militärgeschichtlichen ForschungsBd 6, sowie Karl Demeter, Das deutsche Offizierkorps in Gesellschaft und Staat 1650-1945, Frankfurt a. M. 1962, S. 147 ff. 5 Vgl. Rainer Wohlfeil, Ritter Söldnerführer Offizier, Versuch eines Vergleichs, in: Geschichtliche Landeskunde, Veröffentlichung des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz Bd III, Teil 1, 1966, S. 70. ' Vgl. ebd., wo Wohlfeil am Beispiel des Streites um „Verfassungsheer" und „Königsheer" im 19. Jahrhundert zeigt, daß gegebenenfalls das Offizierkorps „monarchischer denken und handeln konnte" als der Träger der Krone selbst. 7 Daher rührt auch die politische Sterilität der konservativen Leitbilder und des politischen Begriffsrepertoires des Offizierkorps worauf weiter unten eingegangen wird. 8 Vgl. Siegfried A. Kaehlers Einleitung zu Albrecht v. Thaer, Generalstabsdienst an der Front und in der OHL, aus Briefen und Tagebuchaufzeichnungen 1915-1919, unter Mitarbeit von Helmuth K. G. Rönnefarth hrsg. v. Siegfried A. Kaehler, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Klasse, 3. Folge, Nr. 40, Göttingen 1958, S. 16, wo K. vom „Übergang à' ,Heerkönigtums' auf die Doppelspitze Hindenburg/Ludendorff" spricht. 1964

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amt

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I. Armee in der Krise

15

Liberalismus: das Offizierkorps versuchte gleichsam „monarchischer" zu handeln als der Monarch selbst. Wäre es anders gewesen, dann hätte sich das Offizierkorps durch den ihm zugefallenen Handlungszwang tatsächlich zu einer selbständigen, genuin politischen Kraft entwickelt und wäre nicht bloß ein trotz faktischen Ausfalls des Monarchen nur aus der monarchischen Idee heraus reagierendes sekundäres System geblieben. Dann hätte es nicht dem Zusammenbruch der Monarchie tatenlos und gelähmt zugesehen, dann hätte es aus sich heraus politisch handeln können und nicht als bloßes Objekt reagiert. Die unter der sichtbaren Oberfläche vonstatten gehende langsam fortschreitende Abdankung des Kaisers während des Krieges hatte allerdings bereits die Idee der Monarchie stark ausgehöhlt und damit der Bindung des Offizierkorps an die Krone einen Gutteil seiner organischen Vitalität zugunsten einer Umorientierung auf das „Reich" hin genommen9. Die Abdankung des Kaisers löste dann auch faktisch das bisherige Beziehungsgefüge radikal auf; es konnte aber noch durch kein anderes, für das Offizierkorps als Ganzem verbindliches etwa auf der Grundlage einer spezifisch staatspolitischen Verantwortlichkeit für die Nation ersetzt werden, so sehr auch schon ein Denken in nationalstaatlichen Kategorien sich bemerkbar gemacht hatte. In seiner konkreten Ausformung und damit auch in seiner konkreten Vorstellungsbegrenzung war es indessen immer noch ausschließlich mit der monarchischen Staatsform verbunden, und zwar so sehr, daß eben mit deren Zusammenbruch für die Mehrzahl der aktiven Offiziere auch die Grundlagen ihrer Existenz als Offizierkorps zusammenbrach. Das spricht eindrucksvoll aus zeitgenössischen und auch noch aus rückschauenden Betrachtungen zahlreicher Offiziere. Generalfeldmarschall v. Manstein stellt in seinen Memoiren fest, daß die Abdankung des Kaisers für das Offizierkorps „nicht nur ein bloßer Wechsel der Staatsform ..." war10, und ein bayrischer Artillerieoffizier schrieb an seine Braut: die Revolution hat mir den Rest gegeben und hatte mir das Letzte geraubt.. nun sieht man plötzlich alles über den Haufen stürzen. Es geht einem, wie wenn man einen lieben Menschen begraben hat11."

Auseinandersetzung zwischen Monarchie und

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„...

.

...

zum Ausdruck in Groeners Worten gegenüber dem Kaiser und dessen BeVormittag des 9.11.18: „Das Heer wird unter seinen Führern und Kommandierenden Generälen in Ruhe und Ordnung in die Heimat zurückmarschieren, aber nidtt unter dem Befehl Eurer Majestät, denn es steht nicht mehr hinter Eurer Majestät." Wilhelm Groener, Lebenserinne1rungen, Jugend, Generalstab, Weltkrieg, hrsg. v. Friedrich Frhr. Hiller v. Gaertringen, Göttingen 1957, S. 460. Vgl. aber auch Siegfried A. Kaehlers Kommentar zu Ludendorffs Verhalten am 26. 10. 18 gegenüber dem Kaiser, das er als Symptom „des durch Überforderung zerstörten preußisch-deutschen Heeresgefüges" qualifiziert; vgl. Thaer, S. 17-18. 10 9

Das kommt klassisch

ratern am

Erich

v. Manstein, Aus einem Soldatenleben 1887-1939, Bonn 1958, S. 51. Der Generalquartiermeister, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des Generalquartiermeisters des Heeres, General der Artillerie Eduard Wagner, hrsg. von Elisabeth Wagner, München-Wien 1963, S. 22 ff. (fortan zit. Wagner). Vgl. auch die Erklärung, die Generalmajor Hans Oster, eine der Zentralfiguren des militärischen Widerstandes gegen Hitler, nach dem Scheitern des Attentates vom 20. Juli 1944 vor der Gestapo abgegeben hat, in: Spiegelbild einer Verschwörung, Die Kaltenbrunner-Berichte an Bormann und Hitler über das Attentat vom 20. Juli 1944. Geheime Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt, hrsg. vom Archiv Peter für histo11

I. Armee in der Krise

16

Durch den Zusammenbruch der Monarchie geriet das Offizierkorps gleichsam in ein existentielles Dilemma. Verwirrung und Verzweiflung machten sich breit12; aus der tiefen Verwirrung heraus wurden Gewaltlösungen erörtert13; aus Verzweiflung wurde der Vorschlag geboren, der Kaiser solle bei einem „kleinen Spezialangriff an geeigneter Stelle" der Front mit den Getreuen, die ihm zu folgen gewillt waren, den Soldatentod suchen14: letzte, verzweifelte Konsequenz jener „innigen und unauflösbaren Verbundenheit" von Krone und Offizierkorps15. Andere, aber für die Lage nicht weniger symptomatische Reaktionen werden in jener bekannten Auseinandersetzung zwischen General Groener und General Graf v. d. Schulenburg deutlich. Am Vormittag des 9. November schlug Schulenburg vor, „der Kaiser solle als Kaiser abdanken, aber als König von Preußen bei seinem Heer bleiben" ein Versuch dieses altpreußischen Generals, die Monarchie als Herzmitte des Offizierkorps über eine absonderliche Konstruktion zu retten. Als der Kaiser sich diesem Vorschlag geneigt zeigte, griff General Groener ein, der „bestürzt [war] von dieser Vorstellung, die die Sprengung Deutschlands bedeutet hätte ."16. In dieser Episode wird ein ebenso symptomatischer wie komplizierter Sachverhalt offenbar: In dem Augenblick, als die Lebensmitte des Offizierkorps, die Monarchie, offenkundig zu zerbrechen begann, wurde einigen seiner prominenten Vertreter klar, was dies für die Existenz des Korps bedeuten mußte, nämlich die Zerstörung der Grundlage der Armee. In dieser Lage offenbarte sich plötzlich in ganzer Schärfe, daß die innere Einheit des Offizierkorps bereits im Laufe der historischen Entwicklung von der Basis her sich aufzulösen begonnen hatte. Sie war seit längerem, spätestens seit dem Aufgehen Preußens im deutschen Nationalstaat, zwischen dem Reichsdenken des modernen Nationalstaatsbewußtseins und der älteren Bindung an die Monarchie polarisiert worden. Dafür war der Meinungsstreit zwischen den beiden Generälen symptomatisch. Schulenburg wollte in dieser Situation das nationalstaatliche Kaisertum aufgeben, um das preußische „Heerkönigtum"17 und damit die Grundlagen des alten Offizierkorps zu retten. Der Württemberger Groener aber erkannte, daß die Monarchie nicht mehr zu retten war ...



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rische und zeitgeschichtliche Dokumentation, Stuttgart 1961, S. 302 (fortan abgekürzt KB): „Wir sind seinerzeit... in der Monarchie Offizier geworden. Daß dieses Staatsform einmal in die Brüche gehen könnte, war für uns nicht vorstellbar Wie ein Schlag mit dem Hammer auf den Kopf wirkte auf uns der Zusammenbruch 1918 ." Vgl. auch Becks Brief vom 28. 11. 18, Dok.Anh. Nr. 1, dazu: Wolf gang Foerster, Generaloberst Ludwig Beck. Sein Kampf, gegen den Krieg. Aus nachgelassenen Papieren des Generalstabschefs, München 21953, S. 16 ff. ...

..

12

Vgl. Demeter, S. 172.

Demeter, S. 173, berichtet, in Berlin wäre auf einer öffentlichen Versammlung junger Hauptleute sogar die theoretische Berechtigung des Bolschewismus erörtert worden. 14 Thaer, S. 252; vgl. auch Groener, S. 444 und 451, und Siegfried A. Kaehler, Das Problem des 13

Königstodes (vier quellenkritische Untersuchungen zum Kriegsende 1918), in: Studien zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Aufsätze und Vorträge, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Walter Bußmann, Göttingen 1961. 15 Messerschmidt, S. 33. 10 Groener, S. 460 (Hervorhebung vom Verf.). 17 So Kaehler im Vorwort zu Thaer, S. 16.

I. Armee in der Krise

17

und das Offizierkorps mit in den Untergang hineinzureißen drohte. Der Tatsache, daß die preußisch-deutsche Monarchie dem Untergang geweiht war, wich er nicht aus. Aber er sah indem er sich gegen die in der Konsequenz des Vorschlages von Schulenburg liegende Gefahr der „Sprengung Deutschlands", also des Reiches, auflehnte in der Idee des Reiches, des „Vaterlandes Deutschland", für das Offizierkorps gleichsam bereits wieder die Umrisse eines rettenden Ufers inmitten der Wogen des Umsturzes auftauchen. Diese Chance wollte er nicht durch das illusionäre Konzept des altpreußischen Generals zerstören lassen. Schulenburg sah ganz archaisch-unreflektiert die Grundstruktur des Offizierkorps in der exklusiven Bezogenheit auf die preußische Krone. Bei Groeners Verhalten dagegen kam die differenziertere faktisch-historische Entwicklung zum Ausdruck: Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung hatten sich bei zwar grundsätzlichem Fortbestehen der beiderseitigen Bezogenheit zwischen Krone und Offizierkorps doch die Akzente verschoben, vollends im Verlaufe des Ersten Weltkrieges, in dem es nach vorherrschender Ansicht des Offizierkorps eben um einen nationalen Existenzkampf, „um das Reich", ging. Das kam auch darin zum Ausdruck, daß die Bundeskontingente im Ersten Weltkrieg -

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bewußtseinsmäßig weitgehend

einem „Reichsheer" geworden waren. Groener erkannte, daß die Monarchie nicht zu retten war, er versuchte daher in Anknüpfung an die mittelbare Staatsgerichtetheit und über die Hilfskonstruktion eines von der Monarchie losgelösten Vaterlandsbegriffs, eine neue Basismöglichkeit zu gewinnen18. Sein Rückgriff auf die Vaterlandsidee war jedoch nicht ausschließlich Ausdruck eines allgemeinen Patriotismus, der das Gesamtwohl der Nation höher stellte als eine bestimmte Staatsform, also hier die Monarchie, nicht eines Patriotismus, der auf der Vorstellung einer jeden Wechsel der Staatsform überdauernden Staatskontinuität beruhte. Dahinter stand vielmehr vornehmlich das Streben, die existentiellen Interessen des Offizierkorps zu wahren. Schulenburg wollte die Krone, und damit auch das Offizierkorps, auf Kosten des Reiches retten. Groener dagegen wollte die monarchische Spitze opfern, um wenigstens das Offizierkorps die Armee, wie er sagte hinüberzuretten. Dabei faßte er, wohl zu einem erheblichen Maße unbewußt, die Idee des Vaterlandes als mögliche neue Existenzgrundlage für die Armee ins Auge. Das aber konnte bei dem als „Zerbrechen einer Welt" empfundenen Zerfall der Monarchie, bei dem das Offizierkorps erfassenden „Trauma vom Verlust des Staates" (denn im Bewußtsein der Offiziere war eben die Monarchie ihr Staat gewesen!), nichts anderes sein als eine letztlich psychologisch motivierte Hilfskonstruktion, die zu einem Ausbruch aus der akuten seelisch-geistigen Existenzkrise nicht verhelfen -

zu

-

Vgl. Groener, S. 467: „Es müßte ihm (d.h. dem Offizierkorps) ein Ziel gewiesen werden, das des Einsatzes wert war und ihm die innere (!) Sicherheit wiedergab. Es müßte das Gefühl wach18

gerufen

werden der Verpflichtung nicht nur gegenüber einer bestimmten Staatsform, sondern für Deutschland schlechthin." Hier in dieser Gegenüberstellung des politischen Konkretums „Staatsform" und des politisch im Vagen bleibenden Begriffes „Deutschland" zeigt sich, daß auch Groener nach dem Wegfall des monarchischen Bezuges, aus dem das Offizierkorps seine politische Bedeutung einst erhalten hatte, von seinem Ansatz her einen neuen politischen Bezug nicht oder wenigstens noch nicht fand.

I. Armee in der Krise

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konnte. Wie wenig Groener, der diese Krise in seinem nüchternen Realismus sogleich erkannt hatte, sich selbst ihr entziehen konnte, zeigt die Tatsache, daß gerade er in den Tagen des Zusammenbruchs der Monarchie eine eindeutige militärische Interessenpolitik betrieb. Das beweisen seine Erinnerungen, in denen er bezüglich der von der OHL den zivilen Stellen zugeschobenen Waffenstillstandsverhandlungen schrieb: „Mir konnte es nur lieb sein, wenn bei diesen unglücklichen Verhandlungen, von denen nichts Gutes zu erwarten war, das Heer und die Heeresleitung so unbelastet wie möglich blieb19." Daher stellte sich die Heeresleitung „bewußt auf den Standpunkt, die Verantwortung für den Waffenstillstand und alle späteren Schritte von sich zu weisen. Sie tat dies, streng juristisch gesehen, nur mit bedingtem Recht, aber es kam mir und meinen Mitarbeitern darauf an, die Waffe blank und den Generalstab für die Zukunft unbelastet zu erhalten"20. Es darf nicht übersehen werden, daß aus dem Ansatz dieser Interessenpolitik auch ein konstruktiver Beitrag zur Erhaltung des Reiches erwuchs, indem von diesem Ausgangspunkt her die Zusammenarbeit mit der neuen Regierung zur Konsolidierung der Verhältnisse dann ansetzen konnte. In unserem Zusammenhang ist jedoch vor allem von Bedeutung, daß sich dabei ein ganz spezifisches und für die Situation des Offizierkorps symptomatisches Verhältnis ergab. Das Offizierkorps, seines bisherigen „Sammel- und Ausrichtepunkt(es)"21 mit dem Sturz der Krone verlustig gegangen, ging nun nicht als integriertes Instrument der Staatsgewalt aus dem Umbruch hervor. Vielmehr kam es zu einer Art Partnerschaftsverhältnis zwischen zwei gleichberechtigten oder besser zwischen zwei gleicherweise in existentiellen Nöten befindlichen Größen. Groener teilte bekanntlich am 10. November 1918 Ebert mit, „daß das Heer sich seiner Regierung zur Verfügung stelle, daß dafür der Feldmarschall und das Offizierkorps (!) von der Regierung Unterstützung erwarteten bei der Aufrechterhaltung der Ordnung und Disziplin im Heer. Das Offizierkorps erwarte von der Regierung die Bekämpfung des Bolschewismus und sei dafür zum Einsatz bereit. Ebert ging auf meinen Bündnisvorschlag ein22." Hieran wird deutlich, daß das gleichsam bindungslos im Räume schwebende Offizierkorps, dem mindestens ein Teil der Truppe bereits entglitten war, das somit innerlich auch geschwächt war, sich mit einer schwachen und innerlich gespaltenen Regierung unter gewissen Bedingungen zur Bewältigung bestimmter aus der konkreten Situation entstandener 19

Groener, S. 449.

Ebd., S. 466. Hervorhebung vom Verf. Es ist zu bedenken, daß diese Sätze erst 1936 geschrieben wurden. Somit bleibt offen, ob die darin enthaltene Konzeption bereits 1918 so bewußt und planvoll bei Groener vorhanden war, wie er sie zur Zeit der Abfassung dieser Aufzeichnung darstellte. Vgl. dazu seine Aussage im Münchener Prozeß von 1925: „Das Ziel unseres Bündnisses war der rückhaltlose Kampf gegen die Revolution, die Wiedererrichtung einer gesetzmäßigen Regierung, dieser Regierung bewaffnete Unterstützung zu leihen und eine Nationalversammlung 20

einzuberufen." Zit. nach Jacques Benoist-Méchin, Geschichte der deutschen Militärmacht 1918 bis 1945, Bd I, Oldenburg-Hamburg 1965, S. 53, Anm. 7.

21

82

Groener, S. 467. Groener, S. 467; dort auch der Satz: „Das Offizierkorps konnte aber

nur mit einer Regierung zusammengehen, die den Kampf gegen den Radikalismus und Bolschewismus aufnahm." Vgl. dazu Wolfgang Sauer, Das Bündnis Ebert-Groener, Diss. phil. Berlin 1956, ungedruckt, S. 58.

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19

Aufgaben zusammenfand. Beide Partner trafen sich auf dem Boden einer antirevolutionären Einstellung, die bei beiden im Grunde in derselben preußisch-deutschen Staatsauffassung und Staatstradition wurzelte. Das Offizierkorps fand damit wieder eine staatspolitisch bedeutsame Aufgabe23, aber keinen neuen Wesensbezug, solange sich sein aus einer anderen historischen Epoche stammendes Wesen nicht grundlegend änderte. Die von Groener initiierte Entscheidung war ein Politikum ersten Ranges und von weitreichenden politischen Folgewirkungen; aber sie bot keine wesensmäßig aus den inneren Voraussetzungen des Offizierkorps erwachsende neue existentielle Bindung. Das Offizierkorps fand wieder eine Aufgabe, den Dienst am Staat und für den Staat, es fand aber keinen neuen Wesensbezug. einen Teil der Macht im neuen Staat an Heer „Wir hofften, bringen ."24, so wird darin der angedeutete Interessenstandpunkt

Wenn Groener schreibt:

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und Offizierkorps zu offen ausgedrückt. Klar wird aber auch, daß die angestrebte Teilhabe an der Macht nie geeignet sein konnte, das Offizierkorps aus der geistig-seelischen Verlassenheit herauszuretten, denn, so sehr auch die Hingebung an eine neue Aufgabe die Malaise milderte, es fehlte dennoch der einst in der Krone gegebene Bezugspunkt für diese Teilhabe. Die grundsätzliche Krisensituation blieb bestehen. Bestehen blieb fortan eben deshalb auch der Interessentrend auf eine wie auch immer geartete Machtteilhabe25. Eine weitere Folge der unbewältigten Situation war ein psychologischer Eskapismus, der seinen nachhaltigen Ausdruck in der Vorstellung vom „Dolchstoß" fand. Von ihren vielfältigen und zahlreichen Artikulationen sei hier nur eine von dem damaligen Major i. G. Beck stammende Briefstelle zitiert. Beck schrieb am 28. November 1918: „Im schwersten Augenblick des Krieges ist uns die von langer Hand her vorbereitete Revolution in den Rücken gefallen Ich kenne keine Revolution in der Geschichte, die so feige unternommen wurde, und die, und das ist noch viel schlimmer, mit absoluter Notwendigkeit die schwere Not, in der wir schon längst stecken, noch vervielfacht hat, vielleicht zu völligem Untergang führt... Und daher ist es so vergiftend, wenn jetzt die Leute hinten einen Gegensatz zwischen Offizier und Mann konstruieren... es ist das Schlimmste, was sie tun können, die Autorität des Offiziers zu untergraben, es führt absolut zur Anarchie26." Diese, allerdings nicht allein vom Offizierkorps kultivierte „DolchstoßLegende"27 war keineswegs bloß Ausdruck der Auflehnung gegenüber einer Niederlage, die man innerlich nicht akzeptierte, sondern wie die in Becks Brief vorgenommene Verknüpfung mit der Frage der Autorität des Offizierkorps zeigt zugleich auch symptomatisch für das verzweifelte Bemühen, das durch das Wegbrechen des monarchischen Bezuges ..

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23 Vgl. hierzu z. B. Seeckts in diesem Sinne aufschlußreiche Erlasse „An sämtliche Generalstabsoffiziere" vom 6. und 7. 7.19 bei Hans Meier-Welcker, Seeckt, Frankfurt a. M. 1967, S. 234 f. 24 Groener, S. 468-469. 25 Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. II-IV. 28 Vgl. Dok.-Anh. Nr. 1 sowie Foerster, S. 16 ff., und Carsten, S. 18, Anm. 12. 27 Vgl. dazu Friedrich Frhr. Hiller v. Gaertringen, „Dolchstoß"-Diskussion und „Dolchstoßlegende" im Wandel von vier Jahrzehnten, in: Geschichte und Gegenwartsbewußtsein, Festschrift für Hans Rothfels zum 70. Geburtstag, Göttingen 1963, S. 122-160.

20

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lebensgefährlich getroffene Selbstverständnis und -bewußtsein zu retten28 ein Vorgang, zu dem ein mit der Krone noch fest verbundenes Offizierkorps niemals gezwungen -

gewesen wäre.

Bei einer derartigen inneren Ausnahmelage der Armee ist es nicht verwunderlich, daß das Verhältnis von Armee und Staat auch in den folgenden Jahren tief fragwürdig blieb. Von konstruktiven Beziehungen konnte keine Rede sein; dies um so weniger, als auch der neue Staat mit so grundsätzlichen Schwierigkeiten zu ringen hatte, daß er auf lange Zeit nie als völlig in sich konsolidiert gelten konnte. Erstmals in der deutschen Geschichte war der Staat selbst nahezu allen Teilen des Volkes zum Problem geworden29. Es mangelte in starkem Maße an der grundsätzlichen Bereitschaft, den demokratisch-parlamentarischen Staat vorbehaltlos anzuerkennen. Dieser von zentrifugalen Tendenzen stärker als von integrierenden Faktoren30 geprägte Staat vermochte es daher nicht, eine orientierungslos gewordene Armee sich organisch einzufügen, noch viel weniger aber, diese Armee aus ihrer Orientierungslosigkeit herauszureißen und ihr einen neuen gesamtpolitischen Bezug zu geben. Dieser hätte dem Offizierkorps zudem doch wohl oktroyiert werden müssen; denn es verharrte weiterhin in kühl ablehnender Distanz zur parlamentarischen Republik, die es als Gegenpol zu seinem früheren Leitbild, der absoluten Monarchie, ansah. Dieser kühlen Distanz entsprach allerdings auf Seiten der republikanischen Organe, insbesondere auf dem linken Flügel der staatstragenden Kräfte, eine ausgeprägte, oft betonte persönliche und sachliche Indifferenz, wenn nicht gar entschiedene Ablehnung. Auf beiden Seiten war das Unvermögen, den entscheidenden Schritt zur Überwindung der Kluft zu

Vgl. Demeter, S. 175: „Überhaupt waren die Ergebnisse der Niederlage, der Revolution und Bürgerkrieges vielfach geeignet, die traditionellen Anti-Affekte hüben wie drüben zu vergröbern, zu nähren und zu intensivieren. Und gar das Selbstbewußtsein im Offizierkorps fand, um seine Erschütterung seit 1918 zu überwinden und abzureagieren, den Ausweg der Dolchstoßlegende ..." 29 Vgl. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, München 1963, S. 249: „Die Revolution wurde nicht als ein befreiendes Ereignis empfunden. Sie war auch keine Revolution, weil sie keinen Gegner hatte; die alte Ordnung wurde nicht verteidigt, man stieß in ein Vakuum vor." 30 28

des

So schreibt Golo Mann mit Recht: „Kann man sich wundern, daß im Staat, der die rechte Haltung zu sich selber niemals fand, auch die mit der schwersten Aufgabe einer neuen Traditionsbildung belastete Armee die rechte Haltung zum Staat nicht fand? Wäre sie gutwilliger gewesen, als sie es war... hätte sie die rechte Haltung doch nicht finden können. Denn das, was selber niemals integriert war, konnte sich die Armee beim besten Willen nicht integrieren." Vgl. Golo Mann, Staat und Heer, S. 249 f., in: Geschichte und Geschichten, Frankfurt a. M. 1961. Nur wird man sich fragen müssen, ob es angängig ist, einen derartigen historischen Befund im Sinne fatalistischer Unausweichlichkeit und zwangsläufiger Entwicklungstendenzen zu interpretieren. Die Geschichte bietet immer wieder Beispiele, wo scheinbar unvermeidliche Entwicklungen durchbrochen, wo gordische Knoten von starken Persönlichkeiten oder elementaren Bewegungen durchhauen wurden; sie zeigt aber auch, wie sehr und wie oft Menschen und menschliche Gemeinschaften durch Vorgegebenheiten und präformierte Bedingungen, durch gegebene Situationen und Verhältnisse in ihrer Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit behindert und beschränkt wurden.

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nur zu offenkundig. So kam es bestenfalls zu einer Art Zwangsehe zwischen zwei sehr verschiedenen, mit sich selbst noch nicht ins reine gekommenen Partnern. Das Trennende in Gesinnung und Haltung blieb zwischen Offizierkorps und parlamentarischer Republik größer als die verbindenden Interessen. Das Offizierkorps verharrte bewußt oder unbewußt in seinen überkommenen Wertvorstellungen31. Vielleicht war die monarchisch-konservative Einstellung der Masse der Offiziere oft ein mehr gefühlsmäßiger Kontrapunkt gegenüber der parlamentarischen Demokratie als wirkende Überzeugung und lebendige Kraft32. Auf jeden Fall aber war sie ein Zeichen der inneren Fremdheit gegenüber der parlamentarischen Republik33. Staatsfremdheit und Orientierungslosigkeit des Offizierkorps werden in seinen politischen Wunschträumen deutlich. Es war nur zu sehr geneigt, in dem neuen Staate nicht viel mehr als eine Übergangserscheinung zu erblicken, ihn als einen staatlichen Zwischenzustand34 zu begreifen. Die politischen Wunsch- und Zielvorstellungen des Offizierkorps, die im übrigen von großen Teilen des deutschen Besitz- und Bildungsbürgertums geteilt wurden, waren bei aller Unterschiedlichkeit im Detail letztlich alle auf das Modell eines Staatswesens bezogen, das sich außenpolitisch als nationalstaatliche Großmacht, innerpolitisch als autoritär strukturierter Obrigkeitsstaat darstellte. Das machte im Grunde den politischen Gehalt der Vorstellungen im Offizierkorps aus. Folgerichtig entsprang ihm ein spezifisches Selbstverständnis der Armee als Garant und Sachwalter einer starken Staatsautorität und der Reichseinheit gegenüber einer ständig mit zahlreichen Schwierigkeiten kämpfenden parlamentarischen Demokratie. Die politische Problematik dieser Vorstellungen war für die Lage des Offizierkorps ebenso bezeichnend wie die Hartnäckigkeit, mit der es daran festhielt. Die Konzeption, welche nach einer kurzen Übergangsphase das Verhältnis zwischen

tun,

Vgl. die vielfältigen Belege bei Carsten. Joachim v. Stülpnagel, 75 Jahre meines Lebens, Düsseldorf 1960, BA/MA H 08-5/27, S. 195: „Ich bin in meinem Herzen immer .kaiserlich' geblieben und habe aus dieser Einstellung kein Hehl gemacht. Ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich behaupte, daß das gleiche bei den meisten Offizieren der Fall war. Das setzten sogar auch Ebert und Noske voraus. Sie verlangten keine Renegaten, sondern nur Offiziere, die sich nach dem geleisteten Eid auf die ,Verfassung', die sich das deutsche Volk bestimmt hatte, loyal und pflichtgetreu verhielten." Man wird allerdings auch wohl sagen dürfen, daß bei vielen sogar diese Minimalbasis der Verfassungsloyalität

31

52

nicht sehr solide gewesen ist. 58 Über die historischen Wurzeln und die Entwicklung der massiven Antipathie des Offizierkorps gegenüber dem Parlamentarismus vgl. Demeter, S. 147 ff., 152 ff., 175; beispielhaft auch Groener, S. 59 ff. 34 Das war bei anderen Kreisen der Nation ähnlich und kennzeichnet einmal mehr die innere Problematik dieser ersten parlamentarischen Demokratie der deutschen Geschichte. Vgl. z. B. Hans Maier, Der politische Weg der deutschen Katholiken nach 1945, S. 197, in: Deutscher Katholizismus nach 1945, Kirche Gesellschaft Geschichte, hrsg. von Hans Maier, München 1954: die Katholiken hatten in der Weimarer Zeit bis tief ins Zentrum hinein den neuen Staat nur teilweise, als Provisorium und kleineres Übel, bejaht und ringsum Fluchtwege in eine monarchische Vergangenheit oder in die .schönere Zukunft' eines christlichen Ständestaates oder christlichen Sozialismus offengehalten ..." -

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„...

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22

Reichswehr und Republik bestimmte, ist eng mit Namen und Person des Generals v. Seeckt, des zweiten Chefs der Heeresleitung, verknüpft. Er entwarf, vertrat und realisierte diese Konzeption. Seeckt verkörperte gleichsam die „mittlere Linie" jener Gruppe von Offizieren, die zwischen undurchführbarer Gegenrevolution und innerer Unfähigkeit, die politische Gegenwart zu bejahen, einen Ausweg zur Bewahrung der Armee suchten. Nach seinem Willen und seiner Vorstellung sollte die Reichswehr „nicht zu einem Staat im Staate werden, sondern im Staate dienend aufgehen und selbst zum reinsten Abbild Das Heer dient dem Staat, nur dem Staat; denn es ist der des Staates werden Staat35." Das wäre vielleicht ein geeignetes Konzept zur organischen Eingliederung der bewaffneten Macht gewesen. Tatsächlich aber war wie die Identifizierung des Heeres mit dem Staat in der Formulierung Seeckts zeigt nicht so sehr der Weimarer Staat in seiner konkreten Erscheinung damit gemeint als vielmehr ein abstrakter Staatsbegriff, „ein mythischer Begriff, der alles das umschloß, was man auch ,das ewige Deutschland' genannt hat"36. Demgemäß wollte Seeckt die Reichswehr als die „Stütze der Autorität des Reiches, nicht einer bestimmten Regierung"37 angesehen wissen. In diesem Wort kam die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie zum Ausdruck, in welcher die Regierung gemäß dem Mandat der Volksvertretung und der vom Volk gewählte Präsident doch immerhin die Staatsautorität verkörperten. Die Fiktion, dem „Reich", dem „idealen Staat", verpflichtet zu sein, „entband die Reichswehr davon, ihr Verhältnis zu der vorhandenen Republik und ihren Einrichtungen zu klären"38. In diesem Tatbestand veranschaulichte sich das Dilemma eines letztlich aus dem monarchischen Absolutismus stammenden, jahrhundertelang allein aus dem Bezug zur Krone lebenden Offizierkorps, das nach Wegfall dieses Bezuges noch keine andere Basis gefunden hatte, notwendig zur gegenwärtigen Staatsform keine Beziehung finden konnte. Dieses Immer-noch-Verhaftetsein dem alten Wurzelgrund und Noch-nicht-Finden einer neuen Grundlage war letztlich die Ursache für jene Flucht in den von Seeckt konzipierten abstrakten Staatsbegriff genauso wie es bei Groener der Fall war, als er in jenen Novembertagen angesichts der stürzenden Monarchie den unpolitischen Begriff „Deutschland" artikulierte. Mit der Hilfskonstruktion Seeckts, einer der konkreten Erscheinungsform entbehrenden Idealstaatsvorstellung, wurde versucht, dem Offizierkorps eine wenigstens vorläufige Basis zu errichten39. Dadurch konnte die Misere zwar nicht behoben, weitgehend aber doch verdeckt werden. Auf ...

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35 Hans v. Seeckt, Gedanken eines Soldaten, Berlin 1929, S. 113, 116, und allgemein dazu auch Meier-Welcker, passim. 34 Manstein, S. 55; vgl. auch Friedrich Hoßbach, Zwischen Wehrmacht und Hitler 1934-1938,

Wolfenbüttel-Hannover 1948, S. 170. 37

Seeckt,

38

Carsten,

S. 116. S. 455.

Brief Seeckts

den

bayerischen Generalstaatskommissar v. Kahr vom 5. 11.23; vgl. dazu die grundsätzlichen Ausführungen bei Meier-Welcker, S. 539 ff., sowie auch Helmut Krausnick, Vor39

an

geschichte und Beginn des militärischen Widerstandes gegen Hitler, in: Die Vollmacht wissens, hrsg. von der Europäischen Publikation e.V., Frankfurt a. M.-Berlin 21960, (fortan zit. Krausnick, Vorgeschichte).

des GeS. 183 f.

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Begriff konnten vor allem die überkommenen Vorstellungen und Ideale der Offizierkorps umgepolt werden. Darin lag das Politikum dieser Flucht in eine an sich unpolitische Abstraktion. Sie ermöglichte ein inneres Absetzen von der parlamentarischen Republik40. Gleichzeitig aber konnten auch in dem abstrakten Staatsbegriff jene Leitbilder reflektiert werden, die der eigenen Vorstellungswelt entsprachen und in denen bei aller individuellen Differenzierung immer wieder als Tertium comparationis das innere Absetzen von der konkreten politischen Gegenwart festzustellen ist. Dem entsprach zugleich ein Festhalten an obrigkeits- und machtstaatlichen Modellvorstellungen. Seeckts Verhalten entsprach dieser Position. Beim Kapp-Putsch lehnte er es ab, sich auf die Seite der Rebellen zu stellen, war aber auch nicht geneigt, die Armee einer Zerreißprobe dadurch auszusetzen, daß sie für die neue Republik gegen die Putschisten eingesetzt werde41. Ebenso schrieb er in einem Briefentwurf, die Verfassung der er seinen Eid geschworen hatte sei für ihn kein Noli me tangere, denn sie widerspräche in grundlegenden Prinzipien seinem politischen Denken; diesen Passus aber übernahm er dann nicht in der endgültigen Fassung des für den bayerischen Generalstaatskommissar v. Kahr diesen

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bestimmten Briefes; vielmehr ließ er bei aller Distanz zum neuen Regime seinen Willen zur Legalität deutlich durchblicken42. Seine Einstellung und sein Verhalten reflektierte Attentismus, innere Ablehnung, aber auch den Willen zu einem korrekten, wenn auch vorläufigen Arrangement, das ebenso aufrichtigem Verantwortungsgefühl für den „Staat" entsprang wie der Absicht, in der Armee dem „Reich" eine Basis und Voraussetzung für eine nationalstaatliche Großmachtrenaissance zu bewahren. Immerhin war klar, daß die Diskrepanz, die sich aus dieser grundsätzlichen Einstellung und der beschworenen Loyalität gegenüber einem Regime, dessen grundlegende Prinzipien einem innerlich fremd blieben, ergab oder doch wenigstens ergeben konnte, in der Praxis irgendwie überbrückt werden mußte. Aus diesem Grunde sollte die Reichswehr nach Seeckts Willen und Plan streng überparteilich und unpolitisch sein. Das Prinzip der Überparteilichkeit ist zweifellos ein bewährter Grundsatz für das Verhalten einer bewaffneten Macht in einem festfundierten Gemeinwesen, das vom Willen der Nation einmütig getragen wird. Die Abstinenz des Soldaten in seiner Eigenschaft als Angehöriger der bewaffneten Macht vom politischen Tageskampf ist normalerweise Voraussetzung für die Wahrung seines Instrumentalcharakters. In der damaligen Situation jedoch, wo das Offizierkorps dem neuen Staat innerlich fremd und mit kühler Reserve gegenüberstand, gewann dieses Prinzip eine andere, eminent politische Bedeutung. Einer49

Papke, S. 201: Der Offizier „fühlte sich nicht an die Demokratie gebunden, sondern an das Vaterland oder an den Staat als Idee, den er nicht mit der Demokratie zu identifizieren brauchte." 41 Vgl. hierzu die abweichenden Interpretationen bei Meier-Welcker, S. 254 ff., und Johannes Erger,

Kapp-Lüttwitz-Putsch. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1919-20. Düsseldorf Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Bd 35, passim, vor allem S. 139 ff. Allgemein hierzu Harold J. Gordon, Die Reichswehr und die Weimarer Repu1967

Der

=

blik 1919-1926, Frankfurt a. M. 1959. 42 Zit. nach Meier-Welcker, S. 395; dort auch

wichtige quellenkritische Bemerkungen.

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24

ermöglichte es eine sachgerechte Erfüllung des Dienstes; andererseits gestattete es zugleich, die inneren Vorbehalte gegenüber dem parlamentarisch-demokratischen Staat zu pflegen. Was normalerweise ein Schutz vor den verschlungenen Pfaden der Tagespolitik zugunsten des übergeordneten Staatsinteresses sein sollte, wurde nunmehr ein Mittel, um eine Identifizierung mit diesem Staate zu vermeiden. Ebenfalls war die Maxime des „Unpolitisch-Sein" von ambivalentem Charakter. Einmal mochte sie wohl die Gefahr politisierender Offiziere bannen, eine Gefahr, die als Folge des Zusammenbruchs von 1918 auch in Deutschland zeitweilig akut zu werden drohte43. Sodann aber erleichterte eine äußerlich unpolitische Einstellung und Verhaltensweise das innerliche Festhalten an überkommenen, unter den neuen Gegebenheiten längst überfällig gewordenen Vorstellungen. Das war gewiß eine Tatsache von erheblicher politischer Bedeutung. Hierfür sind die oft zitierten Sätze aus den Memoiren des Generals v. Choltitz bezeichnend: „Nach all der Unsicherheit rettete er (Seeckt) uns in die reine Sachseits

lichkeit des Dienstes und die klaren Verhältnisse, wie sie zu Zeiten der Monarchie bestanden hatten." Die Politik sei „eine Welt..., aus der sich fernhalten müsse, wer sein Leben klar und sauber zu führen gedenke"44. In diesem Zitat wird die Ersatzfunktion der Maxime vom „Unpolitisch-Sein" offenbar. Sie ermöglichte die Illusion einer Art Inseldasein, im Grunde eine Fluchthaltung vor der Wirklichkeit. Auch kommt in der negativen Beurteilung der „Politik" ein illusionäres und unpolitisches elitäres Selbstbewußtsein und Selbstverständnis zum Ausdruck45. Gerade dies aber deutet auf ein Politikverständnis hin, das noch völlig an den Gegebenheiten der Monarchie orientiert war. Allerdings wird man bei Beurteilung dieses Tatbestandes auch eingedenk sein müssen, daß der Rückzug auf eine isolierende Dienstideologie, in deren extremer Konsequenz man unter Umständen den militärisch-patriotischen Pflichtenkatalog als höchsten Wert nehmen kann46, weitgehend Ausfluß der Ausweglosigkeit und Ohnmacht jener inneren Lage des Offizierkorps war. Einen unmittelbaren politischen Gehalt enthielt jene Maxime fraglos ebenfalls. Blomberg hat dazu 1936 rückblickend bemerkt: „Dieses Unpolitische hatte ja nie die Bedeutung, daß wir mit dem System der früheren Regierungen einverstanden waren. Es war vielmehr ein Mittel, uns vor zu enger Verstrickung zu bewahren47." Es war also auch eine taktische Maxime, um die Autonomie der eigenen Sphäre zu bewahren und die Armee möglichst geschlossen über eine wie man meinte kritische Übergangs-

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Vgl.

Groeners Ausspruch vom 9.7.19: „Die Offiziere müssen wieder gehorchen lernen und der verflixten Politik die Finger lassen; Politik dürfen nur wenige treiben und diese zäh und verschwiegen." (Zit. nach Carsten, S. 11.) 44 Dietrich v. Choltitz, Soldat unter Soldaten, Konstanz-Zürich-Wien 1951, S. 17 f. 45 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Joachim C. Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, München 1963, S. 214 ff. 45

von

46

Fest, S. 221.

Ausgewählte Dokumente zur Geschichte des Nationalsozialismus 1933-1945, hrsg. von HansAdolf Jacobsen und Werner Jochmann, Bielefeld 1961 f., Arbeitsblätter für politische und soziale Bildung, Dokument Nr. A XI: Ausführungen des Reichswehrministers am 1.6.33 in Bad 47

=

Wildungen.

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phase hinwegzulavieren. Letztlich kam darin allerdings die Hilflosigkeit gegenüber der Gegenwartsentwicklung zum Ausdruck48. Die gefährlichste Problematik lag indessen auf einer anderen Ebene. Sie berührte auf lange Sicht hin die Existenzgrundlagen der Armee ebenso sehr wie die des Staates selbst. Es war nicht die Tatsache, daß die unpolitische Haltung die Abkapselung des einzelnen im Bereich des Militärisch-Fachlichen förderte, auch nicht, daß eine Diskrepanz zwischen Denken und Handeln des Offiziers entstehen mochte49. Das alles gab es vielleicht, und es konnte recht bedenklich sein; es ist in seinen Auswirkungen und vor allem in seinem Umfang jedoch nicht zu überschätzen und überzubewerten. Verhängnisvoller mag gewesen sein, daß in Verfolgung des Prinzipes der Überparteilichkeit und des „Unpolitisch-Sein", der Kultivierung einer unpolitischen Haltung, sich eine Kluft entwickeln konnte zwischen dem in traditionalistischem Denken und kühler Distanz auf sich selbst zurückgezogenen Offizierkorps einerseits und dem konkreten politisch-staatlichen Leben der Nation anderseits. Damit drohte der an sich legitime Anspruch des Soldaten auf Abstand vom politischen Tageskampf überzugehen in eine Trennung der Armee von dem politischen Schicksal der Nation, das mit der konkreten politisch-staatlichen Situation untrennbar verbunden ist50. Das konnte die Gefahr in sich bergen, daß sich unter Umständen das Partikularinteresse der bewaffneten Macht unwillkürlich vor das ausschlaggebende Gesamtinteresse schob. Gewiß geschah das weitgehend unbewußt. So konnte beispielsweise General v. Fritsch subjektiv gewiß völlig ehrlich schreiben, er habe es sich zur Richtschnur gemacht, sich nur auf sein militärisches Gebiet zu besdiränken und sich von jeder politischen Tätigkeit fernzuhalten51. Dieser betont unpolitisch sich gebende und verstehende Offizier hatte einst aber auch von „schwarzrotgoldenen Schweinehunden" geschrieben, hatte von den „Eben, Pazifisten, Juden, Demokraten, Schwarzrotgold u[nd] Franzosen... die die Vernichtung Deutschlands wollen", geredet und gehofft, daß Seeckt sich zum Diktator aufschwinge52. Paradoxerweise scheinen sich also unpolitische Haltung mit engagierten politischen Stellungnahmen und Auffassungen durchaus vertragen zu haben. Im Denken 48

Fest, S. 321 ff., interpretiert die Devise der „unpolitischen-überparteilichen" Reichswehr als ein

„Prinzip der Überheblichkeit" und als „ideologische Bemäntelung einer fundamentalen Entscheidungsscheu". Abgesehen davon, daß diese Begriffe sich in gewisser Weise doch wohl widersprechen, fassen sie gewiß nur die eine Seite des Phänomens. Die fraglos vorhandene und darin zum Ausdruck kommende existentielle Notlage nach Wegbrechen des monarchischen Bezuges wird von Fest nicht gesehen. Richtig ist jedoch, daß die Idee des unpolitischen Soldaten auch eine taktisch geeignete Maxime zur Abschirmung der eigenen als autonom gewollten Sphäre gewesen ist. 49 Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 181 ff. und 186 ff. 59 Vgl. Hermann Foertsch, Schuld und Verhängnis. Die Fritsch-Krise im Frühjahr 1938 als Wendepunkt in der Geschichte der nationalsozialistischen Zeit, Stuttgart 1951, S. 15: Die Gesinnung der

Reichswehr „wirkte im luftleeren Raum und machte die Reichswehr zu einem Staat außerhalb des derzeitigen Staates". 51 Zit. nach Foertsch, S. 41. 52 BA/MA H 08-5/20: Depot Joachim v. Stülpnagel, Brief des damaligen Oberstleutnants Frhr. v. Fritsch vom 16.11.24 an Joachim v. Stülpnagel. Über Fritschs politische Vorstellungen vgl. audi Carsten, S. 220-223. ...

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vieler Offiziere lag darin offensichtlich kein Widerspruch; denn, wie der spätere Generalfeldmarschall Freiherr v. Weichs schreibt, hätte „der Offizier... seine Pflicht nicht erfüllen können, wenn er nicht streng national gesinnt gewesen wäre"53. „National" im Sinne dieser Auffassungen aber seien Politiker, Parteien und Regierungen, die unter anderem danach strebten, „die Wehrmacht wieder so zu erweitern, wie es einer Großmacht zukam"54. So löste sich das scheinbar paradoxe Phänomen: „Unpolitisch-Sein" und „Uberparteilichkeit" konnten durchaus politisch engagiertes und entsprechend artikuliertes „National-Sein" einschließen. Überparteilichkeit und Unpolitisch-Sein waren daher durchaus ein Politikum. Unreflektiert wurde das Interesse der Nation mit dem Interesse der bewaffneten Macht identifiziert. Diese Interessenidentifikation hatte allerdings bei den verantwortlichen Persönlichkeiten der Reichswehrführung einen erheblich höheren Bewußtseinsgrad. Das geht aus Seeckts Worten von 1920 gegenüber dem Reichswehrminister hervor, dem er erklärte, die Truppe „habe das Gefühl, daß ihre Interessen politischen und allgemeinen InterDie Reichswehr verlangt an der obersten Spitze essen mehr als zulässig geopfert werde eine Persönlichkeit, von der sie sicher ist, daß sie unbedingt und allein ihre Interessen vertritt, ohne jede politische Bindung55." Hier wird bereits die Problematik deutlich, die in dieser Interessenidentifikation lag56. Dieses den Betrachter immer wieder erregende Phänomen einer oft sehr weitgehenden Interessenidentifikation, diese teils naive, teils bewußte, oft exklusive Gleichsetzung des Gesamtinteresses der Nation mit dem der Armee, also letztlich dem Offizierkorps, ist gewiß ein Relikt aus Zeiten der Monarchie, in der durch die Bindung an die Krone als den Kern des Staates diese Haltung eine wenigstens theoretische Berechtigung haben konnte. Gerade dieser Reliktcharakter ist indessen symptomatisch für die „Heimatlosigkeit" des ehemals monarchischen Offizierkorps. Im übrigen hatte das oft massive Beharren auf dem reinen Interessenstandpunkt letztlich keinen Erfolg. Die Reichswehr blieb zwar ein bedeutsamer innerpolitischer Machtfaktor; aber sie teilte doch das Schicksal aller sekundärer Systeme. Durchsetzen konnte sich ihre Führung immer nur dann, wenn die politischen Instanzen Präsident, Regierung, Minister mitzogen. Auf sich allein gestellt vermochte sie sich auf lange Sicht nicht durchzusetzen. Eine eigenständige Politik, die über den Versuch hinausging, eigene Interessen durchzusetzen, war ihr im Grunde nicht möglich. Sie vermochte bisweilen zur Erschwerung ...

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Maximilian Frhr. v. Weichs, Die Stellung des Offizierkorps im nationalsozialistischen Staat, in: Nachlaß Generalfeldmarschall Maximilian Frhr. v. Weichs, BA/MA H 08-19/12, fol. 15 (fortan zit. Weichs, Die Stellung des Offizierkorps). 53

54

Ebd.

55

Krausnick, Vorgeschichte, S. 183,

Anm. 8. Der Zusatz „...ohne politische Bindung" läßt die und Irrealität des Politikbegriffes deutlich werden, der hinter dieser Auffassung stand. Seeckt meinte hier gewiß partei- oder gruppenpolitische Bindungen, aber das verkennt den pluralistischen Charakter der politischen Willensbildungen und Entscheidungen im modernen demokratischen Staat. Hierzu vgl. auch Meier-Welcker, S. 554. 58 Vgl. Carsten, S. 454.

Sinnentleerung

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oder Milderung krisenhafter Lagen beizutragen. Ein eigenständiges erfolgreiches politisches Handeln jedoch war der Reichswehr gar nicht möglich. Sie konnte verhindern, erschweren, erleichtern, helfen, mehr nicht. Seeckt muß das wohl gespürt haben. Anders ist sein Handeln in den verschiedenen Krisenperioden der Republik nicht zu erklären57. Sein „wohldisziplinierter Attentismus"58 hatte insofern gewiß auch eine wenn nicht Demokratie-fördemde, so doch eine staatserhaltende und schützende Komponente. Schließlich war dieser sehr intelligente, nüchterne Mann sich bei aller Fremdheit gegenüber der parlamentarischen Republik wohl darüber im klaren, daß es jedenfalls zu jener Zeit keine Alternative zur Republik gab59. So sehr man sich auch um Verständnis dieser Erscheinungen und ihrer Wurzeln zu bemühen hat, so wenig darf man sich den Blick für die Folgen trüben lassen. Die Geschichte des Verhältnisses von Armee und „Drittem Reich" bietet viele Beispiele dafür, wie der Blick für die allgemeine Verantwortlichkeit für das Gesamtschicksal der Nation getrübt wurde, gerade durch den übersteigerten Anspruch auf Überparteilichkeit und Eigengesetzlichkeit der soldatischen Sphäre. Das konnte so weit gehen, daß man Entwicklungen und Ereignisse von prinzipieller Bedeutung außerhalb der eigenen Sphäre als bedeutungslos erachtete, solange und soweit die eigenen Interessen nicht berührt wurden. Rückblickend hat der Generalfeldmarschall v. Manstein dies einmal sehr präzise ausgedrückt; er schreibt, daß bis 1938 der Soldat noch gleichsam auf einer wenig berührten Insel gelebt hätte, daß die Partei sich an die Wehrmacht vorerst noch nicht herangetraut hätte60, und er fährt dann mit den bezeichnenden Worten fort: „Was aber die grundsätzlichen Fragen des Verlustes der politischen Freiheiten (!), wie die der Meinungsäußerung, angeht, so hatten sie für die Wehrmacht geringere Bedeutung61." Durch die Identifizierung der Interessen der Reichswehr mit denen der Nation drohte die Armee zum Wert an sich und zum Selbstzweck zu werden, mag dies auch subjektiv dem einzelnen Offizier nicht bewußt gewesen sein. Patriotismus und Interessenpolitik flössen so ineinander, daß die Vorstellung, eine politische Bewegung, welche dem Anschein nach die Interessen der bewaffneten Macht förderte, könnte doch dem Wohl der Nation abträglich oder sogar schädlich und verhängnisvoll sein, nicht mehr voll realisiert zu werden vermochte. Die Folgen zeigten sich nach 1933. So zum Beispiel, wenn General v. Reichenau in einer Besprechung im Jahre 1935 erklären konnte, der „Gewinn der Wehrmacht im 57 58 59

Hierzu Meier-Welcker, S. 546-549 und 557. Demeter, S. 175. Hierzu Meier-Welcker, S. 544: „Das Bekenntnis

lehnung

mit

vollziehen

persönlichen Konsequenzen gehörte

zu

müssen." Und ebd. S. 588: „Es

Republik, so wie sie war, oder ihre Abden Entscheidungen, die Seeckt nicht meinte ihm vollkommen klar, daß er nur noch in der zur

zu

war

Republik wirken konnte Seeckt hat mit der Armee einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung der Republik in den ersten Jahren ihres Bestehens geleistet." 89 Manstein, S. 274; anzumerken ist allerdings, daß die Isolierung der Armee gegenüber dem nationalsozialistischen Regime bis 1938 in der von Manstein behaupteten Form nicht ganz zutrifft: vgl. dazu Kap. II dieser Arbeit. ...

81

Manstein, S. 275.

I. Armee in der Krise

28

Dritten Reich" sei bedeutend; der Soldat habe sich daher nicht am Kampf um die Pressefreiheit zu beteiligen. Im übrigen sei die Unterdrückung der Presse auch „sehr viel segensreicher als das, was dadurch eventuell vernichtet" werde62. Die folgenreiche Problematik der Lösung Seeckts wurde auf einer anderen Ebene ganz deutlich. In der Endphase der Weimarer Republik zeigte es sich nämlich, daß diese Lösung im Grunde gar nicht durchgehalten werden konnte. Eine Armee kann ohne ernsthaften Schaden für sich selbst, wie für das Gemeinwesen insgesamt, auf die Dauer nicht abgesondert von Volk und Nation existieren. Das hatte schon der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Julius Leber, später ein Mann des 20. Juli, erkannt, als er von dem „gewaltigen Irrtum des Herrn v. Seeckt" sprach und darauf hinwies, daß für das Funktionieren der Armee Disziplin und Unterordnung allein nicht genügten; dazu sei die Truppe viel zu eng mit dem Volk verbunden. Der Soldat müsse daher für seine Aufgabe „auch einen ideellen Inhalt" haben63. Diese Problematik haben einige Persönlichkeiten in der Führungsspitze der Reichswehr wenn vielleicht auch von einem anderen Ansatzpunkt her bald nach Seeckts Sturz erkannt64. Noch zur Zeit des Reichswehrministers Gessler hatten einige höhere Befehlshaber bereits mehr oder weniger deutlich auf die Notwendigkeit hingewiesen zu überlegen, „ob die Armee zum jetzigen Staate und den ihn tragenden Parteien eine auf die Dauer (!) zweckmäßige und haltbare Stellung einnimmt"65. Die beiden Nachfolger Seeckts, die Generale Heye und v. Hammerstein, sowie vor allem der neue Reichswehrminister Groener waren daher der Ansicht, die innere Distanz zum politischen Leben der Nation müsse verringert werden. Groener wollte dem Prinzip der Überparteilichkeit einen neuen Sinn geben. Die Armee sollte weiterhin zwar „abseits aller Parteipolitik" in strenger Sachlichkeit nur allein dem Staate dienen; aber sie sollte aufgeschlossen und positiv diesem Staat gegenüber eingestellt sein. Die Reichswehr müsse mit der Weimarer Verfassung ausgesöhnt werden. Groener nahm damit einen realistischen Standpunkt ein66, ohne jedoch seine gefühlsmäßigen Reserven aufzugeben. Innerlich hat er sich keineswegs der parlamentarischdemokratischen Idee geöffnet. Sein Standpunkt war der eines „Vernunftsrepublikaners"67, der eingesehen hatte, daß vorerst eine grundlegende Änderung der staatlich-politischen Gesamtlage nicht zu erwarten war und man daher schon um der eigenen Machtposition willen sich in dem Gebäude des gegenwärtigen Staates einzurichten habe. Mit gewiß beab-



„Vortagsnotiz über die Ic-Besprechung am 13.2.1935 ralmajor v. Reichenau" (MGFA/DZ II H 682/1). 62

68

Zit. nach Dorothea

1955, S. 267 f. 64

bei

W[ehrmacht]A[mt], Leitung:

Groener-Geyer, General Groener, Soldat und Staatsmann, Frankfurt

Genea.

M.

Vgl. Carsten, S. 275 ff. (das Kap. „Der Sprung nach Links"). Zit. nach Carsten, S. 279. 88 Vgl. seinen im Brief an Hindenburg vom 1.11.23 dargelegten grundsätzlichen Standpunkt: Carsten, S. 320 f. Dabei ist allerdings offen, wieweit der in seinem Brief von 1923 niedergelegte Standpunkt sich noch mit den Ansichten Groeners von 1928, als er Wehrminister war, deckte, wie Carsten ebd. voraussetzt. 87 Otto-Ernst Schüddekopf, Heer und Republik. Quellen zur Politik der Reichswehrführung 1918-1933, Hannover 1953, S. 237. M

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sichtigter Deutlichkeit wies er gerade bei einem Besuch der als Hort der Reaktion zeitweilig berüchtigten Marineschule Mürwik daraufhin, die Wehrmacht sei nichts als ein Teil, ein wichtiger Teil des ganzen Volkes und das Machtinstrument der Deutschen Republik, an dem von keiner Seite gerüttelt werden dürfe. Dabei betonte er besonders das Postulat der „Treue zum neuen Staat"68. Groener und seine Mitarbeiter bemühten sich, zugleich den Argwohn in den Reihen der Weimarer Parteien gegenüber der bewaffneten Macht abzubauen. Der Minister scheint sogar militärpolitische Pläne gehegt zu haben, durch die jene von den Linksparteien oft kritisierte soziale Exklusivität des Offizierkorps beseitigt worden wäre. Ob er allerdings „durch solche Gedanken noch einmal jene bedeutsame Alternative [verkörperte], die während der ganzen Dauer der Weimarer Republik über der Entwicklung des Heeres gestanden hatte"69, mag dahingestellt bleiben. Wohl gibt es eine Fülle von Belegen für das Bemühen der Reichswehrführung, ein besseres Verhältnis auch zu den republikanischen Parteien zu gewinnen70; indessen war doch auch Groener gleich Seeckt der Ansicht, daß die Armee absolut über den Parteien stehen müsse71, worin im übrigen ein Seeckts Auffassung gleichartiges Staatsverständnis sich ausdrückt. Vor allem aber scheint Groener mit seinem neuen Kurs nicht zuletzt auch eine Art taktischer Methodenänderung beabsichtigt zu haben, um die ausschlaggebende, mindestens aber einflußreiche Rolle der Reichswehr in der deutschen Innenpolitik besser zu unterbauen. Wenn er in einer Ansprache nach den Herbstmanövern 1930 den Anspruch erhob, im politischen Geschehen Deutschlands dürfe „kein Baustein mehr bewegt werden, ohne daß das Wort der Reichswehr ausschlaggebend in die Waagschale geworfen" werde72, dann zeigt das nicht bloß die Kontinuität des Denkens des einstigen Ersten Generalquartiermeisters, der 1918 sich bemüht hatte, einen Teil der Macht im neuen Staat an das Offizierkorps zu bringen73. Es drückt sich darin ebenso auch eine Kontinuität der Politik Seeckts aus. Seeckt hätte wohl nie so grobschlächtig anspruchsvoll wie Groener formuliert, vor allem auch nicht so global und absolut. Aber im Kern hätte er eine Kontinuität wohl auch nicht geleugnet. Was kam denn anderes in seinen verschiedenen Versuchen und Interventionen zugunsten der „Interessen der Armee" zum Ausdruck als der Anspruch, auch eine politische Einwirkungslegitimation seitens der Armee zu besitzen. Wie dem auch sein mochte, es gelang Groener nicht, sein Konzept durchzusetzen. Er vermochte nicht, das tiefe Mißtrauen der staatstragenden Linkskreise zu überwinden, die in Theorie und politischer Praxis in der Negation oder im destruktiven Zwiespalt verharrten. Rede vom 3. 7. 23, zit. nach Carsten, S. 324-325. So Hans Herzfeld, Das Problem des deutschen Heeres 1919-1945, Laupheim 1952 Geschichte und Politik Bd 6, S. 15. 70 Vgl. dazu auch die Thesen von Carsten und deren Kritik durch Michael Salewski, in: Das Historisch-Politische Buch, XIII/3/1965. 88

89

71

=

Militär-Wochenblatt,

114. Jg., Nr. 25 vom 4.1.1930. Thilo Vogelsang, Neue Dokumente zur Geschichte der Reichswehr 1930-33, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2 (1954), S. 409, Anm. 39 (fortan zit. Vogelsang, Reichswehrdokumente). 78 Vgl. Text zu Anm. 24 dieses Kapitels. 72

I. Armee in der Krise

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jeder Rückhalt auf politischer Ebene und damit die wesentliche Voraussetzung zum Erfolg. Gleichfalls aber fehlte es ihm an der anderen Erfolgsbedingung, dem Rückhalt in den eigenen Reihen. Die Masse des Offizierkorps, die wohl kaum die machtpolitische Komponente des Groenerschen Kurses erkannte, sah nur die Tendenz, die Armee mit dem parlamentarischen Staat zu einem organischen Modus vivendi zu bringen oder gar auszusöhnen, und begegnete diesem Bemühen mit tiefer Skepsis, wenn nicht gar mit unverhohlener Ablehnung. Ein Offizierkorps, das sich in einem politisch-geistigen Niemandsland befand, das zudem in den Jahren der Ära Seeckt wie in einem Naturschutzpark vor der Politik und dem politischen Kräftespiel abgeschirmt worden war, konnte nicht einfach durch Dekretierung eines neuen Kurses von heute auf morgen aus seinem existenziellen Dilemma herausgerissen werden. Die ganze Künstlichkeit der Konzeption Seeckts zeigte sich in diesem Moment, als die innere Malaise des Offizierkorps angesichts der neuen politischen Taktik der Führung und mehr noch angesichts der seit 1930 offen zutage tretenden Staatskrise wieder akut spürbar wurde. Die Reichswehr gehörte zum Gesamtorganismus der Nation, deren Teil sie war; sie hatte an den Störungen und Krankheiten der Republik ebenso teil wie an den Perioden der Ruhe und Prosperität. Sie war nun von derselben Unruhe und demselben Unbehagen ergriffen wie breite Volkskreise. Sie ließ sich nicht von der allgemeinen Entwicklung isolieren; sie war auch keine eigenständige Kraft, die diese Entwicklung hätte lenken können. Seeckts Konzeption erwies sich als eine an eine bestimmte historisch-politische Situation gebundene Aushilfe von recht vorläufigem Charakter; und Groeners neuer Kurs drang ebenfalls nicht durch. Im Offizierkorps zeigten sich Symptome offenkundiger Verwirrung und Ansätze inneren Zwiespaltes. In dem Augenblick, in dem die, nie sehr stabile, Staatsautorität in eine tiefgreifende Krisenphase geriet, trat auch die Ohnmacht der bewaffneten Macht insofern zutage, als sich zeigte, daß sie bei aller äußeren Disziplinierung keine entscheidende Kraft von politischer Potenz sein konnte. Gemäß ihrem Anspruch und vor allem angesichts der innerpolitischen Entwicklung sah sich die Reichswehrführung gezwungen, in zunehmendem Maße aktiv am innerpolitischen Spiel teilzuhaben. Angesichts dieser Lage enthüllte sich das Unangemessene von Anspruch, Wunschdenken und konkreten Möglichkeiten und Fähigkeiten besonders nachdrücklich. Für eine Armee, die seit 1918/20 mit Notbehelfen wie Abkapselung und Entscheidungsentzug sich über die Zeitläufe hinweggebracht hatte, war die Kombination von innerer Krise und Krise des Staates einfach nicht zu bewältigen. Schleicher wies 1929 in einer Kommandeurbesprechung darauf hin, „daß die Wehrmacht am besten ihre überragende und ausschlaggebende Rolle bei der kommenden politischen Entwicklung auf innen- und außenpolitischem Gebiet wahren wird, wenn sie innerlich in ihrer Auffassung und Staatsgesinnung einen einheitlichen, festen Block darstellt.. ."74. Aber genau diese VorDer Politik Groeners fehlte

-

.

.

-

.

aussetzung, die Einheitlichkeit der Auffassung und Willensrichtung, war bei aller äußeren Disziplin zwischen Offizierkorps und Führung nicht mehr in zureichendem Maße gewährleistet. Es ist bisweilen auf einen Generationszwiespalt zwischen älteren und jüngeren 74

Zit. bei

Carsten, S. 336 f. (Hervorhebung

vom

Verf.).

I. Armee in der Krise

31

Zusammenhang hingewiesen worden75. Dem scheint allerdings eine Art von optischer Täuschung zugrunde zu liegen. Mochten sich ältere und jüngere Generation innerhalb des Offizierkorps auch in vielem unterscheiden, mochten ältere Offiziere auch ihre Nostalgien nach den goldenen Zeiten des Kaiserreiches pflegen76, mochten die Jüngeren voller aktivistischer Impulse romantisch-politischen Phantastereien huldigen, gemeinsam war ihnen die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie, die sie für innerpolitische Schwierigkeiten wie für außenpolitische Machtlosigkeit gleicherweise verantwortlich machten; gemeinsam war ihnen zudem die Idealvorstellung eines nationalistischen Machtstaatmodells, dem Ordnung und Autorität im Innern, auf der internationalen Ebene aber eine Großmachtfunktion eignete. Hinsichtlich ihrer politischen Leitvorstellungen, dem Denken in Kategorien des nationalen Obrigkeitsstaates und der klassischen Machtpolitik ein Denken, das auch für Seeckt charakteristisch war unterschieden sich die Generationen des Offizierkorps der Reichswehr damals nicht77. Was zeitweilig Offizieren in diesem

-,

-

wie ein Generationskonflikt aussah, enthüllte sich bei näherem Hinsehen mehr als Stilunterschied und Temperamentsfrage. Die jüngeren Offiziere artikulierten sich bisweilen radikaler und aggressiver. Einig war man sich im übrigen auch in der Ablehnung der politischen Linie der Reichswehrführung. Die älteren Offiziere sahen mit Unbehagen das innerpolitische Engagement und fürchteten, die Armee könne in die „Drecklinie" der innerpolitischen und das hieß für sie „parteipolitischen" Auseinandersetzung hineingezogen werden; jüngere Offiziere drängten dagegen ungestüm oft und voller irrationalem Aktivismus zur „nationalen Tat". Sie wollten ebensowenig wie ihre älteren Kameraden einen Modus vivendi mit der parlamentarischen Republik, wohl nicht einmal als gleichberechtigter Kraft. Sie drängten auf die radikale Aktivierung der gesamten Nation unter Führung der Armee zum Aufbruch in eine neue Zukunft deutscher Macht und Größe. Gewiß, so formulierten nur Hitzköpfe und Außenseiter; aber sie artikulierten eine vorherrschende Stimmung. Die nationalsozialistische Agitation nützte diese Lage zielbewußt und geschickt aus. Wenn Hitler von den „schlauen Herren des heutigen Reichswehrministeriums" sprach, die „sich ja nicht einbilden [mögen], daß sie durch Konzessionen an den marxistisch-demokratischen Teil unseres Volkes den .Anschluß an das Volk' finden könnten", wenn er meinte, eine innere Beziehung unterhalten kann, ist „der einzige Teil, zu dem eine Armee Kern bewußt nationale eines Volkes"78, dann traf er fraglos die politisch-psychojener logische Situation im Offizierkorps so genau, daß er sich eine Resonanz79 versprechen -

-

...

75 78

beispielsweise Krausnick, Vorgeschichte, S. 193 f. (dort auch weitere Belege). Vgl. die bei Choltitz, S. 17 f., beschriebene Sehnsucht nach der „Ruhe eines unpolitischen

So

Daseins". 77 Das hat neuerdings nachgewiesen die Untersuchung von Peter Bucher, Der Reichswehrprozeß. Der Hochverrat der Ulmer Reichswehroffiziere 1929/30, Boppard am Rhein 1967 Wehrwissenschaftliche Forschungen, Abteilung Militärgeschichtliche Studien, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Bd 6. 78 Zit. bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 195. 79 So spricht Foertsch, S. 21 f., davon, daß die Parolen der NSDAP von der „Volksgemeinschaft" und der „Frontkameradschaft" eine starke Anziehungskraft auf das jüngere Offizierkorps hatten. =

I. Armee in der Krise

32

durfte, die allerdings nicht der nationalsozialistischen Ideologie als solcher galt, sondern der nationalistischen Dynamik, in die sich jene Ideologie kleidete. Das alles wurde beispielhaft an einem Extremfall deutlich, nämlich am Fall jener drei Ulmer Leutnante, deren Umtriebe sie vor das Leipziger Reichsgericht brachten80. Die drei Offiziere hatten in verschiedenen Garnisonen bei einigen ihrer Kameraden für eine neutrale Haltung der Reichswehr bei einer „nationalen Revolution" geworben. Sie hatten, nachdem sie beim „Stahlhelm" auf kein Verständnis gestoßen waren, Kontakt mit Vertretern der Führung der NSDAP aufgenommen, die nach ihrer Ansicht diejenige politische Gruppe war, die die Sache jener „nationalen Revolution" am besten und nachdrücklichsten vertrat. Ein Flugblatt, das sie vorbereiteten, zeigte, daß diese drei jungen Offiziere nicht von der nationalsozialistischen Ideologie her bestimmt waren, daß sie vielmehr von einem nationalrevolutionären Aktivismus erfüllt waren. Sie verkündeten: „Der Geist in der Reichswehr ist tot!" Alle Offiziere, die für eine nationale Revolution seien, müßten sich zusammenschließen und so erreichen, „daß die Reichswehr auf eine nationale Volkserhebung nicht schießt, sondern sich dieser Volkserhebung anschließt und Kerntruppe wird für eine kommende Volksarmee der nationalen Befreiung"81. Vor dem Gerichtshof erklärte der angeklagte Leutnant Scheringer, die Reichswehr sei keine Polizeitruppe für die Ruhe und Ordnung eines Staates. Der Befreiungskampf bleibe immer das letzte Ziel. Die Reichswehr könne immer nur mit den Teilen des Volkes übereinstimmen, die sich zur Wehrhaftigkeit und zum Befreiungskampf bekennen, nie mit Pazifisten. Es müsse unter allen Umständen verhindert werden, daß beim Einsetzen der Reichswehr durch die Regierung die letzte nationale Bewegung erstickt oder unterdrückt würde82. An dieser Ulmer Hochverratsaffäre lassen sich drei Momente aufzeigen, die für die innere Lage des Reichswehroffizierkorps jener Zeit symptomatisch waren; und die gleichzeitig die ganze fortdauernde Problematik sowohl des Offizierskorps alter Art in einer veränderten Umwelt wie der Konzeption Seeckts in ihren Folgewirkungen offenbaren: Erstens erwiesen die Aussagen nahezu aller als Zeugen vor dem Reichsgericht auftretenden Offiziere, welcher Generation sie auch angehören mochten, daß die Vorstellungen und Ideen der Angeklagten entweder von ihnen geteilt wurden oder aber mindestens auf eine nicht geringe Resonanz stießen83. Ältere Offiziere wie der Regimentskommandeur der Angeklagten, Oberst Beck, und Jahrgangskameraden, ehemalige Kriegsoffiziere und junge, in der Reichswehr herangewachsene Offiziere, sie alle teilten mehr oder weniger die Ideen jener drei Leutnante, in denen ein dezidierter Antiparlamentarismus zusammenfloß mit aggressivem Nationalismus; gleichzeitig war die Ablehnung des ausschließlich als Ausgleichsversuch mit dem parlamentarisch-demokratischen Staat angesehenen „Neuen 80

Hierzu und

91

Richard

S. 179-180.

folgenden vgl. Bucher, passim. Scheringer, Das große Los unter Soldaten, zum

Bauern und

Rebellen, Hamburg 1959,

82 Vgl. Bucher, S. 64 f., 172 ff., 181, 190 f. sowie Kurt Caro und Walter Oehme, Schleichers Aufstieg, Berlin 1933, S. 200 f.; Schüddekopf, S. 268; Carsten, S. 351. 85 Bucher, S. 15 ff., S. 67 ff. und S. 130 ff.

I. Armee in der Krise

33

Kurses" der Reichswehrführung allgemein. Andere zeitgenössische Quellen bestätigen diesen Befund. Der junge Oberleutnant Stieff, als General später ein Mann des 20. Juli, schrieb damals in einem Privatbrief, das Reichswehrministerium habe die Truppe in eine Vertrauenskrise geführt; da „jeder Rationalismus... einmal ein Ende" haben müsse, so müsse auch die militärische und politische Führung „Rücksicht nehmen auf das Lebenselixier des Soldaten, seine uneigennützige Vaterlandsliebe"84, womit er jene Kombination von Ablehnung der politischen Linie, wenn nicht gar des Systems und nationalistischem Aktivismus nur etwas gemilderter ausdrückte, als es jene drei Ulmer Feuerköpfe getan hatten. Nationalistisch-machtstaatliche Sehnsucht, mehr oder weniger aktivistisch artikuliert85, und Ablehnung des „Systems" waren also im Offizierkorps ungeachtet aller Generationsunterschiede übereinstimmend vorhanden. Zweitens zeigte sich aber ebenso sehr die fortwirkende Kraft der äußeren Disziplinierung, die Seeckt nach den Wirren der Revolution und des Zusammenbruches dem Offizierkorps nachdrücklich eingeprägt hatte. Trotz prinzipieller Gleichgestimmtheit in den Ansichten haben nämlich anläßlich des Hochverratsprozesses Offiziere aller Alters- und Ranggruppen das konspirative, gegen die militärische Disziplin verstoßende Vorgehen ihrer drei angeklagten Kameraden mißbilligt. Einige militärische Zeugen im Prozeß betonten sogar, daß der Offizier auch einem Schießbefehl auf Menschen und Gruppen gehorchen müsse, mit denen er hinsichtlich der politischen Ansichten übereinstimme; Befehl und Gehorsam innerhalb der Armee seien uneingeschränkt gültig. Die Disziplin der Armee dürfe weder von innen noch von außen angetastet werden. In dieser Einstellung wurzelte die Ablehnung eine verständnisvolle, aber dennoch eindeutige Ablehnung -, die das Offizierkorps jenen drei Aktivisten entgegenbrachte, nicht jedoch in einer etwaigen Ablehnung ihrer Ideen und politischen Vorstellungen. Diese wurden von ihnen weitgehend -

geteilt88. Drittens ist schließlich die Tatsache wichtig, daß die Reichswehrführung diese Lage nicht zu bewältigen vermochte. Groener sah das ganze Problem ausschließlich als eine Frage von Gehorsam und mangelnder Schulung an; er führte es auf mangelnde Aufklärung der jungen Offiziere zurück; eine derartige Vertrauenskrise wäre der Armee erspart geblieben, wenn die Kommandeure sich mehr um den „Geist und die Ansichten des Offizierkorps" gekümmert hätten. Leider gäbe es jedoch Kommandeure, die „aus innerer Unsicherheit oder gar aus mangelndem Bekennermut" jedes politische Gespräch mit ihren Untergebenen vermieden, „die vielleicht sogar jtus Sorge, man könnte sie nicht für national halten", den von den jüngeren Offizieren geäußerten Gedankengängen nicht entgegenträten „und dadurch den Eindruck der gleichen Gesinnung bei den jungen Leuten erwecken"87. Er sah 84

Ausgewählte Briefe

von Generalmajor Helmut Stieff, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2 ff., insbesondere der Brief vom 11.10.30, sowie Thilo Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP, Stuttgart 1962, S. 419 (Brief vom 7. 10. 30). 85 Vgl. dazu insbesondere die (ungekürzten) Zitate aus den Briefen Stieffs bei Carsten, S. 352 f. 88 So Bucher, S. 137 f. 87 Erlaß Groeners vom 6.10. 30, abgedruckt bei Demeter, S. 305 f. Allgemein zu Groeners damaligen Erlassen vgl. Demeter, S. 178 ff.

(1954),

3

S. 296

die Ursachen der internen Krise der Armee letztlich nur in einem „tief bedauerlichen Mangel an Autoritätsgefühl... einem kaum zu überbietendem Grad von Selbstüberschätzung" seitens der jüngeren Offiziere und in deren mangelhaften Schulung und Erziehung durch die Vorgesetzten. Zu der von Groener gewünschten bzw. bemängelten Art der Aufklärung und Schulung waren indessen diese Kommandeure, die im Offizierkorps des Kaiserreiches aufgewachsen und in der Ära Seeckt entscheidend geformt worden waren, gar nicht in der Lage. Einerseits hatte man sie nachdrücklich zu politisch extremer Abstinenz erzogen, wenn nicht gar gezwungen; anderseits war ihr politisches Weltbild etatistisch-autoritär und nationalistisch-machtstaatlich geprägt. Die Seecktsdhe Konstruktion eines über dem konkreten Staat schwebenden Idealstaates, dem sich die Armee vornehmlich verpflichtet fühlte, hatte dieses überkommene Weltbild eher noch verfestigt statt den neuen Realitäten angepaßt. Nach welchen Kategorien und Prinzipien sollten denn diese Kommandeure ihre jungen Offiziere und Offiziersanwärter erziehen, wenn nicht nach denen der strikten, äußeren Disziplin, wenn nicht nach denen klassischen Machtstaatsdenkens? Hier fehlten einfach die geistigen Grundlagen, die eine Neuorientierung oder gar eine adäquate Anpassung an die gewandelte Umwelt ermöglicht hätten. Dieser Mangel wog um so schwerer, als gerade auch in dieser Umwelt alles in Fluß gekommen, alles in Verwirrung und Unordnung geraten zu sein schien. So war ein Hineinwachsen des immer noch weitgehend in einer vergangenen Zeit wurzelnden Offizierkorps in die erste parlamentarische Republik der deutschen Geschichte, in einen Staat, der in diesem Augenblick zudem einer gefährlichen Existenzkrise zutrieb, kaum möglich. Noch weniger aber waren für eine Schiedsrichterrolle der Reichswehr88 in der deutschen Innenpolitik die Voraussetzungen gegeben. Vielmehr ging das Offizierkorps der Konfrontation mit dem totalitären Phänomen des „Dritten Reiches" entgegen mit einer dafür denkbar ungünstigen inneren Verfassung. Das Festhalten an längst überständigen politischen Leitbildern und Vorstellungen machte es nur allzu anfällig gegenüber einem sich nationalistisch und „wehrfreudig" gebärdenden Totalitarismus. Eine innere Resistenz gegenüber dem Nationalsozialismus, der vornehmlich als autoritäre, konterrevolutionäre und nationalistische Kraft mißverstanden wurde, war daher schwerlich zu erwarten. Die absolute äußere Disziplin jedoch, die die Armee seit den Wirren der frühen zwanziger Jahre unter Seeckts Führung gelernt und entwickelt hatte und die sie selbst noch trotz starker innerer Belastungen in der Endphase der Republik ungebrochen bewahrte, war politisch eben wegen ihrer Ambivalenz von zweifelhaftem Wert. War nicht zu erwarten, daß etwa unter einer nationalsozialistischen Staatsführung Maßnahmen der politischen Leitung selbst dann im Offizierkorps kaum auf nennenswerte Schwierigkeiten stießen, wenn sie mit dessen vorherrschenden Auffassungen nicht in Einklang zu bringen waren oder gar den tatsächlichen Interessen der Armee und der Nation zuwider-

liefen?

88

Vgl. Carsten, S. 364.

-

II.DIE REICHSWEHR UND DIE NATIONALSOZIALISTISCHE MACHTERGREIFUNG

Will

man vor

beantworten,

dem Hintergrund der im Vorstehenden dargelegten Entwicklung die Frage wie das Offizierkorps auf die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und

die nationalsozialistische „Machtergreifung" reagiert hat, so muß man sich zuvor einige charakteristische Momente der damaligen Situation vergegenwärtigen. Es ist daran zu erinnern, daß damals in Deutschland eine ganz eigenartige Stimmungslage vorherrschte. Eine hochgesteigerte nationale Erregung hatte große Teile der Nation ergriffen, der sich auch die Reichswehr als Teil des Volksganzen nicht entziehen konnte. Sie blieb von „jener Atmosphäre vernunftsfeindlichen Überschwanges"1 des Frühjahrs 1933 nicht verschont, die leicht über all die bedenklichen Begleiterscheinungen der nationalsozialistischen Machtergreifung hinwegsehen ließ. Der Glaube, jetzt sei der Weg zu nationaler Größe und Wiedergeburt beschritten, überwucherte bei vielen etwa aufkeimende Bedenken. „Geblendet vom Anschein höchster Energie" wie Friedrich Meinecke sagte2 ließ man sich bereitwillig von der nationalen Gefühlsaufwallung tragen. Zudem verstand es Hitler, insbesondere das Offizierkorps psychologisch geschickt anzusprechen. In seiner Regierungserklärung vom 30. Januar 1933 sprach er von seiner „Liebe zu unserem Heer als Träger unserer Waffen und Symbol unserer großen Vergangenheit"3. Am 23. März sagte er, das ganze deutsche Volk dürfe „mit stolzer Befriedigung auf seine Reichswehr [als den] Träger unserer besten soldatischen Traditionen" blicken4. Solche Worte hatte das Offizierkorps in der Weimarer Republik selten zu hören bekommen. Nimmt es da wunder, daß diese geschickt angelegte Werbung in der Reichswehr eine entsprechende Resonanz fand? Außerdem hat Hitler die nationalsozialistische Machtergreifung bewußt als nationale, nicht nationalsozialistische „Erhebung" deklariert. Das Schauspiel des Tages von Potsdam bildete den Höhepunkt dieser nationalen Tarnung5. -

..

-

.

1 So die Formulierung bei Hermann Mau, Hitler und der Nationalsozialismus 1933-1945, in: Deutsche Geschichte im Überblick, hrsg. von Peter Rassow, Stuttgart 1953, S. 681. 2 Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe, Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 21946, S. 68. 3 Schultheß' Europäischer Geschichtskalender 1933, S. 36 (Rundfunkansprache Hitlers mit einem vom Kabinett beschlossenen Aufruf an das deutsche Volk). 4 Rede im Reichstag, Schultheß' Europäischer Geschichtskalender 1933, S. 72. 5 Vgl. über den Eindruck dieses Schauspiels den Nachhall in zahlreichen Memoiren ehemaliger Militärs wie Manstein, Raeder u. a. sowie: Das Gewissen steht auf, 64 Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand 1933—45, ges. von Annedore Leber, hrsg. von Karl Dietrich Bracher und Willy Brandt, Frankfurt 1954, S. 158 (hier: Eindruck des späteren Widerstandskämpfers Tresckow). Ein alter Parteifreund, später Gegner Hitlers, Karl Lüdecke, I knew Hitler, London 1948, S. 413, berichtet, Hitler habe bereits 1932 das psychologische Überrumpelungsmanöver des „Tages von Potsdam" in allen Einzelheiten festgelegt. Vgl. neuerdings Manfred Schlenke, Das „preußische Beispiel" in Propaganda und Politik des Nationalsozialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte,

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

36

Machtergreifung

Abgesehen von diesen psychologischen Momenten hat vor allem die Tatsache, daß Hitler die Konzeption der „unpolitischen Reichswehr... zur taktisch gebotenen Ausgangsseines Verhältnisses zur bewaffneten Macht"6 zu wählen gezwungen war, die des Haltung Offizierkorps entscheidend beeinflußt. Bei der Beauftragung Hitlers mit der Kanzlerschaft hatte der Reichspräsident bekanntlich auf der Unantastbarkeit seiner Prärogativen als Oberster Befehlshaber der Streitkräfte bestanden und die Zusage verlangt, daß die Reichswehr als unpolitisches Instrument7 des Reiches bewahrt werde8. Diese scheinbare Beschränkung bei der sonst angestrebten totalitären Gleichschaltung aller staatlichen Bereiche erwies sich zunächst als ein Positivum für Hitler. Seine entsprechenden Äußerungen bereits am 3. Februar versicherte er den Befehlshabern, daß anders als in Italien im Deutschen Reich „keine Verquickung von Heer und SA beabsichtigt" sei; die Wehrmacht solle „unpolitisch und überparteilich bleiben"9 wurden vom Offizierkorps10 mit Befriedigung zur Kenntnis genommen. Schien doch durch das Versprechen, die Armee auf die ihr eigene militärische Aufgabe zu begrenzen und sich in diese nicht einzumischen, die Gefahr der gefürchteten vermeintlichen „Politisierung" vergangener Jahre gebannt zu sein, konnte die Reichswehr doch nunmehr, wo ein von allen nationalen Kräften getragenes neues Staatswesen im Werden war, sich dem Glauben hingeben, ohne jene bisherige Distanz wieder in innerer Übereinstimmung mit der Nation und dem Staate leben zu können. Vor einer Verstrickung in die Partei- und Tagespolitik schien sie jetzt ebensosehr gesichert wie vor unheilvoller Isolierung und Mißachtung. Diese mehr allgemeinen Bemerkungen sagen noch nichts darüber aus, wie das Offizierkorps konkret auf die „Machtergreifung" Hitlers und seiner „Bewegung" reagierte. Darüber zutreffende und gesicherte Befunde zu gewinnen, ist nicht einfach. Gewiß hat die Forschung im Laufe der vergangenen Jahre eine Fülle von Zeugnissen, meist nachträgliche Aussagen, zusammengetragen11, aber auch eine ganze Reihe von zeitgenössischen Quellen wie Briefe oder Reden. Abgesehen davon, daß die nachträglichen Aussagen wahrscheinlich

basis

...

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-

Beilage zur Wochenzeitschrift „Das Parlament", B 27/68, S. 17: die Potsdam sei Goebbels' Einfall gewesen. 8

Krausnick, Vorgeschichte,

Gestaltung

des

Tages

von

S. 202.

Über die Bedeutung des „Machtfaktors Reichswehr" im Rahmen der Gleichschaltungspolitik Hitlers handelt am eingehendsten Wolf gang Sauer, Die Mobilmachung der Gewalt, in: Karl Dietrich Bracher, Wolfgang Sauer, Gerhard Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung, Studien zur Entwicklung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933-34, KölnOpladen 1960, S. 685 ff. (fortan zit. Sauer). Über die Gleichschaltungspolitik vgl. Bracher, Stufen der Machtergreifung, in: ebd. S. 31 ff. (fortan zit. Bracher). 8 Schultheß' Europäischer Geschichtskalender 1934, S. 180 (Rede vom 13. 7. 34 im Reichstag). ' Vogelsang, Reichswehrdokumente, S. 435. Dem Zeugnis Blombergs zufolge soll Hitler diese Rede vor der Generalität als „eine seiner schwierigsten Reden bezeichnet haben, da er die ganze Zeit wie gegen eine Wand gesprochen habe" : Foertsch, S. 33. 18 Vgl. aber dazu das im einzelnen zum Offizierkorps sowie das über die politische Linie der Reichswehrführung Gesagte weiter unten S. 40 f. und S. 49 ff. 11 Das trifft z. B. für das Zeugenschrifttum des Instituts für Zeitgeschichte sowie andere Befragungsergebnisse zu, ohne die jedoch bei der oft lückenhaften Quellenlage der Zeitgeschichtler nicht auskommt. 7

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

37

nicht ganz frei von postkatastrophalen Einsichten sind, darf man auch nicht übersehen, daß alle diese Unterlagen nur ein unvollkommenes Bild ergeben. Sie stammen entweder von Offizieren in höheren Stellungen, die daher nicht unbedingt typisch für die Masse der Truppen oder gar Subalternoffiziere sind, oder aber, soweit sie von jüngeren und damit niederen Dienstgraden kommen, sind sie nur durch Zufall überliefert, bieten also nur -

einen sehr begrenzten Ausschnitt; zudem stammen diese meist von Offizieren, deren politische Reflexion und Interesse, verglichen mit der Masse ihrer Kameraden, ebenfalls untypisch war12. Die größere Zahl der Offiziere, insbesondere die „normalen", die schlicht ihren täglichen Berufspflichten lebenden Offiziere, bleibt für den Historiker daher mehr oder weniger stumm. Dennoch vermögen diese Unterlagen, so partiell und so problematisch bezüglich ihrer Repräsentanz sie auch sein mögen, ein wenigstens ungefähres Bild zu vermitteln. So deuten nahezu alle Quellen darauf hin, daß vor allem jüngere Offiziere, soweit sie überhaupt über ihren alltäglichen Dienst hinausdachten, die als „nationalen Umbruch" stilisierte „Machtergreifung" Hitlers und die Bildung einer „Regierung der nationalen Erneuerung" mit Genugtuung, wenn nicht sogar mit Begeisterung begrüßt haben. Ein Teil von ihnen war seit längerer Zeit von der Anziehungskraft der als „national-revolutionär" angesehenen „Bewegung" nicht unberührt geblieben. Die Meuterei an der Münchener Infanterieschule anläßlich des Hitler-Putsches von 1923 war wohl nur eine frühe Episode und sollte angesichts der besonderen Umstände der damaligen Zeit und der speziellen politischen Atmosphäre in Bayern nicht überbewertet werden13. Dennoch „gab es auch außerhalb der Infanterieschule manchen Soldaten, vor allem der jungen Generation, der sich zunächst von den nationalen Parolen Hitlers... beeindrucken ließ"14. Für die Jahre 1925-27 berichtet der spätere Generalfeldmarschall Freiherr v. Weichs, der zu jener Zeit Taktiklehrer an einer Offizierschule war, von wachsender Sympathie für die NSDAP unter den Fähnrichen15. Der Fall der drei Ulmer Offiziere18 bietet ein eindrucksvolles Beispiel, wie anfällig das gesamte Offizierkorps für nationalistische Parolen war, beweist So sdireibt Halder über den in diesem Zusammenhang oft mit seinen Briefen zitierten Oberleutnant Stieff, daß Stieff „eine Sondertype (war), brennend ehrgeiziger junger Generalstabsder sich mit Problemen befaßte, die der Masse seiner weniger klugen und temperaanwärter mentvollen Kameraden völlig fern lagen". Es habe daher gewisse Nachteile, wenn man Stieff immer als Beleg anführte. Institut für Zeitgeschichte, Zeugenschrifttum (fortan zit. : Zs.) Nr. 240, Bd V (Brief Halders vom 7. 2.1955). Ähnliches gilt für die Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des späteren Generals der Artillerie Eduard Wagner. 13 Nach Ludwig v. Hammerstein-Equord, „Kurt v. Hammerstein-Equord" (ungedr. Privatmanuskript) hat der spätere Chef der Heeresleitung, damals Bataillonskommandeur, vor seinen Soldaten bemerkt: „In München ist ein Gefreiter Hitler verrückt geworden", und einem seiner zu dieser Zeit an der Münchener Infanterieschule befindlichen Leutnants, der ihn, von seinen nationalsozialistisch infiltrierten Kameraden sich distanzierend, um Verhaltensmaßregeln gebeten hatte, telegraphiert: „Preußischen Vorgesetzten gehorchen!" 14 Manstein, S. 165 f. 15 Zs. Nr. 182, S. 38. 12

...

...

19

Vgl. hierzu Bucher.

38

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

aber auch, daß trotzdem die Disziplin und Zuverlässigkeit des Heeres im Sinne der militärischen Führung ungebrochen war17. Daher darf die Feststellung verbreiteter wenn auch unterschiedlicher Sympathien für mancherlei von den Nationalsozialisten vertretener Ideen nicht zu dem Fehlschluß verleiten, die Armee sei vom nationalsozialistischen Bazillus befallen oder gar von der NSDAP unterwandert gewesen. Zudem gestattet es die Zufälligkeit der Quellenüberlieferung nicht, das genaue Ausmaß einer Beeinflussung jüngerer Offiziere durch nationalsozialistisches oder von der NSDAP auch vertretenes Gedankengut zu erkennen18; immerhin wird man bei den jüngeren Offizieren, ohne ihre militärische Zuverlässigkeit in Zweifel ziehen zu wollen, doch eine ausgeprägte Sympathie für gewisse nationalsozialistische Gedanken und Parolen in Rechnung stellen dürfen19. Es war durchaus bezeichnend, daß der damalige Oberleutnant v. Tresckow, später einer der entschlossensten Mitglieder der Widerstandsbewegung, sich schon 1930 bemüht hat, das Offizierkorps des Potsdamer Infanterieregiments Nr. 9 im nationalsozialistischen Sinne zu beeinflussen20. Danach ist es nicht erstaunlich, daß nach dem 30. Januar 1933, zudem noch gefördert durch die allgemeine Begeisterung, viele junge Offiziere offen ihren Sympathien für die nationale Regierung und den Nationalsozialismus Ausdruck gaben. Das ging so weit, daß der Chef der Heeresleitung dem damaligen Generalmajor Freiherrn v. Weichs anläßlich dessen Versetzung nach Potsdam (1. Februar 1933) nahelegte, in der Weise des Potsdamer „politischen Anfälligkeit geeigneter Offizierkorps" entgegenzuwirken21. Zwei Monate später mußte der Chef der Heeresleitung jedoch nach einem Besuch Goebbels' in Potsdam feststellen, „daß die Leutnants den völlig akzeptiert hätten"22. General Blumentritt berichtet, daß 1933 unter den Absolventen des Generalstabslehrganges zahlreiche Offiziere begeistert für den Nationalsozialismus Partei ergriffen hätten23. Wenn man nach den Gründen dieser Anfälligkeit jüngerer Offiziere für die Parolen des Nationalsozialismus oder wenigstens für die Regierung der „nationalen Koalition" unter Hitler sucht, dann wird man einmal auf eine verständliche Befriedigung darüber stoßen, daß jetzt scheinbar dem Soldaten die Möglichkeit sich eröffnete, unter einer „wehrfreudi-

-

17 18

Vgl. hierzu Kap. I, S. 33. Diesbezüglich ist Sauer, S. 738, zu korrigieren.

Laut Gerhard Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1954, S. 129, wagte es die Reichswehrführung schon 1933 nicht mehr, eingeschriebene Mitglieder der NSDAP nicht aufzunehmen. (Fortan zit. Ritter, Goerdeler.) 20 Das Gewissen steht auf, S. 138; zu der geschilderten Episode vgl. Hermann Teske, Die silbernen Spiegel, Generalstabsdienst unter der Lupe, Heidelberg 1952, S. 31, sowie Kurt Hesse, Der Geist von Potsdam, Mainz 1967, S. 93 ff. Vgl. auch Moriz v. Faber du Faur, Macht und Ohnmacht, Erinnerungen eines alten Offiziers, Stuttgart 1953, S. 128 ff. 21 Zs. Nr. 182, S. 3. 22 Kunrat v. Hammerstein, Schleicher, Hammerstein und die Machtübernahme 1933, in: Frankfurter Hefte 11 (1956), S. 175, sodann auch erweitert unter dem Titel „Machtergreifung", in: Kunrat v. Hammerstein, Spähtrupp, Stuttgart 1963, S. 11 ff.; zur Episode selbst vgl. Joseph Goebbels, Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, eine historische Darstellung in Tagebuchblättern, München 1934, S. 292. 23 Vgl. das Zeugnis bei Sauer, S. 738. 19

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

39

gen" und „alle nationalen Elemente" des Volkes einigenden autoritären Regierung mit Verstand und Herz dem Vaterland als Soldat zu dienen, daß der doppelte Alpdruck

steriler Exklusivität und vermeintlicher innerpolitischer Verstrickung gewichen war. In vielen von ihnen gärte zudem ein unklarer, verschwommener Idealismus, ein „Pathos der Zukunft", in dem vage nationalrevolutionäre wie nationalsoziale Vorstellungen sich mit antiliberalen und antiparlamentarischen Affekten verbanden24. So wird von einem jüngeren Offizier überliefert, daß er in einem Festvortrag an der Kriegsakademie seinen überraschten Zuhörern erklärte, der Offizier von heute müsse ebenso revolutionär denken wie der Offizier von 181325. Hier kommt ein lange unbefriedigt gebliebener jugendlicher Aktivismus und vager Idealismus zum Ausdruck, der dazu führte, daß viele jüngere Offiziere ihre Ideale und Ideen in den Nationalsozialismus hinein interpretierten oder im Nationalsozialismus die Antwort auf ihr idealistisches Suchen zu finden glaubten. Interessant ist zudem, daß 1933 ein gewisser Drang zur SA unter etlichen jüngeren Offizieren bestand. In der SA, die alsbald der ärgste Konkurrent des Heeres werden sollte, vermeinte ihr unklarer aktivistischer Progressismus die zukünftige Volkswehrmacht erkennen zu können26. Im März 1933 mußte der Befehlshaber im Wehrkreis V sogar dagegen Stellung nehmen, daß einige Offiziere bei Parteidienststellen um Aufnahme in die SA mit höherem Dienstrang nachgesucht hätten27. Hier zeigt sich, wie verständlicher Ehrgeiz und Streben nach Aufstieg zusammenflössen mit jugendlich-revolutionärem Aktivismus und der Neigung, dem bisweilen vielleicht als beengend empfundenen Traditionalismus zu

entgehen28.

Bezeichnenderweise

jedoch schlug

diese

psychologisch-gefühlsmäßige Hinneigung

zum

Nationalsozialismus, in dessen eklektizistischen „Ideen"-Konglomerat sie ihre eigenen Träume und Wunschbilder wiederzufinden glaubten, dann bei einigen dieser Offiziere später, als ihnen die Augen über das wahre Wesen des Regimes und seines „Führers" aufgegangen waren29, in eine ebenso radikale Hinwendung zum Widerstand um. Dabei machte sich ein ähnlicher revolutionär-idealistischer Impetus bemerkbar, der von vagen, bisweilen verschwommenen Gefühlselementen und romantischen Politikvorstellungen auch nicht frei war30. Francis L. Carsten, Nationalrevolutionäre Offiziere, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, zur Wochenzeitung „Das Parlament", B 29/64 vom 15. 7. 1964. Vgl. auch die Formulierung Stieffs (Stieff, S. 296, und Krausnick, Vorgeschichte, S. 194-195), der 1930 schrieb: „Jeder Rationalismus... hat einmal ein Ende -... so muß auch eine politische und Heeresführung Rücksieht nehmen auf das Lebenselixier des Soldaten, seine uneigennützige Vaterlandsliebe." 25 Zit. bei Sauer, S. 739. 26 Vgl. die Beispiele bei Sauer, ebd. 27 Sauer, S. 739. 28 Vgl. ebd. sowie Teske, S. 31; andere Beispiele bei Edgar Röhricht, Pflicht und Gewissen, Erinnerungen eines deutschen Generals 1932 bis 1944, Stuttgart 1965, S. 46 f., sowie Prinz von der Leyen, Rückblick zum Mauerwald, Vier Kriegsjahre im OKH, München 1965, S. 49. 29 Vgl. das Beispiel des damaligen Oberleutnants Merz v. Quirnheim, des späteren Mitverschworenen Stauffenbergs, der damals auf eigenen Wunsch Verbindungsoffizier des Heeres bei einer SA-Gruppe wurde, Teske, S. 32 und 42 sowie Zs. Nr. 44. 80 Hierzu Carsten, Nationalrevolutionäre Offiziere, S. 49. 24 Vgl. Beilage

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

40

Machtergreifung

die Situation meist bei den älteren Offizieren, etwa von den Stabsoffizieren aufwärts, wenn diese Gruppe auch keineswegs als völlig homogen angesehen werden darf. Ihre Haltung ist durch eine gewisse Zwiespältigkeit gekennzeichnet31. Sie standen dem Nationalsozialismus innerlich oft distanzierter, intellektuell abwägender gegenüber. Die Radau- und Gewaltmethoden, der lärmende Parteibetrieb war ihnen, die noch dem aristokratisch-vornehmen Lebensstil des alten Offizierkorps verhaftet waren32, erheblich zuwider33. Der spätere Feldmarschall Ritter v. Leeb bemerkte damals mit Blick auf die hemmungslos-demagogische Art Hitlers, ein Geschäftsmann, dessen Ware gut sei, brauche sie doch nicht in den höchsten marktschreierischen Tönen anzupreisen34. Wie er, so spürte mancher von ihnen instinktiv, daß das Revolutionäre des Nationalsozialismus im letzten mit ihrer konservativen Grundhaltung unvereinbar war35. Aber das war letztlich weniger eine politische, sondern mehr eine gefühlsmäßige, auf unterschiedlicher Lebensart und Stil beruhende Reserve. Auch galt diese nicht so sehr dem neuen Kanzler, höchstens diese bezeichnende Differenzierung war gar nicht so selten dem Parteiführer, vor allem aber seinen Parteitrabanten. Gerade diese Unterscheidung zwischen dem verachteten Parteibetrieb und dem Gebaren vieler Parteileute einerseits sowie dem neuen Kanzler als verantwortlichem Staatsmann andererseits offenbart eine typische Einstellung, die von bedeutender politischer Relevanz war. Klassisch kommt diese Unterscheidung noch in einer nach dem Kriege verfaßten Niederschrift des Generals v. Sodenstern zum Ausdruck, der schreibt: „Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler trat zwangsläufig ein Wandel in der Stellung der Wehrmacht zum Nationalsozialismus ein36." „Mit der Regierungsbildung beauftragt", sei Hitler ihnen „zum Hauptträger der Staatsautorität" geworden37. Ähnlich hat General Halder 1934 in seinem Brief an Beck unterschieden zwischen dem „reinen und von idealistischem Schwung getragenen Wollen des Kanzlers" und „der Überzahl völlig unzulänglicher, zum Teil wahrhaft minderwertiger Ausführungsorgane, welche die edlen nationalen Absichten Hitlers in der Praxis vielfach zu einem Zerrbild, teilweise zum Gegenteil dessen, was der Kanzler will, pervertieren"38. Für diese Anschauung gibt es zahlreiche Belege. Manstein konnte in seinen Memoiren daher mit Recht schreiben: „So gab es vielerlei, was uns... an dem neuen

Anders

war

an

-

-

Analyse des älteren Offizierkorps bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 205 ff., ist von Sauer, ff., mit gewisser Berechtigung stärker differenziert worden; vgl. aber weiter unten die Ausführungen auf S. 46 f. 32 Dabei ist schwer auszumachen, wieweit dies noch innerlich echt oder schon zur formalen Fas31

Die

S. 734

sade und äußerlichem Ritual geworden war. Beides wird man in Rechnung stellen müssen. Vgl. dazu Demeter, S. 196 ff. 83 Vgl. dazu Manstein, S. 167 und Foertsch, S. 22 ff. 34 Zit. bei Sauer, S. 735. 35 So antwortete nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 206, der General v. Fritsch auf die Bemerkung eines Offiziers, der auf die schwarz-weiß-rote Grundfarbe der Hakenkreuzfahne anspielte, recht skeptisch: „Ja, aber etwas viel Rot." 86 General Georg v. Sodenstern, Zur Vorgeschichte des 20. Juli 1944 (ungedr. MGFA/DZ Study B 499, S. 19, Abschnitt „Die Wehrmacht im Dritten Reich"). 87 Ebd. 88 Foerster, S. 27.

-

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

41

Regime nicht gefiel. Es war jedoch eine damals weitverbreitete Anschauung, daß Hitler von diesen Fehlgriffen und Entgleisungen oder gar Missetaten seiner Leute nichts wisse und sie sicher nicht billigen würde, falls er sie erführe30." Man könnte geneigt sein, in dieser Haltung den Ausfluß einer traditionellen, militärischen Einstellung zu sehen, die einerseits das Parteienwesen grundsätzlich ablehnt, andererseits aber dem Träger und Repräsentanten der Regierungsgewalt und damit auch der Staatsautorität Respekt und Vertrauen selbstverständlich und unreflektiert entgegenbringt, also eine apolitisch und unkritisch obrigkeitsstaatliche Einstellung; dies um so mehr, als sie ja in der Beauftragung Hitlers mit der Kanzlerschaft eine Entscheidung Hindenburgs, der für sie eine Art Ersatzmonarch geworden war, erblicken durften40. Wer genauer hinblickt, merkt indessen, daß hier die Dinge erheblich anders lagen. Es ist doch bezeichnend, daß man zuvor in der Zeit der Weimarer Republik diese Unterscheidung zwischen dem Kanzler und den Parteien41 keineswegs gemacht hat. Die Kanzlerfür sie durchaus

anderes als die der früheren Reichskanzler der in parlamentarischen Republik. klingt den Worten des alten Generalobersten v. Einem an, der im Frühjahr 1933 ausrief: „Wir haben wieder einen Kanzler!"42, als ob das Reich nicht zuvor auch Kanzler, und sogar mehr als einen, gehabt hätte! Es war also keineswegs eine prinzipiell staatsbejahende oder die Regierungsautorität eo ipso respektierende Haltung, aus der heraus man diesen Vertrauensvorschuß dem Kanzler Hitler zugestand. Vielmehr war entscheidend für diese Einstellung, daß man meinte, jetzt sei eine wahrhaft „nationale" Regierung ans Ruder gekommen. Das seit 1918 mehr oder weniger klar artikulierte Wunschbild eines starken, straff autoritär geführten, nationalistischen Machtstaates43 schien ihnen jetzt mit dieser Regierung unter dem Kanzler Hitler realisierbar geworden zu sein. Das war der Grund für die bei aller kritischen Distanz der Partei Hitlers gegenüber und bei allem Degout über mandierlei Erscheinungsformen des neuen schaft Hitlers

war

etwas

Das

Regimes dem Kanzler entgegengebrachte positiv-freundliche, weitgehend unkritische Haltung. Zugrunde lag dem nidrt zuletzt das konservativ-reaktionäre Vorurteil, daß eine „nationale" Regierung von vornherein besser, vertrauenswürdiger sei als etwa ein nicht konservativen Kräften getragenes Kabinett. National aber war immer fast gleichbedeutend mit rechtsstehend. Jetzt war ein rechtsradikaler Kanzler an der Macht, und alle Vorbehalte und alle Distanz gegenüber der Radikalität wurden aufgewogen von dem von

89

Manstein, S. 179; diese Verkennung Hitlers (und der daraus resultierende Vertrauensvorschuß,

den

man ihm entgegenbrachte) war bis in den Krieg hinein weit verbreitet. Vgl. dazu als ein Zeugnis unter vielen anderen auch Prinz von der Leyen, S. 30 und S. 63 ff., und Manstein, S. 271. 40 Vgl. Fest, S. 321.

Vgl. z. B. den bei Carsten, S. 223, zit. Brief des damaligen Oberstleutnants v. Fritsch aus dem Jahre 1924, in dem er Ebert „einen ganz einseitigen sozialdemokratischen Parteimann und großen Schweinehund" bezeichnet; dagegen jedoch vgl. seine Worte über sein Verhältnis zu Hitler noch nach seinem Sturz. „Ich denke bestimmt nicht wie Adolf Hitler, aber irgendwie habe ich an ihn geglaubt, und er war der Führer, dem ich gehorcht habe ..." (zit. nach Krausnick, Vorgeschichte, 41

S.

289).

42

Zit. nach Sauer, S. 735. Vgl. auch unten S. 44.

43

42

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

„Rechts"-Element44: Daraus resultierten, konkret gesehen, mancherlei paradoxe Verhaltensweisen. Dem „nationalen" Kanzler und seinem Regime war man geneigt, allerlei nachzusehen, was wäre es unter einer anderen Regierung geschehen schärfste Kritik hervorgerufen hätte45. Die Verachtung, die man den parlamentarisch-republikanischen Politikern entgegengebracht hatte, verwandelte sich gegenüber dem rechtsstehenden, „nationalen" Politiker in weitgehende Nachsicht. Auch er war für sie zwar „ein Politiker", aber ein „nationaler". Diese eigentümliche Mischung von Vertrauen, das ihrer Ansicht nach einem nationalen Politiker gebührte, und achselzuckender Verharmlosung von „eben in der Politik üblichen" Methoden und Verhaltensweisen, die sie bei anderen kritisierten und verachteten, bei dem neuen Regime aber, wenn auch mit Distanz, zu tolerieren geneigt waren, sollte recht folgenreich werden. Das wurde schon am 3. Februar deutlich46, als Hitler vor den Befehlshabern der Reichswehr auf seine zukünftige Politik zu sprechen kam. Dabei machte er, im Gegensatz zu seinen damaligen offiziellen Friedensbeteuerungen47, wenig verklausulierte Andeutungen über kriegerisch-expansive Absichten und verband diese Ausführungen einerseits mit dem „Angebot", die Wehrmacht aufzurüsten, die Wehrertüchtigung zu fördern, den Pazifismus zu bekämpfen und die SA auf politische Aufgaben zu beschränken, andererseits mit der „Forderung", die Wehrmacht solle sich nicht in den inneren Kampf einmischen. Viele seiner Zuhörer hörten damals nur das „Angebot" und nur die beruhigende Versicherung, daß die Wehrmacht nicht in die innenpolitische Auseinandersetzung hereingezogen werden sollte48. Einige waren daher recht befriedigt von den Ausführungen Hitlers. Diejenigen aber, die Hitlers Kriegsandeutungen verstanden hatten und darüber besorgt waren, beruhigten sich alsbald mit der Überlegung, daß doch wohl stets „die Rede kecker als die Tat" gewesen sei, daß man also die Worte eines Politikers nicht auf die Goldwaage legen dürfe. Noch deutlicher kommt diese Auffassung zum Ausdruck in den Worten des späteren Generalfeldmarschalls Freiherr v. Weichs, der in bezug auf die nicht weniger kriegerischen Darlegungen Hitlers vor den Befehlshabern im Februar 1934 schreibt: „Ich gebe zu, daß ich zunächst, als ich die aggressiven Worte hörte, einen Schrecken bekam, bei weiterer Überlegung aber zu der Auffassung kam, daß Politiker bei der Begründung ihrer Entschlüsse es mit der Wahrheit nicht immer genau nehmen49." Aus diesen Worten spricht eine im militärischen Bereich nicht selten anzutreffende abschätzige Beurteilung der Politik und des Politikers, spricht aber auch eine verharmlosende Nachsicht gegenüber dem Regierungschef Hitler. Diese Grundeinstellung führte dazu, daß man Hitler einen bedeutsamen Vertrauensvorschuß ent-

-

Vgl. Weichs, Die Stellung des Offizierkorps, fol. 15: „Der Offizier hätte aber seine Pflicht nicht erfüllen können, wenn er nicht, unbeschadet seiner innenpolitischen Unparteilichkeit, streng national gesinnt gewesen wäre." 45 Vgl. dazu die Darlegungen bei Sauer, S. 737. 46 Vgl. dazu Vogelsang, Reichswehrdokumente, S. 434; Erich Raeder, Mein Leben, Tübingen 1956, Bd I, S. 280 und Bd II, S. 106; sowie George Castellan, Le Réarmement Clandestin du 44

Reich 1930-1935, Paris 1954, S. 425. Vgl. Schultheß' Europäischer Geschichtskalender 1933, S. 36 ff. 48 Vgl. dazu Sauer, S. 719 und 735. 49 Zs. Nr. 182, S. 10, vgl. auch Sauer, S. 766. 47

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

43

gegenbrachte, sie förderte Selbsttäuschung und Selbstberuhigung50 angesichts problematischer Erscheinungen. Später sollte der Feldmarschall v. Manstein mit unüberhörbarer Selbstkritik dazu schreiben: „Rückschauend erscheint es merkwürdig, daß wir Soldaten glaubten, an den Politiker nicht den Maßstab anlegen zu können, der für den eigenen Berufsstand selbstverständlich war51." Was neben den entgegenkommenden rhetorischen Gesten Hitlers die älteren Offiziere vornehmlich ansprach, waren jene Elemente im politischen Programm des Regimes, die ein konservatives Bewußtsein mit der Vorstellung des ihm zugehörigen Staates verband52. Das neue Regime schien Aussicht zu bieten, die Klassengegensätze zugunsten einer starken, in sich geeinten Nation zu überwinden und alle Teile des Volkes für das, was im konservativen Begriffsrepertoire „der nationale Gedanke" genannt wurde, zu gewinnen. Keitel schrieb damals in einem Privatbrief, daß die von den Nationalsozialisten arrangierte „Feier des l.Mai den tatsächlichen Sieg über die rote Internationale dem Volk glauben macht"53. Und noch nach seinem Sturz 1938 rühmte Generaloberst Freiherr v. Fritsch, daß Hitler die große Schladit gegen die marxistische Arbeiterschaft gewonnen habe54. Die neuen autoritär regierenden Machthaber würden, so hofften sie, mehr Ordnung und energischere Führung bringen, das Volk einen und die kommunistisch-marxistische Gefahr bannen was immer sie unter all diesem verstanden haben mochten. Trotz aller Bedenken und aller kritischen Distanz schien ihnen das neue Regime in jedem Fall den militärischen Interessen mehr entgegenzukommen als das vergangene. Das ist keinesfalls ...

-

Vgl. Sodenstern, S. 16 f.: „Ihre Forderung auf Wiederherstellung der Wehrhoheit mußte in Soldatenherzen Widerhall finden! Das war eine ganz natürliche Folge der Tatsache, daß sowohl die Tschechoslowakei wie Polen also die beiden slawischen Randstaaten über modern bewaffnete Armeen verfügten und im Kriegsfall die Aufstellung von 600 000 bzw. 1 000 000 Kämpfern vorgesehen hatten. Wer aber in diesem Zusammenhange von „Sympathien" der Soldaten für Adolf Hitler spricht, entstellt die Tatsachen oder unterliegt irrigem Urteil. Das marktschreierische Wesen des nationalsozialistischen Parteiführers stieß den echten Soldaten ab. Erscheinungen wie Goebbels waren ihm im höchsten Maße zuwider. Die Organisation der SA erfüllte ihn mit größtem Mißtrauen! Doch soll nicht geleugnet werden, daß nach der Machtergreifung die allgemeine Volksstimmung auch auf Teile des Offizierkorps abfärbte und man vielfach der gefährlichen Selbsttäuschung erlag, Adolf Hitler sei ein „grundanständiger, von hohen Idealen erfüllter Mann", der im Besitz der Staatsgewalt die häßlichen Begleiterscheinungen seiner Bewegung ausräumen werde. (Hervorhebung vom Verf.) 51 Manstein, S. 179. 52 Vgl. die treffenden Ausführungen dazu bei Fest, S. 322. 53 Generalfeldmarschall Keitel, Verbrecher oder Offizier? Erinnerungen, Briefe, Dokumente des Chefs OKW, hrsg. von Walter Görlitz, Göttingen-Berlin-Frankfurt 1961, S. 52 (Brief vom 50

-

-

-

1. 5. 54

-

33).

Nachlaß Generaloberst Frhr.

Margot

v.

v.

Schutzbar, S. 7 (Brief

englischen Übersetzung the conclusion that

we

Fritsch, BA/MA

H

08-33/6, Privatkorrespondenz mit Baronin

Dieser Briefwechsel liegt zur Zeit nur in einer vor, in der der erwähnte Passus lautet: „Soon after the war I came to vom

should have

to

11.

12.38).

be victorious in three

powerful again:

battles, if Germany

were to

become

1. The battle

Zur

against the working class Hitler has won this ..." quellenkritischen Problematik dieses Briefes vgl. das weiter -

unten

in Anm. 239

Ausgeführte.

44

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

primitiven militärischen Karrieredenkens und kleinlichen Opportunismus gemeint, wenngleich dieses Element in der Motivation auch nicht ganz gefehlt haben mag. Die Aussicht auf eine effektive Sicherheitspolitik, auf eine angemessene Rüstung, Hitlers militärpolitisches Programm also, mußte auch bei skeptischen Gemütern Widerhall finden55. Im Grunde lassen sich die dahinterstehenden politischen Vorstellungen auf das im Sinne eines

-

-

Konzept eines autoritär strukturierten, nationalistischen Machtstaates reduzieren, der von den konservativen Kräften, wenn schon nicht ausschließlich, so doch entscheidend mitgeprägt wurde. Und dieses Konzept glaubten sie mutatis mutandis unter dem neuen Regime der Realisierung nähergerückt. Hieraus resultierte die Affinität und damit die

Anfälligkeit vieler auch überdurchschnittlich gebildeter und kritisch-einsichtiger Offiziere gegenüber gewissen Aspekten des Nationalsozialismus. Selbst ein so intelligenter Offizier wie Beck, ein so welterfahrener und politisch versierter Mann wie Canaris machten hier keine Ausnahme. Von Beck wird berichtet, daß er, der schon 1930 einen nationalsozialistischen Wahlsieg im Manöverquartier gefeiert hat, die Machtergreifung Hitlers begrüßt und noch längere Zeit auf eine positive Entwicklung des Regimes gehofft56 habe. Über Canaris schreibt ein Zeuge57, der ihn aus beruflicher Zusammenarbeit kannte: „Als Nationalist war Canaris zunächst überzeugt, daß das Regime besser sei als alles, was ihm vorausgegangen war, und daß es bis auf weiteres gar keinen anderen Weg gibt, und aus dieser Einstellung heraus übte er selbstverständliche Kritik an Einzelerscheinungen, Personen und Handlungen, zumal er die Idee eines deutschen Nationalstaates sauber verwirklicht sehen wollte." Diese höheren Offiziere waren alles andere als Nationalsozialisten; aber sie waren Nationalisten, die unter den Beschränkungen des Versailler Vertrages, unter den Folgen des verlorenen Krieges litten. Ihr Wunsch ging auf ein wiedererstarktes, wieder zu „nationaler Ehre und Kraft" gelangtes Reich, das sie sidr unter einer parlamentarisch regierten Republik nicht hatten vorstellen können. Hitler schien ihnen geeignet, diese Wunschträume zu erfüllen. Zwar war für die meisten eine erneuerte Monarchie das Ideal58, aber sie erkannten die augenblickliche Unmöglichkeit, es zu realisieren. Ein autori-

Vgl. dazu die aufschlußreichen Ausführungen bei Manstein, S. 175. Vgl. auch S. 76 dieses Kapitels sowie unter anderem Foerster, S. 89 ff. (Beck in der Fritsch-Krise) ; Lutz Graf Schwerin-Krosigk, Es geschah in Deutschland, Menschenbilder unseres Jahrhunderts, Tübingen-Stuttgart 1951, S. 277; Hoßbach, S. 130, und „Protokolle der Verhandlungen vor der Entnazifizierungs-Spruchkammer X München gegen Generaloberst Franz Halder", 15.-21.9. 1948, BA/MA H 92-1/3, fol. 4 und 27 (fortan zit. Halder, Spruchkammer-Verfahren), sowie Generaloberst a. D. Halder, Mitteilungen vom 15. 10.1965 und 10.11.1965 an das MGFA. 17 Zit. bei Gert Buchheit, Soldatentum und Rebellion, Die Tragödie der deutschen Wehrmacht, Rastatt 1961, S. 224; vgl. auch „Aus den Personalakten von Canaris", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 10 (1962), S. 309, sowie Admiral Patzig, Auskunft an das MGFA vom 18.-19.1. 1966 (Canaris noch Ende 1934 bei Übernahme der Abwehrabteilung nicht frei von Illusionen über

55

66

das Regime). 68 Die (leicht sentimentale oder auch bei einigen etwas unterkühlte) persönliche monarchische Einstellung beschreibt für seine Person treffend der ehemalige kaiserliche Seeoffizier und spätere Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ernst v. Weizsäcker, Erinnerungen, München-Leipzig-Freiburg 1950, S. 103, und KB, S. 302: Aufzeichnungen Osters während seiner Haft nach dem 20. Juli 1944.

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

45

Staat, in dem die Reichswehr respektiert und gefördert würde, erschien ihnen unter diesen Umständen die optimal erreidibare Lösung59. Je nach intellektueller und moralischer Einsichtsfähigkeit, je nach Temperament und geistiger Struktur des einzelnen wurde dieses Konzept entsprechend subtil oder grobschlächtig artikuliert. In den Grundzügen jedoch blieb es als eigentliche Substanz der Auffassungen konservativ-nationalistischer Offiziere unverändert. Hinsichtlich der wichtigsten Komponenten ihrer Gedankenwelt unterschieden sich damit die älteren Offiziere von ihren jüngeren Kameraden in keiner Weise. Die Differenz lag im Stil und in der verschiedenen Intensität der Artikulation, nicht aber in der Substanz der Auffassungen. Die Befangenheit selbst von Männern wie Beck und Canaris in diesen Denkkategorien60, die die Masse ihrer Standesgenossen an Charakterstärke und Intelligenz weit überragten, drückt sich in ihrer temporären Anfälligkeit gegenüber gewissen Elementen nationalsozialistischer Phraseologie und Programmatik61 eindrucksvoll aus. tärer

S. 447: Sonderbericht über die Stellung der Verschwörer zum Nationalsozialismus vom 16.10.44: „Soweit die Verschwörer, insbesondere aus der reaktionären Gruppe, sich in den Vernehmungen über ihre Einstellung zum Nationalsozialismus und zur NSDAP ausgelassen haben, ist ihre Haltung durchaus skeptisch und intellektuell abwägend. Sie... sind an den Nationalsozialismus verstandesmäßig und als neutrale Beobachter von außen herangegangen. Sie haben sich dabei wohl mit einzelnen Grundsätzen und Forderungen der NSDAP einverstanden erklärt, insbesondere soweit der Nationalsozialismus wieder einen kräftigen nationalen Zug in das deutsche politische Leben hineinbrachte. Von anderen Maßnahmen und Programmpunkten dagegen haben sie sich distanziert, die nationalsozialistische Weltanschauung daher niemals als erlebnismäßige Einheit bejaht, sondern mehr wie das politische Programm einer Partei der Systemzeit teils gutgeheißen, teils abgelehnt..." Vgl. dazu auch Manstein, S. 165 ff. und S. 268 ff. 80 Diese wurzelten letztlich in Wert- und Ordnungsvorstellungen, deren Kern verabsolutierte 59

Vgl. KB,

und

zur

NSDAP,

„sekundäre Tugenden" wie „Ordnung", „Anstand", „Sauberkeit", „nationale Einstellung" bildeten. Sie waren wesensmäßig unpolitisch, wurden aber im restaurativ-konservativen Denken zu so absoluten Maßstäben, daß mit ihnen auch alle politischen Erscheinungen beurteilt wurden. Vgl. zur politischen Wirksamkeit dieser „sekundären Tugenden" die zwar auf einen anderen Bereich, den deutschen Katholizismus, gemünzten, aber allgemeine Gültigkeit beinhaltenden Ausführungen bei Carl Amery, Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute, ro-ro-ro aktuell Nr. 589, Reinbek bei Hamburg 1963. 81 Hierhin gehört auch die unbewußte Bereitwilligkeit, mit der die Hemmungen und instinktiven Bedenken, welche die offenkundigen negativen und bedenklichen Erscheinungen des neuen Regimes in ihnen hervorriefen, mit der Hoffnung auf die Entwicklungsfähigkeit des Systems, mit dem Glauben, alles werde sich nach einer unruhigen Übergangszeit doch wieder normalisieren, immer wieder, mindestens aber längere Zeit, verdrängt oder bagatellisiert wurden. In diesem Sinne sagte im Sommer 1933 der General Adam zu seinen Offizieren, nachdem er die Mißstände offen genannt hatte: „Aber denken Sie daran, daß wir in einer Revolution leben. Noch immer trieb in solchen Zeiten zuerst der Schmutz an die Oberfläche." (Zit. nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 217.) Ein Wort, das unleugbar auf historischer Erfahrung beruhte und in dem noch nicht unbedingt die zweifellos auch in diesen Kreisen bisweilen vorhandene Machtanbetung und die moralische Indifferenz des modernen Nationalismus zum Ausdruck kommt, das aber doch wiederum auch das Maß an gutem Willen zeigt, das man einer vermeintlich „nationalen" Revolution entgegenzubringen geneigt war. Die nationalistische Gebundenheit und die daraus resultierende Anfälligkeit

46

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

Es ist fraglich, ob es sinnvoll ist und zu historisch belangvollen Erkenntnissen führt, wenn man über das bisher Gesagte hinaus versucht, die Gruppe der höheren Offiziere in ihrer ursprünglichen Einstellung zum nationalsozialistischen Regime noch weiter zu differenzieren. Derartige Aufgliederungen sind unternommen worden62. Indessen scheint uns bei diesen Differenzierungen methodisch problematisch verfahren zu sein. Es ist dabei zu wenig Individuelles und Typisdies geschieden worden. Jedenfalls wird man individuelle Verhaltensweisen ohne genauere Untersuchung des jeweiligen Falles und ohne entsprechende Vergleiche nicht ohne weiteres als symptomatisch für die Gruppentypik nehmen dürfen. Für die angestrebte Aufgliederung ist beispielsweise die Feststellung praktisch bedeutungslos, daß eine kleine Minderheit höherer Offiziere mit behendem Eifer zu Hitler übergegangen ist. Da es bedenkenlose Karrieremacher und Opportunisten in jeder soziologischen Gruppe gibt, sollte man über derartige Typen weder viele Worte verlieren noch sie als repräsentativ für das Offizierkorps ansehen. Für den Rest aber wird man bei genauerer Analyse feststellen, daß die Grundhaltung, aus der ihr Verhalten resultierte, mit der konservativ-restaurativen Befangenheit, die die Masse ihrer Standesgenossen prägte, praktisch identisch ist. Im Grunde unterschied sich ihr Verhalten nur äußerlich und graduell von den anderen. Das hatte eindeutig individuelle Gründe, sei es mangelnde Intelligenz und Bildung, größere Naivität oder eine etwas infantile Neigung zu allem Neuen. Beispielhaft ist für diesen Typus etwa der spätere Feldmarschall Keitel. Er hielt am 30. Januar 1933 Hitler lediglich für einen „Trommler" und zweifelte an dessen Befähigung zum Reichskanzler63. Als er dann einige Monate später Hitler persönlich kennenlernte, war er „direkt begeistert" von Hitler. Die Augen wären „fabelhaft und wie der Mensch redet.. ."64. In derartigen Äußerungen und dem entsprechenden Verhalten kommt nichts für das generelle Verhalten des höheren Offizierkorps Typisches zum Ausdruck, sondern lediglich ein individueller Mangel an intellektueller und charakterlicher Substanz65. So sehr Vertreter dieser Art auch später, wenn sie in höchste und einflußreiche Positionen gelangt waren, verhängnisvoll wirken konnten und gewirkt haben, so wenig eignen sie sich zur Differenzierung des Verhaltens der Gruppe der höheren Offiziere. Solchen Erscheinungen kann außerdem nur der generelle Bedeutung beimessen,

und Illusion

zeigen sich darin wie in der oben schon erwähnten Hoffnung auf eine evolutionäre „Besserung" des Systems. Gegenüber einer „Revolution von Links", einer Revolution, die nicht „national" war, wäre bzw. war man (wie die Ereignisse seit 1918 zeigten) nicht so nachsichtig

und wohlwollend gewesen. 62 Vgl. vor allem Sauer, S. 735 ff. und 739; über gewisse opportunistische Typen vgl. Hammerstein, S. 176, sowie Sauer, S. 737. 68 Keitel, S. 58 f. 84 Ebd. S. 53 (Brief der Ehefrau Keitels an ihre Mutter vom 5. 7. 33). General Geyr v. Schweppenburg berichtet in einer unveröffentlichten Aufzeichnungen über Keitel (MGFA/DZ III H E 4) von der Aussage eines nahen Verwandten des späteren Feldmarschalls, nach welcher Keitel anfangs gegen den Nationalsozialismus eingestellt gewesen sei, nach einer Begegnung mit Hitler aber „als ein Paulus zurückgekehrt" sein soll. 85 Vgl. auch die weiter unten S. 50 f. dieses Kapitels zit. Hinweise für Blomberg.

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

der der Ansicht ist, daß das höhere

Elitegruppe sei66. Lediglich zwei Gruppen

Machtergreifung

47

Offizierkorps eo ipso eine intellektuelle und moralische

sind, allerdings mit bezeichnenden Einschränkungen, in

unserem

Zusammenhang bedeutsam. Einmal ist es jener Typ des einseitigen militärischen Technikers, jener „modernen Soldaten", deren progressistische Initiative gegen verhärtete Denkschemen und Traditionen Hand in Hand ging mit Bindungslosigkeit und allzu leichter Verführbarkeit, falls sich ihnen die Möglichkeit eröffnete, ihre Wunschbilder von einer modernen, technisch hochentwickelten Armee in die Wirklichkeit umzusetzen. Im Extremfall fragte dieser modernistische Soldatentyp nicht viel danach, von wem und unter welchen politischen und staatlichen Umständen ihm diese Möglichkeit geboten wurde67. Indessen lagen derartig krasse Beispiele von politischer Blindheit und Bedenkenlosigkeit nur in einigen ganz wenigen Extremfällen vor, und diese waren weitgehend untypisch. Männer wie General Lutz, der erste Inspekteure und Kommandierende General der Panzertruppen, wie Hoepner und Geyr v. Schweppenburg waren nicht weniger „panzerbesessen" als Guderian, und doch haben gerade sie stets in kühler Distanz zum Nationalsozialismus verharrt und sind nie der Verführbarkeit des „modernistischen Militärtechnikers" erlegen. Sie unterschieden sich vielmehr von Beck, dem sie in Dingen der modernen militärischen Technik allzu große Behutsamkeit oder gar Unverständnis vorwarfen68, bezüglich ihrer konservativ nationalistischen Befangenheit in keiner Weise. So reduziert sich dieser Gegensatz nicht auf die Frontstellung „hier der bindungslose labile Modernist" und „dort der in soldatisch-positiver Tradition charakterfeste, unverführbare Offizier", sondern auf eine rein militärischfachliche und allerdings weitgehend auch auf eine Temperamentsfrage. Beck war nicht weniger und diese „Modernisten" (- die erwähnten, zahlenmäßig unbedeutenden Extremfälle ausgenommen -) nicht stärker anfällig für die Faszination des „nationalen Umbruches" von 1933 als die Mehrzahl ihrer Kameraden auch. Die zweite Gruppe bilden jene wenigen Offiziere, die schon damals innerlich prinzipielle und entschiedene Gegner Hitlers und des Nationalismus waren, ohne daß die Einstellung jedoch sie überhaupt oder vorerst zu extremen Entschlüssen veranlaßte; für derartige -

-

geäußerte Ansicht, die allerdings einem vom Offizierkorps früher oft verAnspruch entspricht, ist dafür typisch. Vgl. dazu die Ausführungen von Wolfgang v. Groóte, Bundeswehr und 20. Juli, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 12 (1964), S. 292 ff. 67 Vgl. dazu die Belege bei Sauer, S. 739 f., dem hier jedoch in seiner m. E. zu undifferenzierten Beurteilung nicht gefolgt wird. Vgl. auch Leo Frhr. Geyr v. Schweppenburg, Gebrochenes Schwert, 66

Die bei Fest, S. 337,

tretenen

Berlin 1952, S. 72. 88 Zu Becks Haltung in der „Panzerfrage" vgl. Foerster, S. 35 ff., sowie Guderian, S. 26 ff. Neuere Forschungen, die auf den Akten des Reichswehrministeriums und der Heeresleitung beruhen, haben erwiesen, daß Beck keineswegs grundsätzlich gegen einen Ausbau der Panzerwaffe gewesen ist, und schon gar nicht deswegen, weil er darin etwa ein gefährliches Instrument oder gar Stimulans für Hitlers aggressive Absichten sah (wie Sauer, S. 739, Anm. 20, noch meint), sondern daß der Gegensatz zwischen ihm und den „Panzerliebhabern" einmal eine Frage der unterschiedlichen militärischen Doktrin und zweitens stark aus persönlichen Differenzen und Temperamentunterschieden resultierte (vgl. dazu die noch unveröffentlichte Arbeit meines Kollegen Hermann Götze, Der Heeresaufbau 1932-1939 im Spiegel erhaltener Akten des Generalstabs und des AHA).

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

48

Machtergreifung

Initiativen waren weder Anlaß noch Voraussetzungen gegeben. Dieser Kreis ist seinem Umfang nach nicht genau zu fixieren. Aus dem vorliegenden Material gewinnen nur einige bestimmte Persönlichkeiten Profil. Einmal waren es Offiziere, die eine lebendige Bindung an die christliche Religion mit einer überdurchschnittlich ausgeprägten Persönlichkeit kombinierten, so daß sie von daher Beurteilungsmaßstäbe für ihr Leben, ihre Auffassung und ihr Tun empfingen. Ihrer konservativ-nationalistischen Grundauffassung, welche sie gewiß mit ihren Standesgenossen teilten, wurde aber dadurch die Anfälligkeit genommen oder doch weitgehend vermindert. Ein profilierter Vertreter dieses Typus war beispielsweise der General Groppe69. Nun kann man keinesfalls behaupten, daß Offiziere wie Beck oder Oster oder Fritsch und andere keine religiösen Bindungen besaßen; jedoch waren sie entweder nicht so stark oder individuell anders strukturiert als bei Männern von der Art Groppes. Hier wurde die quantitative Differenz jedoch zur veränderten Qualität in politicis, insofern sie auf die konservativ-nationalistische Grundauffassung ausstrahlte. Andere Hitler-Gegner wie z. B. Hammerstein, Ott70 oder Vincenz Müller letzterer einer der qualifiziertesten jüngeren Generalstäbler wurzelten zwar ebenfalls prinzipiell in dieser Grundauffassung71, aber sie besaßen infolge ihrer geistigen Entwicklung und anlagebedingten Aufgeschlossenheit sowie z. T. laufbahnmäßiger Berührungen72 mit der politischen Sphäre ein individuell besseres Unterscheidungsvermögen und tiefere Einsichten in die grundsätzliche politische und soziale Problematik. Sie waren im Vergleich zu der Masse ihrer Kameraden in vielfacher Weise aus Veranlagung und Lebensgang -

-

heraus

untypisch. Haltung des Offizierkorps

des Heeres war also, wie es nach seiner ganzen Entwick1918 seit und der in Zeit der Staatskrise gar nicht anders sein konnte, gegenüber lung dem Nationalsozialismus und der von Hitler geführten Regierung uneinheitlich. Mit der ganzen Skala möglicher Einstellungen von naiver oder vage enthusiastischer Zustimmung, über abwartendes Wohlwollen, skeptische Distanz, Besorgnis und zwiespältiger Befriedigung bis hin zu wenigen Fällen der Ablehnung war jedoch eine nahezu durchgehende Verwurzelung in nationalistisch-konservativen Auffassungen verbunden. Das Offizierkorps war 1933 im ganzen in einer psychologischen Situation, die es ihm unmöglidi machte, aus sich heraus zu einer wenigstens einigermaßen einhelligen und geschlossenen Meinungsbildung und Stellungnahme zu gelangen. Damit aber mußte es praktisch zum Objekt jener Kräfte und Tendenzen werden, die in Zukunft die Entwicklung bestimmten, falls es nicht einer kraftvollen, energischen und zielbewußten Führungsspitze gelänge, dieses Konglomerat von Meinungen, Gefühlen und Vorstellungen zu seiner einheitlichen Die

Vgl. über ihn Kap. X, S. 467 ff., dieser Arbeit. Über Ott vgl. Sauer, S. 729 f., 734 f. 71 Vgl. Ludwig v. Hammerstein-Equord, nach dem General v. Hammerstein 1931 vor Offizieren gesagt hat: „Die Nationale Welle (des Nationalsozialismus) sei durchaus erfreulich, die Grenze läge aber da, wo sie anfange revolutionär zu werden ..." 78 Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht der Entwicklungsgang und die Laufbahn bis 1933 von Vincenz Müller, vgl. dazu : V. Müller, passim. 88

70

II. Die Reichswehr und die

nationalsozialistische

Machtergreifung

49

Willensbildung zu zwingen. Nur eine solche Führung hätte den Mangel an Einheitlichkeit und Geschlossenheit überwinden oder wenigstens kompensieren können. Das weitere Schicksal von Armee und Offizierkorps hing unter diesen Umständen in außergewöhnlichem Maße von wenigen maßgeblichen Männern an der Führungsspitze ab.

Es wird oft

übersehen, daß schon normalerweise in einem instrumentalisierten Funktions-

organismus wie den Streitkräften eine ganz kleine Personengruppe in den höchsten Führungsstellen die entsdteidenden Weichenstellungen vornimmt. Es gibt in einer Armee, die auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam aufgebaut und strikt hierarchisch gegliedert ist, keine von unten nach oben gehende, sich gegenüber der Spitze Geltung und politisches Gewicht verschaffende Willensbildung. Unterhalb der Spitze sind alle Instanzen weitgehend mediatisiert73. Gewiß ermöglichen es mannhafte Vorstellungen, fachlich begründete Opposition sowie Ausnutzung partieller Befehlsbefugnisse, des Beschwerdewegs und des immer gegebenen Ermessensspielraumes den Mittelinstanzen, etwa den Kommandierenden Generalen und Wehrkreisbefehlshabern, die Willensauswirkungen der Spitze bis zu einem gewissen Grade zu paralysieren oder ihnen gar entgegenzuwirken immerhin setzt dem die grundsätzliche Auswechselbarkeit und damit die Abhängigkeit der Instanzenträger eine Grenze. Das sind negative Einwirkungsmöglichkeiten sehr begrenzter Art. Sie können im günstigen Fall einen temporären Immobilismus zur Folge haben. Sie sind aber abhängig von der persönlichen wie politischen Stärke oder Schwäche der jeweiligen Funktionsträger. Ein bestimmender Einfluß positiver Art auf die Politik der Führungsspitze einer Armee ist normalerweise kaum oder nur sehr schwer möglich; noch weniger gibt es unterhalb der Führungsspitze eine Repräsentanz derartiger Willensäußerung. Das im militärischen Be-

reich oft erstaunlich intensive Räsonieren und der partielle, aber sehr relative Ermessensspielraum, der nur zu oft den Anschein eines tatsächlich gar nicht vorhandenen Einfluß- und Freiheitsraumes vermittelt, verdecken diesen Tatbestand lediglich. Aus diesen prinzipiellen Gründen, die in der damaligen Lage angesichts der Uneinheitlichkeit und Zwiespältigkeit des Offizierkorps noch besonderes Gewicht bekamen, hingen Weg und Schicksal des Heeres in außergewöhnlichem Maße vom Persönlichkeitswert, von Vorstellungen und Handlungen der Männer ab, die zu jener Zeit derartige Schlüsselstellungen innehatten. Sie bestimmten den Kurs der Armee; an ihnen lag es weitgehend, wie die Konfrontation der bewaffneten Macht mit dem so neuartigen Phänomen des totalitären Regimes sich entwickelte. Die entscheidenden Männer waren der neue Reichswehrminister, General der Infanterie v. Blomberg74, und sein engster politischer Berater, der Chef des Ministeramtes Oberst v. Reichenau75. Bis heute sind die Vorgänge, die zur Ernennung Blombergs durch den 73 Und zwar aufgrund der strafferen Disziplin und der rigorosen Hierarchie in weit Maße als beispielsweise bei Behörden, Verwaltungskörperschaften etc.

Blomberg, geb. 1878. Reichenau, geb. 1884, zuvor Oberst i. G. und Generalmajor, am 2. 2. 33 Chef des Ministeramtes.

74

Werner

v.

75

Walter

v.

1. 2. 34 t

größerem

Chef des Stabes im Wehrkreis I, ab

50

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

Reichspräsidenten geführt haben, noch nicht gänzlich geklärt76. Ob bereits frühzeitig gewisse Konsultationen mit Hitler über die Person des neuen Reichswehrministers stattgefunden haben77, läßt sich nicht schlüssig nachweisen. Sicher ist allerdings, daß alle in Erwägung gezogenen Kandidaten78, trotz mehr oder weniger bezeigter Reserve, grund-

sätzlich dem Nationalsozialismus wohlwollend, mindestens aber nicht ablehnend gegenübergestanden haben. Auch waren alle Kandidaten Gegner der Richtung Schleichers, worin das Bestreben Hindenburgs zum Ausdruck kam, mit dessen Methoden „Schluß zu machen"79. Blomberg hatte sich 1929 mit Schleicher überworfen, und zwischen beiden herrschte eine starke gegenseitige Abneigung80. Für eine Beauftragung Blombergs sprach zudem in den Augen des Reichspräsidenten, der das Reichswehrministerium unbedingt in den Händen eines aktiven Offiziers sehen wollte, das weltmännisch-verbindliche Auftreten des Generals sowie die Tatsache, daß dieser sich als Delegierter bei der Abrüstungskonferenz in Genf auch Erfahrungen auf dem politischen Parkett erworben hatte. Jedoch gibt es ebenso Anzeichen dafür, daß der damalige Oberst v. Reichenau, welcher über mannigfaltige Kontakte sowohl zu den Nationalsozialisten als auch zur Umgebung des Reichspräsidenten verfügte, bei Hitler die Kandidatur Blombergs gefördert hat81. Man wird daher wohl der Ansicht Krausnicks zustimmen können, daß die Beauftragung Blombergs „ein für Hitler günstiger Kompromiß" gewesen sei82. Hitler ging auf Hindenburgs Wunsch ein, einen politisch nicht festgelegten, aktiven Offizier zu ernennen. Andererseits bewahrte ihn die Berufung Blombergs, der in Ostpreußen als Wehrkreiskommandeur mit der NSDAP in Grenzschutzfragen gut zusammengearbeitet hatte, vor einer Wiederkehr Schleichers oder eines Offiziers streng konservativer Richtung83. Indessen bedeutete die Ernennung Blombergs zum Reichswehrminister für Hitler doch mehr, wie sich sehr bald herausstellen sollte. Er fand in dem General einen nach Charakter und geistiger Struktur nahezu idealen Partner für die Realisierung seiner politischen Absichten bezüglich der bewaffneten Macht. Blomberg war ein gewiß vielseitig begabter und interessierter Offizier, ein Mann von besonders verbindlichem Wesen und ausgeprägter Anpassungsfähigkeit84. Aus einer Offizierfamilie stammend, hatte er über Kadettenkorps, Truppen- und Dazu Bracher, Stufen der Machtergreifung, S. 45 ff. und 58 ff., sowie Sauer, S. 708. Wie Sauer, S. 711, vermutet. 78 Vgl. die ebd. genannten Persönlichkeiten. 78 Franz v. Papen, Der Wahrheit eine Gasse, München 1952, S. 271 und 275. 80 Foertsch, S. 29, und Sauer, S. 713. 81 Keitel, S. 60, Anm. 13, und Foertsch, S. 29. Über Reichenaus Beziehungen zu Hitler vgl. „Hitlers Brief an Reichenau vom 4. Dezember 1932", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7 (1959), S. 429 ff. Wenn Fest, S. 321, meint, die Reichswehr, „zumindest an ihrer Spitze", habe 1933 eher „ein Bild der Verwirrung und des Zwiespaltes" gezeigt, so mag das hinsichtlich des Zwiespaltes des politisch-geistigen Profils des Offizierkorps allgemein wohl zutreffen. Verwirrung an der Spitze aber ist schwerlich feststellbar. Eine Ausnahme ist vielleicht der Kreis um Schleicher. 82 Krausnick, Vorgeschichte, S. 211. 83 Nach Joachim v. Stülpnagel, S. 253, soll Admiral Raeder ihn, Stülpnagel, damals als Reichswehrminister vorgeschlagen haben. 84 Zur Charakteristik Blombergs vgl. Sauer, S. 713 f.; Foertsch, S. 30, und George Castellan, Le Réarmement Clandestin du Reich 1930-1935, Paris 1954, S. 86 und 436. 76

77

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

51

Generalstabsdienst eine erfolgreiche Karriere gemacht. Schon als Chef des Truppenamtes (1927-1929) sah man in ihm einen der Kandidaten für den Posten des Chefs der Heeresleitung. Vom Fachlichen her besaß er gewiß die Qualifikation für sein neues Amt. Indessen hatte er nie als starker Mann gegolten. Die problematische Seite seiner Anpassungsfähigkeit und seiner vorurteilsfreien Aufgeschlossenheit waren ein leicht entzündbarer, allem Neuen zugewandter Geist, eine spürbare seelische Labilität und Beeinflußbarkeit sowie ein schwärmerischer Romantizismus, der seine intellektuellen Fähigkeiten weitgehend nicht zur Auswirkung kommen ließ. Begeisterung, Hingabe und Wunschdenken lagen ihm wohl mehr als nüchternes Kalkül und leidenschaftslose Analyse. Generalfeldmarschall v. Rundstedt hat über ihn im Nürnberger Prozeß ausgesagt: „Blomberg war uns immer etwas fremd, er schwebte in anderen Regionen. Er war Anhänger der Steinerschen Richtung, etwas theosophisch usw. Es konnte ihn eigentlich niemand recht leiden8-5." Das ist gewiß etwas zu sehr aus der Rückschau des Jahres 1945 gesehen, wie denn Blomberg auch nach dem Kriege von vielen Offizieren als der Außenseiter, der der Hauptverantwortliche für die Auslieferung der Wehrmacht an Hitler gewesen sei, abgelehnt und kritisiert worden ist. Abgewogener ist das Urteil des Generalobersten Freiherrn v. Fritsch, der im Jahre 1938 Blombergs persönliche Liebenswürdigkeit und Verbindlichkeit rühmend, schrieb: „Ich schätzte Blomberg als Menschen sehr, wir waren, menschlich gesehen, fast befreundet." Aber auch Fritsch hielt mit seiner Kritik nicht zurück: „Dann aber wußte ich... wie schwer es ist, Blomberg als unmittelbaren Vorgesetzten zu haben Sein zu romantisch-phantastischen Auffassungen neigendes Wesen, was ihn vielleicht menschlich gesehen die Herzen gewinnen läßt, macht ihn zum militärischen Vorgesetzten wenig geeignet. Dabei ist er impulsiv, schwankend in seinen Auffassungen, immer nach Neuerungen strebend und jeder Beeinflussung von außen zugänglich86." Blombergs Ausruf, Hitler wirke auf ihn „wie ein ganz großer Arzt!"87 ist symptomatisch für eine aus seelischer Instabilität entspringende emotionale Gläubigkeit, die von einer irrationalen „Weltanschauung" und von einem vermeintlich charismatischen „Führer" nur allzu leicht erfüllt wurde88. Ein solcher Mann an der Spitze der Streitkräfte ist schon in ruhigen Zeiten problematisch, inmitten eines staatlich-politischen Umbruches muß eine derartige Besetzung des entscheidenden Kommandopostens unheilvoll werden. So ¡st es -

.

85 86 87

.

-

.

Zit. nach Foertsch, S. 30. Ebd. sowie Hoßbach, S. 69, 82, 108 f., 114 f. Rudolf Diels, Lucifer ante portas... Es spricht der

S. 278.

erste

Chef der

Gestapo, Stuttgart 1950,

Vgl. z.B. seine Ausführungen zum 20. Juli 1944 in seinen Erinnerungen: „Man war mit Goebbels wohl berechtigt, in den Geschehnissen des 20. 7. einen Griff der Vorsehung zu erkennen, der uns mehr nützen als schaden würde. Der wunderbare Schutz, der dem Führer zuteil geworden war, konnte uns eine gute Zuversicht geben, mochte das nun Mystik genannt werden oder nicht." Werner v. Blomberg, Lebenserinnerungen, Bd VI, S. 18 (BA/MA H 08-52/6). Aga Khan, der Blomberg auf der Genfer Abrüstungskonferenz kennen und schätzen lernte, berichtet, Blomberg habe die Repräsentanten der Republik verächtlich „winzige Zwerge" genannt. Die Verbindung von „doktrinärem Liberalismus und staatsmännischer Unzulänglichkeit" habe ihn ungeduldig gestimmt. (Aga Khan, Die Memoiren des Aga Khan, Welten und Zeiten, Wien-München-Basel 88

.

1954, S. 217 f.)

.

.

52

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

nicht verwunderlich, daß Hitler von seinem Standpunkt aus später, sogar noch nach Blombergs Sturz, dessen „Verdienste" für den nationalsozialistischen Staat rühmte89. Von ganz anderer Art war sein bisheriger Chef des Stabes, nunmehr sein neuer Chef des Ministeramtes, Oberst v. Reichenau. Ebenso hart und entschlossen, großzügig, bisweilen geradezu leichtfertig in seiner Entschlußfassung wie klug und geschmeidig im Vorgehen, glänzend begabt, vielseitig, insbesondere auch politisch interessiert, von robustem Ehrgeiz und einem durch moralische Bedenken kaum gebändigten Machtstreben, ein geistig wie körperlich sich beständig trainierender Willensmensch, dabei nicht ohne Charme, war er in fast jeder Hinsicht seinem Minister überlegen. Der einstige Leutnant der Gardeartillerie war frei von sozialen Vorurteilen als begeisterter Fußballsportler hatte er früh schon mit Arbeiterkreisen Fühlung gewonnen. Er brachte revolutionärer Dynamik Sympathie, bürgerlich-konservativen Vorurteilen Verachtung entgegen. Traditionelle Wertvorstellungen oder gar feudal-aristokratische Kategorien galten ihm im politischen wie im persönlichen Bereich nichts, dagegen waren ihm selbstsicheres Herrentum sowie eine gute Portion machiavellistischen Instinktes eigen90. Es ist demnach nicht verwunderlich, daß dieser Mann sehr rasch den Kurs des Ministeriums maßgeblich mitbestimmte. Schon frühzeitig hatte er Verbindung zum Nationalsozialismus bekommen91. In Ostpreußen hatte er enge Beziehungen mit dem Gauleiter und dem nationalsozialistisch eingestellten Wehrkreispfarrer Müller angeknüpft; er war auch mit Hitler in einen Briefwechsel92 eingetreten, in dem dieser ihm seine Politik ausführlich darlegte. Als dann Ende Januar 1933 eine Beauftragung Hitlers mit der Regierungsbildung akut wurde, scheint er wohl einen Augenblick lang die Hoffnung gehegt zu haben, selbst Reichswehrminister werden zu können. Er war aber zu klug und intelligent, um nicht sehr schnell zu erkennen, daß er damit zu hoch gegriffen hatte. Er begnügte sich daher mit dem Ministeramt, der politischen Schlüsselstellung. Wenn eine Reihe seiner einstigen Kameraden ihn einen überzeugten Nationalsozialisten genannt haben und dieses Verdikt auch teilweise in die Literatur eingegangen ist93, dann war das kaum zutreffend; es zeigt vielmehr, daß sie weder Reichenau noch den Nationalsozialismus recht erkannt hatten. Zweifellos schätzte er Hitler, ohne allerdings -

89

Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 285.

Vielen seiner Kameraden ist er nach Waldemar Erfurth, Die Geschichte des deutschen Generalstabes von 1918 bis 1945 Studien zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges Bd 1, GöttingenBerlin-Frankfurt 1957, S. 149 immer etwas suspekt erschienen. Wenn Keitel (S. 108) ihn Hitler gegenüber später folgendermaßen charakterisierte: „Nicht gründlich, nicht fleißig, Hans Dampf in allen Gassen, zu oberflächlich, wenig beliebt, ein Soldat, dessen Ehrgeiz auf politischem, nicht aber rein militärischem Gebiet Befriedigung sucht", dann steckt darin ebenso sehr eine Selbstcharakteristik e contrario von Seiten Keitels, wie es ein Symptom dafür ist, daß Reichenau eben in vielem ein Außenseiter gegenüber den „typischen" Offizieren war. Vgl. aber die neuesten Charakterschilderungen Reichenaus aus der Feder zweier dienstlich ihm längere Zeit naher Offi»o

-

=

-

ziere: Röhricht, passim sowie Smilo v. Lüttwitz, Soldat in drei Armeen, Lebenserinnerungen, I. Teil, ungedruckt, BA/MA H 80-10/9, fol. 98 ff. (fortan zit. Lüttwitz). 91 Vgl. Sauer, S. 714 f.; Krausnick, Vorgeschichte, S. 212, sowie Foertsch, S. 31. 92 Vgl. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7 (1959), S. 429 ff. 93 Vgl. Erfurth, S. 141; Foertsch, S. 31; Castellan, S. 86 f., sowie (mit vorsichtiger Einschränkung) Krausnick, Vorgeschichte, S. 212. Abgewogener dagegen Sauer, S. 715.

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

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für dessen Schwächen blind zu sein. Den Nationalsozialismus sah er wohl als eine Bewegung an, die dem „Geist der Zeit" entsprach. Den Willen zur Macht und die Dynamik dieses politischen Phänomens mag er als wesensverwandt empfunden haben. Indessen war er viel zu nüchtern, viel zu ehrgeizig und selbst machtstrebend, als daß er dem Nationalsozialismus in blinder Gläubigkeit verfallen wäre. Sein Verhältnis zum Nationalsozialismus blieb bei allem politischen Engagement stets von einer gewissen Distanz bestimmt94. Im Gegensatz zu der im letzten bloß emotional-gläubigen Hingabe Blombergs hatte Reichenau gewiß ein taktisch sehr viel sinnvolleres, politisch auch substantielleres, wenngleich recht bedenkenloses Konzept95. Er war der Überzeugung, daß die Zeit des exklusiven Abwartens endgültig vorbei sei. Eine politische Taktik wie zur Zeit der Weimarer Republik war unter den neuen Verhältnissen das sah er ganz klar in keiner Weise mehr möglich. Ihm war klar, daß wenn Hindenburg einmal nicht mehr sein würde die Reichswehr auf sich selbst gestellt wäre; über ihr Eigengewicht machte er sich keine übertriebenen Illusionen96. Einer seiner engsten Mitarbeiter legt ihm folgende Worte in den Mund, die wohl zutreffend seine Gedankenrichtung wiedergeben97: Der ganze Staat Und da sollen wir, mit unseren veralteten, über das „befindet sich in fester Hand ganze Land verstreuten sieben Divisionen als einzige eine Extratour tanzen? Das können sich nur Narren einbilden! Wir sind gewohnt, nüchtern mit Tatsachen zu rechnen. Wunschträume gehören in die Literatur_Uns bleibt praktisch nur der Weg, aus den gegebenen Verhältnissen die Folgerungen zu ziehen." Er glaubte, daß die Reichswehr eine bevorzugte und machtvolle Stellung im neuen Staat einnehmen und so Einfluß gewinnen könne, wenn es gelänge, ein enges Verhältnis zwischen Hitler und der bewaffneten Macht herzustellen. Nur dann könne man die drohende Konkurrenz von Parteiseite, vor allem auch der SA, ausstechen, nur dann werde die Armee nicht auf die Seite gedrängt: „Selbst der verbohrteste Reaktionär wird heute nicht erwarten, daß wir das Rad der Geschichte zurückdrehen. Unser Weg geht nach vorn, das heißt also: Hinein in den neuen Staat und dort die uns gebührende Position behaupten. [Daher] betrachte ich es als meine Aufzu er gabe, engsten persönlichen Kontakt halten, wie in einer Diktatur wesentlicher ist als alle Arbeit der Ministerien98." So pflegte er ohne übertriebene Scheu häufig in der Reichskanzlei und in Hitlers „Hofstaat" zu erscheinen, selbstsicher gegenüber der Rotte von „alten Kämpfern"99. Daß es mit einer solchen Taktik allein jedoch nicht getan war, sah er -

-

-

-

...

...

...

Blomberg, Lebenserinnerungen, Bd V, S. 70, schreibt: „...seine politische Überzeugung war elastisch..." Im übrigen wird man jedoch jene Zeugnisse (vgl. Sauer, S. 715) nidit übersehen dürfen, in denen berichtet wird, daß Reichenau erschreckt über Konsequenzen der Hitlerschen Politik sich später von diesem abgewandt haben soll (vgl. Foertsch, S. 32). 95 Aufschlußreiche Äußerungen Reichenaus darüber bei Röhricht, S. 42 ff. und passim (Röhricht war ein langjähriger Mitarbeiter Reichenaus im Minister- bzw. Wehrmachtamt). 94

Ebd. S. 11. Ebd. S. 42 ff. 98 Ebd. S. 44 (Hervorhebung vom Verf.). 99 Vgl. dazu Lüttwitz, fol. 101 ff. Im übrigen hat es den Anschein, daß Blombergs und Reichenaus gutes Verhältnis zu Hitler im höheren Offizierkorps durchaus mit Befriedigung zur Kenntnis genommen worden ist. Vgl. Weichs, Die Stellung des Offizierkorps, fol. 17. 96 97

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

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Machtergreifung

auch. Das angestrebte vertrauensvolle Verhältnis zu dem letztlich ausschlaggebenden Diktator war allerdings nicht erreichbar, ohne daß die Armee sich dem neuen Geist öffnete. Dazu war er, weder von traditionellem Ballast gehemmt noch überkommenen Wertnormen innerlich verbunden, in seiner zupackenden Art100 bereit wie sich bald zeigen sollte, sogar sehr weitgehend bereit. Vom Ansatz wie vom Motiv her wird man diese politische Linie noch nicht unbedingt als eine Selbstgleichschaltung bezeichnen dürfen. Ging sie doch der Intention nach grob gesagt dahin, die nationalsozialistische Bewegung für die Interessen der Armee einzuspannen. Reichenau hatte keineswegs die Absidit, die Armee „in der braunen Flut" untergehen zu lassen, ganz im Gegenteil. Die von ihm konzipierte politische Taktik hatte allerdings ein inneres Schwächemoment. Gewiß, er hatte erkannt, daß nicht konventionelle ministerielle Arbeitsmethoden, lediglich ruhig-sachgerechte Rcssortarbeit, sondern nur persönliche Präsenz und beständiges Sicheinschalten unter den Gegebenheiten einer Diktatur Einfluß eröffneten und bewahrten das haben, wie bald offenkundig wurde, Hitlers konservative Koalitionspartner, die Hugenberg, Gürtner, Schwerin-Krosigk usw. nie begriffen. Aber genügte dies für den, der keine festgefügte Hausmacht oder keine im entscheidenden Augenblick gewichtig genug erscheinende Macht hinter sich hatte? Würde nicht der Organismus der Armee eben durch die für diese Politik erforderliche Öffnung gegenüber dem „neuen Geist" langsam geschwächt werden? Außerdem wird persönliche Kontaktnahme häufig im Effekt überschätzt und Vertrauensverhältnisse können im politischen Bereich sehr rasch abkühlen. -

-

-

-

Vor allem:

seine

Operationsbasis tragfähig genug? Seine Position im Offizierkorps keineswegs unbestritten, das Korps selbst auch alles andere als geschlossen. Obendrein das erkannte er wohl selbst würde auch der greise Reichspräsident, der ihm nicht besonders gewogen war, nicht mehr lange als Schirmherr der Armee zur Verfügung war

war

-

-

stehen. Indessen war die Methode des Mitmachens, des Sidi-Einsdialtens und der faktischen Konzession ohne viel Skrupel und Bedenken noch keine Politik, es war lediglich eine politische Taktik101. Das politische Ziel, das er anstrebte, unterschied sich allerdings im Kern kaum

Vgl. Röhricht, S. 37. Für Blomberg dagegen scheint das, was bei Reichenau politische Taktik war, bereits der Sinngehalt seiner „Politik" gewesen zu sein: In seiner naiven „Gläubigkeit" und Hingabebereitschaft wollte er die Armee im Nationalsozialismus, nicht allerdings in der Partei, aufgehen lassen. Er hatte jedoch keinerlei reflektierte konkrete Vorstellung, was das bedeutete. Demaskierend für Blomberg sind die unscharfen, wolkigen Formulierungen in seinen Erinnerungen (Bd VII, S. 10): „Diese [reaktionäre] Geisteshaltung war im Heer recht verwurzelt. Sie mochte nach dem Ersten Weltkrieg, wo Seeckt ihr Vertreter war, am Platz gewesen sein, aber nach 1933 mußte ein anderer Standpunkt gegenüber dem Staat und seinen Lebensformen eingenommen werden." Das ¡st die Herrschaft der Phrase! Was heißt „reaktionäre Geisteshaltung", was heißt „ein anderer 188

101

Standpunkt" und welches

waren

die „Lebensformen" des

neuen

Staates? Wie unbekümmert und

Blomberg in resignierender Bereitwilligkeit die Armee aufzugeben bereit war, zeigen seine Aufzeichnungen von Mitte bis Ende 1944 (ebd. S. 5): „Es war ganz eigen zu beobachten, wie der Gang der Ereignisse immer mehr Macht der SS in die Hand gab. Seit langem schon war mir diese Entwicklung als zwangsläufig erschienen", sowie folgender Satz: „Zu meiner Zeit bestand in einem Teil der Generalität eine starke Abneigung der SS, die mir damals schon als unzeitgemäß naiv

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

55

von den gängigen Vorstellungen des Offizierkorps: Bewahrung der gewiß relativen, aber doch nicht substanzlosen Machtposition der Reichswehr als eines gewichtigen Hortes der Ordnung sowie Erhaltung bzw. Erlangung einer einflußreichen Position im neuen Staat102. Dahinter stand jedoch nicht nur ein krasser Interessenegoismus103 wenngleich die Erinnerung an die privilegierte Stellung der Armee unter der Monarchie durchaus noch weiterwirkte dahinter stand vielmehr die Zielvorstellung, daß Deutschland wieder ein im Inneren erstarkter, nach außen im Konzert der Nationen respektierter und nicht zu übersehender Machtfaktor werden müsse, und zwar unter maßgeblicher Beteiligung und Mitwirkung der Armee. In dieser Hinsicht stimmte er mit der in der Masse des Offizierkorps herrschenden politischen Tendenz überein. Er dachte diesbezüglich allerdings klarer und beurteilte die allgemeine Lage und die daraus resultierende Konsequenz im taktischen Bereich illusionsloser. So läßt sich seine Politik im Kern ebenfalls auf das Konzept des nationalistischen Machtstaates reduzieren. Insofern war auch der von vielen seiner Kameraden als Außenseiter empfundene Reichenau ein Exponent des Offizierkorps. Das Konzept wird man gewiß nicht in unhistorischer Anwendung heutiger Maßstäbe und Wertvorstellungen a priori disqualifizieren dürfen. Fraglos entsprach es einer starken Willensströmung innerhalb breiter Kreise der Nation, die bis in die Schichten der einstigen Repräsentanten und Anhänger der Weimarer Republik sich erstreckte. Hinter der auch von den Weimarer Parteien vertretenen Forderung104 nach Revision des „Diktates von Versailles" stand doch auf weite Strecken auch nichts anderes als der Wille, den Verlust der deutschen Großmachtstellung in irgendeiner Form rückgängig zu machen, stand die Auflehnung gegen die innerlich nicht als unwiderruflich akzeptierte historische Entscheidung von 1918. Insofern dachte das Offizierkorps wie die Majorität der Nation. Im Kern seiner Politik stimmte Reichenau sicher mit den Zielvorstellungen des OffizierWorin überein. er sich von der insbesondere der älteren, den konserkorps Masse, jedoch -

-

und ungerecht erschienen war." (Hervorhebung vom Verf.) (Ebd. S.U.) Hier wird deutlich, das zwischen der in diesen Sätzen zum Ausdruck kommenden Geisteshaltung und der Konzeption Reichenaus Welten liegen. Deutlich wird aber auch, welch zersetzende Wirkung diese irrationale Gläubigkeit auf den Intellekt und die rationale Einsicht hat. 102 Im Gegensatz zu Blombergs unreflektierter Tendenz, die Armee im „neuen Staat aufgehen" zu lassen, kommt Reichenaus taktisches Konzept des konzessionsbereiten Mitmachens zur Erhaltung und Festigung der Machtstellung der Armee, das gleichzeitig ein ebenso entschiedenes Absetzen, wo erforderlich, beinhaltete, in seinen Worten als kommandierender General in München zum Ausdruck: „Wir haben es nicht nötig, den Soldaten zum Nationalsozialisten zu machen." (Besprechung vom 25. 11.35, 7. Div. V/Ia 3265/35 gKdos; MGFA/DZ WK VII, 1343.) Hier zeigt sich, daß Reichenau mitnichten daran dachte, die Armee in der „braunen Flut" versinken zu lassen! Man darf allerdings in den aufgezeigten Auffassungsnuancen zwischen Blomberg und Reichenau nicht zwei verschiedene Konzepte sehen. Dazu waren schon Blombergs Vorstellungen viel zu unscharf. In der Praxis dominierte Reichenaus Einfluß offenkundig. 103 £>:e Formulierung von Fest, S. 235 („Element eigensüchtiger Berechnung"), ist, unseres Eraditens nur partiell zutreffend, zu undifferenziert. 194 Vgl. hierzu die bei Ernst Deuerlein, Zur Vergegenwärtigung der Lage des deutschen Katholizismus 1933, in: Stimmen der Zeit, 168 (1960/61), S. 5 ff. zitierten vielfachen Belege sowie seine kontroversen Ausführungen zu Bracher-Sauer-Schulz auf S. 7.

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

56

Machtergreifung

vativ-traditionellen Denkschemata noch verhafteten Offizieren unterschied, war die politisdie Taktik, mit der er dieses politische Ziel zu erreichen trachtete: seine Methode des Sich-Einschaltens, des „Hinein-in-den-Neuen-Staat", der taktisch motivierten Konzessionen, des unbekümmerten Abwerfens dessen, was er als Ballast, was zahlreiche seiner Kameraden jedoch als traditionelle Werte ansahen. Er teilte mit ihnen allerdings auch die illusionäre Einschätzung der Person Hitlers, dessen Absichten er wenigstens eine Zeitlang wie sie als auf die Errichtung eines nationalistischen Machtstaates gerichtet mißverstand105. Indessen unterschied er sich in einem wesentlichen Punkt auch hierin von ihnen. Die Masse der älteren Offiziere mißverstand die Hitler-Bewegung als ein restaurativ-konterrevolutionäres Element. Gewiß trug der Nationalsozialismus konterrevolutionäre Züge, er war aber keineswegs restaurativ im Sinne ihrer Intentionen. Demgegenüber hatte Reichenau die klarere Einsicht in die Veränderlichkeit der Welt; er hatte erkannt, daß man „das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen" könne. Vor allem und darin unterschied er sich von vielen seiner Kameraden bejahte er „das Neue und Umwälzende"106. Jenen jüngeren Offizieren, die wie wir sahen einem vagen, unklar auf „Das Neue" gerichteten Pathos der Zukunft huldigten, hatte er das nüchterne Kalkül voraus, das ihn, im Gegensatz zu jenen, zu konkretem politischen Handeln befähigte. Im Ziel der Politik war er sich also mit der Masse seiner Kameraden und Standesgenossen im großen einig: Schaffung eines nationalistischen Machtstaates und Erringung einer ausschlaggebenden Position für die Reichswehr in einem solchen Staat. In der dabei anzuwendenden Methode und Taktik Mitmachen, Einflußgewinnen, auch wenn dazu Konzessionen weitgehender Art erforderlich würden unterschied er sich von ihnen grundlegend. In dieser Hinsicht wurde im Laufe der Entwicklung die Heeresleitung, an ihrer Spitze der allgemein als Exponent der konservativen Kräfte der Armee angesehene General Freiherr v. Fritsch107, sein Gegenspieler. Dieser stand ihm mit seiner altpreußischen Korrektheit, christlichen Substanz und Strenge überaus fern und war ihm durch starren Traditionalismus108 und politische Naivität in keiner Weise gewachsen. -

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Vgl. beispielsweise Halders Formulierung in einem Brief an Beck vom 6. 8.1934 (Foerster, f.), in dem Halder von dem „reinen und von idealistischem Schwung getragenen Wollen des Kanzlers" sprach; oder Fritschs Worte in seiner Aufzeichnung vom 1.2.38 (zit. mit Auslassungen bei Hoßbach, S. 68 ff.). Für Reichenau vgl. Röhricht, S. 44, wo dieser Reichenaus Worte über Hitler aus dem Herbst 1933 überliefert: er habe die „Gewißheit, daß dieser ungewöhnliche Mann... seinen klaren Weg geht zu dem Ziel, einen Staat zu schaffen, der sich wieder achten kann und auch von den Nachbarn draußen, die in den letzten Jahren Schindluder mit uns getrieben haben, respektiert werden muß." 106 Vgl. dazu die tiefschürfenden Ausführungen bei Karl Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, Weimar 1955, S. 8, wo G. davon spricht, dieser Begriff setze „eine Einsicht in die Veränderlichkeit der Welt" sowie „auch eine Wertschätzung des Neuen und Umwälzenden voraus." ios

S. 27

General d. Artl. Werner Frhr. v. Fritsch, geb. 1880. Ab 1.2.34 als Nachfolger Hammersteins Chef der Heeresleitung. Seit 1.6.35 Oberbefehlshaber des Heeres (ObdH), seit 1.4.36 Generaloberst. (Vgl. auch S. 76 ff. und Anm. 211 dieses Kapitels.) 108 Vgl. dazu Lüttwitz, fol. 91-92, wonach Fritsch sich außerdienstlich als „kein Freund von Rundfunk und Motorisierung" bezeichnet und gemeint habe, „ihm persönlich wäre es jedenfalls lieber, wenn wir von diesen fatalen technischen Errungenschaften verschont geblieben wären." 107

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

57

Fritsch verfolgte wie noch zu zeigen sein wird eine andere Methode: Abschirmung des Heeres durch grundsätzliche Abstinenz gegenüber „der Politik" und Abwehr aller Einmischungstendenzen von Seiten der Partei, jedoch bei grundsätzlicher, aufrichtiger Anerkennung des neuen Regimes und persönlicher Reverenz gegenüber dem Kanzler109. -

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Konzeptionen Fritschs Neuauflage der Abschirmungskonzeption Seeckts, dem neuen Regime gegenüber nun mit positivem Gehalt erfüllt, sowie Reichenaus „Öffnungs-

Beide

-

Politik" reflektieren nur erneut das Dilemma einer Armee, die mit dem Zerfall der Monarchie ihre sinngebende Mitte verloren hatte und sich einer zwar extrem nationalistischen, aber antikonservativen Bewegung gegenübersah. Läßt man vorerst einmal die Kategorien politischer Moral beiseite110, so wird man fraglos eingestehen müssen, daß das methodische Konzept Reichenaus das den neuen Verhältnissen und dem Wesen des nationalsozialistischen Regimes angemessenere taktische Verhalten gewesen ist. Fritschs distanzierte Defensive und Abschirmungstendenz war die bei weitem „schwächere Kampfform", da ein, jedenfalls der Intention nach, unverändert gehaltenes instrumentales Organ inmitten einer grundlegenden Umwälzung aller anderen staatlichen Bereiche und politischen Faktoren notwendig einen fortschreitenden Machtverlust erleiden mußte. Dies war um so zwangsläufiger, je stärker die Verkennung des Totalitätsanspruches des Regimes seitens der Heeresleitung war. Nicht zu Unrecht stellt später General Hoßbach, einst Chefadjutant der Wehrmacht bei Hitler, fest, daß Fritschs auf die Defensive gerichtete Politik auf die Dauer doch wohl nidtt erfolgreich durchzuhalten gewesen sei111. Angesichts dieses Verlaufs der Entwicklung drängt sich doch die Erwägung auf, ob nicht Reichenaus politisches Konzept wenigstens vom taktischen Ansatz her angemessener war. Es war allerdings auch waghalsiger und unbedenklicher. Daß er damit scheiterte, und zwar noch bevor Fritschs Methode sich als unbrauchbar erwiesen hatte, muß nicht gegen die Originalität seines Konzeptes, gleichsam den Teufel durch einen Pakt mit Beelzebub austreiben zu wollen, sprechen112. Es stellte jedenfalls -



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vom Verf.) Gen.-Oberst a.D. Halder aber betonte (Mitteilung vom 10. 11.1965 das MGFA), daß Fritsch für technischen Fortschritt schon aufgeschlossen gewesen sei. 109 Vgl. Fritschs Aufzeichnungen vom 1.2.38 (bei Hoßbach, S. 68), in denen der ObdH schrieb: „Ganz unabhängig davon, daß die Grundlage unseres heutigen Heeres nationalsozialistisch ist und sein muß, kann ein Eindringen parteipolitischer Einflüsse in das Heer nicht geduldet werden." „Ich bin dem Führer überhaupt von ganzem Herzen dankbar für das große Vertrauen, das er mir stets entgegengebracht hat." (Letzter Satz aus derselben Aufzeichnung Fritschs ist bei Hoßbach nicht zitiert; entnommen BA/MA H 08-28/3: Beck Nachlaß). Vgl. auch die Ausführungen bei Hoßbach, S. 107 f. 110 Damit soll keineswegs einer wertungsfreien oder gar wertfreien Geschichtsschreibung, die nach der Natur des Menschen schon ein Unding ist und auch der Aufgabe des Historikers nicht entspricht, das Wort geredet werden. Der Historiker sollte aber andererseits auch nicht durch allzu vorzeitiges Ins-Spiel-Bringen seiner eigenen politischen Moral bzw. seines politischen Wertsystems sich den Erkenntnisprozeß verkürzen oder erschweren. 111 Vgl. Hoßbach, S. 174: „Ihre [d.h. der Heeresleitung] Aufgabe war eine erhaltende, also eine konservativ-defensive! Gegen den amtlichen Kurs des Führers und des Kriegsministers war sie mit Erfolg auf die Dauer in der Defensive nicht zu lösen." 1,2 Die These von Carsten, S. 458: „...die Reichskanzlerschaft Hitlers brachte der Reichswehr

(Hervorhebung

an

.

.

.

...

58

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

und das sollte nicht übersehen werden eine nicht von vornherein aussichtslose Alternative dar. Eine Kritik, die vom Endeffekt her urteilend darin einfach eine „Selbstgleichschaltung" sieht, vereinfacht mit ihrer Mißachtung von Ausgangslage, Motivation und Zielvorstellung dieser Konzeption den Tatbestand in unzulässiger Weise. Reichenaus Scheitern war im übrigen nicht zuletzt darin begründet113, daß diese Politik einzig und allein auf seinen Schultern lag, daß ihm die führende Generalität, insbesondere die Heeresleitung, auf seinem Weg weitgehend nicht folgte. Daß eine grundsätzliche Defensive der Armee auf die Dauer nutzlos sein würde, hatte er erkannt; daß jedoch die konservativen Kräfte, wenngleich nicht zu positiver Politik fähig, dennoch ein Beharrungsvermögen zu entwickeln vermochten, das zu seinem eigenen Scheitern beitrug, das hatte er nicht einkalkuliert. Insofern hatte er sich in einer der Grundvoraussetzungen seiner Politik verrechnet. Zum anderen gelang es ihm nicht, seinen persönlichen Einfluß bei Hitler auf die Dauer zu stabilisieren, so daß er und die Armee die angestrebte einflußreiche Position nicht einnehmen konnten. Zudem hat er sich wohl auch durch den Druck äußerer Entwicklungen wie infolge mangelnden politischen Augenmaßes bisweilen in eine Richtung drängen lassen, die sehr problematisch war. Im Verlauf dieser für ihn negativen Entwicklung mußten dann alle taktischen Konzessionen an den „neuen Geist", alle bedenkenlosen Vorleistungen ein verhängnisvolles Eigengewicht bekommen. Gedacht als raffiniertes Instrumentarium zur Festigung der Stellung der Armee im neuen Staat, wurden sie mit dem Scheitern dieser Politik zu verhängnisvollen Einbrüchen. Es trat damit genau das Gegenteil seiner Absichten ein; seine Risikopolitik erwies sich als Bumerang. Der Mißerfolg gab ihm Unrecht. So wurde er einer der Totengräber der Armee. Vor einer Darstellung der Politik jener von Blomberg und Reichenau repräsentierten obersten Spitze der Reichswehr ist es angebracht, die Persönlichkeit, ihr Gewicht und ihre Möglichkeiten kurz zu betrachten, der eine Ebene unterhalb der obersten Spitze der Gesamtstreitkräfte die Verantwortung für die Führung des Heeres oblag. Im Rahmen des hierarchischen Aufbaus des militärischen Organismus besaß sie kraft ihrer amtlichen Stellung mehr als alle anderen höheren Offiziere noch gewisse Einflußmöglichkeiten auf die Politik der Reichswehrspitze114. Chef der Heeresleitung war seit dem 1. Oktober 1930 der General der Infanterie Kurt -

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die Verbindung, wenn nicht zur Nation, so doch zu einem großen Teil derselben, den Rückhalt im Volk, der für sie so wichtig war. Aus diesem Grunde entschieden sich General v. Blomberg und Oberst Reichenau für Hitler." (Hervorhebung vom Verf.), scheint mir die Dinge doch erheblich zu vereinfachen, zumal der Verfasser in diesem Punkt auf Belege verzichtet. 113 Ein weiterer Grund war zweifellos die Versetzung von Berlin nach München, wo er ab Oktober 1935 Kommandierender General wurde. Die Gründe dieser Versetzung eigener Wunsch nach Karriere oder bewußte Entfernung aus der Zentrale sind nicht klar zu erkennen. Sein Nachfolger Keitel soll immerhin von Fritsch für diesen Posten ausersehen worden sein (Keitel, S. 79 f.). Das könnte darauf hindeuten, daß sich vielleicht die Heeresleitung zur Eliminierung Reichenaus mit eingeschaltet hatte. 114 Dazu allgemein Friedrich Hoßbach, Die Entwicklung des Oberbefehls über das Heer in Brandenburg, Preußen und im deutschen Reich von 1655 bis 1945, Würzburg 1957, passim (fortan zit. Hoßbach, Oberbefehl). -

-

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Freiherr

Machtergreifung

59

Hammerstein-Equord115. Er wird als kluger, sehr begabter Generalstäbler geschildert, dem Zivilcourage ebensowenig fehlte wie Grundsatztreue. Skeptisch und spöttisch, kühl und überlegen mit einer erheblichen Portion grandseigneuraler Lässigkeit v.

machte er wie General Adam einmal gesagt hat116 nie einen Hehl daraus, daß ihn das rein Militärisch-Handwerkliche nicht sehr interessierte117. So machte er auf manchen Betrachter den Eindruck, daß ihm „eine ungewöhnliche Abneigung gegen normale Arbeit" eigen sei118. Übereinstimmend wird berichtet, daß er von Anfang an ein kompromißloser Gegner des Nationalsozialismus gewesen sei119. Allerdings wurden alle jene enttäuscht120, die von diesem „Mann ohne Nerven" in irgendeiner Weise erwartet hatten, er könne -

unter

Umständen

-

zum

Reichswehrspitze oder

Gegengewidit gegen die pronationalsozialistische Politik der zum Kristallisationspunkt einer oppositionellen Bewegung

gar

gegen den Nationalsozialismus im Heer werden121. Trotz politischer Weitsicht und absoluter Ablehnung des Nationalsozialismus blieb er passiv. Er hatte schon gleich nach dem 30. Januar 1933 erwogen, sofort seine Entlassung zu erbitten, blieb aber wie überliefert wird auf Zureden seines Freundes und einstigen Regimentskameraden Schleicher im Amt122. Vielleicht hatte er für eine kurze Zeitspanne -

-

115

Hammerstein-Equord, geb. 1878, ausgeschieden. Vgl. Ludwig v. Hammerstein-Equord. Kurt

v.

Generaloberst 116

117

Das schloß nicht aus, daß

er

ab 1.10.30 Chef der

Heeresleitung,

das Handwerkliche seines Berufes sehr gut

am

1.2.34 als

beherrschte, vgl.

witz, fol. 24-27; allgemeiner Manstein, S. 108 f. Foertsch, S. 32 f., und Kunrat

v.

Lütt-

Hammerstein,

Spähtrupp, passim. 1,8 Vgl. Foertsch, S. 26 ff., und das bei Ludwig v. Hammerstein-Equord zit. Wort des Chefs d. Heeresleitung zu seinem Adjutanten, dem späteren General Kuntzen: „Machen Sie sich frei von Kleinarbeit. Dazu halten Sie sich einige wenige kluge Leute. Lassen Sie sich aber viel Zeit, sich Gedanken zu machen und sich vor sich selbst ganz klar zu werden. Sorgen Sie dafür, daß Ihre Gedanken ausgeführt werden. Nur so können Sie richtig führen." Darin kommt vielleicht das Motiv der Distanz Hammersteins zur täglichen Kleinarbeit zum Ausdruck. 119 Dazu Foertsch, S. 32 f., und Ludwig v. Hammerstein-Equord; differenzierter Sauer, S. 707 und 733 f. Vgl. Hans Rothfels, Die deutsche Opposition gegen Hitler, eine Würdigung, Hamburg 1958, S. 72.

Ludwig v. Hammerstein-Equord berichtet, gestützt auf ein Zeugnis des Generals Adam, dieser habe Hammerstein noch nie so erregt gesehen wie am 30. 1.33; er habe vorausgesehen, daß es bei Hindenburgs Alter und Blombergs Einstellung äußerst schwierig sein werde, Hitlers Plänen entgegenzutreten. Lüttwitz, fol. 83, schreibt, daß er „seine Ablehnung der NS-Bewegung... schon immer sehr klar zum Ausdruck gebracht" habe. Nach den Herbstmanövern 1933 habe er bereits im Beisein sogar von ihm nicht nahestehenden Persönlichkeiten nur noch „von der Verbrecherbande und den Schweinigels" gesprochen. 121 Der Chef der Marineleitung, Admiral Raeder, war seiner Grundeinstellung nach alles andere als geeignet, Hammerstein aus seiner fatalistischen Passivität herauszureißen. Er war ein Fanatiker 120

der Korrektheit, der absoluten Loyalität und Unterordnung, zudem voller Ressortegoismus: vgl. seine Memoiren: Erich Raeder, Mein Leben, Tübingen 1956, Bd I, S. 222, 272, 289, und Bd II, S. 107, 109, 133; Arthur Marthiessen, Hitler and his Admirals, London 1948; Walter Baum, Marine, Nationalsozialismus und Widerstand, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 11 (1963), S. 16 ff. 122

Ebd.

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

60

Machtergreifung

noch die Hoffnung, irgendeinen Einfluß auf die Entwicklung nehmen zu können. Aber nicht nur die Begrenzungen durch seine persönliche Eigenart, sondern wohl auch eine tiefere Einsicht in die sehr eng gezogenen Grenzen der ihm noch verbleibenden Möglichkeiten ließen ihn in einer sehr weitgehenden Passivität verharren. Er sah wohl zu deutlich, daß er bei dem noch ungebrochenen Vertrauen des Reichspräsidenten zu Blomberg und Hitler, bei seinen eigenen gespannten Beziehungen zum Reichswehrminister angesichts der damaligen nationalen Hochstimmung in weiten Teilen von Nation und Offizierkorps keinerlei Aussichten hatte, das Heer auf den Weg der Opposition zu führen. Zudem war er viel zu klug, um nicht zu übersehen, welch schwache Stellung er selbst hatte, nicht zuletzt infolge seiner eigenen Untätigkeit123. Blomberg griff beispielsweise immer häufiger über seinen Kopf hinweg in sein Ressort ein124. So schrieb sein Nachfolger, General Freiherr v. Fritsch, später, daß er bei der Amtsübernahme in der Heeresleitung „nur noch einen Trümmerhaufen" vorgefunden hätte125. Zudem war auch Hammersteins Ansehen beim Reichspräsidenten geschwunden, der ihm sowohl eine politische Demarche gegen Hitlers Ernennung übelnahm126 als auch an der dienstlichen Geschäftsführung des Generals, nicht ganz zu Unrecht, Kritik übte127. So hinderten die Begrenzung durch die eigene Natur und die Einsicht in die Gegebenheiten den Chef der Heeresleitung daran, seine grundsätzliche Gegnerschaft zum Nationalsozialismus in tatkräftiger Führung auf das Heer zu übertragen, die kleine Schar der dem Regime feindlichen Offiziere zu sammeln, die Masse der Indifferenten zu gewinnen und dem Kurs des Reichsministers entgegenzutreten. Er resignierte vielmehr und ließ den Dingen ihren Lauf, so sehr er auch von verschiedenen Seiten zur Aktivität gedrängt wurde128. Zu Staatssekretär v. Weizsäcker sagte er, Hitler sei eben „unser Schicksal; wir würden es zehn Jahre ertragen müssen"129. Im Oktober erbat er seinen Abschied und wurde zum 1. Februar 1934 in den Ruhestand versetzt130. 123 124

Dazu vgl. Sauer, S. 733-734. Laut Raeder, Bd I, S. 235 f.,

eingerissen.

waren

schon in der Ära Heye-Groener ähnliche

Ressortübergriffe

Zit. bei Hoßbach, S. 68 ff., vgl. auch ebd. im Januar 1933 war die militärische Führung des Heeres verkörpert durch den Chef der Heeresleitung in der Selbständigkeit ihrer militärischen Auffassung und in der Bedeutung ihrer Stellung auf dem tiefsten Punkt seit 1919 angelangt." 126 Vgl. über diese umstrittene Episode die abgewogene Analyse und Quellenkritik bei Sauer, S. 707 Anm. 54, sowie Kunrat v. Hammerstein, Spähtrupp, S. 40 ff. 127 Vgl. Sauer, S. 733 f., sowie Foertsch, S. 32 f. 128 Vgl. dazu Sauer, S. 734, Anm. 181. Ein etwas eigenartiger Bericht bei Richard Merton, Erinnernswertes aus meinem Leben, das über das Persönliche hinausgeht, Frankfurt 1955, S. 94 ff., spricht von Sondierungen Hammersteins bei Industriellen im Jahre 1933 über deren Haltung bei einer eventuellen „Änderung" der politischen Verhältnisse. Trifft das zu, dann hätte Hammerstein mindestens Überlegungen in dieser Richtung angestellt. 12» Weizsäcker, S. 108. Ludwig v. Hammerstein-Equord berichtet, der Chef der Heeresleitung habe im Sommer 1933 Brüning wissen lassen, dieser möge auf ihn keine Hoffnung setzen; er habe nur noch nominell die Kommandogewalt; Kunrat v. Hammerstein, Schleicher, Hammerstein und die Machtübernahme 1933, in: Frankfurter Hefte 11 (1956), S. 173. 130 So Kunrat v. Hammerstein, General v. Hammerstein, Richtigstellung zur Geschichtsschreibung, in: Frankfurter Hefte 11 (1956), S. 429. Dagegen berichtet Sauer, S. 743, Hammerstein habe zum 27. 12. 33 das Abschiedsgesuch eingereicht. Der Erlaß des Reichspräsidenten zur Entlassung des 125

„...

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-

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

61

In der Literatur wird bisweilen die Ansicht vertreten131, die vom Nationalsozialismus erstrebte und in Gang gesetzte Gleichschaltung aller politischen, staatlichen und gesellschaftlichen Organe und Bereiche habe eine gewisse Zeit die bewaffnete Macht verschont. Das stimmt insofern, als bis tief in den Krieg hinein weder eine gezielte Parteiunterwanderung noch eine direkte Parteikontrolle im Bereich der Streitkräfte festzustellen ist. Selbst als Hitler 1938 Oberbefehlshaber der Wehrmacht, 1941 sogar Oberbefehlshaber des Heeres wurde und die Streitkräfte dadurch gleichsam enthauptet waren, blieben, verglichen mit den übrigen Organismen und Lebensbereichen der Nation, Einfluß und Kontrolle von Partei oder gar der SS minimal, wenigstens soweit es die Befehlsführung und die „rein militärische" Seite betraf. Dieses Bild ändert sich jedoch grundlegend, wenn man von dem Aspekt der von „Außen" kommenden Entmachtung absieht und die innere Entwicklung und Selbstgestaltung132, also die internen Maßnahmen der Reichswehrführung, betrachtet. Dann stellt sich nämlich heraus, daß der politische Kurs des Reichswehrministeriums bereits im Verlauf der ersten anderthalb Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft zu beachtlichem Machtverlust, zu sehr frühzeitiger Selbstentmachtung und zu offenkundiger Selbstverstrickung geführt hat. Die ersten öffentlichen Stellungnahmen von Seiten des Reichswehrministeriums entsprachen völlig der Forderung des Reichspräsidenten, der den neuen Reichswehrminister bei dessen Ernennung angewiesen hatte, die Reichswehr jeder politischen Diskussion zu entziehen und „Schluß mit der Methode Schleichers zu machen"133. Daher wurde auch die Entlassung eines der engsten Mitarbeiter Schleichers, des Generals v. Bredow, von der Presse unter der Überschrift gemeldet „Die Entpolitisierung der Reichswehr"134. In seinem Antrittserlaß sprach Blomberg sodann von der Reichswehr als dem „überparteilichen Machtmittel des Staates", das er erhalten und „durch Förderung aller auf die Wehrertüchtigung des unterbauen" wollte135. Auch vor den höheren BeVolkes hinzielenden Bestrebungen fehlshabern legte er am 3. Februar 1933 dar, daß es die Reichswehr aus der Politik herauszuhalten gelte136. Auf einer Reise in die Wehrkreise Ende Februar sprach er davon, ..

.

Generals v. Hammerstein als Chef der Heeresleitung in MGFA/DZ H 1/567, fol. 23/12. Zum Oktober 1933 gab es übrigens eine Verabschiedungswelle, vgl. dazu S. 75 ff. dieses Kapitels. Über Hammersteins Nachfolger, General der Artillerie Frhr. v. Fritsch, vgl. die Ausführungen auf S. 56 f. und 76 f. dieses Kapitels sowie die folgenden Kapitel. Nach Lüttwitz, fol. 87, hat Blomberg einen Boykott über Hammerstein verhängt: „...keiner von den Abteilungschefs des Ministeriums... durfte ihn besuchen." 131 Vgl. z. B. Werner Gembruch, Zur Gleichschaltung der bewaffneten Macht unter dem Nationalsozialismus, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau 8 (1958), S. 81 ff., und Hoßbach sowie Buchheit, passim. Vgl. auch unten Anm. 145 (Rothfels, S. 72). 182 Vgl. hierzu die auf neuen Quellen basierende Arbeit von Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im nationalsozialistischen Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969. Papen, S. 275. 184 Foertsch, S. 31; Vogelsang, Reichswehrdokumente, S. 436. 185 Schultheß 1933, S. 34 (1. 2. 34). 138 Vogelsang, Reichswehrdokumente, S. 432 f. Nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 213, sagte er sogar vor den Befehlshabern Ende Februar, daß die Reichswehr auch jene Volksteile brauche, „die 183

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

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Machtergreifung

daß „wir Soldaten... außerhalb des politischen Kampfes [stehen]. Wir gehören keiner Klasse an, wir gehören dem gesamten Volk .137." In diesen Worten klingt aber keineswegs wie man gemeint hat138 etwa eine Distanzierung gegenüber den neuen Verhältnissen an; es sollte damit auch nicht im Gegensatz zur nationalsozialistischen „Machtergreifung" proklamiert werden, daß die Wehrmacht eben dem ganzen Volk gehöre139. Vielmehr wandte sich der Minister lediglich gegen die Ansprüche und den Extremismus der Partei, nicht jedoch gegen das neue, in seinen Augen genuin „nationale" Regime140. Betonte er doch am 3. Februar, daß ein „Herabsinken zur Parteitruppe" die Grundlagen der Armee zerbrechen würde141. Wenn seine ersten Verlautbarungen eine strenge Überparteilichkeit zu postulieren oder doch wenigstens auf ein solches Postulat hinzudeuten schienen, so mag das darin begründet gewesen sein, daß er angesichts der durchaus zwiespältigen Einstellung des Offizierkorps zum Nationalsozialismus beruhigende und unverfängliche Formulierungen für opportun hielt. Die praktische Politik der neuen Männer im Reichswehrministerium nämlich war gemäß Reichenaus Konzept von Anfang an alles andere als unparteiisch und neutral. Das ist über den deklamatorischen Auslassungen meist übersehen worden142. Schon auf der ersten Kabinettssitzung am 31. Januar 1933, als man das Problem eines Generalstreiks und des Ausnahmezustandes erörterte, zeichnete sich diese Tendenz ab. Blomberg gestand dabei unter Mißachtung der in der Verfassung festgelegten Diktaturgewalt des Reichspräsidenten dem Reichskanzler sofort zu, daß dessen Parteiorganisationen und nicht die Reichswehr im Inneren einzusetzen sei, indem er bemerkte, „daß der Soldat als einzig möglichen Gegner einen äußeren Feind anzusehen geneigt sei143. Das geschah immerhin noch vor den oben ..

-

-

wegen ihrer politischen Gesinnung der Verfolgung durch die Rechtsverbände ausgesetzt" seien. 137 Zit. in Übersetzung bei Castellan, S. 426. Das Zitat geht weiter: „Aber hinter uns stehen viele Millionen entschlossener Männer, zwar unbewaffnet, aber entsdilossen wie wir, für das Vaterland zu leben und zu kämpfen." 138 So etwa Krausnick, Vorgeschichte, S. 213. 139 Vielmehr führte er am 3. 2. 33 auch aus, das neue Kabinett vertrete zwar nur eine Volksminderheit, die jedoch, nach Millionen zählend, festgefügt in der Entschlossenheit sei, „für ihre Idee zu leben und wenn nötig zu sterben." Vogelsang, Reichswehrdokumente, S. 432. 140 Vgl. Blombergs Erlaß vom 14. 3. 33 in: „Zusammenstellung wichtiger politischer Verfügungen des Reichswehrministers zum Handgebrauch", Berlin 1934, Reichsdruckerei (MGFA/DZ W II 22). Darin heißt es: „Arbeit auf dem Gebiet der nationalsozialistischen Erziehung Da diese Arbeit in fortschreitendem Maße das ganze Volk erfassen soll, so ist auch der Gedanke an eine einseitig parteimäßig zusammengesetzte Wehrmacht zu bekämpfen." (Hervorhebung vom Verf.) Vgl. auch Sauer, S. 717: „...Überparteilichkeit nur mehr als Abschirmung der Armee... gegen

jetzt

-

-

.

.

.

...

,Parteieinflüsse' verstanden ..." 141 142

Vogelsang, Reichswehrdokumente, S. 432 f.

Das übersieht

z. B. Sauer, S. 715 f., weil er die Gleichzeitigkeit der rhetorischen Auslassungen, die scheinbar „Überparteilichkeit" reflektieren, mit den praktischen Maßnahmen, die alles andere als überparteilich waren, nicht erkennt. 143 Protokoll der Kabinettssitzung vom 31.1.33, in: IMT XXV, S. 375. Dazu auch Hoßbach, S. 185; Sauer, S. 716, und IMT XXV, S. 375. Im übrigen stand diese Bemerkung auch im Gegensatz zu dem Eid der Reichswehr, in dem es heißt: „Das deutsche Reich und seine gesetzmäßigen

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

63

zitierten Ausführungen, die einen korrekt neutralen Standpunkt zu proklamieren schiedas zeigt nen. Die „Entpolitisierung", wie Blomberg sie auffaßte, lief also vielmehr bereits die geschilderte Episode auf ein Nichteinmischungsversprechen der Streitkräfte in die innenpolitische Auseinandersetzung hinaus. Die Maxime des „Sich-Heraushaltens"144 mußte unter den Gegebenheiten einer im Aufbau befindlichen totalitären Diktatur einer einseitigen Option für dieses System gleichkommen145. Gerade diese Beschränkung auf die Aufgaben der Landesverteidigung146 war es, was Hitler für die Revolutionierung des Staates und Grundlegung eines totalitären Systems brauchte. Blombergs erster Mitarbeiter, Reichenau, der sehr bald die Politik des Ministeriums maßgeblich bestimmte, gab dieser Unterstützungspolitik das Profil. Schon bei seinem Amtsantritt am 6. Februar proklamierte er: „Niemals war die Wehrmacht identischer mit dem Staat als heute147." Einige Monate später hat er zu einem Kameraden bemerkt, mit Hitlers Regierungsantritt habe eine revolutionäre Auseinandersetzung großen Ausmaßes begonnen. Hitler erstrebe zweifellos die legale Diktatur, und die Wehrmacht müsse ihm dabei helfen, indem sie die parteimäßigen Einflüsse seitens der NSDAP zurückzudrängen und zu paralysieren versuche148. Diese Worte bestätigen, daß Reichenau unter der Nichteinmischungspolitik eine bewußte Option für Hitler verstand. Daher war es auch von seinem Standpunkt aus nur konsequent, wenn er diesen Kurs bisweilen bis zur indirekten Unterstützung der Regierung bei der Revolutionierung des Staates vorantrieb. So wurde Ende Februar, noch vor dem Reichstagsbrand, den Befehlshabern eröffnet, daß die bewaffnete Macht zwar nicht an dem Kampf der Regierung gegen Marxisten und Kommunisten teilnehmen werde, aber doch „in wohlwollender Neutralität verharren" solle149. Weiterhin hat das Ministerium Anfang März ganz im Sinne dieses Kurses die Reichswehrdienststellen in Bayern, die von der dortigen legalen Landesregierung um Hilfe bei -

-

Einrichtungen... schützen." Das umfaßte 1383). (Hervorhebung vom Verf.)

den Schutz nach Außen und Innen

S.

(RGB1.1919,

In der Zeit der Monarchie war die Armee politisch eindeutig an den Monarchen gebunden und deshalb in ihrer unpolitischen Tageshaltung doch ein gewichtiger politischer Faktor. In der Zeit der Weimarer Republik war diese „unpolitische Haltung" schon ein politisch problematischer innerer Vorbehalt. Vgl. dazu Blombergs Ausführungen in der Befehlshaberbesprechung vom 1.6.33: „Dieses Unpolitischsein hatte ja nie die Bedeutung, daß wir mit dem System der früheren Regierungen einverstanden waren; es war vielmehr ein Mittel, uns vor zu enger Verstrickung in dièses System zu bewahren." (Vgl. Notizen des Generals Liebmann aus den Befehlshaberbesprechungen 1933/1935, Institut für Zeitgeschichte, Archiv E-D 1, Bl. 53; im folgenden zit. Liebmann-Notizen.) Vgl. dazu auch die kritischen Bemerkungen bei Sauer, S. 730. 145 Vgl. Rothfels, S. 72: „Die Maxime des ,Sich-Heraushaltens' blieb mehr oder weniger bewußt die maßgebliche während der ersten Jahre (Hervorhebung vom Verf.) des Regimes. Sie schien im Einklang mit preußischen militärischen Traditionen und mit aristokratischen Standesbegriffen zu stehen... Unter den Bedingungen, die das Naziregime schuf, erhielt jedoch die Haltung des .Hände weg' einen völlig veränderten Sinn: sie bedeutete praktisch die Duldung von Verbrechen und Mord durch diejenigen, die im Besitz der Machtmittel zu ihrer Verhütung waren ..." 144

.

146 147 148 149

Dazu Hoßbach, S. 184. Zit. bei Sauer, S. 717. Ebd. S. 718 mit Anm. 103.

Liebmann-Notizen, Bl. 42; vgl. auch Sauer, S. 722.

..

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

64

einem sich abzeichnenden nationalsozialistischen waren,

Machtergreifung

Gleichschaltungs-Putsch gebeten

angewiesen, die Reichswehr habe sich, Gewehr bei Fuß,

aus

worden dieser Sache als einer

innenpolitischen herauszuhalten150. Im gleichen Sinne hatte Blomberg am 24. Februar dem Befehlshaber im Wehrkreis V befohlen, bei Unruhen nicht die verfassungsmäßige Regierung in Stuttgart, sondern die Nationalsozialisten zu unterstützen151. Konsequent hat er dann auch nach Beseitigung des föderativen Staatsaufbaus die Befehlshaber der Wehrkreise angewiesen, „für ein gutes, noch besser herzliches Verhältnis" zu den in den Ländern eingesetzten nationalsozialistischen Reichsstatthaltern Sorge zu tragen152. Blombergs Verhalten im Kabinett am 31. Januar, sein vorstehend erwähnter Befehl vom 24. Februar, dazu Reichenaus Worte vom 6. Februar und die ministerielle Weisung an den Befehlshaber im bayerischen Wehrkreis VII von Anfang März spiegeln die tatsächlichen Absichten der Reichswehrführung jedenfalls eindeutiger wider als die auf „Überparteilichkeit" abgestimmten Auslassungen von Anfang und Ende Februar. Diese werden damit zu rhetorischen Camouflagen, die über den wirklichen Kurs gar nichts aussagen, vermutlich sogar nur von ihm ablenken sollten. Daß die indirekte Option für die Hitler-Bewegung im Extremfall fast bis zur weitgehenden Beihilfe bei terroristischen Maßnahmen führen konnte, hat Reichenau wohl bewußt in Kauf genommen. Er gab im Februar 1933 in Vertretung des Reichswehrministers den Befehlshabern die Richtlinie: „Erkenntnis (ist) notwendig, daß wir in einer Revolution stehen. Morsches im Staat muß fallen, das kann mit Terror geschehen. Die Partei wird gegen Marxismus rücksichtslos vorgehen. Aufgabe der Wehrmacht, Gewehr bei Fuß. Keine Unterstützung, falls Verfolgte Zuflucht bei der Truppe suchen153." Damit wurden die Streitkräfte durch einen „Akt bewußter politischer Entscheidung"154 ihrer Führung dazu bestimmt, Gewehr bei Fuß neben dem staatlich sanktionierten Terror zu stehen. Die Befehlshaber zeigten sich von Reichenaus Weisung „stark betroffen"; einer der anwesenden Offiziere, Oberstleutnant Ott, protestierte, was ihm in kurzem seine Stellung kostete. Einige Befehlshaber zogen sich aus dem Dilemma zwischen innerer Ablehnung der Weisung und funktioneller Gehorsamspflicht, indem sie die Weisung nur in

abgeschwächter Form weitergaben155. Verstrickung der Streitkräfte in die Machenschaften des nationalsozialistischen Regimes, die späterhin in vielfältiger Form zu bösen Konsequenzen führte, begann also

Die

Ebd.

Vgl. dagegen Georg Franz-Willing, Über die Ursachen der Militäropposition, in WWR 7 Haltung der Reichswehrführung rechtfertigt: „Mit Recht betrachtete die Reichswehr die Frage der Regierungsbildung als rein innerpolitische Angelegenheit." Diese Ansicht übersieht aber, daß es hierbei nicht um eine verfassungskonforme Regierungsbildung 150

(1957),

S. 371, der die

ging, sondern um die revolutionäre Gleichschaltung einer Landesregierung. 151 Vgl. Sauer, S. 724. 152 Liebmann-Notizen, Bl. 53 (Besprechung vom 1. 6. 33). 158 Zit. bei Sauer, S. 729 nach Zs. Nr. 279 (Ott), S. 19. 154 Fest, S. 324.

155

Ebd. Es handelt sich

um

Rundstedt und Seutter

v.

Lötzen.

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

65

frühzeitig; und sie nahm bei diesem Beginn sogleich den Charakter einer Selbstverstrickung der verantwortlichen Männer an. Diese Tatsache sollte man nicht übersehen; denn sie war eine Konsequenz der von der Reichswehrführung begonnenen Politik. Ebenfalls wurden bereits die verhängnisvollen Auswirkungen solcher Politik auf das disziplinäre Gefüge der Armee sichtbar. Es begann jetzt jene Entwicklung, die am Ende dieses Gefüge zerstörte: Man weigerte sich nicht, problematische Befehle auszuführen, man führte sie aber auch nicht korrekt aus, sondern erfand irgendwelche Auswege156. Im Februar 1933 hatte die Reichswehrführung zugunsten der „nationalen Regierung" gegen die Linksparteien, die verfemten „Marxisten und Kommunisten", optiert. Seit März hatte sie bei der Beseitigung der föderativen und parlamentarisch-demokratischen Ordschon sehr

nung in den

Ländern, die dem zentralistisch-autoritären Denken des Soldaten fremd war,

in ungerührter „Neutralität" zugeschaut. Einige Wochen später ließ sie dann auch die konservativen Koalitionspartner Hitlers, die für sie zumindest potentielle Bundesgenossen hätten sein können, fallen. Blomberg sagte am 1. Juni 1933 vor den Befehlshabern, der „Anspruch der Deutsch-Nationalen auf Gleichberechtigung sei verfehlt", da die NSDAP allein das Verdienst an der Revolution habe. Es werde „ein Glück sein, wenn diese Bewegung bald zu der von ihr erstrebten Totalität kommt und Deutsch-Nationale und Zentrum verschwinden"157. Der Reichswehrminister wird bei diesem Ausspruch kaum an den Totalitätsanspruch einer Monopol-Partei gegenüber allen Staatsbürgern und Institutionen gedacht haben158. Er wird sich vielmehr bei diesen Worten eine Art innenpolitischer Flurbereinigung im Sinne einer „Konzentration aller nationalen Kräfte" vorgestellt haben. Die Distanzierung von den konservativen Koalitionspartnern Hitlers, den naturgegebenen General a. D. Heusinger berichtete (Mitteilung an das MGFA vom 17. 2.1966), daß beispielsweise der Erlaß Blombergs über die Abschaffung der Anrede in der dritten Person nicht vom ObdH, der ihn mißbilligte, weitergegeben wurde, sondern nur die Unterschrift eines Hauptmannes des AHA trug; auch bei der Weitergabe des Erlasses an die Divisionen habe das GenKdo I. AK sich von dem Erlaß distanziert. Später im Kriege sei dann angesichts Hitlers und des OKW 156

Eingriffe in die Operationsführung durch telefonische Absprachen zwischen den Generalstäblern in der Zentrale und an der Front geradezu ein System der „Gegenarbeit" gegen schriftliche Weisungen und ihrer Umgehung entwickelt worden (Heusinger, ebd.). 157 Liebmann-Notizen, Bl. 53. 158 Vgl ¿ie unterschiedliche Interpretation bei Sauer, S. 724, der undifferenziert von der Anerkennung des „Totalitätsanspruchs der NSDAP" durch Blomberg spricht, und bei Helmut Krausnick, Stationen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, in: Stationen der deutschen Geschichte 1919-1945, Internationaler Kongreß zur Zeitgeschichte, München, hrsg. von Burkhart Freudenfeld, Stuttgart 1962, S. 117 (fortan zit. Krausnick, Stationen): „...definitive Klärung der innerpolitischen Verhältnisse, im Sinne einer Konzentration aller Kräfte auf das große nationale Ziel... unter Ausschaltung aller noch bestehenden Rivalitäten." Später, um die Jahreswende 1944/45, schrieb Blomberg allerdings rückblickend in seinen Erinnerungen: „Bisher hatten Wehrmacht und Partei als zwei Säulen des Staates nebeneinander gestanden. Nun sollten beide Teile zusammengebracht bis zum Verschmelzen werden. Die Folgerichtigkeit dieses Bestrebens war angesichts der Richtung auf Totalität unseres durch die Partei dargestellten Staates unverkennbar" (BA/MA H 08-52/7, Lebenserinnerungen Bd VII, S. 14). Vgl. auch das auf Seite 70 f. dieses

Kapitels Ausgeführte.

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

66

Machtergreifung

politischen Bundesgenossen der Reichswehr, zeigt erneut, wie sehr die „Nichteinmischungspolitik" Reichenaus und Blombergs eine kaum noch verhüllte Förderung der Hitlerbewegung nach sich zog, gleichzeitig aber auch die Position der Reichswehr schwächte. Blomberg und Reichenau glaubten, der Reichswehr mit ihrem Kurs zu Einfluß und Ansehen im neuen Staate zu verhelfen; insbesondere glaubten sie, damit direkt den Aufbau Systems zu unterstützen, das nach ihrer Ansicht den Interessen der Armee am besten entsprach. Darin lag wohl ihr größter Irrtum; denn tatsächlich begünstigten sie mit ihrer Nichteinmischungs- und Bündnispolitik den Aufbau des totalitären Herrschaftssystems. Sie trugen so zur Entwicklung einer politischen Konstellation bei, in welcher die Stellung eines

der Streitkräfte durch fortlaufenden Machtverlust und willentliche Selbstverstrickung selbst schwächer und schwächer wurde159. Es trat genau das Gegenteil dessen ein, was sie mit ihrer politischen Taktik im Sinn hatten. Für Blomberg gewiß, wahrscheinlich auch für Reichenau, war dieses Ergebnis, oder wenigstens dessen erste Symptome, im Sommer 1933 noch nicht sichtbar. Für sie stellte sich die Lage noch ganz anders dar. Der Reichswehrminister bezeichnete es vielmehr als Erfolg seiner Politik, daß die Reichswehr nicht gleichgeschaltet worden sei160. Vielmehr werde die Reichswehr in enger persönlicher Verbundenheit zu dem von einer so meinte er breiten nationalen Bewegung getragenen Kanzler eine geachtete und machtvolle Stütze des neuen autoritären Staates sein. In diesem Sinne sagte er in Anwesenheit Hitlers in Ulm bei Abschluß der Herbstmanöver am 6. September 1933, der Reichskanzler und Führer des deutschen Volkes habe der Reichswehr „im neuen Reich... den Platz angewiesen, der ihr gebührt". Er habe der Armee die ruhmreichen alten Fahnen und die schwarz-weiß-rote Kokarde wiedergegeben. Sie, die Reichswehr, gebe ihm daher „ihr vollstes Vertrauen, rückhaltlose Zuverlässigkeit und unerschütterliche Hingabe..."161. Die Reichswehr als vornehmste und zuverlässigste Trägerin des neuen Staates, dem autoritären Führer des Reiches loyal und dankbar ergeben, das war es, was Blomberg sah162. Für ihn waren die Weichen der Entwicklung nicht in Richtung auf ein totalitäres Herr-

-

In einigen Kreisen der Reichswehr müssen in den ersten Wochen des neuen Regimes angesichts der Expansionsdynamik der NSDAP bereits gewisse Besorgnisse aufgetaucht sein. Der Reichswehrminister fühlte sich jedenfalls veranlaßt, am 14. 3. 33 einen Erlaß herauszugeben, in dem es hieß: „In der Truppe ist durch die Entwicklung der letzten Wochen die Besorgnis entstanden, die einzigartige Stellung der Wehrmacht könne gefährdet werden. Diesem Gedanken bin idi überall in meinen Ansprachen und Unterhaltungen mit großer Deutlichkeit entgegengetreten. Der Herr Reichskanzler hat am 3. 2. vor allen Führern der Wehrmacht erklärt, daß diese in ihrer Bedeutung und besonderen Stellung unverändert erhalten werden müsse." („Zusammenstellung wichtiger politischer Verfügungen", S. 6.) In diesem Erlaß spricht Blomberg im übrigen über die NSDAP als „den Siegern im Kampf um die Nation" (ebd. S. 7). 159

180

Liebmann-Notizen, Bl. 53 (Befehlshaberbesprechung

vom

1.6.33); dabei

sagte

Blomberg,

bleibt jetzt nur eins: der nationalen Bewegung mit voller Hingabe zu dienen." 161 Zit. nach Sauer, S. 370 f. 162 Das wurde wohl auch weitgehend im Offizierkorps so gesehen. Vgl. Weichs, Die Stellung des Offizierkorps, fol. 17: „Anfangs schien tatsächlich Achtung und Ansehen des Offizierkorps bei Volk und Partei zu steigen." (Vgl. auch Anm. 197 dieses Kapitels.) „...

es

.

..

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

67

Schaftssystem gestellt, in dem irgendwann auch die Armee entmachtet würde. Ihm schien die Entwicklung trotz mancher unschönen Erscheinungen vielmehr auf einen langerhofften Idealzustand hinauszugehen. In seinen Augen war die Armee nicht neutralisiert, isoliert, von Entmachtung und moralischer Verstrickung bedroht, sondern erhöht und geehrt. Hitler leistete dieser Illusion mit verschiedenen Äußerungen auch kräftig Vorschub. So sagte er im September 1933: „Wir können versichern, daß wir in ihnen die Träger der Tradition

unserer

ruhmreichen alten Armee sehen und daß wir mit ganzem Herzen und

allem, was wir vermögen, uns für den Geist dieser Armee einsetzen werden163." Und am Tage der ersten Wiederkehr der „Machtergreifung", am 30. Januar 1934, sprach er von der „herzlichen Verbundenheit zwischen den Kräften der Revolution und den vermit

antwortlichen Führern einer bis auf das äußerste

disziplinierten Wehrmacht"164. Dabei zwei Säulen getragen, politisch von der in der nationalsozialistischen Bewegung organisierten Volksgemeinschaft, militärisch von der Wehrmacht. Es wird für alle Zukunft mein Streben sein, dem Grundsatz Geltung zu verschaffen, daß der alleinige politische Willensträger der Nation die nationalsozialistische Partei, der einzige Waffenträger des Reiches die Wehrmacht ist"165. Solche Töne schienen den Wunschvorstellungen der obersten Reichswehrführung nur zu sehr zu entsprechen, schienen den Erfolg ihrer Konzeption zu bestätigen. Die Zwei-Säulen-Theorie war indessen schon deswegen problematisch, weil die Partei als alleiniger politischer Willensträger, wie Hitler es ausgedrückt hatte, letztlich doch den absoluten Vorrang gewinnen mußte. Sie hatte vielmehr ausschließlich taktisch-propagandistischen Charakter166. Überzeugt von der Richtigkeit ihrer Politik führte die Reichswehrführung sie ab Sommer 1933 nachdrücklich weiter. Dabei trat eine entscheidende, lange nicht recht erkannte167 Akzentverschiebung ein: Bisher hatte es die Reichswehrführung primär mit ihrer stillschweigenden, wohlwollenden Neutralität auf eine indirekte Unterstützung der Hitlerbewegung bei der „Revolutionierung" aller staatlichen Bereiche außer dem der Streitkräfte abgestellt. Jetzt aber ging sie daran, diesen von der Gleichschaltung und „Revolutionierung" durch die nationalsozialistische Partei ausgeklammerten Bereich von sich aus den neuen Gegebenheiten anzupassen. Die Partei sollte keinesfalls in diesen Bereich eindringen; die Reichswehrführung selbst wollte vielmehr die ihr im Verfolg ihrer Partnerschaftspolitik für notwendig erachtete Anpassung durchführen und sie damit regulierbar und kontrollierbar halten168. Das Endergebnis sollte nicht sehr positiv sein: Die Optionspolitik hatte schleichenden Machtverfall und den Beginn einer problematischen Verprägte er die Formel, die Staatsführung werde

„von

-

-

Schultheß 1933, S. 213; ergänzend dazu Sauer, S. 731. Schultheß 1934, S. 44 (30.1. 34), und ebd. 1933, S. 235 (9.11. 33). 185 Ebd. 1934, S. 44. 168 Dazu auch Krausnick, Stationen, S. 118: „...eine fragwürdige Theorie... mit doppeltem Boden." 187 Das erkennt auch Sauer nicht, der S. 720 ff. nur die indirekte Hilfestellung sieht, die die Hitler bei der Revolutionierung des Staates geleistet hat. Reichswehrführung 188 Vgl. dazu Krausnick, Vorgeschichte, S. 212, und Sauer, S. 717 ff. 163 164

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

68

Machtergreifung

strickung gebracht. Die „Öffnungs-Politik" trug, ungeachtet ihrer andersgearteten Motiviezur inneren Zersetzung der Armee bei. Relativ harmlos waren dabei noch gewisse, mehr optisch bedeutsame Maßnahmen, die vom Reichswehrministerium angeordnet wurden, wie die Erlaubnis für die Reichswehrmusikkorps, jetzt auch nationalsozialistische „Weihelieder" zu spielen, oder daß von

rung,

Zivilbedienstete der Reichswehr nunmehr im Dienst Parteiuniform tragen Hitlergruß anwenden durften. Auch die Verfügung vom 19. Februar 1934, das „NS-Hoheitszeichen", den Adler mit dem Hakenkreuz, anzulegen, war mehr eine Äußerlidikeit, wenngleich die darin liegende „Verstaatlichung" eines Parteisymbols schon nicht ganz unbedenklich war. Bezeichnend jedoch waren die rechtfertigenden Erklärungen, die beispielsweise das offiziöse Militär-Wochenblatt gab. Es komme darin so schrieb es aud: „äußerlich zum Ausdruck, was die Wehrmacht von jeher erstrebte: der mit dem Volksganzen verbundene Waffenträger eines geschlossenen nationalen Volkes zu sein". Und „das Symbol, unter dem dieser neuerwachte nationale Geist steht, ist das Hoheitszeichen der NSDAP"169. Im ganzen aber waren all diese Anordnungen und Maßnahmen, das zeigt die angeführte Begründung, als Teile der planmäßigen „Öffnungspolitik" der Reichswehrführung taktischer Natur. Das gilt noch mehr für gewisse Konzessionen, die das Ministerium in Randbereichen militärischer Interessen machte, die früher von der Reichswehr sorgsam gehütet worden waren. Der Vorsitz der Dachorganisation nationaler Wehrverbände, das von Schleicher begründete „Reichskuratorium für Jugendertüchtigung", wurde der SA überlassen170. Ebenso wich man in der Frage, ob der Reichsarbeitsdienst an die militärischen Wehrbezirkskommandos anzuhängen sei, vor der Partei zurück171. Gleichfalls verhinderte die Reichswehrführung nicht, daß durch den Aufbau von Parteidienststellen wie z. B. des Außenpolitischen Amtes, der Nationalsozialistischen Auslandsorganisation, dem SD, nicht zuletzt auch dem als Forschungsamt bekannten Abhördienst Görings das bisher von der Reichswehr streng gehütete Nachrichten- und Geheimdienstmonopol unterwandert wurde172. Der Chef des dem Ministeramt unterstellten Abwehr-

August

1933

an

und den

-

-

Militär-Wochenblatt Nr. 32 vom 25. 2. 34. Sp. 1059 f. Bereits im Oktober 1933 hatte der „Karlsruhe", der am 14.10. zur Auslandsreise auslief, „als erstes deutsches Schiff das nationalsozialistische Hoheitsabzeichen" erhalten (vgl. „Das neue Deutschland im Werden", Bausteine für den Nationalpolitischen Unterricht an den Wehrmacht-Fachschulen, hrsg. im Auftrag des Reichskriegs-Ministeriums von Dr. Valentin Beyer, Berlin 1935, S. 28; fortan zitiert: Beyer: Bausteine). Im März 1933 war Blomberg bereits mit dem Argument, „die außerordentlichen Verdienste" der NSDAP rechtfertigen es durchaus, für die Anerkennung der Hakenkreuzfahne als Reichssymbol eingetreten (Papen, S. 323). Fritsch dagegen rechtfertigte das Anlegen des NSHoheitsabzeichens auf einer Befehlsbesprechung damit (Liebmann-Notizen, Bl. 79), es solle dem Kanzler dadurch „die nötige Stoßkraft der SA gegenüber gegeben werden". Über weitere entsprechende Anordnungen vgl. die Zusammenstellung bei Sauer, S. 916-917, der auch auf die bezeichnende Differenzierung Blombergs zwischen „den Parteien" und „der nationalsozialistischen Bewegung" hinweist. Vgl. auch unten S. 81. 169

Kreuzer

170 171 172

Dazu Sauer, S. 725. S. 62. Dazu Sauer, S. 727.

Keitel,

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

69

z. S. Patzig, erhielt von Blomberg173 in seinem Kampf gegen verschiedenen Parteikonkurrenten keine Unterstützung174. die Ganz massiv und gezielt hat die neue Reichswehrführung indessen auf zwei Gebieten bereits in den ersten anderthalb Jahren der NS-Herrschaft eine „Politik der Öffnung" und Anpassung betrieben: einmal im Bereich der politischen Information und Schulung

dienstes, damals Kapitän

und sodann auf dem Gebiet der Personalpolitik. Die Indoktrinierungsbestrebungen begannen mit einem Erlaß des Ministers über das „Verhalten der Wehrmacht, gegenüber nationalen Verbänden", in dem er anordnete, daß Soldaten, die an Kundgebungen derartiger Verbände teilnehmen, „durch ihr Benehmen klar zeigen [müssen], daß sie mit der nationalen Bewegung mitgehen". Auf einer vierzehn Tage später stattfindenden Befehlshaberbesprechung warf Blomberg dann am 1. Juni ausdrücklich und ganz offen die Maxime der „unpolitischen Reichswehr" über Bord und erklärte, jetzt sei das Unpolitischsein vorbei, und es bleibe nur eins: „der nationalsozialistischen Bewegung mit voller Hingabe" zu dienen175. Wie die Reichswehrführung nach außen gegenüber den anderen Parteien, sogar gegenüber den Koalitionspartnern Hitlers, ihre neutrale Haltung de facto aufgegeben hatte, so wollte sie auch die Neutralität der inneren Einstellung der Streitkräfte aufgeben. Hatte seit der Ära Seeckt der Grundsatz gegolten, daß die Reichswehr dem Staat allein, der Staatsautorität „über Parteien und Regierungen" diene, so schwenkte Blomberg jetzt radikal zum anderen Extrem über: die Reichswehr sollte nunmehr „der nationalsozialistischen Bewegung" nicht etwa der von einem nationalsozialistischen Reichskanzler geführten „nationalen" Regierung dienen176. Diese Formulierung kennzeichnete den Willen der Reichswehrführung, ihr politisches Konzept die Armee als eine der Hauptmachtfaktoren in Hitlers Diktatur unter anderem auch dadurch zu erreichen, daß sie sich ideologisch dem Nationalsozialismus öffnete177. ...



-

-

-

im taktischen Bereich bisweilen Differenzen zwischen Blomberg und seinem machtviel instinktsichereren Chef des Ministeramtes Reichenau gab, zeigt u. a. der Kampf des Reichswehrministeriums gegen das von General a. D. Ritter v. Epp und dem Oberst a. D. Haselmayr geleitete „Wehrpolitische Amt" der NSDAP. Blomberg verhinderte im Frühjahr 1933 das von Reichenau gewünschte derbe Zupacken gegen das WPA, das sich ständig Übergriffe in die wehrpolitische Domäne der Reichswehr leistete. Vgl. hierzu: Walter Baum, Die Reichswehr und das Wehrpolitische Amt der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, in: Allgemeine Schweizer Militärzeitschrift 6 (1965), S. 345-349. 174 Admiral a.D. Patzig, Auskunft vom 18./19.1.1966 an das MGFA: Blomberg habe „sich immer auf die Seite der Partei" gestellt; so habe er Patzig „befohlen", sich mit Heydrich zu einigen. Vgl. auch Fritschs Aufzeichnung bei Hoßbach, S. 69: „Belange des Heeres wurden von Reichenau leichtfertig geopfert. Blomberg stimmte zu, Hammerstein tat nichts." 175 Erlaß vom 15.5.33 (MGFA/DZ II W22); die Erklärung auf der Befehlshaberbesprechung vom 1.6.33, in den Liebmann-Notizen, Bl. 53 (Hervorhebung vom Verf.). Anzumerken wäre, daß der von Blomberg benutzte Begriff „Bewegung" hier wohl nicht „Partei" bedeutete, aber doch mehr umfaßte als bloß „Regierung Hitler". 176 Sauer, S. 730 f., mit einer etwas unterschiedlichen Interpretation der folgenden Rede (Her173

Daß

es

politisch sehr

.

.

.

vorhebung vom Verf.). 177 Im übrigen war die nachdrückliche Öffnungspolitik

nebenbei auch

von

der Absicht getragen,

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

70

Machtergreifung

Verfolg dieser „öffnungs"-Politik wurden seit Sommer 1933 zahlreiche zweckentsprechende Anordnungen erlassen. Im Juli ließ man, in Übernahme eines Innenministeriums-Erlasses, Aushänge der Partei und ihrer Unterorganisationen sowie Werbeaushänge für Parteischrifttum in DienstIn

räumen der Reichswehr zu178. Für die Fachschulen der Reichswehr ordnete das Ministerium

Schuljahr 1933/34 die Einführung eines „Nationalpolitischen Unterrichtes" an, für den alsbald „Vorläufige Zusammenstellungen" des Lehrstoffs verfaßt wurden. Sie enthielten „das für die nationalpolitische Erziehung des Soldaten notwendige Gedankenin der vom Führer selbst oder seinen nächsten Mitarbeitern geprägten Form"179. gut Ein grundsätzlicher Artikel im Militär-Wochenblatt vom 18. August 1933 forderte, für jeden Offizier müsse das „Verständnis des Nationalsozialismus eine Notwendigkeit sein"; dieses aber beruhe auf Kenntnis, denn nur wenn er „die tieferen Grundzüge dieser Bewegung verstanden" habe, sei „eine klare Grundeinstellung" zum Nationalsozialismus zu erwarten. Sodann wurde ganz massiv erklärt, der Offizier müsse sich klar darüber sein, „daß er seine eigenen Anschauungen, soweit sie etwa im Widerspruch mit den nationalsozialistischen stehen sollten, zu revidieren hat... Wer nicht geistig wendig genug ist, um die Umwandlung vom übertriebenen Objektivismus zum freudigen Subjektivismus mitmachen zu können, schadet der Wehrmacht und dem Staat180." Blomberg selbst hat in Ansprachen vor Truppenoffizieren während des Herbstes 1933 mehrfach seine Indoktrinierungsbestrebungen vertreten. Bei einer Truppenbesichtigung Anfang September in Ulm betonte er gegenüber dem anwesenden Reichskanzler, daß die Reichswehr absolutes Vertrauen zu ihm habe, daß sie rückhaltlos zuverlässig sei und bereit, „in diesem... neugeformten und neudurchbluteten Reich zu leben, zu arbeiten und, wenn nötig, zu sterben"181. Neun Tage später, am 15. September, erklärte er vor Offizieren der 6. Division nach Abschluß der Herbstübungen, daß es sich bei der „Machtergreifung durch die nationale Regierung... um eine grundlegende Meinungs- und Willensumbildung des ganzen Volkes und um die Verwirklichung einer neuen Weltanschauung handelt". Der „alte, liberale Grundsatz von der vorherrschenden Freiheit des einzelnen" sei zum

...

...

den Vorwürfen der Partei, vor allem der SA, wegen mangelnder nationalsozialistischer Einstellung des Heeres den Wind aus den Segeln zu nehmen. Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 219. 178

Hierzu und

179

Beyer, Bausteine,

zu

ähnlichen Maßnahmen Sauer, S. 919 f. S. 4

(Vorwort).

Militär-Wochenblatt Nr. 7 vom 18.8.33, Sp. 209 f. Dieser Aufsatz nimmt interessanterweise auch zum Problem der Streitfälle mit Parteiangehörigen etc. Stellung und gibt dazu die Richtlinie: „...man [solle] aus einzelnen Vorkommnissen den Wert der nationalen Revolution nicht anzweifeln Wer begriffen hat, worum es sich handelt, kann nicht fehlgehen, mögen sich noch so drastische .Fälle' ereignen. Dem Offizier... bieten sich durch den Sieg des Nationalsozialismus nirgendwo Schwierigkeiten, sondern nur Erleichterungen." Eine derartige Devise beinhaltete 180

...

fraglos schon die Tendenz, Kritik mit Hinweis auf Linientreue und Interessenförderung abzubiegen und den Blick für politische Verantwortung zu schwächen. 181 Zit. nach Sauer, S. 730 f. Auffallend ist, daß Blomberg am 3.2. 34 in einer Ansprache mit fast den gleichen Sätzen wie den zitierten Formulierungen die Einsatzbereitschaft der Reichswehr für den Kanzler umschreibt und den Idealismus der Anhänger der Partei rühmt: diese seien fest entschlossen, „für ihre Idee zu leben und

wenn -

nötig auch zu sterben". -

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

71

nicht mehr maßgebend, vielmehr gelte jetzt „das Wort von der Totalität des Staates, die bis in die persönlichsten Dinge des einzelnen hineingreift"182. Das aber implizierte logischerweise auch die totale Einbeziehung der Streikräfte183. Dem Minister war demnach das Wesen eines totalitären Regimes durchaus nicht so unklar, wie es bisweilen angenommen wird184. Allerdings sollte man aus seinen Worten nicht schließen185, daß er damit den Totalitätsanspruch einer Partei anerkennen wollte. Er

bejahte allerdings die „Totalität des neuen Staates" und die „Verwirklichung einer neuen Weltanschauung", die seiner Ansicht nach in diesem „neuen Staat" erfolgte. So war in der Bejahung der neuen Staatlichkeit zugleich eine gewisse Distanzierung vom Parteiapparat enthalten. Vor allem aber erfuhr die laut deklarierte Bejahung der „neuen Weltanschauung" eine sehr bedeutsame Akzentuierung, die es nicht gestattet, jene erwähnte ideologische Öffnung von der Intention her einfach mit ideologischer Selbstgleichschaltung

identifizieren. Die erwähnte Rede Blombergs vor der 6. Division zeigt auch, wie der Minister in Verfolg der vorgesehenen Anpassungs- und Umarmungstaktik die nationalsozialistische Ideologie und vor allem deren Hauptrepräsentanten für die Reichswehr zu reklamieren versuchte. Er führte dabei weiterhin aus, daß in der nationalsozialistischen Weltanschauung eine tiefe „Übereinstimmung mit den besten Grundsätzen deutschen Soldatentums... vorliegt". Daher sei es selbstverständlich, daß man „zu dieser Wandlung des Soldatentums innerhalb und außerhalb der Armee, besonders aber in der Wehrmacht, voll ja sagt. Der Führung der Wehrmacht ist das um so leichter geworden, als uns Soldaten alle an den Mann, der diese Lehren geboren, entwickelt und geleitet hat, ein besonderes soldatisches Verhältnis bindet"186. Die „Öffnungspolitik" der Reichswehrführung wurde also gekennzeichnet durch zwei Momente: einmal durch das Bestreben, das Offizierkorps, dessen Zwiespältigkeit man im Ministerium gewiß erkannt hatte, mittels nachdrücklicher Indoktrinierung für den neuen Staat des Kanzlers Hitler zu gewinnen, um damit gleichsam die innere Voraussetzung für den Erfolg des eingeschlagenen Kurses zu schaffen; zum anderen durch den Versuch, die „neue Weltanschauung" Hitlers durch demonstrative Betonung ihrer grundsätzlichen Übereinstimmung in ideologischer Beziehung mit den soldatischen Grundauffassungen der Streitkräfte für die Reichswehr gleichsam zu usurpieren187. Das letztere Moment wurde immer nachdrücklicher akzentuiert, je mehr sich um die Jahreswende herum der seit dem Spätsommer 1933 schwelende Konflikt mit der SA verzu

182

MGFA/DZ WK VII/759, Akte „Politisches und Spionage", Reichswehrministerium, 460 W III vom 22. 9. 33. Dieser Satz zeigt, daß das Wesen eines totalitären Systems dem Minister durchaus nicht so völlig unklar gewesen ist. 188 Für die Reichswehr jedoch das war der Kern der Politik der neuen Reichswehrführung wollte man diese Anpassung selbst durchführen und steuern. Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 212 f.

geh.

-

-

184

185

Krausnick, Stationen, S. 117. So Sauer, S. 724.

MGFA/DZ WK VII/759. Diese Tendenz spricht fortan aus allen einschlägigen Erlassen des Reichswehrministeriums und seiner nachgeordneten Kommandobehörden. 186

187

72

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

schärfte188. Das führte dann dazu, daß sich die Reichswehr in eine Art ideologischen Loyalitätswettstreit einließ bzw. hineingezogen wurde. So hatte das Indoktrinierungsstreben der Reichswehrführung neben der allgemeinen auch eine akute machtpolitische Komponente. Es ist jedoch völlig irrig, die erwähnten Auslassungen einzig und allein unter dem Aspekt189 des Konfliktes mit der SA zu sehen. Dieser intensivierte die Indoktrinierungspolitik gewiß; hervorgerufen hat er sie nicht, denn sie lag prinzipiell in der Linie des auf Erringung einer machtvollen, einflußreichen Stellung geridrteten Kurses der Reichswehrführung190. In diesen Zusammenhang ist die Tatsache einzuordnen, daß sich seit Ende 1933 eine absichtsvolle Umdeutung der Rolle der Armee seit 1914 sowie eine nicht minder zweckgerichtete apodiktische Interpretation dessen feststellen läßt, was Nationalsozialismus „ist", d. h. als was er nach Ansicht des Reichswehrministeriums aufzufassen sei: nämlich die politisdre Manifestation des Frontkämpfergeistes. Man ging bei der zweckgerichteten Umdeutung des Nationalsozialismus so weit, die Priorität des „Frontkämpfers" zu behaupten191, der im Weltkrieg „schon Träger der Hauptidee192 des Nationalsozialismus gewesen" sei. Ohne den Frontkämpfer sei der Aufstieg des Nationalsozialismus gar nicht denkbar gewesen; denn in der Nachkriegszeit sei die Reichswehr „der einzige unerschütterliche Ring der das in allen Fugen krachende Reich zusammenhielt". Es sei „das geschichtliche Verdienst der Wehrmacht", daß diese damit „Deutschlands Erneuerung überhaupt erst ermöglicht" habe. Wie sehr diese Umdeutung des Nationalsozialismus zweckbestimmt und Ausfluß einer bewußten Politik gewesen ist, zeigt eine Weisung des Reichswehrministeriums über die Richtlinien der Wehrpropaganda vom 21. November 1933. Darin wird befohlen, es solle der Kampf der Reichswehr „gegen den Kommunismus vor 10 Jahren (Sachsen, Thüringen, Hamburg)" sowie die „Betonung des nationalsozialistischen Gedankengutes" in der Armee herausgestellt werden193. Das bedeutete die propagandistische Einreihung der Reichswehr in die Ahnenreihe des „Dritten Reiches" in Geist und Tat. .

..,

Zum Konflikt mit der SA vgl. Kap. III dieser Arbeit. Das geschieht vorwiegend bei Sauer, S. 916 ff. loo Vgl. auch Liebmann-Notizen, Bl. 57 (Besprechung vom 15. bis 18. 1.34), wo es heißt: klar und bestimmt zum Ausdruck bringen, daß wir die leitende und ausschlaggebende Madit im Reiche sind und bleiben." Diese Sätze sind zweifellos auch im Hinblick auf den heranziehenden Konflikt mit der SA gesagt; zugleich jedoch spricht aus diesen Worten ein Anspruch, der völlig die seit nahezu einem Jahr erfolgte radikale Verschiebung der politischen Kräfte in Deutschland verkennt. Vgl. z. B. die „Richtlinien für die Wehrpropaganda", erlassen gemäß den Weisungen des Reichswehrministeriums vom Wehrkreiskommando VII am 23. 12. 33, in denen es heißt, im Vordergrund der Wehrpropaganda der Reichswehr habe die Durchdringung der Streitkräfte mit nationalsozialistischem Gedankengut zu stehen. (MGFA/DZ WK VII/759.) 191 Militär-Wochenblatt Nr. 23 vom 18.12. 33, Sp. 737. 192 Dabei wird allerdings die „Hauptidee" in der Devise „Gemeinnutz geht vor Eigennutz" gesehen. 183 MGFA/DZ H 24/6 und WK VII/759, fol. 19; ähnlich Militär-Wochenblatt Nr. 38 vom 11.4.34, Sp. 1270 f., und ebd. Nr. 34 vom 11.3.34, Sp. 1221, wo den Soldaten geraten wird, „aus dem Werke des Führers... [zu] erkennen: Preußisch-deutsches Soldatentum ist Nationalsozialismus." Vgl. Dok.-Anh. Nr. 2. 188

189

„...

II. Die Reichswehr und die

nationalsozialistische

Machtergreifung

73

Nach derartig intensiven rhetorischen wie praktischen Vorbereitungen ordnete Blomberg dann am 4. April 1934 an194, daß dem politischen Unterricht fortan „gesteigerte Aufmerksamkeit" und „erhöhte Bedeutung" beizumessen sei, da jetzt für das zweite Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft „die Notwendigkeit der geistigen Durchdringung der Nation mit den Leitgedanken des nationalsozialistischen Staates in den Vordergrund" gerückt sei. „Im besonderen Maße" treffe dies zu „für die Wehrmacht, die Hüter und Schützer des ist". Um die einheitliche nationalsozialistischen Deutschland und seines Lebensraumes zu Unterrichtes befohlenen gewährleisten, werde nationalpolitischen Durchführung des .

das Reichswehrministerium mehrmals im Monat

..

gedruckte „Richtlinien"

als Anhalte her-

ausgeben.

Nahezu unverhüllt kommen indessen Inhalt wie Motivation der politischen Linie des Reichswehrministeriums in einem Artikel zum 45. Geburtstag Hitlers zum Ausdruck, der die Überschrift trägt „Die Auferstehung des deutschen Frontsoldaten"195. Hier findet sich wiederum die bemerkenswerte Umdeutung der historischen Sicht: die „nationalsozialistische Revolution" habe bereits im August 1914 begonnen; sie sei 1918 „unterbrochen und verraten" worden, sie überlebte aber nicht zuletzt dank „der selbstlosen Pflichthingabe der kleinen, festgefügten Wehrmacht", die mit den Wehrverbänden und der Hitlerbewegung, zwar „auf getrennten Wegen", aber „zu ein und demselben Ziel" marschierte. Diese „historische Sicht" mündet sodann ein und das ist überhaupt ihr vornehmlidier Zweck in die von der Reichswehrführung gewünschte Interpretation des Nationalsozialismus: „Aus dem Geist des deutschen Frontsoldatentums erwuchs der Nationalsozialismus. Für ihn eroberte er die Macht im deutschen Volk und Staat. Die unvollendete deutsche Revolution von 1914 fand mit der nationalsozialistischen Erhebung von 1933 Was ihren geschichtlichen Gestalter in dem unbekannten Frontsoldaten Adolf Hitler sich im nationalsozialistischen Deutschland vollzieht, ist nichts anderes als die Übertragung der frontsoldatischen Wertung und Sittlichkeit auf das gesamte öffentliche Leben. bilden den Kern der Die zeitlos gültigen Grundtugenden der deutschen Soldaten nationalsozialistischen Weltanschauung." Die Reklamierung des Nationalsozialismus für den „Frontgeist" und „soldatische -

-

.

..

194

Vgl. Messerschmidt,

S. 432

.

.

.

Offiziere im Bild

f., erschien dieser Erlaß

am

von Dokumenten, S. 254, Dok. 96. Nach Castellan, 10. 4. 34 in der Presse. Nach einem Bericht des französischen

Militärattaches vom 11.4.34 soll diese von Castellan, ebd., als revolutionär bezeichnete Initiative erhebliche Kritik hervorgerufen haben (ebd.). Darauf deutet auch einen Monat später Blombergs Mahnung hin, den Nationalpolitischen Unterricht korrekt und den Richtlinien gemäß

-

-

durchzuführen (MGFA/DZ W II 22 und WK VII/2306). 195 Militär-Wochenblatt Nr. 39 vom 18.4.33, Sp. 1299 f., Sauer, S. 919, sieht nur das „Hymnische" an diesem Aufsatz, nicht aber die politische Motivierung, die am Ende des Artikels ganz massiv durchscheint: „Dem Frontsoldaten Adolf Hitler kann zu seinem Geburtstag keine größere untrennbaren Einheit von WehrGenugtuung zuteil werden, als die Gewißheit, daß in der macht und Nationalsozialismus [also nicht von Wehrmacht und Partei! d. Verf.] die Fortdauer auf das Wirksamste gesichert sei seines Werkes Möge der Führer an seinem Geburtstag freudig spüren, was seinem Werk eine Wehrmacht bedeutet, die im Innersten von der nationalsozialistischen Weltanschauung durchdrungen ist." ...

.

.

.

.

.

.

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

74

Machtergreifung

Werte"196 eine bemerkenswerte Reduzierung des Nationalsozialismus sollte einzig und allein die von der Reichswehrführung angestrebte Position der bewaffneten Macht im neuen Staat rechtfertigen. Daher heißt es dann weiter: „Der soldatische Gehalt der nationalsozialistischen Weltanschauung und das soldatische Gefüge des neuen Staates verleihen dem Soldatenstand der waffentragenden Wehrmacht gesteigerte Bedeutung Die Wehrmacht ist das entscheidende Machtmittel der nationalsozialistischen Staatsführung und die sichtbare Verkörperung der Reichsgewalt. Darum ist sie das Kernstück der nationalsozialistischen Staatlichkeit..." Was ist das anderes als die in eine Proklamation umgesetzte politische Taktik Reichenaus: Mitmachen und Einfluß gewinnen? In den zitierten Sätzen scheint das letzte Ziel durch: entscheidender Einfluß für die Reichswehr im neuen Staat197. Diese politische Absicht wird in geradezu demonstrativer Weise proklamiert. So fügt sich die nachdrüddiche Indoktrinierungstendenz machttaktisch wie ideologisch als wesentliches Element ein in die große politische Linie der -

-

...

...

..

Reichswehrführung.

Es ist darauf hingewiesen worden198, daß Blombergs Indoktrinierungstendenzen die Armee insgesamt keineswegs im nationalsozialistischen Sinne gleichzuschalten vermocht hätten. Das stimmt dann, wenn man unter Gleichschaltung versteht, daß die Soldaten durch diese Maßnahmen im partei-ideologisch strengen Sinne Nationalsozialisten geworden wären. Gewiß war das nicht der Fall. Statt von Gleichschaltung wird man adäquater von „Anpassung" sprechen «¿issen. Denn das Indoktrinierungsbestreben entwickelte und förderte den inneren Konsensus der Armee mit dem neuen Regime. Sie prägte den Soldaten die Überzeugung ein, das neue von Hitler errichtete und von seiner Bewegung Sie tauchen in der Folgezeit immer wieder auf; vgl. Messerschmidt, Offiziere im Bild von Dokumenten, S. 255, Dok. 97 (Erlaß Blombergs vom 24. 5. 34). 197 Trotz Krausnick, Vorgeschichte, S. 214 ff., und Sauer, S. 920 (insbesondere Anm. 100), hat diese Politik der Reichswehrführung, jedenfalls was die Erringung einer besonderen Stellung der Armee durch die Herstellung eines außerordentlichen Vertrauensverhältnisses zu Hitler anging, doch auch im höheren Offizierkorps gewissen Anklang gefunden: vgl. Weichs, Die Stellung des 198

Offizierkorps, fol. 17: „So hoffte man, daß sich ein besonderes Vertrauensverhältnis

zwischen dem Führer und den Offizieren der Wehrmacht entwickeln würde, was für Wehrmacht, Reich und Volk nur günstig hätte wirken können." Man beachte die unreflektierte Verknüpfung mit dem Wohl von Wehrmacht und Volk! Die Devise „Reichswehr als einer der entscheidenden Machtfaktoren im Staat" ist im übrigen symptomatisch für eine gewisse Kontinuität im politischen Denken der Militärs (vgl. dazu u. a. Carsten). Daraus erklärt sich z. T. auch, wieso aus dem Offizierkorps kein grundsätzlicher Protest gegen diese Indoktrinierungsversuche „von oben" erhoben wurde; eine Resistenz oder Renitenz ist erst später, nicht aber 1933/34 in den Quellen faßbar. 198 So Sauer, S. 920, der die Indoktrinierungspolitik einerseits in ihrer Wirkung nicht als „Gleichschaltung in nationalsozialistischem Sinne" auffaßt, anderseits sie jedoch „als kleine Revolution für sich" bezeichnet. Er sieht ihre „historische Bedeutung weniger darin, daß sie die Wehrmacht faktisch gleichgeschaltet hätte, als daß sie ihre innere Schwäche offenbarten." Wichtig war doch primär, daß die Führung zu indoktrinieren strebte und sodann, daß damit in den Augen der Soldaten anscheinend ein Konsensus zwischen Armee und NS-Regime festgestellt wurde. Im übrigen ist bei Sauer an dieser Stelle die Unklarheit des Begriffes „Gleichschaltung" ...

...

offenkundig.

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

75

getragene System entspräche wesensmäßig dem Geist, den Interessen und den Traditionen der bewaffneten Macht199. Die forcierte Gleichsetzung des Begriffes „Nationalsozialismus" mit „soldatischem Geist" sowie das Hineininterpretieren von „soldatischen Werten und Auffassungen" in die „Weltanschauung" der Hitlerbewegung trugen zur Verwirrung und damit zur Lähmung der Geister bei, mehr noch: sie waren geeignet, Identifikationstendenzen hervorzurufen bzw. vorhandene zu fördern. Dies um so mehr, als die Heeresleitung sowohl unter Hammerstein als auch unter Fritsch keineswegs dagegen anging, sondern im großen und ganzen die Indoktrinierungstendenzen der Reichswehrführung mitgefördert hat200. Wenn schon sehr bald bei politischen oder weltanschaulichen Meinungsäußerungen offenherzige Unbefangenheit nicht mehr überall angebracht war201, wenn dann später oppositionelle Generale desillusioniert feststellen202 mußten, daß beträchtliche Teile des Offizierkorps und der aktiven Truppe von nationalsozialistischen Ideen und Führergläubigkeit in erheblichem Maße angesteckt seien, dann zeigt das, wie sehr die Indoktrinierungspolitik Blombergs und Reichenaus zur Infizierung der Armee und zur schleichenden Desintegration des Offizierkorps beigetragen hat. Parallel mit der geschilderten Indoktrinierung betrieb die oberste Reichswehrführung eine entsprechende Personalpolitik. Daß dabei Blomberg und Reichenau ehemalige Mitarbeiter Schleichers aus ihrer Umgebung entfernten, mag noch im Rahmen eines bei einem politischen Wachwechsel üblichen Revirements liegen203. Weniger traf das auf die Verabschiedung einer größeren Anzahl höherer Offiziere zu, unter ihnen neun Generale, die zum 1. Oktober erfolgte204. Etliche der Entlassenen waren offensichtlich auch aus politischen Gründen zur Disposition gestellt worden. Da allerdings ein Teil bald aufgrund des durch die anlaufende Aufrüstung bedingten Personalmangels wieder eingestellt wurde und zwar auch Offiziere, die zuvor als politisch ungeeignet entlassen worden waren -, geben diese Personalveränderungen de facto kein unbedingt eindeutiges Bild von den Prinzipien der Personalpolitik der Reichswehrführung. Im ganzen jedoch zeigte sich eine regimekonforme Tendenz205. Das kam vornehmlich in -

-

-

199 Bezeichnenderweise scheint man im Offizierkorps diese Indoktrinierung nämlich durchaus nicht bloß als Propaganda oder nicht ernstzunehmende „Lippenbekenntnisse wie in der Zeit der Weimarer Republik" (so Foertsch, S. 45, der immerhin damals zu den Multiplikatoren dieser Indoktrinierungspolitik gehört hat) aufgefaßt zu haben: vgl. Weichs, Die Stellung des Offizierkorps, fol. 31: „Vor dem Kriege wurde das aktive Offizierkorps mit politischer Propaganda noch in Ruhe gelassen." Ähnlich Lüttwitz, fol. 87. 208 Vgl. weiter unten S. 78 und 110. 201 Vgl. Lüttwitz, fol. 93 (für die Zeit Ende 1936): „...die Frage der persönlichen Stellung zum Nationalsozialismus wurde von mir übergangen. Ich glaubte, nicht offen meine Meinung sagen zu können." 292 Vgl. insbesondere Kap. XL 208 Vgl. die Belege bei Sauer, S. 734 und 742. 294 Militär-Wochenblatt 1933, Sp. 292. sos Da2u gehörte auch, daß der Korvettenkapitän v. Friedeburg, ein als Nationalsozialist bekannter Offizier mit Beziehungen zu Himmler, zu Blombergs Marine-Adjutanten ernannt wurde. Fritsch klagte später (Hoßbach S. 70), Friedeburg sei ein „Störungsorgan der Partei" zwischen ihm und Blomberg gewesen und habe Himmler Einfluß bei Blomberg verschafft. ...

...

...

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

76

Machtergreifung

drei Schlüsselstellungen im Heer zum Ausdruck. Der als HitlerGegner bekannte Chef des Heerespersonalamtes (HPA), General v. d. Bussche-Ippenburg, wurde durch einen unpolitischen „Nur-Soldaten" ersetzt206. Den Chef des Truppenamtes, der dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstehende General Adam, ersetzte zum 1. Oktober 1933 General Beck. Daß die Wahl auf Beck fiel, hatte seine Gründe. Dieser war damals noch durchaus positiv zum neuen Regime eingestellt207. Zudem soll Hitler, der von seinem Auftreten im Ulmer Reichswehrprozeß besonders beeindruckt gewesen war, sogleich nach der „Machtergreifung" Blomberg die Weisung gegeben haben, ihn alsbald an hervorragender Stelle zu verwenden208. Adams Ersetzung209 durch Beck entsprach jedenfalls in dieser Hinsicht Blombergs regimekonformer Tendenz in der Personalpolitik. Ebenfalls gegen Ende des Jahres wurde Hammersteins Verabschiedung und Nachfolge geregelt. Dabei mußten die neuen Männer der Reichswehrführung eine zeitweilige Niederlage hinnehmen, deren Bedeutung man zwar nicht überschätzen sollte, die aber doch beispielhaften Charakter trug. Daß Hammerstein sich unter den neuen Verhältnissen nicht mehr lange würde halten können, war ihm selbst klar gewesen, zumal auch fachlich und persönlich seine Stellung immer schwächer wurde. Der Chef des Heerespersonalamtes schlug als Nachfolger den Befehlshaber im Wehrkreis III, Generalleutnant Freiherr v. Fritsch, vor210. Der Reichswehrminister stimmte zwar der Ablösung Hammersteins zu, verwarf aber den Vorschlag, Fritsch zum Chef der Heeresleitung zu ernennen. Er wollte General v. Reichenau auf diesem Posten sehen211. Auch Hitler, der jedoch in dieser Frage sehr vorsichtig taktierte, sich jeder direkten Einmischung enthielt und formal die Prärogative des Reichspräsidenten achtete, wünschte Reichenau als Chef der Heeresleitung212. der

Neubesetzung

von

206

Zs. Nr. 217. Vgl. ebd. Zs. Nr. 279, Bd I. 208 Institut für Zeitgeschichte, ED 60 (Generalmajor Dr. h. c. Otto Wagener, „Ergänzende Aufzeichnungen, Generaloberst Beck und Hitler"), fol. 53. Zu Becks Haltung beim Ulmer Reichswehrprozeß vgl. auch Mitteilung General a.D. Heusinger vom 16.2. 1966 an das MGFA: „Beck ist als Ulmer Regimentskommandeur durch den Prozeß bekannt geworden. Wir jungen Offiziere waren damals begeistert, wie er für die Angeklagten eingetreten ist." Nach Kunrat v. Hammerstein, Schleicher, Hammerstein und die Machtübernahme, in: Frankfurter Hefte 11 (1956), S. 16, wollte Groener damals Beck wegen dessen Verhalten verabschieden, was Hammerstein jedoch

207

verhinderte. Allgemein vgl. Bucher, Reichswehrprozeß, passim. 209 Adam, der vom 1. 10. 30 bis 1. 10. 33 Chef TA gewesen war, erhielt die 7. Division' und wurde Befehlshaber im Wehrkreis VII. 210 Hierzu und zum folgenden Hoßbach, Oberbefehl, S. 102, Anm. 63, und Keitel, S. 66 und Anm. 40.

Keitel,

S. 61 und 66, sowie Foertsch, S. 39-40. Nach Fritschs Aufzeichnungen vom 1. 2. 38 hat dem General v. Fritsch kurz nach der Regierungsbildung Hitlers eröffnet, wenn Hammerstein „aus irgendeinem Grunde plötzlich zurücktreten" müsse, sei er, Fritsch, „in der gleichen Stunde Chef der Heeresleitung". (BA/MA H 08-28/3, Beck-Nachlaß, fol. 1. Dieser Passus ist bei Hoßbach, S. 68 f., ausgelassen.) Blomberg hatte sich also knapp ein Jahr später offensichtlich für Reichenau entschieden. Jedenfalls erwähnt Fritsch in seiner Aufzeichnung auch, er habe seit März 1933 gewußt, daß Reichenau das Amt des Chefs der Heeresleitung anstrebe (Hoßbach, S. 69). 212 Walter Görlitz, Hindenburg, ein Lebensbild, Bonn 1953, S. 417, berichtet, allerdings ohne 211

Blomberg

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

77

jedoch bei der Mehrzahl der höheren Generäle auf Ablehnung. niedriges Rangdienstalter, seine politische Einstellung und seine persönliche Art empfahlen ihn seinen Generalskameraden nicht213. Indessen wäre ihre Opposition wohl kaum erfolgreich gewesen, wenn nicht der Reichspräsident, der Hammersteins Entlassung durchaus billigte, ebenfalls gegen Reichenaus Ernennung gewesen wäre. Dagegen kam Blomberg nicht auf214. Er mußte sogar eine persönliche Schlappe einstecken, als Dessen Kandidatur stieß

Reichenaus

Hindenburg ihn, der mit seinem Rücktritt drohte, um Reichenaus Kandidatur durchzudrücken, energisch in die Schranken verwies215. Nach dem Willen des Reichspräsidenten wurde daher mit Wirkung vom 1. Februar 1934 General Freiherr v. Fritsch zum Chef der Heeresleitung ernannt216. Diese Episode ist als Beispiel dafür bedeutsam, wie eine heeresinterne Opposition gegen eine politisch relevante Maßnahme der Reichswehrführung erfolgreich blieb, weil es ihr gelang, eine übergeordnete politische Instanz den Reichspräsidenten zu aktivieren. Die Einschaltung Hindenburgs jedoch gelang nur deswegen, weil dieser sachlich wie politisch mit den opponierenden Generälen konform ging217. Der institutionell bedingte Mangel an Durchsetzungsmöglichkeit der militärischen Funktionsträger wird an dieser Episode deutlich. Sie sollte indessen als Niederlage der Reichswehrführung nicht überbewertet werden. Fritschs Amtsantritt hatte keinesfalls einen politischen Kurswechsel zur Folge. Allerdings stellte er, gestützt auf ein rasch gewonnenes großes Ansehen im Offizierkorps, die unter Hammerstein verfallene Autorität der Heeresleitung wieder her. Nun konnte Blomberg nicht mehr so ungeniert in den Bereich des Heeres hineinregieren. Dadurch wurde die Heeresleitung auch instand gesetzt, sich militärisch-fachlich dem Reichswehrministerium gegenüber eine Reservatsphäre aufzubauen. Die Tendenz des neuen Chefs der Heeresleitung, die Domäne des Heeres gegen unberechtigte Übergriffe und Ansprüche abzuschirmen, von welcher Seite auch immer sie kommen mochten, machten ihn rasch zu einem von der Partei beargwöhnten, von oppositionellen Kreisen als große Hoffnung betrachteten Faktor. Das aber war im Grunde eine unzutreffende Einschätzung. Fritschs Autorität im Heer, sein Prestige auch in Kreisen außerhalb der Armee wären schon geeignet gewesen, ihn zum Kristallisationspunkt einer -

-

Belege,

von

einer Demarche Hitlers für Reichenau bei

gewiesen habe. 218 Papen, S. 24, und Hoßbach, S. 68. Dabei wird

Hindenburg,

die dieser

jedoch zurück-

aber kaum von einer „Einheitsfront zwischen Hindenburg und dem Offizierkönnen (Hervorhebung vom Verf.), wie es Sauer, S. 743, tut. Es war mehr eine Interessen- und Auffassungsgleichheit zwischen dem Präsidenten und einigen Generälen, die Hindenburgs Ohr erreichen konnten und über die Pläne im Reichswehrministerium informiert waren. Foertsch, S. 40, berichtet, daß wohl die ältere Generation die Ernennung Fritschs fast einhellig begrüßt habe, daß dagegen aus den mittleren und jüngeren Schichten des Offizierkorps auch Stimmen laut geworden seien, „die bei einer Ernennung Reichenaus einen größeren Einfluß 214

man

korps" sprechen

der

Wehrmachtsgedanken auf Hitler und die Partei erwarteten." Keitel, S. 66, und Hoßbach, S. 102. 216 Nach Hoßbach, S. 69, schreibt Fritsch: „...entgegen dem Wunsche Blombergs... auf stärkstes Drängen des Generalfeldmarschalls v. Hindenburg ." 217 Diese Voraussetzung sieht Sauer, S. 743, nicht und nimmt daher die ganze Episode uneingeschränkt als Beispiel, „daß erfolgreicher Widerstand in jener Zeit durchaus möglich war." 215

..

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

78

Machtergreifung

Fronde gegen den politischen Kurs der Reichswehrführung, gegen die Partei oder gar gegen das Regime zu machen. Aber nichts lag dem Vorstellungsvermögen des Chefs der Heeresleitung ferner denn dies. Bis zu seinem Sturz und in gewissem Sinne noch darüber hinaus war Hitler für ihn mehr als nur ein Reichskanzler; er „glaubte irgendwie" an ihn und seine Mission218. Wohl wandte er sich gegen sachlich ungerechtfertigte Anordnungen der Reichswehrführung und kämpfte hartnäckig gegen Versuche von Parteiseite, einen Einfluß auf das Heer auszuüben, aber er bejahte grundsätzlich den nationalsozialistischen Staat und meinte, „daß die Grundlage unseres heutigen Heeres nationalsozialistisch ist und sein muß"219. Er war ebenso kompromißlos gegen jedwede Parteiambitionen auf das Heer, wie er gegenüber dem nationalsozialistischen Regime als solchem und seinem „Führer" unkritisch positiv eingestellt war. Er war ein politisch desinteressierter und ungeschulter Offizier, dessen unreflektierter Traditionalismus in der hochmütigen Distanz gegenüber jedem parteipolitischen Treiben, also auch dem der NSDAP, zum Ausdruck kam, dessen konservativer Nationalismus ihn jedoch der Illusion verfallen ließ, mit Hitler und seiner Bewegung sei eine „starke nationale Kraft" im Sinne eben dieses seines eigenen Nationalismus an die Regierung gekommen. So wandte er sich gegen direkte Eingriffsversuche in den Bereich des Heeres, eine geistige Immunisierung des ihm anvertrauten Heeres aber gegenüber ideologischen Einbrüchen gelang ihm wegen seiner eigenen Illusionen nicht; denn gegen einen Einbau der Armee in den neuen Staat hatte Fritsch generell nichts einzuwenden220. Insofern war Blombergs Niederlage bei der Auswahl des Nachfolgers von Hammerstein doch ein halber Sieg, denn von dem neuen Chef der Heeresleitung brauchten er und Reichenau keine prinzipielle Opposition gegen die große Linie ihres Kurses zu -

-

erwarten.

Der

vom

Prinzip her entscheidende und einschneidendste Schritt im Bereich der Personaldes sogenannten Arierparagraphen, aus dem „Gesetz

politik war die Anwendung des § 3,

Wiederherstellung des Berufsbeamtentums"221 auf die Offiziere und Soldaten der Reichswehr. Durch einen Erlaß vom 28. Februar 1934222 ordnete der Reichswehrminister zur

So Fritschs langjähriger 1. Generalstabsoffizier, Generalleutnant a.D. Siewert (Mitteilung an das MGFA vom 19. 7.1966). Weichs, Erinnerungen, Bd II, S. 35, berichtet, Fritsch habe ihm persönlich einmal gesagt, daß er „gern mit Hitler zusammenarbeite, daß aber die übrigen Parteigrößen Hohlköpfe seien". Vgl. dazu auch das in Kap. V dieser Arbeit Ausgeführte. 219 Fritschs Erklärung vom 1. 2. 38 (zit. bei Hoßbach, S. 70). 220 Es finden sich keine Belege etwa über eine Opposition Fritschs gegen den bei seiner Amtsübernahme bereits mit vollen Segeln eingeschlagenen Indoktrinierungskurs des Ministeriums. Fritsch hat vielmehr gewisse Maßnahmen Blombergs sogar seinen nachgeordneten Organen und Untergebenen verständlich gemacht (vgl. Text zu Anm. 235 dieses Kapitels und Kap. IV dieser 218

Arbeit).

221

Gesetz vom 7. 4. 33. Der Text wurde nicht veröffentlicht. Auch Bruno Blau, Das Ausnahmerecht für die Juden in Deutschland 1933-1945, Düsseldorf 31965, erwähnt diesen Erlaß nicht. Der Wortlaut des Erlasses fand sich in MGFA/DZ II W 22 und W 01-5/173: vgl. Dok.-Anh. Nr.3. Das Reichswehrministerium bat am 12. 3. 34 das Propagandaministerium lediglich um Veröffentlichung einer kurzen Notiz (MGFA/DZ W 01-5/173, Az. 1000 I/III). Es ¡st aber nicht feststellbar, ob sie vom Propaganda-Ministerium auch tatsächlich veröffentlicht wurde. Bezeichnend ist, daß die Berufung auf 222

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

79

die beschleunigte Nachprüfung der „arischen Abstammung" aller Angehörigen der Reichswehr an und dekretierte, daß „Offiziere, Deckoffiziere, Unteroffiziere und Mannschaften, die den Bestimmungen des § 3 nicht entsprechen, nicht in der Wehrmacht belassen werden" können. Ausgenommen von dieser Regelung waren nur Reichswehrangehörige, die Frontkämpfer gewesen oder Sohn bzw. Vater eines im Weltkrieg Gefallenen waren. In Durchführung dieses Erlasses sind 70 Reichswehrangehörige entlassen worden223. Der Erlaß berührte damit ganz konkret Offizierkorps und Armee. Mit ihm wurde erstmals in Vollzug der „öffnungs"-Politik Blombergs und Reichenaus ein typisch nationalsozialistisches Prinzip die Rassentheorie, auf der jenes Rassengesetz beruhte für die Streitkräfte übernommen und in die Praxis umgesetzt224. Alle bisherigen Maßnahmen im Bereich der Personalpolitik trugen trotz ihrer teilweise politischen Motivation entweder individuellen Charakter oder waren nur Fixierungen bisher stillschweigend geübter Grundsätze. Der Arier-Erlaß Blombergs dagegen war von prinzipieller Bedeutung: eine ...

-

...

-

Hindenburg („Nach Vortrag beim

Herrn Reichspräsidenten...") im ursprünglichen Entwurf nicht enthalten war, sondern erst auf Blombergs Weisung erfolgte. Ob tatsächlich Blomberg in dieser Sache dem Reichspräsidenten Vortrag gehalten hat, ist nicht festzustellen. 223 Nach „Das Archiv", April 1934, S. 42, wurden entlassen: a) Aus dem Heer: 5 Offiziere, 2 Offiziersanwärter, 1 Sanitätsoffiziersanwärter und 31 Unteroffiziere und Mannschaften. b) Aus der Marine: 2 Offiziere, 4 Offiziersanwärter, 5 Unteroffiziere und Mannschaften. So auch Castellan, S. 433, nach dem offiziellen Kommunique. Manstein, S. 209, spricht nur von sechs Leutnanten und einem Fähnrich. Die Angaben in der wissenschaftlichen Literatur basieren alle auf den Angaben im amtlichen Kommunique oder im „Archiv" ; so Sauer, S. 742. Auch Raeder, Bd II, S. 132, der von zwei Offizieren der Marine spricht, ist entsprechend zu berichtigen. Es handelte sich bei diesen Offizieren auch nicht, wie Sauer, S. 919, meint, um „jüdische", sondern um „nicht-arische" Offiziere, also solche, die nach nationalsozialistischer Auffassung „nicht-arische" Vorfahren der ersten oder zweiten Generation hatten. Jüdische Offiziere hat es nach einer Verlautbarung des Reichswehrministeriums vom 12. 10. 33 (MGFA/DZ W 01-5/173) in der Reichswehr nicht gegeben, wohl aber, wie es scheint, einige jüdische Soldaten. Im ganzen wurden, wie aus erst jetzt zugänglichen Unterlagen hervorgeht (vgl. Dok.-Anh. Nr. 5) entlassen: aus dem Heer sieben Offiziere, acht Offiziersanwärter, 13 Unteroffiziere und 28 Mannschaften; aus der Marine drei Offiziere, vier Offiziersanwärter, drei Unteroffiziere und vier Mannschaften, insgesamt also 70 Soldaten. Diese endgültige Zahl wurde damals indessen nicht zur Veröffentlichung freigegeben (MGFA/DZ W 01-5/173, Az. 23 g 11/1 Ia vom 21.6.34). Nach Rudolf Absolon, Wehrgesetz und Wehrdienst 1933-1945, Das Personalwesen in der Wehrmacht Schriften des Bundesarchivs Bd 5, Boppard 1960, S. 117, sind auch späterhin weitere „nicht-arische" Soldaten entlassen worden. O'Neills Ansicht, man habe den Arierparagraphen benutzt, um „troublemaker" loszuwerden (O'Neill, S. 39), ist durch nichts zu belegen. 224 Danach sind zu berichtigen Rothfels, S. 192, Anm. 55, sowie Erfurth, S. 150, die von den „Nürnberger Gesetzen" reden, die erst mit Verzögerung in der Armee eingeführt worden seien. Es handelt sich jedoch nicht um die erst 1935 erlassenen „Nürnberger Gesetze", sondern um den „Arier-Paragraphen" des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" von 1933 bzw. den entsprechenden Erlaß Blombergs von Anfang 1934. Von einer Schonfrist (Rothfels, S. 192, Anm. 55; ähnlich Krausnick, Vorgeschichte, S. 219 f.) kann also nicht bezüglich der „Nürnberger Gesetze", sondern höchstens von der Zeitdifferenz zwischen April 1933 (Erlaß des Berufsbeamtengesetzes) und Februar 1934 (Blombergs Erlaß) die Rede sein. =

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

80

Machtergreifung

eindeutig „parteipolitische Maxime" sollte jetzt innerhalb der Streitkräfte konkret praktiziert werden, und zwar in einem Kernbereich militärischer Führung, im Bereich der Personalwirtschaft. Hier wird im übrigen ein indirekter Zusammenhang mit der ideologischen Indoktrinierungspolitik deutlich. Angesichts dieser Tatsachen kann nicht mehr behauptet werden, in den ersten Jahren des „Dritten Reiches" sei die Wehrmacht von nationalsozialistischen Einflüssen und Einbrüchen weitestgehend frei geblieben. Gilt das schon hinsichtlich der ideologischen Indoktrinierung nicht, so gilt es noch viel weniger bezüglich der Prinzipien personalpolitischer Maßnahmen und ihrer Durchführung. Wie kam es zu diesem bedeutsamen Vorgang? Einerseits hat Blomberg selbst in Fortführung seines politischen Kurses ganz bewußt in diese Richtung gearbeitet. Bereits am 1. Juni 1933225 erklärte er auf einer Befehlshaberbesprechung, die Wehrmacht könne nicht am Arierparagraphen vorübergehen, wenngleich das neue Beamtengesetz nicht für die Soldaten gelte. Dennoch verfügte er „aus eigenem Antrieb" eine Änderung der Einstellungs- und Heiratsbestimmungen, durch die der „Neuzugang" von Nichtariern unterbunden wurde226. Außerdem wurden drei jüdische Soldaten aus dem Heer entfernt227. Andererseits fühlte sich das Reichswehrministerium in der Frage der Nichtarier innerhalb der Armee auch von außen unter Druck gesetzt. In der Bendlerstraße trafen mehrfach Anfragen von Presseorganen und Berufsvereinigungen über die Anzahl der nichtarischen Offiziere bzw. über deren erfolgte oder nicht erfolgte Entlassung ein228. Zudem scheint diese Frage von Parteikreisen ebenfalls mit mahnendem oder vorwurfsvollem Unterton ausgesprochen worden zu sein229. Mitte Dezember 1933 erklärte ein Sprecher des Reichswehrministeriums in diesem Zusammenhang230, es gebe nur eine kleine Zahl nichtarischer und gar keine jüdischen Offiziere in der Reichswehr. Aufgrund einer Über225

Man beachte die zeitliche Koinzidenz mit dem

kampagne.

Beginn der nachdrücklichen Indoktrinierungs-

228 Liebmann-Notizen, Bl. 53; insofern war im übrigen die „Schonzeit" (vgl. oben Anm. 224) schon reichlich eingeschränkt. 227 Ygi_ nächste Anm. 228 Ygj MGFA/DZ W 01-5/173, Reichswehrministerium, Geheimakten über Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Auf eine Anfrage der „Deutschen Wochenzeitschrift .Fridericus'" vom 25. 7. 33, ob es zutreffe, daß noch „jüdische Soldaten" in der Reichswehr dienten, wurde erst am 12. 10. 33 geantwortet, dies treffe nicht zu. Die lange Dauer der Beantwortung erklärt sich aus den Randnotizen des zuständigen Bearbeiters: „Sind die drei aus dem Heer schon raus?" (28. 7.) Darunter steht die Bemerkung: „Die sollen raus, sind noch nicht. Brief liegen lassen." (9. 8.) Man fühlte sich demnach im Ministerium gar nicht wohl und versuchte, den „Stein des Anstoßes" schnell und unauffällig zu beseitigen. Beachtenswert ist jedenfalls, daß bereits vor dem einschlägigen Erlaß drei jüdische Soldaten aus dem Heer entfernt wurden, wobei man sich unter dem Druck der „öffentlichen Meinung" fühlte. 22» Vgl. den entsprechenden Passus in der weiter unten ausführlich behandelten Manstein-Denkschrift. S. 84 dieses Kapitels (vgl. auch Dok.-Anh. Nr. 4). 230 Castellan, S. 430. Zuvor scheint schon ein ähnliches Dementi erfolgt zu sein (ebd.). Castellan spricht auch davon, daß bereits Ende 1933 Gerüchte über die Anwendung der nationalsozialistischen Rasseprinzipien auf die Streitkräfte aufgetaucht sind.

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

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einkunft zwischen dem Reichskanzler und dem Reichswehrminister hätten die nichtarischen Offiziere nichts zu befürchten. Fortan jedoch würden nur noch reinarische Offiziere eingestellt und auch die Erteilung der Heiratserlaubnis würde entsprechend gehandhabt231. Diese Erklärung sollte fraglos zur Beruhigung der Kritiker dienen232. Indessen scheint sich diese Hoffnung nicht erfüllt zu haben; denn Mitte Januar 1934 wurde die Behauptung verbreitet, daß sich noch über 800 Offiziere nichtarischer Abstammung im Heer befänden233. Inzwischen hatten sich die innenpolitische Krise des Regimes und in Verbindung damit der Konflikt zwischen SA und Reichswehr immer mehr zugespitzt234. Die Reichswehrführung war eifrig bemüht, mit allen Mitteln ihren Einfluß bei Hitler und somit ihre Position gegenüber der SA zu stärken. Als Blomberg im Februar 1934 die Anbringung des NS-Hoheitsabzeichens an die Wehrmachtuniform befahl, begründete der Chef der Heeresleitung diese Anordnung vor den Befehlshabern ausdrücklich damit, daß hierdurch dem Kanzler „die nötige Stoßkraft der SA gegenüber gegeben werden"235 solle. In diesem Zusammenhang ist auch der Arier-Erlaß Blombergs zu sehen. Denn an demselben 2. Februar, an dem der Minister das Anlegen des NS-Hoheitsabzeichens befahl, hat er die Befehlshaber auch von der beabsichtigten Herausgabe des Erlasses unterrichtet. Innerhalb weniger Wochen hatte sich in der Sicht der Reichswehrführung die Lage derart zugespitzt, daß sie es trotz Absicherung durch die Dezember-Vereinbarung mit Hitler für notwendig erachtete, nunmehr die „Arierfrage" in der Reichswehr grundsätzlich und eindeutig im nationalsozialistischen Geiste zu lösen. Der „Arier-Erlaß" Blombergs ist damit einerseits ein taktischer Schachzug im Rahmen des Machtkampfes236 gewesen, andererseits aber lag diese Maßnahme im Prinzip durchaus auf der Linie der allgemeinen „Öffnungs-Politik" der Reichswehrführung237. Aber gerade 231

Dazu

damals 232

Castellan, S. 430. Einige Offiziere, die „nichtarische"

Frauen heiraten

wollten, schieden

aus.

Interessant

Rede ist.

ist, daß dabei

nur von

Offizieren, nicht aber von Soldaten und Unteroffizieren die

233 Vgl. MGFA/DZ W 01-5/173. Eine diesbezügliche Anfrage des bereits längst „arisierten" Reichsbundes der höheren Beamten vom 17.1. 34 ebd. Der Chef des Ministeramtes antwortete am 5. 2. 34 in außerordentlich scharfer Form („Ich werde gegen Verbreiter dieser Nachricht entsprechend vorgehen."), daß dies nicht zutreffe. 234 Vgl. Kap. III dieser Arbeit. 233 Liebmann-Notizen, Bl. 79 (Befehlshaberbesprechung vom 2.-3.2.34). Nicht zufällig kam wohl der Erlaß auch genau an dem Tag (28. 2. 34) heraus, an dem in Berlin von Hitler ein Treffen zwischen Vertretern der SA-Führung und der Reichswehrgeneralität einberufen worden war. Eine andere Begründung des Erlasses findet sich im Militär-Wochenblatt Nr. 32 vom 25. 2. 34, Sp. 1059 f. 238 So auch Castellan, S. 433. 237 Vgl. die rassistisch angetönten Aufsätze im Militär-Wochenblatt Nr. 14 vom 11. 10. 33, Sp. 448 f. „Soldat und Rasseaufartung"; Nr. 17 vom 4. 11. 33, Sp. 552 f. Zur geistesgeschichtlichen Einordnung vgl. Hans-Günter Zmarzlik, Der Sozialdarwinismus in Deutschland als geschichtliches Problem, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 11 (1963), S. 246 ff. Zudem wurden die rassistischen Bestimmungen innerhalb der Streitkräfte in Zukunft laufend verschärft, auch nach Lösung •

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

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Machtergreifung

die bedeutsame Rolle, die das taktische Element in dem Komplex gespielt hat, zeigt, wie schnell die Politik Blombergs und Reichenaus in Reaktion auf von außen kommende Einflüsse und Impulse in Bahnen geriet, die zu gefährlichen, politisch wie moralisch bedeutsamen Substanzeinbußen führte. Die Reaktion des Offizierkorps auf diese vom Reichswehrminister angeordnete Säuberung nach dem Prinzip nationalsozialistischer Rasseauffassung war, wiewohl sehr unterschiedlich artikuliert, im ganzen symptomatisch. Weder der Chef der Marineleitung noch der Chef der Heeresleitung haben soweit bekannt Bedenken gegen den Arier-Erlaß geäußert, geschweige denn Protest erhoben. General Freiherr v. Fritsch und Admiral Raeder scheinen versucht zu haben, individuelle Ausnahmen durchzusetzen und für die noch im Dienst Verbliebenen Nachteile abzuwenden238. Aber im Prinzip haben sie die Anordnung des Ministers akzeptiert. Erkannten sie etwa die grundsätzliche Bedeutung dieses Vorganges nicht? Hinsichtlich des Chefs der Heeresleitung wird man das nicht annehmen dürfen. Er ist mindestens von einem höheren Generalstabsoffizier auf die problematische Seite der Angelegenheit hingewiesen worden. Aber zu jener Zeit, im Frühjahr 1934, war Fritsch, wenige Wochen erst im Amt, völlig im Bann der SA-Gefahr. Zudem scheint er persönlich auch von jenen in weiten Kreisen eingewurzelten und mehr oder weniger unreflektiert gepflegten antisemitischen Vorurteilen nicht frei gewesen zu sein239. -

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des SA-Konfliktes. Am 27.4. 34 schrieb zudem der Adjutant des Reichswehrministers, Kapitän v. Friedeburg, an einen für einen der Entlassenen eintretenden Redakteur, die Durchführung des Arierparagraphen sei „notwendig gewesen um im Sinne unseres Führers zu handeln." (Briefsammlung Kapitän z. S. a. D. Lebram.) 238 Vgl. Raeder, Bd II, S. 132. Daß wie Raeder behauptet die „zwei entlassenen Offiziere im Kriege wieder im aktiven Dienst verwendet worden" seien, trifft auf einen dieser Offiziere nach dessen Aussagen nicht zu. Er versichert außerdem, daß in seinem Fall nicht wie Raeder schreibt „von der Marine... dafür gesorgt wurde", daß er eine gute Zivilstellung erhielt, sondern daß dies privat durch den ihm befreundeten damaligen Kapitän z. S. Canaris geschah. Raeder muß die ganze Angelegenheit als peinlich empfunden haben, denn Raeder empfing den um eine Abschiedsunterredung nachsuchenden entlassenen Offizier nicht und ging in einer zweizeiligen Erwiderung auf einen Brief dieses Offiziers nicht auf die darin von diesem geäußerte Meinung ein, „daß diese_Maßnahme mit der traditionellen Auffassung des Soldatenberufes unvereinbar sei und zudem gegen die besten Überlieferungen des Offizierstandes verstieße." (Nach Mitteilung von Kapitän z. S. a. D. Lebram an das MGFA sowie Briefsammlung Lebram.) 239 In BA/MA H 08-33/6, Privatkorrespondenz Werner Frhr. v. Fritsch mit Baronin Margot v. Schutzbar, findet sich die englische Übersetzung eines angeblichen Briefes Fritschs vom 11. 12.38, in dem es heißt: „Soon after the war I came to the conclusion that we should have to be victorious in three battles, if Germany were to become powerful again: 1. The battle against the working class Hitler has won this. 2. Against the Catholic Church, perhaps better expressed against Ultramontanisme, and 3. against the Jews. We are in the midst of these battles and the one against the Jews is the most difficult." Er wurde im Nürnberger Prozeß als Dokument PS-1947 von der Anklage vorgelegt (Anklagerede von Justice Jackson, IMT II, S. 132, mit Zitat aus dem Brief). Da die Anklage das Original nicht vorzulegen vermochte und da die Verteidigung ein Affidavit (Nr. 180) der Baronin v. Schutzbar vorlegte, demnach sie einen solchen Brief von Fritsch nie erhalten habe, hat das Gericht den von der Anklage vorgelegten angeblichen Brief nicht zur Kenntnis genommen. (IMT XXI, ...

...

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Machtergreifung

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Über die Problematik, welche die rassistische Säuberung für das Gefüge von Armee und Offizierkorps aufwarf und die ihm nicht verborgen geblieben sein kann, hat er sich jedoch in seiner politischen Harmlosigkeit240, in seinem ungebrochenen Vertrauen in Hitler sowie

angesichts der scheinbaren Notwendigkeit im Kampf gegen die SA hinweggesetzt. Der soweit bekannt einzige Protest von einigermaßen grundsätzlicher Art kam vom Chef des Stabes im Wehrkreis III, dem damaligen Oberst i. G. v. Manstein. Dieser reichte unter dem 21. April 1934 eine von seinem Befehlshaber gebilligte Denkschrift „Gedanken zur nachträglichen Anwendung des Arierparagraphen auf die Wehrmacht"241 ein, die an den Chef des Generalstabs und den Chef der Heeresleitung sowie auch an Reichenau und Blomberg gelangt ist. Ein banaler, antisemitischer Affekt, der mehr in der Abneigung gegenüber „Fremdartigem" und in traditionellen Vorurteilen242, nicht aber in rassistischem -

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Denken oder rassetheoretischen

Ideologismen243

wurzelte und der im Bürgertum wie im

S. 420-421.) Vgl. auch dazu Fabian v. Sdilabrendorff, The Secret War against Hitler, New YorkToronto-London 1965. Echt ¡st dagegen auf jeden Fall ein Brief Fritschs an Joachim v. Stülpnagel vom 16. 11.1924, in dem er von der „Pressepropaganda der Judenblätter" spricht und meint letzten Endes sind Ebert, Pazifisten, Juden, Demokraten, Schwarzrotgold und Franzosen alles das Gleiche, nämlich die Leute, die die Vernichtung Deutschlands wollen." (BA/MA H 08-5/20.) Vgl. auch Foertsdi, S. 205, der einen Brief Fritschs aus der Zeit nach seiner Entlassung zitiert, in dem es in Anklang an den erwähnten Brief unklarer Provenienz heißt: „Eine Regierung muß heute die Arbeiterschaft hinter sich haben. Dies ist Hitler fraglos gelungen.. ." Über Fritschs politisches Denken und Einstellung vgl. Carsten, S. 220 ff. 240 Fritsch hat später ausgeführt (Aufzeichnung vom 1.2.38, abgedruckt bei Hoßbach, S. 70), die Grundlage des Heeres müsse natürlich nationalsozialistisch sein, aber er habe sich stets gegen das Eindringen „parteipolitischer Maximen" in das Heer gewandt. Demnach scheint er in dem ArierErlaß Blombergs also keine „parteipolitische Maxime" gesehen zu haben, sondern ein Element der nationalsozialistischen Grundlage der Armee. 241 In MGFA/DZ III H 1008/1, Chef Genst. d. H. Pers. Korrespondenz (vgl. Dok.-Anh. Nr. 4). Vgl. dazu Manstein, S. 209-210 über Anlaß und Inhalt des Memorandums. Dort meint Manstein auch, er habe es an Reichenau direkt gesandt. Das in obiger Akte befindliche Original ist jedoch an Beck gerichtet und trägt dessen sowie des ObdH Paraphe. Entweder ist es von dort irgendwie zu Reichenau und damit auch zu Blomberg gegangen oder Manstein hat einen weiteren Brief entsprechenden Inhalts bzw. eine Kopie des Memorandums auch an Reichenau gesandt. Jedenfalls erklärt Generalfeldmarschall v. Manstein, er erinnere sich genau, daß Reichenau es Blomberg gegeben und dieser gegen ihn habe vorgehen wollen. (Brief von Generalfeldmarschall v. Manstein vom 7. 3.1963 an Oberstleutnant i. G. Dr. Stahl/MGFA.) Befehlshaber im Wehrkreis III und damit Mansteins direkter Vorgesetzter war seit 1. 2. 34 General v. Witzleben. 242 Mansteins Polemik gegen „Juden und Halbjuden" und „Parteibuchbeamte" in einem Atemzug zeigt, daß es sich hier mehr um eine Aversion gegen „Linkselemente" und „Systemrepräsentanten" denn um Rassismus handelt. „Juden und Parteibuchbeamte" sind mehr gedankenlose Chiffren für das abgelehnte „Weimarer System" ebenso wie der Satz „daß wir alle Nationalsozialismus und Rassegedanken restlos bejahen" gedankenlose Chiffre für die Vorstellung vom nationalen, wiedererstarkten, straffen Staat ist. Das mag auch für die oben erwähnten Äußerungen Fritschs gelten. 243 Daß es sich eher um populäre Vorurteile, auf keinen Fall um nationalsozialistischen Rassismus handelt, zeigt die mehrfache Ironisierung der „arischen Großmutter", von der Manstein schreibt, sowie insbesondere die Behauptung, derjenige, der freiwillig Soldat geworden sei, habe „arische Gesinnung bewiesen, gleichviel, ob seine Großmutter arisch war oder nicht." „.

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II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

Offizierkorps seit langem vorhanden war, versperrte jedoch dem Verfasser der Denkschrift den Zugang zu der Einsicht, daß die Anordnung Blombergs letzten Endes konsequenter Ausfluß der nationalsozialistischen Ideologie war. Daher polemisierte er nicht gegen das rassistische Prinzip, sondern faßte die Maßnahme des Reichswehrministeriums als rein taktisch-politische Angelegenheit auf. Er sah sie als einen Versuch der Führung mit dem Ziel, das heutige an, gewissen „Schreiern, die... gegen die Armee hetzen ..." durch Vorleistungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Offizierkorps zu zerstören Der aktuelle politische Hintergrund der Maßnahme der Konflikt mit der SA war ihm klar, aber nicht, daß sich in ihr zugleich auch das ideologisch-politische Einschwenken Blombergs und Reichenaus ausdrückte. Daher konnte sein Argument, ein Nachgeben gegenüber „dem Geschrei der Hetzer" sei „politisch nicht notwendig", vielmehr sogar „nutzlos"244, bei der Reichswehrführung gar nicht überzeugen. Prinzipiell dagegen begründete Manstein seine Opposition gegen Blombergs Anordnung vom Standpunkt der Gruppenexklusivität des Offizierkorps her. Nach seiner Ansicht könne man „die ganze Frage nur vom Ehrenstandpunkt aus betrachten", zudem sei der Soldat auch mit keinem anderen Beruf zu vergleichen, er sei „rechtlich anders zu beurteilen als jeder andere". Daher, vor allem aber „vom Standpunkt der soldatischen Ehre aus", sei es nicht angängig, daß man einige Offiziere und Soldaten opfere. In dieser Argumentationsweise kam der traditionelle Autonomie-Anspruch des preußisch-deutschen Militärs ...

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Ausdruck, der dem Verfasser der Denkschrift den Blick dafür versperrte, daß die Armee in der Frage des Arierparagraphen mit einem Problem konfrontiert wurde, das letztlich die ganze Nation anging. Jedoch befähigte der Rekurs auf den exklusiven Ehrenstandpunkt den Autor dazu, seinen höchsten Vorgesetzten die zersetzende und verheerende Wirkung eines ungebundenen politischen Opportunismus vor Augen zu führen. Es sei vom Standpunkt der soldatischen Ehre aus nicht angängig, völlig unschuldige Soldaten zu opfern und auszustoßen, nur „um politischen Schwierigkeiten zu begegnen". Hier käme das „ethische Moment der ganzen Frage" zum Vorschein: der Bruch der Kameradschaft, der Treue, der Ehre, der in solchem Handeln liege, werde sich „wie jeder Verstoß auf dem Gebiet des Ethischen in jedem Fall einmal rächen ...". Das „Vertrauen in die Führung des Heeres, in den ehrlichen Zusammenhalt... der Armee" werde erschüttert und zerstört. Am Ende könne es geschehen, daß dann das Heer „auseinanderläuft, weil es in seinen ethischen Grundlagen erschüttert worden ist". Damit hat er die Anordnung des Ministers an den moralischen Kategorien der Offiziersideologie gemessen und sie implicite als einen nach diesen Grundsätzen unmoralischen Akt gewertet. Mansteins Ausführungen zeigen jedoch auch, wie wenig der Verfasser die grundsätzliche zum

Mansteins Voraussage trat dann auch prompt ein. Von nationalsozialistischer Seite verstummte die Kritik nicht. Vgl. die Ausführungen des Führers der SA-Gruppe „Hochland", SA-Gruppenführer Schmidt, der am 23. 5. 34 gegenüber einem Reserveoffizier geäußert haben soll (Meldung an das Wehrkreiskommando-Bayer.-VII in: MGFA/DZ WK VII/1295), der Arierparagraph werde in der Reichswehr „in geradezu lächerlicher Weise durchgeführt. Das glaubt doch kein Mensch, daß unter den gesamten Reichswehroffizieren nur 5 auf Grund dieses Paragraphen ausgeschlossen werden mußten." 244

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

Machtergreifung

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Problematik der nationalsozialistischen Rassenlehre erkannt hat, wie wenig er sogar die dem Kurs der Reichswehrführung letztlich zugrunde liegenden Motive durchschaute. Sodann läßt die Gedankenführung der Denkschrift auch deutlich werden, von welchen, aus der Beengtheit traditioneller Auffassungen resultierenden Schwierigkeiten jeder fachliche oder im Ansatz sogar moralisch gefärbte Protestimpuls behindert wurde. Auf jeden Fall jedoch ist mit der Denkschrift den Verantwortlichen die politisch-taktische sowie die militärisch-moralische Problematik unmißverständlich vor Augen geführt worden. Daß Manstein mit seinem Protest nicht durchdrang, obwohl er am Schluß seiner Denkschrift einen Alternativ-Vorschlag gemacht hatte, ist weniger belangvoll als die Tatsache, daß er, der im Grunde unpolitisch die ministerielle Anordnung nach den Maßstäben der autonomen Gruppenmoral des Offizierkorps kritisiert hatte, Schwierigkeiten seitens der verantwortlichen Spitze eben dieses Offizierkorps zu bekommen drohte245. Mindestens also von den verantwortlichen Männern an der Spitze und deren nächsten Beratern wurden die Grundsätze dieser Gruppenmoral246 mißachtet; jede Berufung auf diese war aus ihrem Munde fortan nur noch als Phrase zu werten. Die Singularität der Demarche Mansteins, der soweit bekannt einzigen aus dem Offizierkorps, die nicht auf individuelle Milderungen abzielte, sondern grundsätzlichen Charakter hatte, sowie die Reaktion seitens des Ministeriums werfen ein bezeichnendes Licht auf die moralischen Verhältnisse innerhalb des Offizierkorps; die Kraft der Solidarität und die Tragfähigkeit der verbindenden Ideen und Auffassungen waren in diesem Fall der Belastungsprobe nicht gewachsen. Soweit wir quellenmäßig eine Reaktion auf den Erlaß des Minister fassen können, entbehrte sie jeder Einhelligkeit und Geschlossenheit. Briefe, die einer der betroffenen Offiziere anläßlich seines Ausscheidens von Kameraden und Vorgesetzten erhielt, zeigen die ganze Bandbreite der Reaktionen von kaum verhohlener Kritik und tiefer Verlegenheit über ohnmächtigem Bedauern bis zu dem Bemühen, trotz persönlicher Sympathie für den Betroffenen die Maßnahme vom Prinzip her zu rechtfertigen247. Während ein hoher Offizier den Entlassenen „heute erst recht" seiner Verbundenheit versicherte und ihm „zwischen den Zeilen zu lesen" riet, bedauerte die Mehrzahl das Ausscheiden „in Treue" und „alter Kameradschaft", sah aber den Vorgang nicht in seiner grundsätzlichen Bedeutung, sondern bezeichnete ihn als „tragisch", „unabänderlich" oder einfach als „Pech". Ein Stabsoffizier dagegen versuchte, wie ein anderer, jüngerer Offizier ebenfalls, die Anordnung des Ministers ideologisch zu rechtfertigen. Er schrieb, diese Maßnahme sei durchaus nicht als Politisierung der Wehrmacht -

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Manstein, S. 210: Blomberg erklärte Fritsch, er wolle gegen Manstein vorgehen, Fritsch aber, der Mansteins Ansicht billigte, habe ihn geschützt. 246 Fortan wird der Begriff „Moral", „moralisch" etc. in diesem Bedeutungszusammenhang gebraucht. 247 Zitate und Auszüge im folgenden aus Briefsammlung Kapitän z. S. Lebram; die Briefe, aus denen die Zitate entnommen wurden, lagen dem Verfasser vor, dem auch die Namen der Briefschreiber bekannt sind. Es handelt sich dabei ausschließlich um Seeoffiziere, deren Reaktionen u. E. jedoch mutatis mutandis auch denen im Heer entsprechen werden. 245

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

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Machtergreifung

aufzufassen, denn „eine Politisierung im alten Sinne gibt

es überhaupt nicht mehr. Der Nationalsozialismus ist eine Weltanschauung, die Wehrmacht einer der Hauptpfeiler, und als solcher muß sie restlos von dieser Weltanschauung durchdrungen sein. Daß dann diese Maßnahme wegen des Radikalismus dieser Weltanschauung einmal kommen mußte, ist klar." Mehr als alles andere zeigen derartige Reaktionen, warum politisch wie gruppenmoralisch bedenkliche Initiativen der maßgeblichen Spitzenfunktionäre der Wehrmacht bei der Masse des Offizierkorps auf keinerlei nennenswerte Opposition trafen248. Die Gründe dafür lagen sowohl in der strukturellen Situation der Militärs wie dem faktischen Übergewicht der befehlenden oder anordnenden Stelle gegenüber unter- und nachgeordneten Organen und dem in der Hierarchie mediatisierten einzelnen als auch in der nicht mehr vorhandenen Tragfähigkeit der moralischen und politischen Grundlagen des Offizierkorps. -

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Überlegte Option und bewußte Öffnung waren die charakteristischen Prinzipien der von der Führung intendierten Politik. Damit war von ihr mitnichten eine gleichsam „autogene" Gleichschaltung beabsichtigt auch wenn das Ergebnis nicht allzu weit davon entfernt war vielmehr war es das Ziel dieser Politik, die Streitkräfte derart in den Staat zu integrieren, daß sie darin eine mitentscheidende oder gar ausschlaggebende Position einnähmen. Da zu dieser Zielvorstellung auffassungsmäßig eine teilweise Affinität bei zahlreichen Offizieren bestand, erklärt sich schon hieraus, warum die Politik der Reichswehrführung im Offizierkorps kaum auf Opposition von einiger Bedeutung stieß. Ein fraglos vorhandenes Unbehagen fand nur in Ausnahmefällen und singular irgendwelche Artikulation, der jedoch kein faktisches Gewicht zukam. Entscheidend war in dieser Hinsicht, daß die Chefs der Marine- und Heeresleitung aus allerdings recht verschiedenen Motiven den Kurs des Reichswehrministeriums entweder hinnahmen oder aber ebenfalls aus einer Affinität der politischen Grundvorstellungen heraus ihn sogar in wesentlichen Punkten billigten. Die sich bereits abzeichnende Bilanz des ersten Jahres der ReichswehrPolitik Blombergs und Reichenaus ist bezüglich der internen Entwicklung der Armee im wesentlichen als negativ anzusehen: Die „Options"-Tendenz führte zu schleichendem Machtverlust infolge der indirekt von der Reichswehrführung unterstützten Veränderung der politischen Gesamtlage sowie zu moralischer Verstrickung durch bewußt wohlwollende Neutralität gegenüber Terrormaßnahmen. Die „Öffnungs"-Tendenz förderte innere Schwädiemomente und äußere Anpassungs-

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Vgl. Rothfels, S. 192, Anm. 55: „Gewiß fühlten sich viele durch die Rassegesetzgebung beschämt, die so manche ihrer Kameraden oder die Familien ihrer Kameraden traf ..." Vgl. auch Manstein, S. 1778 f., und Weichs, Die Stellung des Offizierkorps, fol. 17, spricht von „Bedenken und Sorgen wegen gewisser von der Partei angewandter Methoden", von denen u. a. besonders 248

hervortreten die „Überspitzung der Rassepolitik... und strenge Handhabung des Arierparagraphen, wodurch auch bewährte Angehörige des Heeres schwer getroffen wurden." (Hervorhebung vom

Verf.)

II. Die Reichswehr und die nationalsozialistische

absichten; sie brachte ein -

Machtergreifung

87

im Ansatz sogar institutionalisiertes Eindringen typisch u. a. in einem so wichtigen Bereich wie den der Personal-

nationalsozialistischer Maximen

führung. Insgesamt werden bereits Elemente sichtbar, die konstitutiv für die Kontinuität der weiteEntwicklung werden sollten: Die bewußte Indoktrinierung wurde fortgesetzt. Auch fortan erscheinen dabei wie schon im Anfang als treibende Momente sowohl Eigenren

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initiative von Seiten der Reichswehrführung als auch Reaktionen auf von außen kommende Impulse. Die Kontinuität zeigt sich äußerlich im weiteren Ausbau von Schulungseinrichtungen, in der Tendenz einschlägiger Erlasse und Proklamationen, in den schon vor dem Krieg auch für Generäle durchgeführten „Nationalpolitischen Schulungskursen"; am Ende stand dann die konsequente Institutionalisierung durch Einführung von Nationalsozialistischen Führungsoffizieren. Die Kontinuität wird jedoch fortan auch im Negativen transparent: in den ständig uneinheitlicher werdenden Anschauungen über Komplexe, über die zuvor ein wenigstens konventioneller Konsensus bestand aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang beispielsweise der differenzierte Widerhall, den der Kirchenkampf in der Armee fand; sodann in dem progressiven Vertrauensschwund innerhalb des Offizierkorps und der damit verbundenen Lockerung des inneren Gefüges der Armee; schließlich, als extreme Folgewirkung, in den späteren personellen Schwierigkeiten der -

Militäropposition. Der moralische Einbruch, der sich durch Reichenaus Devise, politisch Verfolgten nicht zu helfen sowie in der Preisgabe „nichtarischer" Kameraden manifestierte, weist voraus auf die Kompromittierung einiger hoher Offiziere am 30. Juni 1934, auf die Hinnahme der Ermordung zweier Generäle und auf die insbesondere nach Kriegsbeginn immer stärker werdende Verstrickung hoher und maßgeblicher Offiziere des Heeres in die Machenschaften des Regimes. Vom prinzipiellen Nachgeben bei der ersten Konfrontation mit den Konsequenzen der Rassenideologie, dem in den nächsten Jahren eine ständige Verschärfung der in der Wehrmacht geltenden „Rassevorschriften" folgte, führt eine innere Verbindungslinie zu jener Ratlosigkeit und Ohnmacht, die später das Verhalten einiger höherer Offiziere des Heeres gegenüber den Praktiken der SS und des SD beziehungsweise der Sicherheitspolizei auf „volkstums- und rassepolitischem Gebiet" in den besetzten Ländern vor allem des Ostens kennzeichneten.

III. RÖHM-AFFÄRE UND EID AUF HITLER

Jahre der Herrschaft Hitlers und seiner Partei begann sich bereits ein Problem abzuzeichnen, das wenngleich in wechselnder Form und Intensität fortan beständig und grundsätzlich das Verhältnis zwischen Heer und Regime belastete. Es ging um das sogenannte „Waffenmonopol" der Streitkräfte. Dieser Ausdruck gibt die Komplexität des Problems allerdings nur sehr bedingt wieder. Das Postulat, alleiniger Inhaber der bewaffIm

ersten

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sein und zu bleiben, war im Grunde doch das Kernstück der Politik der Reichswehrführung1. Die Absicht, einer der ausschlaggebenden Faktoren im neuen Regime zu sein, sogar noch der Minimalanspruch, wenigstens nicht übergangen oder gar übersehen zu werden, verlangte als Voraussetzung den unangefochtenen, ungeschmälerten und ausschließlichen Besitz der Waffenmacht des Reiches. Ihre Bewahrung war, viel mehr als alle Indoktrinierungsbestrebungen, als alle öffnungs- und Umarmungstendenzen, wesentlicher Inhalt der Reichswehrpolitik. Jeder Angriff auf dieses Monopol, jede Konkurrenz, sogar schon jeder konkurrierende theoretische Anspruch mußte den Kerngehalt dieser Politik treffen. Das Totalitätsstreben des Regimes jedoch zielte darauf ab, jedes autonome Machtmonopol zu beseitigen oder wenigstens zu relativieren. Es lag somit in der Natur des totalitären Führerstaates, daß er jenes Kernstück der Reichswehrpolitik, das Waffenmonopol, im Prinzip nicht akzeptieren konnte2. Als ab Ende 1933 die Reichswehrführung erstmals erkannte, daß dieses Monopol angetastet zu werden drohte, war allerdings noch keineswegs offensichtlich, daß diese Bedrohung unvermeidlich war. Vielmehr hatte sich eine Konstellation ergeben, die diesen Tatbestand eher verdeckte als enthüllte. Die Bedrohung kam wie es schien von nur einem Teil der Hitler-Bewegung, von der SA; der „Führer" selbst sowie die politische Organisation der Partei schienen auf der Seite der Reichswehr zu stehen. Dieses das eigentliche Problem verdeckende äußere Bild konnte deshalb entstehen, weil die SA in dem Augenblick, in dem sie zum gefährlichen Gegner der Reichswehr zu werden drohte, zugleich eine Gefahr für Hitler und sein Regime geworden war. Im Grunde war das SA-Problem symptomatisch für eine besonders kritische Entwicklungsphase des nationalsozialistischen Systems3. Wohl war die parlamentarische Republik zerstört, wohl waren fast alle entscheidenden Kontroll- und Machtpositionen in Staat neten

Gewalt

zu

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Die Funktion des Waffenmonopols im Rahmen der Politik der Reichswehrführung geht aus den auf den verschiedenen Befehlshaberbesprechungen seit 1933 erfolgten Darlegungen des Ministers deutlich hervor. Vgl. dazu Liebmann, passim. 2 Es ist daher durchaus konsequent, daß noch 1944 Himmler also der Mann, dessen SS am 30. Juni den Schlag gegen Röhm ausführte in seiner Posener Rede die Wehrkonzeption Röhms bejahte und bedauerte, daß die Entmachtung der Armee damals infolge der Fehler Röhms nicht gelungen sei. (Himmlers Rede auf der Gauleitertagung vom 3. 8. 44, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1959), S. 359 und 366). 3 Beste Darstellung der Regimekrise bei Sauer, S. 887 ff.: „Die kritische Phase der Revolution" und S. 907 ff.: „Übergang zu neuem Pluralismus." Außerdem Krausnick, Vorgeschichte, S. 220 ff. 1

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III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

89

und Gesellschaft in der Hand Hitlers; aber noch war die totalitäre Führerdiktatur weit entfernt davon, in sich fest begründet und durchorganisiert zu sein. Stabilisierung und Konsolidierung standen noch aus. Noch war kein durchgeformtes nationalsozialistisches System errichtet. Die Frage, wie der neue nationalsozialistische Staat faktisch aussehen sollte, war in vieler Hinsicht noch unbeantwortet. Aus dieser Situation heraus entstanden erhebliche Spannungen innerhalb der Hitler-Bewegung. Es zeichnete sich ein massives Ringen um Machtpositionen und Einflußmöglichkeiten ab, das von einem bestimmten Punkte an den Staatsapparat zu zerrütten, das Vertrauen in die Führung zu beeinträchtigen und schließlich die errungene Stellung der Partei überhaupt zu gefährden geeignet war. Wohl niemals wieder sollte die Rivalität und der Dschungelkampf hinter den Kulissen so heftig und so gefährlich für das Regime werden wie gerade zu jener Zeit: gefährlich nicht zuletzt auch deshalb, weil es noch Kräfte gab, die dem nationalsozialistischen Zugriff nicht oder noch nicht gänzlich anheimgefallen waren, so Teile der bürgerlichen Koalitionspartner, insbesondere aber Reichswehr und Reichspräsident; gefährlich vor allem aber, weil angesichts des noch nicht ausgeformten, gleichsam noch rudimentären Herrschaftssystems und infolge der vagen, unzulänglichen „Ideologie" keine klaren oder besser: sehr verschiedene Zielvorstellungen von dem neuen „Reich" innerhalb der Hitler-Bewegung bestanden. Unter diesen Umständen hätte es möglich sein können, daß sich die eine oder andere Gruppe innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung mit außerhalb stehenden Kräften, wie den konservativen Koalitionspartnern Hitlers4, zusammenfand. Sie hätten ihre Isolierung damit ausgleichen oder aufheben können. Das hätte Hitler wiederum gezwungen, sich auf die eine oder andere Gruppe, eventuell sogar auf die Reichswehr, zu stützen, um unbotmäßiger Kräfte innerhalb der NSDAP Herr zu werden eine Entwicklung, die für ihn unabsehbare Konsequenzen bringen, ihn auf jeden Fall auf seinem Weg zum Führerstaat nachhaltig behindern würde. Die umfassendere Krise sowohl der Partei selbst und des Regimes ist der Rahmen, in dem das SA-Problem gesehen werden muß. Die SA, die lange Jahre hindurch in den Straßenkämpfen und Saalschlachten die Hauptlast des Kampfes getragen hatte, sah 1933 den Sieg der NSDAP als ihren Sieg an. 1933, in der ersten Phase der Umformung und Gleichschaltung des Staates, hatte die SA noch die Aufgabe, durch Terror und Propagandaeinsatz nach Hitlers Konzept wohl überhaupt ihre vornehmste Aufgabe bei der Grundlegung des neuen Systems mitzuhelfen. Nachdem jedoch das angestrebte Ziel erreicht war, wurde sie sehr bald zu einem empfindlichen Störungsfaktor, zumal ihr anarchisch-terroristisches Treiben außer Kontrolle zu geraten drohte. Ab Mitte 1933 mehrten sich die Anzeichen, daß die SA der nationalsozialistischen Führung wieder einmal erhebliche Besorgnis bereitete. Hitler sprach jetzt verschiedentlich davon, daß „die Revolution" beendet sei5, daß man „den freigewordenen -

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Sauer, S. 907 ff., z. B. sieht in dieser Konstellation für eine antinationalsozialistische Opposition, die nach Lage der Dinge wohl nur von freiheitlich-konservativer Seite kommen konnte, eine gewisse Chance. Vgl. hierzu die Ausführungen ab S. 101 ff. dieses Kapitels. 5 So z. B. am 1. 7.1933, zitiert bei Hermann Mau, Die „Zweite Revolution" Der 30. Juni 1934, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 126. 4

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90

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

Strom der Revolution in das sichere Bett der Evolution hinüber leiten" müsse6. Er erklärte: „Die Ideen unseres Programmes verpflichten uns nicht, wie Narren zu handeln und alles umzustürzen, sondern klug und vorsichtig unsere Gedankengänge zu verwirklichen." Indessen wäre es mit der Kontrolle und Eindämmung der SA allein nicht getan gewesen. Es galt vielmehr die wichtigere Frage nach Aufgabe und Rolle der braunen Bürgerkriegsarmee innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftssystems zu beantworten7. Eine Lösung wurde immer dringlicher, da, nachdem die Macht errungen und die Gegner geschlagen waren, die SA gleichsam beschäftigungslos geworden war. Einmal trat jetzt der zuvor durch den gemeinsamen Kampf meist verdeckte, nie aber grundsätzlich ausgeräumte Dualismus zwischen SA und politischer Organisation (PO) der Partei8 mit besonderer Schärfe wieder zutage. Die SA faßte sich als die Verkörperung revolutionärer Dynamik der Bewegung auf. Die Führer der Partei, die nun die Staats- und Kommunalposten besetzt hatten, galten ihnen als Vertreter eines opportunistischen, evolutionären Kurses, der ihren revolutionären Vorstellungen entgegenstand. Über diese partei-interne Problematik hinaus gewann das SA-Problem sodann eine gewichtige staatspolitische Bedeutung. Von der Masse der SA, die zum erheblichen Teil aus Arbeitslosen bestand, wurden die sozialpolitischen Prinzipien und Forderungen des Programms der Partei ernst genommen9. Für die Parteiführung dagegen hatten sie mehr den Charakter eines taktisch-propagandistischen Instrumentariums. Viele SA-Männer sahen jedoch in der Gemeinschaft der Sturmabteilungen geradezu Modell und Leitbild einer neuen nationalen und sozialen Gemeinschaft. Nach ihren unklaren und unfertigen Vorsollte der nationalsozialistische Staat ein „sozialistischer", ein „SA-Staat" sein. stellungen Die sozialpolitischen Bestrebungen der SA, wie sie nunmehr akut wurden, standen schließlich und vor allem mit den militärpolitischen Ambitionen des Stabschefs der SA, des 6 So am 6. 7. 33 vor den Reichsstatthaltern, vgl. Dokumente der deutschen Politik, hrsg. von Paul Meier-Benneckenstein, Bd I, Berlin 51939, Nr. 35. 7 Abriß des SA-Problems für 1933/34 bei Helmut Krausnick, Der 30. Juni 1934, Bedeutung, Hintergründe, Verlauf, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament" vom 30. 6. 1954, B XXV/54, S. 318 (fortan zit. Krausnick, Der 30. Juni). Umfassende Behandlung des SA-Problems bei Sauer, S. 830 ff. 8 Hierüber vgl. Krausnick, Der 30. Juni, S. 318, der ebenda mit Redit darauf hinweist, daß der parteiinterne Konflikt zwischen SA und Partei-Organisation dem SÄ-Reichswehr-Konflikt vorausging. Neuerdings hat Heinrich Bennecke, Hitler und die SA, München-Wien 1962 (fortan zit. Bennecke I), aus persönlichen Erfahrungen wie auf Grund von Quellenstudien darauf hingewiesen, daß a) hinter dem Slogan von der „Zweiten Revolution" auch das Bestreben stand, die tatsächlichen schwerwiegenden sozialen Probleme der Hunderttausenden von arbeitslosen SA-Männern zu lösen (S. 217); b) sowie die nach dem 30. 1. 33 erfolgende sprunghafte Vergrößerung der SA und die besondere Zusammensetzung (weniger als 25% der SA-Männer waren 1934 Parteimitglieder; sogar Führerstellen konnten nicht mit Parteigenossen besetzt werden) die Gefahr einer Entfremdung gegenüber der Partei mit sich brachte. Ebenso Heinrich Bennecke, Die Reichswehr und der „Röhm-Putsch", Beiheft 2 der Zweimonatsschrift Politische Studien, München-Wien 1962, S. 36-38 sowie S. 42 ff. (fortan zit. Bennecke II). 9 Vgl. Mau, S. 125, sowie allgemein David Schoenbaum, Hitler's social revolution class and status in Nazi Germany 1933-1939, London 1967. -

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

91

engem Zusammenhang. ist in dieser Hinsicht ein Aufsatz aus seiner Feder in den Nationalsozialistischen Monatsheften vom Juni 193310. Die Verschwommenheit des sogenannten SA-Sozialismus kam darin ebenso zum Ausdruck wie der Anspruch der SA, zusammen mit der SS11 „die unbestechlichen Garanten (dafür zu sein), daß die deutsche Revolution sich vollende". Mit deutlichem Akzent gegen die Erklärungen Hitlers und etlicher anderer Parteifunktionäre, daß die „Revolution" jetzt beendet sei, stellte Röhm sich auf den Standpunkt, daß „nur eine Teilstrecke der deutschen Revolution" zurückgelegt worden sei und daß das Ziel, „ein neues in einer geistigen Revolution aus nationalsozialistischem und sozialistischem (!) Geiste wiedergeborenes Deutschland", durch eine „nationalsozialistische Revolution" erst erreicht werden müsse. Die enge Verknüpfung seiner wehrpolitischen Vorstellungen mit den geschilderten sozialpolitischen Bestrebungen kam darin zum Ausdruck, daß er die Vollendung der Revolution in der Schaffung eines von ihm geführten neuen, im nationalsozialistischen Sinne zuverlässigen SA-Volksheeres sah, dessen Struktur und Lebensprinzip die SA sein sollte; sie sollte der ganzen Nation zum Vorbild werden. Wenn wir auch über Röhms konkrete Pläne wenig wissen, so scheint es doch sicher zu sein, daß er nicht nur den Gedanken eines SA-Volksheeres als Leitidee eines künftigen nationalsozialistischen Staates ansah12, sondern daß er in Konsequenz daraus das ganze Gebiet der Landesverteidigung für sich beanspruchen wollte13. Die Reichswehr sollte Mannschaften und Führer ausbilden und sie dann der zum Volksheer umgeformten SA überweisen. Die Reichswehroffiziere waren für eine Übergangszeit als fachmännische Berater vorgesehen. So würde die Kaderarmee der Reichswehr von dem Massenheer der SA aufgesogen werden. In der Reichswehr wurde damals ein angeblicher Ausspruch Röhms kolportiert: „Der graue Fels muß in der braunen Flut untergehen14." Wie stellte sich die Reichswehr zum SA-Problem? Bis Jahresende durchlief ihr Verhältnis zur SA mehrere Stadien. Die militärische Führung sah die SA primär unter dem Gesichts-

einstigen bayerischen Generalstabshauptmanns

Ernst

Röhm, in

Programmatisch

10

Zit. nach Sauer, S. 881. Damals war sie organisatorisch noch dem Stabschef der SA unterstellt. 12 Bennecke II, S. 40, macht darauf aufmerksam, daß „die heutigen Darstellungen über Röhms Gedanken fast ausschließlich die innenpolitischen Absichten und Folgen herausarbeiten. Diese Folgen waren ohne Zweifel vorhanden, vor allem sein Streben nach Einfluß auf die Reichswehrführung"; es sei jedoch „auffallend, daß die Bedeutung der Auffassung Röhms für die zukünftige Gestaltung der Landesverteidigung völlig übergangen wird. Eine Miliz ist eine reine Verteidigungstruppe und nur zu Angriffen im Rahmen einer örtlichen Abwehr geeignet... Es lohnt sich schon, die Folgen einer Entscheidung Hitlers zugunsten der Pläne Röhms besser zu überdenken als dies heute geschieht. Es gibt auch manches Zeugnis, nach dem Röhm ernsthaft an eine Zusammenarbeit mit Frankreich, zumindest an einen Ausgleich, gedacht hat. Demgegenüber wäre mindestens zu bedenken zu geben, daß eine Realisierung der innen- und der wehrpolitisdien Pläne Röhms eine totale Militarisierung der Nation verursacht hätte, die außenpolitisch erheblich explosiv hätte werden können. Über Röhms militärpolitische Vorstellungen vgl. Krausnick, Der 30. Juni, S. 318. 13 Der im folgenden zu behandelnde SA-Reichswehr-Konflikt ist demnach auch als Ausfluß der des Regimes und der NS-Bewegung zu sehen. Vgl. Sauer, S. 896. Krisenbewegung 14 Vgl. Krausnick, Der 30. Juni, S. 318.

11

...

...

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

92

punkt der allgemeinen Mobilisierung der Nation für die Landesverteidigung, speziell also als Reservistenreservoir an, auf das man im Mobilmachungs-Fall sowie bei dem zukünftigen Ausbau zurückgreifen könne. Außerdem beabsichtigte die Reichswehrführung, gewisse Aufgaben der Landesverteidigung, beispielsweise auf dem Gebiet des Grenzschutzes, in Zusammenarbeit mit der SA zu lösen allerdings unter dominierendem Einfluß und Leitung der Reichswehrführung und nur für eine Übergangsperiode. Dementsprechend wurden im Sommer 1933 mehrere Vereinbarungen zwischen Reichswehrführung und SA getroffen, die Hitler sanktionierte15. Die Tendenz dieser Vereinbarungen ging dahin, die SA wie auch die anderen „nationalen Verbände"16 zum Aufbau einer Reserve ausgebildeter Männer zu benutzen17; war doch lange Jahre hindurch das Fehlen von Reserven ein Alptraum der für die Landesverteidigung verantwortlichen Militärs gewesen18. Jetzt, als man vor jener außen- wie militärpolitisch kritischen Phase der anlaufenden Aufrüstung stand, waren derartige Reserven doppelt wichtig19. Daher mußte die Möglichkeit, diese „nationalen Kräfte" insgesamt für die Landesverteidigung nutzbar machen zu können, der Reichswehrführung nur allzu willkommen sein20. Für Blomberg waren somit die „Wehrverbände eine von uns zu begrüßende Einrichtung, deren Menschenmaterial im Hinblick auf die Zukunft der Entwicklung und der Pflege durch uns Soldaten bedarf. Wir leben noch unter dem Zwang des Versailler Diktats.. ."21. Ein Risiko sah sie zunächst -

..

.

hierzu Sauer, S. 886, Tagung von Bad Reichenhall (1.-3.7.33); vorherging ein Abkom17. 5. (ebd.) Robert J. O'Neill, The German Army and the Nazi Party 1933-1939, London 1966, S. 34, meint, daß durch diese Vereinbarungen die SA auf die gleiche Ebene wie die Reichswehr gehoben worden sei. Dem widersprechen nicht nur Inhalt und Tendenz dieser Abmachungen, sondern auch Hitlers wiederholte Auslassungen über die Stellung der Reichswehr (vgl. dazu Sauer, S. 889). Es kann auch keine Rede davon sein, daß durch dieses „Abkommen" eine „avenue for Nazi ideas... into the Army" geschaffen worden sei, alle Berichte in den Akten über die Stimmung der Truppe gegenüber der SA widersprechen dem. Derartige Behauptungen sind typisch für die zwar fleißige und um Verständnis bemühte Arbeit O'Neills, die aber eine Fülle von Sachfehlern enthält und deren Verfasser zureichender Beurteilungsmaßstäbe entbehrt. 19 Diese waren inzwischen in die Hand der SA-Führung geraten. 17 Vgl. dazu die entsprechenden Verordnungen der Heeresleitung vom August 1933: Einzelheiten bei Sauer, S. 918. 18 Vgl. Rede Blombergs vom 1.6.33 vor der Generalität: „In den nächsten Jahren wird die Wehrmacht völlig in der Aufgabe aufzugehen haben, die Reserven zu schaffen, die uns bisher zu schaffen nicht möglich war." Zit. nach Gerhard Meinck, Hitler und die deutsche Aufrüstung, Wiesbaden 1959. 19 Vgl. die Denkschrift des Chefs des Truppenamtes, General Adam, vom März 1933, in der auf das Dilemma hingewiesen wurde, einerseits „unsere Wehrkraft [zu] stärken andererseits müsse jede Verstärkung des deutschen Heeres den Gegner zum Angriff reizen". Zit. nach Meinck, S. 19. 20 Die Behauptung, daß Reichenau die treibende Kraft zugunsten einer Zusammenarbeit mit der SA gewesen sei (so Sauer und O'Neill), ist zu überspitzt. Da er Chef des Ministeramtes war, das alle innen- und wehrpolitischen Fragen bearbeitete, taucht sein Name und Wirken naturgemäß in diesem Zusammenhang beständig in den Quellen auf. Alles deutet jedoch darauf hin, daß Blomberg einen weitaus nachgiebigeren Kurs steuerte; bemühte er sich doch noch später um einen Ausgleich, als Reichenau schon längst auf Kollisionskurs gegangen war (vgl. Anm. 30 und 119 dieses Kapitels). Über die Haltung der Heeresleitung vgl. weiter unten S. 96 ff. 21 Rede vor den Offizieren der 6. Division am 15.9.33 (MGFA/DZ WK VII/759, fol. 12). Die 15

Vgl.

men vom

...

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

93

darin nicht, da sie selbst noch von der eigenen unangreifbaren Position überzeugt und Vertrauen in die „nationale Regierung" erfüllt war22. Allerdings waren die Vereinbarungen zwischen SA und Reichswehr recht unpräzise und zufällig, so daß Konfliktsmöglichkeiten in reichem Maße gegeben waren. Die SA, vorerst noch bei der Revolutionierung des Staates eingespannt, pflegte somit auch ihre wehrpolitischen Ambitionen und schaute mit feindseliger Verachtung auf die von ihr als reaktionär angesehene Reichswehr. Die Reichswehr wiederum blickte auf das terroristische Treiben und die oft menschliche wie militärische Unzulänglichkeit des SA-Führerkorps mit einer Mischung von steigendem Befremden und sorgenvollem Abscheu23. In der Bendlerstraße glaubte man jedoch, das „wehrpolitisch wertvolle Material" der SA für die eigenen Zwecke ausnutzen zu können. Gleichzeitig aber war die Reichswehrführung fest entschlossen, dem nationalsozialistischen Wehrverband keinerlei Mitspracherechte in Fragen der Landesverteidigung einzuräumen. So waren die genannten Vereinbarungen und Absprachen mit Vorbehalten auf beiden Seiten belastet. Angesichts der allgemeinen politischen sowie der speziell militärpolitischen Tendenzen der SA einerseits und der ganz anders gearteten Vorstellungen der Reichswehr andererseits entstanden sehr rasch Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit. Um die entstandenen Unstimmigkeiten auszuräumen, fand Mitte August 1933 in Bad Godesberg ein Treffen hoher SA-Führer mit Vertretern des Reichswehrministeriums statt24. Röhm redete mit politischen Phrasen um die Probleme herum; Hitler der am 19. August zu den Tagungsteilnehmern sprach ging zwar auch die konkreten Fragen nicht an, stellte sich jedoch eindeutig auf den Standpunkt, die Wehrmacht sei der Waffenträger der Nation, der SA dagegen obliege die politische Schulung des Volkes. Das war immerhin eine vom Prinzipiellen her recht eindeutige Stellungnahme; die Vertreter der Reichswehr scheinen sich darüber nicht ganz klar geworden zu sein, denn sie, denen vornehmlich die Spannungen mit der SA Kopfzerbrechen bereiteten, sahen nur, daß „eine Gemeinsamkeit in den politischen Fragen, um die es ging, mit den SA-Führern nicht gefunden werden" konnte25. Im Herbst 1933 spitzten sich die Dinge immer mehr zu. Im Offizierkorps machte sich ein spürbarer Anti-SA-Affekt bemerkbar. Die Person Hitlers als des verantwortlichen Staatsmannes und „nationalen Kanzlers" wurde wohl von der vom

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Rede wurde vom Wehrmachtamt Nr. 460 W III geh. am 22. 9. 33 an alle höheren Dienststellen des Heeres und der Marine auszugsweise gesandt mit dem Vermerk „Veröffentlichung in der Presse darf nicht erfolgen". 22 In der zitierten Rede sagte der Minister dementsprechend: „Auch die jungen Leute dieser Verbände werden bald einsehen und haben es zum Teil schon getan, daß sie noch keine Soldaten sind und daß zum Soldatsein mehr gehört als Aufmärsche vollführen und guten Willens sein." 23 Vgl. hierzu die in den Wehrkreis-, Heeresleitungs- und Ministeramtsakten enthaltenen vielfältigen Niederschläge, z.B. in MGFA/DZ H 24/6, W 01-5/110 und 111, WK VII 1652, 1517, 1342, 132 u.a.m.

Vgl. Foertsch, S. 46-47. So in der Aufzeichnung des damaligen Oberst Heinrici, Abteilungsleiter im Allgemeinen Heeresamt (AHA) der Heeresleitung; zit. bei Foertsch, ebd., sowie Guderian, S. 24. Diese Ansicht, die Hitlers grundsätzliche Aussage übersieht, wurde bisher auch in der Literatur vertreten; so Foertsch, ebd.; Sauer, S. 936, und O'Neill, S. 34. 24

25

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

94

Kritik ausgenommen, die SA jedoch mehr und mehr zum Kristallisationspunkt antinationalsozialistischer Stimmungen26. In der folgenden Zeit häuften sich die Meldungen von Reibereien und Zwischenfällen auf der unteren Ebene; Vertreter der SA erhoben gegenüber der Reichswehr den Vorwurf mangelnder nationalsozialistischer Gesinnung27. Die Reichswehr dagegen klagte über feindselige Anmaßung und Unzulänglichkeit des SA-Führungskorps. Durch dessen Nachlässigkeit und UnZuverlässigkeit würde sogar die notwendige Geheimhaltung der anlaufenden Aufrüstungsmaßnahmen gefährdet. Trotz zunehmender Besorgnis versuchte die Reidiswehrführung gegen Ende des Jahres mehrfach, zu einem Ausgleich zu kommen, um die für ihre Militärpolitik für wichtig erachtete Zusammenarbeit mit den Wehrverbänden zu retten, gleichzeitig aber doch das Heft in der Hand zu behalten. Blomberg gab daher im Oktober die Weisung, die Zusammenarbeit mit der SA auf örtlicher Ebene zu intensivieren28. Reichenau, der im November erstmals starke Besorgnis wegen der SA zeigte29, versuchte Ende des Jahres nochmals, in Verhandlungen30 mit Röhm der wehrpolitischen Konzeption der Reichswehr gegenüber der SA zum Durchbruch zu verhelfen, indem er dem Stabschef einen scheinbaren Kompromißvorschlag unterbreitete. Er wollte der SA eine größere militärische Betätigung zubilligen, sie zugleich aber als eine Art Miliz von der Reidiswehrführung abhängig machen31. Er stieß jedoch bei Röhm auf glatte Ablehnung32. Die Entwicklung spitzte sich daraufhin immer mehr zu. -

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Vgl. dazu Krausnick, Vorgeschichte, S. 219. Vgl. den Bericht Heinricis bei Foertsch, S. 46-47. Diese Vorwürfe waren sicher der Anlaß, daß gegen Jahresende die ideologische Seite der Öffentlichkeitsarbeit stärker betont sowie ostentativ gewisse Maßnahmen, über die in Kapitel II dieser Arbeit gehandelt wurde, durchgeführt

26

27

worden sind.

Allgemein vgl. MGFA/DZ WK VII/2306 „Wichtige Politische Verfügungen". 28 MGFA/DZ WKVII/741 (Wehrkreiskommando VII vom 24.10.33): Der Akzent lag dabei nachdrücklich auf einer Zusammenarbeit zum Zwecke der Gewinnung von Reserven und zur Verbesserung der Mobilmachungsvorbereitungen. Im Dezember mußte über alle Wehrkreiskommandos dem Ministerium gemeldet werden, welche L-Offiziere Mitglieder der SA seien zweifellos eine Maßnahme, die eine allzu intensive Verzahnung der SA mit den Grenzschutz- und Mobilmadiungsmaßnahmen der Reichswehr verhindern sollte (WK 1/2: Infanterie-Führer I, Nr. 356/33 g.Kdos vom 15. 12. 33). 29 Nach Zs. Nr. 44 (v. Gaertner), S. 5, zit. bei Sauer, S. 890. Bei dieser Gelegenheit wies v. Reichenau einen als Ausbilder zur SA abgestellten Offizier an, alle bemerkbaren Gefahren von Seiten der SA sofort zu melden; „die entsprechenden Maßnahmen würden dann schon getroffen werden" (ebd.). In diesen Zusammenhang muß eventuell auch die in Anm. 24 erwähnte Anordnung gestellt -

werden. Vgl. Zs.Nr. 44, S. 4. 31 Sauer, S. 885, und O'Neill, S. 36, erkennen nicht, daß der Kompromißcharakter des Vorschlages lediglich taktischer Natur war; denn die SA sollte ja bei dem geplanten Einsatz als Miliz in das System der Landesverteidigung eindeutig der Reidiswehrführung unterstellt sein. Im übrigen war die Reichswehrführung auch nicht gezwungen, unbedingt einen Kompromiß zu schließen. Hatte doch Hitler in seiner Rede vom 9. 11. (Schultheß, 1933, S. 235 f.) die Reichswehr in noch nie gehörter Weise herausgestellt (vgl. Sauer, S. 937: „. für Röhm ein schwer verdaulicher Bis30

.

..."). O'Neill,

.

sen 32

S. 36,

meint, Röhm sei

zu

dieser

intransigenten Haltung

auch dadurch veranlaßt

wor-

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

95

Ab Dezember zeigten vielerlei Indizien, daß Röhms Politik in eine Richtung ging, die für die Reichswehr bedenklich zu werden drohte. Der Stabschef erklärte anläßlich seiner am 1. Dezember 1933 erfolgten Ernennung zum Reichsminister33, die SA sei damit in seiner Person in den Staatsapparat eingebaut. Ihr würden so deutete er an im Verlauf der Entwicklung noch weitere, größere Aufgaben übertragen34. Diese und ähnliche Ausführungen mußten für die Reichswehrführung wie Alarmzeichen wirken, zumal zur gleichen Zeit auch erhebliche sachliche Konflikte zwischen SA und Reichswehr in der Frage des Grenzschutzes entstanden waren35. Zwar versuchte Blomberg noch Mitte Januar durch ein persönliches Schreiben an Röhm zu einem Modus vivendi zu kommen36, indem er auf die „gleichlaufende Willensrichtung der SA und der Wehrmacht" hinwies und proklamierte, „alle Spannungen können und müssen beseitigt werden". Indessen wurde es immer offenkundiger, daß es im Konflikt mit der SA letztlich um die zukünftige Wehrverfassung und damit eben für die Reichswehr um ihre Position im Staate ging. Röhms Konzept hätte sie entmachtet. Was anderes wäre denn die Konsequenz jenes Planes gewesen, den er am 1. Februar 1934 dem Reichswehrminister in einem Memorandum unterbreitete? Danach sollte die Reichswehr praktisch nur noch als Ausbildungskader für ein graubraunes Milizheer unter seiner Führung dienen. Im Grunde jedoch waren derartige Pläne schon Makulatur; denn um die Jahreswende hatte Hitler bereits die Grundsatzentscheidung für eine zukünftige Wehrmacht auf der Basis der allgemeinen Wehrpflicht gefällt37; entsprechende Vorbereitungen waren in der Heeresleitung und im Reichswehrministerium -

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angelaufen38. Auf Hitlers Seite lag dieser Parteinahme für die Reichswehr einmal die militärtechnische Überlegung zugrunde, daß eine Aufrüstung im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht nur von den geschulten Kadern der Reichswehr werde durchgeführt werden können; sodann er Grund zu der Annahme hatte, daß gewisse Kräfte innerhalb der Armee im GegenReichenau eine viel freundlichere Haltung gegenüber der SA hegten. Zum Beweis dessen führt er eine Bemerkung des Befehlshabers im Wehrkreis V an, die SA sei „eine absolute Notwendigkeit für den Staat", und die „guten Elemente, die mit uns zusammenarbeiten wollen", müßten unterstützt werden. Die Vermutungen O'Neills bezüglich der Motivation Röhms wie hinsichtlich der angedeuteten Differenzen innerhalb der Armee sind irrig. Auch Reichenau, auch Blomberg waren genau der von Liebmann geäußerten Ansicht. Die ganze Politik der Reichswehrführung beruhte doch gerade darauf, „die guten" d. h. die zur Mitarbeit an der Landesverteidi„Elemente" heranzuziehen. Vgl. auch Blombergs gung unter Leitung der Reichswehr bereiten Ausführungen vom 15.9.33 vor den Offizieren der 6. Division (vgl. oben S. 92 und Anm. 21 dieses Kapitels). 33 Die Ernennung Röhms wie die des „Stellvertreters des Führers", Heß, zu Reichsministern erfolgte auf Grund des „Gesetzes zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat" vom 1. 12. 33. 34 Zit. nach Sauer, S. 938. 35 Vgl. Sauer, S. 939 ff. 38 MGFA/DZ W 01-5/107, Schreiben Blombergs vom 18. 1. 34: vgl. Dok.-Anh. Nr. 6. Zu Blombergs noch relativ positiver Einstellung vgl. Keitel, S. 69 f., und Manstein, S. 185. Auch hieraus geht hervor, daß Reichenau keineswegs allein die treibende Kraft bei der Zusammenarbeit mit der

den, weil satz zu

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SA gewesen ist. Meinck, S. 89 ff. 38 Vgl. Sauer, S. 941, und MGFA/DZ H l/319a und H 1/567.

37

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bestimmten ihn aber auch politische Motive dazu, nämlich sowohl die, wie oben skizziert, politische Problematik der SA als auch die Überlegung, daß er es sich nicht leisten könne vollends nicht zu diesem Zeitpunkt -, durch eine Option für Röhm die Reichswehr und mit ihr auch den Reichspräsidenten sich zum Gegner zu machen. Röhm wird ihm zudem auf lange Sicht als der gefährlichere Rivale erschienen sein, während er bisher mit der Reidiswehrführung positive Erfahrungen gemacht hatte39. Die Parteiführung begann demzufolge, die SA unüberhörbar zur Ordnung zu rufen40. Im Januar erschien ein deutlich zurechtweisender Artikel des Reichsministers Heß im „Völkischen Beobachter" und in den „Nationalsozialistischen Monatsheften"41; Ende Januar betonte Hitler während einer SA-Führertagung mit unverkennbarer Blickrichtung auf die Ambitionen des SA-Stabschefs, daß die Partei immer mehr „zum absoluten. Repräsentanten und Garanten der neuen politischen Ordnung in Deutschland" ausgebaut werde42; am 30. Januar 1934 beschwor er „die herzliche Verbundenheit... zwischen der nationalsozialistischen Partei und mir als ihrem Führer einerseits und den Offizieren und Soldaten des deutschen Reichsheeres andererseits"43. Die Denkschrift44 Röhms, die er am 1. Februar dem Reichswehrminister übergab15, wurde von der Reidiswehrführung als offene Kampfansage angesehen. Auf einer am 2. und 3. Februar stattfindenden Befehlshaberbesprechung in Berlin46 stellte daher Blomberg fest, der Versuch einer Einigung47 mit der SA sei gescheitert. Angesichts der erklärten Ambitionen Röhms käme eine Zusammenarbeit nicht mehr in Frage. Nunmehr müsse Hitler entscheiden. Der Minister und sein Chef des Ministeramtes waren sich einig, daß von nun an gegen die SA Front gemacht werden müsse. Derselben Ansicht war der neue Chef der Heeresleitung; überhaupt stimmte die Heeresleitung im Prinzip mit der SA-Politik der Reidiswehrführung überein; lediglich in Teilbereichen und Einzelfragen war sie abweichender Ansicht. In der Literatur wird dagegen oft auf einen angeblich grundsätzlichen Gegensatz zwischen Ministerium und Heeresleitung in der SA-Frage hingewiesen48. Danach seien Fritsch und Beck Gegner der SA-Politik Reichenaus gewesen. Diese Ansicht findet jedoch in den Quellen keine Bestätigung. Das uns vorliegende Material zeigt nur, daß Beck in der Frage der Verwendung von SA im Grenzschutz anderer Ansicht war49;

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Dazu vgl. die psychologisch aufschlußreiche Darstellung bei Diels, S. 278. Einzelheiten bei Sauer, S. 941. 41 Ebd. und S. 929. 42 Schultheß, 1934, S. 21. 43 Ebd. S. 44. 44 Liebmann-Notizen, Bl. 67; vgl. Krausnick, Der 30. Juni, S. 319. 45 Zuvor hatte der Stabschef der SA bereits Befehl gegeben, bei den Obergruppen- und GruppenStäben bewaffnete Einheiten, sogenannte „Stabswachen", aufzustellen eine Maßnahme, die naturgemäß argwöhnische Aufmerksamkeit bei der Reidiswehrführung erregen mußte. Vgl. IMT XXXVI, S. 72, Dokument D-951 (Beschwerdeschreiben Blombergs an Hitler). 48 Vgl. Liebmann-Notizen, Bl. 67 (Blombergs Ausführungen vom 2. 2.) und 72 (Fritschs Aus39

40

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führungen vom 3. 2.).

47

48 49

Damit war wohl Reichenaus Versuch vom Dezember So Sauer, S. 940 f., und auch O'Neill, S. 37. Belege bei Sauer, S. 941, Anm. 207.

gemeint.

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das war jedoch lediglich eine Frage der Methode. Gegen das Prinzip der Ausnutzung der Wehrverbände für die Zwecke der Landesvertretung hatte er, jedenfalls bis Anfang 1934, nichts einzuwenden50. Fritsch allerdings soll vor seiner Ernennung zum Chef der Heeresleitung bereits aus militärischen wie militärpolitischen Gründen ein Gegner einer engeren Zusammenarbeit mit der SA gewesen sein. Er scheint einen „Ausverkauf" des Heeres an die SA durch Blomberg befürchtet zu haben. Insofern unterschied er sich von Beck. Er wurde jedoch Chef der Heeresleitung ab 1. Februar 193451 zu einer Zeit, als auch das Ministerium bereits das Ende der fruchtbaren Zusammenarbeit mit der SA gekommen sah52. So vertrat er bei der am 3. Februar stattfindenden Befehlshaberbesprechung in der Heeresleitung, an der auch Reichenau teilnahm53, eindeutig den am Tage zuvor dar-

-

gelegten Standpunkt des Ministers zu der SA-Frage54. Einig war man sich allerdings auch, daß das Steuer nicht abrupt herumgerissen werden könne, weil dies zum „offenen Kampf" führen müsse55. Vielmehr wollte man noch einen zeitweiligen „Schwebezustand" in Kauf nehmen, diesen aber dazu benutzen, die Weichen im Sinne der eigenen Interessen zu stellen. Die Vorbereitungen für die geplante „Wehrreform" eine Vorstufe der zukünftigen allgemeinen Wehrpflicht liefen daher weiter; propagandistische und ideologische Demonstrationen der „innigen Verbundenheit" zwischen der Reichswehr und Hitler bildeten die Begleitmusik, waren wohl mit dazu bestimmt, die Haltung der Reichswehr in den Augen -

-

50

So hatte Beck z.B. im Rahmen einer

vom

15.1.34 datierten Denkschrift über die militärische

Spitzengliederung einen Organisationsentwurf vorgelegt, in dem unter einem Reichsverteidigungsministerium neben der Heeres- und Marineleitung auf gleicher Ebene auch ein SA-Ministerium vorgesehen war (vgl. Dok.-Anh. Nr. 27). Auch wird in einem Schreiben des Truppenamtes vom 7. 12. 33 (ebd. Teil II, fol. la) über die Neuordnung der Spitzengliederung ein zukünftiges SA-Ministerium aufgeführt, das es wie es hieß bei der weiteren Planung zu berücksichtigen gelte. 51 Fritsch, am 4.1.34 mit Wirkung vom 1.2.34 zum neuen Chef der Heeresleitung ernannt, war damit bereits im Januar 1934 in der Heeresleitung zur Einarbeitung tätig: Hoßbach, S. 69. 52 Fritschs Bedenken gegen eine zu enge Zusammenarbeit mit der SA resultierten nicht aus Sorge vor „ideological subversion", wie O'Neill, S. 37, meint, sondern weil er den Grundsatz einer strengen Trennung von militärischer und Parteisphäre wünschte (vgl. seine Aufzeichnungen vom 1.2.1938 bei Hoßbach, S. 70). Ideologisch kultivierte er bezüglich des vom Ministerium praktizierten „Hitlerismus" (vgl. Kap. II und IV) höchstens leicht modifizierende Nuancierungen, aber keine grundsätzlich andere oder gar gegensätzliche Einstellung. So rechtfertigte er gerade auf der Besprechung vom 3. 2. die von Blomberg befohlene Einführung des „Hoheitszeichens" der NSDAP für die Wehrmacht (Liebmann-Notizen ebd.). 53 Weichs, Erinnerungen, Bd I, S. 11, berichtet, daß während der Sitzung Reichenau einen Brief Röhms bekam, den er den Versammelten vorlas und in dem der Satz gestanden habe: „Ich betrachte die Reichswehr nur noch als eine Ausbildungsschule für das deutsche Volk. Die Kriegfühfalls rung und daher auch die Mobilmachung ist in Zukunft Sache der SA." Das entspräche Weichs' Darstellung zutrifft dem Inhalt des einige Tage zuvor Blomberg übermittelten Röhm-

-

-

Memorandums,

wenn

der „Brief" dann wesen 54

M

-

gerade während

sein.

Vgl.

Ebd.

dies nicht sogar mit dem von Weichs genannten „Brief" identisch ist. Daß der Sitzung eintraf, kann auch eine wirkungsvolle Regie ge-

dazu Weichs,

ebd.,

sowie

Liebmann-Notizen, Bl. 72.

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

98

Hitlers

günstig von Röhms renitenten Ausfällen und kritischen Äußerungen abzusetzen. Weiter ging aber auch die Auseinandersetzung mit den Ambitionen der SA-Führung56. Das Reichswehrministerium erarbeitete Grundsätze für die Zusammenarbeit mit der SA, die in verhüllter Form, aber eindeutig in der Sache die Vorherrschaft der Reichswehr festlegten. Das fand seinen konkreten Niederschlag in detaillierten Richtlinien57, von denen der Chef der Heeresleitung am 27. Februar den Befehlshabern58 als „Vorschlag für die Zusammenarbeit mit der SA"59 Kenntnis gab. Daß Hitler grundsätzlich bereits seine Entscheidung gegen Röhms Konzeption getroffen hatte, bewies der 28. Februar 1934. Die Spitzen von SA und Reichswehr versammelten sich an diesem Tag in der Bendlerstraße60. Hitler erteilte in seiner Rede den wehrpolitischen Ambitionen Röhms eine eindeutige Absage. Eine Miliz sei, so führte er aus61, für Ob der in diesem Zusammenhang von O'Neill, S. 39, hineingestellte Blomberg-Erlaß vom 21. 2. 34 über den Mißbrauch des Begriffes „Landesverteidigung" auf die Ambitionen Röhms abzielt, ist sehr zweifelhaft; Inhalt wie auch das Anschreiben, mit dem den anderen Ministerien Kenntnis gegeben wurde, deuten mehr auf Abwehr geschäftstüchtiger Lobbyisten hin, die mit Hinweisen auf das Interesse der Landesverteidigung ihre Interessen zu fördern trachteten. 57 Diese Richtlinien waren in einer „Denkschrift über die Reichsverteidigung" dargelegt worden 56

(vgl. dazu Aktennotiz des Chefs des Ausbildungswesens, Obergruppenführer Krüger, vom 23.2.34, in: IMT XXVIII, S. 583 f., wo es heißt: „Die Aufgaben der SA werden von seiten des Reichsverteidigungsministers im Zusammenhang mit der Landesverteidigung wie folgt festgelegt."). Papen, S. 358, berichtet vom Hörensagen, Fritsch habe auf einem heimlichen Treffen mit Röhm in Alvenslebens Jagdhaus jenes „Abkommen" ausgehandelt. Papen gibt diese Episode selbst mit Vorbehalt wieder; auf jeden Fall kann von einem „Aushandeln" angesichts des Inhaltes (s. unten) keine Rede sein. Die ganze Episode klingt unwahrscheinlich. Vgl. dazu auch Harry Schulze-Wilde, Der Röhm-Putsch, in: Politische Studien 10 (1959), S. 375. Zudem ist Röhm selbst nach Documents on German Foreign Policy (fortan DGFP zit.), Serie C, Bd III, S. 262 ff., am 21. Februar mit eigenen, von den Vorstellungen der Reichswehr stark abweichenden Vorschlägen über die Verwendung der SA bei der Landesverteidigung hervorgetreten (gegenüber FrançoisPoncet). O'Neill, S. 42, erweckt den Eindruck, als ob Hitler den beiden Kontrahenten, Reichswehr und SA, seinerseits das „Abkommen" zur Unterschrift vorgelegt hätte. 58 Vgl. Liebmann-Notizen, Bl. 76. Es war auf Grund des bei Liebmann genannten Datums (27. 2. 34) bisher nicht klar, ob ein eventueller Datumsirrtum Liebmanns vorlag oder eine gesonderte Vorbesprechung am 27. 2. stattgefunden hat, bevor das sogenannte „Abkommen" am 28. 2. 34 unterzeichnet wurde (vgl. Sauer, S. 943, Anm. 223). Durch MGFA/DZ WK VII/1295 steht jetzt fest, daß Chef Heeresleitung den „Vorschlag" (siehe nächste Anmerkung) am 27.2.34 den Befehlshabern auf einer gesonderten Besprechung mitgeteilt hat (so Bezug im Schreiben WK Kdo VII, I b Nr. 1296/34 g.K./E vom 21. 4. 34). 59 Diese Regelung der „Zusammenarbeit zwischen den obersten Behördenstellen der Wehrmacht und der obersten SA-Führung" wurde „aus Tarnungsgründen mit .Vorschlag' bezeichnet": Schreiben des „Reichsverteidigungsministers, T.A. Nr. 9/34 g.Kdos. T2IV" vom 15.5.34 (Vgl. Dok.Anh. Nr. 7). -

80

Vgl. Sauer,

S. 943

f.; Krausnick,

Der 30. Juni, S. 319; Krausnick,

Vorgeschichte,

S.

222;

Es-

monde M. Robertson, Hitler's Pre-War Policy and Military Plans 1933-1939, London 1963, S. 31; Bennecke II, S. 45 f.; O'Neill, S. 42; Manstein, S. 185 (mit irrtümlicher Datierung) und Weichs, Erinnerungen, Bd I, S. 11 (W. hat nach eigenen Angaben während der Rede stenographische Notizen gemacht). 81 Nach Weichs, ebd. unter Anführung angeblicher kriegsgeschichtlicher Erfahrungen (Langemark).

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

99

Die Wehrverfassung des nationalsozialistischen Deutschland müsse ausschließlich auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht im Rahmen der Reichswehr gestaltet werden, die Reichswehr daher der einzige Waffenträger der Nation sein und bleiben. SA und Hitlerjugend falle die politische Schulung und die vor- und nachmilitärische Förderung der Wehrfähigen zu. Warnend fügte er hinzu, die „nationale Revolution" sei endgültig abgeschlossen63. Im Anschluß an die Rede, die naturgemäß bei den Offizieren Befriedigung, bei den SA-Führern Bestürzung hervorrief64, unterzeichneten Röhm und Blomberg jene oben erwähnten Richtlinien für die Zusammenarbeit zwischen SA und Reichswehr; nach Inhalt und Wortlaut65 zielten diese allerdings weniger auf partnerschaftliche Zusammenarbeit ab, sondern mehr auf Unterwerfung66 der SA unter die Reichswehr. Röhm mußte anerkennen, daß der Reichswehrminister allein die Verantwortung für den gesamten Bereich der Landesverteidigung trage, daß der Reichswehr die Mobilmachung und die gesamte militärische Vorbereitung und Führung des Krieges und die eigentliche Ausbildung der Friedens- und Kriegsstreitkräfte obliege. Er mußte auch akzeptieren, daß die SA in den ihr zugestandenen Tätigkeitsbereichen vor- und nachmilitärische Ausbildung den Weisungen des Reichswehrministers unterstand67. Dieser besaß zudem ein ständiges Besichtigungsrecht. Angesichts dessen sowie der Tatsache, daß die Richtlinien ohne Beteiligung der SA-Führung ausgearbeitet worden68 waren, und angesichts des Tenors der Rede Hitlers war der 28. Februar eine Niederlage für Röhm und seine SA; von einem „Ausgleich" konnte keine Rede sein69. Röhms Reaktion war zwiespältig. Einerseits schien er Hitlers Entscheidung zu akzepseine Pläne

ungeeignet62.

-

-

82 In diesem Zusammenhang fielen dann laut Weichs, ebd., die vielzitierten Worte, die „neue Armee müsse nach fünf Jahren für jede Verteidigung, nach acht Jahren auch für den Angriff geeignet sein". Deutschland müsse sich „Lebensraum" verschaffen, „den uns aber die Westmächte nicht gönnen. Daher könnten kurze, entscheidende Schläge nach Westen und dann nach Osten notwendig werden." Über die Reaktion der zuhörenden Offiziere vgl. oben Kap. II S. 42 dieser

Arbeit.

Laut Röhricht, S. 55, soll Hitler gedroht haben, er „zerschlage die SA, wenn sie etwa gefährliche Extratouren tanzen wolle." 64 Vgl. dazu Bennecke II, S. 45 ff., Manstein, S. 186. 65 Der Text war bisher unbekannt; er ist inhaltlich teilweise erschlossen worden aus LiebmannNotizen, Bl. 76, und IMT XXVIII, S. 583 f. Vgl. jetzt Dok.-Anh. Nr. 7. Das Dokument ist datiert vom 27. 2. 34 (vgl. oben Anm. 58 dieses Kapitels). 66 Es ist daher abwegig, von einem „Abkommen" zu sprechen (so Krausnick, Vorgeschichte, S. 222; O'Neill, S. 42). Das Dokument war offiziell als „Vorschlag" bezeichnet worden (vgl. Anm. 59 dieses Kapitels). Weichs, Erinnerungen, S. 12, spricht daher auch richtig von einem „Vorschlag des Reichskriegsministers". 87 Eine Mithilfe bei Grenzschutz und Mob.-Aufgaben war nur „für eine Übergangszeit bis zur Aufstellung der geplanten Wehrmacht" (so Hitler nach Weichs, Erinnerungen, S. 12) vorgesehen. 83

war sie praktisch völlig den Wehrkreisbefehlshabern und Grenzabschnittskommandanten unterstellt; hinsichtlich der Mobilmachung war im Grunde ein Aufsaugen der Teile der SA durch die Wehrmacht vorgesehen. kriegsfähigen 88 Anm. 57 dieses Kapitels. oben Vgl. 89 Nach Schulze-Wilde, S. 375, soll Hitler über das Abkommen nicht besonders erfreut gewesen sein, da er die Herausbildung einer Fronde zwischen SA und Wehrmacht befürchtete.

Beim Grenzschutz

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

100

tieren70; denn

erließ

12. März einen Befehl

die SA-Inspekteure, der praktisch Reichswehr-„Vorschlages" vom 28. Februar enthielt71. Andererseits trug er in den folgenden Wochen durch sein Verhalten zur weiteren Zuspitzung der Krise bei. Er erging sich in scharfer Kritik an der Person des „Führers" und in wilden Drohungen mit einer „zweiten Revolution". In einem Aufruf an die SA betonte er, daß die SA sich nicht von ihrem revolutionären Wege abbringen lassen werde. Ansätze

zur

er

am

Durchführung

an

des

an Plänen hinter dem drohenden Gerede Röhms und seiner Trabanten72 haben mag, der Stabschef gab jedenfalls in dieser Zeit auch durch bedenkliche gestanden Aktivitäten der Reichswehr und Hitler genügend Anlaß zu den schlimmsten Befürchtungen: er nahm zu Schleicher Kontakte auf73, hielt Fühlung mit ausländischen Diplomaten, veranstaltete große SA-Aufmärsche und versuchte im Frühjahr 1934, die SA zu bewaffnen74. Hitler war sich vermutlich schon geraume Zeit darüber klar, daß er das Problem Röhm jetzt eventuell mit Gewalt werde lösen müssen. Er entschloß sich aber nach einigem Zögern, noch zuzuwarten, um wie er einem von Röhm sich abwendenden SA-Gruppenführer sagte „die Sache ausreifen zu lassen"75. Was das bedeuten sollte, zeigten die nächsten Wochen. Mit wohldosierter Mischung von propagandistischen Gegenzügen und systematischer Sammlung von Belastungsmaterial76 wurde die gespannte Atmosphäre geschaffen, die für eine Radikallösung notwendig war. Nur so konnte Hitler hoffen, daß die geplante Lösung der Konsolidierung seiner eigenen Machtposition zugute käme. Nur so konnte er sie auch als staatsmännische Leistung rechtfertigen, als Entscheidung für ruhige Evolution gegen wilde Revolutionierung und zugleich als Parteinahme für die Reichswehr. Gelang ihm dieses Spiel, dann hatte er die vorerst gefährlichste Krise seines Systems bewältigt und sich zugleich die Reichswehr verpflichtet.

Was immer

-

-

Nach einer unsicheren Quelle (vgl. Sauer, S. 944, Anm. 231) soll Röhm noch am 3.3.34 den Versuch gemacht haben, in einer Aussprache mit Hitler vergeblich die Übernahme einiger Tausend SA-Führer auf Etatstellen der Reichswehr zu verlangen. 71 Bennecke II, S. 45-46. Falls dieser Befehl ernst gemeint war, hätte Röhm damit die Auflagen des „Vorschlages" weitgehend erfüllt. Der Reichswehr war dieser Befehl bekannt (MGFA/DZ WK VII/1295). Röhm soll laut Robertson, S. 31-32, auch am 6. 3.1934 eine Mitteilung an die SA gegeben haben, „that he had again given his promise of submission". 72 Vgl. Weichs, S. 12 ff. (SA-Gruppenführer Viktor Lutze hinterbrachte Weichs mehrfach Röhms Gerede; z.B. daß er den „Vorschlag" als „VersaillerDiktat" und Hitler als „ignorantenGefreiten" bezeichnet habe). Vgl. auch ebd.: ein Gruppenführer in Jena erklärte vor aufmarschierter SA, die zweite Revolution sei erst vorüber, wenn der SA-Staat begründet sei. Zusammenstöße der SA mit Reichswehr vgl. MGFA/DZ WK XIII/754. 73 Dieser hatte wiederum Verbindung zu Strasser (Diels, S. 27). 70

74

Vgl. dazu IMT XXXVI, S. 72 f. (Beschwerde Blombergs bei Hitler) und Keitel, S. 68 ff. Allgemein vgl. Krausnick, Der 30. Juni, S. 320. 75 Hierzu und zum folgenden vgl. Krausnick, Der 30. Juni, S. 319 ff., und Sauer, S. 948 ff. 76 Nach Schulze-Wilde, S. 377, soll Blomberg über Röhms Befehl, die sogenannten „Stabswachen" bei den Gruppen- und Obergruppenstäben der SA zu bewaffnen bzw. zu verstärken, vom SD

orientiert worden sein.

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

101

An diesem Punkt ist einzuhalten und der Blick wieder auf das Gesamtbild der Krise zu richten. Sicherlich war das SA-Problem das gefährlichste Symptom der Strukturkrise des Regimes. Gleichzeitig setzte aber im bürgerlich-konservativen Lager Desillusionierung und Kritik ein. Hier bot sich ein geeigneter Mutterboden für das Aufkeimen einer Art konservativer Opposition, die nicht zuletzt auch bei den deutsch-nationalen Koalitionspartnern Hitlers Rückhalt zu gewinnen Aussicht hatte. Tatsächlich zeichneten sich Ende 1933-Anfang 1934 schon die Umrisse solcher Oppositionsbestrebungen ab77. Die Lückenhaftigkeit und Zufälligkeit der Quellenüberlieferung erlaubt es jedoch nicht, ein deutliches Bild dieser Regungen zu gewinnen78. Verschiedene, allerdings recht vage Zeugnisse sprechen von oppositionellen Gruppen, nennen Namen wie Brüning und Treviranus, Staatssekretär v. Bismarck, Altkonservative wie v. d. Osten und v. Kleist79; auch zu Schleicher80 sollen Fäden gesponnen worden sein. Oppositionskreise aus der katholischen Jugendbewegung und den christlichen Gewerkschaften werden erwähnt81. Unklare Andeutungen von verschwörerischen Überlegungen, von Verbindungen zur Reichswehr82 und zu prominenten, mit der Entwicklung der Hitlerregierung unzufriedenen Nazis83 lassen sich finden. Lediglich als Indizien für zunehmende Gärung darf man all dies nehmen, für erstes, wenngleich vages Erwachen oppositioneller Impulse auf konservativer, christlich-bürgerlicher Seite84. Sieht man indessen auf die genannten Namen, so drängt sich doch der Eindruck auf, daß es sich weitgehend um Kreise handelte, die längst vergangene Zeiten repräsentierten. Potentiell jedoch waren für jene Kreise in der damaligen Situation manche Chancen wohl vorhanden. Das in Kürze zu erwartende Ableben Hindenburgs und damit die Regelung der Nachfolge mußte für Hitler, für sein Regime überhaupt, ein schwieriges Problem werden, vollends in jener gespannten inneren Lage der Hitler-Bewegung. Boten sich doch bei der Nachfolge als naheliegende Lösungen an entweder monarchische Restauration oder Kanzler- und Präsidentschaft Hitlers. Bei einigen klarer blickenden deutschnationalen bzw. konservativen Kräften war inzwischen die Ansicht entstanden, daß die einzige Alternative zum totalitären Führerstaat in einer Wiedererrichtung der Monarchie liegen würde. So gingen damals die Probleme ineinander über: Hitler stand vor der Aufgabe, die SA-Frage zu lösen. Dieses Problem war verbunden mit dem der Wehrverfassung, die die Interessen der Reichswehr berührte. Reichswehr, Hitler und konservativ-bürgerliche Kräfte wiederum hatten sich über kurz oder lang mit der Nachfolgefrage auseinanderzusetzen. Für Hitler war dies eine Chance, seine Stellung

Vgl. über diese ganze Entwicklung die Ausführungen und Belege bei Sauer, S. 910 ff., und Joachim v. Stülpnagel, S. 323, sowie Ritter, Goerdeler, S. 123 ff. 78 Vgl. auch Rudolf Pechel, Deutscher Widerstand, Erlenbach-Zürich, 1947, S. 76 ff., und Fabian 77

Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler, Zürich-Wien-Konstanz 21951, Brüning, Ein Brief, in: Deutsche Rundschau 70 (1947), S. 20 f. v.

79

Schlabrendorff,

89

Vgl. die Belege bei Ritter, Goerdeler, S. 465, Anm. 6. Sauer, S. 921 (Verbindungen zum Wehrkreiskommando in Münster). Pechel, S. 76; Sauer, S. 921, Anm. 106; Scheringer, S. 308. Scheringer, ebd.

81

82 83 84

S. 22 ff.

Sauer, S. 910 f., scheint diese Indizien

zu

überschätzen.

S. 22

f., sowie Heinrich

102

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

durch Übernahme auch des Reichspräsidentenamtes zu stärken. Für die konservativmonarchische Opposition konnten Nachfolgefrage und SA-Konflikt ein taktisch günstiger Ansatz sein, wieder entscheidend ins Spiel zu kommen, gar eine grundlegende Änderung der Verhältnisse einzuleiten und die Entwicklung maßgeblich in Richtung auf die Wiederherstellung geordneter Verhältnisse zu beeinflussen. In dieser Situation wären vielleicht Ansätze vorhanden gewesen, dem Gang der Entwicklung eine andere Richtung zu geben. Das hatten vor allem Männer erkannt, die für jene Zeit zum aktiven Kern jener angedeuteten, noch weitgehend diffusen oppositionellen Strömung in konservativen Kreisen gehörten und deren Bestrebungen sich in den Quellen deutlicher widerspiegeln. Diese Gruppe wurde von Persönlichkeiten aus dem engsten Mitarbeiterstab des Vizekanzlers v. Papen gebildet. Männer wie Böse, Tschirschky85, Savigny86, Ketteier und Edgar Jung87 entwickelten Pläne, die Verhältnisse im Sinne konservativer, wenn nicht gar restaurativer Ideen zu verändern. Ihnen war klar geworden, daß es eine Illusion gewesen war, Hitler durch Einrahmung mit deutschnationalen oder konservativen Ministern zügeln oder auch nur beeinflussen zu wollen. Zudem erkannten sie, daß sowohl die Zuspitzung des SAKonfliktes als auch die in absehbarer Zeit akut werdende Frage der Nachfolge des Reichspräsidenten Ansatzpunkte zur Beeinflussung der Entwicklung boten88. Sie wurden auf zwei Ebenen aktiv89. Einmal veranlaßten sie Papen, bei Hitler auf eine verbindliche Stellungnahme zur Regelung der Nachfolgefrage zu drängen sowie den Reichspräsidenten selbst zu beeinflussen, in seinem Testament die Wiederherstellung der Monarchie zu empfehlen90. Beide Demarchen hatten nicht den erwünschten Erfolg. Hitler wich aus und behandelte die Angelegenheit dilatorisch. Hindenburg nahm die Empfehlung, die Monarchie zu restaurieren, nicht in sein Testament auf, sondern nur in ein an den Kanzler gerichtetes Begleitschreiben. Damit brachte er die Empfehlung fraglos um ihre Wirkung01. Zum anderen hatten aber die konservativen „Jungtürken" um Papen inzwischen unter Berücksichtigung des zweiten durch die Situation gegebenen Ansatzpunktes in viel weiter85

Diels, S. 57. Savigny hatte nach Diels,

S. 301, zusammen mit Edgar Jung Verbindung zu Diels, die wiederum beide durch Albrecht v. Kessel vom Auswärtigen Amt mit Informationen versorgt wurden. Mit Diels wiederum hatte Ministerialdirektor Klausener, der Leiter der Katholischen Aktion in 89

Berlin, Verbindung. 87 Vgl. Pechel, S. 76 ff. Nach Diels,

S. 205, unternahmen Jung und seine Freunde wie Savigny und Tschirschky vielfältige Schritte und fabrizierten auch „Material" mit Hilfe ausländischer Stellen (S. 57), um eine Reaktion des Auslandes herbeizuführen, die Hitler beeindrucken sollte. Sie mobilisierten die Botschafter in London und Paris (Hoesch und Köster) zu Vorstellungen im Auswärtigen Amt, von wo aus Bülow-Schwante die Meldungen der Botschafter zusammen mit den Demarchen ausländischer Missionen in die richtigen Kanäle leitete. 88 Über ähnliche Hoffnungen in konservativen Kreisen vgl. Erich Kordt, Nicht aus den Akten. Die Wilhelmstraße in Frieden und Krieg. Erlebnisse, Begegnung und Eindrücke, Stuttgart 1950,

S.75. 89 90 91

Vgl. hierzu und zum folgenden Sauer, S. 210 ff. Vgl. dazu Hubatsch, Hindenburg und der Staat, S. 141. Über Text und quellenkritische Problematik des Begleitschreibens vgl. Hubatsch, Hindenburg

und der Staat, S. 143, Anm. 24, und S. 383, Anm. 3.

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

103

Weise ihre Fäden gesponnen. Sie gründeten ihre Pläne auf die Aussicht einer weiteren Zuspitzung der SA-Krise, wobei vor allem Böse und Tschirschky sogar sich bemühten, die Gegensätze zwischen Reichswehr und SA nach Möglichkeit kräftig zu schüren92. Dies geschah in der Hoffnung, daß die Spannungen bis zu dem Punkte gelangten, an dem der Reichspräsident unter Hinweis auf eine drohende oder tatsächliche Meuterei der SA zur Ausrufung des militärischen Ausnahmezustandes veranlaßt werden konnte. Wenn alles auch unter fiktiver Wahrung des persönlichen Prestiges Hitlers geschehen sollte, so rechneten sie doch damit, daß der Kanzler unter dem Druck dieser Situation sich dem Zwang der Umstände werde fügen müssen93. Das Kernstück dieser konspirativen Planung bestand in der durch Hochtreiben der Spannung bewirkten Erzwingung des militärischen Ausnahmezustandes. Die Reichswehrführung zu gewinnen, war damit eine unumgängliche Voraussetzung für das Vorhaben der Mitarbeiter Papens. Theoretisch konnte die Aussicht, die Reichswehrführung in dem geplanten Sinne zum Mitmachen veranlassen zu können, vom Standpunkt dieser Oppositionsgruppe nicht von vornherein als irreal angesehen werden. Eine Wiederherstellung der Monarchie wäre vom Offizierkorps gewiß begrüßt, bestimmt aber geduldet worden. Ein Vorgehen gegen die SA wäre damals bei der Truppe gewiß auf willige Bereitschaft gestoßen. Durfte man jetzt nicht auch eine entsprechende Neigung bei der Reichswehrführung voraussetzen, da die Zusammenarbeit mit der SA zu scheitern drohte? Zudem war jene konspirative Planung psychologisch nicht ungeschickt; die konservative Opposition verlangte von der Reichswehr keinen direkten Umsturz oder Putsch, sondern gedachte dadurch, daß sie den Reichspräsidenten zur Verkündung des militärischen Ausnahmezustandes zu bewegen hoffte, dem Einsatz der bewaffneten Macht vielmehr eine legale Grundlage zu geben. Insofern stellte sie die formale Loyalitätsgebundenheit der Armee durchaus in Rechnung. Sie mußte indessen rasch erkennen, daß sie bei der obersten Reichswehrführung, also bei Blomberg und Reichenau, kein Gehör finden würde94. Aber auch bei der Heeresleitung stieß sie auf taube Ohren. Im Frühjahr 1934 hatten Papen und sein Mitarbeiter v. Tschirschky mehrfach auch bei dem neuen Chef der Heeresleitung, dem General Freiherrn v. Fritsch, vorgefühlt95. Es ist dabei allerdings nicht ganz klar, in welche Richtung diese Sondierungen gingen. Bezogen sie sich auf ein Einschreiten gegen die SA, eventuell sogar über den Kopf der Reichswehrführung oder gar des Präsidenten hinweg, in isoliertem Vorgehen des Heeres? Dann war es nicht verwunderlich, daß Fritsch sich versagte; denn in der militärischen Hierarchie stand er erst an dritter Stelle hinter dem

gehender

Dazu Sauer, S. 913 ff. und 948, sowie Rothfels, S. 55 ff. Beide sammelten eifrig Material über SA und gaben es an die Reichswehr weiter. Nach Diels, S. 57, sollen sie bisweilen das Material zur Erhöhung der angestrebten Wirkung auch „bearbeitet" haben. 98 Über Edgar Jungs wohl recht weitgehende Pläne vgl. Pechel, S. 76 ff., sowie Rothfels, S. 55 ff. Man soll sich allerdings nicht darüber täuschen, daß die Pläne dieses Kreises durchaus konservativreaktionären Charakter trugen. Zur Kritik vgl. Fest, S. 214 ff. 94 Sauer, S. 920. 95 Ebd. (Zeugnis Tschirschkys und Mellenthins). 92

illegalen Waffenbesitz der

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

104

Reichspräsidenten und dem Reichswehrminister. Außerdem konnte er als ganz neuer Chef der Heeresleitung nicht sicher sein, ob er für ein derartiges Vorgehen das Heer schon fest in der Hand hätte, ob nicht die Gefahr einer Spaltung der Armee drohte06. Oder versuchten die beiden Persönlichkeiten, den Chef der Heeresleitung nur zu einer entsprechenden Einflußnahme bei Blomberg zu bewegen? Wenn er das ablehnte, so erklärte es sich wohl aus seiner völlig unpolitischen Natur, vor allem aber daraus, daß er seit Anfang Februar schon wußte, daß die Reidiswehrführung innerlich den Bruch mit der SA bereits vollzogen, daß Hitler (spätestens am 28. Februar 1934 für Fritsch sichtbar) sich ebenfalls schon für die Reichswehr entschieden hatte. Wieso sollte der Chef der Heeresleitung gerade angesichts dieser Entscheidungen auf Anregungen eingehen, die ihrer Natur nach risikohaft, ihm zudem unsympathisch, vor allem aber in seinen Augen unnötig waren? So wich er den Fühlungnahmen mit dem Argument aus, das seien rein innenpolitische Angelegenheiten, die das Heer nicht unmittelbar beträfen. Der Vorwurf, der in diesem Zusammenhang gegen Fritsch erhoben wird, er habe das Bewußtsein vermissen lassen, daß Loyalität hier sinnlos und damit die Situation überhaupt ausweglos gewesen sei97, geht von der völlig unzutreffenden Voraussetzung aus, Fritsch sei innerlich einer grundlegenden Änderung der Verhältnisse nicht abgeneigt gewesen oder habe gar die Einsicht in deren Notwendigkeit gehabt. Genau das aber traf bei dem Chef der Heeresleitung ebensowenig zu wie bei der Reichswehrführung. Wohl wollte er eine Erledigung des SA-Problems im Sinne der Interessen des Heeres die aber schien bereits eingeleitet und gesichert. Wohl behagten ihm allerlei bedenkliche, skandalöse Erscheinungsformen des Regimes nicht aber einerseits schaute er sowieso verständnislos auf das politische Treiben98, solange es nicht Heeresbelange berührte, andererseits war er noch durchaus überzeugt, daß die Entwicklung auf evolutionärem Wege wieder in rechte Bahnen geriete99 und daß unter den gegebenen schwierigen Verhältnissen niemand den Reichskanzler ersetzen könne. Nie war vielleicht die innere Übereinstimmung Fritschs mit der Reidiswehrführung und mit dem Kanzler größer als gerade im Frühjahr 1934100. Papens Mitarbeiter sollen das Werben um die bewaffnete Macht aber noch nicht aufgegeben haben. Es wird berichtet, daß man von seiten der konservativ-monarchischen Opposition an verschiedene Generäle gennannt werden die Namen Rundstedt, Bock und Witzleben herangetreten und bei diesen auf Interesse und Bereitschaft gestoßen sei101. Träfe dies zu, dann wäre das sehr erstaunlich. Witzleben war allerdings wie spätere Ereignisse beweisen stets ein -

-

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96 97

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Sauer, ebd. Sauer, ebd.

Vgl. Hoßbach, S. 70 (Fritschs Aufzeichnung). Vgl. Johann Adolf Graf v. Kielmansegg, Der Fritsdiprozeß 1938, Ablauf und Hintergründe, Hamburg 1949, S. 26 ff.; Halder, Spruchkammeraussagen, fol. 26-27; Hoßbach, S. 107. 100 98

99

haben wir damals dennoch auf eine AuseinanderKordt, S. 75, schreibt beispielsweise: setzung zwischen Reichswehr und Partei gehofft, als deren Folge vielleicht doch noch der Willkürherrschaft der Nazis ein Ende gemacht werden könne." Genau das kennzeichnet den Irrtum dieser freiheitlich-konservativen Kreise. Es bestand eine klare Frontstellung Reichswehr-SA, nicht aber Reichswehr-Hitler-Regime. 101 Sauer, S. 920 f. „...

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

105

Gegner der Nationalsozialisten gewesen. Er hat sich auch fortan immer, wenn man an ihn herantrat, zum Mitmachen bei Umsturzversuchen bereit erklärt. Aber daß sie bei Bock und Rundstedt, Generälen von zwar konservativer, monarchischer Gesinnung, stets loyal, jedoch zutiefst unpolitisch, auf Bereitschaft für ihre Pläne gestoßen sein sollen, ist höchst unwahrscheinlich102. Man kann nur annehmen, daß die Fragestellung, die den genannten Generälen unterbreitet worden ist, so gehalten war, daß sie eine positive Entgegnung hervorrief. So wären diese Generäle selbstverständlich wie alle Befehlshaber zum Eingreifen in dem Fall bereit gewesen, wo etwa die SA zu einem Aufstand gegen die Staatsgewalt geschritten wäre, vor allem wenn der Reichspräsident dabei den Ausnahmezustand verkündet hätte103. Allerdings änderte dies angesichts des Scheiterns der Sondierungen bei Blomberg, Reichenau und Fritsch nichts mehr an der Aussichtslosigkeit aller Bemühungen von konservativ-oppositioneller Seite um die Reichswehr. Deren Führung verfolgte eine eigene Politik, die ganz auf die Person des Kanzlers abgestellt war und der im Prinzip auch die Heeresleitung folgte. Inzwischen hatte Hitler nämlich in der Frage einer monarchischen Restauration durch Ausweichen und dilatorische Behandlung vor allem indem er das Problem des Prätendenten aufwarf seinen Vizekanzler bereits überspielt104. Zugleich begann er zielstrebig die Weichen für eine Lösung des SA-Problems zu stellen, die spätestens seit Ende Februar, wahrscheinlich aber schon früher für ihn nur in einer Entscheidung gegen Röhm und für präventives Vorgehen zu gegebenem Zeitpunkt bestehen konnte. Allerdings schien ihm Zuwarten vorerst noch geboten; sehr wahrscheinlich war ihm auch die konkrete Durchführung der ins Auge gefaßten Lösung noch nicht in allen Einzelheiten klar105. Vorsorglich ließ er Belastungsmaterial gegen die SA-Führung zusammenstellen106. SS und SD wurden ab Februar weiter ausgebaut bzw. aufgebaut und damit die Grundlage eines parteieigenen, von der SA unabhängigen Machtapparates gelegt107. Von Parteiseite lief -

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102

Sauer, S. 921.

Es erscheint mir daher sehr fraglich, ob wie Krausnick, Vorgeschichte, S. 227, andeutet der Fragestellung wirklich der Fall zugrunde lag, daß bei dem erwarteten Aufstand der SA die Generäle mit ihren Truppen eingreifen sollten, „um es auf diese Weise zur Verhängung des Ausnahmezustandes und damit zu einer vorübergehenden Militärdiktatur zu treiben" (ebd.). Für den Fall jedoch, daß die SA Einheiten, Verbände oder Einrichtungen der Reichswehr angriffe, war es sowieso selbstverständlich, daß die Streitkräfte zuschlugen dazu waren sie nicht nur befugt, sondern dazu hatten sie auch Befehl. 194 Hierzu und zum folgenden vgl. Sauer, S. 935 f., und Krausnick, Vorgeschichte, S. 228 f. 105 Nach Sauer, S. 935, und Krausnick, Vorgeschichte, S. 220, sei Hitler von dem Augenblick an, wo er eine Einigung mit Röhm als aussichtslos ansah, zum terroristischen Vorgehen entschlossen gewesen; anders dagegen Mau, S. 131. Himmler-Heydrich jedoch schienen schon frühzeitig genaue Vorstellungen von der Liquidation des SA-Problems gehabt zu haben. Laut Schulze-Wilde, S. 377, wurde seit Ende Mai auf ihre Weisung hin eine „Reichsliste aller unerwünschten Personen" sowie gleichzeitig ein Planspiel gegen die Münchener Oberste SA-Führung durchgeführt. aufgestellt 106 Nach Diels, S. 273 ff., sollen im Januar Hitler und Göring dem Gestapochef Diels den Auftrag erteilt haben, eine Denkschrift über Ausschreitungen der SA anzufertigen, wobei sie ihn insbesondere auf Röhms Person hinwiesen. Vgl. auch Bennecke II, S. 42. 107 Vgl. dazu Bennecke II, S. 50 f. und 62 f., und Schulze-Wilde, S. 376 f. Die den SD betreffen105

-

-

-

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

106

eine Propagandakampagne gegen „Miesmacher und Kritikaster" an, was sowohl auf die rebellischen SA-Kreise als auch auf die konservative Opposition abzielte. Hitler mußte und konnte nur eine Lösung anstreben, die ihn zwar in den Augen der Reichswehr als deren Sachwalter erscheinen ließ sein Verhalten auf der Konferenz vom 28. Februar war dafür typisch -, durch die er jedoch weder tatsächlich noch in den Augen seiner Partei in Abhängigkeit von der Reichswehr geriet. Gleichzeitig mußte mit einem Vorgehen gegen die SA-Fronde die Gelegenheit ergriffen werden, die konservative Opposition auszuschalten. Auf seiten der Reichswehr war seit Ende Februar ebenfalls eine Entwicklung eingeleitet worden, die Hitlers Absichten keinesfalls entgegengesetzt, viel eher für sie sogar günstig -

war.

In diesem Zusammenhang wäre allerdings darauf hinzuweisen, daß die Entwicklung im Frühjahr und Sommer 1934 nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des fortschreitenden Ausbaues der Machtposition Hitlers und des willentlichen oder unwillentlichen Beitrages, den die Reidiswehrführung durch ihr Verhalten dazu zweifellos geleistet hat,

gesehen werden kann; das wäre allzu sehr vom Ergebnis her geurteilt; vielmehr muß man auch zur Beurteilung des Verhaltens der verantwortlichen Persönlichkeiten der Reichswehr eine eigenständige Interessenpolitik des Reichswehrministers und der Heeresleitung in Ansatz bringen und untersuchen, wobei allerdings gewiß ebenfalls nicht zu übersehen wäre, daß diese Politik letzten Endes den Interessen Hitlers mehr genützt hat108. Die Politik der Reidiswehrführung, also Blombergs und Reichenaus, von Ende Februar bis Ende Mai wird durch zwei Momente gekennzeichnet: Einmal durch demonstrative Intensivierung der bereits geschilderten öffnungs- und Anpassungspolitik. Das drückt sich vor allem in der Weisung Blombergs vom 21. April 1934 über die Akzente der Wehrpropaganda aus109. Die Unterschiede zu der vorangegangenen Weisung vom 21. November 1933110 über dasselbe Thema sind dabei aufschlußreich; denn sie zeigen, daß jene Politik jetzt einen spezifisch taktischen Charakter im Rahmen des Reichswehr-SA-Konfliktes erhielt111. Zu der im November befohlenen Parole die -

den Vorgänge sind im einzelnen noch nicht ganz geklärt. Im April wurde der Gestapo-Chef Diels durch Himmler bzw. Heydrich abgelöst, die sogleich darangingen, den Apparat der politischen Polizei für ihre Zwecke auszubauen. Hierzu vgl. Krausnick, Der 30. Juni, S. 320, und allgemein Hans Buchheim, Die SS Das Herrschaftsinstrument, S. 67, in: Hans Buchheim u. a., Anatomie des SS-Staates, Bd I, Olten-Freiburg 1965 Walter Texte und Dokumente zur Zeitgeschichte, ios Vornehmlich hatte man den Gesichtspunkt der Herrschaftsbefestigung Hitlers bei der Behanddes den in 30. lung Juni Vordergrund gestellt, Bennecke dagegen stellt mehr den Aspekt des Machtkampfes zwischen SA und Reichswehr in den Mittelpunkt seiner Betrachtung, wobei er der bisher zu wenig beachteten Rolle des Chefs des Ausbildungswesens besondere Aufmerksamkeit widmet. Allerdings tritt in Benneckes Darstellung die Verantwortlichkeit Hitlers am 30. 6. 34 un-

=

angemessen in den Hintergrund. 109 MGFA/DZ H 24/6: Dok.-Anh. Nr. 9. no O'Neill, S. 44, kennt die Novemberweisung

(vgl. oben Kap. II S. 72 dieser Arbeit) nicht; ihm entgeht daher der Unterschied. So vermag er die Weisung nicht einzuordnen. 111 Über die notwendige Differenzierung des grundsätzlichen und des taktischen Elementes bei der Indoktrinierungspolitik vgl. Kap. II, S. 81 dieser Arbeit.

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

107

„Durchdringung der Wehrmacht mit nationalsozialistischem Gedankengut" und die Betonung des Kampfes der Reichswehr gegen den Kommunismus während der Weimarer wurde nunmehr befohlen, die Reichswehr „als alleinigen Waffenträger der Zeit Nation" und „als im Sinne der Regierung absolut zuverlässig" herauszustellen. „Alle sich bietenden Gelegenheiten" müßten „für eine Verstärkung der Wehrmachtspropaganda" in diesem Sinne ausgenutzt werden. Einige Tage zuvor war den für die innenpolitischen Angelegenheiten bei den Wehrkreisen zuständigen Ic-Sachbearbeitern bei einer Besprechung im Wehrmachtamt vom Leiter der Abteilung Inland dazu dargelegt worden, die Wehrmacht müsse vor der Öffentlichkeit hervorgehoben werden. Dabei müsse vor allem -

der soldatische Ursprung des Nationalsozialismus, die soldatischen Werte der nationalsozialistischen Weltanschauung und die innere Verbundenheit von soldatischem und nationalsozialistischem Gedankengut herausgestellt werden. Den machtpolitischen Hintergrund deutete der Abteilungsleiter Inland mit der Bemerkung an, die beste fachliche Arbeit nütze nichts, „wenn uns andere von unserem Platz verdrängen"112. Ebenfalls im April befahl Blomberg eine Intensivierung des politischen Unterrichts. Goebbels wurde zu Vorträgen vor Offizieren gebeten, die er nun seinerseits werbend dazu benutzte, den Geist der preußisch-deutschen Armee als vorbildlich für die Partei hinzustellen113. Blomberg hinwiederum leitete bezeichnenderweise und ganz in der Linie seiner Wehrpropaganda-Weisung einen Erlaß über zeitgemäße Geselligkeitspflege in den Streitkräften ein mit der fordernden Feststellung, daß die Wehrmacht die ihr zukommende Stellung im nationalsozialistischen Staate einnehme und daß die Anerkennung, die Hitler ihr wiederholt habe zukommen lassen, diese Tatsache nur bestätige114. Außer dieser nunmehr stark taktisch und eindeutig gegen die SA-Konkurrenz akzentuierten Propagandaaktion begann die Reichswehrführung des weiteren, systematisch die SA zu beobachten, sorgfältig Material zu sammeln und damit bei Hitler vorstellig zu werden115. Bald darauf der genaue Zeitpunkt ist nicht mehr feststellbar spannen sich auch Kontakte der Reichswehrführung zu Göring und Himmler an116, beides Rivalen und Gegner Röhms. Reichenau wird hierbei wohl der aktivere Teil gewesen sein, während Blomberg zu etwas mehr Behutsamkeit -

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MGFA/DZ H 24/6: Vortrag von Major Foertsch vom 17. 4. 34. Nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 225, sollte Goebbels der stark abgesunkenen Sympathie des Offizierkorps gegenüber dem Nationalsozialismus aufhelfen. Zur Frage der damaligen Unpopularität des Nationalsozialismus im Offizierkorps vgl. die prozentuale Aufgliederung auf Grund zeitgenössischer Unterlagen bei Castellan, S. 433, 435 ff. 114 Erlaß vom 24. 5. 34, abgedruckt bei Messerschmidt, Dok. Nr. 97, S. 255 ff. Darin wird auch auf die Frage des gesellschaftlichen Verkehrs mit Vertretern der Partei etc. eingegangen. Vermutlich ist der Erlaß auch durch Anfragen von Kommandeuren veranlaßt worden, denen nicht klar war, wie sie sich angesichts der in Gesellschaft und Öffentlichkeit Anerkennung anstrebenden insbesondere in kleineren Garnisonen. Als Beispiel vgl. Parteifunktionäre verhalten sollten Brief General Geyers, Chef des Stabes im Gruppenkommando 2, vom 13. 4. 34 an Reichenau, in: BA/MA W 01-5/107 (OKW 879) vgl. Dok.-Anh. Nr. 10. 115 Vgl. dazu Robertson, S. 31. 118 Vgl. Foertsch, S. 54, und Sauer, S. 950 ff.; Ulrich v. Hassel, Vom anderen Deutschland, Aus den nachgelassenen Tagebüchern 1938-1944, Zürich-Freiburg 21946, S. 39, überliefert, daß Fritsch ihm 1938 berichtet habe, Göring habe ihn im Frühjahr 1934 gleichsam als Bundesgenossen gegen 112 113

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III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

108

neigen schien117. Einerseits entsprach das seinem Wesen; andererseits wollte er, nicht zuletzt angesichts der zahlenmäßigen Stärke der SA118, einen frühzeitigen Zusammenstoß in der beabsichtigten Periode des „Schwebezustandes" vermeiden110. Reichenau kritisierte daher bisweilen, daß der Minister bei Hitler nicht mit genügendem Nachdruck die Warnungen der Reichswehr vorbringe120. Hitlers genaue Absichten soweit sich diese in jener Periode bis Ende Mai schon konkretisiert hatten werden sie jedoch beide nicht im einzelnen gekannt haben, wohl aber seine Neigung zu präventivem Handeln. Indessen hat es den Anschein, daß das Vertrauen Blombergs, Hitler werde den ganzen Problemkomplex der SA rechtzeitig im Sinne der Reichswehr lösen, größer war als das Reichenaus121. Daher versuchte dieser sowohl auf den Minister wie auf Hitler selbst drängend einzuwirken; daher gestaltete er seine Kontakte zu Himmler immer enger. Er intensivierte die geheime Spionagetätigkeit gegen die SA. Dazu dienten ihm Zuträger aus den Reihen der SAFührung selber, insbesondere der „Meldedienst" des mit der Reichswehr eng zusammenarbeitenden und von ihr finanziell abhängigen Chefs des Ausbildungswesens122, dann zu

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-

allem die Abwehr. Zwischen der Reichenaus Amt unterstehenden Abwehr und dem damals noch sehr rudimentären SD scheint es dabei zu einer im einzelnen noch nicht geklärten Zusammenarbeit gekommen zu sein123. Kurzum, Reichenaus Tendenz war es, auf eine Entscheidung im Sinne einer grundlegenden Lösung des SA-Problems unter weitestmöglichem Heraushalten der Reichswehr hinzuwirken. Das war ebenfalls die Tendenz der Heeresleitung. Auch Fritsch wünschte, vielleicht noch eifriger als Reichenau, so schnell und so wirksam wie möglich sich der bedrohlichen SARivalität zu entledigen. Auch er wollte, soweit es ginge, die Reichswehr dabei nicht einvor

die SA

zu

gewinnen versucht, wobei

er

ihn

glittenen Gestapo einzunehmen trachtete. 117

So

gleichzeitig

gegen den Chef der

Erfurth, S. 157; Sauer, S. 951; Hoßbach, S. 70 (Fritsch-Aufzeichnungen

damalige Adjutant Blombergs, Kapitän

v.

Friedeburg,

soll enge

ihm, Goring, vom

Beziehungen

zu

ent-

1.2.38). Der Himmler ge-

habt haben. 118 Bezeichnend für die prekäre Situation, die örtlich für die Reichswehr aufgrund ihrer zahlenmäßigen Schwäche entstehen konnte, war ein Zwischenfall in Weiden/Oberpfalz. Etwa 1500 emigrierte österreichische SA-Männer drohten dort die öffentliche Ordnung zu stören. Der nächstliegende Truppenverband lag in Regensburg, wäre auch zu schwach gewesen, bei einem ernsthaften Zusammenstoß sich durchzusetzen. Die Angelegenheit konnte zwar ohne Einsatz von Waffengewalt erledigt werden, zeigte aber deutlich die Gefahr. Zu diesem Vorfall vgl. MGFA/DZ WK VII/754. 119 In diesem Sinne wird auch sein Erlaß vom 10. 3. 34 zu verstehen sein, der die Frage eines eventuellen Erlöschens der Mitgliedschaft in Partei und SA von Freiwilligen vorerst in der Schwebe ließ. MGFA/DZ H 24/6, Nr. 75/34 geh. L Ha vom 10. 3. 34, abgezeichnet vom Chef HL am

14. 3. 34.

129

Foertsch, S. 110. Vgl. Anm. 20 dieses Kapitels. Bennecke II, S. 46 ff., 50 f., 59 ff.; Manstein,

121

122

S. 187. Nach Bennecke, ebd., sollen SS und SD einen Teil der Meldungen über die SA von der Reichswehrführung erhalten haben, die diese wiederum vom Spionageapparat des Chefs des Ausbildungswesens erhalten haben sollen. 123 Bennecke II, S. 50; Schulze-Wilde, S. 377; demnach wären Sauer, S. 951 f., und Krausnick, Der 30. Juni, S. 320 ff., zu berichtigen.

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

109

gesetzt wissen. In der Literatur124 ist hinsichtlich der Verantwortlichkeit und Teilhabe an den Vorgängen des 30. Juni 1934 bisher nachdrücklich der Unterschied zwischen dem Handeln der Reichswehrführung und dem der Heeresleitung betont worden. Abgesehen von zwei Nachkriegsaussagen125 beruht diese Ansicht auf Fritschs eigenen Ausführungen aus der Zeit des „Dritten Reiches", nämlich seiner mitten in der sogenannten Fritsch-Krise verfaßten Aufzeichnung vom 1. Februar 1938126. Er schreibt aber darin lediglich, das Zustandekommen des 30. Juni 1934, also des Blutbades selbst, „übersehe [er] in seinen Daran er daß nicht die Himmler und genau...". Vermutung, knüpft Grundlagen Reichenau „wohl die Dinge im wesentlichen gestaltend beeinflußt" hätten127. Abgesehen davon, daß es für Fritsch zu dem Zeitpunkt der Niederschrift nicht unbedingt ratsam war, alles Wissen dem Papier anzuvertrauen, kann man aus den zitierten Sätzen lediglich entnehmen, daß Fritsch über Rolle und Aktivität Reichenaus, insbesondere über dessen Zusammenspiel mit Himmler und dem Anteil beider an den Ereignissen um den 30. Juni 1934 nicht genau orientiert war oder orientiert worden ist128, daß er allerdings recht zutreffende Ahnungen hegte. Des weiteren könnte man allenfalls noch eine indirekte Distanzierung des ObdH von der Durchführung der „Aktion" des 30. Juni 1934 aus seinen Worten entnehmen. Die Ausführungen Fritschs sagen jedoch überhaupt nichts über seine eigene Rolle vor, am und nach dem 30. Juni 1934 aus129. Einige Abschnitte jener Niederschrift130 enthüllen dagegen Fritschs tiefe Gegnerschaft zur SA, aber auch zu Reichewohl nicht zu Unrecht als seinen Rivalen ansah. Angesichts dieses nau, den er Befundes schreibt Fritschs Biograph, vorsichtiger als andere Autoren, daß sich aus allen bisher bekannten Unterlagen „kein ausreichender Hinweis" darüber entnehmen läßt, „was für eine Rolle Fritsch hierbei gespielt hat". Er meint, es sei „sicher keine treibende und keine auslösende" Rolle gewesen131. ...

-

-

Vgl. z.B. Sauer, S. 951; Krausnick, Vorgeschichte, S. 226; anders Bennecke II, S. 61 ff., der die Frage allerdings nur auf eine Bemerkung bei Foertsch, S. 54, stützt, der schreibt: was die Führung der Reichswehr politisch tat, um der drohenden Gefahr Herr zu werden. Das war nidit viel, aber eigentlich doch alles, was zu den Ereignissen am 30. Juni selbst führte." Zur Problemlage vgl. Klaus-Jürgen Müller, Reichswehr und „Röhm-Affäre". Aus den Akten des Wehrkreiskommandos (Bayer.) VII, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen Bd 1/68, S. 107-144. 125 Nämlich Zs. Nr. 105 (v. Mellenthin) und Zs. Nr. 149 (v. Sodenstern), ersterer damals Adjutant Chef HL, letzterer Chef T 2 im Truppenamt. 128 Mit Auslassungen abgedruckt bei Hoßbach, S. 68 ff., Original in BA/MA H 08-28/3 (Nachlaß Beck). 127 So auch später in einem von J. A. Graf v. Kielmansegg, S. 27 f., berichteten Gespräch. 128 Im Original folgt zwei Zeilen danach der von Hoßbach ausgelassene Satz: „Mir fehlt aber jede Kenntnis der Dinge", der sich auf ein von Fritsch vermutetes Zusammenspiel zwischen 124

sich

„...

Reichenau und Himmler 129

Eigentümlich

dung Schleichers

ist

am

...

30. 6. 34 und beim Dollfußmord bezieht.

auch, daß Fritsch in seiner Aufzeichnung mit keinem Wort auf die

Ermor-

und Bredows eingeht, sich dagegen ausführlich mit der mutmaßlichen Rolle Reichenaus befaßt. 130 Hoßbach, S. 69 f. Fritsch erwähnt immerhin, daß er von Parteiseite später als der Mann bezeichnet worden sei, „der sich dem Machtstreben der SA entgegen warf". 131 J. A. Graf v. Kielmansegg, S. 27 f.

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

110

Material in dieser Frage zur Verfügung. Daß Fritsch ein Gegner der SA, ein Gegner vor allem einer zu weitgehenden, insbesondere jeder partnersdiaftlichen Zusammenarbeit mit den braunen Sturmabteilungen war, ist hinreichend belegt132. Er war es vor allem aus militärischen, militärpolitischen und innenpolitischen Überlegungen heraus133. Auch Beck teilte jetzt diese Ansicht. Bei beiden Männern stand dahinter die Überzeugung, daß das Heer als Machtinstrument was auch im Sinne eines innenpolitischen Faktors gemeint war unbedingt bewahrt werden müsse; und daß eine wie auch immer geartete Verbindung mit der SA die Grundlage dieser Machtposition gefährden würde. Beck hat in einer Aufzeichnung vom Mai 1934 das SA-Problem sogar ausdrücklich als eine „Machtfrage" bezeichnet134; und für Fritsch reduzierte sich das ganze. Problem auf die kurze Formel: die SA soll an die Stelle des Heeres treten, und das muß verhindert werden. Da er Chef der Heeresleitung in dem Moment wurde, als Blomberg und Reichenau auf den Konflikt mit der SA hinarbeiteten, ist es nur zu verständlich, daß er diesen Kurs nicht allein bejahte, sondern sogar seinerseits zu fördern trachtete, zumal er längere Zeit Blomberg und Reichenau einen bewußten Ausverkauf der Armee zugunsten der SA unterstellt hatte und deren jetziges Umschwenken noch mit leichtem Argwohn135 beobachtete. Er hat daher sofort nach seinem Dienstantritt am 3. Februar vor den Befehlshabern die neue Linie der SA-Politik des Ministeriums nicht nur nachdrücklich vertreten136, sondern mit der Weisung, von der Truppe Material gegen die SA sammeln zu lassen, sie sogleich entschlossen in die Tat umzusetzen begonnen137. Befehlshaber und Kommandeure belehrten daraufhin alsbald ihre Offizierkorps im Sinne der Heeresleitung, daß SA-Geist im Heere nichts zu suchen habe, daß revolutionäres Gehabe dem Geist der Armee widerspreche138. Auf der Linie argwöhnischer Wachsamkeit und bemühten Aufspürens von Verstößen der SA eine Linie, die sich in nichts von jener der Reidiswehrführung unterschied lag es auch, daß Fritsch alle Wehrkreise um ausführliche Nadi-

Inzwischen steht

neues

-

-

-

-

Vgl. dazu seine eigenen Ausführungen bei Hoßbach, S. 69, sowie Sauer, S. 940 f. Ygl. Hoßbach, S. 69 (Aufzeichnung Fritschs): „...die Folgen... die in einem völligen Zerstören aller militärischen, moralischen und sittlichen Grundlagen der Armee bestanden hätten." Vor allem aber sah Fritsch die Gefahr, daß das innerpolitische Gewicht der Armee durch die SA beeinträchtigt worden wäre. 134 Vgl. Becks Memorandum vom 20.5.34, Auszüge bei Foerster, S. 32 ff.: „Innenpolitisch betrachtet ist es nicht richtig, daß ein so schnell aufgestelltes Heer [Beck wendet sich gegen Erweiterungspläne der AHA] als Machtinstrument des Staates mehr Wert besitzt wie ein in solider Arbeit aufgebautes, um ein Drittel oder die Hälfte geringeres... Ich stütze mich lieber auf zehn sichere als auf fünfzig unsichere Leute. Die Machtfrage mit der SA (und SS!) wird damit nicht gelöst." Vgl. auch Foerster, S. 25. 135 Vgl. seine Aufzeichnung bei Hoßbach, S. 69-70, wo er klagt, daß Reichenaus „Umtriebe" sein Verhältnis zu Blomberg „ständig getrübt" hätten; sowie Zs. Nr. 105, Bl. 9, wonach er 1934 gesagt 132

133

haben soll: „...wenn ich unmittelbar mit Hitler spreche, ist immer alles klar... Geht es aber über Blomberg, gibt es immer Reibungen und Mißverständnisse ." 136 Auf der Befehlshaber-Besprechung vom 3. 3. 34, vgl. Liebmann-Notizen, Bl. 76. 137 Ebd. 138 Vgl. MGFA/DZ WK IV/20: Offiziersbesprechung in Leipzig am 7.4.37 (11. IR Nr. 74/34 g. I a). ..

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

111

wie die SA die ihr am 28. Februar auferlegten Richtlinien für eine Zusammenarbeit mit der Reichswehr befolge, ob die örtlichen SA-Stellen von der SA-Führung über die Februar-Regelung überhaupt unterrichtet worden seien, ob Schwierigkeiten bei der Durchführung der Richtlinien gemacht würden und ob „Auffassungen vertreten werden, die diesen Vereinbarungen entgegenstehen"139. Die daraufhin bei der Heeresleitung einlaufenden Berichte zeichneten ein zwar unterschiedliches, aber keineswegs besonders beunruhigendes Bild. Aus dem Wehrkreis VII (München) wurde gemeldet140, daß „je nach Einstellung der SA-Führer... ein deutlicher Unterschied in der Durchführung der Zusammenarbeit zu erkennen sei, .", daß jedoch „der Wille zu offener Zusammenarbeit... bei einem großen Teil vorhanden" sei. Berichte aus den anderen Wehrkreisen waren ebenfalls uneinheitlich141, zeigten jedoch, daß eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der SA kaum mehr möglich war. Meldungen, die aus anderen Quellen als auf dem regulären Dienstwege kamen, scheinen jedoch eindeutig negativ gewesen zu sein142; dabei ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß der Heeresleitung von sehr verschiedenen, interessierten Seiten auch absichtsvoll präparierte oder entsprechend ausgewählte Informationen zugespielt worden sind143. Jedenfalls warnte Fritsch Anfang Mai die Befehlshaber während einer Tagung der höheren Reichswehroffiziere in Bad Nauheim vor der Gefahr möglicher SA-Aktionen, gab die Anweisung, sich nichts von der SA bieten zu lassen, wenn nötig, energisch einzuschreiten, und befahl, weiterhin aufmerksam die SA zu beobachten144. Gesteigertes Mißtrauen, erhöhte Wachsamkeit und die Annahme eines eventuellen Gewaltaktes seitens der SA bestimmten die Haltung der Heeresleitung, die alles tat, um die nachgeordneten Stellen entsprechend zu beeinflussen. Seit Anfang Juni spitzte sich die Lage immer stärker zu145. Röhm schickte nach einer letzten ergebnislosen Besprechung mit Hitler seine SA in Urlaub, nicht ohne allerdings in einem Aufruf drohend kundzutun, die Feinde der SA sollten sich nicht in falschen Hoffnungen wiegen, sie würden noch „die gebührende Antwort erhalten. Die SA ist und bleibt

forschungen darüber ersuchte,

..

..

.

MGFA/DZ WK VII/1295: vgl. Dok.-Anh. Nr. 8. MGFA/DZ WK VII/1295: Artl. Fü. VII Nr. 548/34 g.Kdos. Ia vom 26.4.34. Weitere Berichte noch in WK VII/1295 und WK XIII/696. Vgl. auch Dok.-Anh. Nr. 11. 141 Vgl. Zs. Nr. 44, Bl. 22: keine momentane Putschgefahr in Schlesien, aber Zusammenarbeit mit SA-Führung unmöglich, Sabotage der SA an der Grenzschutzarbeit (Anfang Mai 1934). 142 Foertsch, S. 48 f., und Röhricht, S. 57 ff. 148 Nach Schulze-Wilde, S. 377, soll Heydrich gefälschte Unterlagen weitergegeben haben. Vgl. auch Gisevius, S. 192; Oster und Gisevius lancierten ebenfalls Material gegen die SA. 144 Liebmann-Notizen, Bl. 83; allerdings wollte die Heeresleitung auch jegliche Provokation seitens der Truppe vermieden wissen. Das wird der Sinn sein, warum Fritsch am 22. 5. durch einen Erlaß nochmals die sorgfältige Beachtung des Gruß-Verhältnisses zwischen Angehörigen des Heeres und Vertretern der Partei bzw. der nationalsozialistischen Verbände einschärfte. MGFA/ DZ WK VII/2306 (Chef der Heeresleitung Nr. 418/34. I Ia geh.). Als einen Versuch „to minimize the friction between the Army and the SA" (so O'Neill, S. 45) darf man diesen Erlaß nicht auffassen. 145 Vgl. Röhricht, S. 57 ff. 189

149

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

112

das Schicksal Deutschlands146." Als Antwort steigerte sich der propagandistische Nervenkrieg von seiten der Partei gegenüber SA und „Reaktion"147. Daß die Angriffe sowohl gegen Röhm als auch gegen die oppositionellen Rechtskräfte gingen, kann als Zeichen für Hitlers Absicht gelten, mit der SA-Frage zugleich die angesichts der allgemeinen Krisensituation gefährliche konservative Opposition zu zerschlagen. Ein für Hitler alarmierender Vorfall war die Marburger Rede Papens vom 17. Juni 1934. Sie wirkte in der damaligen gespannten Lage sensationell. In dieser von Edgar Jung verfaßten Rede übte Papen scharfe Kritik an den negativen Seiten des Regimes, verlangte eine Säuberung der Partei, die Wiederherstellung geordneter rechtsstaatlicher Zustände und allgemein ein besseres Regime. Der letzte Gedanke mag vielleicht ein Hinweis auf die erhoffte monarchische Restauration gewesen sein. Die Rede Papens hatte lediglich zur Folge, das Vorgehen Hitlers zu beschleunigen. Dazu trug wohl auch bei, daß Hitler bei seinem Besuch in Neudeck am 21. Juni den Reichspräsidenten in einem zu allen Befürchtungen Anlaß gebenden Zustand antraf. SS, SD und Polizei wurden jetzt alarmiert. Ab Anfang Juni wurde eine verschärfte Überwachung der SA befohlen. Bayerische SS- und SD-Einheiten trafen Einsatzvorbereitungen. Am 24./25. Juni fand in Berlin bei Heydrich und Himmler eine Besprechung der höchsten SS- und SD-Führer statt, denen mitgeteilt wurde, zur Niederwerfung eines bevorstehenden SA-Putsches würde die SS eingesetzt. Es erging der Auftrag, die SA nodi stärker zu überwachen sowie mit den Reichswehrstellen zwecks technischer Hilfe Kontakt aufzunehmen. Listen von „gefährlichen Personen" wurden aufgestellt. Zugleich wurde den SS- und SD-Führern für die Auslösung der Aktion ein entsprechendes Stichwort mitgeteilt. Im Reichswehrministerium herrschte ab Anfang Juni ebenfalls eine ständig wachsende Spannung148. Die aus den verschiedensten Quellen einlaufenden Nachrichten über die Zit. nach Bennecke II, S. 43-44. Hierzu und zum folgenden Sauer, S. 942 ff., Krausnick, Vorgeschichte, S. 227 f., und ders., Der 30. Juni, S. 322. 148 Foertsch, S. 49 ff. Bei den Wehrkreiskommandos häuften sich die Meldungen über Zwischenfälle zwischen SA und Reichswehr-Angehörigen. Insbesondere aber wurden bei den Wehrkreiskommandos wie auch bei der Heeresleitung Meldungen über die Ansichten und die Stimmung der SA-Führung aufmerksam verfolgt (MGFA/DZ WK VII/1295). Dadurch wuchs auf oberer und mittlerer Kommando-Ebene die Besorgnis über die Ambitionen der SA-Führung. So erfuhr der Artillerie-Führer VII zum Beispiel, daß ein dem Stabschef der SA eng befreundeter SA-Sturmbannführer im April oder Mai 1934 geäußert habe, Röhm würde demnächst Reichs Verteidigungsminister, und man würde ja bald sehen, wer stärker sei, Röhm oder die Reichswehr. Überhaupt werde alles bald mit der Reichswehr ganz anders (MGFA/DZ WK VII/1295: Meldeamt MünchenStadt Nr. 130 g.Kdos vom 28. 8. 34 an Artillerieführer VII). Ebenfalls hat wie das Wehrkreiskommando VII erfuhr der Führer der SA-Gruppe Hochland die „Reichswehrfreundlichkeit" 146

147

-

eines ihm unterstellten SA-Führers, der Reserveoffizier war, gerügt und erklärt, kein Soldat grüße die SA mehr; überhaupt sei die Reichswehr noch genauso wie früher „absolut eingebildet und von ihrer Notwendigkeit überzeugt. Mit diesen Leuten kann man nicht zusammenarbeiten." Gleichzeitig übte er heftige Kritik an der seiner Ansicht nach unzulänglichen Durchführung der Arierparagraphen in der Reichswehr (MGFA/DZ WK VII 1295, Artl.Führer VII/Ia Nr. 742/34 geh. vom 14. 7. 34 an Wehrkreis-Kommando VII). Der betreffende Vorfall fand am 23. 5. 34 statt. -

..

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

113

Stimmung der SA, über Röhms Drohungen, aber, wie es scheint, auch aufgebauschte Gerüchte149 trugen zur Steigerung der Unruhe bei und verstärkten den Eindruck einer unmittelbaren Gefahr. Ob Reichenau, jetzt beständig mit Himmler und Heydrich150 in Verbindung, innerhalb der Reichswehr die Spannungen seinerseits noch künstlich gesteigert hat, ist nicht zu beweisen, manches deutet allerdings darauf hin. Erwiesen ist jedoch, daß aus Kreisen der Abwehr151 und aus der Umgebung Papens die Spannungen eifrig geschürt wurden152. Ebenfalls gibt es Indizien, daß von seilen Görings sowie von SS und SD Provokationen inszeniert worden sind, die die SA kompromittieren sollten153. Es wirkten fraglos verschiedene Seiten aus unterschiedlichen Motiven an der psychologischen Manipulation der Lage mit. Da auch die SA ihre Nachrichtenquellen besaß und daher wohl einiges über die Vorsichtsmaßnahmen der Reichswehr erfuhr154, steigerte sich das gegenseitige Mißtrauen, die Nervosität und die Spannung immer mehr. Was Reichenau angeht,

ist die Annahme, er habe diese Lage bewußt entstehen lassen und absichtlich dazu beigetragen, um dem Offizierkorps die Hinnahme der terroristischen Form der Aktion Hitlers zu erleichtern155, zu konstruiert, um wahrscheinlich zu sein, zumal sie durch keine Quellen zu belegen ist. Vielmehr deuten gewisse Indizien darauf hin, daß ihm an einer Steigerung der Spannungen lag, um Hitler schneller und energischer zum Handeln zu bewegen; denn er mag immer noch die Möglichkeit eines Arrangements zwischen Hitler und dessen einstigem Freund Röhm nicht gänzlich ausgeschlossen haben. Auf dem Höhepunkt der Spannung setzte er Hitler daher mit einer Mischung von Drohung und Verlockung unter massiven Druck. Einmal veröffentlichte Blomberg einen aufsehenerregenden Artikel im „Völkischen Beobachter" der erste Aufsatz im Organ der NSDAP seit seiner Ernennung als Minister. Er war wie der Referent, der das Manuskript damals entworfen hat, betont „eine eindeutige Festlegung der Reichswehr auf den Staat, wie er jetzt war, unter Ablehnung allen halbmilitärischen Landsknechttums". Zum anderen ließ so

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Für Vorfälle aus anderen Wehrkreisen vgl. MGFA/DZ H 24/6 WK IV/20, WK 1/2. Aus MGFA/ DZ WK VII/1652 geht mehrfach hervor, daß die Wehrkreise und deren nachgeordnete Dienststellen V-Männer bei der SA besaßen. Hierzu ausführlicher K.-J. Müller, Reichswehr und „Röhm-

Affäre". 149

Beispiele bei Schulze-Wilde, 377 f. Vgl. auch Bennecke II, S. 49 f., 59 f., 62. Wahrscheinlich wurden sogar fingierte Befehle der SA-Führung lanciert. 150 Dazu Mau, S. 133 (nach Aussagen von Himmlers Adjutanten und Kabinettschef SS-Obergruppenführer Wolff).

151

152

Zs. Nr. 44, Bl. 23, sowie Sauer, S. 951 f. Siehe oben S. 103 dieses Kapitels.

Höchstwahrscheinlich waren jene angeblichen SA-Führer, die sich plötzlich treuherzig zur Einarbeitung zwecks Übernahme militärischer Dienststellungen bei Reichswehr-Kommandobehörden meldeten (Bor, S. 104) oder die um Abgabe größerer Waffenmengen ersuchten (MGFA/DZ 153

VII/1652; Schreiben Standort-Ältester Augsburg vom 30. 6. 34 an Wehrkreiskommando VII), irgendeiner Seite ausgesandte Provokateure. 154 Foertsch, S. 53 f., druckt den Brief eines aktiven Hauptmanns, der gleichzeitig SA-Führer war, an Röhm vom 12. 6. 34 ab. Blomberg hat nach Foertsch, S. 58, am 5. 7. erklärt, daß drei Offiziere als Zwischenträger zur SA bekannt geworden und gemaßregelt seien. 155 Vgl. Sauer, S. 959. WK von

8

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

114

jetzt aus den Erinnerungen eines seiner Mitarbeiter des späteren Generals Röhricht hervorgeht, den Reichskanzler „wissen, daß jeder Zugriff der revolutionären SA auf die Truppe und ihre Einrichtungen auf entschlossene Abwehr mit der Waffe stoßen werde"156. Damit so bemerkt Röhricht sehr richtig „lag das Gewicht der Reichswehr erstmals wieder in der Waagschale der Entscheidung"157. Hitler mußte jetzt Reichenau,

wie

-

-

-

-

wissen, daß die Reichswehr entschlossen war, ihre Interessen notfalls mit Gewalt zu wahren. Wie sehr ihn die kaum verhüllte Drohung Reichenaus beeindruckt hat, geht daraus hervor, daß er am 30. Juni sogleich nach seinem Eintreffen in München dem Wehrkreisbefehlshaber sagen ließ, was sich „demnächst hier abspiele, ist Sache der Partei", und daß er sich eindringlich danach erkundigte, ob die Truppe auch den Befehl hätte, in den Unter-

künften zu bleiben. Diese habe „mit der ganzen Sache nichts zu tun"158. Nach all dem ist es sehr wahrscheinlich, daß Reichenau Hitlers Entschluß, präventiv vorzugehen, nicht nur gebilligt, sondern sogar beeinflußt hat. Ob er dabei „die Entscheidung über mögliche Präventivmaßnahmen ganz in die Hand des Kanzlers und Parteiführers legte, ohne dessen Absichten in Einzelheiten zu kennen"150, mag dahingestellt bleiben. Angesichts seiner intensiven Zusammenarbeit mit Himmler und Heydrich bei den Vorbereitungen der Aktionen des 30. Juni liegt die Vermutung nahe, daß er auch auf die Durchführung der Aktion Einfluß zu nehmen versucht hat160; in welchem Sinne und mit welchem Ergebnis wird man allerdings nicht mehr feststellen können. Welche Rolle spielte die Heeresleitung in der Phase der krisenhaften Zuspitzung des Geschehens? Nichts deutet darauf hin, daß es eine bewußt auslösende gewesen ist. Nichts deutet darauf hin, daß Fritsch von der geplanten terroristischen Durchführung irgendwie orientiert worden war oder auch nur entsprechende Vermutungen gehegt haben konnte161. Klar ist jedoch, daß er sich bereit fand, von seiten des Heeres der SS technische Hilfestellung zu geben, damit also mindestens über deren geplanten Einsatz bei der Auseinandersetzung Bescheid gewußt hat182. 156

Röhricht, S. 59-60.

157

Ebd.

y. Müller, S. 356. Auch der bayerische Innenminister Wagner, der die Aktion gegen die SA in München leitete, fragte den sich bei ihm meldenden Major i. G. Müller vom Wehrkreiskommando VII „zu allererst, ob der Befehl schon weitergegeben worden sei, die Reichswehr in ihren Kasernen zurückzuhalten". Vgl. auch K.-J. Müller, Reichswehr und „Röhm-Affäre", Dokument 7, Abschnitt III. 159 So Foertsch, S. 54. 158

189

Ebd.

Spätestens ab 29. 6. als Fritsch und Beck vom Reichswehr-Kommandeur in Schlesien auf Indizien hingewiesen wurden, daß Reichswehr und SA gegenseitig aufgehetzt würden, und als Reichenau daraufhin mit einer eigentümlich „wissenden" Bemerkung reagierte, mußte die Heeresleitung doch Argwohn schöpfen. Foerster, S. 25, jedoch berichtet, daß Beck wie Fritsch von den Ereignissen des 30. 6. „völlig überrascht" worden seien (siehe unten S. 116 dieses Kapitels). 162 Nach Krausnick, Der 30. Juni, S. 322, sollen am 27./28. 6. der Kommandeur der „SS-Leibstandarte", Sepp Dietrich, und der Leiter der Organisations-Abteilung der Heeresleitung in der Bendlerstraße verhandelt haben. 161

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

115

Es häuften sich im Juni die besorgniserregenden Meldungen163, über deren mindestens teilweise problematische Herkunft die Heeresleitung nichts argwöhnte. Sie paßten zudem auch in das allgemeine Bild. Es mehrten sich Meldungen über Zwischenfälle mit der SA und über deren zunehmend reichswehrfeindliche Einstellung. Der Chef der Heeresleitung ordnete daraufhin ab 23. Juni umfangreiche Sieherungs- und Vorbeugemaßnahmen an164. Am 23. Juni wurde die Überprüfung der Anweisungen für die Alarmbereitschaft und erhöhte Bereitschaft angeordnet165. Im Wehrkreis VII wurden Truppen zur Sicherung der schweren Funkstellen im Wehrkreis bereitgestellt. Etwa am nächsten Tag gab Fritsch dem Reichswehr-Kommandeur in Schlesien die Warnung, daß möglicherweise ein Angriff der SA auf die Truppe bevorstehe; er wies ihn an, sie unauffällig in Bereitschaft zu versetzen166. Kurz vor dem 26. Juni erließ er nochmals den Befehl, daß alle Zusammenstöße mit der SA gemeldet werden müßten, auch wenn sie örtlich erledigt werden konnten167. Zwei Tage später befahl die Heeresleitung, in den Kasernen Alarmmunition bereitzuhalten sowie die Alarmbestimmungen und die Anordnungen für die Bewachung der Kasernen und Munitionsbestände zu überprüfen168. Am selben Tage erging die Anweisung, daß ab sofort in jeder Kaserne ständig mindestens ein Offizier anwesend sein müsse, bei den Wehrgauleitungen seien Offiziere vom Dienst einzuteilen. Alle diese Maßnahmen sollten möglichst unauffällig getroffen werden169. Die Offiziere in der Bendler-

Vgl. dazu Sauer,

S. 957 ff.; Foertsch, S. 54; Keitel, S.68E, sowie MGFA/DZ WK VII/1295; 1/2; H 24/6; WK VII/1320; VII/1652. Andererseits gab es auch Meldungen über ein gutes bis befriedigendes Verhältnis zur SA (vgl. Foertsch, S. 41, und WK VII/1320). 184 O'Neill, S. 46, meint, daß erst nach dem (wohl in provokatorischer Absicht) am 27. 6. erfolgten Besuch des SS-Gruppenführers Daluege (vgl. Sauer, S. 958) in der Bendlerstraße, bei dem 183

WK

dieser von einem unmittelbar bevorstehenden SA-Putsch berichtete, zahlreiche Sicherungsmaßnahmen angeordnet worden seien. Ein solcher Kausalzusammenhang ist reine Annahme. Die Lage erschien im Reichswehr-Ministerium schon vorher so gespannt, daß bereits vor dem 27. 6. zahlreiche Maßnahmen wie im folgenden gezeigt angeordnet wurden. Dalueges Eröffnungen mögen, neben anderen Meldungen (vgl. vorstehende Anm. sowie Fritschs Warnung bereits Anfang Mai in Bad Nauheim) zur Intensivierung der Vorbereitungen beigetragen haben. 165 MGFA/DZ WK VII/1652, Artl.Führer VII, Ia Nr. 145/34 g.Kdos. R. vom 23. 6. 34 unter Bezug auf entsprechende vorbereitende Anordnungen des Wehrkreiskommandos VII vom 3. 4. 34, die wiederum auf eine Anweisung des Reichswehrministers, TA Nr. 4102/34 K. T 2 III B vom g. 8. 3. 34 zurückgeht. Hierzu und zum folgenden vgl. K.-J. Müller, Reichswehr und ,Röhm-Affäre'. 166 Vgl. Affidavit Generalfeldmarschall v. Kleist, abgedruckt bei Bennecke II, S. 85 (Anlage 4). Ähnliche Warnungen werden auch an andere Wehrkreise gegangen sein, denn gemäß MGFA/DZ WK VII/1652 hat Artl.Führer VII mit Ia Nr. 145/34 g.Kdos. am 23. 6. 34 Zusätze zur Bereitschaftsordnung herausgegeben, die dann am 30.6. 34 nochmals ergänzt und in Kraft gesetzt -

-

wurden. 167 MGFA/DZ WK VII/1320 (Besprechung beim Wehrkreiskommando VII am 26. 6. 34). Bei dieser Besprechung wurde ebenfalls die Anordnung des Reichswehrministeriums bekanntgegeben, nach der ab sofort jegliche Werbung von Freiwilligen innerhalb der SA zu unterbleiben habe. 168 Über weitere Maßnahmen der Heeresleitung vgl. K.-J. Müller, Reichswehr und „Röhm-Affäre", Dokumente 2 und 7. 169 MGFA/DZ WK VII/1652 Wehrkreiskommando VII, Ia Nr. 3148/34 g.Kdos vom 28. 6. 34, beginnend mit den Worten: „Chef Heeresleitung befiehlt."

116

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

Straße erhielten bereits am Tage zuvor die Weisung, Schußwaffen in Bereitschaft zu halten170. Etwa um den 28. Juni herum wurden die Abteilungsleiter der Heeresleitung über die Lage unterrichtet und erhielten Weisungen für die weitere Behandlung der Krise171. Für die Beurteilung des Verhaltens der Heeresleitung ist diese Orientierung aufschlußreich; aus ihr ist zu entnehmen : a) Die Heeresleitung rechnete nicht unbedingt172 mit einem SA-Putsch, schloß jedoch die Möglichkeit nicht aus173. Über die grundsätzliche Feindseligkeit zwischen Armee und SA ist kein Zweifel174. b) Die Kommandeure sollten über die Hintergründe der Lage bis zu einem gewissen Grade im unklaren gelassen175, jedoch für alle Fälle zur Alarmbereitschaft veranlaßt werden. c) Die SS wurde als Gehilfe herausgestellt, war dementsprechend zu behandeln und auszustatten, jedoch nur für diesen Fall176. d) Die Heeresleitung selbst traf umfassende Vorkehrungen (Alarmierung, Waffen- und Munitionsbereitstellung, Massierung von Infanterie und Artillerie auf günstig gelegenen Übungsplätzen177 sowie Bereitstellung von Transportraum178 für ein verstärktes 170

MGFA/DZ H 24/6 Anordnung des „Kommandanten des Bendlerblocks",

Tag vom Chef der Heeresleitung an die Abteilungen und gegeben. Jodl sagte im Nürnberger Prozeß (IMT XV, S. 336), selben

28. 6. 34,

vom

am

Ämter der Heeresleitung weiterman sei damals im Ministerium

an die Zähne bewaffnet gewesen". Notizen des Abteilungsleiters im AHA, Heinrici, aus dieser Besprechung abgedruckt bei Foertsch, S. 51. Sie geben, da Heinrici im AHA, einem Amt der Heeresleitung, war, wohl Ausführungen des Chefs der Heeresleitung wieder. Da sie die unter obiger Anm. 169 erwähnten Anordnungen auch enthalten, wird die Besprechung wohl am oder kurz nach dem 28. 6. stattgefunden haben. 172 Vgl. ebd.: „Kanzler: jeder traut anderem ersten Schlag [zu]." Aber dann folgen die Sätze: „In SA nicht genügend Entschlußkraft." Daher: „Aggressive Maßnahmen vermeiden... Keine kleinlichen Maßnahmen. Kurse pp. [des Heeres zur Ausbildung von SA-Männern] laufen weiter." Vgl. auch die entsprechende Verlautbarung des Reichswehrministers für die Wehrkreise bei K.-J. Müller, Reichswehr und „Röhm-Affäre", Dokument 7, Abschnitt I. 173 Ebd.: „Nachrichten über SA-Putsch nicht ausgeschlossen Möglichkeit für Aktion nicht von der Hand zu weisen, sofort oder im Herbst." Da einen Tag zuvor Daluege vor einem unmittelbar bevorstehenden SA-Putsch gewarnt hatte, scheint diese seine Enthüllung mit einer gewissen Skepsis aufgenommen worden zu sein. 174 Ebd.: „SA will Heer bilden!" 175 Ebd.: „Kommandeure unterrichten, jedoch nur sagen, daß Gerüchte bestehen, [daß] SA oder Kommunisten (!) losschlagen könnten Aufstand Kommunisten. Dies Deckname." SA: 176 Ebd.: „An SS Waffen abgeben, wenn sie diese will. Später muß sie sie wieder hergeben." Sowie MGFA/DZ WK VII/1652, handschriftliche Aufzeichnung eines Befehls des Wehrkreiskommandos VII an alle Standortältesten des Wehrkreises vom 30. 6. 34 16.55 Uhr: keine übertriebene Bewaffnung der SA." 177 Ebd.: Das Infanterieregiment 5 bleibt unter einem Vorwand auf dem Truppenübungsplatz Döberitz. Eine Kompanie des Wachregiments wird zur Sicherung des Reichswehrministeriums abgestellt. Nach Halder, Spruchkammer-Aussage vom 15.9.48 (BA/MA H 92-1/3, fol. 26) habe Fritsch auf die von Halder, damals Chef des Stabes beim Wehrkreiskommando VI in Münster,

„bis 171

...

...

...

...

„.

-

.

.

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

117

Regiment in jedem Wehrkreis); man rechnete in der Bendlerstraße offensichtlich auch

mit der Eventualität, daß die Armee selbst eingreifen müsse179. e) Dem entsprach weiter die Anweisung, daß zwar „keine kleinlichen Maßnahmen" gegenüber der SA ergriffen werden sollten, daß jedoch, „falls es zum Zusammenstoß kommt", das Heer „kein Defensivverhalten" an den Tag legen sollte180. Demnach sind alle Maßnahmen nach Umfang und Intention bereits als etwas an der Grenze des Defensiv-Verhaltens befindlich zu betrachten181. Vor allem widersprechen sie in keiner Weise den Absichten Reichenaus, sie laufen vielmehr mit diesen konform. Die gefährlichen Rivalen innerhalb der SA wollte man notfalls mit dem Einsatz der eigenen Macht ausschalten, die SA als Sammelbecken „militärisch wertvoller" Kräfte gedachte man, wenn irgend möglich, späterhin nicht unberücksichtigt zu lassen. Die Aktivität von Heeresleitung und Wehrmachtamt war in der Endphase vor dem Beginn der Aktionen des 30. Juni diesbezüglich gewiß gleichlaufend. Das zeigt die Reaktion Fritschs, als der Reichswehr-Kommandeur von Schlesien ihn am 29. Juni auf die Indizien hinwies, welche die Annahme nahelegten, daß Reichswehr und SA von interessierter Seite aufeinandergehetzt würden. Er ließ Reichenau dies wissen und gab sich mit dessen Bemerkung, das könne wohl angehen, aber nun sei es zu spät, zufrieden182; das zeigt, daß er bereit war, das Risiko eines Zusammenstoßes mit der SA hinzunehmen. So ließ er am nächsten Tag weitere Maßnahmen anlaufen183; vor allem aber erwiderte er am 30. Juni auf die An-

-

ihm überbrachten alarmierenden Meldungen u. a. bemerkt, er habe schon „entsprechende Kräfte in Döberitz zu Gegenmaßnahmen bereitgestellt". (Hervorhebung vom Verf.) Laut MGFA/DZ WK VII/1652, Wehrkreiskommando VII, 35 m/Ia op, vom 29.6.34 verblieb die III. Abteilung des Artl.Rgt. 7 bis auf weiteres auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr. Ebenfalls wurden auf diesem Truppenübungsplatz das Infanterieregiment 21, das III. Bataillon des Infanterieregiments 20 und eine Minenwerferkompanie zurückgehalten. Das entsprach praktisch jenem „verstärkten Regiment", für das in jedem Wehrkreis Transportmaterial bereitgestellt werden sollte. Ebd. WK VII/1652, Wehrkreiskommando VII, 35 m/Ia op, vom 30. 6. 34. 178

Ebd.

Vgl. Foertsch, S. 51: „Wo Bewachung [der Waffen und Munition in Reichswehrkasernen und -depots] nicht ausreicht, notfalls SS heranziehen. (Truppe als solche sollte schlagbereit gehalten und nicht in Bewachungsaufgaben zersplittert werden.) SS und Polizei sollen an uns herantreten (wenn sie der Lage nicht selbst Herr werden).' (Hervorhebungen vom Verf.) 179

...

189

181

Ebd.

Das entspricht ganz den früheren Weisungen des Chefs der Heeresleitung von Anfang Mai in Bad Nauheim: sich nichts gefallen lassen, aber auch keinen „Holzkomment" einreißen lassen. Er werde aber jeden Reichswehrangehörigen decken, der bei Abwehr etwa über das notwendige Maß hinausschießt. Das deutet praktisch auf die Duldung, wenn nicht sogar verklausulierte Absicht zu „offensiver Defensive" hin. 182 Diese Szene im Affidavit des Generalfeldmarschalls v. Kleist, abgedruckt bei Bennecke II, S. 85. Vgl. zur Interpretation dieser Szene Mau, S. 131; Krausnick, Der 30. Juni, S. 322; Bennecke II, S. 52. Es ist auch nicht bekannt, daß der Chef der Heeresleitung anschließend irgendwie den Hintergründen nachforschte. 183 O'Neills Ansicht (S. 48), nach dem Besuch Kleists seien praktisch keinerlei Maßnahmen mehr von der Heeresleitung getroffen worden, ist unzutreffend. Einerseits wurden am 29. wie am 30. 6. noch eine ganze Reihe von Maßnahmen angeordnet (vgl. oben unter Anm. 177); andererseits waren die wichtigsten Anordnungen schon vor dem 29. 6. ergangen.

118

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

frage des Befehlshabers im Wehrkreis VII, General Adam, „daß das, was Reichenau angeordnet habe, ganz in Ordnung sei"184. Diese Aussage sowie weitere Anzeichen185 beweidaß Fritsch sich mit Reichenau über die Modalitäten und Grenzen des Einsatzes der Reichswehr in der Röhm-Affäre einig war. Demnach und angesichts der befohlenen Maßsen,

nahmen ist die Annahme

berechtigt,

daß Fritsch eine

von

Hitler

beabsichtigte,

von

Reichenau mitinszenierte, von SS und Polizei mit Rückendeckung durch die Reichswehr durchgeführte Aktion billigte186 und zu unterstützen bereit war187. Von einer völligen Ahnungslosigkeit des Chefs der Heeresleitung über die Absicht zu einer Präventivaktion kann also wohl kaum die Rede sein188. Allerdings gibt es keinen Beweis dafür, daß der Chef der Heeresleitung über Art und Ausmaß der Durchführung irgendwie orientiert war. Alles spricht dagegen. Er wird, wie Blomberg und vielleicht sogar Reichenau, die Modalitäten der Durchführung vertrauensvoll Hitler überlassen haben. Das brachte ihn bald darauf in eine peinliche Lage. Die Ereignisse des 30. Juni und der nächsten Tage sind im großen und ganzen bekannt189; sie brauchen nicht mehr geschildert zu werden. Röhm, das kann mit Sicherheit gesagt werden, hat für den 30. Juni keinesfalls einen Putsch beabsichtigt100. Es ist sogar kaum anzunehmen, daß er für spätere Zeit einen So V.Müller, S. 354; es ist kein Quellenhinweis darüber bekannt, daß Fritsch etwa gegen die Heranziehung des Heeres zur Unterstützung der SS protestiert habe! 185 MGFA/DZ WK VII/1652, handschriftl. Aufzeichnungen des Wehrkreiskommandos München: „30.6.34 ...12.30 Uhr: ...Der Chef der Heeresleitung befiehlt: Truppe alarmiert in den Kasernen, Urlauber nicht zurückrufen, keine neuen Beurlaubungen." Sowie ebd.: „1.7.34. Der Chef der Heeresleitung teilt mit: Entwaffnungsaktion auf Befehl des Führers durch Polizei und SS bei der SA angeordnet." 186 Ygl. Foerster, S. 25, über Fritsch und Beck: „Beide... sahen darin zunächst mit Genugtuung einen durch Hitlers Initiative herbeigeführten Sieg der Wehrmacht über die SA-Führung." (Hervorhebung vom Verf.) 187 Die Ansicht Hoßbachs (S. 56), die Heeresleitung sei „an der Durchführung dieses Tages... völlig unbeteiligt gewesen", muß entsprechend dem Ausgeführten und den bei K.-J. Müller, Reichswehr und „Röhm-Affäre" abgedruckten Dokumenten modifiziert werden. 188 Admiral Otto Groos berichtet in seinen unveröffentlichten Aufzeichnungen (MGFA/DZ „Als Seeoffizier in Krieg und Frieden", Bd III, S. 17), daß der Chef der Marineleitung ihm Mitte Juni 1934 starke Bedenken gegen die Durchführung einer für Ende Juni geplanten Admiralstabsreise, an der zahlreiche höhere Offiziere teilnehmen sollten, geäußert habe, „ohne jedoch 184

...

...

...

Gründe zu nennen". Als Groos dann von dieser Reise zurückkehrend in Wilhelmshaven einlief, erhielt er von seinem Stellvertreter die Nachricht „von dem unmittelbar bevorstehenden Aufstand". (Hervorhebung vom Verf.) Raeder, der inzwischen zu dem am 30. 6. stattfindenden Stapellauf der „Graf Spee" in Wilhelmshaven eingetroffen war, „gab mir" so berichtet Groos „weitere Auskünfte über die Lage". Das deutet darauf hin, daß der Chef der Marineleitung in gewisser, wohl allgemeiner Weise über Lage und Vorhaben orientiert war. Trifft dies für Admiral Raeder zu, dann wird es für den Chef der Heeresleitung, dessen Befehlsbereich viel stärker als die Marine einbezogen war in die Vorbereitungen, auch zutreffen. 189 Vgl. hierzu Krausnick, Der 30. Juni, S. 323; Sauer, S. 960 ff.; Mau, S. 132 ff., und (teilweise auf eigenem Erleben beruhend) Bennecke II, S. 59 ff. im Tjer Präventivcharakter der Aktion gegen Röhm ist seit Maus, Krausnicks und Sauers Arbeiten als erwiesen anzusehen. -

-

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

119

gewaltsamen Umsturz ins Auge gefaßt hatte191, wenngleich bei dem unleugbar zur Lösung überreifen SA-Problem durchaus die Möglichkeit einer explosionsartigen Auseinandersetzung gegeben war. Kurz vor und am 30. Juni selbst zeigte die SA vom Blickpunkt der Reichswehrbehörden

ein sehr uneinheitliches Verhalten. Röhm war in Bad Wiessee zur Kur, der Führer der SA-Gruppe Berlin-Brandenburg war im Begriff, seine Hochzeitsreise zu beginnen, im Reich hatte der Stabschef die SA auf Urlaub geschickt, ihre Dienststellen waren daher meist nur schwach besetzt. Lediglich in München, Traunstein, Bad Tölz und Augsburg wurde die SA am Abend des 29. Juni plötzlich alarmiert192. In Traunstein brachen SA-Männer in ein Reichswehr-Meldeamt ein, mißhandelten und arretierten zwei L-Offiziere193. In München so erfuhr das Wehrkreis-Kommando habe ein hoher SA-Führer seinen Leuten mitgeteilt, die Lage sei für die SA sehr ernst; Partei, Reichswehr und Landespolizei seien gegen die SA194. Aus der Mehrzahl der Standorte wurde dagegen absolute Ruhe gemeldet195. In Kempten nahm die dortige SA sogar mit dem Gebirgsjäger-Bataillon der Garnison Verbindung auf und bot „für den Bedarfsfall" ihre Zusammenarbeit an196. Die SASportschule in Memmingen war am 29. Juli in Urlaub gefahren, und eine Münchener Standarte hatte für den 30. Juni ein Fest im Münchener Löwenbräukeller angesetzt. Insbesondere hatten nach der mysteriösen Alarmierung einiger Münchener SA-Einheiten die beiden für die bayerische SA verantwortlichen Führer197 noch in der Nacht den Gauleiter und Innenminister in München aufgesucht und ihm gegenüber Loyalitätserklärungen abgegeben. Dieser Befund läßt nur zwei Deutungen zu: entweder sind die Alarmierungen und Zwischenfälle bewußt und in provokatorischer Absicht von den Gegnern der SA, den Drahtziehern der Krise, inszeniert worden, um einen Anlaß zum Losschlagen zu haben198; oder völlig verwirrte örtliche SA-Stellen haben in ihrer Nervosität angesichts der wochenlangen Spannungen den Kopf verloren und entsprechend reagiert. Sehr wahrscheinlich treffen beide Deutungen zu. Da die territorialen Dienststellen der Reichswehr jedoch hinsichtlich zu erwartender Initiativen der SA vorgewarnt worden waren, mögen aus

-

191

Das ¡st die Ansicht

-

von

Sauer, S. 394.

Meldungen darüber an das Wehrkreiskommando VII in: MGFA/DZ WK VII/1652 (Funkspruchformulare und handschriftliche Aufzeichnungen des Offiziers vom Dienst über eingetroffene Telefonmeldungen). Außerdem vgl. dazu die in Anm. 189 oben erwähnte Literatur, insbesondere Bennecke II, S. 54. 193 MGFA/DZ WK VII/1652, Leiter des Freiwilligen-Meldeamtes Traunstein an Artillerieführer VII vom 30. 6. 34. 194 MGFA/DZ WK VII/1295 (Mitteilung eines V-Mannes der Reichswehr). Andererseits wurden auch unwahrscheinlichste Gerüchte gemeldet, so beispielsweise, daß die österreichische Regierung vom Bundesheer gestürzt worden sei. 195 Vgl. vor allem MGFA/DZ WK VII/1652. 198 Dies und das folgende in MGFA/DZ WK VII/1652. 197 Ebd. und Bennecke II, S. 54. 198 Diese Vermutung wird in der Literatur (vgl. Anm. 189 oben) häufig ausgesprochen. In diesem Zusammenhang scheint der bayerische Innenminister und Gauleiter Wagner eine noch nicht näher geklärte wichtige Rolle gespielt zu haben (vgl. dazu Bennecke II, S. 56 ff.). 192

120

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

sie bei der Beurteilung der einlaufenden Lagemeldungen einigermaßen prädisponiert gewesen sein. Gewiß bot das im ganzen uneinheitliche Lagebild keinen unmittelbaren Anlaß zu präventivem Eingreifen des Heeres. Immerhin aber genügten ungewöhnliche Vorfälle wie die erwähnten, um die sowieso tendenziös unterrichteten örtlichen Kommandeure innerlich geneigt zu machen, die alsbald vonstatten gehende terroristische Aktion gegen die SA-Führung für berechtigt und angemessen zu halten. Die konkrete Unterstützung, welche die Reichswehr der Polizei, Gestapo und SS bei der Durchführung der gegen die SA am 30. Juni gerichteten Maßnahmen gewährte, war in mehrfacher Hinsicht erheblich und weitgehend199. Während bis vor kurzem lediglich die Tatsache bekannt war, daß die Armee für die SS Waffen, Transportmittel, Verpflegung und Unterkünfte bereitgestellt hatte, erlauben nunmehr neue Quellen200 nähere Informationen über die Art der Zusammenarbeit von Reichswehr und SS und über das Ausmaß der technischen Hilfestellung vor allem im bayerischen Raum, neben Berlin der zweite Schwerpunkt der „Aktion". Es war nicht bloß eine Kompanie der SS-Leibstandarte, die mit Lkw einer Fahrabteilung der Reichswehr nach München und Bad Wiessee herantransportiert worden ist201; die Quellen202 sprechen vielmehr von 1500 Mann, die in vier verschiedenen Kasernen in München untergebracht worden sind sowie von einem Sturmbann der SS, der in Augsburg im Kasernement des II. Bataillons des 19. (bayer.) Infanterie-Regiments aufgenommen worden war203. Nicht nur kleine SS-Stoßtrupps oder Exekutionskommandos erhielten von der Reichswehr Waffen, sondern mehrere SS-Einheiten in München, Augsburg und Kempten wurden mit Gewehren, Handgranaten und Munition versorgt204, also auch Einheiten, die außerhalb des eigentlichen Aktionszentrums München-Bad Wiessee lagen. Offensichtlich haben örtliche Reichswehrstellen sogar recht großzügig die ursprüngliche Anweisung, der SS auf Anforderung Waffen zu geben, befolgt; denn alsbald mußte, wohl aus gegebenem Anlaß, verfügt werden, es dürfe „keine übertriebene Bewaffnung der SS" erfolgen205. 199 200

Vgl. dazu insbesondere Mau, S. 133. Vgl. hierzu K.-J. Müller, Reichswehr und „Röhm-Affäre".

Juni 1934, S. 321 f., sowie Hans Doerr, Bemerkungen zu dem Aufsatz: der bewaffneten Macht..." in: WWR 8 (1958), S.231: „Die SS hatte es nur der Reichswehr zu danken, daß sie überhaupt... in Wiessee erscheinen konnte." (Doerr war damals Generalstabsoffizier im Wehrkreiskommando VII.) 202 K.-J. Müller, Reichswehr und „Röhm-Affäre", Dokument 7, Abschnitt III. 293 Ebd. Vgl. auch eine Meldung des II./JR 19 (Augsburg) an das Wehrkreiskommando VII (Artillerie-Führer), Ia Nr. 326 vom 1. 8. 34, auf eine Anfrage mit Bitte um Stellungnahme zu dem in Memmingen umgehenden Gerücht, ein SS-Mann habe am 30. Juni vor der Kaserne des II./JR 19 Wache gestanden: „Vor der Kaserne stand am 30. 6. kein SS-Posten neben dem Posten vor Gewehr. Die Verwechslung ist wohl darauf zurückzuführen, daß am 30. 6. der SS-Sturmbann 11/29 in der Infanteriekaserne untergebracht war." (In der Originalmeldung steht irrtümlich zweimal 30. 7. Da der Bezugsvorgang indessen vom 13. bzw. 23. 7. stammt, ist der Datumsirrtum offensichtlich. MGFA/DZ WK VII/1652). Nach Mau, S. 133, ist SS auch in Reichswehrkasernen in Dresden und Breslau untergebracht worden. 204 K.-J. Müller, Reichswehr und „Röhm-Affäre", Dokument 7, Abschnitt III und IV. 205 Ebd. Abschnitt IV. 201

Krausnick,

Der 30.

„Gleichschaltung

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III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

121

Unterstützung der Reichswehr ging im Ansatz sogar noch über die bloß technische Hilfestellung, die Überlassung von Waffen, Munition und Transportraum sowie Unterkünften, hinaus. Das Wehrkreiskommando (bayer.) VII machte sich jedenfalls bereit, Die

einen Einsatz von Truppen unter Umständen ins Auge zu fassen. Es alarmierte zusätzlich zu der gemäß Anordnung des Reichswehrministeriums auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr zusammengezogenen mobilen Kampfgruppe noch zwei weitere Bataillone des 19. (bayer.) Infanterie-Regiments in München und Kempten/Lindau sowie das 7. (bayer.) Pionier-Bataillon nebst einer Minenwerfer-Kompanie und befahl, diese Verbände verwendungsbereit und durch Zuteilung von Transportraum mobil zu machen, da die Möglichkeit nicht auszuschließen sei, daß „die Ordnung auf der Strecke Schliersee-Bad Tölz-Tegernseee wiederhergestellt werden" müsse206. Das aber war genau die Gegend um Bad Wiessee, wo der Schlag Hitlers gegen Röhm und die um ihn versammelten höheren SA-Führer erfolgen sollte. Da die SS als „befreundete Seite" wie es in einer Orientierung für die Kommandeure hieß207 anzusehen war, konnten diese zusätzlichen Teilmobilmachungsmaßnahmen nur den Sinn haben, dort unter Umständen zugunsten der SS einzugreifen. Es kam allerdings nicht zum Einsatz dieser Verbände. Bestehen bleibt indessen, daß im Bereich des Wehrkreises VII Heeresverbände zum Eingreifen bereitgestellt worden sind208. Damit war der SS bei einer möglichen Ausweitung der Auseinandersetzung mit der zahlenmäßig erheblich überlegenen SA etwa wenn ein es Röhm gelungen wäre, die örtlichen SA-Standarten zur Gegenwehr aufzurufen massiver Rückhalt gegeben eine Tatsache, die derart detailliert bisher nicht erkennbar gewesen ist. Es blieb indessen nicht allein bei dieser Hilfestellung von Seiten des Reichsheeres. An Bataillons-Kommandeure und mindestens zwei Orten haben Offiziere des Heeres -

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Ebd. Abschnitt II und IV. 297 Ebd. Abschnitt II. 208 In München allerdings hatte ein SMG-Zug den Schutz des „Braunen Hauses" übernommen: K.-J. Müller, Reichswehr und „Röhm-Affäre", Dokument 7, Abschnitt III. Vgl. auch Bennecke II, S. 58, der auf Grund eigener Wahrnehmung bestätigt, daß das „Braune Haus" um die Mittagszeit von „Reichswehr etwa in Kompaniestärke" gesichert war, als Hitler dort vor SA-Führern und politischen Leitern, darunter auch einigen Reichs- und Gauleitern, eine Ansprache hielt. Die Angaben über die „Aufregung" beim Innenministerium wegen dieses Einsatzes von Reichswehrtruppen korrespondieren mit dem Bericht von V. Müller, S. 352-353, nach dem der Gauleiter und Innenminister Wagner am 29. 6. den zu ihm als Verbindungsoffizier der Reichswehr abkommandierten Major besorgt zu allererst fragte, „ob der Befehl schon weitergegeben worden sei, die Reichswehr in ihren Kasernen zurückzuhalten". Ebenfalls nach V. Müller, S. 360-361, habe Wagner am Morgen des 1.7.34 nochmals erklärt: „Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, betone ich, daß die Truppen so lange in den Kasernen gehalten werden, bis sie aus Berlin andere Weisungen erhalten." Über die Rolle des Innenministers und Gauleiters Wagner am 30. 6. 34 vgl. außer V. Müller auch Bennecke II, S. 57. Sepp Dietrich, der Kommandeur der SS-Leibstandarte,

206

Schwurgericht München am 6. 5. 1957 aus, er habe, als er, von Kaufering kommend, geführt hatte, zu seinem Erstaunen das „Braune Haus" von Reichswehr umstellt gefunden (zit. nach Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Bd I 1 „Triumph" [1932-1934], München 1965, sagte seine

S.

vor

dem

Truppe

396).

nach München

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

122

Standortälteste sich eingeschaltet und die Entwaffnung der SA zusammen mit der SS und der Polizei durchgeführt209, in einem anderen Ort wurde das Stabsgebäude einer SA-Standarte von Reichswehr-Angehörigen in Zivil besetzt210. Das waren wohl nicht unbedingt Eigenmächtigkeiten untergeordneter Organe, denn das Wehrkreis-Kommando griff nicht ein, obwohl es stets in jedem Fall darüber orientiert worden war. Daß auch unerwünschter Eifer sich bei gewissen Reichswehr-Angehörigen zeigte, als es nun gegen die wenig beliebte und als lästigen Rivalen betrachtete SA ging, mag aus den wiederholten Mahnungen des Wehrkreis-Kommandos an seine nachgeordneten Dienststellen hervorgehen, „der Grundsatz, daß die Wehrmacht bei der Durchführung der augenblicklichen politischen Maßnahmen so wenig wie möglich in den Vordergrund zu treten" habe, sei überall „streng zu beachten"211. Ähnlich wird die auf Ersuchen des Innenministers erfolgte Anweisung an die Standortältesten zu verstehen sein, „keine übertriebene Bewaffnung der SS" vorzunehmen212. Die technische Unterstützung des Heeres Stellung von Transportraum, Unterkünften, Verpflegung, Bewaffnung und Munition sowie marschbereite Verbände als Rückhalt war demnach derart, daß man mit Recht behaupten kann, mindestens in Bayern hätten SS und Polizei kaum ihre Aufträge in diesem Umfang und mit der gezeigten Wirksamkeit durchführen können213. Eine aktive und direkte Teilnahme von Reichswehrangehörigen ist ebenfalls nachweisbar; sie beschränkte sich indessen auf Einzelfälle. Auf keinen Fall aber kann angesichts dieser Tatbestände noch behauptet werden, der Dualismus zwischen SA und Reichswehr sei damals „ohne Zutun der Armee beseitigt worden"214. Zur sachgerechten Beurteilung dieses Tatbestandes sind allerdings drei Momente zu beachten: erstens waren weder Befehlshaber noch Kommandeure und erst recht nicht die Truppe in der Lage, die Hintergründe zu erfassen. Sie wurden teils einseitig, teils sogar falsch unterrichtet, so daß bei ihnen der Eindruck entstehen konnte, Hitlers Vorgehen gegen den großen Rivalen der Reichswehr sei einerseits tatsächlich eine Aktion zur Abwehr der von -

-

-

209 In Nürnberg hat der dortige Standortälteste und Wehrgaubefehlshaber, Generalmajor Stephanus, die SA zur sofortigen Waffenablieferung ultimativ aufgefordert. (Mitteilung General Konrad Stephanus jr. vom 29. 8. 1963 an das MGFA.) In Augsburg begab sich der Kommandeur II/IR 19 und sein Adjutant zusammen mit dem Kommandeur der Landespolizei und dem Polizeidirektor, einem SS-Sturmbannführer, zu der dortigen SA-Brigade, wobei bezeichnenderweise ständig Verbindung zum Bataillon aufrechterhalten wurde. Der Chef des Stabes des Wehrkreiskommandos wies den Bataillonskommandeur an, bezüglich der Entwaffnung der SA-Brigade nur „im Einverständnis mit der politischen Polizei" zu handeln. Die Waffen der SA wurden am nächsten Tag von der Reichswehr bei der SA-Brigade „abgeholt".

(MGFA/DZ WK VII/1652, Aufzeichnung Wehrkreiskommando VII vom 30.6.34 um 17.50, 22.10, 22.20 Uhr und vom 1. 7. 34 um 8.00 und 8.15 Uhr.) "o In Mindelheim: WK VII/1652, ebd. 211 Ebd. Weisung des Wehrkreiskommandos vom 30.6. 34 an alle Standortältesten des Wehrkreises, 16.55 Uhr. 212

Ebd.

213

Vgl. dazu Doerr, S. 231.

214

Hoßbach,

S. 56.

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

123

der Armee schon längst als bedrohlich empfundenen Machenschaften, die sowohl dem Reichskanzler als auch der Reichswehr gefährlich waren, sowie andererseits eben daher durchaus im Interesse der Streitkräfte gelegen215; und zweitens erreichten sie die Befehle und Anordnungen auf völlig normalem, also dem vorgegebenen, üblichen und legalen Weg, nämlich vom Minister, der zugleich Oberbefehlshaber der Gesamtstreitkräfte war, bzw. in dessen Namen von dem für innenpolitische Angelegenheiten zuständigen Chef des Wehrmachtamtes oder von der obersten Stelle des Heeres, dem Chef der Heeresleitung, der entweder selbst befahl oder aber die Anordnungen Reichenaus auf Anfrage autorisierte216; schließlich ist darauf hinzuweisen, daß mindestens zwei Wehrkreis-Kommandos, nämlich München217 (General Adam) und Dresden218 (General List) unverzüglich dem Chef der Heeresleitung bzw. dem Chef des Wehrmachtamtes Mitteilung machten, sobald sie von wilden Erschießungen und Exekutionen erfuhren. Aufschlußreich für die problematische Art der Unterrichtung der lokalen Befehlshaber sind die diesbezüglichen Ereignisse im Wehrkreis VII. Das Wehrkreis-Kommando VII erhielt am 28. Juni eine ausführliche Orientierung des Reichswehrministeriums, die praktisch identisch war mit jener, welche die Heeresleitung ihren Abteilungsleitern zur gleichen Zeit, wie erwähnt, hatte zukommen lassen. In der Nacht zum 30. Juni erhielt es auf eine Anfrage beim Chef der Heeresleitung dann die zusätzliche Auskunft, die Anordnungen Reichenaus seien in Ordnung, das weitere werde Hitler bei seiner Ankunft veranlassen219. Aus Hitlers Munde erfuhr das Wehrkreiskommando über seinen Verbindungsoffizier beim Gauleiter und Innenminister in den frühen Morgenstunden: Einzelne SA-Führer hätten ihre Ziele auf revolutionärem Wege durchzusetzen geplant; er sei entschlossen durchzugreifen220, die ganze Angelegenheit sei „reine Sache der Partei", welche die Reichswehr nicht berühre; allerdings seien Schleicher und Bredow darin verwickelt. Er, Hitler, 215

V.

Müller,

S. 356.

Ebd. S. 354 (Anweisung des Chefs der Heeresleitung vom 29.6.34 an General Adam: „Was Reichenau angeordnet habe, [sei] ganz in Ordnung"). Vgl. auch MGFA/DZ WK VII/1652, Aufzeichnung des Wehrkreiskommandos VII vom 30. 6. 34, 12.30 Uhr unter der Überschrift „Chef der Heeresleitung befiehlt: ." 217 Nach V. Müller, S. 359 habe der Chef des Stabes im Auftrag des Wehrkreisbefehlshabers am 30. 6. 34 gegen 24.00 Uhr telefonisch eine Lageschilderung gegeben und darauf hingewiesen, daß „hier die Gefahr wilden Mordens bestehe, daß der [frühere Generalstaatskommissar] Kahr umgebracht sei". Dieses Gespräch ist dann offensichtlich von Parteidienststellen abgehört worden: vgl. V. Müller, ebd. 218 Nach Aussagen von Generalleutnant a. D. Burdach Freiburg i. Br. (damals Generalstabsoffizier beim Wehrkreiskommando in Dresden) haben der dortige Befehlshaber, General List, und dessen Chef des Stabes Olbricht am 30. 6. 34 Burdach mit einem Brief, in dem er gegen die von der SS durchgeführten Exekutionen in der Nähe Dresdens geharnischten Protest einlegte, noch am selben Tag nach Berlin zu Reichenau gesandt. Reichenau nahm, soweit General Burdach sich erinnert, das Schreiben ohne irgendeine Stellungnahme zur Kenntnis. 218

..

-

-

V. Müller, S. 352 f. MGFA/DZ WK VII/1652, Aufzeichnung des Wehrkreiskommandos VII vom 30.6.34 8.00 Uhr Orientierung durch den Chef des Stabes: abgedruckt bei K.-J. Müller, Reichswehr und „Röhm-Affäre", Dokument 7. 219

220

-

-

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

124

werde dafür sorgen, daß die Reichswehr sich wieder ungestört der Aufgabe der Landesverteidigung widmen könne221 : Diese Mitteilungen wurden dann im Laufe des Vormittags mit Ausnahme des letzten Satzes und des Hinweises auf Schleicher und Bredow an die nachgeordneten Dienststellen inhaltlich weitergegeben222, gefolgt kurz darauf von der Unterrichtung, der Reichskanzler habe „heute früh persönlich Festnahme von Röhm und einer größeren Anzahl höherer SA-Führer in München und Wiessee veranlaßt"223. Drei wesentliche Punkte beinhalteten demnach die Informationen, die dem Wehrkreis-Kommando zugingen: ein revolutionärer Akt seitens gewisser Elemente in der SA-Führung stehe unmittelbar -

bevor;

alle Maßnahmen würden auf Befehl und unter Leitung des „Führers" geschehen, und diese Maßnahmen seien nicht zuletzt im Interesse und zum Nutzen der Reichswehr. Das war sowohl ein Appell an die Interessenlage der Streitkräfte als auch eine durch den Hinweis auf die Person des Kanzlers erfolgende autoritative Abschirmung. Die Unterrichtung der Kommando-Behörden und territorialen Dienststellen glitt damit bereits unmerklich in die Rechtfertigung der Unternehmung hinüber. Blomberg und Hitler bemühten sich schon vom 30. Juni an darum, die Aktion gegen die SA verständlich zu machen und als gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Am Abend dieses ereignisreichen Tages sandte der Reichswehrminister einen Fernspruch an die Wehrkreise: „Die vom Reichskanzler persönlich geleitete Säuberungsaktion zur Beseitigung von staatsfeindlichen Elementen ist reibungslos durchgeführt worden. Einsatz der Wehrmacht war nirgends notwendig224. Der Hinweis, daß nur gegen die unbotmäßigen und rebellischen Elemente der SA und gegen „Staatsfeinde" vorgegangen wurde, sollte fraglos den Soldaten, vor allem den Befehlshabern, die angesichts der Ereignisse des Tages vor der „Gefahr wilden Mordens" bereits besorgt warnten, die Aktion verständlich und damit annehmbar machen. Der wiederholte Hinweis, es werde lediglich gegen die schlechten Elemente vorgegangen, nicht gegen die SA an sich, beugte unliebsamem Widerhall bei den Heereseinheiten vor, die örtlich ein gutes Verhältnis zur SA hatten; es nahm auch denen die Sorge, die meinten, auf das Reservoir der „wertvollen, wehrwilligen Kräfte in der SA" nicht verzichten zu können; mehr noch, es ließ hoffen, daß nunmehr die Gewähr gegeben sei, daß dieses Reservoir, gereinigt von allen renitenten und eine eigene Wehrpolitik treibenden Kräften, fortan uneingeschränkt für die Landesverteidigung der Reichswehr ausgeschöpft werden könnte. Hitler selbst bemühte sich ebenfalls in diesem Sinne und mit nahezu ähnlichen Argumenten schon am 30. Juni, die Aktion verständlich zu machen und zu rechtfertigen. Einem Offizier vom Stabe des Wehrkreis-Kommandos erklärte er225, es sei ihm „unendlich -

-

221 222

223

Müller, S. 356. Vgl. oben Anm. 220. V.

MGFA/DZ WK VII/1652, Aufzeichnung des Wehrkreiskommandos VII vom 30.6.34 12.30 Uhr -, abgedruckt bei K.-J. Müller, Reichswehr und „Röhm-Affäre", Dokument 7. 224 Ebd. 21.40 Uhr „Befehl des Reichswehrministers", der um 21.55 Uhr an die Standorte des Wehrbereichs und der 7. Division „zur Bekanntgabe an die Truppen" weitergegeben wurde.

-

-

225

-

MGFA/DZ WK VII/1652,

stenographische Aufzeichnung

in den Akten des Wehrkreiskom-

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

125

geworden, sich von „Kameraden zu trennen, mit denen [er] jahrelang [zusammen] gekämpft habe"; aber „diese Leute hätten die ganze SA zugrunde gerichtet. Es schwer"

mußte daher endlich ein Schlußstrich gesetzt werden." In dem Bemühen, der Reichswehr sein Vorgehen verständlich zu machen, schreckte Hitler nicht vor Täuschung und Unwahrheit zurück. Er bemerkte nämlich dem erwähnten Offizier gegenüber, „sämtliche SAFührer [seien] hinter Schloß und Riegel. [Die] Angelegenheit [sei] erledigt". Damit verschwieg er mindestens die bereits laufenden Erschießungen ohne ordentliches Gerichtsverfahren. Zu der Täuschung und Vernebelung fügte er den korrumpierenden Appell an den Interessenegoismus hinzu: das Heer sei so bemerkte er zu General Adam „der alleinige Waffenträger. Jeder Mann, sei es SA oder sonst wer, stehe in Zukunft dem Heer zur Verfügung. Jeder Deutsche, auf den die Wehrmacht weist, ist ihr verfallen. Ich habe jederzeit vollstes Vertrauen zur Wehrmacht und zum Reichswehrminister226." Indessen scheint dieser Versuch, beim Offizierkorps mit derartigen Methoden Verständnis oder gar Billigung hervorzurufen, nicht unbedingt und überall erfolgreich gewesen zu sein. General Adam jedenfalls soll unwillig bemerkt haben, er sei wohl für die Ausschaltung der gefährlichen SA-Elemente, er hielte es aber für unmöglich, „die Leute einfach ohne Gerichtsverhandlung niederzuknallen"227. Er sah auch sehr wohl, daß diese Art des Vorgehens das Ansehen des Reiches im Ausland schwer erschüttern werde. Ebenfalls schrieb der Befehlshaber im Wehrkreis IV, General List, an Reichenau einen Brief, in dem er gegen die in der Nähe von Dresden stattfindenden Exekutionen protestierte allerdings ohne Ergebnis228. Bei aller Befriedigung über die Ausschaltung des gefährlichen Rivalen riefen die Methode und das Ausmaß, insbesondere die Exekutionen und Morde, Bedenken, Bestürzung und Mißbilligung bei zahlreichen führenden Offizieren hervor229. Vor allem aber forderte die Ermordung zweier einstiger Mitglieder der Generalität, Schleichers und Bredows, das Offizierkorps zur Stellungnahme unausweichlich heraus. Am 1. Juli 1934 habe General Adam, so wird berichtet, schon bemerkt, das „können wir nicht einfach hinnehmen"230! Andere Befehlshaber es werden Witzleben, Rundstedt und Leeb genannt sollen alsbald eine kriegsgerichtliche Untersuchung der beiden Fälle gefordert haben231. -

-

-

.

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-

-

mandos VII mit der Überschrift: „30. Juni 1934, Exz. Adam: Führer zu Sintzenich: ." Abgedruckt bei K.-J. Müller, Reichswehr und „Röhm-Affäre", Dokument 7. 229 Ebd. 227 V. Müller, S. 357 (Adam am Abend des 30. 6. 34). 228 Siehe oben Anm. 218. 229 Vgl. Lüttwitz, fol. 87, der, wohl symptomatisch für die Haltung der jüngeren Generation, schreibt: „So peinlich alle diese Ereignisse mich auch berührten, ich konnte damals noch nicht so schwarz in die Zukunft sehen. Als Hauptmann beim Kommando der Panzertruppe war ich voll ausgelastet mit Aufgaben und half mit großer Passion beim Aufbau der neuen Waffe." 230 y Müller, S. 361 (Besprechung Adams am 1. 7. 34 morgens mit seinem Stab). 231 Vgl. Manstein, S. 193. (Dieser, damals Chef des Stabes im Wehrkreis III, drängte seinen Kommandierenden General, Witzleben, der daraufhin zu Fritsch ging. Dieser erklärte, daß Hitler nach Blombergs Aussagen Beweise habe, daß Schleicher mit einer fremden Macht gegen die Re.

.

126

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

Damit stellt sich die Frage, wie die verantwortlichen Spitzenpersönlichkeiten der Reichswehr, also Blomberg und Reichenau sowie der Chef der Heeresleitung, auf diese Lage reagiert haben. Blomberg und Reichenau taten alles, um die Maßnahme während der „Röhm-Affäre" zu rechtfertigen, zu decken. Bereits am 1. Juli, noch während die Exekutionen andauerten, schrieb der Minister lobend in einem Tagesbefehl, Hitler habe mit „soldatischer Entschlossenheit und vorbildlichem Mut die Verräter und Meuterer niedergeschmettert", und gelobte, die Wehrmacht werde „danken durch Hingabe und Treue"232. Dabei mußte Blomberg wissen, daß er mindestens nicht pauschal von „Verrätern und Meuterern" reden durfte. Vor allem aber scheint wiederum in jener, Hitlers soldatische Tugend rühmenden Formulierung die politische Taktik der Reidiswehrführung durch: Reklamierung Hitlers für die Reichswehr und Treueversprechen zum „Führer"233. Einige Tage später, als bereits zahlreiche Nachrichten über das Ausmaß der Erschießungen und über die einzelnen Opfer durchgesickert waren, gab der Minister persönlich auf einer Befehlshaberbesprechung am 5. Juli seine Darstellung von den Ursachen und vom Verlauf der „Säuberungsaktion", und zwar ganz im Sinne der Interpretation Hitlers 234. Er erklärte, der Führer sei „seit Wochen entschlossen zum Handeln" gewesen; lediglich der „Zeitpunkt war noch offen und hing von außenpolitischen Dingen und Rücksichten auf Parteibelange ab". Er bewies damit, daß er vom präventiven Charakter der Aktion gewußt hatte, und desavouierte zugleich die offizielle Behauptung vom „unmittelbaren Ausbruch einer landesverräterischen Aktion". Mit dem Hinweis, die Maßnahmen des 30. Juni seien „im Interesse der Wehrmacht... unumgänglich nötig" gewesen und Hitler habe nicht zuletzt in ihrem Interesse gehandelt, also mit kaum verhülltem Appell an krassen Egoismus, versuchte Blomberg die Generalität zu bewegen, die „Notwendigkeit" wie die „Form" jener Ereignisse zu akzeptieren235. Die Ermordung gewisser bürgerlichkonservativer Oppositioneller rechtfertigte er mit der Bemerkung: „Wir, die Wehrmacht, sollten nach dem Willen dieser Kreise in ein Lager verschoben werden, in dem wir nicht .

.

.

gierung konspiriert habe und er, Blomberg, diese Beweise auch erhalten werde.) Vgl. „Die Reaktionen im Offizierkorps auf den 30. Juni 1934", in: Das Militärarchiv, Nr. 6, 1965, S. 16 ff.; vgl. auch Krausnick, Vorgeschichte, S. 234, Anm. 154 und 156. Für Hammerstein vgl. Lüttwitz, fol. 87, der das Verhalten Blombergs und das Danktelegramm Hindenburgs als „verhängnisvolle Kapitulation und Preisgabe jedes Anstands- und Rechtsgefühls" ansah. Nach K. v. Hammerstein, S. 175, soll H. den Reichswehrminister aufgesucht haben, um ein aktives Einschreiten der Reichswehr herbeizuführen. 232 HVO-Blatt, 16. Jg., vom 2. 7. 34, Blatt 18, Nr. 325, abgedruckt auch bei Bennecke II, S. 65. 233 Gemäß Bericht des „Völkischen Beobachters" vom 5. 7. 34 (abgedruckt bei Bennecke II, S. 91 ; vgl. auch ebd. S. 66-67) hat Blomberg (also nicht der Vizekanzler) „dem Führer im Namen des Reichskabinetts und der Wehrmacht für sein entschlossenes und mutiges Handeln" gedankt. Hitler habe sich „als Staatsmann und Soldat (Hervorhebung vom Verf.) von einer Größe gezeigt, die das Gelöbnis zur Leistung, Hingabe und Treue in dieser schweren Stunde in allen Herzen wachgerufen habe". 234 Hierzu und zum folgenden vgl. Liebmann-Notizen. Vgl. auch Heinrici-Notizen bei Foertsch, ...

S.57.

235

Ygl. dazu

auch Bennecke II, S. 66 f.

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

127

stehen können"236. Daß Blombergs237 Teilhabe an der Vorbereitung und Abdeckung der Maßnahmen des 30. Juni 1934 im Grunde eine Konsequenz der von der Reichswehrführung praktizierten Politik war, lassen seine Bemerkungen zu einigen aktiven und ausgeschiedenen höheren Offizieren bei einem privaten Essen erahnen238. Er versuchte die Bedenken seiner Zuhörer mit dem Argument zu zerstreuen, es wäre eine absolute Notwendigkeit gewesen, so zu handeln, da verhindert werden mußte, daß Hitler beseitigt und sein Aufbauwerk vernichtet würde. Bei der von Blomberg angenommenen Interessenidentifikation und der einseitig festlegenden Option der Reichswehrführung für Hitler war diese Haltung nicht verwunderlich; ihre Konsequenzen aber waren nicht minder

offenkundig. Ganz krass zeigte sich das in der Reaktion des Ministers auf die Ermordung Schleichers und Bredows. Weit entfernt davon, auf eine Untersuchung dieser beiden Fälle zu drängen, rechtfertigte Blomberg die Mordtaten vor den Befehlshabern vielmehr mit der Bemerkung, Schleicher hätte landesverräterische Verbindung zu Röhm und zum Ausland unterhalten239. Das Verlangen nach kriegsgerichtlicher Untersuchung, das einige Befehlshaber vorbrachten, wies er als „in der vorliegenden Situation unmöglich" zurück und stellte Beweise für die Schuld Schleichers in Aussicht240, die jedoch nie erbracht wurden. Reichenau half bei der Vernebelung der Tatsachen insofern mit, als er den Text jener Meldung entwarf, in der fälschlich behauptet wurde, Schleicher sei wegen Widerstandes mit der Waffe bei der Verhaftung erschossen worden. Blomberg und Göring sollen diese Formulierung genehmigt haben241. Mögen der Minister und sein erster politischer Berater242 auch vorher nichts darüber gewußt haben, wie und in welchem Ausmaß die Aktion dann durchgeführt wurde, mögen sie gar von Art und Ausmaß überrascht und erschreckt gewesen sein243. Gefangen in ihrem Konzept, verstrickten sie sich in dessen Maschen und wurden zu Mitwissern und Mithelfern böser Machenschaften. Gewiß hatten sie sich die Entwicklung, insbesondere jene „Aktion" anders gedacht, aber sie konnten, nachdem sie einmal auf Hitler gesetzt hatten, nicht mehr zurück vermutlich wollten sie es auch gar nicht -, sie mußten somit auch die Konsequenzen in Kauf nehmen. -

Ebd. Nach Doerr, S. 230, soll Hitler zu einem Offizier des Wehrkreiskommandos VII am 30. 6. 34 in München bemerkt haben, er sei dankbar, daß er „in dieser schweren Stunde in dem General v. Blomberg einen wahren und edlen Freund gefunden habe". 238

237

238

J.

239

Ebd.

v.

Stülpnagel, S. 329 (BA/MA

H

08-5/27).

„Reaktionen im Offizierkorps auf den 30. Juni 1934" in: Das Militärarchiv, Nr. 6, Juni 1965, (Aussage Kuntzen) sowie S. 16-17 (Aussage Manstein). Vgl. auch Krausnick, Vorgeschichte, S. 229 ff. 249

S. 15 f.

241

Theodor Eschenburg, Zur Ermordung des Generals v. Schleicher, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 71, Anm. 1. 242 Nach Röhricht, S. 66, habe Reichenau in jenen Tagen engsten Kontakt zu Hitler gehalten (er fuhr z. B. zum Flugplatz, als Hitler aus München zurückkehrte). Vgl. auch Gisevius, Bd. I, S. 250. 243 Bennecke II, S. 55; dagegen vgl. Gisevius, Bd. I, S. 250.

128

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

Die Mehrzahl der höheren Generalität hat wohl bald die offiziellen und offiziösen Stellungnahmen durchschaut und die Ungeheuerlichkeit der Ereignisse begriffen244; allerdings blieb noch genug verwirrende Unklarheit, vor allem was die Fiktion eines unmittelbar drohenden SA-Putsches und die Verantwortlichkeit Hitlers angeht. Sie ist damals wohl kaum klar erkannt worden. Gewiß empörte man sich über die Exzesse und Morde, gewiß nahm man an Blombergs Verharmlosungs- und Vertuschungsversuchen Anstoß245. Aber Hitlers Vorgehen, die Liquidierung der SA-Rivalen und Unruhestifter, von deren Gefährlichkeit die meisten auf Grund der einseitigen Information durch das Ministerium überzeugt waren, stellte in den Augen mancher doch auch und vor allem ein positives, ordnungsbildendes Element dar. Wenn auch mit gemischten Gefühlen, beruhigte man sich mit dem Argument, daß die Aktion vom 30. Juni durch die Rechtmäßigkeitserklärung der Reichsregierung vom 3. Juli öffentlich legalisiert worden sei248. Schien nicht auch Hindenburgs Glückwunschtelegramm an Hitler und Göring eine nachträgliche Billigung des unschönen Vorgehens zu bedeuten247? Angesichts der Vielschichtigkeit der Lage, in der Interessendenken, Unklarheiten, Beruhigungen seitens der höchsten Vorgesetzten und die Hoffnung, jetzt würde das Regime, befreit von revolutionärem Druck, auf eine evolutionäre Linie einschwenken, bestimmend waren, verflüchtigten sich manche Bedenken248; vor allem aber stellte sich angesichts dieser Lage und angesichts des Verhaltens der Vorgesetzten den Generälen und Kommandeuren das Problem einer Entscheidung zwischen Gehorsam und Gewissen249 gar nicht oder doch So nahm ein Teil der Generalität die Ausführungen Blombergs am 5. 7. 34 mit Mißbilligung und Skepsis auf. Vgl. die Belege bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 230, Anm. 138. 245 Vgl. V. Müller, S. 360-361 (Reaktion General Adams), sowie Krausnick, Vorgeschichte, S. 243, Anm. 7 (Rommels Ausruf: „Bei diesem Anlaß hätte man mit der ganzen Blase aufräumen sollen." Diese Bemerkung des damaligen Bataillonskommandeurs zielte wohl mehr auf die SS/SD etc. und noch keineswegs auf das Regime). Vgl. auch über Osters Reaktion: KB S. 451, Sonderbericht vom 16.10.44 („Methoden einer Räuberbande", die seinen „fanatischen Haß" auf die SS hervorgerufen hätten.) Zur Interpretation vgl. Hermann Graml, Der Fall Oster, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 14 (1966), S. 31. 246 Hier wäre auf das Phänomen des seit längerer Zeit bereits lädierten und verwirrten Rechtsgefühls in Deutschland zu verweisen. Die Erfahrungen des blutigen Terrors von links und rechts während der Revolutionswirren, der zeitweilig bürgerkriegartigen Zustände in der Weimarer Republik, der Feme-Morde, auch die im Verfolg der als nationale Pflicht erscheinenden Umgehung der Versailler Friedensbestimmungen entstandenen Schizophrenie des Rechtsdenkens, hatten in der Nation weitgehend das Gefühl für Recht und Ordnung in Verwirrung gebracht, rechtsstaatliche Prinzipien in Vergessenheit geraten lassen. Vgl. z. B. als Beispiel für die Leichtfertigkeit, mit der schon vor dem 30. 6. 34 im Reichskabinett Rechtsbrüche und -beugungen behandelt wurden: Hubatsch, Hindenburg und der Staat, S. 373 (Dok. 106). Vgl. auch Diels, S. 306, sowie die symptomatischen Ausführungen Mansteins, S. 192-193. 247 Papen, S. 359. Halder, Spruchkammer-Aussage vom 17.9.1948 (H 92-1/3, fol. 45): Man habe danach erwartet, „daß Hindenburg regulierend eingreifen würde". 248 Beispielhafte Stellungnahmen: IMT XXI, S. 29 (Rundstedt); Manstein, S. 193; Geyr v. Schweppenburg, Aufzeichnung über Generaloberst Frhr. v. Fritsch (unveröffentlicht, MGFA/DZ), S. 2 f.; Weichs, Erinnerungen, Bd I, S. 17. 249 Wie es Krausnick, Vorgeschichte, S. 230, formuliert hat. 244

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

129

Ein Schritt aus den Bindungen des formalen Gehoroder gar ein Militärputsch untergeordbewaffnete Intervention eine heraus, faktisch er hätte ja gegen Reichspräsident, wäre neter Generäle, psychologisch wie eine Unmöglichkeit gewesen. Minister und Chef der Heeresleitung erfolgen müssen Eine derartige Forderung wird man daher ex post nicht erheben dürfen. Wohl aber mag den Betrachter das Ausbleiben eines wie auch immer gearteten Protestes wegen der Ermordung zweier Generäle erstaunen; dies um so mehr, als sich die Generalität doch auf eine wie es scheint im Offizierkorps verbreitete Stimmung des Abscheus, der Empörung, auch der stärksten Besorgnis wegen dieser beiden Morde hätte berufen können250. Indessen wäre in dieser Sache, nachdem Blomberg zunächst Beweise in Aussicht gestellt hatte und diese nie erbrachte, der Chef der Heeresleitung zu weiterem entschiedenen Vorgehen legitimiert gewesen. Er hätte sich zum Sprecher derer machen können, die eine Klärung der Fälle Schleicher-Bredow verlangten, wie auch zum Sprecher des verbreiteten Unbehagens in der Armee. Die Haltung des Generals Freiherr v. Fritsch in der ganzen Affäre ist indessen recht

nicht mit der

nötigen Eindeutigkeit.

sams

etwa

-

-

-

-

eigentümlich251. am 30. Juni 1934 unterschieden sich soweit wir sehen können Er von nicht der denen autorisierte prinzipiell Reichswehrführung. gegenüber dem VII in Er Wehrkreis-Kommando die Anordnungen Reichenaus252. sah der Aktion gegen Röhm, an deren Vorbereitung er in gewissem Rahmen beteiligt war, „zunächst mit Genugtuung einen durch Hitlers Initiative herbeigeführten Sieg der Wehrmacht über die der obersten hochgefährlichen illegalen Machtgelüste SA-Führung"253. Mit Entsetzen und Abscheu soll er jedoch die Ausweitung dieser Aktion und jene blutigen Exzesse betrachtet haben254. Indessen sagen die Quellen auch nicht, daß der Chef der Heeresleitung in irgendeiner Weise eingegriffen oder über Reichenau und Blomberg einzuschreiten versucht hat, nachdem ihm schon am späten 30. Juni die „Gefahr wilden Mordens" von den terri-

Seine

Anweisungen

-

..

250

Vgl. Krausnick,

-

.

ebd. Die Reaktionen in den Garnisonen

waren

sicherlich unterschiedlich.

Müller, S. 362, berichtet, das Offizierkorps des Pionierbataillons 7 sei am 30. 6. 34 wegen des Vorgehens gegen die SA, zu der es gute Beziehungen gehabt hatte, „zum Teil in großer Erregung" V.

gewesen und habe

Prinz

zu

die SS so im Vordergrund stand". Friedrich-Christian mißbilligt, daß Goebbels. Dr. Ein Porträt des Propagandaministers, Wiesbaden Schaumburg-Lippe, es

„...

1963, S. 93 f., berichtet, Goebbels habe ihm

am

30.6.34

erzählt,

es

sei

aus

verschiedenen Garni-

gemeldet worden, die SA mache mit der Reichswehr „gemeinsame Sache". Nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 231, Anm. 141, habe die Truppe vielfach „die Tat des Führers" mit Jubel begrüßt. sonen

251

Raeder, Bd I, S. 289, schreibt dazu, daß „die Marine selbst... weder

an den Vorgängen noch den Ereignissen in irgendeiner Form beteiligt" war. Er zog daraus den Schluß: „Für mich stellten die Geschehnisse einen neuen Beweis dafür dar, wie dringend nötig es war, die Marine und überhaupt die Wehrmacht von allen innenpolitischen Auseinandersetzungen möglichst fernzuhalten sie immer wieder auf die ihr allein zukommenden Aufgaben auf ihrem eigentlichen militärischen Gebiet hinzuweisen." an

...

252

V.

253

Foerster, S. 25 (Hervorhebung vom Verf.); nach Foerster gilt dies auch für Beck. Papen, S. 357, und Krausnick, Vorgeschichte, S. 237, mit weiteren Belegen.

254 9

Müller,

S. 354.

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

130

torialen Kommandobehörden gemeldet worden war. Selbst als die ersten, allerdings noch unklaren Nachrichten über die Erschießung des Ehepaars Schleicher ihn erreichten, scheint er keine besondere Initiative zur Klärung des Zwischenfalls entfaltet zu haben255. Bald darauf jedoch intervenierte er bei Blomberg256, um eine kriegsgerichtliche Untersuchung und eventuell eine Rehabilitierung der beiden Generäle zu erreichen. Einerseits entsprach er damit dem Drängen einiger höherer Offiziere257, andererseits war er inzwischen über etliche Vorgänge am 30. Juni besser orientiert worden258, hatte auch selbst wohl Zweifel an der offiziellen Version bekommen. Als Blomberg sich diesem Verlangen widersetzte und auswich, drängte Fritsch jedoch keineswegs weiter, sondern ließ die Sache auf sich beruhen. Als Vizekanzler v. Papen259 ihn erregt mit der Frage überfiel, warum die Armee nicht interveniert und den Ausnahmezustand erklärt habe und wie es möglich sei, daß und Hundert anderer Leute arretiert „Ihr hier stillsitzt, wenn zwei eurer Generale oder erschossen werden, obgleich sie offenbar mit dem Putsch nicht das geringste zu tun haben", da stimmte ihm der General völlig zu; das wäre auch seiner und aller verständigen Leute Ansicht. Auch andere außerhalb der Reichswehr stehende Persönlichkeiten drängten den Chef der Heeresleitung, so der ehemalige Staatssekretär Planck, der ihm erklärte: „[Er] müsse bei dem vollständigen Versagen Blombergs handeln und energische Maßnahmen gegen diese Ungeheuerlichkeiten ergreifen. Wenn er, Fritsch, tatenlos zuwürde er früher oder später das gleiche Schicksal erleiden." Fritsch aber hielt sähe, ihm und anderen, die bei ihm vorstellig wurden, entgegen, „wie könne er denn ohne ausdrücklichen Befehl des Ministers oder des Reichspräsidenten handeln. Für die Armee sei es eine Selbstverständlichkeit, Ordnung und Gesetz wieder herzustellen, aber Blomberg habe sich dem schärfsten widersetzt, und Hindenburg sei unerreichbar und offensichtlich falsch unterrichtet"260. Das ganze Verhalten Fritschs macht den Eindruck einer merkwürdigen Passivität, wenn nicht sogar eines vorsichtig-zurückhaltenden Werbens um Verständnis, oder wenn man seine Reaktion auf Papens und Plancks Intervention betrachtet, gar eines Ausweichens261. Gewiß, eine selbständige Aktion von ihm zu verlangen, war unreali...

...

-

Vgl. oben S. 125 dieser Arbeit. Vgl. Otto Meißner, Staatssekretär bei Ebert, Hindenburg, Hitler, Hamburg 1950, S. 372, sowie „Die Reaktion des Offizierkorps zum 30. Juni 1934", ebd. S. 16 f., und Manstein, S. 193. 257 Belege bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 237. 255 258

258

Nach Gisevius, Bd I, S. 218, zog Fritsch über die Abwehr Informationen ein.

259

Papen, S. 375, und IMT XVI, S. 328. Krausnick, Vorgeschichte, S. 234.

260

K. v. Hammerstein, S. 175: „Blomberg tat nichts, und auch die Generäle von Fritsch und Beck rührten sich nicht." Vgl. auch O'Neill, S. 50, und Bennecke II, S. 70. Mehrfach wird in der Literatur erwähnt (Krausnick, Vorgeschichte, S. 229; O'Neill, S. 48), Beck habe in den Tagen vor dem 30. 6. 34 mehrfach versucht, Schleicher zu warnen, er möge seine politische Aktivität ein261

schränken; ebensosehr eine Warnung also wie eine Mahnung! Schleicher soll daraufhin versucht haben, durch einen Mittelsmann Beck zu erreichen, um durch diesen Blomberg eine Mitteilung zukommen zu lassen. Am 30. 6. 34 wurde aber Schleichers Mittelsmann, Moyzischewitz, nicht mit Beck verbunden bei seinen Anrufen; vgl. Aufzeichnung Moyzischewitz in: BA/MA H 08-42/92, Nachlaß Schleicher.

Moyzischewitz? in:

Vgl. auch zur Person des Mittelsmannes: Hermann Teske, Wer Das Militärarchiv Nr. 5 (1964), S. 14-20.

war

Arno

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

131

stisch und unangemessen; aber ein Versuch, den Reichspräsidenten zu unterrichten262 oder weiteres nachdrückliches Nachfassen beim Minister, mindestens ein energischer Protest wäre seitens der Heeresleitung wohl angebracht gewesen. Statt dessen verharrte Fritsch im großen und ganzen in einer eigentümlichen Zurückhaltung263, obwohl alle Zeugnisse darin übereinstimmen, daß er die Ungeheuerlichkeit des Geschehens erkannt hat und daß ihm Mittel und Wege zur Intervention aufgewiesen worden sind. Das läßt sich kaum allein mit seiner Weltfremdheit in politischen Dingen und einer daraus resultierenden Hilflosigkeit gegenüber politischen Phänomenen erklären, auch nicht aus der ihm eigenen überstrengen Korrektheit formal war seine Passivität wohl korrekt, von der Sache her indessen schwer begreiflich. Sicherlich trug seine eigenartige Politikfremdheit und penible Korrektheit zu diesem seltsam passiven Verhalten bei264, aber wird dieses Verhalten, das ihm immerhin manche Kritik eingetragen hat265, nicht zuletzt auch daraus zu erklären sein, daß er sich in gewissem Maße von Reichenau mit in die Vorgänge verstrickt wußte, daß er die Niederwerfung des SA-Rivalen mitgewollt, angestrebt und die entsprechenden Vorbereitungen unterstützt hatte, ohne allerdings jemals auf den Gedanken gekommen zu sein, daß dies in einem verbrecherischen Blutbad enden könnte266? Daher war er wohl allen Demarchen gegenüber, die ihn zu mehr als nur einer Vorstellung bei Blomberg veranlassen wollten, äußerst zurückhaltend, fast sogar ausweichend, daher hat er auch die offiziellen Versionen, deren Problematik er durchschauen mußte, stillschweigend akzeptiert, lautwerdende Zweifel daran nie unterstützt267. Schließlich hat er wie noch zu zeigen sein wird kurz darauf in der Frage der Vereidigung der Streitkräfte zögernde Offiziere durch persönliche Einwirkung ganz im Sinne der Politik des Ministeriums zur Aufgabe ihrer Bedenken veranlaßt. Auch hat der Chef der Heeresleitung sich später nicht gegen die Bemühungen Blombergs gewandt, die Ehrenrettung, die der alte Feldmarschall v. Mackensen in etwas verklausulierter Form mit einer Erklärung vor der Schlieffen-Vereinigung für die beiden ermordeten Generäle durchzuführen versuchte268, unwirksam zu machen. Viel-

-

-

Anderen Persönlichkeiten gelang es immerhin, zum Reichspräsidenten vorzudringen (vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 233, und Theodor Duesterberg, Der Stahlhelm und Hitler, Wolfenbüttel-Hannover 1949, S. 83). 263 Die Ansicht von Foerster, S. 26, Fritsch habe nach dem Scheitern seiner Demarche bei Blomberg eben nichts mehr unternehmen können, vermag m. E. nicht zu überzeugen. 284 Vgl. Röhricht, S. 81: Fritsch fiele „politisch völlig aus. Was sich außerhalb der engeren Grenzen seines Dienstbereiches tut, dafür fehlt es ihm an Verständnis." Vgl. auch J. A. Graf v. Kielmansegg, S. 27, und Geyr v. Schweppenburg, Aufzeichnung über Generaloberst v. Fritsch (MGFA/DZ, unveröffentlicht), S. 2. Nach Bodo Scheurig, Ewald von Kleist-Schmenzin. Ein Konservativer gegen Hitler, Oldenburg und Hamburg 1968, S. 141, hat auch Ewald v. Kleist 262

vergeblich bei Fritsch wie auch bei Witzleben und Rundstedt interveniert. 265 Ygi_ j a. Graf v. Kielmansegg, S. 28, der mit äußerster Zurückhaltung diesen Komplex behandelt und ihn als noch offenes Forschungsproblem qualifiziert. 268 Geyr v. Schweppenburg, Aufzeichnung über Generaloberst v. Fritsch vom November 1966 (unveröffentlicht, MGFA/DZ) schildert, wie Fritsch kurz nach dem 30. 6.1934 es noch kaum fassen konnte, „daß Derartiges sich überhaupt in unserem Deutschland ereignen konnte". (S. 2.) 287 Vgl. Bennecke II, S. 61 ff., 64, 70 ff. 268 Zu den Bemühungen Madkensens vgl. Meißner, S. 371 ff., und Foerster, S. 26 f., sowie Eschen-

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

132

mehr hat

er

einen

„Maulkorb"-Erlaß des Ministers zu den Fällen Schleicher-Bredow260 Vorstellungen dagegen zu erheben, dem Offizierkorps bekannt-

ohne

befehlsgemäß, gegeben270. Eine halbwegs ungewollte, ihm gewiß auch peinliche Mitläuferschaft band ihm somit auch die Hände. In einer Hinsicht waren die Ereignisse um den 30. Juni herum doch für Fritsch übrigens nicht nur für ihn allein eine Art Wendemarke271. Gewiß, seine vertrauensvolle Loyalität Hitler gegenüber war noch gar nicht grundlegend erschüttert272, und seine Politikfremdheit war nicht verflogen. Aber seine naive Arglosigkeit gegenüber dem neuen Staat war doch erheblich beeinträchtigt273. Er hatte mit Erschrecken erfahren müssen, was in diesem „Dritten Reich" möglich war274, er hatte auch erfahren müssen, wie leicht er überspielt und in Dinge verstrickt werden konnte, an die er zuvor nie und nimmer gedacht und die er nicht gewollt hatte. Er begann daher, sich eigene Informationsquellen zu erschließen275, um ähnlichen Vorfällen in Zukunft zu entgehen. So setzte er vor allem durch, daß Meldungen über innenpolitische Vorfälle, die zuvor direkt ans Wehrmachtsamt gingen, nunmehr unmittelbar an die Heeresleitung und nur nachrichtlich an das Amt Reichenaus gesandt wurden276. Tiefe Skepsis und mißtrauische Wachsamkeit kennzeichneten fortan sein Verhalten. Auffällig kontrastiert der halb sorgenvolle, halb resignierende Ton seiner Ausführungen vor den Befehlshabern in den nächsten Monaten277 mit dem anscheinend so bedeutenden Sieg des Heeres über den SA-

-

Rivalen und Widersacher. Von Ende Juni 1934 an datiert auch erst seine wachsame Distanz zur Reichswehrspitze. Von nun ab begann der Chef der Heeresleitung, sich auf einigen Gebieten zum Gegenspieler Blombergs und Reichenaus zu entwickeln, ohne sich jedoch aller alten und mancherlei neuer Illusionen zu entledigen. Nicht übersehen werden

bürg, Zur Ermordung Schleichers, S. 73, und Militärarchiv, Die Reaktionen des Offizierkorps, S. 20 f. (Aufzeichnung eines Teilnehmers). Danach sei Mackensens Erklärung ein Schreiben, „anzunehmen des Reichswehrministeriums", gewesen. Röhricht, S. 90, berichtet, der Text dieser Erklärung sei zuvor mit der Adjutantur des „Führers" abgesprochen worden. Demgemäß ist die Kritik von Eschenburg, S. 73, Anm. 8 („Verlegenheitswortlaut"), und von Rothfels, S. 188, Anm. 19 („peinliche Ehrenerklärung"), nicht Mackensen zuzuwenden. Den Zusatz hatte der Feldmarschall „aus ritterlichem Empfinden" (Röhricht, S. 90 f.) von sich aus hinzugesetzt, was sein damaliger Adjutant, Generalleutnant a.D. Graf v. Hülsen, dem Verf. am 24.11.1966 bestätigte. Vgl. auch die rügende Formulierung in Blombergs oben erwähntem Schreiben vom 2. 4. 34 (vgl. Dok.-Anh. Nr. 12). 269 MGFA/DZ WK XIII/872 und WK IX/134. Vgl. Dok.-Anh. Nr. 12 und Robertson, S. 53 ff. 270 Über die Aufnahme dieser Erklärung im Offizierkorps vgl. O'Neill, S. 53. 271 Wie es O'Neill, S. 50, für Beck annimmt (vgl. auch Foerster, S. 26 ff.). 272 seine Vgl. Aufzeichnung vom 1.2.38, insbesondere die von Hoßbach ausgelassenen Teile: BA/MA H 08-28/3 fol. 170 a (zit. auch bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 289). Geyr v. Schweppenburg, Aufzeichnung über Generaloberst MGFA/DZ), S. 2-3. 273

274

Ebd. S. 2.

278

Vgl. Gisevius, Bd I, S. 218.

279

v.

Fritsch

(unveröffentlicht,

MGFA/DZ OKW 867. Vgl. Foertsch, S. 58: Rede vom 25.7.34: „Wir können Politik nicht ändern, ...still unsere Pflicht tun." Und Liebmann-Notizen ebd.: „Reibungen unvermeidlich. Zurückhaltung..."

277

(9.

10.

34.)

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

133

darf allerdings, daß sich fortan wohl die Methode und der Stil, mit dem die Heeresleitung ihr Konzept zu realisieren trachtete, von denen der Reichswehrführung unterschieden, daß die Prinzipien dieses Konzeptes aber auch weiterhin mit denen des Konzeptes der Reichswehrführung übereinstimmten. Diese Diskrepanz in den Methoden führte natürlich in manchen Sachbereichen zu einem mehr oder weniger deutlichen Gegensatz zwischen diesen beiden Führungsgremien. Das hat bis heute in der Literatur eine unzutreffende Sichtweise hervorgerufen, nach der Heeresleitung und Reichswehrführung grundsätzlich unterschiedliche Positionen vertreten hätten. Davon aber kann keine Rede sein. Es ist bereits auf die Zusammenhänge zwischen der SA-Frage, der konservativen Opposition und dem Problem der Nachfolge Hindenburgs hingewiesen worden. Die beiden ersten Fragen hatte Hitler durch die Mordaktionen in den Tagen um den 30. Juni auf seine Art gelöst. Das Nachfolgeproblem trat kurz darauf in ein akutes Stadium; Hindenburg lag in Ostpreußen im Sterben. Hitler war entschlossen, das Amt des Reichspräsidenten als einer unabhängigen Staatsinstitution zu beseitigen und deren Befugnisse auf den Reichskanzler zu übertragen. Das Reichskabinett, also auch der Reichswehrminister v. Blomberg, stimmte zu. Es beschloß am 1. August 1934, also noch zu Lebzeiten Hindenburgs, mit dem „Gesetz über das Staatsoberhaupt des deutschen Reiches" die nach dem Ableben des Feldmarschalls durchzuführende Vereinigung der Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers278. Das widersprach dem Artikel 2 des Ermächtigungsgesetzes279, es widersprach auch, ungeachtet der Berufung auf den Verfassungsänderungen erlaubenden Artikel 4 des „Gesetzes zum Neuaufbau des Reiches"280, dem Geist und dem Sinn des Ermächtigungsgesetzes. Unter diesen Umständen kam die Zusammenlegung der beiden Institutionen einem kalten Staatsstreich gleich, zu dem das Reichskabinett mindestens Hilfestellung leistete. Es ist gewiß nicht erstaunlich, daß Blomberg es hierbei nicht bloß als Kabinettsmitglied seinen Kollegen gleichtat, sondern sogar, unter maßgeblicher Assistenz Reichenaus, Hitler zielbewußt bei der Regelung der Nachfolgefrage zu dessen Gunsten unterstützte, indem er die bewaffnete Macht des Staates in ungewöhnlicher Weise an dessen Person band; lag das doch konsequent in der Linie der bisherigen, ebenso illusionären wie bedenklichen Politik der Reichswehrführung, die durch ihre Usurpierungs- und Umarmungs-Taktik die Reichswehr zu einem, wenn nicht gar zu dem bestimmenden Faktor im Staate zu machen trachtete281.

Vgl. Hubatsch, Hindenburg und der Staat, S. 142 f., und Krausnick, Vorgeschichte, S. 236 f., sowie Bernhard Schwertfeger, Hindenburgs Tod und der Eid auf den Führer, in: Die Wandlung 3 (1948), S. 563 ff. 279 Artikel 2 des Ermächtigungsgesetzes besagte nämlich, daß „die von der Regierung beschlossenen Gesetze von der Reichsverfassung abweichen (können), soweit sie nicht die Einrichtung des Reichstages und Reichsrates zum Gegenstand" haben und die Rechte des Reichspräsidenten berührten. Hierzu Krausnick, Vorgeschichte, S. 237, Anm. 161. 280 Artikel 4 dieses Gesetzes lautete: „Die Reichsregierung kann neues Verfassungsrecht setzen." 278

(Vgl. Krausnick, ebd.) 281

Es ist unverständlich und nicht belegbar, Feiern zum 20. Jahrestag des

vorgesehenen

wenn

O'Neill,

meint, die für Anfang August hätten die Aufmerksamkeit der

S. 54,

Kriegsausbruches

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

134

Sie sahen daher nicht, daß, als Hindenburg am 2. August starb, die höchste, vor allem die letzte unabhängige Reichsinstitution und damit der vornehmste Garant für die Unabhängigkeit der Streitkräfte dahingeschwunden war. Hitler war damit zum Obersten Befehlshaber der Streitkräfte geworden. Die Möglichkeit, auch gegen oder über den Regierungschef hinweg als ultima ratio an den Präsidenten als den Obersten Befehlshaber zu appellieren, war nicht mehr gegeben. Die Reidiswehrführung sah aber wohl mehr die Vereinfachung der politischen Szenerie und damit auch die Verringerung der Faktoren, deren sie sich zur Durchführung ihrer Politik versichern mußte. Demgemäß liehen Blomberg und Reichenau die Hand zu einem weiteren staatsstreichähnlichen Akt, der für das Schicksal der deutschen Streitkräfte entscheidend und verhängnisvoll282 werden sollte. Der Reichswehrminister ordnete auf die Nachricht vom Tode Hindenburgs hin die sofortige Vereidigung der Offiziere und Soldaten der Reichswehr auf den „Führer Adolf Hitler" an283. Wie es scheint284, war darüber bereits vorher, wohl am 1. August, eine entsprechende Vereinbarung zwischen Blomberg und Hitler getroffen worden. Schon die Schnelligkeit, mit der am 2. August bereits die Vereidigung bei den Truppenteilen vorgenommen wurde, läßt auf eine entsprechende technische Vorbereitung schließen. Fest steht auch, daß der General v. Reichenau mit ungebührlicher Eile die neue Eidesformel einem seiner Mitarbeiter, dem damaligen Major Hermann Foertsch, diktiert hat, ohne sich über die staatsrechtliche Relevanz und Rechtmäßigkeit hinreichend orientiert zu haben285. Jener Offizier, dem Reichenau damals die Eidesformel diktierte, schrieb: „Es scheint so, als ob sich in der Wehrmachtsführung niemand besondere Gedanken gemacht hat über die staatsrechtliche Grundlage dieses Befehls286." Im Kabinett wurde die Angelegenheit weder beraten noch beschlossen, sondern Blomberg tat diesen Schritt, „der das politische Gefüge Deutschlands tief und nachhaltig berührte", lediglich aufgrund seines ministeriellen Verordnungsrechtes287. Zweifellos war die Neufassung des Eides und die überhastete Vereidigung der Streitkräfte lediglich auf Anordnung des Ministers ungesetzlich, da dies dem geltenden Vereidigungsgesetz widersprach und ohne gesetzliche Grundlage erfolgte; es war ebenso zweifelsfrei verfassungswidrig, da die Reichswehr nie auf den Reichspräsidenten, sondern auf die Verfassung vereidigt worden war288.

Obersten

Reidiswehrführung von den Folgen der jüngsten innerpolitischen Auseinandersetzungen abgelenkt. Genau das Gegenteil war der Fall. Vgl. auch das in Kap. IV Ausgeführte). 282 Vgl. Manstein, S. 211. 283 Foertsch, S. 64; Krausnick, Vorgeschichte, S. 237.

Papen, S. 377 f. Foertsch, S. 64 und S. 230; neuerdings Röhricht, S. 76, wonach Reichenau von Foertsch und Röhricht je einen Entwurf erbat, dann aber seine eigene Version diktierte. Röhricht überliefert, ebd., auch einen Ausspruch Foertschs, der dessen Auffassung von der Relativität des Eides nach dem Sturz der Monarchie und dem Tod der Republik widerspiegelt. 286 284

285

Foertsch, ebd.

287

Erfurth,

S. 164.

Karl-Othmar Frhr. v. Aretin, Der Eid auf Hitler. Eine Studie zum moralischen Verfall des Offizierkorps der Reichswehr, in: Politische Studien 7 (1957), S. 1 und S. 11. Vgl. auch Hoßbach, 288

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

135

Blomberg und Reichenau wußten indessen sehr genau, was sie taten, als sie die Reichswehr auf die Person des „Führers" vereidigten. Zwei Faktoren bestimmten dabei ihre Motivation: einmal war dieser personale Bezug des Eides ein Aufnehmen traditionalistischer Vorstellungen aus der Zeit der Monarchie. Mögen die beiden verantwortlichen Männer selbst auch vielleicht nicht mehr bewußt oder unbewußt durch derartige Reminiszenzen bestimmt worden sein, von der monarchischen Nostalgie weiter Teile des Offizierkorps durften sie überzeugt sein. Hat doch der Chef der Heeresleitung später auf einer Befehlshaberbesprechung geäußert289, die Vereidigung auf Hitler begründe ein ähnliches Verhältnis wie zum Kaiser. Die Argumente und Motive, die späterhin im Kriege zahlreiche Offiziere daran hinderten, sich von Hitler loszusagen, beweisen ebenfalls, daß der personale Bezug des neuen Eides im Offizierkorps eine innere Aufnahmebereitschaft im Sinne der überkommenen Vorstellung von einem auf gegenseitiger Achtung und Vertrauen begründeten Verhältnis zwischen Oberstem Kriegsherrn und Armee hervorgerufen hat290. Sodann war bei der Reichswehrführung ein politisch-machttaktisches Element mit im Spiel. Der neue Eid war nichts anderes als ein erneuter Ausdruck der Usurpationspolitik Blombergs und Reichenaus, deren Element unter anderem ein betonter „Hitlerismus" im Sinne einer speziellen Entente mit Hitler, nicht aber mit der Partei war. Das spricht aus jener Rechtfertigung des neuen Eides, die Blomberg in seinen Memoiren gibt, in denen er schreibt291 : „Wir hatten im Oberkommando den Fahneneid geformt, ohne einen Auftrag des Führers dazu zu haben und ohne daß wir ihn um Rat gefragt hätten. Er hatte wohl Vertrauen zu unserem Wollen und Weg. Wir schwuren den Fahneneid auf Hitler als den Führer des deutschen Volkes, aber nicht als Haupt der nationalsozialistischen Partei. Niemand dachte daran, daß unser Fahneneid auf einen Pflichtenbund mit der nationalsozialistischen Partei hinauslaufen sollte." Hitler sollte durch diese Demonstration des Vertrauens dazu veranlaßt werden, sich um so mehr auf die ihm nunmehr eidlich verpflichtete Reichswehr zu stützen, die so hoffte die Reichswehrführung dadurch ihrerseits erhöhtes Gewicht in Hitlers Staat gewinnen würde. Daß dieser zu einem guten Teil eindeutig machttaktische „Hitlerismus"292 nicht nur bei Blomberg und Reichenau, sondern auch bei an-

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Oberbefehl, S. 108, und ders., Hochverrat und Eidbruch am 2. 8.1934?, in: Lüneburger Landesvom 19. 8.1949. zeitung 289 Liebmann-Notizen, Bl. 81 (Besprechung vom 12.1. 35). seo Ygj Reichenaus diesbezügliche Überlegung bei Foertsch, S. 64. 291 Zitiert bei Erfurth, S. 164 f. Der Band 3 der handschriftlich hinterlassenen Memoiren Blombergs, der die Zeit von 1933-1938 behandelt, ist unauffindbar; Erfurth hat ihn offensichtlich noch einsehen können. Im Militärarchiv/Bundesarchiv, wo die Blomberg-Memoiren aufbewahrt werden, fehlt dieser Band (BA/MA H 08-52/1-7). 292 Es ist im übrigen auch bezeichnend, daß Foertsch, der enge Mitarbeiter Reichenaus und be-

Propagandist der Konzeption von der „Wehrmacht im nationalsozialistischen Staat" (so eine Broschüre aus seiner Feder, Hamburg 1935), nicht über den umstürzend neuen Eidbezug auf die Person Hitlers stutzte bei seinem Einwand während des Diktates (vgl. Foertsch, S. 64), sondern über die „vom Nationalsozialismus doch nicht mehr im alten Sinne gewertet [en]" Formeln „bei Gott" und „heiliger Eid". Diesen Einwand hätte Foertsch bereits eher machen können, denn seit Dezember 1933 schworen neu eintretende Soldaten schon einen Eid mit dieser Formel. Dazu redte

136

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

deren Offizieren vorhanden war, zeigt die Überlegung eines durchaus kritischen jüngeren Offiziers, der danach meinte, daß die Eidesleistung eine auch Hitler verpflichtende Bindung darstellen könne, welche ihn veranlaßte, sich „um so mehr auf uns [zu] stützen zum Wohle der Weiterentwicklung"203. Und Fritsch zog bei der erwähnten Befehlshaberbesprechung aus seinem angeführten Vergleich „Hitler Kaiser" den Schluß, daß damit die Person des Führers aus kritischen Beurteilungen, wie er selbst sie sich häufig gegenüber der Partei erlaubte294, ausscheide295. Die verhängnisvolle Kurzsichtigkeit dieser Politik der Reidiswehrführung wird gerade an der Episode der Vereidigung besonders offenkundig. Dieser Eid auf den „Führer" unter Anrufung Gottes verpflichte den Soldaten fortan zu „unbedingtem Gehorsam", was es in der Reichswehr bisher nicht gegeben hatte und was auch moralisch und menschlich eine unter Umständen kaum tragbare Zumutung darstellte296. Wie reagierte nun das Offizierkorps auf die doch außergewöhnliche Tatsache dieser Vereidigung? Der Chef der Heeresleitung scheint wie bereits angedeutet keine besonders starken Bedenken gehabt zu haben. Er bemühte sich vielmehr durch den von ihm den Befehlshabern vor Augen geführten Vergleich Hitler Kaiser die neue, unnötige und illegale Eidesleistung, wenn nicht zu rechtfertigen, so doch zu interpretieren, um sie verständlich und damit annehmbar zu machen. Das war mehr als eine nur pflichtgemäße Deklaration. Die Tatsache, daß Fritsch auch General Beck, den Chef des Truppenamtes, der starke Bedenken hatte, zu dem neuen Eid auf Hitler persönlich überredete297, läßt die Vermutung, der Chef der Heeresleitung habe die Vereidigung auf Hitler gutgeheißen, zur Gewißheit werden298. Immerhin hat, wie das Beispiel Beck lehrt, der Hitler-Eid bei wachen Geistern im Offizierkorps starke Bedenken hervorgerufen. Beck hat späterhin noch schwere Skrupel gehabt und den Tag der Vereidigung „als den schwärzesten Tag seines Lebens" angesehen209. Guderian, ein bestimmt ganz militärisch denkender und Hitler kaum mit grundsätzlicher Kritik gegenüberstehender Offizier, schrieb damals seiner Frau: „Morgen werden wir den -

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Im übrigen führte Blomberg nach Hoßbach, S. 12, nach der Beisetzung Hindenburgs für die Soldaten offiziell die Anrede „Mein Führer" ein. 293 Stieff-Brief vom 12. 8. 34, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2 (1954), S. 297. 294 Vgl. dazu O'Neill, S. 28. 295 Vgl. oben Anm. 289 dieses Kapitels. 298 Zur Problematik vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 238 f., sowie die ebd. S. 239, Anm. 167, aufgeführte Literatur. O'Neill, S. 61, verkennt die Problematik und verharmlost sie daher. 297 Vgl. die Aussagen von Becks Bruder, zit. bei Foerster, S. 27, und von Gisevius im Nürnberger Prozeß, IMT XII, S. 266. Fritsch soll Beck u. a. gesagt haben, daß ein solcher Schritt „auch von der Wehrmacht nicht verstanden worden wäre, da doch schon damals eine ganze Reihe hoher Generale sich hinter Hitler gestellt und die wenigsten sich über die Konsequenzen klar gewesen seien, die die Vereidigung auf die Person Hitlers nach sich ziehen konnte". 298 Das lag auch ganz in der Linie des „Hitlerismus" des Chefs der Heeresleitung, wie es noch aus seiner Aufzeichnung vom 1.2.38, insbesondere aus den von Hoßbach nicht zitierten Passagen, spricht. Fritsch nahm laut Hoßbach, S. 10, Anm. 1, die Vereidigung der Offiziere der Heeresleitung selbst vor. 299 IMT XII, S. 266 (Gisevius-Aussage).

Aretin, S. 11.

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Eid auf Hitler leisten. Einen folgenschweren Eid! Gebe Gott, daß er beiderseits mit der gleichen Treue gehalten wird zum Wohle Deutschlands. Die Armee ist gewohnt, ihren Eid zu halten. Möge sie es in Ehren tun können300." Ein anderer Generalstabsoffizier bezeugt301, daß bei der Vereidigung der Offiziere der Heeresleitung „allgemein [eine] recht bedrückte Stimmung" geherrscht habe. Das alles beweist die starken Bedenken302 mancher Offiziere. Worauf gründeten sich diese aber? Beck hat später bemerkt, er habe in dem Vereidigungsbefehl „eine Überrumpelung" gesehen. Aber sollte das der einzige Grund gewesen sein, der ihm die dann infolge Fritschs Intervention doch nicht durchgeführte Absicht eingab, sofort zurückzutreten? Vermutlich waren es doch gewichtigere Gründe, von denen er nicht berichtete. Nur von zwei anderen Offizieren wissen wir die Ursachen ihrer Bedenken. Der Standortälteste und Wehrgaubefehlshaber in Nürnberg, General Stephanus ein ausgesprochener Gegner des Nationalsozialismus -, verweigerte die Eidesleistung mit der Begründung, der Kaiser habe ihn einst vom Eid entbunden, daher konnte er der Republik den Eid schwören, diesen dem Reich geleisteten Eid aber gedenke er weiterhin zu halten, daher sehe er keine Notwendigkeit einer erneuten Vereidigung303. Der junge Hauptmann Stieff hatte stärkste „Bedenken in bezug auf die Herauslassung der Begriffe Volk und Vaterland"; und er vermochte diese Bedenken kaum mit der Überlegung zu überwinden, „daß damit ein sehr verpflichtendes Gegengewicht gegen den Wahnsinn der Einparteienherrschaft geschaffen" werde304. Hier haben wir im Grunde wieder die Symptome der seit 1918 aufgebrochenen Existenzkrise im Offizierkorps. Stephanus (und vielleicht auch Beck) die Älteren haben Hemmungen, gemäß der von Fritsch angezogenen Parallele, Hitler als Ersatz für den verlorenen Monarchen zu akzeptieren; der Jüngere dagegen, Stieff, dem die Monarchie nicht mehr bestimmendes Erlebnis war, vermißt den Bezug auf „Volk und Vaterland"; seine Bedenken sind angesichts der von ihm abgelehnten Einparteienherrschaft und der Ersetzung jener patriotischen Wertbegriffe durch die Person des „Führers" sehr viel politischer. Alles in allem wäre festzustellen, daß bei einem Teil der Offiziere Bedenken aufkeimten, die jedoch, von völlig singulären Ausnahmen abgesehen, zu keinen Konsequenzen führten. Was hätten dies auch für Konsequenzen sein können? So blieb es bei Unbehagen, Bedenken und zwiespältigen Gefühlen. Die Mehrzahl der Truppen-Offiziere aber wird die ...

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Guderian, S. 28. Wagner, S. 67 (Brief an seine Frau vom 2. 8. 34). 902 Interessant ist die von Konrad Leppa, Generalfeldmarschall Walter Model. Von Genthin bis vor Moskaus Tore, Nürnberg 1961, S. 76, berichtete Episode, nach welcher der damalige Oberstleutnant Model, als bei dem Infanterieregiment 2 der Vereidigungsbefehl eintraf, bemerkt haben soll: „Kleiner Staatsstreich!" 303 Nach Mitteilung des Sohnes von Stephanus, Brigadegeneral Konrad Stephanus, an das 399 801

MGFA vom 29. 8. 1963. Im Soldbuch des Generals a. D. Stephanus ist auch kein Vereidigungsvermerk enthalten. (Soldbuch lag dem Verfasser vor.) 894 Stieff-Brief vom 12. 8. 34, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2 (1954), S. 297. Stieff fährt dann aber fort: „Es ist, wie gesagt, nur eine Hoffnung, ohne die man überhaupt nicht weiterkäme. Vielleicht ist es auch ein Selbstbetrug."

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III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

mit der Eidesleistung gegebene Problematik kaum klar erkannt haben305. Zudem wird eine obendrein überstürzt und überraschend durchgeführte Vereidigung, noch dazu in einem Augenblick, in dem kein unmittelbarer Anlaß zu krisenhafter Zuspitzung eines Gewissenskonfliktes gegeben war, kaum Anstoß und Möglichkeit zu vertiefter Reflektion bieten306. Außerdem hatte wohl auch Hitlers Rede vom 13. Juli307 beruhigend gewirkt, in der er die traditionelle Prärogative der Armee nochmals beschwor308 und mit scheinbarer Großzügigkeit zugab, er könne von Offizier und Mann nicht fordern, „daß sie im einzelnen ihre Stellung zu unserer Bewegung finden"300. Vor allem aber schien er, als er Ende August der Wehrmacht und ihrer Führung für den geleisteten Treueid in einem Briefe an Blomberg dankte, gleichsam eine Gegenverpflichtung eingegangen zu sein, indem er schrieb: „Heute, nach der erfolgten Bestätigung des Gesetzes vom 2. August, will ich Ihnen und durch Sie der Wehrmacht Dank sagen für den mir als Ihrem Führer und Oberbefehlshaber geleisteten Treueid. So, wie die Offiziere und Soldaten der Wehrmacht sich dem neuen Staat in meiner Person verpflichteten, werde ich es jederzeit als meine Pflicht ansehen, für den Bestand und die Unantastbarkeit der Wehrmacht einzutreten in Erfüllung des Testamentes des verewigten Feldmarschalls und getreu meinem eigenen Willen, die Armee als einzigen Waffenträger in der Nation zu verankern310." Man hat richtig darauf hingewiesen, daß mit dem Hitler-Eid „der Schlußstrich unter einen Zeitabschnitt gezogen [wurde], in dem sich die Reichswehr mit einem gewissen Recht als sinnfälliger Ausdruck der Staatsidee als eines überpersönlichen Ethos begriff"311. Mehr noch, fortan war eine Unterscheidung zwischen den Forderungen des Gemeinwohls und dem Willen des Führers kaum mehr möglich, ohne formal den Tatbestand des Eidbruches zu erfüllen. Es wurde auch die Erkenntnis einer möglichen Diskrepanz zwischen Gottesgebot, Gemeinem Wohl und den Postulaten der allgemeinen Menschenrechte einerseits und dem „Führerbefehl" andererseits erschwert und damit eine Befehlsverweigerung unter Berufung auf höhere Wertbindungen fast unmöglich gemacht. „Es ist die Eidesformel, die keine Vorbehalte, keinen Ausweg in sich schließt", formulierte es eine offiziöse Schrift über „Die Wehrmacht im nationalsozialistischen Staat"312. Es ist allerdings schwer verständlich, wenn ein an so hoher Stelle stehender, intelligenter Offizier wie Raeder dazu schreibt: leistete ich ihm den Eid. Bedenken kamen für mich nicht in Frage." (Raeder, Bd I, S. 290.) so« Ygl. auch Mansteins Frage (S. 215), mit welchem formalen Recht der Soldat die Eidesleistung damals hätte verweigern können und dürfen. Für den Truppenoffizier und die Provinzgeneralität sehr verständnisvoll die einfühlenden Darlegungen bei Hans-Bernd Gisevius, Adolf Hitler, Versuch einer Deutung, München 1963, S. 301-303. 397 Schultheß, 1934, S. 219 f. Vgl. auch Röhricht, S. 70. 308 Nämlich „einzige Waffenträgerin der Nation" und „unpolitisches Instrument". 309 Mau, S. 137, dazu: „Niemals wieder ist er zu einem solchen Zugeständnis bereit gewesen, das der offiziellen Fiktion widersprach, daß alle Deutschen Nationalsozialisten seien." 319 Vgl. Anm. 311. 311 So Krausnick, Vorgeschichte, S. 238. 312 Foertsch, Die Wehrmacht im nationalsozialistischen Staat, S. 29. Darin setzt sich der Verfasser u. a. mit dem Vorwurf auseinander, die Reichswehr sei durch den Eid zu einem Parteiinstrument und zu einer politischen Truppe gemacht worden. Das könnte so wäre zu vermuten auf 305

„...

...

...

-

-

III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

139

Aus der Eidesbindung der Streitkräfte und Hitlers Usurpation des Reichspräsidentenamtes resultierten fortan entscheidende Erschwerungen für jegliche Oppositionsimpulse313. Die gewissenhaft Wachen mußten in schweren inneren Kämpfen erst ihre christliche und moralische Substanz aktivieren, um zu erkennen, daß trotz eines bei Gott geschworenen Eides das vor Gott geprüfte Gewissen auch einem auferlegen kann, nicht zu gehorchen; jenen, die dem Drängen entschlossener Freunde und Kameraden oder dem Anruf des Gewissens sich verschlossen, bot dieser Eid die Möglichkeit einer subjektiv vielleicht aufrichtigen und scheinbar moralisch fundierten Ablehnung oder eines Ausweichens; wieder anderen verdunkelte er angesichts einer verbrecherischen Staatsführung die Einsicht in die Forderungen von Moral und Vernunft. Sogar jene, welche die Maskerade des Bösen durchschauten, verstrickte er in schwere Gewissenskämpfe, die ihren Tatwillen lähmten. So sollte dieser Eid vielen eine unüberwindbare Schranke, mindestens aber eine qualvolle, kaum zu lösende Fessel bedeuten314. Im Rückblick wird man den Sommer 1934 nicht anders als ein Jahr großer und folgenschwerer Entscheidungen bezeichnen müssen: Hitler war es gelungen, seine persönliche Machtstellung Kernstück des totalitären Führerstaates nicht nur zu festigen, sondern auch in entscheidendem Maße auszuweiten. Er hatte innerhalb der Bewegung seine unumschränkte Macht endgültig etabliert, potentielle Gegner auf konservativer Seite ausgeschaltet und sich die oberste Verfügungsgewalt über die Streitkräfte institutionell gesichert. Die Überwindung der akuten Regimekrise mündete somit in eine bedeutende Machtkonsolidierung ein. Die Position der bewaffneten Macht war dementsprechend schwächer geworden. Mochte auch die Reichswehrführung zunächst annehmen, daß die Machtstellung der Reichswehr durch die Ausschaltung der gefährlichen SA-Konkurrenz verstärkt und mit der Vereidigung auf Hitler ein enges, vertrauensvolles Verhältnis zwischen Kanzler und Armee hergestellt worden sei, mochte weitgehend das Gefühl der Zufriedenheit und Genugtuung über die Überwältigung der SA vorherrschen, tatsächlich hatte die Reichswehr in mehrfacher Hinsicht einen bedeutsamen Machtschwund erlitten. -

-

eventuelle reichswehrinterne Kritik hindeuten. (Vgl. dazu Aretin, S. 18). Vgl. auch spätere Auflagen: Hermann Foertsch, Der Offizier der deutschen Wehrmacht, Eine Pflichtenlehre, Berlin '1941. 313 Was dies u. a. bedeutet, wird offenbar, wenn man sich erinnert, in welchem Maße die konservative Opposition gerade auf den Reichspräsidenten und seine Machtbefugnisse ihre Pläne aufgebaut hatte. Jetzt besaßen potentielle Oppositionskräfte nicht mehr die Möglichkeit, etwa über den Kopf der Reichswehrführung hinweg durch Appell an den Reichspräsidenten die bewaffnete Macht einigermaßen legal unter Umständen zum Einsatz zu bringen. 314 Vgl. dazu die Aussage des Majors v. Leonrod vor der Gestapo nach dem 20.7.44: „...Als mir im Dezember 1943 der Oberst Graf von Stauffenberg gelegentlich einer Besprechung mitgeteilt hatte, daß ein Attentat auf den Führer geplant sei, hatte ich ihm gegenüber eingewandt, daß ich immerhin als Offizier durch meinen Eid gebunden sei. Stauffenberg versuchte mich davon zu überzeugen, daß in einem derartigen Falle und in einer derartigen Notlage auch ein an und für sich als heilig anzusehender Eid nicht mehr heilig sei. Als gläubiger Katholik sei ich auf Grund der Ausführungen über die militärische und politische Lage schon gewissensmäßig verpflichtet, entgegen diesem Eid zu handeln ." (Kaltenbrunner-Berichte, S. 262.) .

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III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

140

Unterdrückung und Dezimierung des konservativen Flügels waren ihr nicht unwichtige Bundesgenossen verlorengegangen, der Tod des Reichspräsidenten und das

Mit der

faktische Erlöschen dieses Amtes hatte sie eines bei aller Schwäche und Problematik doch wichtigen Refugiums beraubt; durch die Ämterkumulation in der Person Hitlers war ihre höchste Spitze „nazifiziert" worden, mochte diese Tatsache

vorerst

auf Grund des bei der

Reichswehrführungsspitze herrschenden „Hitlerismus" auch nicht erkannt werden. Mindestens ebenso wichtig waren die „inneren" Verschiebungen und Wandlungen in der Reichswehr. Der Hitler-Eid bedeutete eine extreme Einschränkung des inneren Spielraumes und der Entscheidungsmöglichkeiten. Die politisch-faktische wie die moralische Verstrickung bei der Röhm-Affäre lag in der bewußten oder unbewußten Teilhabe und Mitwisserschaft höchster Funktionsträger der Reichswehr wie des Heeres während der Vorbereitung und Durchführung der Aktion, lag in der Hinnahme, sogar im Rechtfertigungsversuch der Ermordung Unschuldig-Unbeteiligter, insbesondere zweier Kameraden315, lag in der Hilfestellung für die SS, lag in der Initiative und aktiven Mithilfe bei der Selbstfesselung durch den Eid auf Hitler. Vom Offizierkorps konnte in den Fällen Schleicher-Bredow nicht durchgesetzt werden, „was Ehre und Kameradschaft forderten", weil die legitimierten Vertreter sich mit in jene Machenschaften verstrickt sahen. Darin zeigten sich die für das Offizierkorps318 verheerenden politisch-moralischen Konsequenzen jener von der Reichswehrführung getragenen, von der Heeresleitung mindestens in wesentlichen Momenten akzeptierten Politik. Schon einmal bei der Einführung des Arier-Paragraphen waren die Interessen und die Wertprinzipien des Offizierkorps ignoriert worden; dieser Prozeß schritt jetzt in noch ernsterem Maße fort. Es zeigte sich erneut, daß jene Wertprinzipien wohl noch individuell prägende, aber keine generell normierende, formende und damit vor allem schützende Wirkung mehr hatten, daß sie in außergewöhnlichen Augenblicken sich als nicht mehr -

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verbindlich erwiesen317. Allerdings ist ebenfalls nicht

zu

übersehen, daß die Ereignisse

vom

Sommer 1934

gerade

315

Vgl. Mau, S. 137: „Macht und Gewalt haben sich unwiderruflich verbunden." Manstein, S. 196. Scheurig, S. 144 f., schreibt in Wiedergabe der Ansichten Ewald v. Kleists dazu: „Die Armee aber hatte seit dem 30. Juni 1934 ihre Ehre eingebüßt... hatte... als Spießgeselle Schmiere gestanden. Statt die hingemeuchelten Generale von Schleicher und von Bredow zu rächen, hatte sie bedrückt und schuldbewußt geschwiegen. Diese Verstrickung hatte sie entwürdigt und befleckt; Damit drohten die letzten Fundamente zu zerbrechen, auf die Kleist 316

...

noch gesetzt hatte." Fortan hat der tief erbitterte altkonservative Kleist in seinem Groll bisweilen die Formulierung benutzt: ehrlos wie ein preußischer Offizier ..." 317 Man wird sich der Warnung Mansteins in diesem Zusammenhang erinnern, die dieser einige Wochen zuvor aus Anlaß der Einführung des Arierparagraphen ausgesprochen hatte: „Ein Verstoß auf dem Gebiet des Ethischen muß sich in jedem Fall einmal rächen Es mag sein, daß das „...

...

Preisgeben

dieser wenigen Soldaten vielleicht momentane Schwierigkeiten beseitigen wird. Es bleibt aber stets eine moralische Schuld, die wie jede Schuld einmal bezahlt wird! Es kann der erste Schritt auf einem Wege sein, der das Vertrauen in die Führung des Heeres, in den ehrlichen Zusammenhalt innerhalb der Armee erschüttert und das Ehr- und Treuegefühl zerstört. Am Ende dieses Weges kann der Augenblick stehen, wo.. das mühsam aufgebaute Heer auseinanderläuft, weil es in seinen ethischen Grundlagen erschüttert worden ist." ...

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III. Röhm-Affäre und Eid auf Hitler

141

Entwicklungen in Gang gesetzt haben, die, mehr und mehr sich vertiefend, fortwirkten. Die bei allen Vorbehalten im einzelnen doch prinzipiell unreflektierte, selbstverständliche Unbefangenheit, die optimistisch-positive Einstellung mancher Offiziere gegenüber dem „nationalen Umbruch" der Chef der Heeresleitung und sein Chef des Truppenamtes sind diesbezüglich eindrucksvolle Beispiele318 wurde durch die Erfahrungen jener Periode spürbar angeschlagen. Immer noch bestand aber die unpolitische Illusion fort, man könne zwischen den „minderwertigen", gar verbrecherischen Elementen, die soeben erst am 30. Juni 1934 wieder ihr Wesen getrieben hatten, und dem „lauteren, idealistischen Wollen des Kanzlers" trennen319. Gerade die Ereignisse um den sogenannten „Röhm-Putsch" gaben dieser Illusion im individuellen Bereich

-

-

Nahrung. Hatte nicht Hitler sich auf die Seite der Reichswehr gegen die gefährlichen SA-Elemente gestellt320? Würde er sich nicht auch eines Tages ebenso gegen die Urheber neue

und Exekutoren der am 30. Juni sich offenbarenden „Tscheka-Methoden" wenden? Könnte er sich nicht auch, wie jetzt gegen die SA, so in Zukunft gegen die bedenklich aufstrebende SS wenden? Daher trieb das Erlebnis jener erschreckenden Ereignisse keineswegs zur Opposition gegen das Regime321, wohl aber zu entschiedener Ablehnung, sogar zu bisweilen leidenschaftlichem Antagonismus zu SS, SD und Gestapo, deren Aktivität obendrein alsbald als bedrohlich empfunden wurde. So mischten sich aufkeimende Skepsis mit alten und neuen Illusionen, partielle Ablehnung mit Vertrauen in die oberste Führung. Zu dem Vertrauen in die eigene Stärke gesellte sich bedenkenvolle Ernüchterung. Intern begannen seit dem Sommer 1934 innerhalb der Reichswehr Differenzierungen und Differenzen zu entstehen. Ihre psychologische Grundlage hatten sie nicht zuletzt in den Erfahrungen, die der Chef der Heeresleitung vor und während der Ereignisse des 30. Juni gemacht hatte. Sachlich rührten sie von der sich fortan unterschiedlich entwickelnden Auffassung über die Haltung zu gewissen innerpolitischen Fragen her, ohne daß man allerdings immer gleich von grundsätzlicher Meinungsverschiedenheit sprechen dürfte. Immerhin begannen erst jetzt jene Meinungsverschiedenheiten zwischen Heeresleitung und Reichswehrführung, die späterhin ein ebenso charakteristisches wie verhängnisvolles Element der inneren Entwicklung und damit auch für das äußere Schicksal der Armee werden sollte. Nach all dem ist es nicht erstaunlich, wenn sich dem Betrachter für die folgenden Jahre ein sehr uneinheitliches Bild des Verhältnisses von Heer und nationalsozialistischem Regime bietet.

Beispielhaft ist auch die Entwicklung Osters, vgl. Graml, Der Fall Oster, S. 30 f.: „Am 30. Juni sind jene den Weg zum Widerstand für Oster versperrenden Schranken zum ersten Mal 1934 stärker angesplittert worden." Für Beck und Fritsch vgl. Foerster, S. 26 f. 319 So Halder in einem Brief an Beck vom 6. 8. 34 (zit. nach Foerster, S. 27 f.). Zur differenzieren318

...

deren

Interpretation dieses Briefes vgl. das folgende Kapitel. Vgl. z.B. Groos, S. 19: Hitler schien „bewiesen zu haben gen von ihm nicht mehr geduldet werden würden." 321 Vgl. Graml, Der Fall Oster, S. 31. 320

.

..,

daß revolutionäre Ausschweifun-

IV. ZEIT DER SPANNUNGEN UND ILLUSIONEN

Innenpolitische Probleme 1934-1937

Wenn die Reichswehr und ihre Führung nach den Ereignissen um den 30. Juni gehofft haben sollte, mit der Lösung des SA-Problems seien alle oder doch wenigstens die größten Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt, so war dies eine Täuschung. Die folgenden drei Jahre erwiesen sich vielmehr als eine Zeit der Spannungen und Konflikte, der Differenzen und Illusionen. Hierin wurde ein grundsätzliches Phänomen deutlich: die Konfrontation des Konzeptes der Reidiswehrführung von der Rolle der Armee im neuen Staat mit dem totalitären Anspruch der nationalsozialistischen Bewegung, deren Expansionsstreben nach der blutigen „Erledigung" innerpolitischer und innerparteilicher Rivalitäten sich nunmehr erneut und nachdrücklich bemerkbar machte. Das Konzept der Reidiswehrführung wurde damit im Grunde viel stärker, wenn auch anfangs nicht so direkt, gefährdet und grundsätzlich in Frage gestellt, als es bei dem Konflikt mit der SA der Fall gewesen war. Das Totalitätsstreben der Hitler-Bewegung mußte mit innerer Notwendigkeit zu einem Zusammenprall mit der Reichswehrführung führen, solange deren Führung an einer eigenständigen Position der Streitkräfte festhielt1. Zwei Elemente komplizierten die Situation. Einmal wurde der totalitäre Entfaltungsprozeß der nationalsozialistischen Bewegung von sehr verschiedenen Kräften getragen, die durchaus nicht immer in ihren Vorstellungen und Tendenzen übereinstimmten. Vielmehr gewann dieser Prozeß gerade dadurch seinen besonderen Charakter, daß unterhalb der seit dem 30. Juni 1934 fest etablierten Parteispitze einzelne Gruppen und Persönlichkeiten um Macht und Einfluß rangen2. Das verwirrte den betroffenen Zeitgenossen und war geeignet, ihm die Sicht auf den eigentlichen Entwicklungsprozeß zu verstellen, dessen

Begleiterscheinungen derartige Auseinandersetzungen

waren.

Das Vertrauen

zu

Hitler,

der wie es schien am 30. Juni doch für die Reichswehr, gegen die „Radikalen" innerhalb seiner Bewegung optiert hatte, der stets neue feierliche Versicherungen über die tragende Rolle der Wehrmacht im neuen Reich abgab3, sowie die Tatsache, daß das Verhältnis der Reidiswehrführung zu einzelnen Persönlichkeiten und Gruppen der Hitlerbewegung von aufrichtigem Vertrauen über alle Zwischenstufen bis hin zur feindseligen Ab-

-

1 Foertsch, S. 59, bringt diese Entwicklung auf die Formel vom Gegensatz „zwischen der revolutionären Welt des Nationalsozialismus und der konservativen Welt des Soldaten". Bei dieser Formulierung kommt die Tatsache, daß hier zwei politische Konzepte bzw. Ansprüche aufeinnicht recht zum Ausdruck. anderprallten, 2 Hierzu sehr aufschlußreich Gisevius, Hitler, S. 368 f. 3 Die Tatsache, daß zahlreiche Militärs trotz offensichtlichen Machtschwundes der Armee sich wieder und wieder von rhetorischen Versicherungen und zugestandenen Äußerlichkeiten über ihre tatsächliche Situation täuschen ließen, ist historisch und psychologisch erklärbar bei einem Stand, der, unpolitisch wohl, aber in dieser unpolitischen Haltung eben durch seinen einmaligen Bezug auf die Krone privilegiert und durch Äußerlichkeiten hervorgehoben worden war.

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

143

lehnung sich auffächerte, trugen dazu bei, daß in der Reichswehr der totalitäre Expansionsprozeß gar nicht erkannt wurde, daß die Reichswehrführung die Infragestellung ihres Konzeptes durch bestimmte nationalsozialistische Gruppen und Kräfte gar nicht in ihrer prinzipiellen Tragweite begriff. Zwar stellten diese Kräfte gewiß nicht „die" NSBewegung dar, sie repräsentierten aber jeweils gerade den Trend des expansiven Totalitarismus. In der Bendlerstraße hielt man für Machtstreben und Übergriffe einzelner NSProminenter oder einzelner Gruppen, was tatsächlich die Grundtendenz des sich entfaltenden und konsolidierenden totalitären Herrschaftssystems war4. Sodann und das war ebenso bestimmend für die weitere Entwicklung des Verhältnisses von Regime und Reichswehr kam es angesichts der Herausforderung zu internen Differenzen innerhalb der Reichswehr, vornehmlich zwischen Reichswehrführung und Heeresleitung. Sie entstanden über die Frage5 nach den angemessenen Reaktionen auf die expansiven Bestrebungen der Partei. Aufschlußreich ist es in diesem Zusammenhang, die bekannte Aufzeichnung des Generalobersten Freiherrn v. Fritsch vom 1. Februar 19386 unter der Fragestellung des Verhältnisses von Heeresleitung und Regime sowie zwischen Reichswehrführung und Heeresleitung zu untersuchen7. Das entscheidende Kernstück dieses Rückblickes, den später der gestürzte ObdH von seinem Verhältnis zu Reichswehrführung, NS-Staat, Partei in der Zeit seiner Amtsführung gibt, ist jener vielzitierte Satz: „Ganz unabhängig davon, daß die Grundlage unseres heutigen Heeres nationalsozialistisch ist und sein muß, kann ein Eindringen parteipolitischer Einflüsse in das Heer nicht geduldet werden8." Fritsch bejahte hiernach also den Nationalsozialismus, den nationalsozialistischen Staat; er lehnte jedoch jedes Eindringen „parteipolitischer Einflüsse" oder „Maximen"9 ab. Was verstand er unter diesen? Wohl kaum meinte er damit die von der Reichswehrführung betriebene ideologische Indoktrinierung; denn einmal erwähnt er sie überhaupt nicht; sodann kritisiert er Blomberg und Reichenau nicht wegen dieser Indoktrinierung, auch nicht wegen ihres allgemeinen politischen Konzeptes. Reichenau wirft er lediglich vor, er habe ihn aus dem Amt des Chefs der Heeresleitung verdrängen wollen10; Blomberg kritisiert er nur, weil dieser es duldete, daß sich der Chef des Wehrmachtamtes störend und trennend zwischen Reichswehrminister und Chef der Heeresleitung geschoben habe11. Weiterhin differieren Fritschs eigene ideologisch gefärbte Erlasse zwar in gewissen, recht charak-

-

Beispielhaft dafür ist Fritschs Aufzeichnung vom 1. 2. 38, zit. bei Hoßbach, S. 68 ff. Bezüglich des Chefs der Heeresleitung ist der psychologische Hintergrund dabei fraglos die Ernüchterung, die ihm die Einsicht brachte, daß er im Zusammenhang mit den Ereignissen des 30. 6. von Blomberg und Reichenau in peinliche und problematische Dinge verwickelt worden ist. 8 4

5

Ebd.

diesem Aspekt, soweit ich sehe, noch nicht geschehen ist. S. 70. 9 Ebd. Fritsch gebraucht den Ausdruck „parteipolitische Maximen" einen Satz zitierten und benutzt ihn nahezu synonym zu „parteipolitischen Einflüssen". 19 Hoßbach, S. 70. 7

Was

8

Hoßbach,

11

unter

Ebd.

vor

jenem oben

144

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

teristischen Nuancen von denen der Reidiswehrführung, sie stimmen jedoch mit diesen in der Grundhaltung, nämlich in einer prinzipiellen Bejahung des NS-Regimes und einem betonten „Hitlerismus", überein12. Was Fritsch vielmehr mit parteipolitischem Einfluß meinte, geht aus der Aufzählung seiner Gravamina hervor: Die Konkurrenzabsichten der Parteitruppen, erst der SA, dann der SS, deren „Verfügungstruppe" immer weiter ausgebaut worden sei. Weiterhin die „Hetze" von Parteiorganisationen er nennt vor allem die SS, den SD, die „Gestapo und verwandte Kreise" gegen das Heer und seinen Oberbefehlshaber; schließlich die Machenschaften gewisser NS-Größen wie Himmler und Göring gegen ihn selbst und das Heer13. Er kritisiert Reichenau und Blomberg nur, weil sie ihn nicht energisch genug unterstützt und geschützt hätten. Das grundsätzliche Konzept der Reidiswehrführung, den von ihr praktizierten „Hitlerismus", nennt er nicht; gegen diesen hatte er offensichtlich nichts einzuwenden. Was bedeutet dies? Es zeigt erstens, daß offenbar auch Fritsch nicht das in den von ihm kritisierten Tatbeständen zum Ausdruck kommende Totalitätsstreben des NS-Regimes erkannt hatte. Zweitens: trotz mancherlei Übereinstimmung auch im Grundsätzlichen, gab es über die angemessene und erforderliche Reaktion auf diese Tatbestände zwischen der Heeresleitung und der Reidiswehrführung tiefgehende Differenzen. Es ist einleuchtend, daß derartige interne Differenzen und Meinungsverschiedenheiten die Chance, die Herausforderung des totalitären Anspruches der NSDAP letzten Endes erfolgreich zu bestehen, verminderten. Sogleich nach dem 30. Juni 1934 begann das bei der Behandlung der Frage der nationalsozialistischen „Wehrverbände" offenkundig zu werden, andeutungsweise erst hinsichtlich der Haltung der Reichswehr zu dem geschlagenen SA-Rivalen, stärker sodann bei der Stellungnahme zu den nach dem 30. Juni 1934 auf den Plan tretenden bewaffneten SS-Verbänden. Das Verhalten der Reidiswehrführung gegenüber der SA unmittelbar nach den ereignisreichen Tagen der Röhm-Affäre zeigt das Siegesgefühl14, das sie in ihrer scheinbar nunmehr errungenen Position genoß. Die Truppe mußte alle etwa noch bestehenden Beziehungen zu SA-Einheiten abbrechen. Sämtliche militärischen Dienststellen erhielten die Weisung, jegliche Verhandlungen mit der SA zum Zwecke irgendwelcher Zusammenarbeit zu unterlassen. Für die Zeit der von Hitler befohlenen Umorganisation der SA habe die Zusammenarbeit zwischen Wehrmacht und SA vorerst zu ruhen15. Die im „Vorschlag" vom 28. Februar 1934 niedergelegten Richtlinien wurden suspendiert. Die Reidiswehrführung beobachtete die Durchführung der von Hitler befohlenen Entwaffnung der SA genauestens16. Schroff lehnte der Reichswehrminister Anträge des Reichsministers Heß -

-

12

Vgl. dazu die Ausführungen auf S. 189 ff. dieses Kapitels.

Hoßbach, S. 70-72. 14 Vgl. Doerr, S. 231. 15 MGFA/DZ WK VII/1295, Reichswehrminister Nr. 601/34 g.K. Ha vom 5. 7. 34 und Nr. 857/34 g.K. L Ha vom 16. 8. 34 sowie Wehrkreiskommando VII an Inf.Fü. und Art.Fü. VII vom 13. 7. 34 mit Weitergabe einer entsprechenden Anordnung des Reichswehrministers. 16 Ebd. WK VII/1295, Wehrkreiskommando VII, Funksprüche Ic vom 3. und 4. 7. 34. Dazu vgl. 13

auch ebd. Artillerieführer VII

vom

28. 8. 34

an

WK VII/Ib.

Gleichzeitig

wurde mit „Reichswehr-

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

145

und anderer Parteidienststellen ab, den Führerschulen der SA und der Gaue Handfeuerwaffen zu belassen17. Der Abbruch der Beziehungen in jeglicher Form bedeutete die vorerst völlige Ausschaltung der SA aus jeder vor- und nachmilitärischen Ausbildung sowie allen Grenzschutz- und Mobilmachungsvorarbeiten. Die Reichswehrführung erstrebte offensichtlich einen radikalen Neubeginn des Verhältnisses von Reichswehr und SA. Dieses sollte fortan durch die völlige Vorherrschaft der Reichswehr gekennzeichnet werden. Hierzu war es günstig, daß der Reichswehrführung eine sehr weitgehende Mitbestimmung bei der Neubesetzung der SA-Führerstellen im Rahmen der nach dem 30. Juni angeordneten Reorganisation zugestanden worden war. Die regionalen Reichswehrdienststellen erhielten demgemäß die Weisung, zwei Listen mit Namen derjenigen SA-Führer aufzustellen, deren Wiedereinsetzung auf Grund ihres früheren Verhaltens vom Standpunkt der Reichswehr aus unerwünscht war oder aber deren Weiterverwendung befürwortet wurde18. Diese Anordnung hatte zur Folge, daß jene Dienststellen mit größtem Eifer umfangreiche Listen unerwünschter SA-Führer aufstellten19. Überhaupt nutzten die örtlichen Reichswehrdienststellen und Truppenteile, wie es scheint, die Situation aus, um die verhaßte SA ihre Verachtung und Ablehnung spüren zu lassen20. Das aber war wiederum nicht im Sinne der Reichswehrführung. Reichenau sah sich daher bereits eine Woche später genötigt, zu bremsen und anzuordnen, „daß nur jene Führer von der Reichswehr als unerwünscht benannt werden, die nach ihrer Gesamtpersönlichkeit über das Sondergebiet der Zusammenarbeit mit der Wehrmacht hinaus als Führer überhaupt ungeeignet erscheinen". Er begründete die Lockerung der Beurteilungsmaßstäbe damit, daß der SA nach dem Willen des Führers in Zukunft keine militärischen Aufgaben mehr übertragen würden. Soweit sie jedoch im Rahmen der Landesverteidigung zu Einzelaufgaben herangezogen würde, sollte sie unbedingt den örtlichen Wehrmachtsdienststellen unterstellt minister Nr. 361/34 geh. L lia" vom 3. 7. 34 befohlen, daß alle Beamten und Angestellten der Wehrmacht sofort aus der SA ausscheiden müssen (vgl. auch Oberste SA-Führung CH Nr. 18112 vom 19. 7. 34; beides in MGFA/DZ WK IX/134). 17 MGFA/DZ WK VII/1342, Wehrkreiskommando VII Ib/B Nr. 5224/34 vom 30. 8. 34. 18 Ebd. WK VII/1295. Wehrkreiskommando VII Nr. 3330/Ic vom 7.7.34 sowie Chef WA Nr. 687/34 g.Kdos. L Ha vom 17. 7. 34. 19 Entsprechende Listen in MGFA/DZ WK VII/1295. Vgl. dazu auch ebd. Wehrkreiskommando VII Nr. 3443 g.K. Ic vom 17. 7. 34. 20 Vgl. Aufzeichnung Heinrici über Ausführungen des Reichswehrministers am 5. 7. bei Foertsch, S. 57; Liebmann-Notizen vom 5. 7. 34 („Auf gefallenem Feind herumzutrampeln ist unsoldatisch und unritterlich") sowie MGFA/DZ WK VII/1342, Der Reichsverteidigungsminister Nr. 1042/34 geh.Kdos. Lila vom 3.9.34: „...daß Dienststellen der Wehrmacht jede Zusammenarbeit und Fühlung mit der SA nicht nur in rein militärischen Fragen, sondern auch auf außermilitärischem und kameradschaftlichem Gebiet in mehr oder minder schroffer Form abgebrochen haben Ein ...

derartiges Verhalten, das von der SA als Ausdruck der Nichtachtung gewertet werden muß, dient weder den großen gemeinsamen Zielen für den Aufbau des neuen Reiches noch entspricht es dem Sinn meiner vorstehend erwähnten Befehle." Vgl. auch WK VII/1295, Artillerieführer VII

Nr. 356/34 g.Kdos. Ia vom 13.7.34 sowie die die Stimmung im Offizierkorps widerspiegelnden Berichte und Vorgänge in W 01-5/108 (Reichswehrministerium, Wehrmachtamt, Geheimakte über NSDAP, Zwischenfälle 1934-1935). 10

IV. Zeit der

146

Spannungen und Illusionen

werden21. Der Minister selbst erließ sogar speziell eine ausführliche Weisung22, in welcher er das Verhalten zahlreicher Reichswehrbehörden und -angehöriger gegenüber der SA kritisierte, das als „Ausdruck der Nichtachtung gewertet" würde und verletzend sei. Aufschlußreich ist dieser Erlaß vor allem für die Prinzipien der Politik des Reichswehrministeriums gegenüber der SA. Einerseits habe so schreibt Blomberg „als Grundsatz _zu gelten, daß die SA keine Waffenausbildung zu betreiben, keine militärischen Verbände aufzustellen und von sich aus keinerlei Mobilmachungsvorbereitung zu treffen habe"; denn die Betätigung der SA auf bestimmten rein militärischen Aufgabengebieten, „die ausschließlich der Wehrmacht vorbehalten bleiben müssen", habe sich in der Vergangenheit als untragbar erwiesen und müsse nach den Ereignissen des 30. Juni 1934 abgebaut werden23. Also aus der Domäne der Reichswehr, der Landesverteidigung und der militärischen Ausbildung sei die SA prinzipiell auszuschalten, sie sei diesbezüglich kein gleichberechtigter Partner. Das war gewiß auch die Ansicht der Masse des Offizierkorps und der Truppe. Andererseits aber und hier gingen offensichtlich die allgemeinen Ansichten in der Reichswehr und die Absichten der Führung auseinander wollte der Minister die SA keineswegs zu völliger Bedeutungslosigkeit verdammen. Vielmehr müsse so schreibt er der „nationalsozialistische[n] Kampfgeistes] der SA und der in ihm ruhende stark aktivistische Wehrwille... auch vom Standpunkt der Landesverteidigung uneingeschränkt anerkannt und dankbar begrüßt werden". Die Betätigung der SA dadurch einschränken zu wollen, daß ihr jede militärische oder militärähnliche Ausbildung überhaupt untersagt werde, sei nicht berechtigt und vom Standpunkt der Landesverteidigung aus gar nicht erwünscht. Das hieße nämlich, ihren „Wehrwillen" und ihre „Wehrbegeisterung zu zerschlagen"; derer aber bedürfe die Reichswehr; denn da es für absehbare Zeit nicht möglich sei, alle Deutschen durch die Schule der Wehrmacht gehen zu lassen, könne diese Wehrerziehung, die die SA ihren Angehörigen durch Pflege soldatischen Geistes und militärischer Form angedeihen ließe, nur begrüßt werden24. Daraus spricht erstens die Absicht, das Heft in der Hand zu behalten, also die Konsequenz der MachtteilhabePolitik auf diesem Sektor. Zweitens spricht daraus der Wille zu „positiver Einstellung" gegenüber dem Regime und zur nationalsozialistischen „Bewegung" hier zu einer ihrer Organisationen also ein Symptom der Anpassungs- und Öffnungspolitik. Schließlich geht drittens daraus die Absicht hervor, die SA wie überhaupt alle geeigneten Elemente zur Erleichterung der eigenen Aufgaben, speziell der Landesverteidigung im weitesten Sinne, sich nutzbar zu machen, allerdings bei völliger Wahrung der eigenen Prärogativen. Die Heeresleitung hat in diesem Stadium der Entwiddung eine soldie Politik im Prinzip -

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...

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MGFA/DZ WK VII/1295, Chef WA Nr. 687/34

g.Kdos. L Ha vom 14. 7. 34. MGFA/DZ a) WK VII/1342, Der Reichsverteidigungsminister, Nr. 1042/34 geh.Kdos. L Ha vom 3. 9. 34 und b) WK VII/1433: Artillerieführer VII Nr. 5133/34 geh.Kdos. vom 18. 10. 34. 23 Ebd. 24 Ebd. Der Artillerieführer VII, Generalmajor Halder, gab indessen diesen Erlaß mit der lakonischen Bemerkung weiter, jedenfalls sei „die Zusammenarbeit mit der SA vorerst ausgesetzt". (Siehe Anm. 22 oben, Angabe b.) 21

22

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

147

akzeptiert. Lediglich in der Akzentuierung vermag man einige Unterschiede zu erkennen. Auch Fritsch ermahnt Offiziere wie Truppe, gegenüber der SA hinreichend taktvoll aufzutreten, auch er glaubt, angesichts der jüngsten Ereignisse eine Festigung der Stellung des Offizierkorps feststellen zu dürfen; auch er begrüßt es mit größter Genugtuung, daß die Vorherrschaft der Armee in Fragen des Militärs und der Landesverteidigung klar herausgestellt wird. Aber seine Erlasse und Anordnungen hinsichtlich konkreter Regelungen im Verhältnis zur SA sind schroffer im Ton und auch in Nuancen etwas härter in der Sache. Hier machen sich gewisse Differenzierungen bereits bemerkbar25. Ihre Umrisse traten alsbald bei der Frage des Verhältnisses zur SS, insbesondere zu den bewaffneten SS-Verbänden, noch klarer hervor. Am 30. Juni hatte Hitler dem Befehlshaber des bayerischen Wehrkreises (VII), General Adam, sagen lassen, daß „das Heer der alleinige Waffenträger des Reiches [sei]. Jedermann, sei es SA oder sonst wer, steht in Zukunft dem Heer zur Verfügung. Jeder Deutsche, auf den die Wehrmacht weist, ist ihr verfallen26." Noch am selben Tage brach er dieses Versprechen. Gleichsam als unmittelbaren Dank für ihren Einsatz bei der Mordaktion verfügte er, daß die SS-Leibstandarte „Adolf Hitler" als selbständiges, modern ausgerüstetes und bewaffnetes Regiment neben der Reichswehr aufgestellt werden und erhalten bleiben solle27. Der vielzitierte, vielbeschworene Grundsatz von der Reichswehr als dem alleinigen Waffenträger war damit durchlöchert28. Knapp zwei Wochen später verlieh Hitler der SS zudem einen selbständigen Status, durch den sie ihm direkt unterstellt wurde20. Der Reichswehrminister, berufener Hüter des Waffenmonopols der Streitkräfte, nahm jedoch keineswegs Anstoß an der Errichtung einer neben der Reichswehr stehenden bewaffneten Truppe. Er entzog sich sogar den drängenden Vorstellungen des Befehlshabers -

-

Vgl. beispielsweise Fritschs Ausführungen auf der Befehlshaberbesprechung vom 25.7.34 (Foertsch, S. 58; dazu auch Krausnick, Vorgeschichte, S. 247) sowie MGFA/DZ W 01-5/112, Erlaß Chef Heeresleitung Nr. 1841/34 geh. PA (2) vom 3.7.34 und WK VII/1295 (Auflösung der Chef-WA-Organisation durch Chef Heeresleitung am 9. 2. 35). 26 Vgl. Kap. Ill S. 124 f. dieser Arbeit (MGFA/DZ WK VII/1652, Aufzeichnungen Wehrkreis25

kommando VII).

27 Doerr, S. 230 f.: Sepp Dietrich habe Doerr berichtet, Hitler habe ihm noch am Abend des 30. 6. 34 in Bad Wiessee dieses Versprechen gegeben. Vgl. allgemein dazu Buchheim, Die SS Das Herrschaftsinstrument, S. 190 f., sowie George H. Stein, The Waffen SS. Hitler's Elite Guard at War, 1939-1945, Ithaka-New York 1966. 28 Bennecke II, S. 71, vertritt die These, die SS-Truppen hätten gewissermaßen die Rolle der von der Reichswehr nie angefochtenen Truppenpolizei, der kasernierten Landespolizei, übernommen, die damals in der Reichswehr aufging, und die Reichswehr, die ein innerpolitisches Ein-

greifen ihrerseits scheute, habe deren Ersatz durch die SS-Verfügungstruppen nicht unbedingt als Durchbrechung ihres Waffenmonopols gesehen. Diese These ist mindestens etwas einseitig. Die immerhin staatliche Landespolizei bestand in ihrem Offizierkorps vornehmlich aus ehemaligen eine

Offizieren, also den „eigenen Leuten" der Reichswehr, und wurde sowieso als

getarnte Reserve auf die man sich verlassen konnte. Ihre Existenz bedeutete daher keine Monopoldurchbrechung. Bei der nichtstaatlichen, sondern parteieigenen SS lag jedoch in den Augen der Heeresleitung die Sache schon anders. 29 Verfügung Hitlers vom 13. 7. 34, abgedrud« in IMT II, S. 207; vgl. auch Doerr, S. 231.

der Armee

angesehen,

IV. Zeit der

148

Spannungen und Illusionen

im Wehrkreis VII, General Adam, der am Morgen des 1. Juli 1934 von Hitlers Versprechen an Sepp Dietrich erfahren hatte, und lehnte eine Intervention gegen die geplante Bewaffnung der SS ab30. Er gestand sogar der SS einige Tage darauf „Waffen für insgesamt eine Division" zu31. Über die Motive, von denen Blomberg sich leiten ließ, kann man nur Vermutungen anstellen. Vielleicht beeindruckte ihn die Tatsache, daß die SS der Reichswehr das von dieser so gefürchtete Eingreifen bei der Röhm-Affäre erspart hatte; vielleicht wiegte er sich in dem Glauben, der beschränkte Umfang der geplanten Aufstellung bewaffneter SS-Verbände sei eine Gewähr dafür, daß hier der Wehrmacht keine gefährliche Konkurrenz erwachse; eventuell mag ihm die Existenz einer Staatsschutztruppe notwendig erschienen sein32, nachdem die Landespolizeieinheiten nach und nach in die Reichswehr übergingen. Dies wird um so mehr der Fall gewesen sein, als ihm klar wäre es am 30. Juni wirklich zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit war, daß etwa rebellierender oder zurückschlagender SA gekommen die zahlenmäßig geringe SS kaum der Lage Herr geworden und die Reichswehr selbst zum Eingreifen gezwungen worden wäre. Fest steht, daß Blomberg der Aufstellung der bewaffneten SS-Truppe wohlwollend seinen Segen gab33 und sich allen aus der Generalität ihm vorgestellten Bedenken verschloß wiederum ein Beweis, wie wenig nachgeordnete Fachdienststellen und Kommandobehörden in der Lage waren, die politische Linie der obersten Reichswehrführung zu beeinflussen. Die Heeresleitung dagegen mag bald erkannt haben, daß hier ihre eigenen Interessen berührt wurden34. Anfangs nahm sie noch eine abwartende Haltung ein. Von einem sofortigen Protest der Heeresleitung gegen die Bewaffnung von SS-Verbänden überhaupt ist zwar nichts bekannt; wohl aber hat sie jede Unterstützung von Heeresstellen bei der militärischen Ausbildung der SS vorerst untersagt35. Gegen Ende des Jahres allerdings mußte die Führung des Heeres eindeutiger Stellung nehmen. Aus der Truppe und den Wehrkreisen kamen immer häufiger Anfragen über den Zweck und die Bedeutung dieser Parteiverbände, kamen Bitten um Richtlinien, wie man sich ihnen gegenüber zu verhalten habe. „Eine baldige, unzweideutige Klärung der Aufgaben der SS" so schrieb ein Regimentskommandeur an seine vorgesetzte Stelle36 sei für diese sowie für das Heer „dringend erwünscht". Zur Zeit bestehe bei den Offizieren keine rechte Klarheit, was eigentlich die Aufstellung kasernierter und wie das Heer bewaffneter SS-Bataillone bedeute und -

-

-

-

-

39

Doerr, ebd.

Befehlshaberbesprechung vom 5. 7. 34 (Liebmann-Notizen). Vgl. auch Krausnick, Vorgeschichte, S. 235. 32 Siehe jedoch oben Anmerkung 28 dieses Kapitels. 33 Das ist auch im Zusammenhang zu sehen mit der kurz nach dem 30. Juni bei der Reichswehrführung zu bemerkenden wohlwollenden Nachgiebigkeit gegenüber der SS, dem Verbündeten 31

gegen die SA. 34

Vgl.

die

Darlegungen Hoßbachs,

S. 32, die jedoch gemäß den nachfolgenden auf Quellen bemodifizieren wären, ebenso O'Neill, S. 101. 35 MGFA/DZ WK VII/1342, Artl.Führer VII, Ia Nr. 5008/34 g.K. vom 5. 10. 34. 36 MGFA/DZ WK VII/1433, Inf.Rgt. München, Kommandeur Nr. 609, geh.Kdos. vom 28. 11. 34. Sowie WK VII/1320, Kommandeursbesprechung vom 17. 10. 34.

ruhenden Absätzen

zu

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

149

welche Aufgaben sie hätten. Gleichzeitig sah sich die Heeresleitung wegen der bewaffneten SS-Verbände vor allem einem Druck von Seiten etlicher höherer Kommandobehörden, vornehmlich der Wehrkreiskommandos, ausgesetzt. Einmal begannen diese bereits von sich aus grundsätzliche Regelungen in jener Frage zu treffen, da ihre untergeordneten Dienststellen und Stäbe teilweise eigenmächtig vorgegangen waren. So ordnete das Wehrkreiskommando VII am 5. Oktober 1934 an, Sonderabmachungen einzelner Truppenteile mit der SS zum Zwecke militärischer Ausbildung von SS-Leuten bei der Truppe oder die Gestellung von Reichswehrausbildern für die SS seien verboten; etwa bereits erfolgte Abmachungen seien rückgängig zu machen. Selbst die freiwillige Beteiligung von Reichswehrangehörigen bei militärischen Ausbildungsmaßnahmen der SS sei verboten. Kurz und bündig stellte das Wehrkreiskommando fest: Jede militärische Ausbildung habe ausschließlich auf die Wehrmacht beschränkt zu bleiben37. Außerdem mehrten sich von Seiten einiger Wehrkreiskommandos die Warnungen vor dem Streben auch der allgemeinen SS nach militärischer Ausbildung, von der es nur ein kleiner Schritt sein könnte bis zur Forderung nach Waffen. Der neue Artillerieführer VII in München, Generalmajor Halder, der schon als Chef des Stabes des Wehrkreiskommandos VI in Münster stets unmißverständlich über die politischen Zustände in seinem Bereiche an die Bendlerstraße berichtet hatte38, gab besonders ungeschminkte Warnungen an seine Vorgesetzten. Er wies generalisierend darauf hin, daß die SS „entsprechend ihrer Natur als Kampfverbände nach wie vor" zu militärischer Betätigung dränge39. Es bestehe daher die dringende Notwendigkeit, daß ihr „für ihre praktische Arbeit klare Aufgaben gestellt werden müssen. Sie dürfen aber nicht dadurch gefunden werden, daß man dem Druck von unten nachgibt. Die dann entstehenden Folgen haben wir schon einmal praktisch erlebt. Vielmehr muß die SS ebenso lernen, sich mit dem außerordentlich vielgestaltigen Gebiet der Ertüchtigung ohne Waffe abzufinden, wie es die SA jetzt an einzelnen Stellen zu lernen beginnt.. .40." Auf das grundsätzliche Dilemma, in dem sich die Reichswehrführung sachlich wie auffassungsmäßig bei diesem ganzen Fragenkomplex befand, wies ein Regimentskommandeur in einem Bericht über die politische Lage hin. Es sei so hieß es darin für alle Beteiligten nicht ganz verständlich, wenn man einerseits die militärische Ausbildung der SS zu verhindern oder gar zu verbieten trachte, andererseits aber diese Kräfte im Mobilmachungsfall für den Grenzsdiutz einzusetzen oder ins Kriegsheer zu überführen gedenke. Im übrigen sollte, „solange wir damit rechnen müssen, daß trotz aller Friedensbereitschaft unsererseits der Franzose uns den Krieg aufzwingt, die Zeit genützt werden, um möglichst viele Leute, wenn auch nur notdürftig, militärisch für das Gefecht auszu...

-

-

.

37

MGFA/DZ WK

38

Mitteilung

von

VII/1342, Artl.Führer VII, Ia, Nr. 5008/34 g.K. vom 5.10. 34. Generaloberst a.D. Halder vom 10.11.1965 an das MGFA,

.

.

bestätigt durch

die in MGFA/DZ WK VII/1295 und VII/1652 befindlidien Lageberichte Halders; vgl. auch Aussage vom 15. 9. 1948 im Spruchkammerverfahren gegen Halder (BA/MA H 92-1/3, fol. 26). 39 MGFA/DZ WK VII/1295, Artl.Führer VII, Ia Nr. 5549/34 g.K. vom 3. 12. 34, sagt dazu noch: „Die Zurückhaltung des Heeres diesem Drange [nach militärischer Betätigung] gegenüber ¡st durch Befehl klar geregelt." 40 Ebd.

150

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

bilden"41. Vom rein militärischen Standpunkt aus und unter dem Aspekt einer vorzubereitenden totalen Mobilisierung aller Kräfte für den Ernstfall wollte und mußte die Heeresleitung die Existenz bewaffneter Kräfte außerhalb der Reichswehr sowie die vormilitärische Ausbildung straff organisierter Wehrverbände begrüßen; sie bildeten in ihren Augen ein wertvolles Reservoir für den Mannschaftsersatz und belasteten gar nicht oder kaum die bereits stark beanspruchte Ausbildungskapazität des Heeres. Politisch gesehen waren jedoch sowohl die Durchbrechung des Waffenmonopols durch die kasernierten SS-Verbände als auch das militärische Streben der allgemeinen SS bedenklich. Die angestrebte Machtposition der Reichswehr wurde beeinträchtigt, denn sie verlor an Eigengewicht, vor allem, je mehr jene Konkurrenz zahlenmäßig anwuchs. Im Grunde mußte man sich nun eindeutig entscheiden, ob man das militärtechnische Moment der totalen Mobilmachung für so gewichtig hielt, daß die politische Rolle der Armee dafür geschmälert werden müsse, oder ob das politische Moment gewichtig und wichtig genug war, um militärisch-technische Nachteile vorerst in Kauf zu nehmen. In der Theorie, vor allem auch für den rückblickenden Betrachter, der in Kenntnis der verhängnisvollen Entwicklung urteilt, mag die hier zu treffende Entscheidung, nämlich eine eindeutig politische Lösung des Problems, einfach und selbstverständlich sein. Die verantwortlichen Männer der Heeresleitung jener Zeit dagegen waren allerdings durch ihren vom Ersten Weltkrieg geprägten Erlebnishintergrund für sie war Deutschland im Ersten Weltkrieg nicht zuletzt am Problem der totalen Mobilmachung gescheitert und durch das ihrer Erziehung gemäße Vorherrschen des rein militärischen Aspektes in ihrem -

-

Vorstellungsvermögen festgelegt und

in ihrer geistigen Dispositionsfreiheit eingegrenzt hinzu kam noch, individuell verschieden ausgeprägt, eine betonte Politikfremdheit, wenn nicht gar politische Ignoranz -, so daß sie zu einer solchen Aufgabe militärisch an sich sinnvoller Postulate auf Grund politischer Überlegungen schwerlich in der Lage waren. Gerechterweise muß auch betont werden, daß der Heeresleitung nur ein recht enger Reaktionsspielraum geblieben war, nachdem die Reidiswehrführung bereits grundsätzlich der Aufstellung bewaffneter SS-Verbände zugestimmt hatte. Indessen wird man dennoch die zuvor dargelegten Momente nicht gering veranschlagen dürfen. Aus all diesen Gründen ging die Heeresleitung nicht mehr gegen die Tatsache der Existenz dieser SSTruppen an. Sie versuchte vielmehr, wie aus einer grundsätzlichen Stellungnahme vom 21. Januar 1935 hervorgeht42, ihre Interessen, oder was sie dafür hielt, in zweifacher Hinsicht zur Geltung zu bringen. Einmal strebte sie ein möglichst weitgehendes Mitspracherecht auf militärischem Gebiet an, das ihr eine genaue Beobaditung und eine Eingreifmöglichkeit zu eventuell notwendig werdender Begrenzung expansiver Tendenzen bot; zum anderen wollte sie sich die absolute Verfügungsbefugnis über die SS-Truppen im Kriegsfall sichern. Sie wollte sowohl ihre militärfachlichen wie ihre reichswehrpolitischen Interessen gleicherweise wahren, also dem Zwang der Alternativ-Entscheidung ent-

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MGFA/DZ WK VII/1433, Kommandeur Infanterieregiment München Nr. 609, geh.Kdos., Artl.Führer VII vom 28. 11. 34. 42 MGFA/DZ WK XIII/817, Wehrkreiskommando VII, Nr. 04404/34 g.K. Ib E vom 21. 1. 35. 41

an

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

151

gehen. In Verfolgung dieser Grundsätze gelang es der Heeresleitung, die von der SSVerfügungstruppe angestrebte Ausstattung mit Artillerie vorerst zu verhindern43. Bezüglich des Verbotes von Aufklärungseinheiten drang das Heer nicht völlig durch44. Immerhin vermochte die Heeresleitung Himmler die ausdrückliche Versicherung abzuringen, „nicht einen Mann, nicht eine Waffe mehr haben"

zu

wollen, also die Ehrlichkeit dieser

Versicherung unterstellt vorerst einer Expansion den Riegel vorzuschieben45. Ebenfalls konnte die Heeresleitung durchsetzen, daß die SS „bereits im Frieden allen Forderungen der Wehrmacht hinsichtlich Organisation, Dislokation, personeller Zusammensetzung und Ausbildung nachzukommen [habe], die sich aus den Vorbereitungen für die Erhöhung der Schlagfertigkeit der Kriegswehrmacht ergeben"46. Hitler ordnete daher am 2. Februar 1935 an, daß die SS-Verfügungstruppen hinsichtlich der „Vorbereitung... auf ihre Kriegsverwendung... bereits im Frieden" dem Reichswehrminister unterständen47. Der Reichswehrminister übertrug diese Befugnisse daraufhin sechs Tage später durch Delegation an die Heeresleitung, womit er dem Heer ausdrücklich das von diesem stets angestrebte Besichtigungsrecht über die SS-Verfügungstruppen zuwies48. Einen Mißerfolg mußte die Heeresleitung jedoch in einem wichtigen Punkt hinnehmen, -

-

MGFA/DZ WK VII/1343, Akt 13 m/Kommandeursbesprechung des Befehlshabers im Wehrkreis VII vom 16.1. 35 über Befehlshaberbesprechung in Berlin vom 12.1. 35: „Chef der Heeresleitung sagte, sie wollen jetzt auch Artillerie, aber in den nächsten Jahren brauchen wir jedes Geschütz selbst." Dazu auch Liebmann-Notizen vom 15.1.35: „Die .Division' ist bewilligt (leider!) und bleibt. Ob glücklich, ist fraglich. Sie wollen Artillerie, können sie aber vorläufig nicht bekommen, SS will natürlich mehr." 44 Nach WK XIII/1343, Akt 13 m (Fritsch am 12.1.35) forderte die SS eine Aufklärungsabteilung; Nach WK XIII/817 (Wehrkreiskommando VII, Nr. 04404/34 g.K./Ib/E vom 21.1.35 über „Eingliederung der SA und SS in A-Vorbereitungen der Wehrmacht") wollte das Heer der SS lediglich einen Reitersturmbann zubilligen. Die SS erhielt schließlich drei motorisierte Spähzüge mit je 6 Straßenpanzerwagen. (XIII/817, Wehrkreiskommando VII/Nr. 0939 g.K./Ib/E vom 43

6. 3.

35.)

Vgl. ebd., wo hübschen, loyalen,

es mit unüberhörbarer Ironie heißt: „Reichsführer Himmler hat einen sehr einleuchtenden Vortrag gehalten. Voller Loyalität versichert er, daß er nicht einen Mann, nicht eine Waffe mehr haben will, als der Führer zugesteht. Niemals an eine Konkurrenz der Wehrmacht gedacht... kameradschaftliches Verhältnis zu[r] Wehrmacht... zusichert, daß seine Befehle befolgt werden." Es handelt sich gemäß WK XIII/342 und H 24/6 (fol. 120) um einen Vortrag Himmlers über „Die Aufgaben der SS" vor höheren Offizieren, insbesondere den in Berlin anwesenden Befehlshabern, am 13.1. 35. Vermutlich ist es jenes in Fritschs Aufzeichnung vom 1. 2. 38 (Hoßbach, S. 71) erwähnte Treffen, das Fritsch irrtümlich auf den 10.1. 35 legt. Gemäß H 24/6 und Fritsch (Hoßbach, S. 70) erfolgte Himmlers Vortrag auf 43

Veranlassung Blombergs. 46 So die Forderung des g.K./Ib/E vom 21. 1. 35.

Heeres in WK

XIII/817, Wehrkreiskommando

VII Nr. 04404/34

„Der Führer und Reichskanzler Nr. 15/35 g.K." vom 2. 2. 35, vom Chef Heeresleitung mit T.A. Nr. 565/35 g.K. T 2 III A am 15.2.35 weitergegeben an die Wehrkreise. Vgl. MGFA/DZ WK XIII/817, Wehrkreiskommando VII/Nr. 0939 g.K./Ib/E vom 6.3.35. Damit wäre das Datum, das Hoßbach, S. 32, mit „Anfang Februar" angibt, geklärt. 48 Ebd. vgl. letzter Absatz von Wehrkreiskommando VII/Nr. 0939 g.K. vom 6. 3. 35. (Erlaß Reichswehrminister Nr. 450/34 g.K. L Ha vom 8. 2. 35.) 47

IV. Zeit der

152

Spannungen und Illusionen

nämlich hinsichtlich der Verwendung der bewaffneten SS-Truppen im Kriegsfall. Sie trachtete ursprünglich danach, eine konkrete Festlegung zu vermeiden, indem sie den Standpunkt vertrat, die Form der Eingliederung der SS-Verfügungstruppen in die Kriegswehrmacht hinge von den jeweiligen innenpolitischen Verhältnissen und ihrer erreichten militärischen Verwendungsfähigkeit ab49. Das hätte bedeutet, daß die in den Verfügungstruppen militärisch ausgebildeten SS-Männer individuell im Kriegsfall ins Heer übernommen würden, also die bewaffnete SS, soweit sie nicht innenpolitisch-polizeiliche Aufgaben hatte, im Kriegsheer aufgehen und so als Truppe verschwinden würde. Daher versuchte die Heeresleitung die für den gegenwärtigen Zeitpunkt zugestandene militärische Ausbildung von ungedienten Wehrpflichtigen bei den SS-Verfügungstruppen als vorläufige Aushilfsmaßnahme wegen der ausgeschöpften Ausbildungskapazität des Heeres zu

deklarieren, gleichzeitig jedoch durchzusetzen, daß dies „nur für eine begrenzte Anzahl von Jahren Gültigkeit haben [solle]. Das spätere Ziel bleibt die Aufstellung der gesamten

Kriegswehrmacht aus den in der Wehrmacht ausgebildeten Reserven50." Da zu diesem Zeitpunkt also auch die Verfügungstruppen vornehmlich aus in der Wehrmacht ausgebildeten Soldaten bestehen würden, diese aber im Krieg wieder zum Heer treten würden, wären die SS-Truppen dann ebenfalls aufgesogen worden. Dieser Plan enthielt im Kern die beiden wesentlichen Anliegen der Heeresleitung, nämlich die vorläufige Entlastung des Heeres bei der Ausbildung zukünftiger und zusätzlicher Reserven durch die SS-Verfügungstruppen als auch die Kontrolle und Niederhaltung dieser Parteitruppe. Er ließ sich jedoch nicht durchführen. Die oben erwähnte Verfügung Hitlers über die SSVerfügungstruppen vom 2. Februar bestimmte nämlich, daß diese Verbände zwar im Frieden nicht zu einem Divisions verband zusammengefaßt, im Kriege jedoch „nach den Bestimmungen des Reichswehrminister" in das Heer eingegliedert werden sollten und dabei das war das Bedeutsame vom Heer durch Zuteilung der im Frieden fehlenden Stäbe, Artillerie- und Sondereinheiten zum Verband einer Division auszugestalten seien. Damit war für den Kriegsfall genau die gegenteilige Regelung angeordnet worden, als sie das Heer angestrebt hatte51. Das war fraglos eine Niederlage der Heeresleitung, die in fernen

-

-

Ebd. Wehrkreiskommando VII Nr. 04404/34 g.K./Ib/E vom 21.1. 35. Ebd. 81 Die in dem Erlaß „Der Führer und Reichskanzler, Nr. 15/35 g.K." vom 2. 2. 35 bezüglich der SS-Verfügungstruppen angeordnete Regelung widerlegt damit Hoßbach, S. 32, der undifferenziert und, hinsichtlich des Einbaues der SS-Verfügungstruppen in das Heer bei Kriegsausbruch, unrichtig schreibt: „Hitler trat damals der Auffassung des Heeres bei, daß die Waffen-SS nur in Friedenszeiten bestehen dürfe, im Kriege jedoch in das Heer aufzugehen habe, aber nicht als in sich geschlossene Truppenteile. Der einzelne SS-Mann sollte vielmehr wie jeder Deutsche den Kriegsdienst in der Wehrmacht ableisten Diese Bestimmungen fanden in einer von Hitler etwa im Februar 1935 unterschriebenen Verfügung ihren Niederschlag." Hoßbach scheint hier die Postulate der Heeresleitung und die dann von Hitler getroffene Regelung in Einzelheiten durcheinanderzuwerfen. Vgl. hierzu auch Hans-Günther Seraphim, SS-Verfügungstruppe und Wehrmacht, in: WWR 5 (1955), S. 573, Anm. 10, und S. 574. Hinzu kommt außerdem noch, daß im Kriegsfall 25 000 bewaffnete Hilfspolizisten aus der SS rekrutiert werden sollten, für die bereits 1935 die Waffenausstattung genehmigt worden war (MGFA/DZ WK VII/1343, Befehlshaberbesprechung 49 59

...

vom

12.1.35).

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

153

diesem Tauziehen in entscheidenden Punkten die Unterstützung des Ministers entbehren mußte52. Nachdem der Reichswehrminister überhaupt die Existenz einer derartigen, neben der Reichswehr stehenden Truppe prinzipiell hingenommen hatte und nachdem von höchster Autorität deren Verhältnis zur Reichswehr, insbesondere für den Kriegsfall, geregelt worden war, konnte die Heeresleitung auch keine grundlegende Änderung mehr herbeiführen. Die Prätorianergarde war nun einmal da. Die Heeresleitung versuchte jedoch, da deren Abschaffung nicht mehr zur Diskussion stand, den weiteren Ausbau in Grenzen zu halten53. Mißtrauisch ließ sie einzelne SS-Verbände beobachten54, verfolgte aufmerksam ihre Nachwuchsgewinnung55, versuchte vor allem auf der mittleren und unteren Ebene sie einzudämmen, gar ihr, wo es ging, Abbruch zu tun56, was teilweise zu einer Art Kleinkrieg mit der diesem eigenen Taktik der Nadelstiche führte. Man schritt dagegen ein, als die Führer der bewaffneten SS sich als Offiziere bezeichneten, man protestierte, daß die —

-

So Hoßbach, S. 32. Vgl. dazu auch das im folgenden über die Haltung des Ministers Gesagte. Das ist ihr im großen und ganzen auch bis 1938 gelungen. Erst ab 1938 erfolgte der weitere, dann sehr rasche und umfangreiche Ausbau. Vgl. dazu Stein, passim. Die Ausführungen darüber bei O'Neill, S. 102 ff. („The Army and the SS") sind nicht ganz zureichend, da der Verfasser sich, abgesehen von einigen Akten, ausschließlich auf Literatur von SS-Seite (Hausser, Kanis) stützt, die Arbeiten von Seraphim und Buchheim jedoch nicht benützt hat. V. Müller, S. 368, berichtet, die Heeresleitung habe im Herbst 1935 bei Blomberg die Auflösung der bewaffneten SS-Verbände verlangt. Darüber ließ sich jedoch kein weiterer Beleg in den Akten oder in den Sekundärquellen 62 53

finden.

MGFA/DZ WK VII/1295, Chef Heeresleitung, TA 2570/34 g.Kdos. T 4 Ic vom 4.12. 34 alle Wehrkreiskommandos. Die Wehrkreiskommandos sollten sich vom Ausbildungsstand der in ihrem Bereich liegenden SS-Verfügungstruppen überzeugen und entsprechende Berichte der Heeresleitung vorlegen. Die Ergebnisse dieser Recherchen sollten „als Unterlagen dienen für die an die 55 zu stellenden Forderungen"; ebd. TA Nr. 151/35 g.K. T2 III A vom 12.6.35; weitere entsprechende Anordnungen und Berichte in WK VII/1295 und W 01-5/108. Vgl. auch Dok.-Anh. 54

Vgl.

an

Nr. 13. Ebd. WK VII/1295. 56 Ebd. VII/1295, Artillerieführer VII an Wehrkreiskommando am 28.12.1934: Falls gewisse SS-Führer, wie das Gerücht geht, in Sonderkursen beim Heer eine Offiziersausbildung erhalten sollten, sei es notwendig, die SS-Leute zu überprüfen, da etliche jetzige SS-Führer früher fristlos aus der Reichswehr entlassen worden seien. Vgl. WK VII/1433, ObdH, Generalstab des Heeres Nr. 1772/35 g.Kdos., 2. Abt. lila vom 29.7.35: SS-Führer, die als Führer aktiver SS-Truppen eingeteilt werden, kommen nicht für die Ausbildung als Reserveoffiziere in Betracht. Andere SS-Führer können nur zu Reserveoffizieren ausgebildet werden, „wenn sie allen hierfür vorgesehenen Bedingungen entsprechen ..." Bezüglich der Teilnahme von Führern der SS-Verfügungstruppe an Kriegsspielen des Heeres im Rahmen der Offiziersausbildung hatte der Chef der Heeresleitung mit Nr. 317/35 g. T 4 lia am 13. 3. 35 sich zwar „grundsätzlich einverstanden erklärt", jedoch als Voraussetzung u. a. eine „militärische Vorbildung" gefordert, „die sich mindestens auf Kenntnis der Führung eines verstärkten] Infanteriebataillons erstrecken muß" und gleichzeitig auch noch „darauf aufmerksam gemacht. daß sich die theoretische Winterausbildung schon ihrem Ende nähert, daß also nur noch wenige Kriegsspiele stattfinden". (Hervorhebung nach dem Original.) Ein bezeichnendes Schreiben: „grundsätzliches" Einverständnis und konkretes Ausweichen bzw. Schwierigkeiten-Machen. Vgl. dazu auch Buchheim, Die SS Das Herrschaftsinstrument, S. 195-198, und Hoßbach, S. 32 und S. 70. 55

.

.

.

..

-

154

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

daß SS-Leute die Hoheitsabzeichen der Wehrmacht trugen57. Vor allem aber machte die Heeresleitung von ihrem Aufsichtsund Besichtigungsrecht Gebrauch. Das Recht zur Besichtigung war gewiß ein hervorragendes Mittel, die SS ständig unter Beobachtung zu halten. Das Heer übte indessen dieses Recht auch deswegen aus, weil es sicherstellen wollte, daß Führerkorps, Truppe und Nachwuchs der bewaffneten SS nach den Qualitätsforderungen des Heeres ausgebildet wurden. Regelmäßig befahl die Heeresleitung den regionalen Reichswehr-Kommandobehörden, sich über den Ausbildungsstand der in ihrem Bereich befindlichen SS-Verfügungstruppe zu orientieren58. Wenn schon außerhalb des Heeres eine Truppe aufgestellt wurde, die im Mobilmachungsfall zum Heer treten sollte, dann wollte man auch bei ihr den Ausbildungsstand fordern, den man im Heer anstrebte. Damit aber ebnete man dieser Parteitruppe den Weg zur militärischen Ebenbürtigkeit59. Perfektionsstreben und Mobilmadiungs-„Ideologie" wirkten damit wie ein Bumerang. Die bewaffneten SS-Truppen konnten immer weniger mit dem Hinweis auf ihre etwaige militärische Unzulänglichkeit bekämpft werden, im Gegenteil, da sie die ablehnende Haltung des Heeres kannten, strebten sie danach, sich militärisch möglichst keine Blöße zu geben. Nach der prinzipiellen Entscheidung Hitlers und ihrer Hinnahme durch den Reichswehrminister kämpfte die Heeresleitung gegenüber der SS grundsätzlich in einer allerdings recht starken Defensive bereits auf der inneren Linie60; ihre eigenen militärisch-fachlichen Vorstellungen schwächten dabei wohl ihre Abwehrposition, immerhin gelang es ihr im großen und ganzen jedoch bis 1938, einen ins Gewicht fallenden Ausbau der bewaffneten SS zu verhindern. Wichtig für das Verständnis der Auseinandersetzung um die bewaffnete SS ist die Tatsache, daß sie im Rahmen einer Entwicklung vor sich ging, die durch immer mehr sich steigernde Spannungen zwischen der Reichswehr, speziell dem Heer, und NS-Organisationen oder Repräsentanten der Partei gekennzeichnet war61. In diesem Zusammenhang begannen die Differenzen und Differenzierungen zwischen Heeresleitung und Reichswehr-

Verfügungstruppe als Militär angesprochen wurde,

Z. B. MGFA/DZ WK XIII/16, 10. Division, Ia Nr. 2309 geh. v. 19.12. 36 Absatz 14 sowie WK VIII/1342, ObdH, Generalstab des Heeres OQu 1/2. Abt. N. 227/35 g.Kdos. lila vom 7. 2. 36. Vgl. auch H 24/6; OKW 848 und 858. 58 Vgl. oben Anm. 54 dieses Kapitels. 59 Vgl. dazu Paul Hausser, Waffen-SS im Einsatz, Göttingen 1953. Gerade Hausser, ehemaliger Reichswehrgeneral, dann zur SS gegangen, bei der er im Frieden die Offiziersausbildung auf den „Junkerschulen" organisierte und leitete, weist in seinem Buch betont auf die auch den Heeresansprüchen genügende Ausbildungsarbeit der SS hin. 60 Wie sehr sich das Verhältnis änderte, wird deutlich, wenn man die Weisung vom 28.-30. 6. 34 „SS ist befreundete Seite" mit Fritschs Ausführungen von 1938 (Hoßbach, S. 71 f.) vergleicht, wo der ObdH schreibt: „Wenn auch dem Heer ein gewisses Recht zur Überwadiung der Ausbildung bei der SS-Verfügungstruppe zusteht, so entwickelt sich doch diese SS-Truppe völlig abseits und, wie mir scheint, in bewußtem Gegensatz zum Heer. Alle Stellen melden übereinstimmend, daß das Verhältnis der SS-Verfügungstruppe zum Heer ein sehr kühles, wenn nicht ablehnendes sei. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die ablehnende Haltung gegen das Heer in der SSVerfügungstruppe geradezu gefördert wird." 81 Ausgezeichnete knappe Skizze darüber bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 242-260. 57

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

155

führung allmählich deutlicher hervorzutreten; das wiederum beeinflußte jene Spannungen und Kontroversen. Im Herbst 1934 häuften sich in der Bendlerstraße beunruhigende Meldungen. Zwischenfälle mit Angehörigen von NS-Organisationen nahmen sprunghaft zu. Ein Wehrkreiseine planmäßige Hetze kommando stellt Anfang November fest, daß sich „teilweise gegen die Wehrmacht bemerkbar" mache; die Spannungen zwischen SS, SA und Wehrmacht seien noch keineswegs behoben. Es wurde über „Mißtrauen [der SS] gegen das ...

Heer"

gesprochen62.

Einige Jahre später schrieb Fritsch dazu: „Im Herbst

1934 setzte dann wieder eine verDurch die Umtriebe der SS im Herbst stärkte Hetze der Partei gegen meine Person ein 1934 war eine große Erregung allenthalben entstanden. Die SS behauptete, die Armee bereite einen Putsch vor, von allen Wehrkreisen liefen Meldungen ein, daß die SS einen großen Schlag plane63." Das ist in dieser Form, was die Vermutung einer SS-Aktion anbetrifft, gewiß übertrieben und unzutreffend. Fritsch schrieb diese Sätze immerhin auf dem Höhepunkt jener schmutzigen Intrige64, in deren Verlauf er aus seinem Amt gedrängt wurde. Indessen traf es zu, daß wie der damalige Artillerieführer VII in einem in beachtlicher Regelmäßigkeit Fälle wieder politischen Lagebericht65 schrieb [-kehren], die eine Mißachtung des Offizierkorps in den unteren Kreisen der Wehrverbände deutlich erkennen lassen". Sie rechtfertigten seiner Ansicht nach den Schluß, „daß diese Stimmungsmache von seiten der oberen Führung der Wehrverbände nicht mit dem erforderlichen Nachdruck bekämpft" werde. Gewiß, die Spannungen zwischen Reichswehr und SS standen im Vordergrund, waren am augenfälligsten; aber sie waren nicht das ganze Bild. Vielmehr ließen zahllose Meldungen aus den Wehrkreisen und alle möglichen Gerüchte geradezu den Eindruck einer beginnenden neuen Staatskrise aufkommen66. Die Auslandspresse, darunter insbesondere die deutschsprachige Emigrantenpublizistik, reflektierte vergröbernd und mit phantastischen Kombinationen die Situation87. Indessen kamen in all diesen, meist unrichtigen, oft auch grotesk verzerrten oder ganz einfach unwahren Pressemeldungen und Kommentaren einige treffende Vermutungen und richtige Einsdiätzungen zum Ausdruck. Eine Analyse dieser Pressestimmen68, die das Gestapo-Amt unter ...

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„...

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Vielfältiges Material dazu in MGFA/DZ WK VII/399, 1320, 1342, 1433, 1295 sowie H 24/6; Zitat aus WTC XIII/1695, Besprechung am 7.11. 34, Reichswehrdienststelle Regensburg. Vgl. auch Fritschs Aufzeichnung vom 1. 2. 38 b. Hoßbach, S. 71 (Zwischenfall in Altengrabow). 63 Zit. nach Hoßbach, S. 71 (Fritsch-Aufzeichnung vom 1.2.38). Fritsch spricht darin undifferenziert von Hetze der „Partei" und Umtrieben der „SS". 64 Dahinter steckten wie er anfangs wohl ahnte, dann aber klar erkannte Himmler, die Gestapo und der SD. 65 MGFA/DZ WK VII/399, Artillerieführer VII vom 22. November 34 an Wehrkreiskommando VII. 86 Vgl. hierzu Krausnick, Vorgeschichte, S. 252. 67 Vgl. ebd., S. 250 f.; vgl. Meldungen des französischen Militärattaches bei Castellan, S. 444. 88 MGFA/DZ WK XIII/337, Sonderbericht Nr. 2443 geheim vom Dez./Jan. 1934/35. Krausnick, Vorgeschichte, S. 250 f., nennt einen Sonderbericht Nr. 2760 gleichen Datums und einen Bericht vom Oktober 1934. 82

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IV. Zeit der

156

Spannungen und Illusionen

„Vergiftung des Verhältnisses zwischen Waffenträgern der Nation und Trägern Weltanschauung in Staat und Partei" angefertigt hat, kam zu dem Schluß, hier sollten Wehrmacht und Partei „über angebliche Waffen- und Kompetenzfragen in Konflikt" gebracht werden. Die Herausstellung der Spannungen um die und mit der SS entsprach jedenfalls gewiß der Situation; wenn darüber hinaus einige ausländische Presseorgane die „Überspannung des totalen Staatsgedankens", gegen den sich angeblich Fritsch gewandt haben sollte, als Konfliktursache hervorhoben, dann enthielten diese vagen Andeutungen fraglos einen Schimmer Wahrheit. Daß die nationalsozialistische Führung sich am 27. November überhaupt zu einem Dementi69 des Inhalts veranlaßt sah, „alle Meldungen über das Reichsheer und die daran geknüpften Kombinationen [seien] gemeine Lügen", mag bereits als Indiz dafür genommen werden, daß bei allen zweckbestimmten Übertreibungen und unhaltbaren Vermutungen der ausländischen Presse doch tatsächlich außergewöhnliche Spannungen bestanden. Ein umfassender innenpolitischer Lagebericht70 aus einem Wehrkreis bestätigt dies. Er ist, gerade weil er nicht auf den speziellen Konflikt mit der bewaffneten SS eingeht, sondern einen allgemeinen Tour-d'horizon der innenpolitischen Situation gibt, so aufschlußreich71. Der Verfasser, Generalmajor Halder, sieht die Lage „gekennzeichnet durch eine unheimliche Spannung, die weite Kreise der Bevölkerung beherrscht". Diese innenpolitischen Spannungen seien begründet „einerseits durch Gegensätzlichkeit innerhalb der Bewegung und zwar sowohl zwischen den einzelnen Gliederungen wie SA, SS, Partei usw. als auch vor allem zwischen radikalen und gemäßigten Strömungen innerhalb dieser Gliederungen, andererseits durch zunehmende Gegensätzlichkeit zwischen der Bewegung und den außerhalb der Bewegung stehenden Kreisen". Hinzu komme, daß „die Unzulänglichkeit der Vertreter der Bewegung", dem Titel von

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insbesondere auf dem flachen Lande, „teilweise besonders scharf" hervortrete und bei der Bevölkerung Ablehnung hervorrufe. Es bestünde ein spürbares „Mißtrauen gegen die Machtexponenten der Bewegung, vor allem gegen die geheime Staatspolizei. Denunziation und Gerüchtebildung blühen." Zwei Momente stellt der Verfasser dieses Berichtes sodann als bedeutsam und bedenklich heraus: Einmal den Konflikt zwischen den Kirchen und der nationalsozialistischen „Bewegung", der sich mehr und mehr zuspitze. Immer wieder werde der Versuch gemacht, Rosenbergsche Gedanken gleich Nationalsozialismus zu setzen. Dadurch entstünde der Eindruck, daß die „Bewegung" die „Grundlagen der christlichen Weltanschauung" bedrohe. So entstehe „in unserer fast durchweg positiv christlich und kirchlich eingestellten Bevölkerung Ebd. S. 251. Blomberg verbot innerpolitische Lageberichte, Fritsch unterlief dieses Verbot jedoch dadurch, daß er den Befehlshabern darlegte: „Regelmäßige politische Berichterstattung soll unterbleiben; aber es muß berichtet werden, wenn etwas los ist, unter Beigabe möglichst entsprechender Unterlagen; also muß auch über Stimmungen gegebenenfalls berichtet werden." (Befehlshaberbcsprechung vom 15. 1. 35, WK VII/1343 Akt 13 m.) Zuvor hatte Fritsch schon eine Anordnung erlassen, daß alle politischen Vorfälle direkt an ihn zu berichten seien und an Reichenaus Wehrmachtamt nur nachrichtlich (OKW 867). 71 MGFA/DZ WK VII/1295, Artillerieführer VII vom 22.12. 34 geh.Kdos. an Befehlshaber im Wehrkreis VII, vgl. Dok.-Anh. Nr. 14. 69

79

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

157

eine Bewegung, die notgedrungen zu einer ernsten Gegensätzlichkeit weiter Kreise gegen die Bewegung führen" müsse. Damit hat der Artillerieführer VII exemplarisch an dem kirchlich-weltanschaulichen Konflikt ein Symptom des Totalitätsstrebens der nationalsozialistischen „Bewegung" unzweideutig aufgezeigt. Mehr noch, er wies darauf hin, daß Gefahr bestünde, daß die Nationalsozialisten dieses Totalitätsstreben mit Gewaltmaßnahmen vorantrieben: „Die unverhüllten Voraussagen rücksichtsloser Gewaltanwendung gegen die Geistlichkeit" gäben Anlaß zu Sorge und Befürchtung, zumal Beweise vorlägen, daß „Gewaltanwendung gegen die evangelische Bekenntniskirche planmäßig vorbereitet" werde. „Gewaltmaßnahmen in kirchlichen Dingen" aber würden in „weitesten Kreisen als Angriff gegen die christliche Weltanschauung aufgefaßt" werden. Zum zweiten hat Halder sodann klar erkannt, daß die SS danach strebte, die Avantgarde dieses im kirchlich-weltanschaulichen Bereich damals schon deutlich zutage tretenden Totalitätsanspruches zu werden. Sie strebe „nach Geltung als staatliches Machtmittel" und fühle „sich anscheinend als Träger künftiger innenpolitischer Aktionen und als Vollzugsorgan der geheimen Staatspolizei". Wenngleich sie sich äußerlich auch zurückhalte, so befinde sie sich doch „offenbar... in einem latenten Bereitschaftszustand"; zumal „Indiskretionen junger SS-Leute... annehmen" lassen, daß „für den Fall von Attentaten gegen leitende Männer der Bewegung automatisch Vergeltungsaktionen vorbereitet sind, deren Träger die SS ist". Halder hatte mit diesem Bericht wenngleich nicht ausdrücklich, so doch trotz aller vorsichtig-einschränkenden und sich „positiv" gebenden Formulierungen unüberhörbar das „weltanschauliche" und auf Institutionalisierung tendierende Totalitätsstreben des Regimes, wie es in den Aktivitäten und Ambitionen von Gruppen und Kräften der NSBewegung zum Ausdruck kam, gekennzeichnet. Damit hatte er gleichzeitig den letzten Grund für die Spannungen zwischen Reichswehr und gewissen Kräften des Regimes angedeutet. Ein derartiges Totalitätsstreben mußte zwangsläufig mit dem Selbstverständnis der Reichswehr ebenso in Konflikt kommen, wie es mit dem geistig-religiösen Autonomieoder gar Absolutheitsanspruch der christlichen Kirchen kollidierte. Die spannungsgeladene krisenartige Situation war also keineswegs wie Blomberg es einige Wochen später verharmlosend vor den Befehlshabern formulierte72 bloß einem „Übermaß von Gerüchten und Mißtrauen" zuzuschreiben, von dem auch die Reichswehr erfaßt worden sei. Gewiß, es kamen damals viele Momente zusammen: in der SA herrschte Unzufriedenheit über ihre Entmachtung, teilweise gepaart mit ohnmächtigem Ressentiment gegenüber der jetzt so stark geförderten SS und der Reichswehr, der scheinbaren Siegerin im Streit um die Wehrkonzeption. Die Bevölkerung war aus der Illusion gerissen worden, daß der 30. Juni das Ende des radikalen Revolutionismus bedeutete und nun Ordnung und Recht wiederkehrten. Vielmehr spürte sie Machtstreben und totalitäre Ansprüche auch und gerade kleiner Satrapen der NSDAP; sie reagierte, nach innenpolitischer Ruhe verlangend, mit Unruhe und Kritik. Diese wurden noch gesteigert durch Sorge um -

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72

Besprechung vom

12. 1. 35: WK VII/1343 Akt 13

m

sowie Liebmann-Notizen.

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Spannungen und Illusionen

die wirtschaftliche Entwicklung, durch das Vorgehen von Partei und Gestapo, durch die Bedrängnis der Kirchen. Die SS nutzte die Chancen ihres Erfolges vom 30. Juni aus und versuchte, durch den Aufbau von ideologischen, geheimpolizeilichen und quasi-militärischen Positionen sich beim Aus- und Aufbau des totalitären Staatsgebildes an die Spitze zu setzen.

1934/35 zu sehen; in diesen zwischen Reichswehr und der natioZusammenhang gehören Spannungen nalsozialistischen „Bewegung", wenngleich damals wegen der verwirrenden Vielfalt der akuten Querelen und Zwischenfälle die Gesamtproblematik, die dem allen zugrunde lag, in überwiegendem Maße nicht klar erkannt wurde. Immerhin spitzte sich die Entwicklung um die Jahreswende zu einer regelrechten Vertrauenskrise zwischen Reichswehr und der nationalsozialistischen „Bewegung" zu73. Um die Weihnachtszeit orientierten Heß und Hauptmann a. D. Wiedemann den „Führer" über die Zuspitzung der Spannungen74. Hitler gab sich vorerst noch zögernd und abwartend. Fritsch beklagte sich am 31. Dezember gegenüber Kapitän z. S. Patzig, dem Chef der Abwehrabteilung, die Gestapo verleumde ihn, den Chef der Heeresleitung75. Ihm würden Putschpläne unterstellt. Noch heute werde er Blomberg aufsuchen und die Kabinettsfrage aufwerfen, wenn dies nicht abgestellt würde. Für ihn so erklärte er käme doch ein Putsch überhaupt nicht in Frage. Am nächsten Tag betonte Hitler zwar bei der Neujahrsgratulation nachdrücklich sein Vertrauen zur Reichswehr; aber am Nachmittag glaubte Fritsch gewissen Andeutungen Görings entnehmen zu können, daß eine wilde Hetze gegen ihn im Gange sei. Himmler, so schreibt Fritsch später, habe ihm damals Putschabsichten sogar für einen bestimmten Tag Mitte Januar unterstellt. Was im einzelnen in diesen Tagen vor sich ging, ist nicht ganz klar auszumachen; sicher scheint zu sein, daß gewisse Gruppen aus Partei und Gestapo die Heeresleitung gezielt unter Beschüß genommen haben. Jetzt entschloß sich auch Hitler zum Eingreifen, und zwar in außergewöhnlicher Form. Ihm war wohl klar geworden, daß er die Dinge nicht weiter treiben lassen durfte. Er konnte es nicht auf eine Explosion, ganz gleich welcher Art, ankommen lassen. Er versammelte daher am 3. Januar 1935 die Spitzen von Partei und Wehrmacht in der Staatsoper Unter den Linden76. In anderthalbstündiger Rede versuchte er das bei vielen hohen Offizieren erschütterte Vertrauen in die nationalsozialistische Führung wiederherzustellen; daß dies Sinn und Tenor seiner Ausführungen gewesen ist, zeigen die wenigen überlieferten Sätze77 dieser Rede. Er bezeichnete es als In diesem Gesamtrahmen ist die Krise

um

die

Jahreswende

damit auch die

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73

Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 252.

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Ebd. S. 253. Ebd. sowie Fritsch-Aufzeichnung bei Hoßbach, S. 71 f. 78 O'Neill, S. 52, übernimmt die Angabe bei John W. Wheeler-Bennett, Die Nemesis der Macht. Die deutsche Armee in der Politik 1918-1945, Düsseldorf 1954, S. 360 (engl. Ausg. The Nemesis of Power. The German Army in Politics 1918-1945, London 41964, S. 337), diese Veranstaltung habe in der Kroll-Oper stattgefunden. Krausnick, Vorgeschichte, S. 254, Anm. 43, hatte WheelerBennett bereits berichtigt. 77 Aufzeichnungen in Liebmann-Notizen (Besprechung vom 7.1.35), Foertsch, S. 68, und Zs. 74 75

Nr. 12

(Gen.Admiral

a.

D.

Boehm).

IV. Zeit der

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„unbeirrbaren Willen", Deutschland durch eine starke Wehrmacht zu neuer Weltgeltung und nationaler Sicherheit zu führen. Das erfordere „unerschütterliche Einigkeit". Wieder gebrauchte er das Bild von den zwei Säulen der Wehrmacht und der Partei, auf seinen

welchen der NS-Staat beruhte. Verständnisvoll ging er auf die von der NSDAP früher so kritisierte Loyalität der Armee der Weimarer Zeit ein: „Er sei heute glücklich darüber, daß sich die Reichswehr vor 1933 nicht auf seine Seite geschlagen habe, denn das Wesen einer Wehrmacht sei Gehorsam und konservativer Sinn, und von einer Wehrmacht, die damals ihren Eid nicht gehalten habe, müsse er womöglich auch heute Untreue befürchten." Das war sicherlich als eine captatio benevolentiae gedacht. So betonte er auch nachzu dem Köndrücklich das „unbegrenzte und durch nichts zu erschütternde Vertrauen nen und vor allem zu der Loyalität der gesamten Wehrmacht". Er mahnte nachdrücklich auch, „das gegenseitige Vertrauen zwischen den großen Organisationen (Wehrmacht und Partei) nun endlich herzustellen". Einer der Zuhörer berichtet sogar, Hitler hätte in Anspielung auf die Klagen der Militärs über Bespitzelung der Reichswehr erklärt78: „Dann kommt aber vielleicht einer von der Partei und sagt zu mir: alles schön und gut, mein Führer, aber der General Soundso spricht und arbeitet gegen Sie! Dann sage ich: Das glaube ich nicht! Wenn dann der andere sagt: Ich bringe Ihnen aber schriftliche Beweise, mein Führer!, dann zerreiße ich den Wisch, denn mein Glauben an die Wehrmacht ist unerschütterlich." Die Rede war bewußt auf Beschwichtigung und Wiedergewinnung des Vertrauens im Offizierkorps abgestellt. Ihre Wirkung79 entsprach auch weitgehend dieser Absicht. Blomberg80 versuchte bei den nächsten Befehlshaberbesprechungen, massiver und nachdrücklicher als bisher das Offizierkorps nationalsozialistisch zu beeinflussen gleichsam ein Treuebeweis. Fritsch nannte Hitlers Ausführungen „ein einziges Bekenntnis zur Treue der Armee und ihres Führers", also zu ihm selbst81. General Liebmann erklärte bei einer Besprechung, auf der er seinen Kommandeuren von der Tagung berichtete, Hitlers Vertrauen zur Wehrmacht „kam in geradezu ergreifender Form zum Ausdruck, und wohl keiner, der dabei war, wird sich dem Eindruds entziehen können, daß hier ein Mann sprach, der durch keinerlei kleinliche Machenschaften in diesem seinem Vertrauen zu beirren ist, und daß uns hier ein Vertrauen entgegengebracht wird, das von keinem Ehrenmann enttäuscht werden kann"82. Jener mehrfach erwähnte, von Blomberg enthusiastisch gepflegte, von Fritsch immerhin überzeugt und loyal vertretene, von vielen höheren Offizieren geteilte „Hitlerismus" fand in dieser Rede erneute Bestätigung, erhielt nachdem er durch die Wolken der Auseinandersetzungen mit Repräsentanten und Gruppen ver...

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Zs. Nr. 12. Vgl. dazu Krausnick, Vorgeschichte, S. 256. 80 Vgl. MGFA/DZ WK VII/1343, Akt 13 m: „Reichs[wehr]minister hat außerordentlich scharf gesprochen... Ausführungen müssen bis in die letzten Glieder der Offizierkorps eindringen; das soll bisher nicht der Fall gewesen sein. Monatlich einmal Besprechung in Berlin." (Hervorhebung im Original.)

78 79

81

Fritsch-Aufzeichnung vom 1. 2. 38 (Hoßbach, S. 71). Liebmann-Notizen für Besprechung vom 7. 1. 35. Er begann seine Ausführungen mit den Worten, er sei „nicht in der Lage, Ihnen auch nur andeutungsweise d[en] starken Eindruck [der HitlerRede] wiederzugeben". 82

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dunkelt

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werden drohte neuen Glanz83. So sah die Generalität, wie Hoßbach später schrieb, Hitlers Eingreifen als einen aufsehenerregenden Erfolg der militärischen Führer an84. Es war aber mehr noch für Hitler ein Erfolg. Es war ihm gelungen, wiederum als über den Auseinandersetzungen stehender Mittler aufzutreten, erneut sich gar als wohlwollender, Vertrauen schenkender wie einflößender, die Interessen der Streitkräfte wahrender Staatsmann zu präsentieren. Mußte dadurch die Generalität wie überhaupt das Offizierkorps nicht in der Illusion, zwischen ihm als dem verantwortlichen Staatsmann und der Partei unterscheiden zu können, bestärkt werden? Mußte diese Differenzierung nicht auch der Reichswehrführung, der Heeresleitung und dem Offizierkorps die Illusion geben, daß die Reichswehr, nach Hitlers Worten eine der beiden Säulen des neuen Staates, immer noch eine machtvolle Rolle spielte? Hitler war es gelungen, die Gefahr einer sich entwickelnden folgenschweren Feindseligkeit zwischen Wehrmacht und Partei durch den bewußt demonstrativen Hinweis auf das große Vertrauen, das er gegenüber der Wehrmacht hegte, aufzufangen. Er hatte das Risiko einer unkontrollierbar werdenden Feindseligkeit zwischen Teilen der Partei und Wehrmacht abgewendet, die seiner persönlichen Machtstellung und seinem Regime insgesamt möglicherweise hätte gefährlich werden können. Zugleich hatte er das Offizierkorps stark zu seinen Gunsten beeinflußt und damit die vorhandene Unruhe und Unzufriedenheit weitgehend neutralisiert. Hinter dem Eingreifen Hitlers stand aber mehr als nur das im allgemeinen Interesse seiner persönlichen Macht liegende Abfangen momentaner Spannungen. Einmal wird es ihm darum gegangen sein, eine für die unmittelbar darauffolgende Regelung des Problems der bewaffneten SS-Verbände sie erfolgte, wie erwähnt, Anfang Februar weniger ungünstige psychologische Lage herzustellen. Hatte er am 3. Januar die Sonderstellung der Reichswehr bestätigt, so konnte er am 2. Februar auf jenen Kompromiß hinarbeiten, der die Reichswehr keineswegs von der SS-Konkurrenz befreite, sondern bei Zugeständnissen in einzelnen Fragen die Konkurrenz vielmehr etablierte. Weiterhin wird es ihm darauf angekommen sein, angesichts der bevorstehenden Saarabstimmung die innenpolitischen Spannungen zu dämpfen, wozu vor allem eben die Beruhigung des Verhältnisses zwischen Parteistellen und der Reichswehr gehörte. Insbesondere konnte er sich angesichts seiner Aufrüstungspläne bekanntlich wurde die allgemeine Wehrpflicht einige Wochen später, am 16. März, verkündet keine Opposition in militärischen Kreisen leisten, zumal er sich wohl bereits darüber klar war, daß seine und der Generäle Vorstellungen vom Umfang der Aufrüstung im Rahmen der Wehrpflicht auseinandergingen. Hitlers ungewöhnlicher Schritt vom 3. Januar 1935 war also alles andere als der Versuch, die psychologischen Nachwirkungen des 30. Juni zu überwinden, wie man gemeint hat85. Das war angesichts der damals zu

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In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß die um jene Zeit erfolgenden Ehrenrettungsversuche Mackensens bei Blomberg auf eine für ein derartiges Unterfangen sehr ungünstige psychologische Situation stießen. Mackensens Ausführungen auf der Schlieffentagung (vgl. oben Kap. Ill S. 131 f. dieser Arbeit) hat alsdann Blomberg auch mit einem schroffen „Maulkorb"-Erlaß an die Offizierkorps quittiert (vgl. Dok.-Anh. Nr. 12). 84 Hoßbach, S. 74. 85 So Krausnick, Vorgeschichte, S. 255. 83

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

161

bezeigten Haltung der Masse des Offizierkorps kaum mehr nötig. Auch waren die Spannungen um die Jahreswende 1934/35 kaum Folgeerscheinungen der Ereignisse um den 30. Juni als vielmehr Symptome für den Zusammenstoß totalitärer Expansionstendenzen von seiten gewisser Parteikräfte mit den politischen Ansprüchen und Vorstellungen der

Reichswehr.

Krisenentwicklung wurden, wie bereits angedeutet, jene Differenzen zwischen Reidiswehrführung und Heeresleitung stärker spürbar, die für die nächsten Jahre charakteristisch und folgenreich werden sollte, zumal sie sich in mancher Beziehung bis zu unüberbrückbarer Gegensätzlichkeit entwickelte. Das zeigte sich bereits deutlich im Verlauf der Auseinandersetzungen mit der SS und dem SD in der zweiten Jahreshälfte 1934. Noch ganz unter dem Eindruck der Zusammenarbeit bei der Röhm-Affäre behandelten Blomberg und Reichenau die sich häufenden Zwischenfälle zwischen Reichswehr und SS mit auffälligem Entgegenkommen und betonter Kameradschaftlichkeit. Bei mehreren Fällen von Beleidigung der Reichswehr durch SSoder SD-Angehörige verzichteten Reichenau und Blomberg darauf, Straf antrage zu stellen, und überließen die Ahndung der Delikte vertrauensvoll SS-eigener Disziplinar-Regelung86. Alle einschlägigen Quellen lassen eindeutig die Tendenz der Reidiswehrführung erkennen, Zwischenfälle und Konflikte mit SS und SD diskret und entgegenkommend zu erledigen. Selbst so gravierende Vorkommnisse wie die geheime Überwachung von Reichswehr-Dienststellen durch den SD spielte Reichenau nicht hoch, sondern bereinigte das Problem letztlich allerdings ohne anhaltende Wirkung auf diskrete Weise durch persönliche Fühlungnahme mit Himmler87. Weiterhin ließ Blomberg sich in diesem Fall allerdings war Reichenau anderer Ansicht88 aufgrund beständigen Drängens seitens der SS und der NS-Auslandsorganisation herbei, den Chef der Abwehrabteilung, Kapitän z. S. Patzig, abzulösen und durch den damals dem Regime gegenüber noch positiv eingestellten Kapitän z. S. Canaris89 zu ersetzen. Patzig versäumte es im übrigen anläßlich seiner Abmeldung nicht, dem Minister deutlich seine Ansicht über die politische Entwicklung darzulegen, insbesondere über das Treiben der SS, die er als Sammelbecken entwurzelter ExiIm Verlauf dieser

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Vgl. z.B. in MGFA/DZ W 01-5/108, Reichenaus Schreiben Nr. 3417/34 I Ia vom 27.8.34 (sieht in Erwartung einer disziplinaren Regelung durch Gestapo von Strafantrag wegen schwerer Beleidigung der Wehrmacht durch einen Gestapobeamten ab). Vgl. auch ebd. Reichswehrminister I Ia o.Az vom 20.10.34, darauf Notiz von Major Foertsch: „wird von Chef WA mit Himmler mündlich besprochen". Vgl. auch ebd., I Ib vom 9. 8. 34 (Fall Kptltn. Land). 87 Ebd. Vorgang vom 20. 10. 34, dazu auch Vortragsnotiz Chef I vom 18. 12. 34. 88 Hier deutet sich eine Meinungsdifferenzierung auch unter den beiden maßgeblichen Männern der Wehrmachtführung an. Vgl. Mitteilung Admirai a. D. Patzig an MGFA vom 18./19.1. 1966 sowie Zs. Nr. 540. Raeder soll zu P. bei dessen Abmeldung gesagt haben, er, Raeder, habe sich 88

nicht gegen dessen Ablösung durchsetzen können. 89 Nach Patzigs Bericht vom 18./19. 1. 1966 hat Raeder anfangs Canaris als P.s Nachfolger abgelehnt, dann aber deshalb zugestimmt, weil die Abwehr sonst wieder wie vor Patzigs Zeit an das Heer gefallen wäre. Canaris sei damals noch positiv gegenüber dem Regime eingestellt gewesen und habe die bald allerdings völlig aufgegebene Absicht geäußert, besser als P. mit der Partei zusammenzuarbeiten. -

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Spannungen und Illusionen

und Verbrecher ansehe. Die SS schrecke vor nichts zurück, wenn es um die Erweiterung ihrer Macht gehe. Blombergs Beurteilung der SS und sein Verhältnis zu ihr geht aus seiner erregten Erwiderung90: „Die SS ist eine Organisation des Führers!" hervor. Bei der Zunahme der Zwischenfälle und Spannungen konnte sich wohl auch Blomberg nicht verhehlen, daß die Entwicklung einen Punkt zu erreichen begann, wo die Methode vertrauensvoller Kameraderie und wohlwollender Zusammenarbeit mit den nationalsozialistischen Kontrahenten der Reichswehr nicht mehr möglich war. Nicht zuletzt deshalb drängte sich ihm diese Einsicht auf, weil im Ministerium selbst eine unnachgiebigere Stimmung Platz griff91. Insbesondere hatte inzwischen auch Reichenau anscheinend die aufziehenden Gefahren erkannt und begonnen, eine härtere Haltung einzunehmen. Bei der obersten Reichswehrführung schienen sich also, je härter die Konfrontation mit gewissen Elementen der „Bewegung" wurde, Anzeichen einer differenzierteren Haltung zu zeigen. Blomberg allerdings schwenkte keineswegs auf eine stärkere Linie ein. Vielmehr strebte er, je mehr sich die Lage zuspitzte, desto entschlossener eine Politik des Ausgleichs an. Schließlich war es seinen Bemühungen zuzuschreiben, daß Himmler anläßlich der erwähnten Intervention Hitlers vom 3. Januar einen Vortrag vor der Generalität hielt92, in dem er die Aufgaben der SS darlegte und kameradschaftliche, loyale Zusammenarbeit zusagte, ohne jedoch wie es scheint konkrete Versprechungen abzugeben. Auf Seiten der Führung des Heeres setzten vom zweiten Halbjahr 1934 an bedeutungsvolle Entwicklungen ein. Die Heeresleitung wurde mehr und mehr zum Zentrum der Abwehr gegen die reichswehrfeindlichen Bestrebungen aus den Reihen der nationalsozialistischen „Bewegung". Fritsch hatte im ersten Halbjahr seiner Amtsführung wie wir gesehen hatten den politischen und militärpolitischen Kurs der Reichswehrführung im stenzen

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Prinzip wie in der konkreten Realisierung loyal unterstützt. Jetzt aber begann er sich mehr und mehr zu emanzipieren, so daß das Offizierkorps bald in ihm „den starken Gegenpol gegen die das Wesen sowie die Tradition des Heeres nachteilig berührenden, schwankenden und nachgiebigen Maßnahmen des Reichswehrministers sah"93. Das war durchaus berechtigt und begründet, denn wie gegen die SA, so machte Fritsch auch eindeutig gegen alle reichswehrfeindlichen Maßnahmen und Tendenzen der SS Front; ebenfalls spiegeln seine Maßnahmen und Stellungnahmen im Zusammenhang mit den bewaffneten SS-Verbänden das offenkundige Bemühen wider, die Interessen der Streitkräfte trotz Blombergs Zugeständnissen weitestmöglich zu wahren. Damit jedoch geriet er in dem Maße, wie Blomberg Entgegenkommen zeigte, seinerseits in Gegensatz zum Minister. Diese fortschreitende Emanzipierung des Chefs der Heeresleitung von der Reichswehrführung wurde durch verschiedene Momente verursacht, gefördert und vorangetrieben. Zunächst war es die ganz natürliche Entwicklung eines profilierten Offiziers, der nach einer gewissen Zeit in einem neuen Amt, eben an der Spitze des Heeres die damit gegeSiehe oben Anm. 88 sowie die Schilderung bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 249 f. An den in MGFA/DZ W 01-5/108 enthaltenen Vorgängen zwischen Juni 1934 und Januar 1935 läßt sich dieser Prozeß genau verfolgen. 92 Vgl. oben Anm. 35 dieses Kapitels. 93 Hoßbach, S. 73; vgl. auch Krausnick, S. 244 ff. 99 91

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Spannungen und Illusionen

163

und Probleme erkannt und die Zügel der Führung fest in den Griff genommen hatte94. Wichtiger war jedoch ein anderes: Fritsch trug schwer an seinem Amt. An Joachim v. Stülpnagel schrieb er gegen Jahresende, seine Stellung als Chef der Heeresleitung habe ihm „kaum je eine frohe Stunde, wohl aber eine fast unerträgliche Last quälender Sorge u[nd] täglichen, zermürbenden Ärgers gebracht. Ich fürchte manchmal, daß ich es nicht mehr lange aushalte. Ich bin ziemlich am Ende meiner Kraft05." Nicht zuletzt mag so darf man vermuten das Bewußtsein, zwar unwillentlich, aber unleugbar in die schrecklichen Ereignisse vom 30. Juni verstrickt worden zu sein, und die Erkenntnis, von Reichenau in diese peinlichen, bösen Dinge hineingezogen zu sein, bei Fritsch fortan das Streben nach vorsichtiger Distanz von der Reidiswehrführung und seine argwöhnische Wachsamkeit dieser gegenüber hervorgerufen haben. Seine Anordnung06, innenpolitisch relevante Meldungen nicht an ihm vorbei direkt an Reichenaus Wehrmachtamt zu geben, war ein Ausfluß seiner gegenüber der Reidiswehrführung nach dem 30. Juni eingetretenen Ernüchterung und kritischen Distanz. Schließlich wurden Fritsch, der von Natur aus ein „reiner Soldat", ein politisch ungebildeter und kaum interessierter Offizier war, die Augen über die Lage draußen im Lande, über die nationalsozialistische Herrschaftsausübung durch die an ihn gerichteten Lageberichte aus den Wehrkreisen geöffnet07. Hier waren es vor allem zwei Chefs des Stabes, Halder in München und Höring in Stuttgart, die in ihren Berichten ein ungeschminktes Bild der Verhältnisse zeichneten08. Insbesondere Hal-

benen

Aufgaben

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Hoßbach, S. 73: „Schon nach wenigen Monaten seiner Amtszeit war er unangefochten im Besitz des Vertrauens des Offizierkorps ..." 95 MGFA/DZ II H 859, Brief vom 23.12. 34. Vgl. dazu die Aussage des ehemaligen Oberbürgermeisters von Berlin, Dr. Sahm, abgedruckt bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 246, Anm. 21, sowie MGFA/DZ, Ausarbeitung General Geyr v. Schweppenburg über Generaloberst v. Fritsch, S. 2. 96 MGFA/DZ OKW 867; WK VII/1343, Akt 13 m, sowie WK VII/399 vom 30. 3. 35: Chef der Heeresleitung erwartet, daß „in allen das Heer betreffenden Angelegenheiten sofort und mit Vorrang ihm gemeldet wird". Die Heeresleitung sei „nicht Durchgangsstelle oder Zwischeninstanz 94

zum

Wehrmachtsamt".

Vgl. Ausarbeitung General Geyr v. Schweppenburg über Generaloberst v. Fritsch, S. 2: „Fritsch war reiner Soldat. Von Haus aus lag ihm Politik, besonders Außenpolitik, wenig. Er fing erst an, sich damit zu befassen..." (Mitte 1934). Vgl. auch Hoßbach, S. 108, und Fritschs Selbstcharakteristik bei J. A. Graf v. Kielmansegg, S. 27. 98 Mitteilung Generaloberst Halder vom 10.11.1965 an das MGFA: seit Ende 1934 habe er „sehr kritische Berichte" über den Adjutanten des ObdH, Major v. Funck, an Fritsch gesandt. Einer dieser Berichte gelangte irgendwie zu Blombergs Kenntnis. Dieser verlangte von Fritsch die Ablösung 97

was der ObdH jedoch ablehnte. Einige kritische Berichte Halders finden sich in MGFA/ DZ WK VII/1295, 1342 und 399. Bezüglich Höring: 1. Mitteilung Generaloberst Halder vom 10.11.1965 an das MGFA und 2.MGFA/DZ W 01-5/108: Höring orientiert Reichswehrministerium über den Rücktritt des Koblenzer Oberpräsidenten Frhr. v. Lüninck aus Gründen des „Dualismus von Partei- und Staatsbehörden"; dieser „führt im Lande zu unmöglichen Verhältnissen". Der Vizepräsident hatte Höring am 25. 1. 35 gebeten, „die staatspolitischen NotwendigInhalt seines [d. h. Lünincks] Gesuches hervorgehen, vernehmlich der keiten, die aus dem Staatsführung zu Ohren zu bringen". Reichenau, zu jener Zeit noch um ein gutes Verhältnis zu den Parteistellen bemüht, fing Hörings Intervention jedoch ab.

Halders,

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IV. Zeit der

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der berichtete nicht bloß die notwendigen Fakten, er wies vielmehr wieder und wieder auf die politische Relevanz dieser Tatsachen hin. Er setzte sich sogar über Blombergs Verbot99 hinweg, politische Lageberichte zu schreiben was Fritsch im übrigen nicht nur deckte, sondern sogar geradezu billigte100 -; er bemühte sich, auch auf Beck einzuwirken, der damals durchaus noch anschmiegsam gegenüber dem Regime gewesen sein soll, zumindest aber noch auf positive Entwicklungen hoffte101. So schrieb Halder Ende 1934 ganz offen in einem seiner Berichte102, die Entwicklung der Dinge könne rasch an die Grenze führen, wo die Staatsautorität auf dem Spiele" stehe und „damit der Pflichberührt" werde. „Diese Möglichkeit muß bei tenkreis der militärischen Befehlshaber und Kommandostellen in Rechnung gestellt werden103." Heeresleitung nachgeordneten Derartige gezielte Einwirkungen einiger höherer Offiziere, zu denen neben den genannten auch der bereits außer Diensten befindliche Joachim v. Stülpnagel und der Chef der Abteilung T 3 im Truppenamt, Karl-Heinrich v. Stülpnagel, gehörten104, werden nicht ohne Wirkung geblieben sein. Sie trugen mindestens dazu bei, die Ernüchterung des Chefs der Heeresleitung und seine Emanzipierung von der Reichswehrführung zu fördern sowie die kritische Wachsamkeit gegenüber der Partei und ihrer Gliederungen zu stärken. Immer mehr sah es Fritsch fortan als seine Aufgabe an, das Heer vor den expansiven Tendenzen und der Einflußnahme der Parteiorganisation zu bewahren, Übergriffe abzuwehren und etwaige Folgen der Konzessionsbereitschaft Blombergs einzudämmen. In seinen Augen lief der Reichswehrminister nunmehr Gefahr, das klassische Konzept der Erhaltung und Förderung einer einflußreichen autonomieähnlichen Stellung der Reichswehr aufzugeben, mindestens aber durch Konzessionsbereitschaft auszuhöhlen. Der Kernpunkt der Differenz zwischen Heeresleitung und Reichswehrführung lag demgemäß zunächst in einer unterschiedlichen taktischen Auffassung. Wenn Hoßbach Fritschs Ziel als die Absicht kennzeichnet, „die Sonderstellung des Heeres als isolierter Insel der alten Tugenden und Werte inmitten eines politisch-moralisch gleichgeschalteten Parteistaates weitgehend aufrechtzuerhalten"105, dann stimmte das insoweit mit der Intention der Reichswehrführung überein, als auch sie eine Sonderstellung der Reichswehr anstrebte, nämlich ein einflußreicher, nicht zu übersehender Machtfaktor und Willensträger im „Dritten Reich" zu sein. Die -

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Vgl. oben Anm. 70 dieses Kapitels. Vgl. oben Anm. 98 dieses Kapitels. So Mitteilung Generaloberst Halder

vom 10.11.1965 an das MGFA sowie Spruchkammerverfahren gegen Generaloberst Halder, fol. 26 f. (Aussage vom 15.9.1948); sodann Aussage Dr. Wagener, Institut für Zeitgeschichte, ED-60. 192 MGFA/DZ WK VII/1295, vgl. Dok.-Anh. Nr. 14. 103 Vgl. dazu auch das weiter unten auf S. 168 f. dieses Kapitels Ausgeführte sowie Halders Brief vom 6. 8. 34 an Beck, in dem er wie im Schlußabsatz des zitierten Berichtes die der Armee

zufallende Ordnungsfunktion stark betonte (Foerster, S. 28). 104 MGFA/DZ Ausarbeitung General Geyr v. Schweppenburg über Generaloberst v. Fritsch, S. 2. 105 So Krausnick, Vorgeschichte, S. 246. Das war gewiß die Absicht Fritschs; ob es ihm jedoch gelungen ist wie Krausnick ebd. meint -, diese Absicht auch zu verwirklichen, ist u. E. sehr fraglid\. Ideell jedenfalls, also auf jene „alten Tugenden und Werte" bezogen, ist ihm das, wie die ideologische Spaltung im Offizierkorps (vgl. das weiter unten Ausgeführte!) zeigt, mißlungen. -

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lag wie gesagt im taktischen Bereich, nahm von hier aus allerdings alsbald einen unleugbar qualitativen Charakter an. Die Formulierung „als isolierter Insel der alten Tugenden und Werte" hätten Blomberg und Reichenau nie akzeptiert. Blomberg Differenz

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soll einmal gesagt haben, einst sei es die Ehre des preußischen Offiziers gewesen, korrekt zu sein, die des deutschen Offiziers müsse es werden, verschlagen zu sein106. Diese beiden Offiziere wollten eben keine Sonderstellung durch Isolierung, durch vornehm-reserviertes Abseitsstehen Blomberg aus naivem Enthusiasmus nicht, Reichenau nicht aus machttaktischer Einsicht. Sie wollten durch ihr „Hinein in den neuen Staat", durch „Mitmachen" die Machtteilhabe erreichen und damit eine Sonderstellung der Streitkräfte in einem sonst gleichgeschalteten Staat sichern. Fritschs taktisches Rezept dagegen war Heraushalten aus dem politischen Kräftespiel und Abwehr gegen Übergriffe, allerdings bei vollständiger und bejahender Loyalität gegenüber dem neuen Staat, insbesondere gegenüber dem „Führer und Reichskanzler"107. Exemplarisch kommt die Verschiedenheit der Standpunkte, aber auch ihre bezeichnende partielle Übereinstimmung in den Reaktionen Blombergs und Fritschs auf Hitlers Intervention vom 3. Januar 1935 und in ihrer Interpretation der vorausgegangenen Spannungen zum Ausdruck. Auf beide Offiziere machte Hitlers anscheinend so reichswehrfreundliche Rede einen tiefen Eindruck108. Beide, insbesondere aber der von Hitler lobend apostrophierte Chef der Heeresleitung, sahen sich in ihrem Vertrauen, das sie dem „Führer und Reichskanzler" in großem Ausmaß entgegenbrachten, durch dessen Worte bestätigt. Blomberg ließ sich diesbezüglich vor den Befehlshabern in der ihm eigenen enthusiastischen Art aus. Aber auch aus den ruhigen klaren Worten des Generals v. Fritsch sprach eine tiefe und aufrichtige Loyalität dem Kanzler gegenüber. Für ihn waren Hitlers Ausführungen „ein einziger Vertrauensbeweis"109 für das Heer und die Heeresleitung. Hitler sei so sagte er den Befehlshabern „ganz auf [die] Wehrmacht eingestellt"110. Der 3. Januar sei „ein eindeutiges Bekenntnis, eine Option für die Wehrmacht gewesen". Gewiß, Fritsch ist nie irgendeiner Faszination Hitlers erlegen111, aber seine Loyalität, sein Vertrauen in den Kanzler irgendwie habe er an ihn geglaubt, sollte er später einmal sagen112 war fest gegründet. Für ihn spielte er fraglos die Rolle eines Ersatzmonarchen. -

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Zitiert bei Walter Görlitz, Der deutsche Generalstab, Geschichte und Gestalt 1657-1945, Frankfurt a. M. 1950, S. 348. 107 Die Loyalität zerbrach erst im Verlaufe der gegen ihn inszenierten Intrige. Die Niederschrift vom 1. 2. 38 ist noch fast ganz von ihr bestimmt (vgl. den bei Hoßbach nicht abgedruckten Passus in BA/MA H 08-28/3, fol. 170a); die im Laufe der Jahre 1938 und 1939 verfaßten Briefe Fritschs an die Baronin Schutzbar (BA/MA H 08-33/6) zeigen dann den inneren Bruch mit Hitler. 108 Das wird deutlich, wenn man Tenor und Stimmung des Fritsch-Briefes vom 23.12. 34 an Joachim v. Stülpnagel und seine Ausführungen auf der Besprechung vom 12.1.35 beachtet. Die 106

Aufzeichnung Fritschs vom 1. 2. 38 spiegelt sogar noch drei Jahre später den großen Eindruck wider, den Hitlers Rede auf den ObdH gemacht hat. 109 Aufzeichnung vom 1. 2. 38 (Hoßbach, S. 71). 110 MGFA/DZ WK VII/1343, Akt 13 m: Besprechung vom 12. 1. 35. 111 Vgl. Hoßbach, S. 108. 112 Aussage Friedrich-Wilhelm Heinz, zit. nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 289.

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So legte er seinen Generälen eindringlich nahe, die Person des „Führers" müsse „jeder Kritik entzogen werden, wir sind auf ihn vereidigt und müssen uns unbedingt vor ihn stellen"113. Völlig verschieden jedoch waren die Ansichten Blombergs und Fritschs über die Spannungen mit der Partei und ihren Organisationen. Im Grunde leugnete der Minister einfach irgendwelche reichswehrschädigenden feindseligen Absichten oder auch nur Fehler auf der Parteiseite114. Er sprach zwar von „politischen Tageskämpfen", aus denen sich die Reichswehr strikt herauszuhalten habe; im übrigen jedoch schob er mehr oder weniger ausdrücklich der Reichswehr weitgehend selbst die Schuld an den vorausgegangenen Spannungen und Schwierigkeiten zu. Sie sei von den „übermäßig vielen ausgestreuten Gerüchten, die im Lande" umgingen, „angesteckt", und nicht überall sei im Heere „das nötige Maß an Selbstdisziplin gewahrt worden". Es werde „zu viel geschwätzt". Fritsch hingegen betonte, die Reichswehr habe „viele versteckte Feinde", aber in seinem Vertrauen zu Hitler meinte er, das werde sich geben, „je mehr der Führer... bei jeder Gelegenheit betont,... [die] Wehrmacht [sei das] größte Aktivum des neuen Reiches"115. Blomberg aber rügte die Generäle, es herrsche im Heer „vielfach mangelndes Verständnis dafür, daß im Dritten Reich nur eine Partei existiert und daß diese Partei gleichgesetzt ist dem Staat". Manche Leute begriffen eben noch nicht, daß heute der Staat durch die Partei geformt werde116. Fritsch gab sich keiner Illusion über die feindselige Rivalität aus Parteikreisen hin, vertraute aber auf den Kanzler; Blomberg leugnete eine derartige Ursache der Spannungen, suchte sie vielmehr in der seiner Ansicht nach unzulänglichen inneren Einstellung des Heeres zum nationalsozialistischen Staat. Hinsichtlich der SS machte Fritsch seinen Standpunkt gegenüber den Befehlshabern ganz deutlich. Er sagte nach den Aufzeichnungen eines Teilnehmers am 12. Januar auf der Befehlshaberbesprechung: „Die Division ist bewilligt (leider!) und bleibt. Ob glücklich, ist fraglich. Sie wollen Artillerie, können sie aber vorläufig nicht bekommen. SS will natürlich mehr! Das wird noch Kämpfe geben, aber am schließlichen Sieg der Wehrmacht ist nicht zu zweifeln..." Er befahl dann, stets und sofort alle Verstöße der SS gegen die Bestimmungen zu melden, und wies warnend darauf hin, daß die SS sogar versuche, Offiziere des Heeres regelrecht abzuwerben117. Der Reichswehrminister dagegen beklagte sich lebhaft darüber, daß er vom Heer eine „ganz unmögliche Beurteilung" der SS-VerMGFA/DZ WK VII/1343, Akt 13 m; Besprechung vom 12.1. 35. Er führte dabei u. a. aus: „Das Verhältnis des Kanzlers zur Wehrmacht ¡st ganz auf Wehrmacht eingestellt. Manche Dinge will er nicht lösen, weil er glaubt, daß sie sich von selbst lösen werden. Der 3. Januar war ein eindeutiges Bekenntnis, eine Option für die Wehrmacht gewesen, alles andere nur eine Arabeske. Er hat unzweideutig für die Wehrmacht optiert..." Vgl. auch Anm. 119. 114 Vgl. Liebmann-Notizen vom 15.1. 35 sowie WK VII/1343, Akt 13 m. 113

Ebd. Damit gab er indirekt die „Zwei-Säulen-Theorie" auf zugunsten einer Präponderanz der Partei. 117 MGFA/DZ WK VII/1343, Akt 13 m; vgl. auch Liebmann-Notizen vom 15. 1.35, darin die Bemerkung „Offiziere gehen zu Parteibonzen! Wer es tut, ist nicht zu gebrauchen." In MGFA/DZ W 01-5/108, Bericht WK VII, Ic Nr. 55/35 v. 2. 4. 35 über Abwerbungsversuche der SS. 115

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erhalten habe. „Mißtrauen und angemaßtes Schiedsrichtertum" seien im Platze118. Fritsch versuchte mit Nachdruck, seine Offiziere auf einen klaren „Hitlerismus" einzuschwören119; das schien ihm der beste Weg, die Interessen des Heeres zu wahren, das war ihm zudem eine innere Notwendigkeit. Der Partei gegenüber aber wollte er voller Mißtrauen wachsame Distanz bewahren. In ideologischer Hinsicht er bejahte durchaus den „weltanschaulichen Unterricht" im Heer bestimmte sich für ihn das notwendige Maß eben durch die angenommene teilweise Identität bzw. gegenseitige Ergänzung von „alten Tugenden und Werten" und dem von ihm gepflegten „Hitlerismus". Aus den jüngsten Querelen zog er damals die Lehre: vertrauensvolle Anlehnung an Hitler, wachsame Defensive gegenüber den bedenklichen Kräften der Partei. Blomberg jedoch zog aus den Differenzen zwischen Reichswehr und nationalsozialistischer Bewegung eine andere Konsequenz: er setzte das Offizierkorps unter starken politischmoralischen Druck und suchte, seine Einflußnahme noch mehr zu verstärken120. Im Gegenso führte er aus -121 sei heute die Armee „im höchsten Grade satz zu früheren Epochen zwar und Sinne der Gleichschaltung mit der nationalsozialistischen Welt„im politisch", Sie sei unpolitisch „im Sinne einer Nichtbeteiligung an den politischen anschauung". Tageskämpfen". Die Wehrmacht könne unmöglich einer weltanschaulichen Neutralität huldigen. Es habe nämlich „niemals ein Reich gegeben in dem die Interessen der Wehrmacht eine nur annähernd so große Berücksichtigung gefunden hätten", wie es im nationalsozialistischen Staat der Fall sei. Daher sei „die gesamte Wehrmacht... tief eingetaucht in die Weltanschauung des jetzigen Staates". Diesem massiven Hinweis auf den Interessenwer sich dieser nationalsozialististandpunkt122 fügte er sodann die Drohung hinzu: schen Weltanschauung nicht fügen kann, der ist in den Reihen der Wehrmacht unmöglich und muß entfernt werden." Das war ein Postulat, das zu jener Zeit nicht einmal Hitler selbst dem Offizierkorps gegenüber aufzustellen für angebracht hielt. Wieder einmal zeigte sich Blomberg „hitlerischer" als Hitler selbst123. Im Verlauf jener spannungsreichen Phase, deren Höhepunkt wohl um die Jahreswende 1934/35 anzusetzen ist, haben sich über jene Meinungsverschiedenheiten zwischen Reichswehrminister und Chef der Heeresleitung hinaus noch andere Tendenzen bemerkbar gemacht, die, wenn sie auch einigermaßen folgenlos blieben, doch aufschlußreich für die innere Situation im höheren Offizierkorps sind.

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MGFA/DZ WK VII/1343, Akt 13 m. In diesem Zusammenhang ist auch seine Anordnung vom 27. 7. 36 zu sehen, in der er an den „guten, alten Brauch" erinnert, bei feierlichen oder gesellschaftlichen Veranstaltungen des Offizierkorps „an erster Stelle des Staatsoberhauptes zu gedenken". Daher „das erste Glas dem Führer" (ObdH Nr. 3743) MGFA/DZ WK XIII/289. 129 Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 258. 121 MGFA/DZ WK VII/1343, Akt 13 m. 122 Vgl. dazu die Heinrici-Aufzeichnung bei Foertsch, S. 58 : „Kein Staat tut mehr für seine Armee." 123 Vgl. dagegen nämlich Hitlers Satz in seiner Rede vom 13. Juli 1934: „Ich kann von Ihnen nicht fordern, daß Sie im einzelnen Ihre Stellung zu unserer Bewegung finden." (Schultheß 1934, S. 180). Vgl. auch Mau, S. 137. Ähnlich hatte Blomberg schon in seiner Rede vom 9. 10. 34 argumentiert. 118

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IV. Zeit der

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Zunächst ist bemerkenswert, daß Reichenau damals durchaus nicht immer mit Blombergs undifferenziert pro-nationalsozialistischem Kurs konform ging. Er hat zusammen mit Beck und Fritsch der von Blomberg zugestandenen Opferung Patzigs entgegenzuwirken versucht124. Gleichfalls hat er bei verschiedenen Gelegenheiten bei Hitler gegen Parteifunktionäre Stellung genommen125. Auch gegenüber der SS nahm er jetzt eine intransigente Haltung ein126. Reichenau hat damals wohl stärker als zuvor den expansiven Charakter gewisser Bestrebungen von Seiten einiger Kräfte in der Partei gespürt. Witterte er vielleicht die Gefahren, die darin für die Stellung der Streitkräfte im neuen Staat, nicht zuletzt auch für seine eigene Machtposition lagen? Wären er und Fritsch nicht so völlig verschieden gewesen, beide nicht miteinander in Kompetenzstreitigkeiten verbissen, nicht durch Mißtrauen, Rivalitätsargwohn und persönliche Abneigung voneinander getrennt gewesen, dann hätten ihnen die Indizien, die auf eine sachliche Basis für eine Allianz von Heeresleitung und Wehrmachtamt hinzudeuten schienen, nicht entgehen können. Man ist angesichts dieser Indizien geneigt, sich der Spekulation hinzugeben, was geschehen wäre, wenn die Krise nicht durch Hitlers Eingreifen abgefangen worden wäre. Hätte der ehrgeizige und dynamische Reichenau nicht vielleicht die Heeresleitung zu weitergehenden Maßnahmen mitgerissen? Hätte in diesem Falle nicht ein radikalerer Kurs, der von dem einen oder anderen höheren Offizier des Heeres gegenüber der Partei (nota bene: nicht gegenüber Hitler) befürwortet wurde, sich vielleicht durchsetzen können? Hatten doch bereits Vertreter eines solchen Kurses ihre Stimme warnend erhoben ! Halder wäre in diesem Zusammenhang an erster Stelle zu nennen. Er hatte während seiner Tätigkeit in Münster sowie zuvor und jetzt wieder im bayerischen Wehrkreis das Treiben der regionalen Parteigrößen und die expansiven Tendenzen der NS-Bewegung überhaupt genau beobachten können. Dieser nüchterne, kritische Mann war daher seit langem von Abneigung, wenn nicht gar Abscheu, gegenüber „den zum Teil wahrhaft minderwertigen" Vertretern der NSDAP erfüllt127, zudem keineswegs auch späterhin nicht in irgendeiner Weise von Hitler fasziniert. Er galt vielen übrigens auch ausländischen Beobachals Exponent einer gegen den pronationalsozialistischen Kurs der Reichswehrtern führung gerichteten Richtung im Heer128. Damals, während der spannungsgeladenen Zeit 1934/35, hatte er wiederholt seine militärischen Vorgesetzten bis hin zu den verantwortlichen Männern der Heeresleitung nicht nur ungeschminkt über die Lage aufgeklärt, sondern sie deutlich auf ihre Verantwortung für die Gesamtentwicklung hingewiesen. Mehr noch, er hat mit zwar in den Formulierungen vorsichtigen, in der Sache jedoch eindeutigen Hinweisen die Schlüsselstellung der Reichswehr und ihre Verantwortung für die kommen-

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Krausnick, Vorgeschichte, S. 249.

So (allerdings erfolglos) im Fall Stephanus (Krausnick, Vorgeschichte, S. 248). MGFA/DZ W 01-5/108, Schreiben Reichenaus an Chef Marineleitung Nr. 20/34 g. I Ib v. 19. 1. 35, in dem es hieß: „Ein nochmaliges Herantreten an die SS [wie die Marineleitung es vorgeschlagen hatte] könnte zu der Auffassung führen, als ob ein militärisches Urteil noch durch eine Billigung der SS gestützt werden müsse." 117 So in einem Brief vom 6. 8. 34 an Beck (auszugsweise bei Foerster, S. 27 f.). 128 Davon nahm auch die Auslandspresse Notiz: Spruchkammer-Verhandlung gegen Generaloberst Halder, Sitzung v. 15. 9. 1948, fol. 26. 125

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den Entwicklungen hervorgehoben129. Es wird kein Zufall gewesen sein, daß Halder mehrfach die Möglichkeit eines innenpolitischen Eingreifens der Reichswehr erwähnt. Fast hat es den Anschein, als wollte er die Heeresleitung an einen derartigen Gedanken gewöhnen. Im August 1934 hatte er in einem Brief130 gewisse Tendenzen im Nationalsozialismus welche sich heute wirkungsvoll geradezu mit der „kommunistischen Gefahr hinter der Autorität des Führers" verstecke, verglichen eine für nationalsozialistische Ohren ungeheuerlich klingende Formulierung und die Vermutung geäußert, daß die „Röhm-Revolte nur eine und vielleicht nicht die gefährlichste Eiterbeule, die Deutschlands kranker Körper" trage, sei. Er forderte daher von der Heeresleitung „eine die Kräfte richtig wertende, vorausschauende und ihr Schwergewicht geschickt geltend machende Vertretung der Armee", die vorbeugend viel tun könne, damit dem Heer „später die schreckliche Rolle des bewaffneten Friedensstifters im eigenen Volk" erspart bleibe. Beck scheint das Gewicht dieser Worte wohl verstanden zu haben131. Derartige Hinweise waren in Halders Berichten nicht vereinzelt. Im Dezember 1934 hielt er in einem Bericht über die innenpolitische Lage im Wehrkreis VII „vorbeugende Maßnahmen [für] dringend geboten"132. Da die Erregung über die anti-kirchlichen Maßnahmen der Partei gewisse Bevölkerungskreise veranlasse, diese Probleme an die Standortältesten heranzutragen, „auf die man letzte Hoffnung setzt", müsse die Heeresleitung die Möglichkeit ins Auge fassen, daß unter Umständen die Wahrung der „Staatsautorität" auf den Schultern der militärischen Befehlshaber ruhen könne133. Gewiß, derartige Formulierungen sind recht verklausuliert. Daß sie jedoch nicht bloß unverbindliche Floskeln waren, sondern daß sich in ihnen damals eine Meinungsströmung einer ganzen Anzahl höherer Offiziere ausdrückte, ist mit Recht anzunehmen. Immerhin fühlte sich nämlich der Reichswehrminister veranlaßt, Mitte Januar 1935 vor den Befehlshabern warnend zu betonen134, die Wehrmacht werde vom „Führer und Reichskanzler" zwar in jeder Hinsicht bevorzugt, aber sie dürfe „über ihre Grenzen nicht hinausschreiten". Eindeutig auf Gedanken hinweisend, wie die von Halder angedeuteten, fuhr Blomberg fort, dazu „gehört das Gerede vom militärischen Ausnahmezustand, von der Militärdiktatur!... Solches Geschwätz ist mit der größten Schärfe abzulehnen." Sind derartige Worte nicht geradezu eine Erwiderung auf jene oben erwähnten Berichte? Und welches Gewicht müssen diese Ansichten auch schon gewonnen haben, daß sich der Minister bemüßigt fühlte, ausdrücklich darauf einzugehen? Es gab damals also schon Kräfte im Heer, die einen energischeren Kurs befür.

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So in dem Brief vom 6. 8. 34 unter Anziehung britischer Pressestimmen, deren Leitmotiv gesei wie er Beck schrieb „daß heute die Reichswehrführung die innere Entwicklung Deutschlands bestimmt, weil der Führer auf sie angewiesen ¡st." (Zit. bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 259, Anm. 64.) 129

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Foerster, S. 28. Lt. Foerster, ebd., versah Beck den letzten Satz Halders mit einem dicken Strich. 132 MGFA/DZ WK VII/1295. 133 Ebd. Halder schrieb gleichfalls: „Das Vertrauen der besorgten Kreise der Bevölkerung auf das Heer ist unbegrenzt." 134 MGFA/DZ WK VII/1343, Akt 13 m (Besprechung vom 12. 1. 35). 130

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Indessen blieben derartige Tendenzen und Meinungen folgenlos. Das lag gewiß auch daran, daß der Chef der Heeresleitung durch Hitlers Rede vom 3. Januar wieder in seinem Vertrauen zum „neuen Reich" und seinem „Führer" bestärkt, weiterhin auf eine evolutionäre Entwicklung zum Besseren hoffte und eben Hitlers Intervention geradezu als Beweis für die Berechtigung seiner Hoffnungen ansah. Daher sah er keinen Anlaß und hatte somit auch innerlich nicht die Möglichkeit, in einer Art „renversement des alliances" sich mit Reichenau gegen Blomberg zu arrangieren. Es ist allerdings auch zu berücksichtigen, daß Hitlers Intervention, Blombergs massiver Druck und Fritschs betonte Loyalität bei vielen höheren Offizieren das Vertrauen zur nationalsozialistischen Staatsführung wieder gestärkt hatten. Hatte nicht der Staats- und Regierungschef wiederholt zugunsten der Reichswehr eingegriffen? Hatte er sie nicht am Ende immer wieder respektiert und ihr sein Vertrauen bezeigt? War es daher so verwunderlich, wenn sich manche Offiziere in dem Glauben wiegten, das Heer vor den Gleichschaltungsbestrebungen der Partei bewahren zu können, ohne die traditionellen Grenzen soldatischer Haltung zur Politik überschreiten zu müssen? Hand in Hand mit derartigen Überlegungen erfolgte ein kontinuierliches Aufweichen mancher innerer Vorbehalte auch der Partei gegenüber. Die Folge war, daß etliche Befehlshaber und Kommandeure eine bessere Zusammenarbeit anstrebten. So erließ der Befehlshaber der Heeresdienststelle Kassel unter ausdrücklicher Berufung auf die im Januar in Berlin „erfolgten Aussprachen" einen Erlaß über die Zusammenarbeit mit Parteidienststellen135. Darin hieß es, die „Absicht zu ersprießlicher Zusammenarbeit" sei bei allen Stellen der Partei vorhanden. Daraus ergebe sich „die Notwendigkeit, dieser Einstellung in weitestem Maße Rechnung zu tragen und den örtlichen Behörden und Dienststellen der Partei mit Vertrauen und ohne unbegründete Voreingenommenheit entgegenzukommen". Es müsse in Zukunft vermieden werden, daß die Zusammenarbeit sich „fast ausschließlich" auf Mitglieder des Stahlhelmes beschränke, während die Angehörigen der Parteiorganisationen „mehr oder weniger von der Mitarbeit ausgeschlossen" würden. Er erwarte daher, daß die Kommandeure „in Zukunft mehr als bisher die Parteidienststellen zu ehrlicher und sachgemäßer Mitarbeit" berücksichtigten. Die Verfügung schloß mit den drohenden Worten: „Die Herren Kommandeure bitte ich, bei jeder Gelegenheit auf die Durchführung des von Herrn Reichswehrminister geforderten Grundsatzes zu achten, Offiziere, die sich nicht voll und ganz innerlich und äußerlich den Forderungen des nationalsozialistischen Staates fügen können, aus der Wehrmacht zu entfernen." Und im Wehrkreis IV legte der Befehlshaber den Kommandeuren dar, die Wehrmacht habe sich „rückhaltlos hinter den Führer und seine Idee als die nationalsozialistische" zu stellen136. Die Diskrepanz zwischen derartigen Äußerungen und jenen Berichten Halders ist erheblich. Es ist einsichtig, daß der politische Manövrierbereich der Heeresleitung sich in dem Maße verengte, wie jene Diskrepanz zunahm. Das höhere Offizierkorps des Heeres, seit ...

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MGFA/DZ WK IX/137, Heeresdienststelle Kassel Abt. Ic Nr. 771/35 geh. vom 8.2.35. (Die war der getarnte Aufbaustab des späteren Generalkommandos IX. AK.) 138 MGFA/DZ WK IV/33, Inf.Regiment Plauen Ia geh.Kdos. Nr. 100/35 vom 26. 1. 35 (Wiedergabe der Ausführungen des Befehlshabers im Wehrkreis IV).

Heeresdienststelle Kassel

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1934/35 von Fritsch betont auf Defensive gegenüber der Partei und VerHitler ausgerichtet, mußte sich damit zum behutsamen Arrangement aufgefordert sehen. Die „harte" Richtung, wie sie Halder verkörperte, vermochte sich ebensowenig durchzusetzen wie die undifferenzierten und extrem pro-nationalsozialistisdien

Jahreswende trauen zu

Vorstellungen Blombergs. Wie Fritsch sehr richtig vorausgesehen hatte,

sollten die Auseinandersetzungen zwischen Partei und SS auf der einen und der Reichswehr auf der anderen Seite alsbald weitergehen. Als aber in der zweiten Hälfte des Jahres 1935 die Spannungen wieder auflebten, war die Position der Wehrmacht alles andere als gestärkt und günstig. Dies lag nicht zuletzt daran, daß durch die von Hitler unter Ausnutzung seines psychologischen Erfolges am 3. Januar und des siegreichen Ausganges der Saarabstimmung mehr oder weniger überraschend eingeführte Wehrpflicht eine grundlegende Lageveränderung eingetreten war. Die Erneuerung der allgemeinen Wehrpflicht bedeutete das beginnende Ende der alten, festgefügten Reichswehr. Hitler selbst hat später rückblickend gesagt, daß damit ein Prozeß begonnen habe, bei dem „das Volk als Ganzes und mit ihm nationalsozialistischer Geist in sie [d. h. die Reichswehr] einströmte und mit unaufhaltsam wachsender Kraft alle der nationalsozialistischen Bewegung gegenüber oppositionell eingestellten Elemente, insbesondere des Offizierkorps, überwucherte"137. Sicherlich hat die Wehrpflicht nicht das alte aus sorgfältig ausgesuchten Freiwilligen bestehende Berufsheer mit einem Schlage in ein Volksheer verwandelt; die Masse der Wehrpflichtigen, die zuvor der nationalsozialistischen Propaganda und der Beeinflussung durch die Partei ausgesetzt waren, konnte nicht von heute auf morgen die Armee überschwemmen und durchsetzen. Die prägende Kraft, welche der alten Reichswehr innewohnte, sollte, zwar fortlaufend schwächer werdend, doch noch eine ganze Zeit lebendig bleiben. Die bisherige Geschlossenheit des Offizierkorps aber, so sehr auch sie schon lange Zeit relativ geworden war, wurde infolge der ständigen Erweiterung durch Reaktivierte und Offiziere der Landespolizei, durch rasch ausgebildeten Nachwuchs und aus dem Unteroffizierstand aufgestiegene Soldaten zunehmend aufgelockert138 und verlor „weitgehend jenen Charakter der autonomen, von einem überpersönlichen Ethos bestimmten Körperschaft"139. Nicht wenige der Neueingetretenen blieben der Partei verbunden, brachten Gesinnungen und Anschauungen mit, die vordem in den Reihen der Armee entweder nicht zu finden waren oder doch nur von Außenseitern gepflegt wurden. So begann eine tiefgreifende Wandlung der ganzen Armee.

Die unmittelbar wirksame und akute Folge der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht eine andere. Das Offizierkorps stand mit dem Aufbau einer großen und modernen, auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhenden Wehrmacht vor einer riesenhaften, alle

war

Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-1942, neu hrsg. von Percy Ernst Schramm in Zusammenarbeit mit Andreas Hillgruber und Martin Vogt, Stuttgart 21965, S. 366 (Gespräch Nr. 129, 21. 5. 1942 abends). 138 Eindringlich lassen sich die Probleme dieses Prozesses für die Anfangszeit in der Akte „Besprechungen" des Wehrkreises VII (MGFA/DZ WK VII/1320) erkennen. 139 So Krausnick, Vorgeschichte, S. 261. 137

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Kräfte beanspruchenden Aufgabe. Jetzt war die lange erstrebte Möglichkeit gegeben, endlich die Grundlagen für eine totale Mobilmachung der Nation zu legen140. Der Drang nach Bewährung und nach Befriedigung in einer der Politik fernen, fachlichen Sphäre, die durch die ablenkende Belastung der sich steigernden dienstlichen Beanspruchung geförderte Neigung, den Blick gegenüber der belastenden innenpolitischen Entwicklung zu verschließen, fanden nun zusätzliche Impulse. Mußte da nicht Sinn und Blick auf das Ganze und das Bewußtsein einer Gesamtverantwortung verdunkelt werden? Das Ethos des abstrakten soldatischen Pflichtbegriffes, von Seeckt immer wieder als Ideal vorgestellt, gewann ein letztes Mal im Heer besondere Wirkung. So ging die Armee, durch einen tiefgreifenden Umstellungsprozeß stark mit sich selbst befaßt, in die nächste Phase der Auseinandersetzung mit dem totalitären Regime hinein. Ihre Ausgangsposition war dabei keineswegs so günstig wie zuvor. Ihre innere Schwäche hatte zugenommen, die Keime des Zwiespaltes hatten sich vermehrt, die Gefährdung war größer geworden. Die Auseinandersetzungen mit der Partei, auch diesmal vor allem wieder mit SS und Gestapo, flammten seit Mitte 1935 erneut auf. Zahlreiche Meldungen und Berichte liefen bei der Heeresleitung und im Reichswehrministerium ein über Zwischenfälle mit SA-, SS- und bezeichnenderweise allerdings weniger mit Partei-Angehörigen, über Beleidigungen und Verdächtigungen der Reichswehr durch Vertreter nationalsozialistischer Verbände141. Analysiert man die Berichte und Quellen über jene Spannungen, dann treten zwei Momente hervor, die, eng miteinander zusammenhängend, Anlaß wie Ursache derartiger Spannungen zugleich waren: Erstens erhoben Vertreter des Nationalsozialismus den in vielfältiger Form vorgebrachten Vorwurf, das Offizierkorps sei in seiner inneren Einstellung und Haltung dem NS-Regime gegenüber nicht positiv genug eingestellt. Die politisch-ideologische Zuverlässigkeit des Offizierkorps wurde angezweifelt142. Daraus resultierte das zweite Moment, das vornehmlich Ursache der Klagen von Seiten der Armee war: Der Verdacht der politischen UnZuverlässigkeit zog den Versuch politischer Überwachung nach sich. Daher häuften sich Meldungen und Proteste zahlreicher militärischer Dienststellen über geheime Spitzel- und Überwachungstätigkeit von Parteiorga-

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149 Vgl. dazu die diese Auffassung widerspiegelnden Darlegungen des Generals v. Sodenstern in MGFA/DZ Study B 499. 141 Bezeichnend z.B. dafür eine „vertrauliche Notiz" vom 30.11.35 (MGFA/DZ W 01-5/112) über Äußerungen des Leiters des Wehrpolitischen Amtes der SA: die nationalsozialistische Betätigung Reichenaus und Foertschs sei nur als Äußerlichkeit zu werten. Ähnliche Vorgänge in W 01-5/110 (Kreisleitung Verden vom 10. 7. 35 an Gauleiter Telchow; Aktennotiz über entsprechende Verdächtigungen der Reichswehr durch SS-Männer) oder in W 01-5/111 (GenKdo IX. AK an den Reichskriegsminister vom 16.1. 36 Nr. 362/36. Sowie Schnellbrief StaPo-Stelle Breslau vom 27.1. 36 an Heydrich über Einstellung von „reaktionären Personen" in die Wehrmacht. 142 Bezeichnend für die damalige Lage ist ein Erlaß, den das Generalkommando des IX. AK im Januar 1936 herausgab und in dem es heißt: „Bei der Partei besteht... teilweise Mißtrauen gegen die innere Einstellung und Haltung des Offizierkorps Man glaubt, daß das Offizierkorps mehr zu den Kreisen hinneige, die den heutigen Staat ablehnen, und ist der Ansicht, daß diese Kreise ihren letzten Halt im Offizierkorps sehen." (MGFA/DZ WK IX/137, Erlaß vom 28. 1. 36.) Vgl. auch oben Anm. 141. -

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Spannungen und Illusionen

173

nen143. Nicht bloß überwachten SD und

Gestapo militärische Korrespondenzen und Telefonate. Auch wurden in der Truppe dienende Parteigenossen angehalten, sogenannte „Erfahrungsberichte" für ihre zuständigen Parteivorgesetzten anzufertigen144. Mehrfach protestierte der Reichskriegsminister bei dem für Parteiangelegenheiten zuständigen Minister, dem „Stellvertreter des Führers" Rudolf Heß, über die unzulässige Einmischung in militärische Angelegenheiten145 und verlangte, „die anscheinend angestrebte,Überwachung' der Wehrmacht alsbald einzustellen"146. Um diese beiden Ursachen der Spannungen rankten sich zahllose Zwischenfälle, die von kleineren Anrempeleien über Schlägereien bis zu regelrechten Überfällen auf Wehrmachtsangehörige durch Mitglieder von SA und SS gingen147. So sehr dabei auch individuelle Umstände wie Kompetenzquerelen, örtliche Gegebenheiten, persönliches Temperament, Augenblickssituationen (Trunkenheit etc.) eine Rolle spielten, so sind sie doch auch symptomatisch für die damaligen Spannungen, denn fast immer kam bei diesen Reibereien auch das gegenseitige, bis zur Ablehnung sich steigernde Mißtrauen zum Ausdruck148. Röhricht, S. 88: Görings „Forschungsamt" hat Abwehr-Telephone angezapft. V.Müller, S. 360: Bayerischer Innenminister läßt am 30.6.34 Téléphonât des WK-Befehlshabers mit Chef der Heeresleitung abhören. MGFA/DZ WK VII/399 (Gestapoübergriffe in Heeresfeldzeugamt); WK VII/1299; WK VII/1652 (12.6.37); W 01-5/112 (Meldung GenKdo I. AK vom 20.12.35: Kreisleiter berichtet über Offizierkorps) H 24/6 (Hptm Crüwell von Gestapospitzel denunziert) W 01-5/108 (Gestapoüberwachung von Heeresdienststellen). Der Chef der Heeresleitung warnte Befehlshaber wiederholt vor Bespitzelungen und Abhören der Ferngespräche: „Größte Zurückhaltung in Kritik: wir werden beobachtet, Telephongespräche, Briefe, Lebenswandel." (MGFA/DZ WK VII/1343, Akt 13 m: Besprechung am 12. 1. 35). Vgl. auch Liebmann-Notizen, Befehlshaberbesprechung vom 9. 10.1934, vom 15.1. 35 und vom 24. 4. 35; vgl. auch Dok.-Anh. Nr. 20 sowie Foertsch, S. 58 f. 144 MGFA/DZ W 01-5/111 (mit zahlreichen Einzelmeldungen. Dazu Schreiben des Verbindungsoffiziers der Wehrmacht beim „Stellvertreter des Führers" an Heß vom 10.7.36 Nr. 1568 geh.: die Aufforderung zur Berichterstattung stelle eine „unzulängliche Einmischung in militärische Angelegenheiten" dar). Vgl. auch W 01-5/110 (Beschwerden aus dem Wehrkreis II vom Oktober 1935); WK VII/3243, GenKdo VII. AK vom 2.7.37 Nr. 6411 geh. (Spitzeltätigkeit von Res.Offz., die Parteigenossen waren; dito: WK VII/1609 vom 19. 5. 37, Artl.Rgt. 7). 145 Vgl. die entsprechenden Vorgänge in MGFA/DZ W 01-5/110, W 01-5/111 und W 01-5/112. 146 MGFA/DZ W 01-5/110: Schreiben an Reichsminister Heß vom 10. 7. 36, geh. Nr. 1568; Brief Blombergs Nr. 1819/35 vom 12.10.35 (Dok.-Anh. Nr. 15); ebenfalls Blomberg an Gestapo-Amt vom 21.12.35 sowie an den Reichsminister vom 27.3.36. Darin verlangte er eine rasche und nachhaltige Abstellung der „Überwachung und Verdächtigung" und schreibt u. a.: „Das Verhalten der beteiligten Stellen steht... in schroffem Widerspruch zu der vom Führer anempfohlenen vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Wehrmacht sind Behauptungen und Gerüchte mit weitgehendsten Folgerungen weitergemeldet worden, ohne daß ein ernster Versuch sachlicher Klärung unternommen worden wäre. Ich kann mich daher des Eindrucks nicht erwehren, als ob hier mit einer gewissen Genugtuung die Gelegenheit ergriffen worden wäre, Nachteiliges über die Wehrmacht festzustellen und weiterzugeben." 117 Zahlreiche Einzelfälle in MGFA/DZ WK VII/696, 930, 1343, 1609, sowie W 01-5/110-112. 148 Was Gen.Major Halder schon am 28.11.34 in einem Bericht angedeutet hatte (Dok.-Anh. Nr. 16). Vgl. auch Aktennotiz Hauptmann Thomée vom 1.2.36 (Ia Nr. 369/36): „Vermutung einer planmäßigen Stimmungsmache gegen die Wehrmacht..." (MGFA/DZ W 01-5/111). 143

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-

.

..

.

..

IV. Zeit der

174

Spannungen und Illusionen

nämlich nichts anderes als ein erneutes Symptom für politischen Konzeptes der Reichswehr, des Konzeptes der Aufeinanderprall Machtteilhabe und Eigenwertigkeit der Streitkräfte im neuen Staat mit dem Totalitätsstreben des Nationalsozialismus, das von gewissen militanten Kräften und Organismen der „Bewegung" besonders aggressiv artikuliert wurde. Theoretisch und prinzipiell gesehen standen sich hier zwei einander entgegengesetzte Konzepte gegenüber; die Auseinandersetzung hätte demnach bis zur absoluten, unangefochtenen Durchsetzung des einen oder anderen Teiles sich steigern müssen. Tatsächlich jedoch war die Entwicklung so sehr sie später im Verlauf des Krieges auf eine immer stärkere Entmachtung der Wehrmacht auch hinauslief damals erheblich vielschichtiger und viel weniger gradlinig. Das hatte seinen Grund in der Tatsache, daß weder die Wehrmacht noch die nationalsozialistische „Bewegung" (und auch nicht das nationalsozialistische Regime) monolithische Blöcke einheitlicher Willensbildung und gleichgerichteter Durchsetzungstendenz waren. Differierende Bestrebungen auf Seiten der Reichswehr sowie Rivalitäten und Einflußkämpfe im nationalsozialistischen Lager beeinflußten die Entwicklung in hohem Maße. Typisch zeigte sich das bei dem Bemühen der verantwortlichen Männer der Wehrmacht und gewisser Persönlichkeiten auf Seiten der Partei, mit diesen Spannungen fertig zu werden. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die Art der Erledigung der zahlreichen Zwischenfälle und Reibungen149. Es kennzeichnet die allgemeine feindselige Stimmung, daß immer wieder von untergeordneten Stellen des Heeres versucht wurde, einzelnen Vorfällen, auch wenn es sich offensichtlich um Kleinigkeiten handelte, einen grundsätzlichen Charakter zu geben und sie auf dem Dienstwege bis an die jeweils höchste Stelle hochzuspielen, um ein energisches Eingreifen oder eine grundlegende Entscheidung zu erzwingen. Dahinter stand unverkennbar das Streben, weniger den betreffenden Streitfall als solchen zu erledigen, als vielmehr den Gegner möglichst schwer zu treffen. Manche Heeresdienststellen waren sogar geneigt, eindeutig schuldhaft in Zwischenfälle verwickelte Soldaten schonend zu behandeln, bei den beteiligten SS-Männern und Parteiangehörigen dagegen auf strenge Bestrafung, oft sogar auf gerichtliche Bestrafung, zu drängen150. Auf der Gegenseite aber versuchte man, eine disziplinarische Maßregelung schuldiger Angehöriger der eigenen Organisation anzustreben und gelang dies dann rein formal zu verfahren mit der Absicht, den Betreffenden zu schonen. So wurde die erhitzte Atmosphäre von „unten" fortlaufend weiter angeheizt.

Jene damaligen Spannungen

waren

des

den

-

-

-

149

W

Hierzu und

zum

01-5/110-112).

folgenden vgl.

-

die in MGFA/DZ W 01-5/108 enthaltenen Fälle

(außerdem

159 So z. B. MGFA/DZ WK XIII/754. Andere typische Fälle in W 01-5/110: 1) GenKdo VI. AK Ic AZ e/f vom 1.10. 35; 2) Vortragsnotiz I Ia vom 20.12.1935: GenKdo VIII. AK will bei bloßer Schlägerei, wobei Schuld der beteiligten Offiziere nicht ganz außer Zweifel stand, sogar über den Strafantrag der betroffenen Offiziere wegen Beleidigung und Körperverletzung hinaus, Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs stellen. 3) Schreiben Technische Schule Jüterbog vom 4.9.35: „Das Verhalten der beschuldigten SS-Leute kann nach Auffassung der TS Jüterbog nicht lediglich als tätliche und Verbalbeleidigung der betroffenen Flieger bezeichnet werden, sondern muß als allgemeine Beleidigung der Wehrmacht betrachtet werden."

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

175

Reichskriegsminister v. Blomberg und sein neuer Chef des Wehrmachtamtes, Generalleutnant Keitel151, versuchten bei der Erledigung derartiger Zwischenfälle einen Mittelweg zu gehen. Sie wollten einerseits das schlechte Verhältnis zwischen Parteiorganisationen und Wehrmacht grundlegend bessern, andererseits aber Beleidigungen der Wehrmacht und offenkundige Übergriffe in den Bereich der Streitkräfte durchaus abstellen152. Sie haben bei Fällen offensichtlicher Eingriffe oder Übergriffe von Parteistellen in den Raum der Wehrmacht energisch Einspruch erhoben. Auch bei gravierenden Zwischenfällen örtlicher Art hat der Minister es bisweilen abgelehnt, den Forderungen der Partei um mildere Behandlung stattzugeben153. Im ganzen jedoch bemühten Blomberg und Keitel sich, mit der Partei versöhnlich und vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Blomberg hat es aus dieser seiner versöhnlichen Grundtendenz heraus oft bewußt vermieden, gegenüber Rechtsbrüchen und Übergriffen „gleich immer das große Gewicht des Feldmarschalls und Reichskriegsministers einzusetzen", wie er dem General Adam gegenüber einmal bemerkte154. Auf jeden Fall wurde er nicht müde, die Dienststellen und Kommandobehörden der Wehrmacht im Sinne seiner Entspannungspolitik zu beeinflussen und auch Vorleistungen und parteifreundliche Maßnahmen nicht zu scheuen. Im Prinzip strebte auch Fritsch ein korrektes, entspanntes Verhältnis zur Partei und ihren Organisationen an. Insofern traf er sich mit der Intention Blombergs. Er unterschied sich jedoch in der Methode, also graduell, vom Kurs des Ministers. Er war weit weniger zu Vorleistungen und Entgegenkommen bereit. In kühl-distanzierter Loyalität ganz im Gegensatz zu der emotional bestimmten Vertrauensseligkeit Blombergs suchte er einen modus vivendi auf der Basis gegenseitiger Rücksichtnahme und Nichteinmischung155 unter voller Respektierung der Tatsache, daß der Staat Hitlers ein nationalsozialistischer Staat war und die Partei aus seinem Gefüge nicht zu eliminieren war. Die derart graduell unterschiedlich akzentuierten Bemühungen des ObdW und ObdH waren im Laufe der Zeit wenigstens teilweise erfolgreich. Sie fanden nämlich nach einiger -

-

Zeit im „Stellvertreter des Führers", Reichsminister Heß, einen Partner, dem aus bestimmten Gründen ebenfalls an der Herstellung eines erträglichen Verhältnisses lag. Heß versuchte seinerseits durch Gesten des Entgegenkommens, durch direkte Aussprachen und

151 Keitel löste am 1. 10.35 Reichenau ab (Keitel, S. 81 f.). Die Bedeutung dieser Ersetzung Reichenaus durch den beflissenen, subalternen und politisch naiven Keitel kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Hatte doch Reichenau immer noch ein politisch-realistisches Gegengewicht gegen Blomberg dargestellt, das nun fehlte. 152 Ygl. Keitels spätere restriktiven Anordnungen über Teilnahme von hohen Parteirepräsentanten an Manövern (WK XII/15c) und über Militärdienstreduzierung von „Ordensburg"-Schülern

(ebd). Vgl. MGFA/DZ W 01-5/111. 154 Den Ausspruch überliefert Hans Doerr in einer Zuschrift an die WWR 8 (1958), S. 270 f. 155 Am 18. 6. 36 wandte er sich dagegen, daß Amtsträger von Behörden und Partei von repräsentativen Veranstaltungen des Gesamtoffizierkorps ausgeschlossen würden, und empfahl gesellschaftliche Kontaktpflege, die durchaus im Sinne und im Interesse des Heeres läge (MGFA/DZ 153

WK

VII/3418, Erlaß Nr. 3093/36).

IV. Zeit der

176

Spannungen und Illusionen

Verbesserungsvorschläge zu einer Entspannung der Lage beizutragen156. Mit seinem Plan, eine Art von Schlichtungsstelle für Streitfälle außerhalb der offiziellen Dienstwege bei der Adjutantur Hitlers einzurichten, stieß er zwar bei der Heeresleitung auf Ablehnung157. Dessenungeachtet aber baute er daraufhin sein Ministerium zu einer Zentralstelle für die Bearbeitung der zwischen Wehrmacht und Parteiorganisation auftauchenden Probleme aus158 und bemühte sich weiterhin um eine Bereinigung der Differenzen. Er setzte sich häufig für strenge Bestrafung von Parteigenossen ein, die von der Wehrmacht unbefugter Übergriffe oder Beleidigungen beschuldigt wurden; er lieh den Klagen der Militärs ein offenes Ohr und bemühte sich um eine Zügelung der unteren Parteidienststellen159. Schon im Mai 1935 hatte er ein Rundschreiben an alle Parteidienststellen erlassen, in dem er ausführte160: „Nach dem Willen des Führers sind die Partei und das neuerstandene Reichsheer in dem weiteren Ringen um die Neugestaltung des deutschen Lebens und um die Sicherung der Zukunft des deutschen Volkes die beiden entscheidenden Faktoren... Politische und militärische Führung gehen beide von der gleichen soldatischen Grundlage aus. Getrennt marschierend, aber sich in ihrer Arbeit gegenseitig ergänzend, arbeiten sie gemeinsam an der Schaffung der Grundlagen für ein soldatisches, nationalsozialistisches Deutschland." Die notwendige enge Zusammenarbeit dürfe niemals durch unvermeidliche Schönheitsfehler gestört werden. Er räumte ein, daß ein Teil der Führer der Partei den gestellten Aufgaben nicht gerecht werde und ersetzt werden müsse. Von allen Parteidienststellen erwarte er, so schloß der Erlaß, daß sie stets und überall um Verständnis für die Aufgaben und Notwendigkeiten der Wehrmacht werben, sie „in jeder Hinsicht" unterstützen und „trotz auftretender kleiner Mißverständnisse alles daran setzen, das gegenseitige Verständnis immer mehr zu vertiefen und die Verbindung zwischen Partei und Wehrmacht immer enger und inniger zu gestalten". Nachdem Blomberg etliche Male wegen geheimer Spitzeltätigkeit von Parteiangehörigen gegenüber der Wehrmacht protestiert hatte161, stellte Heß in einem Erlaß162 fest, daß es mit der soldatischen Disziplin unvereinbar sei, wenn „Männer der Bewegung" während ihrer Dienstzeit aufgefordert würden, Berichte über militärische Vorgesetzte oder über ihre Erfahrungen bei der Truppe einzusenden. Abgesehen davon, daß der einzelne durch einen derartigen Auftrag in Zwiespalt zwischen seinen Pflichten als Soldat und der Parteidisziplin geraten könnte, bestünde die Gefahr, daß die Wehrmacht in solchen Berichten eine sie beargwöhnende Schnüffelei 156

Vgl. Hoßbach,

S. 52 f.

157

Ebd.

158

Keitel seinerseits erweiterte im Wehrmachtamt die Unterabteilung für Innerpolitische Fragen

Abteilung Inland und schuf damit eine entsprechende Gegenstelle. Vgl. MGFA/DZ W 01-5/110-112. MGFA/DZ WK VII/1507, Chef Heeresleitung gibt abschriftlich den Erlaß

in der 159

169

Heß weiter den Befehlshabern: „V[on] Partei... wird augenfällig betont, welches Gewicht auf gutes Verstehen zur Wehrmacht gelegt wird. Aber ,Gestapo' existiert." (Liebmann-Notizen.) 161 Vgl. Anm. 143 dieses Kapitels. 182 Anordnung des „Stellvertreters des Führers", vom Reichswehrministerium bekanntgegeben mit

(Nr. 235/35

vom

Nr. 2960/37

vom

13.5.35): Dok.-Anh. Nr.

3. 12. 37

(Dok.-Anh.

Nr.

17. Am 24.4.35 erklärte Fritsch

18).

von

vor

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

177

sähe. Die Partei könne und würde darauf verzichten, mißverständliche Wege zu beschreiten, schon damit nicht „die vertrauenzerstörende Auffassung bei unseren Wehrmachtsstellen" aufkomme, als sei in jedem seiner Wehrpflicht genügenden Angehörigen der Bewegung ein Parteispion zu vermuten". Er schloß mit den Worten: „Wir sind stolz auf unsere junge Wehrmacht. Wir vertrauen ihrer Führung und werden ihr unsere Verbundenheit dadurch immer wieder am besten beweisen, daß ein jeder von uns ein diensteifriger, gehorsamer Soldat und ein vorbildlicher Kamerad ist." Im Verfolg dieser seiner Entspannungsbemühungen intensivierte Heß seine Kontakte mit Blomberg, dem er in einem Brief163 versicherte, daß er „alles tun werde, um Ihnen, soweit das an der Partei und an mir persönlich liegt, die Lösung der Ihnen vom Führer gestellten großen Aufgabe zu erleichtern". Schließlich einigten sich Heß und Blomberg in Erlassen zur Regelung von „Streitfällen zwischen Wehrmacht und Partei" auf einen modus procedendi zur gütlichen Erledigung derartiger Fälle164. Darin wurde angeordnet, bei allen Streitfällen müsse zuerst eine Klärung zwischen den betroffenen Dienststellen versucht werden; führe dies zu keinem Ergebnis, dann sollten die nächsthöheren Stellen ein Übereinkommen zu erzielen versuchen. Diese Streiterledigung habe im Geiste gegenseitigen Vertrauens und gegenseitiger Achtung zu erfolgen. Nur besonders gravierende Fälle und solche von grundsätzlichem Charakter sollten an die obersten Instanzen abgegeben oder einer gerichtlichen Klärung zugeführt werden. Es zeigt die Hartnäckigkeit der Gegensätze und die bereits entstandene Feindseligkeit, daß einerseits eine ganze Reihe von Heeresdienststellen auch nach Herausgabe dieses Erlasses mehrfach versuchten165, einzelnen Vorfällen grundsätzliche Bedeutung beizumessen und nicht in Zusammenarbeit mit den betreffenden Parteistellen die Angelegenheit zu bereinigen, sondern eine Klärung an höchster Stelle anzustreben oder gar an die Gerichte zu appellieren, andererseits jedoch untere Parteistellen immer noch Reibereien verursachten und wehrübende oder eingezogene Parteigenossen anhielten, über Stimmung in Truppe und Offizierkorps zu berichten166. Im ganzen aber trat auf Grund der Bemühungen von Heß und seines Zusammenspiels mit Blomberg im Brief Heß an Blomberg vom 27. 4. 37 (MGFA/DZ WK XIII/289). Heß schreibt darin u. a. „wie wohltuend es meine alten politischen Mitkämpfer berührt, daß heute in der Wehrmacht das Verständnis für das Wesen und die Aufgaben der Partei immer mehr wächst und wie sehr sich auch die Wehrmacht ihrerseits mit der Partei verbunden fühlt". 184 „Reichskriegsminister Nr. 2710/37 geh. I Ia vom 4.11.37 betr. Zwischenfälle zwischen Wehrmacht und Partei" gibt den Heß-Erlaß bekannt „bis zu den Bataillons-Kommandeuren einschließlidi." (MGFA/DZ WK XII/15 c; WK VII/1652; WK XIII/459.) Vgl. Dok.-Anh. Nr. 19. Nach dem Vorbild dieser Regelung erfolgte dann am 25. 1. 38 eine entsprechende Vereinbarung zwischen Blomberg und Himmler über Beilegung von Streitfällen zwischen Wehrmacht und SS. Diese Regelung von 1938 ist also gar nicht so singular, wie O'Neill, S. 100, annimmt. Text der Regelung von 1938: MGFA/DZ WK VII/1652 sowie WK XIII/1382. Die Interpretation, die O'Neill, S. 81, der Weisung vom 4. 11. 37 gibt, „that this procedure made it easier still for the Party to shape the political thought and conduct of the Army as a whole", und zwar „in view of all the physical and ideological sanctions which Party leaders could exert..." ist, wie aus den im Text skizzierten Zusammenhängen der Entstehung der Weisung hervorgeht, unzutreffend. 183

-

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i«5

186

12

Ygl. die Belege unter Anm. 147. Vgl. die Belege unter Anm. 144.

178

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

Laufe der Zeit, schon Ende 1936 sich bemerkbar machend, eine spürbare Besserung der Beziehungen zwischen Wehrmacht und Partei sowie den meisten Parteiorganisationen ein167, allerdings mit einer bezeichnenden Ausnahme. Diese Ausnahme war die SS. Während die Spannungen mit der Partei und den anderen NS-Organisationen abnahmen, verschärfte sich der Konflikt mit der SS beständig. Fritsch

stellte später rückblickend fest, es sei im Gegensatz zur Partei nicht gelungen, gute oder gar vertrauensvolle Beziehungen zur SS herzustellen; es habe kaum einen höheren Offizier gegeben, der sich nicht von der SS bespitzelt gefühlt habe. Immer wieder so fährt Fritsch in seiner Niederschrift fort sei es vorgekommen, daß entgegen den ausdrücklichen Weisungen des Stellvertreters des Führers im Heer dienende SS-Leute Befehl erhalten hätten, über ihre Vorgesetzten zu berichten. Die SS-Truppen, über die doch das Heer ein Besichtigungsrecht besaß, hätten sich völlig abseits und in bewußtem Gegensatz zum Heer entwickelt. Sie seien ebenso wie die Spitzeltätigkeit von Gestapo und SD „der lebendige Mißtrauensbeweis gegen das Heer und seine Führung"168. Die neuerdings zugänglichen Akten bieten eine vielfältige Bestätigung der Ausführungen des Oberbefehlshabers des Heeres. Ständig gelangten an die Heeresleitung und an das Ministerium Meldungen über Zusammenstöße mit SS-Angehörigen, über Mißachtung der Wehrmacht, über Versuche der Gestapo, auf den Bereich des Heeres überzugreifen169. Insbesondere waren es immer noch zahlreiche Fälle von Bespitzelung, Telefonüberwachung und Berichterstattung über die politische Stimmung in der Wehrmacht, die Besorgnis und Empörung bei den verantwortlichen militärischen Dienststellen auslösten170. Es entstand rasch auf militärischer Seite der Eindruck, daß es sich hierbei nicht mehr um Einzelfälle handelte. Schon im Dezember 1935 sprach ein Wehrkreiskommando in einem Schreiben an das Reichskriegsministerium die Vermutung aus, daß den Versuchen regionaler SD- und Gestapostellen, die politische Einstellung von Offizieren zu erkunden, eine generelle -

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In diesem Zusammenhang ist die Rede des Obersten Parteirichters, Reichsleiter Major a. D. vom 14.10. 37 vor Offizieren zu nennen, in der Buch um Verständnis für die Unzulänglichkeit des politischen Führerkorps der Partei bittet und seine Ausführungen ganz unter das traditionelle soldatische Berufs- und Wertsystem stellt: „Die Wehrmacht hat das eine vor der NSDAP voraus: sie stützt ihren Aufbau auf eine Jahrhunderte alte Erfahrung. Ihre Vorgängerin hat den Beweis erbracht, daß sie eine Welt in Schach halten kann. Die NSDAP hat keine Vorgängerin. Sie ist geboren aus dem großen Krieg. Seine Feuer haben ihren Kern geglüht. Nach schweren Kämpfen hat sie eine morsche Welt zum Einsturz gebracht. Und aus dem Schutt hat sie manch Kostbares geborgen... Ihr Führerkorps kann noch nicht allen notwendigen Anforderungen gerecht werden. Der Führer hat nicht umsonst zweimal ehemalige aktive Offiziere an die Spitze der Parteigerichtsbarkeit berufen und mir anbefohlen, die Haltung und den Geist jenes OffiziersDas Führerkorps der NSDAP wird sich bemühen, dessen korps in der Partei aufzurichten 187

Buch,

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dürfen Sie versichert sein, sich möglichst die Tugenden des preußischen Offizierskorps anzueignen, jene Tugenden, die diesen Offizier zum besten der Welt gemacht haben." (MGFA/DZ WK VII/1652); der Reichskriegsminister und Oberbefehlshaber der Wehrmacht gab mit Nr. 2700/37 g J III d vom 7. 11. 37 den Text des Vortrages dem Offizierkorps bekannt. 188 Niederschrift vom 1. 2. 38 (Hoßbach, S. 70 f.). 189 Vgl. MGFA/DZ W 01-5/110-112. 179 MGFA/DZ W 01-5/112 (Meldung GenKdo I. AK vom 20.12. 35).

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

179

Weisung des Geheimen Staatspolizeiamtes zugrunde liege171.

Im Jahr 1936 wandte sich scharfen Schreiben an die zumit einem entsprechender Angelegenheit zu ständige Gestapostelle: „Die Kampfweise, mit Gerüchten arbeiten, ist der Wehrmacht nicht unbekannt; sie war durch lange Jahre die Waffe der Kommunisten und Marxisten. Es dürfte lehrreich sein, festzustellen, ob nicht ehemalige Angehörige dieser aufgelösten Parteien die Stimmungsmacher gegen die Wehrmacht, insbesondere gegen die Offiziere sind." Es müßten alle Maßnahmen ergriffen werden, „um den geradezu zu einer Seuche gewordenen Trieb zur Gerüchtemadierei und Denunziation auszurotten"172. Im Januar 1936 wurde auf einer Besprechung der Ic-Bearbeiter der Wehrkreise in Berlin u. a. festgestellt, daß in der SS anscheinend planmäßig gegen die Wehrmacht Stimmung gemacht werde173. Schließlich sah sich der Reichskriegsminister gezwungen, im März 1936 beim Geheimen Staatspolizeiamt und beim Reichsinnenminister gegen „Überwachung und Verdächtigung der Wehrmacht" zu protestieren und „baldmöglichst und nachhaltig" die Abstellung dieser Übergriffe zu verlangen174. Blomberg schreibt, das Verhalten der beteiligten Stellen stehe „in schroffem Widerspruch zu der vom Führer anempfohlenen vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Wehrmacht". Das Gestapoamt unter Heydrich jedoch taktierte recht geschickt. Entweder wich es in dilatorische Behandlung der Einzelfälle aus oder bezeigte scheinbares Entgegenkommen so gab es wiederholt seinen Dienststellen die zudem der Wehrmacht eilfertig zur Kenntnis gegebene Anweisung, „sich streng davor zu hüten, von sich aus eine Untersuchung in die Wege zu leiten"175 oder aber es suchte die Militärs unter Ausnutzung zuvor von ihnen gemachter Zugeständnisse in ihr

ein Befehlshaber in



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So Wehrkreiskommando VIII, Ic Nr. 9111/35 vom 19.12.35, sowie Brief Keitels vom an das Gestapo-Amt (MGFA/DZ W 01-5/111). In diesem Fall versuchte die Gestapo zuerst, das Ministerium mit der Behauptung zu täuschen, die Untersuchungen und Überwachungen seien auf Anforderung des VIII. AK selbst erfolgt. Als GenKdo VIII. AK diese Behauptung zurückwies, erklärte die Gestapo, die Untersuchungen seien wegen des Widerspruches des Generalkommandos gegen eine Anschuldigung notwendig geworden. Vgl. auch das Schreiben der Abteilung Inland vom 28.11. 36, in dem es heißt: „Es sind Anzeichen vorhanden, daß außerhalb der Wehrmacht stehende Stellen Wehrpflichtige vor ihrem Dienstantritt anweisen, über die Zustände in der Wehrmacht zu berichten." Ähnlich wird in einer Notiz derselben Abteilung vom 20. 1. 37 bemerkt, es bestehe „der Eindruck, daß durch SS und SD auf verschiedensten Gebieten eine Bespitzelung der Wehrmacht, auch in Offizierskreisen, durchgeführt werde". (MGFA/DZ W 01-5/112.) 172 MGFA/DZ W 01-5/111: GenKdo VIII. AK, Nr. 456/36 geh. vom 23. 1. 36. 173 MGFA/DZ W 01-5/112. 174 MGFA/DZ W 01-5/111 (Schreiben Nr. 597/36 geh. vom 27. 3. 36). 175 Schnellbrief 0237/36 geh. vom 27.1.36 (MGFA/DZ W 01-5/111). Ebenfalls hatte der SD bereits am 2. 5. 35 den SD-Abschnitten und Außendienststellen die Führung von Akten über Angehörige der Wehrmacht untersagt (W 01-5/112, Schreiben des SD-Oberabschnitts Südost Stg. 251/35). Das Weitergehen der Spitzeltätigkeit und Überwachung zeigt jedoch, wie wenig ernst oder wie wenig wirksam derartige Anordnungen waren. Dagegen wurde der entsprechende Heß-Erlaß von Dezember 1937 mit dem Verbot der politischen Berichte über die Wehrmacht von den Parteidienststellen im großen und ganzen befolgt, nicht aber von der SS/SD. Das ist ein Indiz für die Rivalität zwischen Partei und SS. 171

29. 12.35 Nr. 2396/36

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...

IV. Zeit der

180

Spannungen und Illusionen

verstricken. So nahm es die Tatsache, daß auf Anordnung Blombergs176 seit langem Wehrmachtdienststellen politische und polizeiliche Leumundszeugnisse bei der Neueinstellung von Offizieren und Beamten von der Gestapo einholte, zum Anlaß, die Recherchen der ihm unterstehenden Dienststellen zu rechtfertigen. Der Konflikt schwelte zwischen Armee und SS weiter. Es kam niemals zu seiner Bereinigung, und zwar aus innerer Notwendigkeit nicht. Es handelte sich nämlich bei dem eigenartigen Tatbestand Besserung des Verhältnisses zu der Partei bei progressiver Verschlechterung des Verhältnisses zu der SS und der von ihr beherrschten Organe nicht darum, wie manche Militärs anzunehmen geneigt waren, daß ein Teil der NS-Bewegung, nämlich die SS, über ihren Kompetenzbereich hinausgriff, während der überwiegende Teil der Partei korrekt und „vernünftig" war. Es lag gar nicht am guten oder am bösen Willen der jeweiligen Kontrahenten. Mit derartigen Kategorien ließen sich diese Tatbestände ganz und gar nicht fassen. Das Entgegenkommen des von Heß repräsentierten Teiles der Partei hatte ebenso komplexe Ursachen und Hintergründe wie der sich ständig verschärfende Konflikt mit der SS.

eigenes Netz

zu

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Bei den geschilderten Entspannungsbemühungen wird es einmal darum gegangen sein, die Wehrmacht bei den umfangreichen Aufgaben, die mit dem Aufbau eines großen und schlagkräftigen militärischen Instrumentes gegeben waren, nicht durch übereifrige Funktionäre und vorschnelle totalitäre Maßnahmen zu behindern. Sodann darf man vermuten, daß Hitler in der Phase gewagter und forcierter außenpolitischer Aktivität, in der er das Versailler System aufzulösen trachtete177, Ausgleichs- und Verständigungsbereitschaft178 zeigte sowie um Bündnispartner und Freunde179 sich bemühte, auch einen Konflikt mit der bewaffneten Macht nicht riskieren wollte. Noch wichtiger jedoch war etwas anderes. Es bestand zwischen diesen Entspannungsbemühungen des „Parteiministers" und den aggressiven Expansionstendenzen der SS ein enger, untergründiger Bezug. Die Zeitspanne nach Liquidierung der Röhm-Gruppe bis ungefähr 1938 hin war in der Geschichte des „Dritten Reiches" die Phase der Grundlegung und des entscheidenden Ausbaues des totalitären Polizeistaates. In jenen Jahren, in denen im Vordergrund das ebenso aufregende wie erfolgreiche Spiel außenpolitischer Aktivität und propagandistischer Raffinesse machtvolle Parteitage und die glanzvolle Olympiade die Blicke auf sich zog, ging der verdeckte, schleichende Ausbau des totalitären Herrschaftssystems in größtem Umfange vonstatten. Es bewahrheitete sich, was Hitler kurz nach Hindenburgs Tod zu Rauschning gesagt haben soll: „Äußerlich schließe ich die Revolution ab. Aber wir verlegen sie ins Innere180." In jener Periode zwischen 1935 und 1938 fand in einem damals kaum und auch heute nur noch schwer zu durch-

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178 177

Vgl. MGFA/DZ WK VII/2306, Erlaß vom 26. 5. 36. Vgl. auch W 01-5/154. März 1935: Verkündung der allgemeinen Wehrpflicht, Aufkündigung des Locarno-Paktes;

März 1936: Rheinlandbesetzung. 178 Juni 1935: deutsch-britischer Flottenvertrag. 179

Okt./Nov. 1936: deutsch-italienische

Verständigung;

November 1936:

Antikominternpakt. 189 Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler, Zürich-Wien-New York 41940,

deutsch-japanischer S. 165.

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

181

schauenden Entwicklungsprozeß jene Schwergewichtsverlagerung statt, die dem „Dritten Reich" unter anderem seinen Charakter als SS-Staat gab. Der Ausbau des umfassenden Kontroll- und Machtsicherungssystems, dessen Kern ein sehr differenzierter Polizeiapparat war, wurde gerade von der SS in bedeutendem Maße getragen und mitbestimmt181. Zäh und systematisch hatten Himmler und Heydrich, der Chef des SD, die Leitung der politischen Polizei in den Ländern wie im Reich an sich gerissen. Im Jahre 1936 zum „Chef der deutschen Polizei" ernannt, baute Himmler zielstrebig den gesamten Polizeiapparat

weiter aus und verknüpfte ihn in vielfältiger Weise personell wie regional mit der SS und dem SD182. Durch organisatorische Straffung und Zentralisierung wurde der Polizeiapparat wirksamer und schlagkräftiger, durch personelle und organisatorische Durchsetzung mit SS- und SD-Leuten im Sinne machtpolitischer und ideologischer Zuverlässigkeit gleichgeschaltet. Er wurde dadurch auf die Sicherung, der totalitären Diktatur funktional ausgerichtet. Dazu kam der Ausbau eines das ganze Reichsgebiet umfassenden Kontrollsystems. Dank pseudolegaler und auf dem Verordnungswege erfolgender Manipulationen konnte der Aufbau dieses Herrschafts- und Kontrollapparates weitgehend unauffällig und geräuschlos vollzogen werden, so daß der Organisations- und Funktionszusammenhang innerhalb des Kontroll- und Machtsidierungssystems der öffentlichen Kenntnis weitgehend entzogen blieb. In bezug auf die Streitkräfte und ihr Verhältnis zum nationalsozialistischen Regime waren in diesem Zusammenhang zwei Momente bedeutsam: einmal berührte der erwähnte, weitgehend von der SS manipulierte Ausbau des totalitären Herrschaftssystems die Position der Armee. Der Konflikt mit der SS ist, in diesem Rahmen gesehen, eben ein Ausfluß dieser Tatsache. Zum zweiten ist bedeutsam, daß jener totalitäre Entfaltungsprozeß gleichzeitig ein Machtkampf innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung war, nämlich sowohl um den maßgeblichen Einfluß bei der Gestaltung des Herrschaftssystems als auch um den Besitz der entscheidenden Schlüsselpositionen innerhalb des Kontrollund Machtapparates. Bezüglich des zuerst erwähnten Momentes spielten wie Fritsch sehr richtig erkannt hat die bewaffneten SS-Truppen eine bedeutsame Rolle. Es kam nicht von ungefähr, daß sie schon frühzeitig vom Heer als Rivalen, als wie Fritsch es ausdrückte183 ,,lebendige[r] Mißtrauensbeweis" angesehen wurden. Zwar hatte das Heer ein Besichtigungs- und Kontrollrecht, soweit es die militärische Ausbildung betraf, jedoch kein personalpolitisdies Mitspracherecht noch irgendeinen internen Einblick; der Fiskus finanzierte sie, konnte aber keine Kontrolle ausüben; dem Einfluß der Politischen Organisation der Partei waren sie -

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Hierzu vgl. Buchheim, Die SS Das Herrschaftsinstrument, und die ältere materialreiche Arbeit von Ermenhild Neusüß-Hunkel, Die SS, Hannover-Frankfurt a. M. 1956 Schriftenreihe des Instituts für wissenschaftliche Politik Bd. 2, und Hans Buchheim, Die SS in der Verfassung des Dritten Reiches, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 (1955), S. 127-157. 182 Nach Neusüß-Hunkel, S. 40 ff., waren ab 1937 50 Prozent aller mittleren und gehobenen SiPo-Stellen mit SS-Angehörigen besetzt; 1938 waren 28 Polizeipräsidenten SS- und 10 SD-Füh181

-

=

rer 183

(ebd.

S.

35).

Niederschrift

vom

1. 2. 38

(Hoßbach, S. 72).

IV. Zeit der

182

Spannungen und Illusionen

ebenfalls entzogen; ihr Einsatz als Staatsschutztruppe unterlag ausschließlich dem direkten Befehl Hitlers. Sie waren der „truppenmäßige Kern des Kontrollsystems"184 und hatten wie Himmler es formulierte185 „im Rahmen der Bewegung vom Führer ihre besondere Aufgabe der Sicherung des Reiches nach innen erhalten". Mit der Verfügung186, daß die -

-

„Verordnung über den Waffengebrauch der Wehrmacht", in der vor allem „das Einschreider Wehrmacht zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit" (§1) festgelegt war, sinngemäß auf die SS-Verfügungstruppen und die Totenkopfverbände Anwendung finden sollte, wurde die Wehrmacht in ihrer Stellung als legitime Inhaberin der militärischen Zwangsgewalt und als machtvollste staatliche Institution überhaupt relativiert, ihr innenpolitisches Gewicht geschmälert. Gleichzeitig bauten Himmler und Heydrich die gesamte Organisation des SD und der SS im Reich parallel zu der militärischen Organisation aus187. Gewiß war eine derartige Überlagerung der Wehrmachtsorganisation durch SS und SD bei weitem nicht vollständig, zahlenmäßig zudem keineswegs bedeutsam, sie beweist jedoch, daß der Totalitätsanspruch und die Kontrollabsicht potentiell und prinzipiell auch die Streitkräfte nicht ausklammerte. Von hier aus gesehen gewinnen dann die zahlreichen Reibungen und Konflikte, die das Verhältnis zwischen Wehrmacht und SS jahrelang bestimmten, ein ganz anders Gesicht. Nicht mehr böser Wille, Kompetenzeifersucht, persönliche Aversionen, nicht mehr bloß Waffenrivalität oder wie einst bei der SA eine andere militärpolitische Vorstellung waren letzthin Ursache jener Spannungen; sondern all diese Reibungen und Konflikte waren Ausfluß eines totalitären Anspruches und Expansionsbestrebens. Das zweite zuvor angedeutete Moment, der im Zusammenhang mit dem totalitären Herrschaftsausbau vonstatten gehende interne Machtkampf, erhält seine Bedeutung dadurch, daß er unter anderem auch das relative Entgegenkommen der obersten Parteiführung, wie es Heß gegenüber der Wehrmacht an den Tag legte, erklärt. Im einzelnen lassen sich zwar die Rivalitäten und das Ringen um Einfluß und Machtpositionen noch nicht genau erkennen; aber gerade für jene hier zu betrachtende Zeit gibt es etliche Zeugnisse, die ten

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So Buchheim, Die SS in der Verfassung des Dritten Reiches, S. 144 f. Zit. nach Neusüß-Hunkel, S. 38. 188 Ebd. S. 38. 187 Vgl. ebd. S. 35 f. Unmittelbar nachdem 1934 auf Hitlers Befehl die gesamte SS aus der SA, der sie bis zu diesem Zeitpunkt noch formal eingegliedert war, herausgenommen wurde, wurden die 184

185

SS-Oberabschnitte und, was noch wichtiger war, auch die SD-Leitabschnitte, also die obersten Dienststellen und Kommandobehörden der SS und des Sicherheitsdienstes, zahlenmäßig und örtlich parallel zu den Wehrkreisen umorganisiert. Am Sitz eines jeden Wehrkreiskommandos befand sich fortan auch je ein SD-Leitabschnitt bzw. ein SS-Oberabschnitt. Bei der Erhöhung der Zahl der Wehrkreise (April 1937 und Sommer 1938) vergrößerte sich auch entsprechend die SSbzw. SD-Organisation. Gleichfalls wurden die SS- bzw. die SD-Abschnitte bzw. die SS-Standar-

den Wehrersatzinspektionen bzw. den Wehrersatzbezirken jeweils örtlich und zahlenmäßig angeglichen. Darüber hinaus war man bestrebt, an den Sitz eines Wehrkreiskommandos oder in die Nähe Einheiten der bewaffneten SS zu verlegen. Ende 1937 wurden die SS-Oberabsdinitts-

ten

leiter zu „Höheren SS- und Polizeiführern" ernannt, damit unter diesen als Gebietsbefehlshabern in den Wehrkreisen „alle Einheiten der SS und Polizei einheitlich unter der Führung des Höheren SS- und Polizeiführers eingesetzt werden konnten".

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

183

einen gewissen Einblick erlauben. Schellenberg, der spätere Chef des politischen Geheimdienstes, berichtet188, daß es damals innerhalb der Partei scharfe Richtungskämpfe gegeben habe, die meistens Rudolf Heß an Hitler herangetragen habe. Die Antagonisten seien Himmler und Heydrich auf der einen Seite, auf der anderen Rudolf Heß selbst gewesen. Ebenfalls entbrannte ein heftiger Kleinkrieg zwischen Himmler und dem Reichsinnenminister Frick189. Dabei ging es bezeichnenderweise um die oberste Befehlsund Verfügungsgewalt über die Polizei, also um eine machttaktische Schlüsselstellung. Gering war aus dem Kampf um diese Position bereits 1935 ausgeschieden. Er versuchte, seinen Einflußbereich fortan über die Positionen „Luftwaffe" und „Vierjahresplan" auszuweiten190. Himmler aber versuchte, Frick im Kampf um den Polizeiapparat Schritt für Schritt zurückzudrängen. Frick bemühte sich, die Usurpierung der Polizeigewalt in den Ländern und Städten durch Himmler zu verhindern, die Unterwanderung der Gestapo durch SS und SD zu vereiteln und Expansion wie Ausgreifen der SS-kontrollierten Geheimpolizei einzudämmen191. Fricks bürokratische Art, mit Erlassen, Verfügungen und Beschwerden zu arbeiten, war allerdings von vornherein der bedenkenlosen Wendigkeit Himmlers und Heydrichs gegenüber unterlegen, die hinter den Kulissen und mit einer Taktik der vollendeten Tatsachen kämpften. Bei Berücksichtigung dieser Zusammenhänge gewinnen die Entspannungspolitik höchster Parteirepräsentanten gegenüber der Wehrmacht und die Schwierigkeiten und Spannungen der Wehrmacht mit der SS einen weiteren wichtigen Aspekt. In dem Gegensatz zwischen Heß' Ausgleichsstreben und der Aggressivität der SS kommen eben auch zwei antagonistische Positionen innerhalb des Machtkampfes bei dem Aufbau und der Kontrolle des nationalsozialistischen Herrschaftssystems zum Ausdruck. Nicht partnersdiaftlidi-pluralistisches Denken oder wehrmachtsfreundliche Gesinnung standen hinter den Ausgleichsbestrebungen von Heß oder gewissen gegen Heydrichs Gestapo zugunsten der Wehrmacht gerichteten Interventionen Fricks, sondern machttaktische Überlegungen, die von noch ganz anderen Momenten bestimmt wurden als nur vom Verhältnis zwischen Wehrmacht und Regime oder gar von einem Verzicht auf totalitäre Tendenzen und Vorstellungen. Diese gewiß sehr komplexen und schwer zu durchschauenden Zusammenhänge wurden damals von den verantwortlichen Militärs nicht erkannt. Nach dem Kriege verneinte Hoßbach, der damals als Adjutant der Wehrmacht bei Hitler doch die Entwicklung aus der Nähe und gut informiert beobachten konnte, die Frage, ob die Lage zwischen August 1934 und Januar 1938 wirklich so eindeutig hinsichtlich ihrer innenpolitischen Entwicklung zu erkennen gewesen sei, und meint: „Daß die Entwicklung zur unduldsamen Tyrannei führen würde, war zwischen 1934 und 1937 keineswegs offensichtlich. Der Wehrmacht

wenigstens

Walter Schellenberg, Memoiren, Köln 1956, S. 33. Hierüber berichtet ausführlich Gisevius, Bd I, S. 271 ff., sowie in seinem Buch: Adolf Flitler, Versuch einer Deutung, München 1963, S. 368 f. Ein Reflex des Kampfes Frick-Himmler findet sich in BA EAP 161-b—12/240 (Korrespondenz zwischen Frick und Himmler). i»» 1938 versuchte Göring dann vergeblich nach dem Oberbefehl über die Wehrmacht zu greifen. 191 Auch Schacht versuchte 1935 mit einer an Hitler gerichteten Denkschrift gegen die Gestapo vorzugehen. Hjalmar Schacht, 76 Jahre meines Lebens, München 1953, S. 438. 188

189

IV. Zeit der

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Spannungen und Illusionen

wurde vielmehr volle Gleichberechtigung neben der Partei durch Hitler in seinen amtlichen Verlautbarungen und in seinen öffentlichen Reden eingeräumt und zugestanden192." Aus Hitlers Verlautbarungen schöpfte die militärische Führung trotz aller Bedenken angesichts der offenkundigen Schattenseiten der Entwicklung immer wieder Vertrauen und Hoffnung auf eine positive Evolution. Die Spannungen und Konflikte erschienen ihr daher keineswegs als das, was sie tatsächlich waren, nämlich Symptome des nunmehr in gewandelter Form auftretenden und sich im durchorganisierten Polizeistaat manifestierenden Totalitätsanspruches des Regimes. Aus dieser vielleicht schwer zu vermeidenden Fehlinterpretation der Lage heraus vermochten die verantwortlichen Führer der Streitkräfte auch nicht, die internen Machtkämpfe innerhalb der NS-„Bewegung" zur Wahrung und Förderung der eigenen Interessen auszunutzen. Hätte es nicht beispielsweise nahegelegen, im Bunde mit Heß und Frick eine Eindämmung der Gestapo anzustreben, mindestens aber Frick in seinem Kampf gegen Himmlers Expansion zu unterstützen? In diese Richtung scheinen die Bestrebungen einiger Persönlichkeiten gegangen zu sein. So sollen der damalige Regierungsrat im Innenministerium, Dr. Gisevius, und der Major (E) der Abwehr, Oster beide in den nächsten Jahren radikale Oppositionelle -, versucht haben, eine gegen die SS gerichtete Entente zwischen Reichsinnenministerium und Reichskriegsministerium herzustellen193. Es kam aber nie zu einem derartigen Zusammenspiel, weil sich Blomberg, wenn er mit Frick verhandelte, nur auf konkrete Einzelfragen beschränkte, vor allem aber, weil der Kriegsminister alsbald den Weg über Frick für zu umständlich und zu wenig effektiv hielt und daher sich direkt an Himmler oder Heydrich bei der Erörterung von Problemen wandte, die zwischen den Amtsbereichen beider entstanden waren. Dieses Verfahren trug gewiß nicht zur Verhinderung der Machterweiterung der SS bei; es zeigt vielmehr erneut, wie wenig die Lage durchschaut wurde. Weder wurden die staatspolitische Notwendigkeit erkannt noch die Chancen für die Wahrung eigener Interessen, die dieser parteiinterne Machtkampf bot, ausgenutzt. Dagegen herrschte bei aller Sorge und allen Bedenken letzten Endes bei Wehrmacht- wie Heeresführung eine recht eingleisige Sichtweise vor, die primär durch das Vertrauen auf Hitler, den ehrlichen Schiedsrichter über die rivalisierenden Gruppen, den aufrichtigen Interessenwahrer der Wehrmacht, bestimmt wurde. Blomberg, unterstützt von Keitel, den beflissenen Chef des Wehrmachtamtes, verfolgte wie zuvor bereits in jeder, Hinsicht eine Linie des weitestmöglichen Entgegenkommens und der Vertrauensbeweise. Seine bereits erwähnten Anordnungen über den Anwendungsmodus des Hitler-Grußes, über die Einführung des NS-Hoheitsabzeichens etc. zeigen das. Auf dem Gebiet direkter organisatorischer Beziehungen zwischen Wehrmachtsangehörigen und Partei war er allerdings zurückhaltender. Als mit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht das Problem der Parteimitgliedschaft von wehrpflichtigen Soldaten akut wurde, haben Heeres- wie Wehrmachts-

-

-

führung stets 192 1,3

das in

§ 26 des Wehrgesetzes festgelegte Prinzip

Hoßbach, S. 177. Gisevius, Bd I, S. 271 ff., und ders., Adolf Hitler, S. 368 f.

gesagt,

er

habe sich

„ständig als Scharfmacher betätigt"

vertreten,

In KB, S. gegen die SS.

daß eine aktive

460, wird

von

Gisevius

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

185

Parteimitgliedschaft für die Dauer des Wehrdienstes unstatthaft sei194. Ein Erlaß Blombergs vom 21. Juni 1935 bestimmte195, daß während des Wehrdienstes die Mitgliedschaft in der Partei und allen NS-Organisationen zu ruhen habe. Eine kurz danach erlassene Anordnung196, daß allerdings bestimmte Gruppen von Wehrpflichtigen ihre Beiträge weiterzahlen dürften, war kaum ein Entgegenkommen gegenüber der Partei197; jedenfalls wurde die Absicht des Erlasses vom 21. Juni, die Verhinderung parteipolitischer Aktivität von Soldaten, damit auch erreicht198. Großzügiger verfuhr man hinsichtlich der Zivilbediensteten der Streitkräfte, denen die Mitgliedschaft in der NSDAP und deren Gliederungen prinzipiell erlaubt war, allerdings mit gewissen Einschränkungen, durch die parteipolitische Aktivität aus dem Bereich der Streitkräfte herausgehalten199 und eine Leistungsbeeinträchtigung vermieden werden sollte. Damit sowie mit der Erlaubnis, im Reichsluftschutzbund und der KdF-Organisation mitzuarbeiten, oder dem Hinweis, die Mitgliedschaft von Offiziersfrauen in der NSV sei erwünscht200, bezeigte die Wehrmachtsführung ein äußerlich weitgehendes, aber substantiell nicht bedeutsames Entgegenkommen201; an dem im Wehrgesetz verankerten Prinzip, daß die Parteimitgliedschaft während der Militärzeit ruhe, hielt sie jedoch unnachgiebig fest. Ebenso waren Gesten wie die mehrfachen Hinweise des Ministers, Repräsentanten der Partei zu gesellschaftlichen Veranstaltungen der Offizierkorps202 hinzuzuziehen, oder die Benennung von Kasernen nach 194 Die von O'Neill, S. 69, kritisierte Weisung vom 10.3.34 (H24/6), die für kurzfristig dienende Freiwillige die für Reichswehrsoldaten geltende Parteilosigkeit einschränkte, kann nur aus der diesbezüglichen rechtlichen Unsicherheit der Ubergangsphase von Berufsheer zur Wehrpflichtarmee heraus verstanden werden. 195 MGFA/DZ WK VII/2306, WPV S. 15 (Reichskriegsminister Nr. 3239/35 I Ia). 196 MGFA/DZ WK VII/2306, WPV S. 16 (Erlaß vom 30. 8. 35). 197 Wie O'Neill, S. 69, meint („so that membership could hardly be said to have ceased at all"), sondern eine Fürsorgemaßnahme „zur Vermeidung von Härten [Verlust gewisser Rechtswie der Text des Erlasses es ausdrücklich sagt. Er betraf zudem nur Reseransprüche ...] visten, Ersatzreservisten und Landwehrangehörige. 198 So durften auch Soldaten in den Reichsluftschutzbund eintreten (WK VII/2306, WPV S. 31, Verfügung Nr. 4790/35 vom 5. 9. 35), da dieser keinerlei parteipolitische Betätigung betrieb. 199 MGFA/DZ WK VII/2306, WPV S. 18 (Erlaß Nr. 4880/35 vom 10. 9. 35, ergänzt am 2. 11. 35, WPV S. 69). Der von O'Neill, S. 69, zitierte Satz aus WK XIII/16 bezieht sich indessen nicht auf das Verbot der Parteimitgliedschaft für Soldaten, sondern auf die Aufnahmesperre seitens der Partei für neue Mitgliedsanwärter. Gravierender war allerdings schon Blombergs Zustimmung zu der Einbeziehung von Soldatenfamilien in die NS-Blodc- und Zellen-Organisation (MGFA/DZ WK VII/2196, Erlaß vom 6. 9. 36), allerdings wird der Effekt je nach örtlichen Gegebenheiten verschieden gewesen sein. In den Akten erscheinen eben nur die Zwischenfälle (so z.B. H 24/6; "

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WK XIII/246; W 01-5/110-112). 2»9 MGFA/DZ WK VII/2306, WPV S. 66 (Verfügung vom 25. 6. 36). 201 All diese Maßnahmen sind als Minimalzugeständnisse zu werten; denn großzügig war das Ministerium nur bei relativ „harmlosen" Organisationen wie NSV, KdF, RLB etc. Wenn O'Neill, S. 179, die KdF-Organisation als ein „important link between the Army and the Party" bezeichnet (Hervorhebung vom Verf.), dann ist das eine klare Fehlbeurteilung. 282 MGFA/DZ WK IX/134 (Verfügung vom 18. 6. 36).

186

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

der Partei203 typisch für ein betontes Entgegenkommen, das den guten Willen manifestierte, aber einen unmittelbaren Einfluß der Partei auf die Streitkräfte nicht nach sich zog. Unterschiedliche Tendenzen und Akzentverschiebungen bei Heeresführung und Wehrmachts-Oberbefehlshaber lassen sich allerdings auf dem Gebiet der ideologischen Indoktrinierung feststellen. Die seit 1933 sowohl als integrierender Bestandteil ihres politischen Konzeptes als auch als taktisches Instrumentarium von der Wehrmachtsführung durchgeführte Indoktrinierung wurde ab 1935 noch verstärkt. Das war vor allem eine Reaktion auf die im Verlauf jener damaligen Spannungen erhobenen Vorwürfe der politisch-ideologischen Unzuverlässigkeit und der mangelnden nationalsozialistischen Einstellung204. Außerdem hatte sich mit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die Notwendigkeit ergeben, über Tendenz und Akzentuierung der geistigen und ideologischen Erziehung der Wehrpflichtigen und des Offiziersnachwuchses zu entscheiden, falls man nicht überhaupt darauf verzichtete, der Armee eine über die militärisch-technische Ausbildung hinausgehende Erziehungsarbeit zuzuweisen205. Letzteres hätte der preußisch-deutschen Militärtradition206 widersprochen. Zudem war mit der 1933 bereits begonnenen nationalsozialistischen Indoktrinierung eine bedeutsame Vorentscheidung in dieser Hinsicht auch schon gefällt worden. Es nimmt daher nicht wunder, daß Blomberg in einem grundlegenden Erlaß207 vom 16. April 1935 über „Erziehung in der Wehrmacht" für die Streitkräfte das Recht und die Aufgabe, die „große Erziehungsschule der Nation" zu sein, unter ausdrücklicher Berufung auf Hitler in Anspruch nahm. Er schrieb, daß die Wehrmacht „neben den anderen Organisationen des Staates und der Bewegung" die Aufgabe habe, „ein nationaler und gesellschaftlicher Schmelztiegel für die Erziehung des neuen deutschen Menschen"208 zu sein. Damit gab er

„Schutzheiligen"

MGFA/DZ WK XIII/289 (Erlaß vom 28. 9. 36). Symptomatisch ist hierfür die auffällige Häufung typisch nationalsozialistischer Erlasse im Jahr 1935/36: Reserveoffiziere nur aus nationalsozialistisch gesinnten Bewerbern rekrutieren (22. 7. 35); Blombergs Erlaß über nationalsozialistische Erziehung (16. 4. 35); Erlaß über nationalpolitischen Unterricht (30. 1. 36); Empfehlung der Kontaktpflege mit Parteirepräsentanten (18.6.36); „arische" Heiratsbestimmungen (1.4.36); Hitlers Erlaß über „Rassenpflege in der Armee" (13. 5. 36); gegen Einkauf von Wehrmachtsangehörigen in jüdischen Geschäften (15. 7. 35); keine Einstellung ehemaliger Freimaurer als Offiziere oder Res.-Offiziere (7. 10. 37). Vgl. auch Dok.-Anh. Nr. 21. 205 Über den gesamten Erziehungskomplex vgl. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im nationalsozialistischen Staat. „Zeit der Indoktrination, passim." 206 Vgl. dazu Reinhard Höhn, Die Armee als Erziehungsschule der Nation. Das Ende einer Idee, Bad Harzburg 1963. 207 Abgedruckt in: Offiziere im Bild von Dokumenten, S. 260 ff. (Dok. 101). Dieser Erlaß wurde mit dem Zusatz: „Ich habe den Eindruck gewonnen, daß die Erziehungsaufgabe der Wehrmacht von einzelnen Führern und Unterführern noch nicht klar erkannt wird. Auch in der Wahl der Erziehungsmittel und in ihrer Anwendung sind Mißgriffe vorgekommen ..." am 3. 5. 35 mit Chef Heeresleitung Nr. 738/35 nochmals in Erinnerung gebracht (WK XIII/299). 208 Es sei betont, daß hier lediglich die politische Relevanz der Erziehungsprinzipien Blombergs behandelt wird. Über die praktische erzieherische Seite soll nicht geurteilt werden. Nur so viel

203

294

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

187

den alleinigen Erziehungsanspruch der Armee zwar auf, er negierte aber zugleich indirekt auch einen Absolutheitsanspruch der Partei für den Bereich der politischen Erziehungsarbeit innerhalb der Armee. Insofern steht dieser Erlaß in der Linie einer Politik, die die Wehrmacht als gleichberechtigte Machtsäule des neuen Staates auffaßte und diese gleichberechtigte Machtteilhabe auch gegenüber der Partei vertrat. Das jedoch erforderte den

ständigen Nachweis und die wiederholte Betonung der unbedingten Erziehungsfähigkeit der Wehrmacht in nationalsozialistischem Sinne, insbesondere da die Gegenseite im Verlaufe von Auseinandersetzungen gerade diesbezügliche Zweifel erhob. Blomberg wurde so nicht müde, in zahlreichen Erlassen209 sein Bemühen zu beweisen, die Wehrmacht mit nationalsozialistischem Geiste zu erfüllen210, die Erziehungsarbeit in diesem Sinne zu lenken, anzuregen, gar zu oktroyieren und gleichzeitig dadurch nachdrücklich die absolute Loyalität und Zuverlässigkeit der Streitkräfte zu betonen. Er proklamierte daher für die Wehrmacht „eine Erziehungsarbeit an der Jugend

im Geiste des Nationalsozialismus"211. Daher war es auch nur konsequent, daß er bald darauf in einem an die drei Oberbefehlshaber der Wehrmachtsteile gerichteten Erlaß zur Sicherstellung einer „einheitlichen politischen Erziehung und Unterrichtung des Offizierkorps" die Einführung eines „nationalpolitischen Unterrichtes" an den Kriegsschulen, den Akademien und in den Bereichen der General-, Stations- bzw. Luftkreis-Kommandos anordnete212. Mindestens zwei Stunden im Monat sollten dem nationalpolitischen Unterricht gewidmet werden. Außerdem müßten bei jeder Gelegenheit „die von der Wehrmacht zu Volk, Staat und Bewegung führenden Wechselbeziehungen" behandelt werden. Um die Effektivität und Qualität dieses Unterrichts im Sinne seiner Initiatoren zu gewährleisten, wurden in Berlin regelmäßig „Nationalpolitische Lehrgänge" meist für die mit der Durchführung des entsprechenden Unterrichts an den Schulen und Akademien beauftragten Offiziere, aber auch für höhere Offiziere, Kommandeure aller Ränge, abgehalten. Der erste dieser Kurse fand im Januar 1937 in Berlin statt. Prominente Parteifunktionäre wie Heß, Goebbels, Himmler sowie eine Reihe mittlerer NS-Chargen hielten Referate sei

angedeutet:

die Modernität seiner

Hinweise, das reformatorische Bemühen gegenüber alt-ein-

gefahrenen „Kommiß"-Praktiken ist in Blombergs Erlaß vom April 1935 nicht zu übersehen. Der an sich vage Gedanke der „Volksgemeinschaft" hatte im Bereich der Streitkräfte fraglos auch eine positive praktische Auswirkung auf das Verhältnis von Vorgesetzten und Untergebenen. 299 Erlaß vom 17.4.35, in dem er dem Offizierkorps in Erinnerung rief, daß seine „Richtlinien" für den nationalpolitischen Unterricht „dienstliche Unterlagen" seien, von ihm selbst bestimmt

und genehmigt und genauso bindend wie jede andere dienstliche Richtlinie (MGFA/DZ II W 22 S. 13). Im übrigen erschienen danach aus der Feder einiger enger Mitarbeiter des Reichswehrministers etliche Broschüren, die gleichsam offiziös die Politik der Reichswehrführung nach „Außen" publizistisch vertraten. Typisch dafür sind Schriften wie Hermann Foertsch, Die Wehrmacht im nationalsozialistischen Staat, Hamburg 1935, und Walter Jost, Die wehrpolitische Revolution des Nationalsozialismus, Hamburg 1936. Beide Autoren gehörten dem Wehrmachtamt an; die Broschüren erschienen mit einem Geleitwort Blombergs. 210 In seinem Erlaß vom 4. 4. 34 sprach er ja auch von der „Notwendigkeit der geistigen Durchmit den Leitgedanken des nationalsozialistischen Staates". dringung 211 Erlaß vom 16.4.35. 212 Erlaß vom 30.1. 36 (MGFA/DZ II W 22, Anhang zu S. 13 von WPV; auch in WK XIII/299). ...

IV. Zeit der

188

Spannungen und Illusionen

über nationalsozialistische Themen. Diese wie auch die Vorträge der folgenden nationalpolitischen Lehrgänge wurden gedruckt und in der Truppe verteilt213. Ähnliche Lehrgänge fanden auch in den Wehrkreisen statt214. Wie wenig bei dieser Indoktrinierungstendenz das Alibi-Moment gegenüber der Partei und der politische Gleichberechtigungsanspruch von dem ausdrücklichen Willen des Ministers zu trennen war, die Wehrmacht auch praktisch in den nationalsozialistischen Staat zu integrieren, zeigt beispielsweise sein an die Oberbefehlshaber der drei Wehrmachtsteile gerichteter Geheimerlaß über die Auswahl der Offiziere des Beurlaubtenstandes. Darin heißt es, daß es für die Wehrmacht selbstverständlich sei, daß sie sich zur nationalsozialistischen Staatsauffassung bekenne. Dementsprechend könnten „nur solche Persönlichkeiten zu Offizieren des Beurlaubtenstandes ausgebildet und ernannt werden, die sich innerlich zum nationalsozialistischen Staate bekennen, nach außen für ihn eintreten und sich ihm gegenüber nicht gleichgültig oder gar ablehnend verhalten"215. Damit beließ Blomberg es also nicht bloß bei theoretischer Indoktrinierung, sondern zeigte das Bestreben, Soldaten und Offiziere gleichsam zu „praktizierenden" Nationalsozialisten zu machen. Das kam besonders in seinen Anordnungen auf dem Gebiete der „Rassenpflege" und des „Rassebewußtseins" zum Ausdruck, die gewiß auch eine Reaktion auf Vorwürfe von Parteiseite218 wegen angeblicher Mängel in dieser Hinsicht bei der Wehrmacht waren, die jedoch unabhängig davon im letzten unleugbar eine problematische Konsequenz der ideologischen Tendenz des Ministers darstellten. So wies Blomberg am 15. Juli 1934 schon darauf hin217, daß es mit der Verpflichtung der Wehrmacht, eine der verantwortlichen Schulungsstätten der Nation zu sein, nicht zu vereinbaren sei, wenn Wehrmachtsangehörige in jüdischen Geschäften kauften218. Der Aufforderung zum rassistischen Boykott folgten allmählich sich verschärfende „arische" Heiratsbestimmungen für Soldaten219 sowie strengere Bestimmungen über die Ausschaltung bzw. Diskriminierung

Vgl. dazu MGFA/DZ H 35/30 (Erster nationalpolitischer Lehrgang 1937) und OKW/1619 a-c. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Dok.-Anh. Nr. 21 und 38. 214 Dort oblag die Organisation derartiger Kurse den Ic-Offizieren, deren Hauptaufgabe jedoch die Abwehrtätigkeit war. Die Ic als eine „entire organisation for the systematic indoctrination of the Army into the principles of National Socialism" zu bezeichnen, die auf vollen Touren lief, und die Ic-Offiziere als eine Art besonders wirksamer politischer Kommissare hinzustellen wie es O'Neill S. 72 tut ist eine Fehleinschätzung. 215 Erlaß vom 22. 7. 35, Nr. 1390/35 geh. L II d, in: MGFA/DZ WK VII/3364. Vgl. auch Kap. II, 213

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S. 70 dieser Arbeit. 216 Vgl. die Vorgänge in MGFA/DZ WK VII/399 und WK VII/1652 sowie W 01-5/110-112. Hitler selbst hat am 13. 5. 36 einen Befehl an die Wehrmacht über „Rassenpflege" herausgegeben, in dem er den Streitkräften auferlegte, ihre Führer „über die gesetzlichen Vorschriften hinaus nach schärfsten Gesichtspunkten auszuwählen" : vgl. Dok.-Anh. Nr. 23. 217 MGFA/DZ W II 22, fol. 35 f. Am 28. 1. 36 erinnerte das GenKdo VII. AK an diese Anordnung mit den Worten: „Es liegt Veranlassung vor, auf vorstehende Verfügung erneut hinzuweisen." (MGFA/DZ WK VII/1428.) 218 Am 8. 12. 33 hatte Blomberg bereits den Besuch „jüdischer Lokale" durch Standortbefehle verbieten lassen (ebd.). 219 MGFA/DZ H 24/35 (= HVO-Blatt Nr. 13, 1936, S. 121).

IV. Zeit der von

Spannungen und Illusionen

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„Nichtariern" in den Streitkräften220. Der zersetzende Einfluß, den derartige Anord-

Offizierkorps hatten und vor denen Manstein nachdrücklich gewarnt alsbald bemerkbar gemacht haben. Fritsch hielt es nämlich für erfordermuß sich hatte, 1936 mit deutlicher Mißbilligung zu dekretieren: „Von dem Kameradlich, im Januar schaftsgeist des Offizierkorps erwarte ich, daß es irgendwelche Mutmaßungen oder Verbreitung von Gerüchten über die nichtarische Abstammung eines Kameraden oder bei seiner Ehefrau unterläßt... Jeder Schriftwechsel über die nichtarische Abstammung eines Offiziers ist als Verschlußsache zu bearbeiten221." Außer in der „Rassen"-Frage folgte Blomberg der nationalsozialistischen Praxis auch gegenüber ehemaligen Freimaurern, denen er die Offizierslaufbahn verschloß222. Welche Haltung nahm die Heeresführung zu all dem ein? Fritschs Rolle in dieser Hinsicht ist schwer zu beurteilen. Zahlreiche ehemalige höhere Offiziere des Heeres, die ihn gut kannten, bezeugen, daß er um seine Formulierung zu benutzen sich stets gegen ein Eindringen „parteipolitischer Maximen" ins Heer gewandt habe223, daß er als Hort der „alten Werte und Traditionen" angesehen worden sei224. Dagegen gibt es etliche Erlasse und Willensäußerungen des ObdH, die durchaus der Indoktrinierungstendenz Blombergs in Theorie und Praxis entsprachen. So bedrohte er, unter Berufung auf „den nationalsozialistischen Gedanken des Gemeinschaftsgeistes", Zivilbedienstete des Heeres mit Entlassung, wenn sie nicht der nationalsozialistischen „Deutschen Arbeitsfront" beiträten225. Er erklärte es weiterhin für „eine Selbstverständlichkeit..., daß der Offizier sich seine Frau nur in den arischen Schichten des Volkes sucht, in denen nationale Gesinnung, Ehrnungen auf das

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zum Ausscheiden aller nach §5 der 1. Verordnung zum Reichsbürgerals nicht-arisch Offiziere: ObdH Nr. 6780/35 (PA-Z) vom 24. 12. 35; deklarierter gesetz MGFA/DZ WK XIII/863. 221 MGFA/DZ WK IX/134 (ObdH Nr. 205/36 PA (2) vom 15.1. 36). Vgl. auch WK VII/3243, Erlaß Nr. 6411/37 von Reichenau, in dem es heißt: „Bespitzelung ist ein Zeichen von Falschheit. Sie schließt jeden Offizier aus der Gemeinschaft aus." Es gab allerdings auch Zeichen von hilfswilliger Kameradschaft. So bat allerdings vergeblich ein Offizier der Attache-Gruppe des Generalstabs den amtierenden chinesischen Militärattache um Hilfe bei der Unterbringung von jüngeren Offizieren, die aus rassistischen Gründen entlassen waren, in ausländischen Diensten (MGFA/DZ H 24/6, Vortragsnotiz T 3/Att.Gruppe vom 22.5.34). O'Neill, S. 76, meint, die Initiative dazu sei von Beck ausgegangen. Darauf deutet nichts direkt hin. Der Offizier, der die Demarche unternahm, war der spätere Militärattache in Finnland, General Rössing. Er machte Fritsch davon Mitteilung. Auf dem Vorgang steht u.a. die Notiz: „Gelegentlich Min [ister] orientieren." Es scheint also angenommen worden zu sein, daß auch Blomberg derartige Initiativen nicht mißbilligt. Vgl. Dok.-Anh. Nr. 24. 222 Vgl. MGFA/DZ II W 22 und WK VII/2306 (Erlaß Nr. 1634/35 vom 7. 10. 35 sowie Erlaß vom 18. 3. 36). Der steigende Personalbedarf erzwang in dieser Frage allerdings sodann gewisse 220

Vgl. Blombergs Erlaß

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Lockerungen. 223 So Hoßbach,

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S. 76. Vgl. auch J. v. Stülpnagel, Erinnerungen, S. 350, der schreibt: des Ministers Bestreben stieß auf einen gewissen Widerstand im Heer und hier besonders bei seinen verantwortlichen Führern Fritsch und Beck ..." 224 Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 246. 223 HVO-Blatt 1936, S. 316, Nr. 831. „...

IV. Zeit der

190

Spannungen und Illusionen

Pflichtgefühl, Anstand und gute Sitte als höchste Güter gelten"226. Für den „nationalpolitischen Unterricht" schlug er beispielsweise dem Ministerium typisch nationalsozialistische Themen vor wie „Geschichte des Nationalsozialismus", „Der Kampf um die deut-

und

sche Rasse", „Liberalismus und Marxismus"227. Dieser Befund ist indessen nur scheinbar widersprüchlich, genauso wie es Fritschs eigene Aussage ist, er habe sich gegen ein Eindringen parteipolitischer Einflüsse und Maximen gewandt, aber es als völlig selbstverständlich akzeptiert, daß die Grundlage des heutigen Heeres „nationalsozialistisch ist und sein muß"228. Allerdings wird dieser Widerspruch nicht dadurch völlig aufgelöst werden, daß man die nationalsozialistische Phraseologie und Akzentuierung zu einer damals unumgänglichen rhetorischen Konzession erklärt229. Dazu waren sie zu markant, zu konkret auch; dagegen sprechen zudem die zitierten Formulierungen des ObdH selbst. Vielmehr wird man im Sinne jener Erklärung, die sein Vertrauter, Hoßbach, gibt230 Fritsch habe „als Mittler zwischen einst und jetzt" wirken wollen -, davon ausgehen müssen, daß der ObdH der aufrichtigen Überzeugung war, er könne „die erprobten sittlichen und geistigen Werte der zurückliegenden Zeit" und die neuen „Werte" und Auffassungen des Nationalsozialismus sinnvoll und organisch miteinander verschmelzen231 und auf diese Weise für seine Aufgabe, den äußeren Ausbau und die innere Formung des Heeres, nutzbar machen. Die Unvereinbarkeit jener Komponenten und damit die Unmöglichkeit ihrer organischen Verschmelzung waren ihm keineswegs klar. Die Grundlagen seiner Gedankenbildung kommen sehr aufschlußreich in einer von ihm verfaßten Stellungnahme zum Problem des nationalpolitischen Unterrichts an den Offiziersschulen zum Ausdruck232. Darin befürwortet er nachdrücklich, daß Themen, „die den Ursprung und die Wurzeln des Nationalsozialismus, seine geschichtliche Notwendigkeit, seinen Weg und die von ihm geschaffenen Tatsachen" behandeln, „in den Vordergrund [des Unterrichtes] zu stellen" seien. Er hält dies aus zwei Gründen für notwendig; erstens müsse sich gerade der Offizier und Offiziersnachwuchs eines Volksheeres „fortschreitend in die Grundsätze, die für das Leben eines Volkes anerkannte Gültigkeit haben" als solche sah er also den Nationalsozialismus an! -, hineindenken und sie sich zu eigen machen. In dieser -

...

-

über 21. 12. 34 also noch vor Blombergs einschlägigem Erlaß vom April 1935 und Erziehungsaufgaben des Offizierkorps (abgedruckt in: Offiziere im Bild von Dokumenten, S. 259, Dok. 100). 227 MGFA/DZ W 01-5/185, ObdH Nr. 1241/35 vom 27.11.35, Stellungnahme zu WA Nr. 5848/35 betr. Polit. Unterricht vom 4.11. 35. 228 Aufzeichnung vom 1. 2. 38 (Hoßbach, S. 70). 229 O'Neill, S. 82 f. weicht diesem Problem im gewissen Sinne aus, wenn er schreibt: „it is neither possible to free Fritsch completely from responsibilty for the dissemination of a powerful political ideology... nor to condemn him for it." Die Fragestellung ist weniger „Freispruch oder Verurteilung", sondern vielmehr, wie erklärt sich die zwiespältige Haltung des ObdH, die der Grund ist für die widersprüchlichen Aussagen. 239 Hoßbach, S. 104, und ähnlidt, S. 174. 231 Ebd. S. 104: die Heeresleitung beabsichtigte, „ihr Werk auf den gesunden Grundlagen der Vergangenheit zu errichten und dem veränderten Zeitgeist anzupassen". 232 MGFA/DZ W 01-5/185, ObdH Nr. 1241/35 vom 27.11. 35. 226

Erlaß

vom

Erziehung

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IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

191

Auffassung spiegelt sich erstens das Trauma des November 1918 und der Weimarer Zeit wider, die Erfahrung, daß eine schlagkräftige, standfeste Armee nicht ohne organischen Bezug zu den in diesem Volke lebendigen politisch-sozialen Ideen aufgebaut, ausgebildet und geführt werden kann233. Zweitens hielt er selbst eben den Nationalsozialismus für eine „geschichtliche Notwendigkeit" innerhalb der „großen, ununterbrochenen Zusammenhänge in der Geschichte eines Volkes". Der Unterschied zwisdien dieser gewiß auf einem illusionären Mißverstehen beruhenden, aber daher nicht minder prinzipiellen Bejahung des Nationalsozialismus durch den ObdH und dem naiven, undifferenzierten und emotionalen nazistischen Enthusiasmus eines Blomberg war nicht bloß eine Stilfrage; qualitativ lag er in zwei Momenten: erstens in einer der nationalsozialistischen Indoktrination und Schulung gleichberechtigt angesetzten und für gleich wichtig erachteten Pflege traditioneller soldatischer Wertauffassungen. Fritsch hielt es „für unerläßlich, daß jeder nationalpolitische Vortrag in einem überzeugenden Hinweis auf die großen zeitlosen Aufgaben des Soldaten, auf unbeirrbare Pflichterfüllung, Disziplin und kameradschaftliche Geschlossenheit, gipfelt". Hier drückt sich also jene „Mittlerschaft zwischen einst und jetzt" aus. Und zweitens wird der Unterschied zu Blombergs unkritischer Gläubigkeit an den Nationalsozialismus sichtbar in der von Fritsch hervorgehobenen Devise, im nationalpolitischen Unterricht müsse alles vermieden werden, „was die geistige Geschlossenheit des Offizierkorps sprengt oder auch nur die Kameradschaft schädigt"234. Worauf das zielte, zeigen seine folgenden Bemerkungen: „Hervorragende Persönlichkeiten des neuen Staates" verträten in vielen, und zwar nicht den unwichtigsten Fragen „theoretisch wie praktisch durchaus nicht immer die gleichen Auffassungen"; derartig „heftig umstrittene Probleme" aber müßten vom Offizierkorps, vor allem vom Offiziersnachwuchs ferngehalten werden, weil dadurch die geistige Geschlossenheit beeinträchtigt werde. Kommt hierin nicht seine Ablehnung der ihm verhaßten „parteipolitischen Einflüsse" zum Ausdruck, die er nicht als ideologische Einflüsse auffaßte denn diese bejahte er -, sondern als Ausstrahlung parteiinterner Richtungskämpfe oder direkter Parteiübergriffe235? Aber steht so muß man ebenfalls fragen dahinter nicht auch eine verengende Defensivhaltung, die den eigenen Mikrokosmos, die Armee, von der Auseinandersetzung mit fremden, feindlichen, gar „zersetzenden" Ideen und Mächten bewahren und daher abkapseln möchte? Das aber mußte ein vergebliches Unterfangen sein, zumal man sich zugleich gewissen, vom Nationalsozialismus vertretenen Gedanken, durchaus öffnen wollte. Aus dem Dokument läßt sich die ursprüngliche Motivation seines Strebens erkennen, bewährtes Altes und zukunftsträchtiges Neues zu vereinen, ein Streben, das auch aus zahlreichen Auslassungen des ObdH spricht. In einer noch vor Blombergs eigenem großen Er..

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2,3 Vgl. dazu auch Fritschs Ausführungen bei Foertsch, S. 205 : „Eine Regierung muß heute die Arbeiterschaft hinter sich haben. Dieses ist Hitler fraglos gelungen ." 234 Vgl. dazu auch seinen oben erwähnten Erlaß über kameradschaftliches Verhalten in der „Arier..

Frage". 235

Vgl. Aufzeichnung

vom

auflösend wirken können."

1. 2. 38

(Hoßbach,

S.

70):

»...

da solche Einflüsse

nur

zersetzend und

IV. Zeit der

192

Spannungen und Illusionen

ziehungserlaß liegenden Weisung236 des ObdH über Erziehung des Offizierkorps werden, ähnlich früheren Zeiten, Tugenden wie Anständigkeit und Sauberkeit, Einfachheit und Enthaltsamkeit, Standesgesinnung und Fürsorge für Untergebene, Pflichttreue und Verantwortungsbewußtsein für das Ganze eingeprägt. Aber es werden ebenfalls Heiraten nur mit „arischen" Ehepartnern gefordert, und das Offizierkorps, welches „das Glück hat, am Aufbau des Dritten Reiches mitzuarbeiten", wird angesprochen als berufen, „das historische Werk" des „Führers" zu vollbringen. Er forderte „einheitlichen Geist und einheitliche Berufsauffassung im Offizierkorps" und verbot gleichzeitig jede Kritik an „der ...

Person des Führers" und an der „nationalsozialistischen Regierungsform". Der Unterschied des von der Heeresführung vertretenen Standpunktes im Vergleich zu dem des Reichskriegsministers lag in diesem Zusammenhang einmal in der fehlenden enthusiastischen Emotionalität, die im Gegensatz zu dem nüchternen Ton der Heeresverlautbarungen denen des Ministers eignete; zum zweiten kam sie in einem kühleren Verhältnis zur Partei und ihren Organisationen zum Ausdruck. Dabei ging der graduelle Unterschied, der lediglich eine Stilfrage gewesen wäre, teilweise in eine qualitative Differenzierung über. Während Blomberg in seinem Erziehungserlaß237 „Willensgemeinschaft und Kameradschaft" mit den nationalsozialistischen Organisationen forderte, da die Wehrmacht „ihre Wiedergeburt in erster Linie dem Führer und seinem politischen Werkzeug, der NSDAP" verdankte, nannte Fritsch in seinem entsprechenden Erlaß die Partei überhaupt nicht, sondern hob nur Hitler hervor; und ein vom ObdH als besonders vorbildlich gerühmter Erlaß238 des Kommandeurs der 1. Panzer-Division, General v. Weichs, verschwendete nicht nur kein Wort über die NSDAP, sondern behauptete in Umkehrung der These Blombergs, mit der nationalsozialistischen Revolution habe „unser ganzes Volk nicht nur im Äußeren, sondern auch in seiner seelischen Haltung begonnen, den Gleichschritt des Heeres aufzunehmen"239. Mehr noch: Das in der Wehrmacht neu erstandene Volksheer (und nicht die Partei, so darf man wohl ergänzen) lebe „deutsches Wesen und deutsche Art dem ganzen Volk vor ."240. Während Blomberg „Abkapselung der [militärischen] Führer" und „an überlebten Vorstellungen haftendes Herrentum" in seinem Erlaß verwarf, schrieb General v. Weichs, der Offizier sei „ein Sinnbild und Hoheitsträger deutscher Lebensauffassung"; Standesdünkel sei zwar Dummheit, aber nur der „standesbewußte Offizier" sei „eine innerlich freie Persönlichkeit", der einem „besonders ausgewählten, besonders geprüften und besonders verpflichteten Stande" angehöre und sich in seiner „Liebe zu Volk, Vaterland und Führer als unübertrefflich" zeige. In diesem Erlaß .

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...

Erlaß vom 21.12. 34 (Offiziere im Bild von Dokumenten, S. 259, Nr. 100). Ebd. S. 260 ff. (Nr. 101). 238 Ebd. S. 264 ff. (Nr. 103, Erlaß des Kommandeurs der 1. Panzer-Division vom 2.3.37, vom ObdH mit Nr. 1885/37 vom 13.4.37 an das Offizierkorps weitergegeben). Vgl. dazu die etwas anders akzentuierte Beurteilung dieses Erlasses in: Offiziere im Bild von Dokumenten, S. 100 f. 236

237

Original hervorgehoben. Blomberg dagegen hatte in seinem Erlaß vom 16. 4. 35 wohl betont, die Wehrmacht sei „wieder zur großen Erziehungsschule der Nation" geworden; diese Aufgabe habe sie aber „neben den anderen Organisationen des Staates und der Bewegung" zu erfüllen (Hervorhebungen vom Verf.). 239

249

Im

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

193

eines dem Nationalsozialismus kühl gegenüberstehenden Divisionskommandeurs kommt fraglos eine hinsichtlich nationalsozialistischer Auffassungen restriktive, das restaurativkonservative Element in der Konzeption des ObdH besonders akzentuierende Auslegung eben dieses Konzeptes zum Ausdruck, und daß Fritsch selbst eher einer solchen zuneigte, beweist die Tatsache, daß er diesen Erlaß vor den Kommandeuren als vorbildlich hervorhob. Auf keine Weise jedoch ließ sich verhindern, daß auch der gegenteilige Effekt eintrat, nämlich daß auch die dem Nationalsozialismus positive Komponente aufgegriffen und besonders akzentuiert wurde, zumal Blombergs Erlasse einen Einfluß in dieser Richtung ausübten. So mag es nicht wunder nehmen, wenn der Kommandierende General des IX. Armeekorps, Dollmann, ganz anders als General v. Weichs, seinem Offizierkorps darlegte241, daß „die Anerkennung des politischen Führungsanspruches der Partei... die Voraussetzung für jede Zusammenarbeit" mit der NSDAP sei. Er wies dabei auf das „Totalitätsprinzip" der Partei hin und machte es seinen Kommandeuren „zur ersten Pflicht", dafür zu sorgen, daß Haltung und Gesinnung eines jeden Offiziers daher unbedingt „positiv und nationalsozialistisch" werde. Ähnliche naiv unreflektierte oder bewußt pro-nationalsozialistische Auffassungen kultivierten auch andere hohe Offiziere242. Wiederum eine andere Tendenz verkörperte damals Reichenau, der seit Ende 1935 Kommandierender General des VII. Armeekorps in München war. Im Grunde unterschied sich sein Verhalten gar nicht von Fritschs Prinzip Bejahung des Nationalsozialismus243 „als solchem", aber Ablehnung aller Übergriff e von seiten der Partei. Er war jedoch politisch geschickter und gegenüber in seinen Augen unzulässigen Parteiambitionen aggressiver. So äußerte er sich vor Offizieren seines Armeekorps im Winter 1935 im Hinblick auf die sich häufenden Vorwürfe der Partei und SS mit ebenso energischen wie in der Argumentation bezeichnenden Worten244: „Wir haben es nicht nötig, den Soldaten zum Nationalsoziali...



MGFA/DZ WK IX/137, GenKdo IX. AK Ic Nr. 471/36 geh. vom 28.1. 36. Dollmanns Erlasse zeichneten sich durch einen besonderen nationalsozialistischen Impetus aus: vgl. z.B. WK IX/9 (Ansprache Dollmanns vor katholischen Heerespfarrern) und WK IX/137 (Erlasse Dollmanns vom 8.1. 36 und 28.1. 36 und Befehl vom 8. 2. 35). Wenn O'Neill, S. 82, schreibt, die Befehlshaber hätten keine Möglichkeit zu negativer Einwirkung gegenüber der Indoktrination gehabt, so stimmt das wohl. Indessen zeigt die Variationsbreite zwischen Weichs und Dollmann doch den Spielraum auf, der ihnen noch blieb. -1Vgl. z. B.: MGFA/DZ WK XIII/16, „Besprechungspunkte", Nr. 2309 geh. vom 19.12. 36. 243 In dieser Hinsicht stimmte er ganz mit Fritsch überein: er befürwortete in einer Besprechung (MGFA/DZ WK VII/1343, 7. Division Ia Nr. 3312/35 GKdos vom 4.12. 35) eine „einheitliche Staatsauffassung" als notwendig: „daher Bekenntnis zum Deutschland Adolf Hitlers und zum Nationalsozialismus" (Hervorhebung vom Verf.). Das entsprach völlig der Haltung, die auch der ObdH einnahm. Vgl. auch WK XIII/1382, Generalkommando VII. Armeekorps, Nr. 6416/37 vom 30. 6. 37: Reichenau über nationalpolitische Erziehung bei der Truppe. Ein Unterschied zwischen Fritsch und Reichenau in der Zeit, als letzterer Kommandierender General in München war, ist in dieser Hinsicht vielleicht in der Haltung zu Kirche und Religion festzustellen. Reichenau scheint hier einen sehr kühl-distanzierten Standpunkt eingenommen zu haben: vgl. seinen Briefwechsel von 1936 mit dem Gauleiter über die Teilnahme von Truppen bei der Fronleichnamsprozession (MGFA/DZ WK VII/622). 244 MGFA/DZ WK VII/1343, Besprechung am 25.11.35 (7. Division V/Ia Nr. 3265/35 vom 241

27.11.35). ::i

IV. Zeit der

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Spannungen und Illusionen

machen... Wir sind Nationalsozialisten auch ohne Parteibuch" und zwar „die und ernstesten." „Revolutionärer Geist" wie ihn einige „Reformatoren besten, aus Hitlerjugend und SA" in die Truppe zu bringen versuchten245, habe im Heer nichts zu suchen. Reichenau bezeichnete die Wehrmacht sogar als „die einzige, letzte größte Hoffnung des Führers"246. Anschwärzungen von Seiten einiger wehrübender und wehrpflichtiger Parteigenossen und deren Tendenz, „nach Mängeln in der Wehrmacht auf dem Gebiete nationalsozialistischer Einstellung zu suchen"247, begegnete er im Gegenstoß mit der Feststellung „Bespitzelung ist ein Zeichen von Falschheit... Nicht derjenige ist der echteste Nationalsozialist, der nur in den äußeren Formen dieser Weltanschauung aufgeht"248. Im übrigen vertrat er wiederholt den Standpunkt, die in das Heer eintretenden Nationalsozialisten müßten erst einmal zu Soldaten gemacht werden249, eine Auffassung, die nicht gerade mit der These der Reichswehrführung übereinstimmte, daß Nationalsozialismus und Armee aus dem gleichen soldatischen Geist heraus lebten, daß Nationalsozialismus nur die politische Inkarnation des Frontkämpfergeistes sei250. Angesichts dieses Befundes wird man es nur bedauern können, daß die persönliche Kluft zwischen Fritsch und Reichenau so unüberbrückbar war, daß es nicht zu einem politischen Zusammenspiel kam. Der politisch versierte und dynamische Reichenau hätte dem politisch naiven, unbeweglichen ObdH eine gute Ergänzung sein können. Ebenfalls hätte der Reichenau der Jahre 1935-37 gewiß als Chef des Wehrmachtamtes klüger und energischer agiert als Keitel251. Die breite Skala der Verhaltensweisen in den Reihen der Heeresgeneralität, wie sie von sten zu

treuesten

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245

Ebd. MGFA/DZ WK VII/1343,

Besprechung am 2.12.35 (7. Division Ia Nr. 3312/35 vom 4.12. 35). 247 MGFA/DZ WK VII/1343, GenKdo VII. AK Nr. 6411 vom 2. 7. 37. 248 Ebda. 249 WK VII/1343, Besprechung vom 2. 12. 34 (7. Division Ia Nr. 3312/35 vom 4.12. 35). Am 28.9. 35 (vgl. MGFA/DZ WK VII/1343, Besprechung mit den Kommandeuren) erklärte er: „Wer an unserem Eid zweifelt, muß die Folgen tragen. Gutes Verhältnis zwischen SA usw. und Heer; aber nichts vergeben." Vgl. auch Besprechung vom 25. 11. 35 (ebd., 7. Division, V/Ia Nr. 3265/35 GKdos vom 27.11.35), wo für SA-Führer eine Ausnahmeregelung bei der Übernahme in das Reserve-Offizierkorps abgelehnt wird. 259 Vgl. Kap. II dieser Arbeit. 251 Reichenaus Mitarbeiter Röhricht, S. 82, berichtet, daß Reichenau schon Ende 1934 in Parteikreisen und in der Umgebung Hitlers zunehmenden Schwierigkeiten begegnete, man habe schon damals versucht, ihn aus Hitlers engerem Verkehrskreis zu verdrängen. Er habe um die zuvor selbstverständliche Position kämpfen müssen und sei dabei nicht immer der Gefahr entgangen, mehr für seine eigenen Belange zu arbeiten als für die Sache des Heeres, was seinen Rückhalt im Offizierkorps bald gefährdete. Auch Lüttwitz, ab 1938 Adjutant bei Reichenau im Gruppenkommando in Leipzig, berichtet (fol. 98 ff.), Reichenau habe ihm oft zugestimmt bei seinen Lüttwitz' Bemerkungen über Symptome, die den alten Leitbildern entgegenstanden. Reichenau „honorierte ausschließlich den Führer, seine Umgebung hielt er, ähnlich wie Hammerstein, zwar nicht für Verbrecher, aber doch für minderwertige Existenzen". Himmler, Heydrich und Daluege habe Reichenau wie subalterne Figuren behandelt. „Er vergab sidi nichts, lief keinem nach.. ." Vgl. aber auch ebd. fol. 107, ein Beispiel für „seinen schon damals (1939) geringen Einfluß auf Hitler, aber auch seine Abhängigkeit von ihm." 249

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IV. Zeit der

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195

der konservativ-restriktiven Tendenz des Freiherrn v. Weichs über die bei Reichenau festzustellende Mischung von positiver Einstellung und selbstbewußt-aggressiver Defensive bis zu Dollmanns nationalsozialistischer Phraseologie hin sich darbietet, muß wohl als Indiz dafür genommen werden, daß Fritschs Versuch der „Mittlerschaft zwischen Altem und Neuem" zum Scheitern verurteilt war, weil er ganz und gar nicht zu verhindern vermochte, daß sich das Heer auffassungsmäßig wie gezeigt auseinanderfächerte und damit, statt geistig für die Konfrontation mit dem totalitären Phänomen gerüstet zu werden, vielmehr innerlich geschwächt wurde. Das Konzept einer Art Mittlerschaft zwischen Alt und Neu erlaubte einerseits zwar den Rückgriff auf konservativ-traditionalistische Vorstellungen; aber das führte irgendwann zu einer Art Ghetto-Effekt, da sich die Umwelt, auch die militärische, wandelte; andererseits förderte es auch die Anpassungsneigung der bereits mit dem Nationalsozialismus Sympathisierenden und schwächte das kritisdie Unterscheidungsvermögen der UnpolitischGleichgültigen; denn der Harmonisierungsversuch von „Alt und Neu", unternommen mit hoher militärischer Autorität, erfolgte mit Formulierungen und Begriffen, die gerade dem unpolitischen Militär adäquat und damit besonders eingängig waren. Um Fritsch gerecht zu werden, muß man betonen, daß er als Untergebener des Ministers und Oberbefehlshabers der Wehrmacht dessen Kurs nicht geradewegs entgegenhandeln konnte. Hoßbach schreibt dazu: „Blomberg schlug einen Kurs ein der dem Empfinden der Generale jedenfalls in der Mehrheit entgegen war. Der Oberbefehlshaber des Heeres und die übrigen Generale konnten den Blombergschen Kurs wohl beeinflussen, abschwächen, aber ihn nicht vollends ins Gegenteil kehren252." Das ist gewiß in hohem Maße zutreffend. Es erhebt sich aber die Frage, ob sie ihn überhaupt ins Gegenteil „kehren" wollten. Das wäre doch wohl eine vollständige Ignorierung, wenn nicht gar Negierung des Nationalsozialismus gewesen. Das aber wollte keiner, auch Fritsch nicht. Dagegen spricht das auf Integration und Ausgleich abgestellte Streben nach Mittlerschaft, dagegen sprechen seine eigenen Auslassungen. Man wird Blombergs übergeordnete Stellung als Oberbefehlshaber und damit die Relativierung des ObdH zu berücksichtigen haben; man wird jedoch die mit der Auffassung des Reichskriegsministers übereinstimmenden Elemente des Konzeptes des Generals v. Fritsch, dessen Grenzen und Konsequenzen ebenfalls nicht außer acht lassen dürfen. Von einem prinzipiellen253, nur durch das Untergebenenverhältnis an seinen Auswirkungen gehinderten Antagonismus kann keine Rede sein. In einem für die Armee nur auf den ersten Blick nebensächlichen Bereich wurde die Geschlossenheit des Offizierkorps im Verlaufe der Konfrontation mit dem Nationalsozialismus ebenfalls berührt, ohne daß die Bemühungen des ObdH etwas daran ändern konnten. Die Wellen der Auseinandersetzung zwischen dem Nationalsozialismus und den christ-

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.

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252

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Hoßbach,

S. 176. So spricht auch Fritschs und der Partei „Bestreben 233

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Kamerad, Joachim v. Stülpnagel, S. 350, daß Blombergs auf einen gewissen Widerstand... bei. Fritsch" gestoßen sei (Hervorhebung vom Verf.). Allerdings wird Stülpnagel wohl auch recht haben, daß bei Luftwaffe und Marine nicht einmal von einem „gewissen" Widerstand die Rede sein konnte. vertrauter

...

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IV. Zeit der

196

Spannungen und Illusionen

liehen Kirchen254 begannen in jenen Jahren auch über die Deiche zu schlagen, hinter denen die Armee ihr Eigenleben zu bewahren suchte. Gerade das Kirchenproblem beeindruckte die Armee nachhaltiger als manche anderen Vorgänge im öffentlichen Bereich. Die Indizien für den Ausbau des totalitären Herrschaftssystems waren für die Masse des Offizierkorps schwerer zu erkennen und noch schwerer zu verstehen; das praktische Verhalten des Nationalsozialismus gegenüber den christlichen Kirchen dagegen war offenkundig, erregte daher mehr Ärgernis und Empörung255; nicht zuletzt war der Widerhall des Kirchenkampfes im Offizierkorps deshalb so stark, weil man wohl instinktiv spürte, daß hier indirekt die Grundlagen der traditionellen Ideenwelt der Armee berührt wurden. Wehrmachtsführung und Heeresleitung beobachteten die Entwicklung mit großer Sorge. Wie konnte sie die im Laufe der jüngsten historisch-politischen Entwicklung schon so vielfältig bedrohte und beeinträchtigte ideelle Basis des Offizierkorps bewahren, wenn prominente Parteivertreter die Unvereinbarkeit von christlichem und nationalsozialistischem Gedankengut behaupteten256? Für sie warf die mehr und mehr intensivierte Feindseligkeit des Nationalsozialismus gegenüber der christlichen Religion und den Kirchen zwei Probleme auf: erstens galt es, die Geschlossenheit von Offizierkorps und Truppe zu bewahren und daher die Auswirkungen des Kirchenkampfes von der Armee fernzuhalten oder doch wenigstens einzudämmen; und zweitens mußte die Militärseelsorge257, welche in diese Auseinandersetzung hineingezogen und dadurch gefährdet zu werden drohte, abgeschirmt werden. Beide Probleme waren im übrigen schwer voneinander zu trennen. In diesem Sinne haben Blomberg und Fritsch sich bemüht, wenigstens innerhalb ihres Befehlsund Verantwortungsbereiches die Militärseelsorge sicherzustellen und zu stärken sowie darüber hinaus die christlichen Werte und die Verbundenheit der Wehrmacht mit den christlichen Kirchen als wesentlichen ideellen Gehalt traditionellen Soldatentums im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu bewahren. Der Minister, der mehrfach bei Hitler, beim Reichsinnenminister und beim Kirchenminister vorstellig wurde, und der ObdH stimmten in ihrer Ansicht zu diesen Problemen im großen und ganzen überein258: Sicherung der Militärseelsorge und Heraushalten der Armee aus dem Kirchenstreit. Typisch für dieses doppelte Bemühen ist Blombergs Stellungnahme vom 1. September 1934259. Er verwarf

Vgl. hierzu Friedrich Zipfel, Kirchenkampf in Deutschland 1933-1945, Religionsverfolgung Selbstbehauptung der Kirchen in der nationalsozialistischen Zeit, mit einer Einleitung von Hans Herzfeld, Berlin 1965 Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim 254

und

=

Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Bd 11, sowie Guenter Lewy, Die Katholische Kirche und das Dritte Reich, München 1965.

Foertsch,

S. 37 (im Gegensatz zu Choltitz, S. 37). Hierzu Belege bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 277 f. 237 Hierzu vgl. Albrecht Schübel, 300 Jahre evangelische Militärseelsorge, München 1964, und Manfred Messerschmidt, Aspekte der Militärseelsorgepolitik in nationalsozialistischer Zeit, in: Militärgcschichtliche Mitteilungen, Bd 1/1968, S. 63-105. 258 Vgl. Hoßbach, S. 53, und Hoßbach, Oberbefehl, S. 46 und 60; auch Westphal, S. 21, und Demeter, S. 200. 259 Blombergs Sdireiben an Innenminister Frick vom 1.9.34, in dem der Kriegsminister sich gegen die durch die sogenannte antikirchliche und antichristliche „Deutsche Glaubensbewegung" 255 256

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darin die „Erörterung religiöser Streitfragen", da dies eine „Gefahr für ihre (d. h. der Armee) Disziplin und Schlagkraft" sei. Gleichzeitig erklärte er Kirchenaustritte für unerwünscht und Teilnahme an den sonntäglichen Militärgottesdiensten für erwünscht260. Fritsch wirkte in dem gleichen Sinne auf seine Befehlshaber ein: „Kirchgang befehlen, Offizierkorps muß [daran] teilnehmen; [aus den] Streitigkeiten in [der] Kirche absolut heraushalten. Austreten aus [der] Kirche [ist] verboten261." Mit dieser Art und Weise der Behandlung des Problems geriet die oberste militärische Führung jedoch sehr rasch von zwei Seiten unter Feuer. Einerseits verstärkte sich der Druck262 von nationalsozialistischer Seite gegen die militärkirchliche Praxis. Unter Berufung auf die Überparteilichkeit und Überkonfessionalität versuchte man, auf ihre Beschränkung zu drängen. Gleichzeitig wurde die Propaganda für Kirchenaustritte intensiviert. Obendrein schwang in den gegenüber der Armee erhobenen Vorwürfen mangelnder nationalsozialistischer Geisteshaltung auch die Unterstellung pro-kirchlicher Parteinahme mit268. In diesem Zusammenhang forderte man die Entlassung von Wehrmachtspfarrern264, die der Bekenntniskirche angehörten oder nahestanden. Auf der andern Seite ließ sich die Armee gar nicht vom Kirchenkampf absperren; nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht weniger denn je. Aus kirchlichen Kreisen und aus der durch die zunehmend kirchenfeindlichen Maßnahmen des Regimes beunruhigten Bevölkerung wurden Bitten um Rat und Hilfe an militärische Dienststellen und Persönlichkeiten265 gerichtet. Die religionspolitische Situation bewegte zudem die nicht geringe Zahl kirchlich gebundener Offiziere in starkem Maße. In einigen Garnisonen wurden sogar Aussprachezirkel

angestoßene Erörterung

von Glaubensfragen wendet und Kirchenaustritte von Soldaten für unerwünscht erklärt. MGFA/DZ WK VII/2306. Wichtige politische Verfügungen (fortan WPV

abgekürzt), S. 29.

Ebd. S. 28, Erlaß vom 29. 5. 35, Nr. 2751/35 I-Ib. Zit. nach Foertsch, S. 58 (Befehlshaberbesprechung vom 25.7.34); ebd. S. 59: ähnlidie Bemerkungen auf einer Besprechung in der zweiten Hälfte des Jahres 1934. 262 Vgl. MGFA/DZ W 01-5/108 sowie vor allem Schübel, S. 71 ff., 82 ff., 87 ff. 263 Ein Gestapo-Bericht vom 7.1. 35 weist auf „eine stark gegensätzliche Einstellung in Kirchenfragen" zwischen Reichswehr und „Bewegung" hin: vgl. Bernhard Vollmer, Volksopposition im Polizeistaat. Gestapo- und Regierungsberichte 1934-1936, Stuttgart 1957, S. 139. 264 Schübel, S. 73. Vgl. auch MGFA/DZ W 01-5/111 (Zwischenfall Groppe/Gleiwitz) und WK VII/622 (Reichswehr und Fronleichnams-Prozession), WK VII/1652 (Verhaftung von Fratres 289

161

Standortlazarett). Vgl. Halders Bericht vom 22. 12. 34 (Dok.-Anh. Nr. 14), wo es heißt: „Eine an mich ergangene Anfrage über vorbereitende Schutzmaßnahmen für bedrohte Kirchenführer habe ich mit dem Hinweis darauf beantwortet, daß dies abgesehen vom militärischen Ausnahmezustand außerhalb des Aufgabenkreises des Heeres liegt, und geraten, sich an den Herrn Reichsstatthalter zu wenden. Ob von dieser Seite aus vorbeugende Maßnahmen getroffen werden, entzieht sich meiner Kenntnis Die[se] Vorbereitung gewaltsamer Eingriffe in den Kirchenkonflikt ist nach den mir aus München und Augsburg gewordenen Meldungen in weiteren Kreisen bekannt und erregt erhebliche Aufregung. Man sucht nach Wegen, den Führer und Kanzler über die Vorhaben, die er sicherlich nicht billigen würde, zu verständigen, und nach Mitteln, die Bedrohten zu beschützen. So kommen die Dinge an die Standortältesten, auf die man letzte Hoffnung setzt." aus 265

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198

Spannungen und Illusionen

den Offizieren gebildet266. Auch kamen die kirchenpolitischen Spannungen durch einen Teil der nebenamtlich die Garnisonen betreuenden Zivilpfarrer direkt ins Bewußtsein der Truppe. Demgegenüber reagierten Blomberg und Fritsch mit immer nachdrücklicheren Mahnungen, sich unbedingt aus dem Kirchenkampf herauszuhalten. Sie ließen sich dabei einerseits gewiß von der Sorge um die innere Geschlossenheit der Armee leiten. Dies war wohl vor allem bei dem Oberbefehlshaber des Heeres das vorherrschende Motiv. Anderseits wollten die Verantwortlichen militärischen Führer und hier ist vor allem Blomberg zu nennen aus Furcht vor einer ideologischen Kompromittierung gegenüber der Partei eine strikte Neutralität in den bewegenden kirchenpolitischen Auseinandersetzungen ihrer Gegenwart beachten. Der Minister wurde sogar recht massiv: er bekomme so sagte er den Befehlshabern im Januar 1935 auch Bericht über die Mühe würde besser auf militärische Dinge verwandt. Daß um weltKirchenfrage. Diese anschauliche Dinge gekämpft werde, sei wertvoll und ein Zeichen von Interesse. „Aber wir haben uns nicht hineinzumischen267." Derartige Anordnungen kehrten in den folgenden Jahren immer wieder268. Noch Ende Januar 1938 betonte Blomberg, die Wehrmacht müsse dem Kirchenstreit fernbleiben269. Aber gerade die Eindringlichkeit und die Häufigkeit der Ermahnungen und Interventionen zeigen die Problematik dieser Neutralitätspolitik: sie hatte ganz offensichtlich keinen durchschlagenden Erfolg weder intern noch nach außen hin. Sie führte im Gegenteil die Wehrmachtführung sehr rasch zu einer völligen Abkehr von der bisherigen traditionell kirchlich-konfessionell orientierten kirchenpolitischen Praxis innerhalb der Armee zugunsten „weltanschaulicher Liberalität", die nicht Ausdruck eines lebenskräftigen freiheitlichen Geistes war, sondern vielmehr für

religiöse Fragen

unter

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Symptom einer problematischen Anpassungstendenz. Diese Tendenz zeigte sich dann auch in der Frage der Militär-Seelsorge. Blomberg und Fritsch letzterer mit charakteristischen Nuancen suchten nach Mitteln und Wegen, sie unbedingt zu gewährleisten. Dabei waren ihre einschlägigen Anordnungen von dem Bemühen gekennzeichnet, sowohl der Partei die Möglichkeit und Gelegenheit zu ideologisch motivierten Beanstandungen zu nehmen als auch der Entstehung interner Spannungen -

-

innerhalb der Streitkräfte vorzubeugen. Um die Gewährleistung der Gewissensfreiheit in der Armee zu demonstrieren270, konzedierte der Minister in einem Erlaß vom 29. Mai 288

MGFA/DZ W 01-5/112, Reichswehrministerium, In 1/V vom 3. 1. 38 Bericht Major (E) an Inspekteur der Kriegsschulen. 267 MGFA/DZ WK VII, 1343 Akt 13 m (Befehlshaber-Besprechung vom 12.1.35). Vgl. Liebmann-Notizen vom 15. 1. 35. Vgl. dazu auch Keitel, S. 77. 268 MGFA/DZ WK VII/1529 und WK VII/1343. 269 MGFA/DZ WK VII/1529 (Ansprache Blombergs Ende Januar zum Abschluß des Nationalpolitischen Lehrganges der Wehrmacht). Der Satz des Ministers: „Der nationalsozialistische Staat muß sich mit der Kirche auseinandersetzen, da beide sich in den wichtigsten staatspolitischen Fragen gegenüberstehen" scheint anzudeuten, daß Blomberg sich über die Tragweite des Konfliktes klar war. 270 Dazu diente auch die Anordnung, daß Heerespfarrer keinen Druck auf nichtgläubige Soldaten ausüben durften. MGFA/DZ WK VII/2306, Reichskriegsminister Nr. 6670/35 vom 3. 12. 35 (WPV S. 71) sowie der Fortfall von Vergünstigungen, die bisher zu religiösen Exerzitien bereiten Soldaten gewährt wurden (WPV S. 29, ObdW Nr. 3680/35 vom 9. 7. 35). Dr. Hesse

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

199

1935271, daß die Teilnahme an Militärgottesdiensten zwar erwünscht sei, aber nicht dienstlich befohlen werden dürfe. Der ObdH interpretierte dies einige Monate später mit den ausreichend Möglichkeiten, die SoldaWorten: „Dieser Hinweis gibt den Vorgesetzten ten, soweit nicht religiöse Gründe gegen die Teilnahme an konfessionellem Gottesdienst sprechen, zum Besuch des Militärgottesdienstes anzuhalten." Der taktische Charakter des Blomberg-Erlasses272 ist offenkundig, zumal der Minister auch trotz der grundsätzlichen Bestimmung, religiöse Veranstaltungen und Staatsakte zu trennen, in seinen praktischen Anordnungen über die Teilnahme militärischer Repräsentanten und Einheiten an kirchlichen Zeremonien noch relativ großzügig war273. Des weiteren verfügte Blomberg ebenfalls zur Betonung der Glaubens- und Gewissensfreiheit, daß als Voraussetzung für die Einstellung von Offiziersbewerbern der Nachweis der Zugehörigkeit zu einer Konfession nicht mehr wie bisher erforderlich sei274. Eine bereits im gegenteiligen Sinne ergangene Anordnung mußte anscheinend wieder zurückgezogen werden275. Demnach ist die fortan geltende Regelung auch von Blombergs Seite wohl eine unvermeidliche Konzession gewesen. Fritsch versuchte daraufhin, Kirchenaustritte von Offizieren, die anscheinend vorgekommen waren, dadurch zu erschweren, daß er dekretierte: „Der vom Führer in seinem Wortlaut276 festgesetzte Fahneneid wird bei Gott geschworen. Diese heilige Verpflichtung zu Gott hat nur dann einen Sinn, wenn der Soldat Gottesglauben besitzt... Mir ist deshalb nach erfolgtem Kirchenaustritt eines Offiziers zu melden, ob der Fahneneid für ihn noch als heilige Verpflichtung gilt. Ein Offizier, der diese Frage nicht bejahen kann, muß aus dem aktiven Wehrdienst ausscheiden277." Als der Druck auf die Militärseelsorge nicht nachließ, faßten Blomberg und Fritsch deren grundsätzliche Neuordnung ins Auge278. Im ...

Ebd. (WPV S. 28) Reichskriegsminister, Nr. 2751/35 I-Ib-. MGFA/DZ WK VII/2386 (ObdH Nr. 2630/35 g. Allg. H IVa vom 3. 12. 35). In diesem Erlaß betonte Fritsch nochmals, daß die Teilnahme an militärischen Gottesdiensten „erwünscht" sei, und regte an, bei feierlichen Anlässen „gemeinsame", d. h. wohl simultane, Feldgottesdienste abzuhalten. 273 Vgl. Nr. 4 seines Erlasses vom 29. 5. 35 : „Militärische Feiern mit religiöser Weihe... und durch Militärseelsorger abgehaltene Kasernenabendstunden sind Dienst." (WPV S. 28.) 274 MGFA/DZ W 01-5/156, Notiz über eine Besprechung im Reichswehrministerium vom 9. 2. 35, 271

272

Az I Ib 229/35.

Vgl. Fritschs Ausführungen

den Befehlshabern am 12.1.35 (Liebmann-Notizen vom einer christlichen Konfession sein. Ist mündlich vom Minister gesagt. Schriftlicher] Befehl ist ergangen, aber wieder aufgehoben. Es kann einer ,Dissident' sein." Stellungnahme der Feldbischöfe dazu in H 24/6, fol. 109. 276 Was bekanntlich nicht zutraf, vgl. Kap. III dieser Arbeit. 277 MGFA/DZ WK XIII/863, ObdH Nr. 6427/35 PA (2) vom 6.12. 35. Rund einen Monat später wurde auf einer Ic-Besprechung im Reichswehrministerium erklärt, daß „die Worte ,bei Gott' keinerlei Bindung an ein bestimmtes Bekenntnis" voraussetzten. (MGFA/ [in der Eidesformel] DZ W 01-5/156, Ic-Besprechung vom 27. 1. 36). 278 Nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 281, hat Fritsch geplant, eine katholische und eine evangelische Wehrmacht-Kirche zu errichten, deren Bischöfe Vollmitglied des jeweiligen deutschen Episkopates sein sollten. Das war gewiß primär in der Absicht einer Stärkung der Militärseelsorge gedacht, aber m. E. (im Gegensatz zu Krausnick) hätte das zugleich auch eine Stärkung der Kirchen selbst bedeutet. 275

vor

15.1.35): „Jeder Soldat muß Mitglied

...

...

-

IV. Zeit der

200

Spannungen und Illusionen

Frühjahr 1937 gab der Reichskriegsminister einen neuen Erlaß heraus, der die einheitliche Militärseelsorge regelte und sie in ihrer Substanz sichern sollte279. Lediglich in weniger wichtigen Punkten enthielt dieser Erlaß gewisse Einschränkungen280. Wichtigster Teil war die Einrichtung von Standortseelsorgebezirken mit ausschließlich hauptamtlichen Militärpfarrern281, so daß sich erstens militärische und militärseelsorgliche Standortbezirke deckten und zweitens auf örtliche Vertragspfarrer verzichtet werden konnte, durch die häufig der Widerhall des Kirchenkonfliktes im Bereich der Armee verstärkt wurde282. Auf diese Weise konnte die Militärseelsorge bis in den Krieg hinein in ihrem institutionellen Kern trotz aller Schwierigkeiten bewahrt werden283, allerdings um den Preis der beständigen Gefahr einer Abschnürung von der für die Militärkirche lebensnotwendigen Verbindung mit der jeweiligen „Mutterkirche" und deren geistlichen Leben. Dagegen gelang es gar nicht, die Armee von den kirchenpolitischen und religiösen Auseinandersetzungen jener Jahre284 abzukapseln285. Das war von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen. Reaktionen im Offizierkorps, auch Kritik an dem vorsichtigen Lavieren der Führung machten sich bemerkbar. Ein Bericht über die „weltanschauliche Entwicklung im Offizierkorps" vom Januar 1939 schildert die damalige Situation286: „Die unter dem 25. Juni 1937 er-

Beleg WK VII/2306 als Datum „April", was in dem von ihm heranErgänzungsblatt-Datierung für einen Teil des alten Erlasses ist; die gezogenen Beleg lediglich Deckblatt-Datierung zur Gesamtergänzung lautet vom Juli 1937. Demnach ist Schübel, S. 73, mit der zudem präziseren Datierung des Erlasses vom 25. 5. 37 der Vorzug zu geben. 289 Es fiel die Anordnung, daß eine Teilnahme von Soldaten an Wehrmachtsgottesdiensten „erwünscht" sei; religiöse Kasernenabendstunden wurden nicht mehr als Dienst angesehen, bei Ergänzungstruppenteilen fielen diese sogar ganz fort (WK VII/2306, WPV S. 28, Deckblatt vom Juli 1937, eingefügt am 25. 9. 37). 281 Am 14.2.36 hatte Blomberg bereits angeordnet, daß „die seelsorgerische Betreuung" der Wehrmachtsangehörigen „allein Sache der zuständigen Standortpfarrer" sei (ebd. Erlaß ObdW 279

O'Neill,

S. 74,

nennt

mit

die

Nr. 981/36 I Ic, WPV S. 71, Ergänzung für S. 29). 282 Blomberg verbot daher auch die Sammlung von Unterschriften zu einer „Stellungnahme in der Frage des evangelischen Kirchenstreites" ebd. WPV S. 72 zu S. 29, ObdW Nr. 1361/36 vom 3. 3.36. 283 Xjber die weitere Entwicklung vgl. Schübel, S. 83 ff. Demnach hat auch Fritschs Nachfolger Brauchitsch sich energisch für die Militärseelsorge eingesetzt und sie gefördert. Vgl. seinen Erlaß vom 3. 5. 38 (ebd.) und seine Initiative zur Herausgabe einer Publikation über die „Bedeutung der Militärseelsorge für den Aufbau des preußisch-deutschen Heeres", die bezeichnenderweise alsbald wieder aus dem Buchhandel gezogen werden mußte. Vgl. audi OKW (III) 29, darin Denkschrift vom 23. 9. 40 zur Heeresseelsorge und verschiedene Stellungnahmen. 284 Vgl. dazu eine Vortragsnotiz der Abt. Inland im Reichswehrministerium vom 20.1. 37, die von dem „Eindruck einer Verschärfung der Haltung der SS in Kirchenfragen" in den Wehrkreisen berichtet; MGFA/DZ W 01-5/112. 285 Schübel, S. 79, berichtet von einem Referat anläßlich einer Standortpfarrertagung vom 21.10. 35 über das Thema „Gefahren für die christliche Heeresseelsorge und der Raum, der ihr bleibt", in dem u. a. ausgeführt wurde, daß eine Neutralität im Kirchenstreit weder für die Gemeinde noch für den Pfarrer erwünscht sei. Ein Fernhalten der kirchlich-weltanschaulichen Auseinandersetzungen scheiterte an der Tatsache, „daß diese Fragen die Truppe bewegen und an der des Pfarrers, ein Bekenntnis abzulegen". Verpflichtung 286 MGFA/DZ W 01-5/112, Bericht von Major (E) Dr. Hesse an den Inspekteur der Kriegsschulen, In 1/V vom 3.1. 38.

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Spannungen und Illusionen

201

lassene Verordnung des Reichskriegsministers über religiöse Anschauungen wird zwar insofern befolgt, daß Auseinandersetzungen über religiöse Fragen nach Möglichkeit vermieden werden. Andererseits aber ist erkennbar, daß es sich zweifellos um eine Bewegung handelt, die vor allem den jungen Offizier immer wieder zur Aussprache drängt. Es haben sich an einigen Stellen Kreise gebildet, die in ernsthafter Weise um Klärung bemüht sind und vor allem um Festigung in christlicher Anschauung. Es ist mir viele Male zum Ausdruck gebracht worden, daß man eine Führung im christlichen Sinn seitens der obersten Stellen der Wehrmacht vermißt, und daß sich daraus Konflikte gerade für den besten Teil des Offizierkorps ergeben." Das spiegeln auch zahlreiche andere Quellen und Berichte wider287. Die Kirchenfrage hat, daran gibt es keinen Zweifel, das Offizierkorps gespalten. Kirchlich gebundene, christlidi eingestellte Kommandeure neigten dazu, die entsprechenden Erlasse des Ministeriums möglichst extensiv im positiven Sinne für die Seelsorge und für die christliche Fundierung der Armee auszulegen288. Das zeigen schon die in der Folgezeit des öfteren erlassenen Hinweise des Reichswehrministers, in denen „Umgehungen" des Verbotes einer Kommandierung zum Kirchgang sowie eine allzu extensive Auslegung der die Tätigkeit der Wehrmachtspfarrer regelnden Anordnungen gerügt wurden289. Selbst auf einem nationalpolitischen Lehrgang im Jahre 1937, auf dem u. a. Himmler, Heß, Goebbels, Rosenberg und Frick sprachen, hat ein Heeresoffizier in seinem Vortrag dargelegt, Soldatentum und Religion seien eng miteinander verbunden. Daher seien die Kriegsschulen „dazu bestimmt. junge Offiziere zu erziehen und die Einheit einer sittlich-ethischen Grundauffassung zu wahren ..." Sie fänden dazu „in der christlichen Moral die Werte, die diese Einheit garantieren"200. Demonstrative Bekundungen von Glaubens- und Kirchentreue, wie Teilnahme an Prozessionen und anderen kirchlichen Feiern in Uniform, erfolgten von nicht wenigen Offizieren und Soldaten291. Daß unter anderem gerade der Kirchenkonflikt manchem Offizier die Augen über das wahre Gesicht des Regimes geöffnet hat, wird mehrfach .

.

Schübel, S. 77: unterschiedliche Handhabung der Kirchgang-Erlasse des Ministers in den einzelnen Garnisonen je nach Einstellung der Kommandeure. 288 Vgl. z. B. MGFA/DZ WK XII/203, Generalkommando XII. AK Nr. 154/37 Abt. Ic vom 22. 2. 37, wo der Kommandierende General unter Hinweis auf Blombergs Toleranz- und AntiDiskussionserlaß vom 1. 9. 34 die publizistische Aktivität der christentumsfeindlichen „Deutschen Glaubensbewegung" verbietet, da deren Schriften „die christliche Religion verächtlich machen". 289 MGFA/DZ W 01-5/156. 290 MGFA/DZ A 35/30, Vortrag Major Streil über „Methoden des nationalpolitischen Unterrichts an den Kriegsschulen", S. 28-29; darin S. 27-28 auch Andeutungen über ideologische Auseinandersetzungen von Seiten der Fahnenjunker der Kriegsschule München. Zum Programm dieses Lehrgangs vgl. H 35/30, Texte der anderen Vorträge in OKW 1619a. 291 Vgl. dazu Groppe, S. 2 ff., sowie u. a. Leeb-Aussage, Internationales Militärtribunal, Fall XII, Protokoll S. 2253 f.: General Ritter v. Leeb lehnte demonstrativ eine Einladung zu einem Rosenberg-Vortrag ab; Leeb galt in der Partei als der „Pfaffen-General" (MGFA/DZ III H (A) 65 Materialien zur Lebensgeschichte von Wilhelm Ritter v. Leeb); weiterhinGörings Vorwurf über die „kirchliche Einstellung des Heeres" (Westphal. S. 21). Vgl. auch außerdem Ger van Roon, Oberst Staehle und seine Kontakte mit dem holländischen Widerstand, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 14 (1966), S. 21, sowie Schübel, S. 76, und Rothfels, S. 73. 287

=

IV. Zeit der

202

Spannungen und Illusionen

bezeugt292. In Einzelfällen kam es sogar zu sehr massivem Vorgehen gegen anti-kirchliche offenen Parteinahme im Kirchenkonflikt. Ein Kommandeur befahl beispielsweise, er wünsche nicht noch einmal durch den Standortpfarrer eine Mitteilung zu erhalten, ein Angehöriger einer Einheit sei aus der Kirche ausgetreten, ohne vor dem Kirchenaustritt seinem Vorgesetzten von seiner Absicht Meldung zu erstatten. Diese Handlungsweise zeuge von Mangel an militärischem Empfinden oder von einem schlechten Gewissen. „In Zukunft sind Verstöße gegen diesen Befehl zu bestrafen. Wenn auch Kirchenaustritte nicht verboten sind, bedeuten sie stets eine Gefahr für die Disziplin. Sie sind daher vom Standpunkt des Soldaten aus zu verwerfen Die neuen ,Religionen' sind von der sogenannten Intelligenz erfunden. Sie kommen nicht aus dem Volke. Sie entsprechen nicht dem Volksgefühl293." Dagegen neigten Kommandeure, die indifferent oder unchristlich, wenn nicht gar antikirchlich eingestellt waren, dazu, die Weisungen restriktiver oder doch im Sinne einer bis zur Indifferenz gehenden Neutralität zu interpretieren. Auch soll es vorgekommen sein, daß streng kirchlich eingestellte Offiziere belächelt, wenn nicht sogar verleumdet wurden294. Auch sind Anordnungen bekannt, die von starker nationalsozialistischer Indoktrinierung zeugten. Der Kommandierende General des IX. Armeekorps schrieb in einem Geheimerlaß vom 28. Januar 1936, es müsse „klar erkannt werden, daß die Partei politisch bewußt unduldsam ist (Totalitätsprinzip)...", und zog daraus die Folgerung, „Militärgeistliche müssen sich positiv zum nationalsozialistischen Staat bekennen"295. In dem Befehl eines anderen Kommandierenden Generals vom Dezember 1936 heißt es, daß Geistliche, die sich in den der allgemeinen religiösen Unterweisung dienenden Kasernenstunden „mit den Lehren des nationalsozialistischen in der Wehrmacht fehl am Platze" und „durch geeignetere Staates auseinandersetzen, Tendenzen oder

zur

...

...

zu

ersetzen" seien296.

Bei diesem Befund erhebt sich die Frage, ob die Führung der Wehrmacht wie des Heeres den richtigen Weg einschlugen, als sie in dem Bemühen, die Militärseelsorge zu gewährleisten und die Geschlossenheit des Offizierkorps zu bewahren, die Streitkräfte vom Kirchenkonflikt abzuschließen trachteten. Hätten nicht der christlich eingestellte Fritsch, vielleicht auch der gewiß nicht anti-christliche Blomberg, versuchen müssen, etwa im Bunde mit dem sehr betont kirchlich-christlichen, allerdings ganz und gar nicht kämpferischen ObdM, Admiral Raeder297, das Gewicht ihrer Persönlichkeiten und ihrer amtlichen Stel292 Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 280, Anm. 149: Oster und Ulbricht hatten einen wachen Sinn für kirchliche Probleme. KB, S. 434: kirchliche Bindungen der Verschwörer des 20. Juli 1944. 293 MGFA/DZ WK XII/203: Kommandeur des III. Batl./Inf.Reg. 118 vom 22.11. 37. 294 Vgl. Groppe, passim; Geyr v. Schweppenburg, Gebrochenes Schwert, S. 32 ff. Vgl. auch MGFA/DZ WK VII/1652: der Kommandeur des 62. (bayer.) Inf.Regt. beklagt sich, daß sein Regiment „von einer sehr hohen Parteistelle" gehässig das „Rosenkranz-Regiment" genannt

werde. MGFA/DZ WK IX/137: Gen.Kdo. IX. AK, Ic Nr. 471/36 geh. vom 28. 1. 36. 296 MGFA/DZ WK XIIVI6. 297 Über Raeders Haltung zur Frage der Militärseelsorge und des Kirchenkampfes vgl. Raeder, Bd II, S. 140 ff.; IMT XLI, S. 72 ff. Kritisch dazu Zipfel, S. 103 f., insbesondere Anm. 130, sowie 295

Baum, Marine, S. 19.

IV. Zeit der

Spannungen und Illusionen

203

lung grundsätzlich gegen die kirchenfeindliche und antichristliche Politik der NSDAP in die Waagschale zu werfen und bei der politischen Führung eine klare Entscheidung gegen die „Exponenten der moralischen Revolution" erzwingen müssen, etwa unter Hinweis auf die dadurch gefährdeten ideellen Grundlagen298 der Armee? Wird man ihnen den Vorwurf machen müssen, sie hätten über dem Bemühen, die Geschlossenheit der Armee und der Marine und die Sicherheit der christlichen Verkündigung im Räume der Wehrmacht zu gewährleisten, es versäumt, zur Verteidigung der geistigen Grundlagen der Armee sowie mit wachem Verantwortungsgefühl für das Ganze die antichristliche und antikirchliche Politik der Partei, eine spezifische Ausprägung des nationalsozialistischen Totalitarismus, prinzipiell bekämpfen müssen299? Hätten sie damit nicht vielleicht besser auch die innere Geschlossenheit der Armee bewahrt? Eine solche Betrachtungsweise läßt gewiß die Hypotheken der geistesgeschichtlichen Entwicklungen, die auf den Verantwortlichen lasteten, sowie die konkrete historische Situation der Zeit außer acht. Eine funktionalistische Auffassung von Wert und Sinn der Militärseelsorge300 sowie ein im deutschen konservativen Bürgertum wie im Offizierkorps seit langem erfolgter Substanzverlust christlicher Glaubenskraft301, deren Reste stark von Konventionen überlagert wurden, führten dazu, daß eine abschirmend-bewahrende Haltung gewählt wurde. Die führenden Männer an der Spitze der Streitkräfte lehnten aus ihrer Verwurzelung in der konservativ-kulturprotestantischen Ideenwelt302 heraus den kirchenfeindlichen Radikalismus gewiß ab; sie standen aber aus eben dieser geistigen Tradition heraus, die dem nationalen Obrigkeitsstaat engstens verbunden war, einem kompromißlos-kämpferischen Christentum, das die „libertas ecclesiae" gegenüber einem allmächtigen Staate verteidigte und für die exklusive Unbedingtheit der christlichen Botschaft eintrat, verständnislos gegenüber. Zweifellos kommt hier eine historisch bedingte Schwäche christlicher Lebens-, Berufsund Weltauffassung zum Vorschein, die sie mit dem deutschen Volk in hohem Maße teilten. So haben sie und viele ihrer Standesgenossen bei dem Kirchenkonflikt den vollen Ernst und die Tragweite dessen, was da vor sich ging und was dabei auf dem Spiele stand, nicht erkannt, mindestens aber erheblich unterschätzt. Dies hatte auch konkret-aktuelle Gründe. Einerseits fehlte es in der offiziellen Kirchenpolitik303 und auch in der parteiamtlichen antichristlichen Agitation nicht an mannigfachen Wendungen und Verschleierungen, gelegentlich sogar an taktisch motivierten Rückzügen. Andererseits vermochten zwar kirchlich gebundene, aber theologisch wenig gebildete Laien in den entschiedenen, kämpferischen Verteidigern der Freiheit der Kirche bisweilen auch nur extreme Dogmatiker und Nach Rothfels, S. 73, soll das „Wehrpsychologische Handbuch" der Wehrmacht die christliche Religion auch als Element der sittlichen Grundlagen des Soldatentums besonders betont haben. 299 So u. a. Baum, Marine, S. 19 f. (hinsichtlich Raeder). 300 Hierzu Messerschmidt, Militärseelsorgepolitik, S. 63 ff. Typisch dafür auch Raeder, Bd II, S. 136 (christlicher Glaube biete ein gutes Fundament für Staat und Wehrmacht). 301 Halder berichtet z. B., daß in seiner Leutnantszeit, also um 1904, ein junger Offizier, „der von sich aus die Kirche besuchte, der ernsthaft religiös war, schon auffiel". Bor, S. 17. 302 Dazu Schübel, S. 122 f. und 211. 303 Hierzu vgl. die Zitate und Belege bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 277, Anm. 139, sowie Hoß298

bach,

S. 53 f.

IV. Zeit der

204

Spannungen und Illusionen

verhärtete Klerikale304 zu erkennen. Gab es doch nicht nur in der von ihrer Struktur und theologischen Basis her zwiespältigen evangelischen Kirche, sondern auch im Raum der katholischen Kirche gewisse, auf einen Ausgleich durch weitgehendes Entgegenkommen bedachte Persönlichkeiten in hohen Stellungen305! Auch das war den führenden Männern des Heeres und der Marine nicht verborgen geblieben. So hatte im März 1936 ein bekannter und geachteter katholischer Kirchenhistoriker gegenüber dem Befehlshaber im Wehrkreis IX von „den geradezu ungeheuerlichen Dummheiten, die heute von beiden Seiten in puncto Religion und Kirche gemacht werden"306, gesprochen. Bei dieser Lage der Dinge war es nicht erstaunlich, daß die oberste militärische Führung die Grenzen einer defensiven, bewahrenden Tendenz nicht überschritt und daß sie damit eine über der Kirchenfrage manifest werdende Spaltung im Offizierkorps nicht verhindern konnte. Entscheidend jedoch war und blieb trotz all dem Gesagten, daß die Haltung der Wehrmachtführung gegenüber der gesamten kirchen- und religionspolitischen sowie militärkirchlichen Problematik letztlich strukturiert wurde durch ihre dezidierte machttaktische und ideologische Anpassungspolitik. Die Heeresleitung wies in kirchenpolitischer und militärkirchlicher Hinsicht dagegen einige eigenständige Nuancierungen auf, die jedoch keine besonderen Folgewirkungen zeitigten. Das lag nicht zuletzt daran, daß auch die Heeresleitung im Prinzip die große Linie der Politik der Wehrmachtsführung mit ihrer

regimekonformen Tendenz akzeptierte. 394

395

Vgl. z. B. Raeders Haltung zu Niemöller: Raeder, Bd II, S. 141 f.; Zipfel, S. 103 f. Vgl. dazu den Forschungsbericht von Günter van Norden, Die evangelische Kirche im „Dritten

Reich", in: Neue politische Literatur 4 (1966), S. 435 ff., sowie Hans Müller, Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Dokumente, München 1966 (für die Frühzeit des Dritten Reiches). Außerdem sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß, ähnlich wie das Offizierkorps, auch der deutsche Protestantismus 1918 nach Wegfall des Summepiskopates durch den Zusammenbruch der Monarchie obendrein einen

Übergangsphase

folgenreichen

Basisschwund erlitten hatte und damals in

Neuorientierung mit all der daraus resultierenden Unsicherheit und Labilität sich befand. Über die Spiegelung der verwirrenden Situation im Kirchenkonflikt im Ausland vgl. Alfred Wiener, Untersuchungen zum Widerhall des deutschen Kirchenkampfes in England 1933-1938, in: On the Track of Tyranny, hrsg. von Max Beioff, London 1961, S. 211 f. 396 MGFA/DZ WK IX/9, persönlicher Briefwechsel General Dollmann, damals Kommandierender General des IX. AK. O'Neill, S. 74, interpretiert diese Korrespondenz dahingehend, Dollmann einer

der

sei der Ansicht gewesen, „more accomodation was necessary from the party in order to avoid a break between Church and State". Andere Auslassungen Dollmanns zeigen jedoch (vgl. oben Anm. 37), daß dieser eher die Kirche zur Zurückhaltung und Anpassung veranlassen wollte. In einer Ansprache vor katholischen Heerespfarrern sagte er: „Wenn der Glaube den einzelnen Soldaten in seiner inneren Haltung festigt und damit die Widerstandskraft eines Heeres stärkt, so ist es andererseits auch nur ebenso selbstverständlich, daß für die Austragung weltanschaulicher Streitfragen in der Wehrmacht kein Raum ist. Sie können innerhalb der Wehrmacht keinerlei politische Kampfstellung beziehen Daß auch über Ihre Einstellung zum Nationalsozialismus kein Zweifel oder auch nur eine Unklarheit aufkommen darf. Die Wehrmacht als einer der Träger des nationalsozialistischen Staates verlangt von Ihnen als Militärpfarrer jederzeit ein klares und rückhaltloses Bekenntnis zu Führer, Staat und Volk. Nicht auf das schweigende Nebeneinander, sondern auf das heutige und offen-bekannte Miteinander kommt es an." (MGFA/DZ WK IX/9.) Im Gegensatz zu O'Neill, S. 75, muß bei Dollmann doch eine stärkere Hinneigung zum Nationalsozialismus angenommen werden (vgl. auch S. 193 und 202 dieses Kapitels). ...

V. PROBLEME DER AUSSENPOLITIK UND DER FÜHRUNGSORGANISATION 1934-1937

Die Zeit zwischen 1934 und 1937/38 wurde nicht allein geprägt durch die vorstehend geschilderten innenpolitischen Probleme und Spannungen zwischen Armee und Regime. In jenen Jahren entwickelten sich noch andere tiefgehende und folgenreiche Meinungsdifferenzen sowohl zwischen der politischen Führung und den Repräsentanten der Heeresleitung als auch zwischen Heeresführung und Reichswehrführung. Die Differenzen zwischen politischer Führung und Heeresführung brachen über außenpolitischen Problemen auf; dabei teilte der Reichskriegsminister zeitweilig in Einzelfragen den Standpunkt der Heeresleitung, im großen und ganzen jedoch verlief die Frontlinie eindeutig zwischen Heeresleitung und politischer Führung. Das Eigentümliche und Charakteristische indessen war, daß die Entwicklung der Differenzen über außenpolitische Fragen parallel ging mit der Entwicklung immer heftigerer Meinungsverschiedenheiten zwischen Reichswehrführung und Heeresleitung über das Problem der obersten militärischen Führungsorganisation1. Dieser Streit um die Spitzengliederung der Wehrmacht nahm u. a. nicht zuletzt deswegen so heftige Formen an, weil er, abgesehen von persönlichen Momenten, direkt oder indirekt von den Meinungsverschiedenheiten zwischen Heeresführung und politischer Leitung über die außenpolitischen Pläne und Aktionen beeinflußt wurde. Die oberste militärische Spitzenorganisation ist der Transmissionsmechanismus zwischen der Regierung und dem militärischen Apparat, dem gegebenenfalls die machtpolitische Realisierung und Durchführung der außenpolitischen Entschlüsse der Staatsführung obliegt. Insofern ist die Struktur des höchsten militärischen Führungsapparates nicht bloß eine organisationstechnische Frage, sondern ein Politikum ersten Ranges. Derjenige, der diesen Führungsapparat beherrscht und bestimmt, vermag zugleich einen gewaltigen, vielleicht entscheidenden Einfluß auf die Realisierung politischer Entschlüsse, wenn nicht gar schon auf die Entschlußfassung der politischen Führung auszuüben. Bei einem Konflikt zwischen militärischer und politischer Führung über den außenpolitischen Kurs liegt hier eine Schlüsselposition. Aus dieser sachlichen Gegebenheit heraus, aber auch auf Grund persönlicher Momente waren damals beide Komplexe militärische Spitzengliederung und außenFür die weitere Stellung der Heeresverzahnt. miteinander politische Planung eng leitung also primär des Oberbefehlshabers des Heeres und des Chefs des Generalstabes -

-

-

Diese entscheidend wichtige Beziehung ist u. E. bisher weder klar genug erkannt noch in ihrer entsdieidenden Bedeutung genügend berücksichtigt worden. Entweder wurde die politische Relevanz des Streites um die Spitzengliederung nicht erkannt man behandelte sie rein als organisationsgeschichtliches Problem im Rahmen der Aufrüstung (so z. B. Hoßbach, Oberbefehl; Erfurth und Gerhard Meinck, Hitler und die deutsche Aufrüstung 1933-1939, Wiesbaden 1959) oder Becks Aktivität wurde ausschließlich in seinem Kampf gegen den Krieg gesehen; daß der Spitzenglicderungskonflikt ein wesentlicher Teil dieses Kampfes war, ist nicht betont worden (vgl. z. B. Foerster, S. 39 ff., wo dieses Problem nur im Kapitel „Aufbauarbeit" angeschnitten wird). 1

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V. Probleme der

206

Außenpolitik und der Führungsorganisation

des Heeres zum Regime und zu Hitler selbst waren die Meinungsverschiedenheiten über außenpolitische Fragen auf lange Sicht hin von ausschlaggebender Bedeutung. Die im vorhergehenden Kapitel geschilderten innenpolitischen Konflikte hatten so glaubte man in der Heeresleitung ihren Grund vornehmlich in den Grenzüberschreitungen, den und Ambitionen gewisser „unvernünftiger" oder auch gefährlicher TeilAnmaßungen kräfte bzw. einzelner Repräsentanten der „NS-Bewegung". Zudem machten es autoritäre Vorstellungen und unpolitisches „Ordnungsdenken" den Militärs nicht leicht, die totalitären Realitäten des sich ausformenden nationalsozialistischen Regimes zu erfassen. Bei den Differenzen über außenpolitische Probleme jedoch handelte es sich das konnte man in der Heeresleitung auf die Dauer nicht übersehen um gewichtige und schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten mit der im letzten verantwortlichen Staatsführung schlechthin, also mit Hitler selbst. Hitlers bisherige Äußerungen über seine außenpolitischen Absichten, wie jene Ansprachen vom 3. Februar 1933 und vom 28. Februar 1934, waren im allgemeinen von den führenden Generalen als Träumereien angesehen und kaum ernst, bestenfalls nur als revisionistisch-nationalistische Zukunftsvisionen genommen worden2. Gab es doch innenpolitisch noch genug Probleme. Vor allem: Was für sie zählte, waren die Realitäten Deutschlands militärische Schwäche inmitten hochgerüsteter Nachbarn3 und die unmittelbaren Aufgaben die Schaffung eines angemessenen Militärpotentials als maditpolitisdier Notwendigkeit wie als Voraussetzung einer Revisionspolitik. Demgemäß stellte sich den verantwortlichen Militärs die doppelte Problematik: einmal absolute Vermeidung jeden Kriegsrisikos für die nächsten Jahre; zum anderen Durchführung der Aufrüstung. Ein Krieg vor Abschluß der Aufrüstung würde eine Katastrophe für das Reich bedeuten, darüber waren sich alle Militärs einig. Die Aufrüstung mußte einerseits so rasch betrieben werden, daß die gefährliche Schwäche des Reiches baldmöglichst behoben würde, andererseits aber so behutsam, daß außenpolitische Konflikte wegen dieser Aufrüstung vermieden würden. Das hieß zuerst und vor allem: Verzicht auf jegliche außenpolitische Beunruhigung, auf jegliche Risiko-Politik4; das bedeutete allerdings nicht Verzicht auf jegliche Revisionspolitik, aber es verschob fraglos eine Revision in eine fernere Zukunft; es engte die Revisionsmöglichkeiten stark ein5. Wie sehr die Heeresleitung auf außenpolitische -

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Vgl. dazu Kap. II S. 42 f. und Kap. Ill S. 99 dieser Arbeit. Hierzu vgl. Foerster, S. 51 ff., Esmonde M. Robertson, Hitler's Pre-War Policy and Military Plans 1933-1939, London 1963, passim. Vgl. auch Hoßbach, S. 117. 4 daß ich als wirklich wertvollen militärpolitischen Vgl. Becks Notiz aus dem Frühjahr 1935: Leitsatz bis auf weiteres nur ansehen möchte, es mit keiner der unser Interesse pro oder contra beanspruchenden Mächte zu verderben." (Foerster, S. 60.) Fritsch schrieb noch Anfang 1936 an Beck: „Hoffentlich hält das Ausland noch einige Zeit Ruhe." (Brief vom 8. 4. 38 in: MGFA/DZ II H 1008/2, fol. 2.) Vgl. auch das Material im Beck-Nachlaß, BA/MA H 08-28/2 (z.B. Briefe von General Fleck, Major Wolf, General v. Stülpnagel). 5 Über die außenpolitischen Vorstellungen auch der oppositionellen Militärs und deren Affinität zu nationalsozialistischen Vorstellungen vgl. neuerdings Hermann Graml, Die außenpolitischen Vorstellungen des deutschen Widerstandes, in: Der deutsche Widerstand gegen Hitler, Vier histo2

3

„.

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V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

207

die außenpolitisch von Bedeutung sein konnten, beobachtete, zeigt die Tatsache, daß der Chef des Truppenamtes, General Beck, sich nach dem 30. Juni 1934 von privater und amtlicher Seite über den Widerhall dieses Ereignisses und des Mordes an dem österreichischen Bundeskanzler Dollfuß im Ausland unterrichten ließ. Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, v. Bülow6, mit dem er in ständigem Gedankenaustausch stand, bis Blomberg es ihm verbot7, zeichnete ihm ein Bild von der im Ausland herrschenden Meinung. Dort hätten die Ereignisse vom 30. Juni Abscheu und Entsetzen hervorgerufen. Einem Führer und einer Regierung, die sich so über alle Rechtsbegriffe hinwegsetze, traue man auch außenpolitisch alles zu. Die außenpolitische Lage sei „trostlos". Das Vorgehen des Regimes hätte im Auslande auch eine Schädigung des Ansehens der Armee herbeigeführt. Fahre man auf diesem Wege fort, so werde man eine Gegenwehr der Mächte und damit einen für Deutschland hoffnungslosen Endkampf heraufbeschwören8. Beck ließ sich ebenfalls durch einen ehemaligen Regimentskameraden und jetzigen Industriellen, Boehm-Tettelbach, über die Ansichten des Auslandes unterrichten. Dieser hatte ihm eine Sammlung von Ausschnitten aus englischen Zeitungen zugehen lassen und seinen Gesamteindruck von der Meinung des Auslandes folgendermaßen zusammengefaßt: „Wenn Blomberg oder wer es sonst sei, geschickt operiert, liegt das weitere Schicksal Deutschlands in seinen Händen9." Eine Bemerkung, die gewiß nicht im Sinne von gegen das Regime Hitlers gerichteter Aktivität aufgefaßt werden darf, sondern mehr als verklausulierter Ratschlag an die Adresse führender Militärs, auf die Gestaltung einer „vernünftigen", besonnen-realistischen Außenpolitik Einfluß zu nehmen. Becks Verhalten und Gedankenäußerungen der nächsten Zeit legen zweifellos die Annahme nahe, daß er es wenigstens so verstanden hatte. Für Beck also man darf annehmen, daß dies auch für Fritsch zutraf waren die außenpolitischen Konsequenzen und Reaktionen auf gewisse innenpolitische Ereignisse10 und die außenpolitischen Verwicklungen, die sich aus direkter parteipolitischer und ideologischer Ausstrahlung des nationalsozialistischen Regimes ergeben konnten, eine Quelle größter Sorge. Sie waren es auch, mehr als die innenpolitischen Entwicklungen in Deutschland, die ihm einen ersten Anflug von Skepsis gegenüber dem Regime brachten11. Bereits bei seiner Ernennung zum Generalstabschef hat er einem Bekannten gesagt12: „Mir bangt davor, daß wir in einen

Ruhe Wert

legte und wie sorgfältig sie alle Momente,

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risch-kritische Studien, hrsg. von Walter Schmitthenner und Hans Buchheim, Köln-Berlin 1966, S. 19 ff. 6 Vgl. dazu Krausnick, Vorgeschichte, S. 265, Anm. 88, sowie Beck-Nachlaß, BA/MA H 08-28/2, fol. 27-29. In MGFA/DZ II H 1008/2 finden sich ebenfalls zahlreiche Berichte von Informanten Becks, insbesondere z. B. über Italien und den Abessinischen Krieg. 7 Hoßbach, S. 152. Dieses Verbot beleuchtet die gespannten Verhältnisse zwisdien Heeresleitung und Wehrmachtsführung. 8 BA/MA H 08-28/2, fol. 27 (vgl. auch Foerster, S. 53 f. im Auszug). 9 Krausnick, Vorgeschichte, S. 265, Anm. 88. 10 Vgl. dazu das in Kap. IV Ausgeführte. 11 Vgl. weiter unten seine Marginalien zum Stülpnagel-Memorandum vom 11.4.35 (BA/MA H 08-28/2, fol. 25/26). 12 Foerster, S. 51.

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V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

Krieg verwickelt werden könnten, bevor wir in der Lage sind, uns mit Aussicht auf Erfolg wehren. Wir müssen alles tun, es dazu nicht kommen zu lassen. Ob man sich darüber wohl auch überall klar ist?" Und im Mai 1934 brachte er gegenüber dem Plan des Allgemeinen Heeresamtes also einer Initiative aus dem militärischen Apparat! -13, bereits bis zum 1. Oktober 1934 ein Heer von 300 000 Mann aufzustellen, neben innenpolitischen und militärisch-fachlichen Einwänden vor allem außenpolitische Gründe ins Spiel14. Das bedeute „nicht mehr den Aufbau eines Friedensheeres, sondern eine Mobilmachung". In einer überstürzten Erweiterung des Heeres sah er eine Förderung der außenpolitischen Gefahrenlage. Fritsch war ebenfalls dieser Ansicht15. Die besorgte Behutsamkeit, wie sie die Heeresleitung bei der Aufrüstung pflegte, wurde indessen von dem verantwortlichen Staatsführer keineswegs gebilligt. Das zeigte sich bei der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in greller Deutlichkeit. Hitler faßte den Entschluß dazu16, ohne sich zuvor mit dem verantwortlichen Minister und den Oberbefehlshabern der beiden Wehrmachtteile beraten zu haben. Erst auf nachdrückliches Drängen seines Wehrmachtadjutanten, Major Hoßbach, ließ er sich herbei, dem Reichskriegsminister und einigen ausgewählten Kabinettsmitgliedern sein Vorhaben mitzuteilen17. Blomberg nahm die Nachricht, die Hoßbach ihm überbrachte, mit „Entsetzen" auf, nicht so seine Kabinettskollegen18. Auf dem Ministerrat vom 15. März entstand daher die paradoxe Lage, daß der verantwortliche Soldat, Blomberg, die Absicht Hitlers aus politischen Gründen ablehnte, während die zivilen Minister dem „Führer" zustimmten. Wie der Minister, so stand auch die Heeresleitung mit allen anderen führenden Generälen19 damals stark unter dem Eindruck der außenpolitischen Isolierung des Reiches; die Bedenken, die der Minister in der Sitzung nachdrücklich vorbrachte, bezogen sich darum vor allem auf die Wirkung einer Verkündung der Wehrpflicht auf das Ausland. Im April erklärte Fritsch20 auf einer Befehlshaberbesprechung in diesem Sinne rückblickend, die allgemeine Lage sei nach dem 16. März „recht ernst" gewesen. Die allgemeine Wehrpflicht hätte im Ausland „wie [eine] Bombe eingeschlagen". Wenn er auch schließlich eine unmittelbare Kriegsgefahr nicht mehr für gegeben ansah, so fügte er doch die düstere Festwenn er doch kommt nicht mehr sein kann als stellung hinzu, daß „ein Kampf ein verzweifeltes Sich-wehren". Die Zurückhaltung der Heeresleitung bezog sich also wiederum auf die gefährlichen außenpolitischen Auswirkungen, die eine spektakuläre Einführung der Wehrpflicht nach sich ziehen könnte. Die Opposition war demnach nidit

zu

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...

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13 Allgemeines Heeresamt, bis April 1934 Wehramt genannt, dessen Chef damals der Oberst und spätere Generaloberst Fromm war. Fromm war einer der nachdrücklichsten Befürworter einer schnellen und umfassenden Aufrüstung (vgl. Lüttwitz, fol. 89). 14 BA/MA H 08-28/2 (vgl. auch Foerster, S. 32 f.). 15

Foerster, S. 33 (Fritsch). Zu diesem Komplex vgl. Robertson, S. 43 ff. und 55 ff. 17 Hoßbach, S. 95-96. Vgl. auch Meinck, S. 96 ff. 18 Hoßbach, S. 95 f. 19 Vgl. dazu Foertsch, S. 69-70; Manstein, S. 216; Weichs, Erinnerungen, Bd. I; Foerster, S. 34. 23 Liebmann-Notizen, Besprechung vom 24. 4. 35. Noch am 9. 10. 34 hatte Fritsch das Wehrgesetz erst für den 1. 10. 35 erwartet (ebd.) wegen „außenpolitischer] Belastung". 18

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

209

grundsätzlich eine allgemeine Wehrpflicht wurde auch von den führenden Militärs als nationalpolitische wie sachliche Notwendigkeit bejaht -, sondern bezog sich mehr auf die -

Opportunität und die Methode. Am anderen Tage wurden Blomberg und Fritsch nacheinander nochmals von Hitler empfangen. Jetzt ließ der Minister seine Bedenken fallen. Fritsch wies Hitler lediglich noch einmal eindringlich darauf hin, daß die Durchführung des Wehrpflichtgesetzes und der darin festgelegte Umfang der Aufrüstung erst im Laufe einiger Jahre zu verwirklichen sei und daß eine Überstürzung unbedingt vermieden werden müsse. Kriegsminister wie Oberbefehlshaber des Heeres hatten also ihre ursprünglichen Bedenken zurückgestellt, und bekanntlich nahm auch das Ausland diesen Schritt des Reiches hin, indem es sich mit rein formalen Protesten begnügte. Was die beiden Generäle veranlaßt hatte, trotz schwerer Bedenken schließlich ihre Zustimmung zu geben, ist nur indirekt zu erschließen. Es war auch bei Blomberg nicht unbedingt einer jener „Umfalle", die seine Kollegen bereits mehrfach bei ihm erlebt hatten; auch Fritsch stimmte am 16. März zu. Vielmehr wird es einmal die Tatsache gewesen sein, daß Blombergs Besorgnis von den zivilen Ministern nicht geteilt wurde; insbesondere aber, daß Hitler anscheinend ihre Bedenken mit dem Versprechen zerstreut hat, alles zu tun, um einen Konflikt zu vermeiden. Letzten Endes waren auch die verantwortlichen Führer der Wehrmacht in dieser Frage in einem gewissen Zwiespalt; der Notwendigkeit, außenpolitische Schwierigkeiten zu vermeiden, stand in ihren Augen die einer umfangreichen Aufrüstung gegenüber. Die Ausführungen des Oberbefehlshabers des Heeres auf einer Befehlshaberbesprechung am 24. April spiegeln diese zwiespältigen Empfindungen wider: er sagte, es sei zu berücksichtigen, daß die Verkündung der allgemeinen Wehrpflicht zwar „mit weniger Dramatik" hätte erfolgen können, daß sie aber „in irgendeiner Form" nicht zu umgehen gewesen wäre, da die „Weiterentwicklung des Heeres ohne Wehrpflicht nicht mehr möglich" gewesen wäre. Hitler habe den festen Willen, einen Krieg zu vermeiden; ob es ihm gelinge, hänge aber „nicht allein von uns ab". Es sei jedoch klar, daß „unter diesen Verhältnissen bis zum äußersten gegangen werden" müsse, um den Frieden zu erhalten21. Bedeutungsvoll ist die ganze Episode insofern, als Hitler zum ersten Mal in einer auch außenpolitisch relevanten Frage der Wehrpolitik selbstherrlich vorzugehen geneigt war: zum ersten Mal auch war er auf Ansätze eines Widerstrebens von seilen der führenden Militärs gestoßen; sodann offenbarte sich dabei ein symptomatisches Dilemma der militärischen Führung. Sie stimmte in der Sache, um die es ging, mit Hitler völlig überein22. Der Unterschied in der Methode, über die die Kontroverse entstand, war jedoch qualitativ gravierend; denn er berührte einen Grundsatz der militärischen Führung: die Vermeidung jeglichen außenpolitischen Risikos. So sollte es fortan noch häufiger sein: die Ablehnung der Methode der 21

Ebd. Fritsch wird wohl auch noch zusätzlich daran gedacht haben, daß die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht das Gewicht der Armee gegenüber dem innerpolitischen Gegner verstärken werde; denn er sprach in der Besprechung vom 24. 4. 35 die in diesem Sinne bezeichnenden Worte aus: „Durch [die] allgemeine Wehrpflicht sind vielen, die glaubten, auf [dem] Parteiwege etwas militärisch erreichen zu können, die Felle weggeschwommen ." 22 Vgl. Graml, S. 22 ff. .

14

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V. Probleme der

210

Außenpolitik und der Führungsorganisation

Macht- und Außenpolitik Hitlers wegen befürchteter Folgen wurde in ihrer Durchschlagskraft gemindert infolge der unleugbaren Übereinstimmung in der Sache. Hier lag die tiefgründige Schwäche der militärischen Position bei derartigen Konflikten23. Hinzu kam, wie es sich bei dieser Episode ebenfalls zeigte, daß häufig die befürchteten Folgen ausblieben, Hitlers Methode also als ex eventu gerechtfertigt erschien. Immerhin: es muß festgehalten werden, daß die Mißachtung eines methodischen Axioms der militärischen Führung Vermeidung jeglichen Risikos bei der nationalen Revisionspolitik am Beginn der Meinungsverschiedenheiten zwischen führenden Militärs und der Staatsführung stand, nicht jedoch innenpolitische Probleme. Der Standpunkt der Heeresleitung, ihre Prinzipien, ihre Sorgen, ihre kritische Skepsis, sprechen aus den vom Chef der Abteilung T 3, Karl-Heinrich v. Stülpnagel, am 11. April 1935 Beck übersandten „Notizen zur augenblicklichen militärischen Lage"24 und den Marginalien des Generalstabschefs dazu. Stülpnagel kommt nach einem militärpolitischen und außenpolitischen Überblick zu dem Schluß, es gelte, „wenn irgend möglich jeden Konflikt [zu] vermeiden", keine Provokationen25 zu begehen, „vor allem nicht in Österreich und in der entmilitarisierten Zone", sowie überhaupt einer Einkreisung vor[zu]beugen, selbst unter Opfern"26. Beck sah, wie aus seinen Randbemerkungen hervorgeht, die Ursachen der allgemeinen Ablehnung des Regimes durch das Ausland nidit in dem, Politik der Gewalt und des Treubruches" ; er „was wir tun, sondern wie wir es tun führt dabei den Austritt aus dem Völkerbund, den Dollfuß-Mord und bezeichnenderweise auch den „16. März", also die einseitige Erklärung der „Wehrhoheit", an. Er empfiehlt als politische Tendenz „2-3 Jahre keine Extratouren" und „wenn man ihnen [das heißt dem Ausland] nicht zu verstehen gibt, es passiert nichts, gibt es nicht Ruhe"27. In diesen Bemerkungen Becks kommt die Kritik an den Methoden der politischen Führung ebenso unverhüllt zum Ausdruck wie die stillschweigende Übereinstimmung mit deren sachlichen Zielen; jedenfalls beweisen seine Worte eindeutig, daß eine Periode der -

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„.

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Es trifft

keineswegs zu, wie Hugh Trevor-Roper, Hitlers Kriegsziele, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 8 (1960), S. 126, meint, daß erst Hitlers Übergang von der Revisionspolitik zur imperialistischen Aggressionspolitik die Opposition in der Generalität hervorgerufen habe; son23

dern

in der Generalität Anstoß nahm, war bereits Hitlers Methode der RevisionsS. 23). Ein Memorandum des Wehrkreiskommandos I (Königsberg) vom 29. 9. 34, in dem gewisse Voraussetzungen „für eine nach dem Osten gerichtete Politik" genannt werden, gab der Chef der Heeresleitung unter Nr. 300/34 gKdos. vom 8. 10. 34 mit der Bemerkung weiter: „Jede in diese Richtung zielende wirksame Maßnahme wird von der Heeresleitung begrüßt." (MGFA/DZ H 24/6.) 24 In BA/MA H 08-28/2, fol. 23 ff. Foerster, S. 54, der die Auslassungen in seinem Zitat nicht kennzeichnet, scheint diese Notiz Beck zuzuschreiben, sie stammt aber, wie das Original zeigr, eindeutig von Karl-Heinrich v. Stülpnagel, damals Oberst i. G. und Chef der Abt. T 3 (Abteilung woran man

politik (vgl. dazu auch Graml,

Truppenamt). Vgl. dazu Becks Notiz (Foerster,

Fremde Heere im 25 26

BA/MA H

08-28/2, fol. 25/26.

S.

60)

aus

derselben Zeit (Anm. 34 dieses

Kapitels).

Handschriftliche Bleistiftnotizen Bedcs auf der Rückseite von H 08-28/2, fol. 26. Beck sdireibt dabei aber auch: „Nicht zu weit gehen in Konzessionen ." Vgl. dazu auch Foerster, S. 70, und

27

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Krausnick, Vorgeschichte, S. 264.

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V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

211

„Ruhe" und des Stillhaltens für ihn kein Wert an sich, kein Selbstzweck war28. Für die Heeresleitung, insbesondere für Beck, ging es in jener Zeit allerdings nicht bloß um die gravierende Methodenfrage in der Außenpolitik. Für den Generalstabschef war die Frage der militärischen Führungsstruktur und damit die oberste militärische Beratungskompegegenüber der Staatsführung eng mit jenem Komplex verknüpft. Das trat einige Monate später offen zutage. Anfang Mai 1935 wurde durch den Abschluß des sowjetischfranzösisch-tschechischen Paktes das tschechische Problem für die militärischen Planer wieder akut29. Ein Memorandum Reichenaus30 und einige Stabsbesprechungen im OKW befaßten sich mit den militärischen Aspekten dieser Frage. Am 2. Mai erteilte der Oberbefehlshaber der Wehrmacht und Reichskriegsminister dem Generalstab des Heeres die Weisung31, eine operative Studie über die Vorbereitungen anzufertigen, die für ein „schlagartig als Überfall" auszuführendes Unternehmen gegen einen Südoststaat zu treffen seien, „ohne Rücksicht auf den zur Zeit unzureichenden Stand unserer Rüstung"; Beck argwöhnte sofort, daß hinter dieser angeblich theoretischen Studie sich vielleicht die Absicht verberge, konkrete Vorbereitungen für einen tatsächlich beabsichtigten Überfall auf die Tschechoslowakei in die Wege zu leiten. Nach reiflicher Überlegung reagierte er deutlich und energisch32, gewiß nicht ohne Zustimmung des Oberbefehlshabers des Heeres. Erstens erklärte er33, daß, wenn mit dem Schreiben des Ministers „der Eintritt in praktische Kriegsvorbereitungen beabsichtigt" sei, er um Enthebung von seinem Posten bitte. In Becks Augen wäre damit nämlich der Fall jener verantwortungslosen Risikopolitik gegeben gewesen, die von der Heeresleitung und den führenden Generalen einstimmig abgelehnt wurde. Bemerkenswert ist immerhin die Entschlossenheit, mit der Beck auch die persönlichen Konsequenzen zu ziehen bereit war. Zweitens begründete er eingehend, warum ein derartiges Unternehmen mit einem Desaster enden müßte. Dabei ließ er, indem er das Sachproblem auf eine höhere Betrachtungsebene hob, deutlich durchblicken, wie sehr der Weisung die geistige und dem zu behandelnden Unternehmen die operative Grundlegung fehlte: aus außen- und militärpolitischen Gründen könne „auf alle Fälle bei dem Unternehmen nicht einen Tag damit gerechnet ein daß es jemals isoliertes Unternehmen zwischen zwei Gegnern bleibt... Somit werden, kann das Unternehmen nur im Rahmen einer sehr viel weitergehenden Kriegslage betenz

...

...

Vgl. Fritschs

Brief an Beck vom 8.4.36 (MGFA/DZ II H 1008/2, fol. 1-2), wo es heißt: voll motorisierte Inf [anterie] Div[isionen] können umso wichtiger werden, wenn wir zu keinen ständigen Befestigungen an der Westgrenze in absehbarer Zeit gelangen Hoffentlich hält das Ausland noch einige Zeit Ruhe." 28

„.

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...

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29

Robertson,

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S. 89. Documents on German Foreign Policy, Serie C, vol. VIII, S. 1109-10; vgl. auch Meinck, S. 137 und 149. 31 IMT XXXIV, S. 485 f., Dokument 139-C. Zu der über diese Weisung in Nürnberg entstandenen Kontroverse vgl. Robertson, S. 90, Anm. 1. 32 Hierzu und zum folgenden vgl. Foerster, S. 58 ff. 33 Eigenhändiger Entwurf des Schreibens vom 3. 5. 35 an den ObdH in BA/MA H 08-28/2, Stück 25. 30

212

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

trachtet werden"34. Weiterhin rechnete er in nüchterner Kalkulation vor, daß Deutschland seinem Rüstungs- und Militärpotential nach gar nicht in der Lage sei, unter den gegebenen Verhältnissen einen überraschenden Angriffskrieg gegen die Tschechoslowakei zu unternehmen. Drittens übte er schärfste Kritik an einer militärischen Führung, die überhaupt derartige Pläne, sollten sie tatsächlich ernst gemeint sein, erwäge. Er stellte dabei fest: „Sollte trotzdem die Vorbereitung des Unternehmens ohne Rücksicht auf den z. Zt. unzureichenden Stand unserer Rüstung betrieben werden sowie in der Annahme, daß jede Besserung der Rüstungslage eine Erweiterung der Vorbereitung ermögliche und damit günstigere Erfolgsaussichten schaffen wird, so kann ich ein solches Unternehmen höchstens als eine Verzweiflungshandlung ansehen..., bei welcher sich das deutsche Heer unter Preisgabe des deutschen Bodens selbst für die unmittelbare Landesverteidigung ausschaltet, voraussichtlich in außerdeutschem Land ein unrühmliches Ende findet." Er schloß mit der für die Initiatoren dieser Planstudie wenig schmeichelhaften Bemerkung, daß eine solche militärische35 Führung... des härtesten Verdammungsurteils nicht nur der Zeitgenossen, sondern auch der Geschichte gewärtig sein" müsse36. Wie ist diese Stellungnahme Becks zu beurteilen? Einmal reflektiert sie von einem konkreten aktuellen Anlaß her, der Weisung Blombergs, das militärpolitische und strategische Grundaxiom der Heeresleitung: keine Risiko-Politik. Eine solche wäre zweifellos mit der zur Erwägung gestellten Operation gegeben gewesen. Vor allem ist folgendes bemerkenswert: Beck kritisiert mit keinem Wort die politische Führung, die Staatsführung diese war ja auch weder als weisungserteilende Instanz noch, soweit erkennbar, als Initiator in Erscheinung getreten. Beck zielt mit seiner vernichtenden Kritik vielmehr eindeutig und ausdrücklich auf „eine solche militärische Führung", die derartige operative Erwägungen überhaupt anstellen läßt und sich damit in seinen Augen politisch wie fachlich disqualifiziert. Diese Stellungnahme des Generalstabschefs ist also nicht so sehr als eine Kritik an der Außenpolitik Hitlers zu werten sachlich trifft sie diese im allgemeinen natürlich auch. Sie ist vielmehr als ein Gegenschlag in einem seit geraumer Zeit mit zunehmender Heftigkeit entbrannten wehrmachtsinternen Konflikt anzusehen: im Konflikt um die Organisation der obersten militärischen Führungsspitze. Beck hatte nichts weniger unternommen, als der Wehrmachtführung d. h. dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht und seinen Beratern im Wehrmachtamt und in der Abteilung „Landesverteidigung" dieses Amtes aus Anlaß einer Stellungnahme zu einem außenpolitisch-strategischen Problem deutlich ihre fachliche Unzulänglichkeit und ihre Inkompetenz zu attestieren37. ...

„...

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34 Sachliche Anklänge und Parallelen zu der „Notiz" Stülpnagels vom 11.4.35 fallen auf, sind aber nicht verwunderlich, denn Becks Gedankenbildung beruhte, vor allem bei sachlichen Details, auf dem im Truppenamt Erarbeiteten. 35 Hervorhebung vom Verf. 36 Nach Foerster, S. 60, zuckte das OKW daraufhin zurück. 37 Dieser, m. E. primäre, Aspekt ist, soweit ich sehe, noch nicht beachtet worden. Fachliche Unzulänglichkeit jedoch war einer der Vorwürfe, mit denen im Streit um die Spitzengliederung die Heeresleitung gegen das Wehrmachtamt zielte.

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

213

In der

Tatsache, daß die Stellungnahme Becks nicht so sehr ein Angriff auf die Außenpolitik der Regierung war als vielmehr ein Schlag gegen den Anspruch der Wehrmacht-

führung, die oberste militärpolitische und strategisch-operative Instanz zu sein, wird der enge Zusammenhang zwischen der Außenpolitik Hitlers und dem internen Konflikt über die Spitzenorganisation der Wehrmacht deutlich. Ebenso deutlich wird aber auch, daß bei den internen Verhältnissen im Bereich der obersten Generalität, deren Reflex hier erkennbar wurde, die Aussichten einer Einheitsfront der Militärs für den Zeitpunkt gering war, an dem die Staatsführung ihrerseits entschlossen zur Realisierung einer eindeutigen Risikoschritt. Die der politik gravierende Bedeutung Spitzenorganisation und ihr enger Zusammenhang mit der außenpolitischen Planung trat bei den verschiedensten Gelegenheiten hervor. Die im Verlauf der Besetzung der entmilitarisierten Zone im Rheinland ausbrechenden Spannungen innerhalb der politischen und militärischen Führungsschicht sowie die Reaktionen der jeweiligen Beteiligten sind dafür beispielhaft. Wieder hatte Hitler den Entschluß zu diesem Schritt allein gefaßt38. Fritsch, von Hitler am 12. Februar 1936 kurz orientiert, stellte sich auf den Standpunkt, daß vom Interesse der Landesverteidigung aus die Einbeziehung der Rheinlande in die Militärhoheit notwendig sei, da es ohne uneingeschränkte Souveränität an Rhein und Ruhr keine Sicherheit für Deutschland gebe39. Beck stand daher schon seit Dezember 1934 mit dem Auswärtigen Amt wegen dieser Angelegenheit in Verbindung40. Fritsch lehnte demgemäß Hitlers Vorhaben nicht grundsätzlich ab, machte jedoch darauf aufmerksam, daß man auf keinen Fall das Risiko eines Krieges eingehen dürfe. Auch Blomberg verhehlte angesichts der militärischen Schwäche des Reiches seine Bedenken über diesen gefährlichen Schritt nicht41. Wie stark in der Wehrmachtführung diese Bedenken waren, zeigen wieder die Befehlshaberbesprechungen. Ebenfalls hat sich damals der Chef des Generalstabes des III. Armeekorps gegenüber Teilnehmern einer Wehrkreisübungsreise „in sehr ernsten Worten" über „das Risiko dieses Unternehmens angesichts der immer noch bestehenden militärischen Machtlosigkeit des Reiches" ausgesprochen42. Immerhin stimmte auch Hitler der Auffassung der beiden Generäle zu, daß es zu einem militärischen Konflikt mit den Westmächten, vor allem mit Frankreich, nicht kommen dürfe. Insoweit war man sich einig. Das Oberkommando des Heeres traf daraufhin die zur Vorbereitung der Wiederbesetzung des Rheinlandes notwendigen Maßnahmen43. Zudem wurden Pläne vorbereitet, die Truppen bei französischen 38

Hoßbach,

S. 97. Ebd. Hitler orientierte zunächst Fritsch, da Blomberg seit 3. 2. 36 in Garmisch zur Winterolympiade war (MGFA/DZ H 24/35). Dieser wurde am 13.12. 36 informiert (Hoßbach, S. 97). 49 Vgl. Documents on German Foreign Policy, Serie C, vol. Ill S. 698 f. (Besprechung vom 39

1.12.34). Hoßbach, S. 97.

41

42

Teske, S. 36 (Chef des Generalstabes des III. AK war der spätere General Felber). Vgl. Hoßbach, 97 f., und Foerster, S. 57. Über die diplomatische Aktivität zur Abdediung der Aktion vgl. Robertson, S. 70 ff. Ob die Besprechungen der höheren Befehlshaber des Heeres am 29. 2. 36 in Berlin beim Chef des Generalstabes des Heeres (H 24/35) der militärischen Vorbereitung der Aktion gewidmet waren wie O'Neill, S. 129, vermutet -, ist nicht sicher fest43

-

zustellen.

214

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

Offensivmaßnahmen

sogleich wieder hinter den Rhein zurückzunehmen. Das Unternehmen, „Winterübung" mit Decknamen bezeichnet, wurde für den 7. März angesetzt44. Hitler und die verantwortlichen Militärs waren sich im Grunde ebenso über die Notwendigkeit wie über die Problematik der Maßnahmen einig45, wenn auch vielleicht in der Akzentuierung der Ansichten gewisse Differenzen bestanden. Hitler ging bedenkenloser auf das Risiko ein, das auch er allerdings nicht leugnete; die Militärs sahen dagegen die Gefahren stärker, ließen sich jedoch schließlich von der Notwendigkeit des Schrittes bestimmen. Der Konflikt brach also auch hier nicht wegen einer grundsätzlichen Meinungsverschiedenheit auf, sondern wegen einer, allerdings nicht weniger grundsätzlichen, formalen Frage. Es ergaben sich im Verlauf der Aktion gewisse Spannungen. Blomberg forderte nämlich plötzlich voll panikartiger Sorge über eine mögliche feindselige Reaktion Frankreichs mehrfach und in drängender Form die Zurücknahme der drei nach Aachen, Trier und Saarbrücken verlegten Bataillone46. Hitler stimmte dem nicht zu; vor allem das Oberkommando des Heeres sah die Lage wesentlich ruhiger an, auch der Reichsaußenminister v. Neurath warnt vor einem Zurückzucken. Der „Führer" rügte daher die „schwachen Nerven" des Kriegsministers47, was vielleicht angesichts der zuversichtlicheren Lagebeurteilung des Oberkommandos des Heeres nicht ganz unberechtigt war. Freilich war diese Kritik an Blomberg wenig fair, da er kurz zuvor ebenfalls von vorübergehender Besorgnis erfüllt gewesen war. Zum andern jedoch nahm er Anstoß an der Quelle, aus der Blombergs nervöse Aufregung resultierte. Die deutschen Wehrmachtattaches in London hatten es auf Grund der in England gewonnenen Eindrücke für ihre Pflicht gehalten, in einem formal sicherlich ungewöhnlichen, vielleicht auch sachlich anfechtbaren, gemeinsamen Telegramm an das Kriegsministerium die infolge der Zuspitzung der Lage ihrer Meinung nach bestehende Kriegsgefahr zu betonen48. Hitler nahm an der Gemeinsamkeit dieses Schrittes Anstoß und sah darin eine unzulässige Beeinflussung der Reichsführung. Blomberg wies 44

Robertson, S. 77-78; Meinck, S. 151 f. Vgl. auch IMT XXXIV, S. 485 f. Doc. C-159. Der Befehl am 2. 3. heraus, ohne vorerst ein Ausführungsdatum zu nennen; am 5. 3. wurde das Unternehmen „Winterübung" (für die Luftwaffe galt der Codename „Sonderübung") für den

Blombergs ging 7. 3. befohlen.

Über Becks Standpunkt, der dem Fritschs vermutlich glich, vgl. Foerster, S. 57. Auch er billigte den Entschluß. Sogar seine spätere Kritik (ebd.) ging lediglich auf die psychologischen Auswirkungen im Ausland, die Besetzung selbst hielt er auch später noch für „durchaus erwünscht, ja unerläßlich". Schwer erklärbar ist die Episode, die erwähnt wird in: Assemblée Nationale, commission chargée d'enquêter sur les événements survenus en France 1933-45, Rapports, vol. I, Paris 1947, Annexe II, S. 489: ein Offizier aus General v. Kluges Stab (also wohl WK VI) habe danach zum französischen Generalkonsul Dobler in Köln geäußert, es seien die Zivilisten, die derartige Torheiten begingen, nicht aber die militärischen Führer. Die Armee sei vielmehr der Ansicht, es wäre am besten, wenn die Deutschen das Rheinland wieder räumten und die Franzosen dafür die während der Krise in die Maginotlinie verlegten Truppen demobilisierten. 46 Vgl. zu dieser Episode Hoßbach, S. 98. 47 Ebd. 48 Ebd. sowie Leo Frhr. Geyr v. Schweppenburg, Erinnerungen eines Militärattaches, London 1933-1937, Stuttgart 1949, S. 87ff. Geyrs Bericht vom 9. 3. 36 in MGFA/DZ H 23/63. 45

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

215

die Attachés zurecht, auch in schwierigen politischen Lagen hätten sie ihre Nerven zu behalten. Das Oberkommando des Heeres war indessen anderer Meinung. Vor allem der Chef des Generalstabes, General Beck, war der Ansicht, daß hiermit die freie Meinungsäußerung eingeengt zu werden drohe und jegliche objektive Berichterstattung künftig gefährdet werde. Er verbarg daher seine Kritik auch nicht; in einem Brief an den Militärattache, General Geyr v. Schweppenburg, schrieb er: „Den Brief des Herrn Reichskriegsministers konnte ich nicht verhindern. Meine persönliche Ansicht ist die, daß nicht Sie Ihre Nerven verloren haben, sondern ganz andere Leute49." Diese Episode ist in mehrfacher Hinsicht bedeutungsvoll. Zunächst mag sich Hitler, durchaus unberechtigt, gegenüber den Generälen in seinem Selbstgefühl bestätigt gefunden haben, voller Triumph wegen seiner angeblich gegen die Bedenken der Militärs errungenen Erfolge. Beständige ruhige Entschlossenheit hatte eigentlich nur das Oberkommando des Heeres bewiesen, Hitler dagegen ebensowenig wie sein Kriegsminister. Das hinderte ihn jedoch nicht, alsbald bei einem Besuch in Frankfurt zu sagen: „Wenn ich auf meine Generale gehört hätte, stände ich heute nicht hier50." Sein Selbstgefühl gegenüber den Militärs war bedenklich gestiegen51. Wichtiger war indessen, daß aus Anlaß der im Verlaufe jener Unternehmung entstandenen Friktionen der interne Konflikt zwischen Heeresleitung und Wehrmachtführung wieder einmal zum Vorschein kam. Das zeigte sich nicht so sehr in der Diskrepanz zwischen der selbstsicheren Gelassenheit der Heeresleitung einerseits und der Nervosität von Kriegsminister und Staatschef andererseits. Nervliche Reaktionen sind nichts Außergewöhnliches. Bedenklich war vielmehr, wie sich sogleich eine Einheitsfront von Blomberg und Hitler in der Reaktion auf den Schritt der Wehrmachtattaches bildete. Das war ein böses Omen für die Zukunft. Unabhängige, begründete Meinungsäußerungen von Fachleuten sowie offene militärische Berichterstattung und damit kompetente fachliche Beratung der politischen Führung schienen nicht nur nicht mehr gefragt, sondern mochten fortan sogar behindert werden. Bedenklich war es auch deswegen, weil eine Front der Militärs eben in dieser Grundsatzfrage nicht herstellbar war, sondern die Wehrmachtführung sich auf die Seite der politischen Führung schlug. Darin kam der Bruch in der Einheit der militärischen Führungsschicht zum Ausdruck. Die recht spürbare Rivalität, die aus der massiven Distanzierung und Kritik gegenüber dem ObdW im Schreiben Becks an Geyr sprach, war ein Symptom für den zu dieser Zeit schon fast unüberwindlichen Graben, der zwischen der Auffassung der Heeresleitung von der Struktur der obersten Wehrmachtführung und jener des ObdW und seiner Berater bestand52. Diese Strukturfrage war nur zu einem Teil ein bloß sachliches Problem, es hatte 49

Geyr

v.

Schweppenburg, S. 88. Beck sah in dieser Rüge des Attachés durch Blomberg eine „EinMeinungsäußerung" und damit „eine Gefahr für künftige Berichterstattung"

engung der freien

(Hoßbach,

59

51

S. 98). Stellungnahme der Attaché-Abt./TA zum Bericht Geyrs in MGFA/DZ H 23/63. Assmann, Deutsche Schicksalsjahre, Wiesbaden 1950, S. 45. Vgl. auch Mansteins Aussage in: IMT XX, S. 657, und dazu die kritischen Bemerkungen bei

Kurt

Krausnick, Vorgeschichte, S. 263. 52 Zu dieser Frage vgl. Hoßbach, Oberbefehl, passim sowie MGFA/DZ Study T 113, Study 047 (beide von Guderian mit einer Stellungnahme von Halder). Das Kapitel bei O'Neill, C -

-

216

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

auch einen gewichtigen politischen Aspekt; und nicht zuletzt spielten persönliche Momente eine Rolle. Ein kurzer Rückblick auf die Entwicklung der Problematik der Spitzengliederung ist an dieser Stelle angebracht53. Das sachliche Problem, wie es seit dem Ersten Weltkrieg zutage getreten war, bestand in der Notwendigkeit, die Operationen von Heer und Marine in Planung und Durchführung zu koordinieren, einheitlich zu gestalten, in das gesamtstrategische Konzept, das es zu erarbeiten galt, einzugliedern und eine der umfassenden Organisation der kämpfenden Nation im Kriege angemessene Führungsstruktur für die Gesamtstreitkräfte zu finden. Dieses Problem war seit langem in der Heeresleitung eingehend erörtert worden. Die Erwägungen der zwanziger Jahre gingen von der Annahme aus, daß in der Situation Deutschlands nur ein Verteidigungskrieg im Falle eines Angriffs von seiten der hochgerüsteten Nachbarn Deutschlands denkbar wäre. Der künftige Krieg wäre also im wesentlichen ein Landkrieg. Damit würde dem Heere die Hauptlast des Kampfes zufallen. Folgerichtig erwog man, dem Chef der Heeresleitung in einem derartigen Fall den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht, also auch über Marine und eventuelle zukünftige Luftstreitkräfte, anzuvertrauen. Aus dem Bestreben heraus, eine Organisationsform zu finden, die eine übergeordnete einheitliche Wehrmachtführung gewährleistete und zugleich die dominierende Rolle des Heeres berücksichtigte, entstand folgendes, vorerst theoretisches, Konzept54: Ein Chef des „Wehrmachtführungsstabes" oder „Wehrmaditgeneralstabes" erhielte im Kriege die Kommandogewalt über die drei Wehrmachtteile. Ohne nominell den Oberbefehl zu führen, wäre er im Frieden als nächster militärischer Berater des Reichspräsidenten praktisch doch auch Chef eines Wehrmachtoberkommandos gewesen. Sein Arbeitsorgan sollte ein Wehrmachtgeneralstab sein, der aus Arbeitsgruppen für Heer, Marine und Luftwaffe zusammengesetzt wäre. Um dem Chef des Wehrmachtgeneralstabes die nötige Autorität zu verleihen, wäre er den Oberbefehlshabern von Heer, Marine und Luftwaffe im Range gleichzustellen und ihm Sitz und Stimme im Reichskabinett zu verleihen55. Der Vorrang des Heeres sollte dadurch gewährleistet werden, daß nur ein General des Heeres diese Stellung bekleidete. Dies war der Stand der Erörterungen, als Blomberg zum Reichswehrminister ernannt wurde. Im Mai 1933 wurde er sodann vom Reichspräsidenten auch mit dem Oberbefehl über die Wehrmacht betraut. Fortan hatte er seine besondere Aufmerksamkeit unter anderem auf die Schaffung einer den Erfordernissen moderner Kriegführung gemäßen Wehrmachtspitzengliederung gerichtet. Es mußte eine Organisation für die oberste Wehrmachtführung gefunden werden, die es erlaubte, die strategische und operative Planung wie die Führung der Teilstreitkräfte, Heer und Marine sowie etwaiger Luftstreitkräfte, zu koordinieren und einheitlich zu leiten. Hinzu trat das Problem der Organisierung und S. 106 ff.

(„Internal Disputes concerning the Organization of the High Command") ist ein materialreicher Überblick, jedoch im Detail fehlerhaft. Im folgenden wird darauf noch einzugehen sein. 53 Zum folgenden vgl. den knappen Abriß bei Meinck, S. 110 ff. " Ebd. 55 Es sollte weiter ein Chef der Rüstung und ein Wehrmachtwirtschaftsstab geschaffen werden.

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

217

Führung des gesamten Kriegspotentials der Nation im Kriegsfalle. In seiner neuen Position nahm er, dem als einstigem Chef des Truppenamtes die sachlichen Gegebenheiten und Notwendigkeiten vertraut waren, dieses Problem erneut tatkräftig in Angriff, wobei er die unter dem neuen Regime veränderten Verhältnisse zu berücksichtigen hatte. Infolge der politisch-staatlichen Umstrukturierung entfiel für ihn der gesamte parlamentarische Aufgabenbereich. Demgegenüber mußte er jedoch mit neuen Schwierigkeiten aus folgendem Grunde rechnen. In der Weimarer Zeit besaß der Reichswehrminister gesetzlich wohl die militärische Kommandogewalt, war damit eben militärischer Vorgesetzer. Die Heeresleitung, vor allem Seeckt, hatte diesen Tatbestand jedoch de facto ignoriert, und ein Mann wie Gessler hatte ihr auch weitgehend die Ausübung dieser seiner Befugnisse überlassen56. Jetzt aber, unter dem neuen Regime, war ein General des Heeres Reichswehrminister und Oberbefehlshaber der Streitkräfte geworden. Damit mußte die Selbstherrlichkeit der Chefs der Heeres- bzw. Marineleitung ihr Ende finden; ihre Instanzen drohten damit gleichsam mediatisiert zu werden57. Damit wurde fraglos auch ein persönliches Moment in das sachliche Problem hineingebracht. Der neue Oberbefehlshaber der Wehrmacht mußte also sachlich wie psychologisch erst seine Position zwischen Staatsführung und den Chefs der Teilstreitkräfte finden. Blombergs Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht war so lange nur von formaler Bedeutung, wie ihm eine entsprechende Dienststelle oder ein entsprechender Stab fehlte, mit dem er seine Kommandogewalt als Oberbefehlshaber der Wehrmacht auch praktisch ausüben konnte. Hierzu bot sich das von Reichenau im Reichswehrministerium geleitete Ministeramt geradezu an. Bei der ständigen Spannung zwischen Fritsch und dem Chef des Ministeramtes kam ein weiteres persönliches Moment hinzu. Reichenau selbst hatte schon seit längerem auf eine angemessene und wirksame Wehrmachtführung gedrängt; er beabsichtigte daher von Anbeginn, das Ministeramt zu einem echten Oberkommando der Wehrmacht zu entwickeln58. In seiner Ära wurden bereits entscheidende organisatorische Änderungen durchgesetzt, die deutlich auf den Ausbau eines echten Wehrmachtoberkommandos abzielten. Rein optisch kam das in der am 12. Februar 1934 erfolgenden Umbenennung des Ministeramtes in „Wehrmachtamt" zum Ausdruck59. Vor allem schuf er in diesem Wehrmachtamt die Abteilung Landesverteidigung60, die das Führungsorgan Blombergs in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Wehrmacht war. Diese Abteilung, die Offiziere von Heer, Kriegsmarine und bald darauf auch der Luftwaffe umfaßte, sollte operative und organisatorische Aufgaben der Gesamtwehrmacht sowie die Einsatz-Weisungen Blombergs an Heer, Marine und Luftwaffe bearbeiten. Weiter oblag ihr Vorbereitung und Durchführung von Wehrmachtkriegspielen. Vorerst jedoch standen noch organisatorische Aufgaben im Vordergrund. -

-

56

Für die beiden konträren Positionen vgl. Otto Geßler, Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit, von Kurt Sendtner, Stuttgart 1958, und Carsten, passim. Über die Stellung Hammersteins vgl. unten S. 59 f. Meinck, S. 220, Anm. 76. Ebd. S. 81 f. Diese Umbenennung sollte zeigen, daß in diesem Amt echte Wehrmachtsfragen

hrsg. 67

58 59

bearbeitet würden. 69 Ihr erster Leiter

war

Oberst i. G.

von

Vietinghoff gen.

Scheel.

V. Probleme der

218

Außenpolitik und der Führungsorganisation

Einige Monate später, am 1. November 1934, wurde als zweite wichtige Maßnahme im Zuge des Aufbaus einer zentralen Wehrmachtführung eine Abteilung Wehrwirtschaftsund Waffenwesen im Wehrmachtamt eingerichtet61. Blomberg verfügte damit Ende 1934 in Gestalt des Wehrmachtamtes über seinen Stab, der ihm die Ausübung des Oberbefehls über die Wehrmacht ermöglichte. Zugleich waren die Voraussetzungen für den weiteren Ausbau und Aufbau eines Wehrmachtgeneralstabes bzw. eines Wehrmachtführungsstabes geschaffen. Der Leiter des Wehrmachtamtes besaß allerdings keinerlei Befehls- oder Kommandogewalt über die Wehrmacht und stand im Range erheblich unter den Oberbefehlshabern der Wehrmachtteile. Weisungen oder Befehle wurden allein kraft der Befehkgewalt des Reichskriegsministers und Oberbefehlshabers der Wehrmacht erlassen62. Im großen und ganzen hatte Reichenau jedoch, trotz zeitweiligen Drängens des Ministers, den Ausbau des Wehrmachtamtes recht behutsam, bisweilen gar zurückhaltend, betrieben63. Die Gründe dafür, über die man nur Vermutungen anstellen kann64, mögen einmal taktischer Natur gewesen sein, weiterhin hatte Reichenau auch Ambitionen auf das Amt des Oberbefehlshabers des Heeres, da er wie viele andere bereits sah, daß die Zeit des im Amt befindlichen Chefs der Heeresleitung, des Generals v. Hammerstein-Equord, über kurz oder lang abgelaufen war. Wenn er, Reichenau, dann Chef der Heeresleitung geworden wäre, hätte sich eine Wehrmachtführung nach seinem Sinne ohne größere Schwierigkeiten verwirklichen lassen. Daher wollte er vielleicht, um die Chancen seiner Kandidatur für die Stellung des Chefs der Heeresleitung nicht zu gefährden, das Heer sich nicht durch einen forcierten Ausbau einer übergeordneten Wehrmachtführung zum Feinde machen. Vor allem jedoch mußte er sich sagen, daß die Verwirklichung des von ihm vertretenen Konzeptes der Machtteilhabe und des Mitspracherechtes der Streitkräfte die innere Einheit und Festigkeit der Armee zur Voraussetzung hatte. Ein über die Wehrmachtspitzengliederung ausgebrochener interner Streit hätte das politische Gewicht der Streitkräfte gemindert und ihre Position im neuen Staat (und damit auch Reichenaus eigene Position)

beeinträchtigt. Dieser

politische Aspekt

wurde indessen

vom

Nachfolger Reichenaus,

dem General

61 Ihr Leiter wurde Oberst i. G. Thomas, der bisherige Chef des Stabes beim Heereswaffenamt. Die neue Abteilung des Wehrmachtamtes entstand aus der Herauslösung der Wehrwirtschaftsabteilung des Heereswaffenamtes aus der Heeresleitung und ihrer Eingliederung in das Wehrmachtamt. 62 In den Fällen, in denen das Wehrmachtamt im Namen des Oberbefehlshabers der Wehrmacht nach außen in Erscheinung trat, führte es die Bezeichnung Oberkommando der Wehrmacht. Sie taucht bereits Ende 1936 in den Akten auf. Lediglidt die Bezeichnung Chef OKW anstatt Chef Wehrmachtamt ist im Februar 1938 aufgekommen. Wann die Bezeichnung OKW genau aufgekommen ist, läßt sich nicht mehr feststellen. Vgl. Warlimont, S. 22, Anm. 5. 63 Keitel, S. 83, führt den mangelnden Nachdruck, den Reichenau trotz grundsätzlidier diesbezüglicher Absicht beim Ausbau des Wehrmachtamtes an den Tag legte, darauf zurück, daß Reichenau Zeit, Mühe und Schwierigkeiten scheute. Er sei überhaupt nicht ein Mann ernster und geregelter Arbeit gewesen. 64 Meinck, S. 114-115, meint u. a., daß das Zögern Reichenaus bis zum Jahresanfang 1934 vielleicht dadurch erklärt werde, daß die geheime deutsche Aufrüstung erst zu diesem Zeitpunkt in ein akutes Stadium trat, in dem eine erhebliche Änderung der Spitzengliederung gerechtfertigt war.

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

219

Keitel65 und dessen Chef der Abteilung Landesverteidigung66, Oberst i. G. Jodl67, nicht beachtet. Sie brachten vielmehr eine spürbar größere Dynamik in die Entwicklung hinein; vor allem aber berücksichtigten sie in ihrem leidenschaftlichen Sachfanatismus wie aufgrund einer gewissen ideologischen Faszination das Politikum des Problems nahezu überhaupt nicht. Beide Offiziere waren überzeugte Verfechter68 einer einheitlichen Wehrmachtführung. Sie strebten unablässig mit Zähigkeit und Tatkraft danach, die Kompetenzen des Wehrmachtamtes zu erweitern und den Anspruch des ObdW auf die tatsächliche oberste Führung der Wehrmacht durchzusetzen69. Ihr Ziel war der Ausbau des Reichskriegsministeriums zu einem echten Wehrmachtministerium, das auch die noch zum Luftfahrtministerium Görings gehörende Luftwaffe einschließen sollte, sowie die Bildung eines aus der Abteilung Landesverteidigung hervorgehenden Wehrmachtsgeneralstabes70. Bis Ende 1935 hatten sie die Bearbeitung aller die drei Wehrmachtteile gemeinsam berührenden Fragen auf militärischem, politischem, wirtschaftlichem, finanziellem und rechtlichem Gebiet im Wehrmachtamt weitgehend zentralisiert71. Daß sie damit ganz im Sinne Blombergs handelten, war klar. Blomberg faßte seine grundsätzlichen Ansichten in einem Passus einer Rede zusammen, die er am 15. Oktober 1935 anläßlich der Feier zum 125jährigen Bestehen der Kriegsakademie hielt72. Er sagte damals: „Man darf... den einzelnen Gegenstand, das Heer, nicht ohne das Ganze, die Wehrmacht, betrachten. Alle Teile der Wehrmacht müssen aufeinander abgestimmt sein, um eine harmonische Gesamtlösung zu ergeben. Aus der Dreiheit von Heer, Marine und Luftwaffe ist die Dreieinigkeit der neuen Wehrmacht geschaffen worden. Das setzt wechselseitige Kenntnis, gegenseitiges Verstehen und Zurückstellen von Sonderinteressen der einzelnen Wehrmachtteile voraus." Bezeichnend für Keitel und Jodl war es, daß ihr Streben nach dem Aufbau einer einheitlichen, organisch integrierten obersten Wehrmachtführung nicht bloß rein sachWilhelm Keitel,

geb. 1882 in Helmscherode, hingerichtet 1946 in Nürnberg; Leutnant 1902 1929 Abt.Leiter T 2/TA, 1934 Generalmajor, 1. 10. 35 Chef des Wehrmachtamtes, 1938 Chef OKW, 1940 Generalfeldmarschall. 66 Über die Abt. Landesverteidigung vgl. Warlimont, S. 19. 67 Alfred Jodl, geb. 1890 in Würzburg, hingerichtet 1946 in Nürnberg; Leutnant 1912 (bayr. Feldartillerie), 1939 Generalmajor, 30. 1. 44 Generaloberst. 68 Wie aus Keitel, S. 83 ff., hervorgeht, war es nicht, wie bisweilen in der Literatur behauptet, lediglich Jodl, der mit Nachdruck die OKW-Konzeption verfocht, sondern auch Keitel. 69 Laut Warlimont, S. 25, hat Jodl um der Durchsetzung der OKW-Lösung willen sogar das ihm angetragene Amt des Generalstabschefs der Luftwaffe ausgeschlagen. 79 Warlimont, S. 25. 71 Im Oktober 1935 wurde eine „Wehrmachtakademie" in Berlin gegründet, deren Betreuung der Abteilung Landesverteidigung oblag. Sie kam jedoch nach geraumer Zeit infolge des passiven Widerstandes der Teilstreitkräfte zum Erliegen. Darüber sehr aufsdilußreich die (unveröffentlichten) Memoiren von Admiral Dr. h. c. Otto Groos, der Lehrer an der Wehrmachtakademie war: „Als Seeoffizier in Krieg und Frieden" (MGFA/DZ K 08-12/2). Vgl. MGFA/DZ H 35/101 Sammelmappe, Mai 1936, Vorträge an der Wehrmachtakademie über das Problem des gemeinsamen Oberbefehls über die Teilstreitkräfte. 72 Text in MGFA/DZ W 01-5/185, auch abgedruckt in: Wissen und Wehr, 1935, Heft 11, S. 750 ff. 65

(Artillerist),

220

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

lich-militärischen Impulsen entsprang. Der spätere Stellvertretende Chef des Wehrmachtführungsstabes, General Warlimont, sagte dazu im Nürnberger Prozeß73: „Jodl hatte zweifellos den Ehrgeiz, aus dem kleinen Kern allmählich eine wirkliche Wehrmachtführung zu entwickeln. Das entsprach nicht nur seiner militärischen Überzeugung, sondern es sprachen dabei auch ideologische Gesichtspunkte mit. Er hielt den Generalstab des Heeres für eine allzu stark von Tradition belastete Einrichtung... und strebte danadi, etwas Neues, mehr dem neuen Staat und seinen Erfordernissen Rechnungtragendes an die Stelle zu setzen." Die beiden Offiziere waren der Überzeugung, daß die Institution eines Heeresgeneralstabes im Sinne eines Großen Generalstabes, der bei allen außenpolitischen Angelegenheiten, die eventuell mit militärischen Machtmitteln ausgetragen werden mußten, und deshalb auch bei der Vorbereitung und Planung der kriegerischen Auseinandersetzung entscheidenden Einfluß hatte, mit der nationalsozialistischen Weltanschauung unvereinbar sei. Nach ihrer Ansicht74 „entsprach es dem Begriff des autoallen Zweigen der Staatspolitik ritären Führerstaates, daß das Staatsoberhaupt in führte, d. h. befahl". Dieses Prinzip fand „ganz naturgemäß auf militärischem Gebiet eine besonders günstige Anwendungsform. Für die nationalsozialistische Ideologie ist es aber der ,Führer', der in einem bestimmten Bereich allein zu bestimmen hat. Negativ bedeutet dies die Ablehnung jeder verantwortlichen Zusammenarbeit des Führers mit den Beratern." Keitel und Jodl sahen das nationalsozialistische „Führerprinzip als ein grundlegendes" auch für den militärischen Bereich an. Demgemäß waren sie der Meinung, „daß es in dieser Zeit nicht wesentlich sei, überkommene Begriffe und Einrichtungen zu erhalten ...". Die Position der beiden Offiziere in der Frage der Spitzenorganisation war also entscheidend von ideologischen Überzeugungen mitbestimmt75. Dabei war es jedoch typisch für ihre wohl ideologisch-gläubige, aber in der Substanz zutiefst unpolitische Einstellung76, daß ihnen die realen Konsequenzen gar nicht klar wurden, die ihre Einstellung für die machtpolitische Position der Streitkräfte im Staat haben mußte. Ihre grundsätzliche Anerkennung des nationalsozialistischen Führerprinzips hätte die absolute Instrumentalisierung der Streitkräfte im totalitären Staat bedeutet. Der diametrale Gegensatz zu dem Konzept Reichenaus77, das im Prinzip auch von der Heeresleitung geteilt wurde, ist offenkundig. ...

OKW-Prozeß, Fall XII, Protokoll 6217 ff. Vgl. auch IMT XXVIII, S. 345 ff. (Jodl-Tagebuch). Eidesstattliche gemeinsame Erklärung Jodls und Keitels vom 29. 3. 46 „Oberkommando der Wehrmacht und Generalstab": IMT XL, S. 361 ff. (Dokument Keitel 9). Vgl. audi ebd. S. 355 ff. (Dokument Keitel 8) die eidesstattliche Erklärung Keitels vom 8. 3. 46 über „Das Problem der 73 74

-

Koordinierung in Staat und Wehrmacht". -

Das zeigte sich u. a., als Keitel in der Fritsch-Krise gegenüber dem als neuen ObdH in Aussicht genommenen Brauchitsch das Verlangen nach Anerkennung der Wehrmachtspitzengliederung mit der Forderung, „das Heer näher an den nationalsozialistischen Staat heranzuführen" verband. 75

(Siehe unten Kap. VI.)

76

General a.D. Warlimont (Mitteilung an das MGFA vom 25. 11. 1966) bezeichnete Jodl ebenfalls als „gänzlich unpolitisch" und erklärte daraus Jodls unkritische Übernahme von Hitlers Ansichten, Urteilen und ideologischen Vorstellungen. Vgl. auch das Verhalten der beiden Offiziere in der Blomberg-Fritsch-Krise. 77 Das Paradoxon liegt darin, daß von Reichenaus eigener Schöpfung, dem Wehrmachtamt, aus das Kernstück seines Konzeptes die Eigenständigkeit der Armee in Frage gestellt wurde. -

-

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

221

Bei der Realisierung ihres Konzeptes stießen die Verfechter einer „Wehrmachtlösung" auf stärksten Widerstand. Die Marine ignorierte die Bestrebungen des Wehrmachtamtes nahezu vollständig. Die Tatsache, daß den aus dem Heer hervorgegangenen führenden Offizieren des Wehrmachtamtes die Marine ein sachfremder Bereich war, erleichterte der Marineleitung die Erhaltung ihrer autonomen Stellung. Weiter gelang es dem Wehrmachtamt nicht, die Luftwaffe in ihr Konzept einzubeziehen78. Deren Oberbefehlshaber, Göring, stand als Reichsminister der Luftfahrt in gleichem Range wie Blomberg, wodurch dessen Vorgesetztenverhältnis als Reichskriegsminister gegenüber Göring als dem Oberbefehlshaber der Luftwaffe an Wirksamkeit verlor. Als Beauftragter für den Vierjahresplan (seit Oktober 1936) hatte er ein Weisungsrecht gegenüber obersten Reichsbehörden, also auch gegenüber dem Reichskriegsminister. Als Vertrauter und alter Mitkämpfer besaß Göring zudem bei Hitler einen erheblichen Rückhalt. So blieben die höchsten Dienststellen der Luftwaffe auch nach dem 16. März 1935 weiterhin dem Luftfahrtministerium und nicht dem Reichskriegsministerium eingegliedert. Insbesondere aber gelang es nicht, den erbitterten grundsätzlichen Widerstand des Heeres gegen die Konzeption eines Wehrmachtführungsstabes zu überwinden. Praktisch entstanden die Auseinandersetzungen mit der Führung des Heeres vor allem dann, wenn Blomberg mit seinen Weisungen, die er zum Zwecke der Koordinierung aller Vorarbeiten der drei Wehrmachtteile im Gesamtrahmen der Landesverteidigung erließ, den ureigensten Bereich des Heeres berührte, nämlich bei Fragen der Landkriegführung. Dazu neigten die dem Heer entstammenden führenden Offiziere des Wehrmachtamtes um so mehr, je weniger ihnen ein Einfluß auf Marine und Luftwaffe möglich war79. Indessen waren die jeweiligen akuten Differenzen mit dem Heer Symptome eines prinzipiellen Gegensatzes. Auf den ersten Blick mag die Ablehnung der Heeresleitung erstaunen. War doch eigentlich ein Teil ihrer früheren Forderungen nunmehr realisiert worden: die oberste Wehrmachtführung war doch in den Personen Blombergs, Keitels und Jodls in den entscheidenden Positionen mit Heeresoffizieren besetzt. Allerdings war nicht wie es früher, als die Reichswehr noch einen zivilen Minister hatte, vorgesehen gewesen war der Chef der Heeresleitung in die Wehrmacht-Generalissimus-Funktion eingerückt. Innerhalb der Heeresleitung hatte sich der Prozeß der Gedankenbildung über dieses Problem seit 1933 sehr eigenständig und eigenwillig weiterentwickelt. Nicht zuletzt hing das mit der Persönlichkeit80 und den Auffassungen81 des Generals Beck zusammen, der am -

-

78 79 80

Zu diesem Komplex vgl. Warlimont, Vgl. hierzu Warlimont, S. 24.

S. 24-25.

Außer den Büchern von Foerster: 1. Ein General kämpft gegen den Krieg Aus nachgelassenen Papieren des Generalstabschefs Ludwig Beck, München 1949; 2. Generaloberst Ludwig Beck, Sein Kampf gegen den Krieg Aus nachgelassenen Papieren des Generalstabschefs, München 1953 (überarbeitete Neuauflage von Nr. 1); 3. in: NBD, Bd I, S. 699, vgl. zu Beck auch: Gert Buchheit, Ludwig Beck. Ein preußischer General, München 1964, und Hans Speidel, Ludwig Beck, in: Die großen Deutschen, Bd I, Berlin 1956, S. 564 ff. (auch als Einleitung abgedruckt in: Ludwig Beck, Studien, hrsg. und eingeleitet von Hans Speidel, Stuttgart 1955 (fortan zit. Speidel). 81 Hierzu Graml, passim, und Wilhelm Ritter von Schramm (Hrsgb.), Bede und Goerdeler. Gemeinschaftsdokumente für den Frieden 1941-1944, München 1965; ders., Generaloberst Beck und -

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V. Probleme der

222

Außenpolitik und der Führungsorganisation

1. Oktober 1933 das Amt des Chefs des Truppenamtes übernahm, das seit 1. Juli 1935 in Chef des Generalstabes des Heeres umbenannt war. Alle, die Beck kannten, rühmen ihn als einen charaktervollen, lauteren und uneigennützigen Mann, den strenge Selbstdisziplin und waches Verantwortungsgefühl auszeichneten; er war ein Soldat, in dem umfassende Bildung, feinsinnige Geistigkeit und innere Vornehmheit eine harmonische Synthese mit hoher beruflicher Qualifikation eingegangen waren. Selbst eine ausgeprägte menschliche und soldatische Persönlichkeit, forderte Beck vom Offizier „das Aufgehen von Verstand, Herz und Wille im Charakter"82. Wiederholt zitierte er Verdy du Vernois' Wort, daß „die kriegerischen Tugenden überwiegend mehr im Charakter als im Wissen" wurzelten, und mit Albert Sorel war er der Überzeugung, daß der „Charakter ein Wert [sei], der höher liegt als der Mut, eine Festigkeit der Seele und Härte des Geistes..." Vom Generalstabsoffizier verlangte er bei der operativen Arbeit unbestechliche Klarheit und Nüchternheit in Beurteilung und Berichterstattung, Folgerichtigkeit und Kühnheit im Entschluß83. In seiner Rede zur Feier des 125jährigen Bestehens der Kriegsakademie am in systema15. Oktober 1935 sprach er84 von der „Erziehung und Schulung des Geistes tischer Denkarbeit, die Schritt um Schritt unter gewissenhafter Sicherung des einmal Erfaßten das Problem durchdringt". Er warnte, nichts sei gefährlicher als die „sprunghaften, nicht zu Ende gedachten Eingebungen, mögen sie sich noch so klug oder genial ausnehmen oder... Wunschgedanken, mögen sie noch so heiß gehegt werden. Wir brauchen Offiziere, die den Weg logischer Schlußfolgerungen in geistiger Selbstzucht systematisch bis zu Ende gehen, deren Charakter und Nerven stark genug sind, das zu tun, was der Verstand diktiert." Das war ebenso sehr Postulat wie Selbstcharakteristik. Von ihm stammt das Wort, der Chef des Generalstabes müsse unbedingt nach dem leben und handeln, was er lehre. Das tat Beck mit der ihm eigenen Konsequenz. Und so mochte manch einer wohl bisweilen als Starrsinn auffassen85, was ihm Überzeugungstreue war; und seine Untergebenen, erfüllt von Bewunderung, als Jüngere aber nicht ohne Kritik, klagten manches Mal, wenn sie die allzu große Bedächtigkeit, wohl auch Umständlichkeit88 des ...

...

...

der Durchbruch

deutschen Wehrtheorie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage B 8 (1962), S. 65-74, und ders., Zur außenpolitischen Konzeption Becks und Goerdelers, ebd. B 29 (1964), S. 29-45. 82 Hierzu Speidel, S. 13, dort auch die im Text folgenden Zitate. 83 Ebd. S. 12 f. 84 Originaltext dieser Rede in MGFA/DZ OKW 898 (dort auch die Texte der bei derselben Gelegenheit gehaltenen Reden von Blomberg, Fritsch und Liebmann), auch abgedruckt in: Wissen und Wehr, 1935, Heft 11, S. 744 ff. 85 Das hat Halder bisweilen in der Haltung Becks 1938-1940 empfunden (Mitteilung Generaloberst a.D. Halder an das MGFA vom 15.10. und 10.11.1965): Wer seinen Gedanken nicht bedingungslos gefolgt, den konnte er als Gegner empfinden. Bede sei tiefschürfend und ungeheuer gründlich gewesen; die Kehrseite dessen war wohl dann auch ein gewisser Mangel an geistiger zur

zu

einer

neuen

Wochenzeitung „Das Parlament",

Beweglichkeit. 86 Speidel, S. 10, berichtet

von Becks „Langmut", „Verschlossenheit". Heusinger (Mitteilung an das MGFA vom 16. 2. 1966) berichtete, daß seine Mitarbeiter bisweilen über Becks penible Art schier verzweifelt gewesen seien. Ihre Vorlagen vom Abend zuvor erhielten sie oft am nächsten Morgen schon mit seitenlangen Stellungnahmen von Beck zurück. Heusinger legte einmal Beck

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

223

Chefs irritierte, dem das Wägen mehr lag als das Wagen87. War es erstaunlich, wenn bisweilen dynamische Tatmenschen sich an dem „soldat-philosophe" rieben, wenn kühle Realisten den Prediger allgemeingültiger Prinzipien in dieser oder jener Situation nicht mehr verstanden88? Sicherlich hat seine persönliche Art und Eigenart auch den Stil der Auseinandersetzung mit der Wehrmachtführung über die Spitzenorganisation geprägt89; denn in diesem Konflikt war Ludwig Beck auf seilen der Heeresleitung der große

Protagonist. Die Grundlage des

von ihm vertretenen Standpunktes des Heeres bildete dabei eine, für ihn typische, stark im Historischen wurzelnde sehr hohe, strenge Auffassung von seinem Amt und von Aufgabe und Pflichten des Generalstabes90. Ungeachtet des Wandels, dem auch das Amt des Generalstabschefs unterworfen war, nicht zuletzt infolge der Unterordnung unter einen Chef der Heeresleitung und den zum ObdW ernannten Kriegsminister91, orientierte sich seine Amtsauffassung noch am Leitbild eines Moltke, eines Schlieffen92. Sie waren ihm dabei jedoch nicht allein leistungsfordernde, maßstabsetzende Vorbilder für sich selbst; an ihrer und der Stellung des einstigen Großen Generalstabes der preußisch-deutschen Armee orientierte er auch Anspruch und Forderung, die er für das Truppenamt und den neuen Generalstab des Heeres erhob. Der neue Generalstab bildete für ihn das Kernstück der Heeresleitung. Diese Grundlage seines Anspruches und

mit einer

respektvoll-unwilligen Bemerkung

einen 11. Entwurf vor, der sich kaum vom ersten mit feinem Lächeln meinte: „Nun, jetzt können wir sicher sein, daß er ganz gründlich durchgearbeitet und durchdacht ist." 87 Speidel, S. 13 (Beck habe bisweilen „das Wägen" überschätzt, was sich auch in gewissen politischen Entscheidungen zeigte). Heusinger (Mitteilung an das MGFA vom 16.2. 1966) berichtet, im Generalstab des Heeres hätten jüngere Offiziere den Slogan geprägt: „Beck wägt noch so lange, bis es zum Wagen zu spät ist." Manstein dagegen hat bezeugt (Foerster, S. 50; Speidel, S. 12), daß Beck bei Generalstabsreisen und Führungsübungen „in seinem Können, in der Klarheit seines Denkens, aber auch in der Kühnheit seines Entschlusses und der Folgerichtigkeit, mit der er ihn trotz aller Friktionen durchführte, weit über allen anderen Teilnehmern" gestanden habe. Daher ist Manstein überzeugt, „daß Beck auch im Kriege als Heerführer an allererster Stelle gestanden haben würde". 88 Das Zerwürfnis zwischen Halder und Beck seit 1938/39 mag hier seinen tiefsten Grund haben; vgl. Kap. VIII und XI dieser Arbeit. 89 Es kam so weit, daß Beck den Generalstabsoffizieren des Generalstabs des Heeres verbot, mit den Vertretern des OKW auch nur zu sprechen (bestätigt durch Mitteilung GenOberst a. D. Halder an das MGFA vom 10. 11.1965). Vgl. auch Warlimont, S. 25. 90 Vgl. Foerster, S. 42 ff. In seinen Erinnerungen schreibt Blomberg (BA/MA H 08-52/7), Beck sei „ein überaus gescheiter Mann" gewesen; allerdings sei ihm „seinerzeit aufgefallen, daß Beck seine Position als Chef des Generalstabes der Armee in einer hochgeschraubten Einschätzung ansah, mit... Moltke und Schlieffen als Vergleich, die mit der Wirklichkeit unserer Tage gar nicht mehr übereinstimmte". 91 Vgl. dazu Hoßbach, S. 150 f., und Foerster, S. 29 f. 92 Fritsch selbst habe einmal unter Hinweis auf Moltke und Schlieffen nachsichtig lächelnd festgestellt, daß Beck vielleicht doch eine etwas zu erhabene, unzeitgemäße Einstellung und Auffassung vom Generalstabe habe (Mitteilung GenOberst a.D. Halder an das MGFA vom 10. 11.

unterschied, worauf Beck

1965).

V. Probleme der

224

Außenpolitik und der Führungsorganisation

Selbstverständnisses war es, die die Position des Heeres im Streit um die Spitzengliederung bestimmte, und nicht so sehr die Argumentation, jeder Krieg, den Deutschland führe, sei primär ein Landkrieg, den das Heer vornehmlich zu tragen habe. Das beweisen die Gedanken zur militärischen Spitzenorganisation, die im Truppenamt bald nach Becks Amtsantritt entwickelt wurden. Es war die Zeit der ausgehenden Ära Hammerstein. Die Stel-

lung des Chefs der Heeresleitung war infolge der allgemeinen politischen Konstellation, infolge direkter Eingriffe des Ministers in den Bereich des Heeres und nicht zuletzt auch durch die fast demonstrativ zur Schau getragene Amtsmüdigkeit Hammersteins stark geschwächt. In dieser Periode formulierte Beck seine Auffassung und seinen Anspruch von Rang und Aufgaben des Generalstabes und dessen Chef. Ein Entwurf des Truppenamtes über „Die Befugnisse der obersten politischen und militärischen Führung in Krieg

und Frieden"93 vom 7. Dezember 1933, also rund zwei Monate nach Becks Amtsantritt04, zeigte bereits eindeutig die Tendenz, den Chef des Truppenamtes zum Chef eines über den nunmehr drei Wehrmachtteilen stehenden Wehrmachtgeneralstabes zu machen und zwar auf Kosten sowohl der Leitungen der Teilstreitkräfte als auch des Ministeramtes95 Der Entwurf sah vor, daß dem Reichsverteidigungsminister, welcher der verantwortliche Berater des Kriegskabinetts sei, „die militärische Kriegführung"96 obliege. Er ist also Generalissimus der Gesamtwehrmacht und gibt den Chefs der Heeresleitung und der Marineleitung sowie dem Luftfahrtminister die operativen Weisungen. Zur Vorbereitung und Durchführung dieser Weisungen steht dem Reichsverteidigungsminister-Generalissimus ein „Chef des Wehrmachtstabes"07 zur Verfügung. Die Aufgaben dieses „Chef des Wehrmachtstabes" also der Chef einer Art „Großer Generalstab der Gesamtwehrmacht" soll bereits im Frieden der Chef des Truppenamtes98 übernehmen90. Zweck und Absicht -

-

-

Original in MGFA/DZ H 1/319 b „Spitzengliederung der Wehrmacht" (vgl. Dok.-Anh. Nr. 25). S. 107 und 272, erwähnt dieses und andere Memoranden zur Spitzenorganisation. Er scheint aber nicht die Originale eingesehen zu haben; er zitiert dagegen von den Briten angefertigte „Extracts from German High Command Memoranda 1933-1934" unter der Chiffre GHCM als vertrauliches noch in britischem Gewahrsam befindliches Material. Die Originale sind jedoch schon wieder in deutschen Archiven zugänglich, z. T. sogar bereits publiziert (vgl. Dok.Anh. Nr. 25-27 und Anm. 117 dieses Kapitels). 84 Hammerstein hatte zu dieser Zeit bereits sein Abschiedsgesuch eingereicht. 95 Das Ministeramt, das spätere Wehrmachtamt, entwickelte bekanntlich selbst die Tendenz, eine Art Wehrmacht-Generalstab zu werden; es zog daher das „Abwehrfeuer" des Truppenamtes auf 93

O'Neill,

sich. 99 Als ObdW wird

er

in einem

Entwurf, dem damaligen Sprachgebrauch (vgl. „Chef der Heeresgenannt. Dieser Terminus meint den Oberbefehlshaber,

leitung") folgend, „Chef der Wehrmacht"

darf also nicht mit dem Chef des Stabes verwechselt werden. Also ein „echter" Chef des Stabes.

97 98

Dieser trug ab 1935 die Bezeichnung Chef des Generalstabes des Heeres. O'Neill, S. 107, hat entweder das Dokument mißverstanden oder einen schon in seiner Vorlage (GHCM) befindlichen groben Irrtum übernommen. Er schreibt nämlich: „the Chief of the General Staff [das ist also der Chef des Truppenamtes] should act in the capacity of Economic General Staff Officer to the Armed Forces Commander [= ObdW bzw. ,Chef der Wehrmacht'], while two other General Staff Officers were to be allocated to assist the Armed Forces Comman09

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

225

sind eindeutig: das Truppenamt und sein Chef sollen auf Kosten der Teilstreitkräfte-Chefs und des Wehrmachtamtes, das selbst ähnliche Ambitionen hegte, an die Seite des ObdW als dessen für die operative Leitung der Gesamtwehrmacht maßgeblichen Organ gestellt werden100. Reichskriegsminister/ObdW und Chef des Truppenamtes mit Truppenamt/Generalstab hätten damit die oberste Führung der Wehrmacht gebildet. Die Chefs der Teilstreitkräfte wären nur noch deren Ausführungsorgane gewesen. Etwa einen Monat später erfolgt mit einer Denkschrift vom 15. Januar 1934 eine Meinungsäußerung von Beck selbst101. Inzwischen hatte Hammerstein sein Entlassungsgesuch eingereicht und Fritsch, der zum 1. Februar 1934 Chef der Heeresleitung werden sollte, war bereits seit Jahresbeginn in der Bendlerstraße zur Einarbeitung. Beck konnte also nicht mehr mit jenem lässigen Desinteresse rechnen, wie es Hammerstein am Ende seiner Dienstzeit mehr denn je gepflegt hatte. Fritsch war aus anderem Holz geschnitzt. Er war nicht gewillt, sich auf die Seite drücken zu lassen. Becks Denkschrift ist daher bezüglich der Position des Chefs der Heeresleitung nicht ganz so kraß wie der Entwurf vom Anfang Dezember; aber die Tendenz, dem Chef des Truppenamtes entscheidenden Einfluß auf die Wehrmachtführung zu geben und ihn in eine Art Wehrmacht-Generalstabschef-Position zu bringen, ist unverkennbar. Beck stellte in der Denkschrift zunächst zwei Grundsätze auf: erstens sei „die Zusammenfassung der drei Wehrmachtteile unter einem Chef der Wehrmacht102 eine Notwendigkeit". Zweitens sei „jedoch dabei zu bedenken, daß das Heer auch in Zukunft den bei weitem größten und den ausschlaggebenden Teil der Wehrmacht bilden" werde. Der Chef der Wehrmacht, also der Generalissimus, hat im Kriege „die einheitliche Füh..

.

der with more general aspects of planning." Vgl. dagegen Abschnitt B2a des T2-Entwurfes: Dok.-Anh. Nr. 25. 109 Eine Stellungnahme der T 1 vom 14.12. 33 zu dem T2-Entwurf (H 1/319 b, T 1 Nr. 1207/33 gKdos.) macht noch weitere Vorschläge, die eindeutig auf eine Heraushebung des Truppenamtes hinauslaufen. So fordert die T 1 : „Nur der Chef des Wehrmachtsstabes [- der ja im Frieden der Chef des Truppenamtes sein sollte -] kann Berater in Fragen der Gesamtkriegführung sein." Das geht gegen den Chef der Heeresleitung ebenso sehr wie gegen den Chef des Wehrmachtsamtes. Der Akzent gegen das Ministeramt zeigt sich darin, daß die T 1 vorschlägt, „das Ministeramt wird zweckmäßig ebenfalls dem Chef des Wehrmachtsstabes [also de facto dem Chef des Truppenamtes] unterstellt... in dessen Ermessen es steht, die Selbständigkeit des Amtschefs [des Ministeramtes] für Vorträge beim Minister festzusetzen, um sich zu entlasten". Das zielte auf eine entscheidende Eindämmung des Wehrmachtamtes. In der Stellungnahme der T 4 (Ausbildungsabteilung) vom 16. 12. 33 wurde sogar festgestellt, daß im T2-Entwurf der Wehrmachtsstab „zu klein [sei], um seine Aufgaben erfüllen zu können" und erwogen, ob man nicht sogar Teile des Truppenamtes in den Wehrmachtsstab überführen solle. Der Gedanke wurde nur fallengelassen, weil man befürchtete, daß „alsdann die Überparteilichkeit des Stabes des Chefs der Wehrmacht von anderen Wehrmachtsteilen in Zweifel gezogen werden könnte." Demaskierender konnten die Intentionen des Truppenamtes nicht formuliert werden (vgl. Dok.-Anh. Nr. 26). O'Neills, S. 107 (die T4 habe gefordert, „that the OKW ought to be kept small") verkehrt den Tatbestand ins Gegenteil: die T4 schlug sogar die Aufstellung eines Rüstungs- und Versorgungsamtes auf Wehrmachtsebene vor. 191 MGFA/DZ H 1/319 b (Dok.-Anh. Nr. 27). ic2 wieder ¡st n;er m¡t Chef der Wehrmacht der Oberbefehlshaber der Wehrmacht gemeint. 15

226

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

rung103 und das Zusammenwirken der Wehrmachtteile nach den im Kriegskabinett fest-

politischen Richtlinien und Kriegszielen sicher"

stellen. Die Chefs der Teilstreitkräfte entwerfen nach den vom Generalissimus erteilten Weisungen die Feldzugspläne zu Lande, zu Wasser und in der Luft und erlassen alle operativen Weisungen und Befehle für die Kriegführung ihres jeweiligen Wehrmachtteiles. Hinsichtlich der operativen Planung wird also gegenüber dem Entwurf vom 7. Dezember 1933 den Chefs der Teilstreitkräfte und deren Stäben größere Selbständigkeit eingeräumt. Insbesondere sollte dann auch die Führung der Operationen den Oberbefehlshabern der Teilstreitkräfte überlassen bleiben. Dem Wehrmachtgeneralstab, also dem Stab des Generalissimus, wird zwar die Aufgabe zugewiesen, die „im Kriegskabinett... gefaßten Beschlüsse militärischen Inhalts in Befehle umzusetzen] und... die strategischen Weisungen an die Chefs der Heeresleitung, der Marineleitung und der Luftwaffe" zu entwerfen. Dazu war im Wehrmachtstab eine kleine Operationsabteilung vorgesehen104. Ausdrücklich wurde jedoch bestimmt, daß dem Chef dieses Wehrmachtstabes keine unmittelbare Einflußnahme auf die Operationen zustehe. Er wird als der „erste Gehilfe" des Generalissimus bezeichnet, der jedoch offensichtlich keine einem Chef des Generalstabes ähnelnde Position haben sollte; denn er sollte lediglich verantwortlich sein für die „Organisation des gesamten Geschäftsganges" im Wehrmachtstab. Diese Formulierung, seine vorgesehene Ausschaltung aus der Operationsführung und die Bestimmung, er habe mit seinem Stab lediglich strategische Beschlüsse in Weisungen „umzusetzen" also nicht selbst schöpferisch zu planen oder verantwortlich zu beraten -, all das zeigt, daß dem Chef des Wehrmachtstabes lediglich eine Art gehobene Bürochef-Stelle zugedacht war. Damit stellen sich zwei Fragen: erstens, wer sollte eigentlich die schöpferische Planung und die verantwortliche Fachberatung des Generalissimus übernehmen, also die Funktionen eines echten Generalstabschefs der Wehrmacht? Und zweitens, wie sollte die ausschlaggebende Rolle des Heeres, die Beck gleich zu Beginn seines Memorandums gefordert hatte, gewährleistet werden? Beide Fragen hängen sachlich eng zusammen. Die von Beck beabsichtigte Regelung beantwortet sie daher auch beide: Der Chef des Wehrmachtstabes wird, wie gesagt, auf eine Bürochef-Rolle beschränkt; Stellvertreter des Generalissimus ist dagegen der Chef der Heeresleitung; der Chef des Generalstabes des Heeres, den Beck historisierend „Chef des Großen Generalstabes" nennt, soll im Kriege den Titel „Erster Generalquartiermeister" führen. Das ist in Anlehnung an die Lösung gedacht, die 1916 für Hindenburg und Ludendorff gefunden worden war105: Der Wehrmachtgeneralisgesetzten

zu

-

Hervorhebung vom Verf. Wehrmachtgeneralstab sollte laut Anl. 2 der Denkschrift die Abteilungen für Operation, Organisation, Haushalt, Ausland/Abwehr und Zentrale Angelegenheiten umfassen. 105 Becks Verhältnis zu Ludendorff mag hier vielleicht mitgeschwungen haben. Er hat sich von einem aufrichtigen, allerdings nie unkritischen Bewunderer Ludendorffs (vgl. Dok.-Anh. Nr. 1) zu einem scharfen Kritiker (vgl. seine Studien) gewandelt. Immerhin war es Beck auch, der sich zeitweilig um einen Ausgleich zwischen Hitler und Ludendorff bemüht hat. Er war es, der 1935 an Ludendorff herantrat, um ihm die bei Hitler vom Reichskriegsminister und Chef der Heeresleitung vorgeschlagene Ernennung zum Generalfeldmarschall anzutragen: BA/MA H 08-28/2 (Brief und Briefentwurf Becks vom 24.2.35). Vgl. ebd.: Rundfunkansprache Becks vom 9.4.35 zum 103 104

Der

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

227

simus, der jetzige Kriegsminister, heißt „Chef der Wehrmacht"100, sein eigentlicher Generalstabschef erhält, da der „Chef"-Titel damit vergeben, die Bezeichnung „Erster General-

quartiermeister"; denn der eigentliche Generalstabschef der Wehrmacht im Kriegsfall würde notwendigerweise eben der Chef des Generalstabs des Heeres sein, da dem „geschäftsführenden" Wehrmacht-Stabschef ausdrücklich jeder Einfluß auf die Operationen genommen war. Dem Chef der Heeresleitung aber war nur die Führung der Operationen des Heeres im Kriegsfall zugedacht107. Die Planungsarbeit für die Gesamtwehrmacht im Frieden dagegen machte der Chef des Generalstabs des Heeres. Was war logischer, als ihm diese Funktion auf Wehrmachtsebene erst recht im Kriege zuzuweisen? Mit dem von Beck für sich vorgesehenen Titel „Erster Generalquartiermeister" war unter Berücksichtigung des Ludendorff-Vorbildes ein hoher Anspruch erhoben. Die ganze Denkschrift zielte also, abgesehen von den darin vorgeschlagenen Organisationsänderungen zweitrangiger Art, darauf ab, vor allem den Chef des Generalstabs des Heeres auf eine Art Schleichweg wieder in eine entscheidende Planer- und Beraterfunktion auf Wehrmachtebene zu bringen. In dem zum eigentlichen Wehrmachtgeneralstabschef im Kriegsfall avancierten Chef des Truppenamtes oder, wie er ihn nannte, Chef des „Großen Generalstabes", weniger jedoch im Chef der Heeresleitung108, sah Beck Anfang 1934 die Prärogative des Heeres in der Wehrmachtführung gewährleistet. Darin drückt sich die hohe Auffassung von seinem Amte und von sich als dem Inhaber dieses Amtes aus, eine Auffassung, die wie schon die von ihm gewählten Bezeichnungen „Großer Generalstab" und „Erster Generalquartiermeister" zeigen tief im Historischen wurzelte, die an für ihn lebendige Tradition, an historische Präzedenzfälle anknüpfte109. -

-

70. Geburtstag Ludendorffs. Vgl. dazu allgemein auch Wilhelm Breucker, Die Tragik Ludendorffs, Stollhamm 1953, S. 131 ff. ios j)er Chef der Heeresleitung sollte zudem gemäß Anlage 3 der Denkschrift „Oberbefehlshaber des Heeres (Chef des Generalstabes des Feldheeres)" heißen. Beck hatte damit den Chef- (= OB)Titel auch dem ObdH zugedacht und damit diesen sowie den Chef der Wehrmacht auf eine Konkurrenzebene gehoben, der „Erste Generalquartiermeister" dagegen hatte damit den Weg frei in die echte Stabschefstelle. 197 Bezeichnend ist das auffällige Bemühen Becks in der Denkschrift, den Chef der Heeresleitung über die ¡hm zugedachten Kompetenzabstriche zu beruhigen (vgl. die beiden letzten Absätze der Denkschrift). Andererseits sollte es Beck zum 1.2. 34 gelingen, dem Ministeramt die AttacheAbteilung zu entreißen, die wieder der T 3 des Truppenamtes angegliedert wurde (MGFA/DZ H 24/6, Chef des Truppenamtes Nr. 70/34 vom 1. 2. 34). 108 Diesem war lediglich die eventuelle Stellvertretung des Oberbefehlshabers der Wehrmacht

zugedacht.

199 Das Historisierende war überhaupt ein charakteristischer Zug bei Beck. Er sei wie Generaloberst a.D. Halder (Mitteilung vom 10.11.1965 an das MGFA) es formulierte stark retrospektiv eingestellt gewesen und suchte gerne für seine Arbeit historische Vor- und Leitbilder. Es -

-

sei für ihn charakteristisch gewesen, stets eine Stütze in der Vergangenheit zu suchen. Der Präsident der kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres und spätere erste Biograph Becks, Wolfgang Foerster, habe ihm oft historische Parallelfälle heraussuchen müssen. Letzteres findet z. B. in einem Brief Becks an Foerster vom 12. 5. 36 eine Bestätigung (MGFA/DZ II H 1008, fol. 67). Vgl. Dok.-Anh. Dok. Nr. 28. Vgl. auch Meinecke, Deutsche Katastrophe, S. 143 f., der berichtet, daß Hauptmann der Reserve Kaiser, ein Vertrauter Becks, ihn im Kriege über konspi-

V. Probleme der

228

Außenpolitik und der Führungsorganisation

Derartige Gedanken und Pläne mußten nahezu unvermeidlich auf den Widerstand des Chefs der Heeresleitung stoßen. Tatsächlich hat dann Fritsch auch, wie Hoßbach bezeugt110, zeitweise die Überzeugung gehegt, daß Beck dem Ziel nachginge, für den Generalstab des Heeres „die vor 1918 innegehabte selbständige Stellung zurückzugewinnen". Das hätte natürlich Fritschs eigene Befugnisse als Oberbefehlshaber des Heeres „überflüssig gemacht oder eingeengt". Die Kommandogewalt über das Heer und damit die Verantwortung für das Heer lagen aber nun einmal beim Chef der Heeresleitung/ObdH. Beck jedoch wollte nicht nur an der Arbeit, sondern auch an der Verantwortung beteiligt werden, an der Verantwortung auch im Namen des Heeres für die Gesamt-Wehrmacht-Strategie. Diese seine „hohe und ernste Auffassung von dem Wesen und den Pflichten des Generalauf Sachlichkeit und berechtigtem stabes", die so bezeugt wieder Hoßbach111 Selbstbewußtsein beruhte geriet ganz naturgemäß in Widerspruch zu den eng gezogenen Grenzen der ihm amtlich eingeräumten Stellung", in Widerspruch auch zum Chef der Heeresleitung/ObdH. Im Grunde hätten sie jedoch beide die oberste Wehrmachtgliederung als überspitzt angesehen und zugegeben112, daß eine der beiden Stellen, die des ObdH oder die des Chefs des Generalstabs des Heeres bei der gegenwärtigen Spitzengliederung überflüssig und entbehrlich wäre, da der Reichskriegsminister noch über beiden stand. An diesen Vorgegebenheiten der Lage jedoch konnten beide nichts ändern. Beck mußte bald erkennen, daß Fritsch nicht geneigt war, sich auf die Seite drängen zu lassen113. Fritsch erkannte an, daß logisch-sachlich die bestehende Gliederung zu berechtigten Ausstellungen Anlaß gab. Beide mußten sich mit dieser Lage abfinden. Beck oblag unter dem ObdH die Verantwortung für die sachgemäße Bearbeitung der Kriegsvorbereitungen und der Fragen der Kriegführung für den Bereich des Heeres, er war „der sachkundigste Mann auf diesem Gebiet, und doch konnte er aus eigener Verantwortung keine Entscheidungen treffen. Auch sein nächster Vorgesetzter, der Oberbefehlshaber des Heeres, blieb an die Kommandogewalt des Reichskriegsministers von Blomberg gebunden". Angesichts dieser Sachlage, die „den Fähigkeiten dieser beiden bedeutenden Soldaten nicht gerecht" -

„...

-

...,

wurde, fanden sie sich dann nach einer kurzen Periode sachlicher Differenzen zu harmoni-

scher Zusammenarbeit auf der Grundlage vollkommener innerer „Übereinstimmung in den Grundfragen des Lebens und Berufes sowie [ihrer beider] Charakterstärke"114. Seit rative patriotische Gruppen im 19. Jahrhundert um Auskunft angegangen sei (dazu vgl. die Eintragungen in Kaisers Tagebuch 1941, BA/MA H 90-3/6). 110 Hoßbach, S. 151 f., vgl. auch Foerster, S. 30-31. Hoßbach setzt den Konflikt „vom Sommer 1934 bis Mai 1935" an, was mir auf Grund des Memorandums vom Januar 1934 etwas spät erscheint. 111 Hoßbach, ebd. 112

Ebd.

1,3

Zu seinem langjährigen 1. Generalstabsoffizier sagte Fritsch einmal halb scherzhaft, Beck habe das Heer führen wollen und ihm, dem Chef der Heeresleitung, lediglich das „Redenhalten und Kränzeniederlegen" zugedacht. Darauf sei es wie Fritsch erzählte zu einer ernsten Aussprache zwisdien den beiden Männern gekommen, und seither sei es dann gut gegangen. (Mitteilung von Generalleutnant a. D. Curt Siewert vom 19. 7. 1966 an das MGFA.) 114 Hoßbach, S. 152: im Mai 1935 erlangte Beck die Unterschrift Fritschs unter die Bestimmun-

-

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

229

Mitte bis Ende 1935 ist daher ein einheitlicher Standpunkt der Heeresleitung zum Problem der Spitzengliederung erkennbar, und zwar in klarer Frontstellung gegen das Wehrmachtamt. Dem lag mehr zugrunde als der bloße Sachzwang zum internen Arrangement. Der Ausbau des Wehrmachtamtes in Richtung auf einen echten Wehrmachtgeneralstab und die Ansprüche, welche die führenden Persönlichkeiten dieses Organs erhoben, schufen eine geschlossene Front von ObdH und Chef des Generalstabes des Heeres. Jetzt ging es nicht mehr darum, wer von ihnen beiden Einfluß oder gar Stellung innerhalb der obersten Wehrmachtführung haben sollte. Jetzt ging es darum, dafür zu sorgen, daß Gewicht und Standpunkt des Heeres überhaupt auf der Ebene der Wehrmachtführung zur Geltung kam. Vor dieser Notwendigkeit, die beide Männer ganz stark empfanden, verblaßten die einstigen heeresinternen Spannungen. Trotz der Tatsache, daß mit Blomberg und Reichenau, auch mit Keitel und Jodl, Heeresoffiziere die maßgeblichen Posten auf der Wehrmachtführungsebene besetzt hielten, meinten Fritsch und Beck dennoch den Heeresstandpunkt nicht angemessen berücksichtigt. Der eine Grund dafür war zweifellos, daß der im Wehrmachtamt entstandene Führungsapparat ihnen einfach qualitativ nicht ausreichend erschien; Erfahrungen wie die unzulängliche Grundlage der Plan-Anweisung für die „Operation Schulung", auch die Vorfälle im Zusammenhang mit der Rheinlandbesetzung hatten das in ihren Augen bewiesen. Der andere Grund jedoch war, daß die von Keitel und Jodl in geradezu ideologischem Irrationalismus vertretenen Auffassungen von „der Prädominanz politischen Führertums" und ihre Ablehnung „überkommener Begriffe und Einrichtungen"115 den aufgezeigten Vorstellungen und Grundsätzen des Heeresgeneralstabes, wie sie Beck vertrat, diametral entgegengesetzt waren. Die historischtraditionelle, auf überkommenen Vorstellungen beruhende Auffassung, die vielleicht nicht mehr in allem zeitgemäß war116, die aber eigenständige Mitverantwortung für das Ganze anstrebte und auch mitzuübernehmen bereit war, traf damit auf die ahistorische, ideologische Position, der sachlicher Funktionsperfektionismus und instrumentale Zuverlässigkeit höchster Maßstab war. Diese Unvereinbarkeit der Standpunkte trat häufig hervor, vor allem, da bei den militärischen Planungen und Studien für etwaige. Einsatzfälle Fragen der Wehrmachtsführung unvermeidlich immer wieder auftauchten. Der Chef des Generalstabes des Heeres nahm Ende 1935 eine Stellungnahme zu einer Studie des Wehrmachtamtes über einen Mehrfrontenkrieg gegen die Tschechoslowakei und Frankreich zum Anlaß, um die Auffassung des Oberkommandos des Heeres darzulegen. Er schrieb in seiner Denkschrift117 vom 9. Dezember 1935: „Für die Führung des Krieges gegen Frankzur Wiederherstellung des Generalstabes und die von Beck entworfene Dienstanweisung des Chefs des Generalstabs des Heeres. Fritschs 1. Generalstabsoffizier (Mitteilung Generalleutnant a.D. Siewert vom 19.7.1966 an das MGFA) betont, beide Männer hätten sich gut ergänzt. Fritsch war ein Mann, der Entscheidungen fällen konnte; Beck sei mehr eine spekulative Natur gewesen. Vgl. auch Mitteilung Generaloberst a. D. Halder vom 10. 11. 1965 an das MGFA. 115 IMT XL, Dok. Keitel 9.

gen

-

-

116 117

Vgl. oben S. 223. Original in BA/MA

-

H 08-28/2, Nr. 33, auszugsweise abgedruckt bei Foerster, S. 39 f. Überschrift des Memorandums: „Der Oberbefehlshaber des Heeres und sein 1. Berater."

V. Probleme der

230

Außenpolitik und der Führungsorganisation

reich und die Tschechoslowakei118, der in erster Linie ein Landkrieg ist, liegt die Hauptverantwortung beim Heer. Es ist daher selbstverständlich, daß dem Oberbefehlshaber des Heeres das Maß an Einfluß auf die Kriegführung zugebilligt werden muß, auf das er als Führer der Landstreitkräfte Anspruch hat, soll er nicht zu einer nur ausführenden Kommandobehörde herabgedrückt werden. Dieser Einfluß erstreckt sich in erster Linie auf die militärische Führung des Krieges, er erstreckt sich aber auch auf seine politischen Grundlagen119. Er ist in erster Linie geeignet vorzuschlagen, was militärisch durchführbar und was nicht durchführbar ist. Er hat dazu im Generalstab die Stelle, die ihn berät und die an Umfang und Zusammensetzung entsprechend der Präponderanz des Landkrieges in ganz anderem Maße ausgestattet ist, wie der Stab des Oberbefehlshabers der Wehrmacht Unsere Kriegspläne ebenso wie die großen Operationen in einem Kriege es sein kann müssen das Ergebnis sorgfältigster und umfassendster Gedankenarbeit... sein Der Hauptteil dieser Gedankenarbeit liegt nun einmal in einem Lande von der militärischen Lage Deutschlands beim Heere. Dem muß der Oberbefehlshaber der Wehrmacht Rechnung tragen, oder er müßte den Landkrieg mit unmittelbarer Verantwortlichkeit für seine Vorbereitung und Durchführung selbst leiten. Das würde über seine Kraft gehen, in andersgearteten persönlichen Verhältnissen wie den heutigen auch über sein Können. Der Oberbefehlshaber des Heeres muß das Recht und die Pflicht des ersten und einzigen Beraters des Oberbefehlshabers der Wehrmacht für die Landkriegführung in allen entscheidenden Fragen für sich beanspruchen." Beck stellte zusammenfassend für die Aufgaben und Kompetenzen des Oberbefehlshabers des Heeres im Kriegsfall drei Forderungen auf: ,,a) Beteiligung bei allen wichtigen Fragen der Landesverteidigung bzw. Kriegsvorbereitung, auch im Kabinett bzw. beim Führer; b) Recht auf erste und einzige Beratung des Oberbefehlshabers der Wehrmacht in allen entscheidenden Fragen der Landkriegführung im Frieden und Krieg; c) Kommandogewalt im Krieg und Frieden über alle Teile des Heeres; die volle Selbständigkeit in der Führung der Operationen des Heeres im Kriege im Rahmen der vom Reichskriegsminister für die gesamte Wehrmacht ...

...

.

..

gegebenen Weisung." Der Chef des Generalstabes nahm also einen konkreten Einzelfall zum Anlaß, um die Auffassungen des Heeres zum Problem der militärischen Spitzengliederung prinzipiell darzulegen und entsprechende grundsätzliche Forderungen zu stellen. Diese umfaßten nichts weniger als ein Mitspracherecht des ObdH auch in politischer Hinsicht120, soweit 118 Beck begründet sehr geschickt die generelle Forderung der Heeresleitung am speziellen Fall eines Krieges mit der CSR und Frankreich, der naturgemäß primär dem Heer die Hauptlast und -aufgäbe bringen würde. 119 Hervorhebung vom Verf. 120 Hoßbach, Oberbefehl, S. 116, spricht davon, daß „die Ansicht, Fritsch und Beck hätten die Forderung gestellt, der Oberbefehlshaber des Heeres müsse ,der erste und einzige Berater des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht (Hitler) in den Fragen der Kriegsvorbereitung und der Kriegführung sein, soweit sie das Heer betreffen', keine Erklärung in der Beckschen Denkschrift vom 9. 12. 1935" finde, Sie hätten, so meint Hoßbach, lediglich die Forderung einer exklusiven Beratungsbefugnis des ObdW, also Blombergs, erhoben. Sicherlich haben Beck und Fritsch nicht daran gedacht, den ObdW mit seinen Forderungen beiseite zu schieben und über Blomberg hin-

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

231

Vorbereitung und Führung eines Krieges in Frage stehen, sowie in allen militärpolitischen Fragen; weiterhin enthielt sie den Anspruch auf eine exklusive Beraterfunktion des ObdH in Dingen der Landkriegführung und seiner vollen operativen Selbständigkeit. Die Forderung eines militärpolitischen oder gar teilweise politischen Mitspracherechtes stellte das „Führerprinzip" in Frage; der Anspruch auf eine exklusive Beraterfunktion und auf operative Selbständigkeit relativierte die Stellung des ObdW121, vollends jedoch die des Wehrmachtamtes bzw. Oberkommandos der Wehrmacht. Diese gleichsam auf das Ganze gehenden Forderungen waren nicht zuletzt auch Ausfluß der von Beck prinzipiell gepflegten Berücksichtigung aller bedeutenden Zusammenhänge, des Blickes auf die „Wohlfahrt des Ganzen" wie er es einmal ausgedrückt hatte122. In den nächsten Jahren änderte sich jedoch nichts. Vielmehr entwickelte das Oberkommando der Wehrmacht unter Keitel und Jodl eine immer weitergehende Aktivität, wonämlich

-

durch sich der Widerstand der einzelnen Wehrmachtteile, insbesondere der des Heeres, mehr und mehr versteifte. 1937 versuchten Keitel und Jodl den Plan durchzusetzen, anstelle der dem ObdH unterstehenden Wehrkreisbefehlshaber nunmehr Wehrmachtbefehlsweg für Fritsch die

Alleinberatung Hitlers in Anspruch zu nehmen. Das war unter den gegebenen Umständen einfach unmöglich. Da Beck Blomberg in seiner Stellung als ObdW und Minister nicht ausschalten konnte und wollte, forderte er in der Denksdirift vom 9.12.35 zweierlei: einmal für den ObdH das alleinige und erste Recht auf Beratung des ObdH und zweitens die Beteiligung des ObdH „bei allen wichtigen Fragen der Landesverteidigung bzw. Kriegsvorbereitung, auch im Kabinett bzw. beim Führer". Also nicht Beratung Hitlers durch Fritsch statt durch Blomberg, sondern Beratung beider, des Staatschefs und des ObdW, durch den ObdH sowie dessen Beteiligung an der Entschlußfassung auf beiden Ebenen. 121 Man könnte vermuten, daß auch hier auf einem Umwege Becks Ambitionen zum Zuge kommen sollten: da dem ObdH die ausschließliche Beratung zugedacht war, wäre dessen Generalstab de facto zum brain-trust der Gesamtwehrmacht geworden. 122

In seiner Rede zur 125-Jahr-Feier der Kriegsakademie (MGFA/DZ W 0-1-5/185). Dem späGeneral Dr. Speidel schrieb er am 11.10. 39 als eine gleichsam klassische Zusammenfassung seiner Einstellung: „Man macht sich als Deutscher, der nur die militärische Entscheidung kennt, leider durchweg keine zutreffende Vorstellung von der Art des Krieges, wie ihn die anderen führen wollen. In diesem Krieg spielt der Waffenkrieg nur eine untergeordnete, eine dienende Rolle. Der Schwerpunkt liegt auf anderen Gebieten." (Speidel, S. 568.) Beck sah immer auf das teren

er blieb nicht militärisch-fachlicher Verengung verhaftet, sondern zog die politischen, insbesondere die außenpolitischen Bedingtheiten und Abhängigkeiten mit in Erwägung. Bei seinen operativen Studien beschränkte er sich nicht auf den engen militärischen Bereich, sondern betrachtete immer auch die staatlichen Verhältnisse, die Wirtschaft, das Völkerrecht, die Völkerpsychologie. Deshalb suchte und fand er vielfältigen Gedankenaustausch mit zahlreichen Persönlichkeiten anderer Fachgebiete (vgl. Ritter, Goerdeler, S. 609: Kontakte zu Goerdeler, Jakob Kaiser, Leuschner, also zu oppositionellen Persönlichkeiten bürgerlicher oder sozialistischer Provenienz). Diese Kontakte werden damals mehr dem Wunsch nach umfassender Unterrichtung zum Zwecke einer eigenständigen, fundierten Urteilsbildung entsprungen sein als der Tendenz zu einer Sammlung oppositioneller Kreise. Aber in gewissem Sinne offenbart sich darin auch eine Art Zwangsläufigkeit. Unabhängige Köpfe werden bei dem Streben nach Orientierung angesichts des gleichgeschalteten Presse- und Informationsapparates einer totalitären Diktatur fast notwendig auf nicht-gleichgeschaltete Persönlichkeiten, und damit auf latent oder gar akut oppositionelle, stoßen. Das totalitäre Regime fördert somit indirekt derartige Kontakte.

Ganze,

V. Probleme der

232

Außenpolitik und der Führungsorganisation

haber einzusetzen, die dem Oberkommando der Wehrmacht unterstehen und in ihrem Befehlsbereich alle einheitlich für die Gesamtwehrmacht zu lösenden Aufgaben übernehmen sollten123. Dieses Projekt scheiterte am Einspruch des Heeres. Die Schärfe der Auseinandersetzung wird durch die Tatsache erhellt, daß der ObdH auf die erste Erörterung dieses Vorhabens hin um seine Entlassung nachgesucht hat124. Bei den zahllosen Reibereien im täglichen Dienstbetrieb zwischen den Wehrmachtteilen und der Wehrmachtführung, insbesondere anläßlich der Wehrmaditkriegspiele von 1936 und 1937, in denen das Oberkommando der Wehrmacht versuchte125, die im Kriegsfall auftauchenden Probleme durchzuspielen und die Oberbefehlshaber an eine zentrale Wehrmaditführung zu gewöhnen, traten die Gegensätzlichkeiten wiederum scharf zutage126.

Außenpolitisch sahen Fritsch und Beck vorsichtige Behutsamkeit vorerst noch als die beste und klügste Maxime an. Dementsprechend wandte sich der Generalstabschef Ende 1936 gegen eine Beteiligung deutscher Heereskräfte am spanischen Bürgerkrieg, da ein solcher Schritt die deutschen Kräfte dort in einen unübersehbaren und unkontrollierbaren Konflikt unter denkbar ungünstigen Umständen verwickeln könnte127. Karl-Heinrich v. Stülpnagel konnte daher mit Becks Zustimmung rechnen, wenn er in einem Brief vom 30. Dezember jenes Jahres die „nervöse Hast und Überstürzung unserer auswärtigen Politik" kritisierte und meinte: „So viele große Erfolge werden wieder eingeschränkt durch das Maß von Mißtrauen, Angst und Haß, das wir erwecken128." Nicht die allgemeine große Linie der Außenpolitik, schon gar nicht die errungenen Erfolge waren es, die Stülpnagel etwa ablehnte Beck dachte vermutlich ähnlich -, sondern die Methode. Sie erregte Sorge, Kritik, wohl auch Empörung. Vor allem sah man dadurch das Erreichte gefährdet. Stülpnagels anderer Satz: „Nun können wir wohl noch eine ganze Weile die Welt in Unruhe erhalten, aber ein Mal129 hat diese genug und ruft uns zur Ordnung"130, ...

-

123

Warlimont,

124

Tagebuch Jodl, IMT XXVII (Eintrag vom 27.1. 37 und 15. 7. 37).

S. 25.

Es erfüllte die Vertreter des OKH mit tiefer Genugtuung, daß das erste Wehrmachtmanöver Herbst 1937 dem Generalstab des Heeres übertragen werden mußte, da die Abteilung L personell und sachlich nicht in der Lage war, selbst Vorbereitung und Durchführung zu übernehmen (Bor, S. 78; Keitel, S. 84). Nach Mitteilung von Generaloberst a.D. Halder vom 10.11.65 an das MGFA hatte Fritsch ihn mit der Vorbereitung dieses Wehrmachtsmanövers betraut. Beck war 125

vom

nicht

eingeschaltet.

Bor, S.70 (Kriegsspiel 1936); Manstein, S. 292 ff. (Kriegsspiel 1937). 127 Krausnick, Vorgeschichte, S. 266. Allgemein vgl. Manfred Merkes, Die deutsche Politik gegenüber dem spanischen Bürgerkrieg 1936-1939, Bonn 1961 Bonner Historische Forschungen Bdl8. Nach Hoßbach, S. 42, und ADAP Bd III, Nr. 156 (vom 17. 12. 36) war Blomberg auch gegen den Einsatz weiterer Verbände in Spanien. 128 BA/MA H 08-28/2, fol. 104. Diese Zitate sind bei Krausnick, S. 266, der nur Auszüge aus dem Brief abdruckt, nicht wiedergegeben. Karl-Heinrich v. Stülpnagel war damals Kommandeur der 126

=

30. Infanterie-Division in Lübeck. 129

So im Original. Dieser Satz zitiert bei Krausnick. Der Brief fährt dann weiter fort: mir in diesem Zusammenhang, daß auch bei führenden Leuten der Partei, 130

„.

.

.

Sehr interessant ist

wenn man

vorsichtig

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

233

kennzeichnete in dieser Hinsicht seine und Becks Ansicht und Befürchtung. Aufmerksam beobachtete er daher den politischen Horizont nach jeder Richtung. Er hatte sich übrigens schon seit langem bemüht, möglichst umfassende und vielseitige Informationen, vor allem aus dem Ausland, zu erhalten. Der ihm nahestehende deutsche Militärattache in London, Generalmajor Geyr v. Schweppenburg131, übermittelte- ihm laufend, auch in privater Korrespondenz und bei langen Vorträgen in Berlin, Nachrichten aus der angelsächsischen Welt. Damit übte er fraglos einen starken Einfluß auf das Englandbild Becks aus132. Überall suchte der Generalstabschef seine Informationen. In den Jahren 1936-1937 bekam er beispielsweise über einen ihm bekannten ehemaligen Offizier und einen jungen Diplomaten auf privatem Wege zahlreiche Informationen über Italien und das italienische Kolonialreich, insbesondere die Verhältnisse im soeben eroberten Abessinien, Nachrichten mit einer stark negativen Beurteilung der Italiener133. Von Goerdeler, dem Fritsch bei Auslandsreisen mancherlei Hilfestellung gab und mit dem Beck ungefähr seit Mitte 1935 lockeren Kontakt hielt, erhielt er Informationen und Belehrung nicht immer ohne erhebliche subjektive Färbung über den ihm von Natur aus fremden Bereich der Wirtschaft134. Das Bemühen um möglichst umfassende und unvoreingenommene Orientierung, für denkende, selbständige Köpfe in einem gleichgeschalteten Staatswesen Notwendigkeit und inneres Bedürfnis zugleich, wird nicht selten auf das Streben anderer kritischer Persönlichkeiten stoßen, sich Gehör zu verschaffen. So gelangte Anfang Januar 1937 eine Denkschrift135 in Becks Hand, die er erst Hoßbach, dann Fritsch zur Kenntnis brachte136. In der Denkschrift, deren Verfasser uns unbekannt ist, wurde auf die ernste Wirtschafts-, Ernährungs- und Finanzlage hingewiesen, in die das Reich durch die Politik Hitlers -

-

vorfühlt, die Erkenntnis zu dämmern beginnt, daß nicht alles zum Besten steht, und das neuerdings auch äußern. Sie schielen immer mehr zu uns." 181 Vgl. Geyr von Schweppenburg, passim. 132 Ausarbeitungen General der Panzertruppe a. D. Leo Frhr. Geyr v. Schweppenburg über Beck und Reichenau (MGFA/DZ). Darin berichtet Geyr v. Schweppenburg, daß 1939 Reichenau ihm vorgeworfen habe: „Sie sind der Mann, der diese Auffassung [d.h. daß die Briten sich schlagen werden] Beck und Fritsch oktroyiert hat. Wenn unsere Armee sich heute der Staatsführung gegenüber in dieser Lage befindet, so sind Sie der Schuldige." 133 MGFA/DZ II H 1008/2, Briefwechsel mit Major a. D. Dr. Adolf Günther (enthält Abschriften von Briefen in italienischem Machtbereich ansässiger Deutscher) und Legationssekretär von Waldheim

letzterer informierte Beck im März 1937 persönlich. Hierzu Ritter, Goerdeler, S. 75, 140 f., 609. 135 In der ersten Auflage von Foersters Buch, Ein General kämpft gegen den Krieg, auf S. 44 ff. abgedruckt und irrtümlich Beck zugeschrieben (vgl. 2. Auflage Anm. 40). Das Original befindet sich im Beck-Nachlaß: BA/MA H 08-28/2, fol. 105 ff. Der Abdruck bei Foerster ist unvollständig (es fehlen 9 Zeilen) und nicht korrekt; abgesehen von zahlreichen stilistischen und orthographischen Änderungen und Verbesserungen ersetzt Foerster stets das Wort „Armee" durch „Wehrmacht" (mit einer bezeichnenden Ausnahme siehe weiter unten -). Unsere Zitate folgen dem

134

-

Original. 136 Das Original

-

ist von Beck am 6. 1., von Hoßbach am 7. 1. und von Fritsch am 11. 1. abgezeichnet worden. Daß Beck diese doch recht außergewöhnliche Denkschrift an den ObdH weitergegeben hat, zeigt immerhin, daß er sie nicht für unwichtig oder phantastisch hielt.

V. Probleme der

234

Außenpolitik und der Führungsorganisation

geraten sei. Was die Stimmung im Volk anbetreffe, so gehe „eine beängstigende Unruhe durch die Massen, sie fürchten den Krieg". Manche Reden der nationalsozialistischen Führer seien „allgemein als Kriegsvorbereitungen aufgefaßt worden". Das Volk sehe aber „keinen Grund zu einem gerechten Krieg ein". Versuche, „den Friedenswillen des Führers"137 gegenüber dem Volk zu betonen, „stoßen auf eine oft stumme Abwehr". In mit Ernst eine Frankreich und England dagegen müsse „der aufmerksame Beobachter wachsende Militarisierung der Geister... feststellen". Dort sei die Stimmung in letzter Zeit gegenüber Deutschland umgeschlagen138. Mit geradezu beschwörenden Worten wird nach dieser trüben Bilanz festgestellt, daß die Armee im Volk „ein fast unbegrenztes Vertrauen"139 genieße. Im Volke klammere man sich an die Hoffnung: „Die Armee wird kein Abenteuer zulassen, da stehen Kluge und Könner an der Spitze." Daraus so heißt es dann weiter geht hervor, daß „das Volk in seiner Gesamtheit die Armee mit der Verantwortung für etwaige Komplikationen140 belastet, und zwar ausschließlich. Sollte es... zu kriegerischen Verwicklungen kommen, so sind die moralischen Auswirkungen für die Armee unübersehbar... Auf der Armee141 liegt ganz ausschließlich die Verantwortung für die kommenden Dinge. Vor dieser Feststellung gibt es kein Ausweichen. In- und Ausland sind darin einer Meinung, und diese entspricht der Wahrheit." Das war ein massiver Appell an die politische Eingreifbereitschaft der Armee, wenn nicht gar ein Aufruf zur Intervention. Damit wird der Anonymus bei Beck wie bei Fritsch gewiß keine Resonanz gefunden haben142. Die politische Analyse dagegen, die nachdrücklichen Warnungen vor der Gefahr außenpolitischer, gar kriegerischer Verwicklungen, die Hinweise auf die bedenklichen innenpolitischen und ökonomischen Verhältnisse werden dagegen nicht nur auf aufmerksame Leser gestoßen sein, sondern das Lagebild vielmehr bestätigt und ergänzt haben, das man sich damals im Oberkommando des Heeres machte. Jedenfalls steht fest, daß Beck gerade 1937 mit besonderer Sorge die Entwicklung verfolgte, daß er, ohne jedoch schon grundsätzlich in Opposition zu stehen, die politischen Bewegungen der Regierung geradezu argwöhnisch beobachtete und daß er im Rahmen seiner Möglichkeiten zur Entspannung beizutragen sich bemühte. Er ergriff bereitwillig die Möglichkeit143, im ...

-

-

Es ist nicht zu erkennen, ob diese Formulierung ehrlich gemeint oder nur rhetorische Tarnung ist. Immerhin steht auf fol. 106 nach einer Schilderung des früheren Verhältnisses Armee-Monarch der von Foerster ausgelassene Satz: „Es wäre ein tragischer Irrtum, wenn man an verantwortlicher Stelle etwa die Gleichung zöge: Staatsoberhaupt gleich Staatsoberhaupt. Für die Armee trifft sie nicht zu, ihre Anwendung zum Zwecke der Selbstberuhigung wäre ein katastrophaler Irrtum, der für Deutschland unübersehbare Folgen haben könnte." 138 Dieser Passus fehlt ebenfalls bei Foerster. 139 Buchheit, Beck, S. 90, der diesen Satz zitiert, schreibt trotz der inzwischen erfolgten Berichtigung Foersters immer noch Beck die Denkschrift mit falschem Beleg (S. 359) zu. 140 Im Original unterstrichen. 141 Hier hat Foerster das ursprünglidie Wort „Armee" nicht, wie sonst durchgehend, geändert. 142 Vgl. das Verhalten beider Offiziere noch ein Jahr später im Verlauf der Fritsch-Krise (Kap. VI dieser Arbeit). 143 Vgl. Briefwechsel zwischen Beck und dem deutschen Militärattache in Paris, General v. Kühlenthal, vom März 1937: Dok.-Anh. Nr. 29 und 30. Daraus könnte man entnehmen, daß die 137

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

235

Rahmen eines formal privaten, tatsächlich aber stark von politischen Überlegungen bestimmten Besuches in Paris144 gegenüber hohen französischen Politikern und Militärs den Friedenswillen der deutschen Soldaten zu betonen. Die Reise war als eine Goodwill-Tour und ein Beitrag zur Entspannung gedacht. Entspannung war ihm jedoch, wie es scheint, damals kein absoluter Wert gewesen, sondern mehr ein taktisches Mittel zur Durchsetzung militärisch-politischer Ziele, in diesem Fall zur Abdeckung der Aufrüstung145. Fest steht nämlich, daß Beck vor wie nach seiner Paris-Reise Frankreich als Hauptgegner Deutschlands angesehen hat. Er schrieb im Frühjahr 1935146: „Sicher erscheint mir... daß jede militärpolitische und militärische Frage von uns aus nur im Rahmen des Verhältnisses Frankreichs zu uns und nicht selbständig betrachtet werden kann und daß Frankreich stets auf der Gegenseite und unser schärfster und stärkster Feind bleiben wird." Knapp ein Jahr nach seinem Besuch in Paris variierte er diesen Gedanken nochmals: „Es ist richtig, daß jeder Machterweiterung Deutschlands Frankreich stets im Wege stehen und in dieser Hinsicht stets als sicherer Feind Deutschlands anzusehen sein wird147." Indessen widersprechen derartige Äußerungen keineswegs seinem in Paris an den Tag gelegten Verhalten. Es spiegelt sich in dieser Diskrepanz lediglich erneut der Unterschied zwischen Sache und Methode148. Seine Haltung gegenüber dem Problem „Österreich" machte das ebenfalls deutlich. Bei den im Mai 1937 stattfindenden Vorbesprechungen für einen militärisches Eingreifen Deutschlands bei einer monarchischen Eventualfall „Otto" Restauration in Österreich, die eine nationalsozialistische Unterwanderung der österreichischen Republik und damit einen künftigen „Anschluß" unmöglich gemacht hätte nahm Beck in einem aufschlußreichen Schriftsatz vom 20. Mai 1937 zu derartigen Absichten Stellung149. Er lehnte darin eine deutsche Intervention schlichtweg ab, da ihre Lokalisierung nicht möglich und Deutschland nicht in der Lage sei, bei dem augenblicklichen Stand -

-

Initiative zu dieser Reise nicht von Beck ausgegangen ist, sondern von Kühlenthal. Beck hat den Gedanken der Reise dann aufgegriffen. 144 Der Besuch fand vom 16. bis 20. 6. 37 statt. Vgl. den Bericht Becks vom 25. 6. 37 an den ObdH (Beck, Studien, S. 295 ff.). 145 Foerster, S. 63 ff. Dort auch die Auseinandersetzung mit dem Bericht des Generals Gamelin (Maurice Gamelin, Servir, Bd II, Le Prologue du Drame, Paris 1947, S. 283 ff.). Becks prominenter Gesprächspartner gibt in seiner Darstellung gewisse angebliche Bemerkungen Becks wieder, in denen imperialistische Großraumgedanken anklingen. Vgl. dazu auch die vorsichtigen Formulierungen der Beurteilung bei Graml, S. 21. Anklänge an die Beck von Gamelin unterstellten und von Speidel (bei Foerster, S. 66 f.) dementierten Vorstellungen finden sich allerdings in Becks späteren Denkschriften auch. 146 Zit. bei Foerster, S. 60. 147 Ebd. S. 109 (Denkschrift vom 29. 5. 38). 148 Vgl. auch sein Verhalten hinsichtlich des Falls „Schulung": Nach Bor, S. 117, wurde auf der Generalstabsreise von 1937 (vgl. dazu Hoßbach, S. 153) auf Blombergs Geheiß (Robertson, S. 90) dieser Fall nochmals behandelt und wiederum von Beck für wenig sinnvoll gehalten. 149 BA/MA H 08-28/2, Nr. 38. Auszugsweise bei Foerster, S. 62 f. Die Denkschrift war an den ObdH gerichtet. Keitel, S. 95, berichtet von Becks Widerstand gegen die Weisung vom 24. 6. 37. Beck hat Keitel danach nicht im unklaren gelassen, daß er den Fall „Otto" nicht bearbeiten werde.

V. Probleme der

236

Außenpolitik und der Führungsorganisation

seiner Rüstung „das Risiko eines europäischen Konfliktes herauszufordern". Gewiß, Beck sah im einzelnen, vielleicht zweckbestimmt, die Lage wohl zu pessimistisch an150. Zwei Momente jedoch sind hervorzuheben bei jener Stellungnahme: erstens die Ansicht, ohne zureichende Rüstung, d. h. vor Abschluß der Aufrüstung, dürfe das Reich keinerlei riskante außenpolitische Bewegungen unternehmen also wieder eine Methodenfrage; in der Sache selbst, dem Anschluß Österreichs, wird er den Initiatoren der Planung zugestimmt haben. Im nächsten Jahr hat er dann auch in kürzester Zeit improvisierend die Annexion Österreichs mit in die Wege geleitet151. Zweitens kommt ein Grundaxiom des politischen Denkens Becks in der erwähnten Stellungnahme zum Ausdruck: „Die Gruppierung der Mächte in Europa ist heute so, daß man an einen Krieg nur zwischen zwei unter ihnen nicht denken kann." Nicht ein Krieg an sich ist es, den Beck ablehnt, sondern ein Krieg, der das noch unzureichend gerüstete Reich mit einer übermächtigen Gegner-Koalition konfrontierte und damit größten Gefahren aussetzte. Da er indessen die europäische Mächtekonstellation vorerst derart einschätzte, daß kein Konflikt, in den Deutschland verwickelt würde, isoliert werden könne, mußte er zwangsläufig aus logischer, pragmatischer Einsicht zu einer Ablehnung jeglicher Risikopolitik kommen. Ob er einer deutschen Machterweiterung, die er auf jeden Fall grundsätzlich bejahte, mit militärischen Mitteln dann auch widersprochen hätte152, wenn die europäische Gesamtkonstellation sich dementsprechend verändert und Deutschlands Rüstungslage sich gebessert hätte, ist schwer zu entscheiden, da diese Voraussetzungen eben nicht eintraten. Auf jeden Fall war Becks Ablehnung einer mit militärischen Mitteln durchgeführten Revisions- und Machterweiterungspolitik nicht prinzipieller, sondern relativer Natur; da er jedoch aufgrund seiner Maßstäbe und seiner Lagebeurteilung sie im Augenblick als eine Risikopolitik betrachtete, war seine Ablehnung de facto zum damaligen Zeitpunkt absolut. Nur so ist es zu verstehen, daß Beck im Sommer 1937 die in Blombergs „Weisung für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht"153 vom 24. Juni 1937 geforderte Bearbeitung des „Sonderfalls Otto" im -

So nahm Beck

eine Feindkoalition von Frankreich und der Tschechoslowakei sodann als zweite Feindgruppe England, Belgien und Rußland sowie schließlich noch Polen und Litauen. 151 Auffallend ist die unterschiedliche Reaktion Becks: Im Fall „Schulung" gegen die Tschechoslowakei drohte er 1935 massiv mit seinem Rücktritt; im Fall „Otto" tat er das nicht, er ließ bloß keine Pläne dafür entwerfen, setzte sich dann aber im März 1938 mit voller Kraft für die Realisierung der Annexion ein. 152 Mag man heute über Sinn und Möglichkeit einer aus nationalstaatlichem Denken geborenen Revisionspolitik kritischer als früher denken, eines ist sicher: eine solche Politik ging bei dem Generalstabschef Beck stets in verantwortungsbewußter Besonnenheit vonstatten und war fest in die Relation des Angemessenen gespannt. Auf ein Risiko oder gar ein unberechenbares Abenteuer hätte sich dieser stets mehr wägende als wagende Mann nie eingelassen. Seine späteren Gedankenbildungen ab 1938, vollends jene in den Kriegsjahren, zeigen, daß er sich eher dem Gedanken eines Verzichtes öffnete, als daß er sich herbeigelassen hätte, gefährlich risikohaft zu handeln. Vgl. dazu auch Graml, S. 22 f., der bei Beck Neigung zu einer Art „skeptischem Pazifismus" bemerkt. 153 IMT XXXIV, S. 732 ff., Dokument C- 175. 159

„als Feind Nr. 1"

beispielsweise

an,

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

237

Generalstab des Heeres nicht in Angriff nehmen ließ154. Das war ein klarer Fall von Ressort-Obstruktion155. Die Schroffheit der Ablehnung, wie sie Becks Schriftsatz vom 20. Mai 1937 offenbart, und der doch für einen Offizier sehr weitgehende Schritt der Ressort-Obstruktion, zu der sich Beck aufgrund der Weisung vom 24. Juni 1937 veranlaßt sah, ist nicht allein daraus zu erklären, daß Beck eine akute Kriegsgefahr witterte. Fraglos ließ diese Weisung noch keinen Rückschluß auf konkrete außenpolitische Pläne zu. Aber sie offenbarte ein Denken,

„das die kriegerische Aktion abgelöst von ihrem sinngebenden Zusammenhang erfaßte"156, ein rein instrumental-technisches Denken, das jederzeit für jeden Zweck manipulierbar war. Das löste Becks Empörung aus. Diese Empörung richtete sich allerdings nicht gegen Hitler, der auch gar nicht der direkte Urheber der erwähnten Weisung gewesen war, sondern gegen das OKW, das sie herausgab. Mit anderen Worten: die Reaktionen, die jene OKW-Weisung im OKH hervorrief, waren in erster Linie mehr durch die sachliche, institutionelle und persönliche Rivalität zwischen diesen beiden Institutionen und ihren jeweiligen Ansprüchen bestimmt, als durch die Furcht vor akuten außen- oder machtpolitischen Exzessen, oder gar durch eine prinzipielle Ablehnung der darin angedeuteten Möglichkeiten zur Machterweiterung. Sie richteten sich daher auch nicht gegen den verantwortlichen Staatsführer, sondern gegen die Vertreter des Oberkommandos der Wehrmacht157. Zwei Momente stützen eine derartige Interpretation: Einmal die Tatsache, daß Beck im Frühjahr 1938, als der „Anschluß" Österreichs dann tatsächlich überraschend durchgeführt wurde, zusammen mit Manstein innerhalb von fünf Stunden den militärischen Apparat gleichsam aus dem Stand mit der Improvisationskunst des souveränen Fachkönners für die Operation mobilmachte158, also sowohl „im Sinne des Regimes funktionierte"159, als auch an der Erfüllung eines vom Regime unabhängigen patriotisch-nationalstaatlichen Wunschtraumes führend mitwirkte. Die Diskrepanz zwischen diesem Handeln und seiner zuvor stets geäußerten Ablehnung erscheint evident. Dieses Mal jedoch hatte nicht das Oberkommando der Wehrmacht ihm die Weisung erteilt, dieses Mal hatte Hitler ihn holen lassen160: der Staatschef erteilte dem Chef des Generalstabes selbst den Befehl. 154

Bor, S. 117, Foerster, S. 63; Buchheit, Beck, S. 128.

155

Vgl.

dazu Dieter

1944, Bonn 1964,

=

158

Meinck, S. 140.

157

Das wird in

sehen.

Ehlers, Technik und Moral einer Verschwörung, Der Aufstand am 20. Juli Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 62, S. 40.

der einschlägigen Literatur

insbesondere bei Foerster, S. 62 f. -

158

Vgl. Mansteins Bericht in

159

So

meist nicht ge-

IMT XX, S. 658. S. 40. 189 Vgl. Foerster, S. 83 ff. Lt. Keitel, S. 178, schlug dieser Hitler vor, Beck zu holen, da der ObdH auf Dienstreise war. Wenn Keitel behauptet, Hitler habe Becks Einwände „kurzerhand abgetan" und es sei „Beck nichts anderes übrig [geblieben], als zu gehorchen" (ebd.), so widerspricht dem sowohl die Aussage Mansteins wie das in folgender Anmerkung wiedergegebene Zitat Guderians. Die Ablehnung, die Beck dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht unverhohlen entgegenbrachte (vgl. Hoßbach, S. 147), mag Keitel zu der erwähnten Auffassung gebracht haben. Zudem hatte Keitel mit seinem Rat an Hitler, Beck zu holen, auch eine Bankrotterklärung für das Oberkommando der Wehrmacht abgegeben. Hoßbach (ebd.), der an diesem Tag bis spät abends mit

Ehlers,

238

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

Für eine kurze

geschichtliche Minute waren die von Beck im letzten stets angestrebten und seiner Ansicht nach optimalen Führungsverhältnisse an der Spitze damit hergestellt. Vor allem aber sah Beck die damalige Lage als günstig für ein solches Unternehmen an161. Damit entfiel für ihn jeder Einspruchsgrund. Zum zweiten erhellt der organisations- und führungstechnische Hintergrund des OKH-Widerspruches vom Sommer 1937 daraus, daß das OKH auf die Weisung vom 24. Juni 1937 nicht mit einer auf die außen- und militärpolitischen Probleme jener Weisung eingehenden Stellungnahme antwortete, sondern mit einer Denkschrift zum Spitzengliederungsproblem. Die Zuspitzung des Konfliktes über die Spitzenorganisation im Sommer 1937 hatte einmal das Wehrmachtsmanöver dieses Jahres162 zum akuten Anlaß; zum zweiten trug dann die Herausgabe der Weisung für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht zum erneuten Aufeinanderprall der Meinungen bei163. Daher begann der ObdH seine Denkschrift vom August 1937 über „Wehrmachtspitzengliederung und Führung der Wehrmacht im Kriege"164 mit dem Hinweis, daß dieses Problem stets durch die „Ausgabe von Aufmarsdianweisungen" aufgerollt worden sei. So nahm Fritsch den Erlaß der Weisung vom ihm zusammen war, berichtet jedenfalls nichts von einer Ablehnung des Anschlusses durch Beck, sondern nur dessen Auffassung, daß der Einmarsch wohl „von Hitler als Ablenkungsmanöver in Szene gesetzt war, um die Erschütterungen im Gefüge des Offizierkorps [durch die Fritsch-Krise] durch einen außenpolitischen Erfolg zu überdecken". Keitels Bericht (S. 179) von nervösen Interventionen nennt auch nur Brauchitsch, den ObdH, und Viebahn, den Chef Wehrmachtsführungsstab im Oberkommando der Wehrmacht, nicht jedoch Beck! Der bei Ehlers, S. 40, zitierte Ausspruch Becks zu Keitel basiert auf einer dubiosen Unterlage (Görlitz, Generalstab, S. 465). Foersters Interpretation, S. 83-84, daß Beck in dem kurzen Zeitraum, während dem er am 10. 3. 38 Hitler persönlich seine Auffassungen zur Lage vorgetragen hat, gewarnt habe, ist eine bloße Vermutung, die durch nichts gestützt wird. Das von Foerster dann zitierte Mansteinwort geht nur auf die Mobilmachung, noch dazu bei einem Eventualfall. Die Ausschaltung des Oberkommandos der Wehrmacht und dessen Chefs bei diesem Anlaß zeigt eindrucksvoll Warlimonts Darstellung, S. 31. Daß Hitler dabei nicht die Überlegung leitete, den Generalstab des Heeres zu begünstigen, sondern daß sein Verhalten mit der Außerachtlassung der vorgegebenen Führungsorganisation eher die Tendenz zu einer Führungsanarchie beinhaltete, sagt nichts dagegen, daß Beck subjektiv eben die direkte Beratung des Generalstabs gegenüber der politischen Spitze in diesem Moment als realisiert ansehen konnte. 161 Ehlers, Foerster und Buchheit verkennen diesen Tatbestand und kommen daher auch zu so wenig überzeugenden Erklärungen wie die: „Beck [sei] die verkörperte Gewissenhaftigkeit [gewesen]. Befehle dilatorisch zu behandeln, widersprach seinem Berufsethos." (Ehlers, S. 40, ähnlich Buchheit, Beck, S. 128.) So „gewissenhaft" war er zuvor bei der Obstruktion im „Sonderfall Otto" eben doch nicht gewesen. Jetzt sah er sich jedoch einer anderen, seiner Ansicht nach günstigeren Lage gegenüber, die einen Anschluß zu erlauben schien. Vgl. dazu seinen Ausspruch vom 10. 3. 38 zu Guderian: „Wenn man den Anschluß überhaupt vollziehen will, ist jetzt wahrscheinlich der ...

günstigste Moment gekommen." (Guderian, S. 42.) 182 Bor, S. 78, und Manstein, S. 292 f., sowie Keitel, S. 84 und 93. 183 Nach Keitel, S. 84: diese Weisung habe im Generalstab des Heeres einen „Sturm der Entrüstung" hervorgerufen. Vgl. Warlimont, S. 25, der von einer „militärisch ungewöhnlichen Art der

Auflehnung" spricht. 184 Abgedruckt bei Keitel,

S. 123-142. Die

folgenden Zitate nach dieser Vorlage.

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

239

Juni 1937 zum Anlaß165, mit seinem Memorandum erneut einen massiven Vorstoß zur Durchsetzung einer den Vorstellungen des Oberkommandos des Heeres entsprechenden

Spitzenorganisation zu unternehmen.

Der ObdH stellte in einer Denkschrift den Grundsatz auf, man dürfe bei der Erörterung dieses Problems nicht nur die theoretischen und sachlichen Gesichtspunkte berücksichtigen, sondern insbesondere auch die „augenblicklich gegebenen Verhältnisse". Das ist ein Argument, das es im Auge zu behalten gilt. Sodann betonte er, es sei unmöglich, daß in einem Kriege sowohl die militärische Führung der Wehrmacht als auch die ministeriellen Funktionen der Wehrmachtführung und obendrein noch die „Organisation der kämpfenden Nation", also der totale Kriegseinsatz, einzig und allein beim Wehrmachtamt liege. Damit sei der Chef dieses Amtes und nicht die drei Oberbefehlshaber der Wehrmachtteile der erste und einzige Berater des ObdW. Dieser aber könne bei der Fülle der Funktionen sowie in Anbetracht der personellen und zahlenmäßigen Zusammensetzung, insbesondere der Abteilung Landesverteidigung, das Ganze nicht mehr übersehen. Auch fehle ihm und seinen Organen die Kenntnis der Wirklichkeit bei den Wehrmachtteilen im einzelnen. Daher lehnte er die Bildung eines über den Generalstäben der Wehrmachtteile stehenden Wehrmachtführungsstabes ab. Bei einer solchen Lösung würden die Oberbefehlshaber in letzter Konsequenz zu bloßen Generalinspekteuren herabgedrückt. In dieser Argumentation zeigt sich der eine Hauptakzent der Denkschrift: das Wehrmachtamt wird gezielt und offener als in der letzten Denkschrift des Heeres unter Beschüß genommen. Im Wehrmachtamt sah das Oberkommando des Heeres das große Gefahrenmoment. Kamen doch aus diesem Amt die Aufmarschanweisungen. War dieses Amt doch drauf und dran, sich zu einem Wehrmachtgeneralstab zu entwickeln. Daher versuchte die Denkschrift des ObdH, diesem Amt sachlich, strukturell und, etwas verhüllter, auch personell die Fähigkeit zur Erfüllung seiner Aufgaben zu

bestreiten.

Der zweite Hauptakzent der Denkschrift stellt das Komplement dazu dar. Der ObdH forderte, das Oberkommando des Heeres und damit der Generalstab des Heeres müsse als beratende und bearbeitende Stelle des Oberbefehlshabers der Wehrmacht für die Gesamtkriegführung die Funktion des Wehrmachtgeneralstabes übernehmen166. Zum Generalstab des Heeres solle dafür eine Wehrmachtoperationsgruppe treten. Die in ihr ausgearbeiteten Pläne zur Gesamtkriegführung würden dann durch den Oberbefehlshaber des Heeres dem ObdW zur Entscheidung vorgelegt. Bei einem solchen Verfahren könne zwar einmal die letzte Entscheidung des obersten Führers wohl gegen den ihm gemachten Vorschlag fallen. Es wäre aber vermieden, daß dem ObdH die Ansicht einer dritten Stelle, nämlich einer Wehrmachtoperationsabteilung oder eines Wehrmachtgeneralstabschefs, aufgezwungen werde. Daher sei an eine von der Heeresführung unabhängige operaAuch Beck soll laut Foerster, S. 40, im Jahr 1937 eine Denkschrift verfaßt haben, in der er ausvon der Heeresführung nicht getrennt werden dürfe, da letzten Endes bei einer Kontinentalmacht wie Deutschland das Heer der ausschlaggebende Faktor sei und seine Führungsbedingungen die Gesamtführung entscheidend beeinflussen müßten. 166 Damit geht diese Denkschrift weiter als jene von 1935, die nur den ObdH als alleinigen Berater des Kriegsministers und Generalissimus etablieren wollte. 165

führte, daß die Wehrmachtführung

V. Probleme der

240

Außenpolitik und der Führungsorganisation

tive Wehrmachtführung nicht zu denken. Eine enge Verbindung beider müsse gewährleistet sein. Für das Oberkommando des Heeres könne es daher keine Wehrmachtführung geben, die nicht auf der Führung des Heeres aufbaute. Daß eine Wehrmachtführung, wie sie sich im Ansatz herauszubilden begann, sachlich so unlogisch nicht war wenigstens von der Theorie her -, das konnte auch das Oberkommando des Heeres nicht bestreiten167. Sollte das etwa der Grund dafür sein, daß Fritsch in der Denkschrift betonte, bei der Frage der Wehrmachtspitzengliederung dürften nicht allein sachliche und theoretische Erwägungen den Ausschlag geben, sondern die Berücksichtigung der gegenwärtigen Verhältnisse sei genauso wichtig? Die grundsätzliche Ablehnung der Spitzenorganisation durch das Heer hatte tiefere Gründe, die keineswegs bloß in der Unzufriedenheit über die Praxis des Oberkommandos der Wehrmacht bzw. des Wehrmachtamtes lagen168. Erstens sprach gewiß die Einsicht mit, daß Blomberg nicht die Sonderstellung der Luftwaffe zu beseitigen vermocht hatte und daß auch die Marine erfolgreich ihre Eigenständigkeit bewahrte. Somit war es verständlich, wenn der ObdH angesichts dessen nun auch seinerseits den Vorrang des Heeres betonte und damit eben „die gegebenen Verhältnisse" berücksichtigte169. Noch entscheidender war zweitens die personelle Seite der Angelegenheit; sie war zugleich von politischer Relevanz. Das Heer bestritt nach außen allerdings unter Ausklammerung der Person Blombergs -, daß das Wehrmachtamt, speziell die sowie des L, Abteilung infolge zahlenmäßig unzulänglicher Besetzung wegen vergleichsweise untergeordneten Ranges seiner leitenden Männer überhaupt in der Lage sei, die Funktion eines übergeordneten Wehrmachtgeneralstabes zu übernehmen. Nun konnte auch die Führung des Heeres nicht behaupten, daß Keitel kein guter Organisator und Jodl kein überdurchschnittlich qualifizierter Generalstabsoffizier170 war. Hinter dem auf die -

-

167

Es ist schwer

entscheiden, ob ein veraltetes Kriegsbild des Oberkommandos des

Heeres oder allen Umständen und mit jedwedem Mittel eine nicht „heereseigene" Wehrmachtführung zu verhindern, dazu geführt hat, daß die Denkschrift Argumente enthält, die sachlicher Prüfung schwerlich standhalten. Vgl. z.B. Keitel, S. 136: „Die Aufgabe der Luftwaffe ist in ihrem einen Teil Schutz des Heimatgebietes feststehend und in ihrer Ausführung eine operative oder taktische Angelegenheit der Luftwaffe allein; ...Daß die Führung der Luftwaffe von Zeit und Raum fast unabhängig im Heimatluftschutz eine feststehende Aufgabe zu erfüllen hat, während andererseits der operative Luftkrieg im wesentlichen eine Zielverteilung mit wechselnden Schwerpunkten ist..." Oder Keitel, S. 130: „Die Luftwaffe wird zwar häufig mit den anderen Wehrmachtteilen, in Sonderheit mit dem Heer, zusammenzuwirken haben Auf einer im einzelnen wohl veränderlichen, im großen aber feststehenden Basis operieren, in der Lage, jeden Tag in beliebiger Richtung schlagen zu können, ist die Luftwaffe in ihrer Kriegführung so ungebunden, daß eine Anpassung der Gesamtkriegführung an die Bedingungen der Luftkriegführung im großen nur in zwei Dingen nötig ist: in der Frage der Kriegseröffnung und in der Sicherstellung einer ausreichenden Luftbasis." 188 Wie Meinck, S. 123, meint. 189 Vgl. Erfurth, S. 177, und Keitel, S. 94 f. 170 Nach Erfurth, S. 193, hatte Beck gerade Jodl als einen seiner befähigsten Generalstabsoffiziere an das Wehrmachtsamt abgegeben. Ebenfalls war Loßberg, der 1. Generalstabsoffizier Heer der Abteilung L war, nach Aussagen von Generalleutnant a. D. Siewert (vom 19. 7. 1966 an das MGFA) nur

zu

die Tendenz,

unter

-

-

-

-

..

der Jahrgangsbeste auf der Kriegsakademie gewesen.

.

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

241

und personelle Seite abzielenden Argument des Heeres stand vielmehr auch etwas anderes. Die Führung des Heeres glaubte zu spüren, daß die leitenden Persönlichkeiten des Wehrmachtamtes die Absicht hätten, die Wehrmachtführung ganz im Sinne des nationalsozialistischen Führerprinzipes zu orientieren. Ein solcher Kurs jedoch widersprach der geheiligten Maxime vom Mitspracherecht der Streitkräfte, das man wenn es auch schon in politischen Dingen weitgehend illusorisch geworden sein mochte doch auf militärpolitischem und außenpolitischem Gebiet, ganz zu schweigen von dem der reinen militärischen Führung, unbedingt verteidigte. Der Kampf des Oberkommandos des Heeres gegen das Wehrmachtamt für eine vom Heer dominierte Wehrmachtführung war damit nicht zuletzt ein Kampf gegen eine Instrumentalisierung der Armee171. Der tiefe Gegensatz zwischen den Exponenten beider Richtungen wird deutlich, wenn man die Auffassung, die Jodl und Keitel bezüglich der Funktion der Oberbefehlshaber der Wehrmachtteile und des Generalstabes vertraten, mit den grundsätzlichen Ausführungen des Oberbefehlshabers des Heeres in seiner Denkschrift vergleicht. Der ObdH schrieb: „Autorität und Gehorsam sind sicherlich für die Kriegführung unerläßlich. Im Rahmen der höchsten Führung aber, bei der die Entschlüsse ausschließlich von der Beurteilung der Feindmaßnahmen (also einer völlig unabhängigen und unsicheren Größe) und der eigenen Möglichkeiten (also letzten Endes reiner Überzeugungsfrage) abhängen, kann man nicht einfach kommandieren." Der Oberbefehlshaber des Heeres sei kein Grenadier, dem man, ohne ihn zu fragen, einen Befehl geben könne. Es gehe nicht an, daß der ObdH lediglich Befehle für die Kriegführung erhielte, ohne daß ihm Gelegenheit gegeben werde, seine Ansicht hierüber an maßgeblicher Stelle zum Ausdruck zu bringen und zu vertreten172. Keitel und Jodl dagegen, die ausdrücklich eine Institution nach Art des Großen Generalstabes als „mit der nationalsozialistischen Weltanschauung unvereinbar" ansahen und „das Führerprinzip im Militärischen" vertraten, forderten, daß „nach der nationalsozialistischen Ideologie der Führer.. allein zu bestimmen" habe, und lehnten jede verantwortliche Mitwirkung von Beratern ab173. Etwa ein Dreivierteljahr später schrieb Jodl mit kritischem Blick auf die Heeresgeneralität: „Sie können nicht mehr glauben und nicht mehr gehorchen, weil sie das Genie des Führers nicht anerkennen174." Während Fritsch und Beck die mitverantwortliche Beratung forderten, verlangten die führenden Köpfe des Oberkommandos der Wehrmacht „Glaube" und „Gehorsam"175. Hinter der Forderung des Heeres, der ObdH müsse bei allen wichtigen Fragen der Landesverteidigung und der

organisatorische

-

-

..

.

.

Damit war die paradoxe Lage eingetreten, daß der ObdH Fritsch gegen Keitels Wehrmachteinen Standpunkt vertrat, den der einstige Chef des Wehrmachtamtes, Reichenau, früher als Kern seines Konzeptes ebenfalls verfochten hatte. 172 Keitel, S. 138. Vgl. auch ebd. Anm. 24: Gerade dieser Passus war im Oberkommando der Wehrmacht mit der Randbemerkung „Sehr gefährlich" versehen worden. 173 IMT XL, S. 362 f. (Dokument Keitel 9). 174 IMT XXVIII, S. 377-378. 175 Vgl. auch Luise Jodl in „Soldat im Volk", Mai 1963, Nr. 5, S. 5: „Bei ursprünglich ablehnender Haltung sah er [ = Jodl] jedoch bald in Hitler ein militärisches Genie, in dessen Person er Deutschland zu dienen glaubte mit der ganzen Loyalität, die ihm eigen war." Erst in Nürnberg sei er innerlich von Hitler freigekommen. 171

amt

-

19

V. Probleme der

242

Außenpolitik und der Führungsorganisation

Kriegführung maßgeblich beteiligt werden, stand mehr als nur das Bemühen, die für eine moderne Kriegsgliederung beste und militärisch zweckmäßigste Spitzengliederung zu schaffen. Im Gegenteil, den Ansprüchen höchster militärischer Zweckmäßigkeit hätte die vom Oberkommando der Wehrmacht vorgesehene Konstruktion auch, vielleicht sogar noch besser, entsprechen können. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man feststellt, daß hinter dem Streit um Kompetenzen und militärische Spitzengliederung auch ein gutes Stück des Ringens um die Selbstbehauptung der bewaffneten Macht im totalitären Staate stand. Diese Auseinandersetzung, die 1937 nicht bis zur Entscheidung ausgetragen wurde176, hatte zugleich aber auch verhängnisvolle und weitreichende Folgen, wie die spätere Entwicklung lehren wird. Die dienstlichen Spannungen zwischen Wehrmachtamt und der Führung des Heeres, die aus den geschilderten Gegensätzen entstanden, erstreckten sich sehr rasch auch auf die persönlichen Beziehungen177. Beck war von der Haltung Jodls, den er als Sachwalter seiner Ansichten einst an das Wehrmachtamt abgegeben hatte und der sich nur zu bald zu einem der profiliertesten Vertreter der Wehrmachtlösung entwickelte, tief enttäuscht. Es kam so weit, daß der Generalstabschef seinen Mitarbeitern jeden dienstlichen Verkehr mit dem Oberkommando der Wehrmacht verbot. Auf seiten des Oberkommandos der Wehrmacht sahen die führenden Männer dagegen im Generalstab des Heeres den Hort einer veralteten Tradition, wo, wie Keitel und Jodl es später ausdrückten, „im tiefsten Innern aber der Wille [herrschte], ein gesellschaftliches Vorrecht des Standes aufrechtzuerhalten oder ein neues sich zu sichern"178. So entstand unter den führenden Generälen und Generalstabsoffizieren eine bisher nicht dagewesene Spaltung, von der die nächsten Mitarbeiter ebenfalls betroffen wurden. In diesen Kreisen begann man schon damals mit politischem Aspekt zu differenzieren zwischen den nationalsozialistisch-revolutionären Neuerern im Oberkommando der Wehrmacht und dem konservativen Oberkommando des Heeres179. Über die Sachgegensätze hinaus erhielt die Spaltung unter den führenden Köpfen der Streitkräfte politisch-ideologischen Charakter. Sollte einmal der Zeitpunkt kommen und er war näher, als alle Beteiligten es sich wohl träumen ließen -, an dem es notwendig wurde, daß die Repräsentanten der Armee sich zur Vermeidung von außenpolitischen und militärischen Risiken oder gar zur Vertretung des Gesamtwohls gegenüber der politischen Führung aufgerufen sähen, dann würde eine ein...

-

176

Nach einer

des Oberbefehlshabers des Heeres mit dem Reichskriegsminister am den Vorschlag ab, erklärte sich aber bereit, den ObdH durch Aufträge an

Rücksprache

1. 9. 37 lehnte letzterer

ihn, nicht aber über seinen Kopf hinweg, in den Führungs- und Arbeitsvorgang des ObdW

einzuschalten. Auch sollte eine regelmäßige persönliche Fühlungnahme zwischen ObdW und ObdH stattfinden (Keitel, S. 142). 177 Vgl. Jodls Brief an Luise v. Benda, seine spätere zweite Ehefrau, vom 28. 7. 39, in dem er vom Genst.d.H. als „von der Feindseite" spricht (Keitel, S. 215, Anm. 142). Nach Luise Jodl („Soldat im Volk") habe Jodl mit diesem Ausdruck nicht den Generalstab schlechthin gemeint, sondern „lediglich die Kräfte, die sich der Entwicklung zu einer einheitlichen Wehrmachtführung ..

178 179

.

entgegenstemmten". IMT XL, S. 364 (Dokument Keitel 9).

Warlimont,

bis 378.

S. 26;

vgl.

auch

Jodls oben -

zitierte

Tagebuch-Eintragung,

IMT XXVIII, S. 377

V. Probleme der Außenpolitik und der Führungsorganisation

243

Willensrichtung, eine Einhelligkeit in den Grundauffassungen erforderlich sein. fehlten jetzt nahezu alle Voraussetzungen. aber Dazu heitliche

Am 5. November 1937 berief Hitler den Reichskriegsminister, den Reichsaußenminister und die Oberbefehlshaber der drei Wehrmachtteile in die Reichskanzlei. Seine grundsätzlichen Ausführungen180 basierten auf der These, daß die Zukunft Deutschlands von der Überwindung der Raumnot abhänge. Nach einer Behandlung der verschiedenen Möglichkeiten einer Lösung dieser Frage kam er zu dem Schluß, daß „die einzige... vielleicht in der Gewinnung eines größeren Lebensraumes liege". traumhaft erscheinende Abhilfe Dieser könne nur in Europa gefunden werden. Daher sei es sein „unabänderlicher Entschluß", die deutsche Raumnot durch Gewinnung eines größeren Lebensraumes mit Gewalt zu lösen. Er betonte ausdrücklich, seine Ausführungen seien „das Ergebnis eingehender Überlegungen und Erfahrungen seiner viereinhalbjährigen Regierungszeit". Gegenüber seinen früheren, mehr andeutungsweisen Ausführungen war die Rede vom 5. November insofern von größter Bedeutung, als er darin erstmalig seinen eindeutigen Willen bekundete, in absehbarer Zeit gewaltsam vorzugehen. Seine Bemerkung, die Darlegungen seien seine „testamentarische Hinterlassenschaft", läßt erkennen, daß es ihm mit den vorgetragenen Absichten ernst war. In einem zweiten Teil seiner Ausführungen ging er auf die mögliche Durchführung seiner Pläne ein. Er wolle, so führte er aus, Österreich und die Tschechoslowakei zu einem gegebenen Zeitpunkt Deutschland einverleiben. Spätestens liege dieser Zeitpunkt für die „Anwendung von Gewalt" in den Jahren 1943/45. Danach habe Deutschland den Höhepunkt seiner militärischen Stärke überschritten. England werde aller Voraussicht nach einen Angriff auf die Tschechoslowakei kaum ernstlich behindern, denn es habe dieses Land „bereits im stillen abgeschrieben". Die Haltung Englands werde auch die Frankreichs beeinflussen. Polen und Rußland würden durch Schnelligkeit und Erfolg der deutschen Operationen gegen die Tschechoslowakei vom Kriegseintritt abgehalten. Falls Frankreich durch einen Krieg mit einem dritten Staat, hier nannte er insbesondere Italien, gebunden sei oder, wenn die französische Armee infolge einer innenpolitischen Krise181 zu nachhaltigem Widerstand unfähig sei, könne die deutsche Aktion eventuell schon früher stattfinden. Eine besonders günstige Gelegenheit biete dafür ein Mittelmeerkonflikt, den er mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit erwarte. ...

„Abschrift der Niederschrift über die Besprechung in der Reichskanzlei am 5.11.1937", abgedruckt in AD AP, Serie D, Bd I, Nr. 19; vgl. auch IMT XXV, S. 402 ff. und Hoßbach, S. 207 ff. Zur Textkritik und Überlieferung vgl. Hoßbach, S. 217 ff. Kritisch gegenüber Echtheit und Bedeutung Meinck, S. 173 ff. und S. 276, Anm. 4, sowie Hans Günther Seraphim, Nachkriegsprozesse und zeitgeschichtliche Forschung, in: Mensch und Geschichte, Festschrift für Herbert Kraus, Kitzingen 1954. Die Relevanz des Dokumentes für Hitlers Kriegswillen wird dadurch generell nicht erschüttert. Neuerdings hat Walter Bussmann, Zur Entstehung und Überlieferung der „HoßbachNiederschrift", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 16 (1968), S. 373-384, zur Sicherung der Überlieferung und Echtheit des Dokumentes wichtige Gesichtspunkte vorgebracht. 180

181 Beck hatte zu dieser Frage einige Monate zuvor in seinem Bericht über die Parisreise betont, die französische Armee sei von den akuten innerpolitischen Schwierigkeiten „völlig unberührt". Auch der Verteidigungsminister scheine der Armee sicher zu sein (Beck, Studien, S. 296 f.).

244

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

Derartige Gedanken waren alles andere als von den Prinzipien politischer Vernunft oder gar Moral geprägt. Immerhin erhebt sich die Frage, ob der zweite Teil der Ausführungen Hitlers ein ernsthaftes Aktionsprogramm darstellte. Offenkundig waren seine politischen und militärischen Erwägungen doch höchst fragwürdig. Göring hat hierzu im Nürnberger Prozeß behauptet, daß „ein Teil der ganzen Ausführungen [die] grundsätzliche Einstellung des Führers" enthalte damit ist zweifellos der erste Abschnitt der Darlegungen Hitlers gemeint während der andere Teil, nach Göring, mehr rhetorische Erwägungen enthalten habe182. Wenn Hitler auch in seiner Ansprache vom 5. November kein konkretes Aktionsprogramm entwarf, so schränkt diese Feststellung doch die Tragweite seiner -

-

Das beweisen die Reaktionen derer, die also seine Zuhörer sowie der Generalspäter durch eine von ihm angefertigte

grundsätzlichen Gedanken in keiner Weise ein. von seinen Gedankengängen Kenntnis nahmen stabschef, den Oberst Hoßbach einige Tage

-

Niederschrift orientierte183. Im Anschluß an Hitlers Darlegungen kam es zu einer eingehenden Aussprache, in der Blomberg, Neurath und Fritsch den soeben vernommenen Gedanken nachdrücklich widersprachen und auf die verhängnisvollen Folgen hinwiesen, die bei einer Verwirklichung dieser Pläne eintreten müßten. Leider ist uns nur ein Teil ihrer Einwände überliefert184. Wir wissen, daß der Reichsaußenminister einen baldigen Mittelmeerkonflikt als völlig unwahrscheinlich bezeichnete und daß die Generäle nachdrücklich militärische Bedenken geltend machten; sie wiesen vor allem auf die Mängel in Hitlers militärischen Erwägungen hin. Die Diskussion nahm dann, wie Hoßbach berichtet, „zeitweilig sehr scharfe Formen an, vor allem in einer Auseinandersetzung zwischen Blomberg und Fritsch einerseits und Göring andererseits, an der sich Hitler vorwiegend als aufmerksamer Zuhörer beteiligte"185. Die Diskussion mit Göring betraf vor allem rüstungstechnische Angelegenheiten. Immerhin kam in den sachlichen Einwendungen der beiden Generäle zu den Ausführungen Hitlers unüberhörbar der tiefe Gegensatz der Auffassungen zum Ausdruck. Die Tatsache, daß Hitler auf seine hochfliegenden politischen Pläne nicht nur keinen Beifall erhielt, sondern ausschließlich sachlich nüchterne und skeptische Gegenäußerungen vernehmen mußte, hat nach Hoßbachs Aussagen ihren Eindruck auf Hitler nicht verfehlt. Trotz der einhelligen Kritik, die Hitlers Äußerungen in der Diskussion hervorriefen, waren die Teilnehmer der Besprechung über die Bedeutung der Ansprache des „Führers" augenscheinlich geteilter Ansicht186. Raeder und Blomberg waren, wie der Großadmiral vor IMT IX, S. 344 ff. Vgl. auch Raeder, Bd II, S. 149; Gackenholz, S. 463; Meinck, S. 178. Foertsch, S. 80. Brauchitsch hat nach seinen Aussagen erst 1946 in Nürnberg vom Inhalt dieser Besprechung erfahren (IMT XX, S. 620); nach Bor, S. 113, soll Beck seinem Nachfolger Halder nie etwas über diese Besprechung gesagt haben. Nach Robertson, S. 108, Anm. 2, soll Blomberg erfahren haben, daß der französische Botschafter in Berlin bereits einen Tag später einen Bericht über die Sitzung vom 5. 11.37 in den Händen gehabt habe. Diese Angabe Robertsons beruht auf offiziellen britischen Quellen. 184 Vgl. Hoßbach, S. 219. 185 Ebd. 186 Gewiß mag fraglich sein, wieweit Hitler schon am 5. 11. 1937 die konkrete Verwirklichung dieser seiner Pläne ins Auge gefaßt hatte. Indessen kann „über die allgemeine Tendenz der Zu182

183

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

245

dem Nürnberger Gerichtshof aussagte, der Meinung, „das ganze sei wieder einmal nicht so ernst gemeint"187. Mindestens Raeders Aussage wird man nicht als bloße zweckbestimmte Schutzbehauptung vor dem alliierten Tribunal auffassen dürfen. Seine Sicht der Dinge mag vermutlich von vornherein dadurch bestimmt gewesen sein, daß Göring ihm vor der Sitzung mitgeteilt hatte, der Führer bezwecke mit den zu erwartenden Ausführungen lediglich, das Heer zu einem schnelleren Rüstungstempo anzuspornen. Er glaubte aus den Ausführungen Hitlers entnehmen zu können, daß „trotz des etwas scharfen Tones der Rede eine Abkehr von der bisherigen Methode der Verhandlungen und eine Schwenkung zu einer kriegerischen Politik, die man vielleicht aus einigen Redewendungen heraushören konnte, nicht beabsichtigt war188. Der ObdM sah daher keinen Grund zur Unruhe189. Daher habe er sich auch nicht an der Diskussion beteiligt. Er nahm offenbar Hitlers Ausführungen nicht ernst, weil er ja nach Görings Mitteilung annahm, daß dieser rhetorisch übertrieb, um gewisse Absichten gegenüber der Heeresleitung zu erreichen. Außerdem erschien ihm der Gedanke, die im Aufbau befindliche Flotte bei einem Konflikt mit England auf das Spiel zu setzen, als zu phantastisch und absurd190. Der Reichsaußenminister dagegen hatte einen anderen Eindruck191. Ihm war klar, daß „die Gesamttendenz" der Absichten Hitlers „aggressiver Natur" war. Daher entschloß er sich, Hitler durch Gegenvorstellungen umzustimmen, und nahm zwei Tage nach der Sitzung mit Beck und Fritsch Fühlung auf. Die beiden Generäle waren offensichtlich derselben Ansicht wie der Minister. Jedenfalls kamen sie mit Neurath überein, daß zunächst der Hitlers [nicht] der leiseste Zweifel sein" (Meinck, S. 177). Das zeigt ebenfalls seine 23.11.37 in Sonthofen (Domarus, Bd I, S. 761) und vom 22.1.38 (MGFA/DZ WK XII/823; O'Neill, S. 136 f.). Vor allem die Sonthofener Rede zeigt den offenkundigen Willen, seine am 5.11.37 geäußerten Absichten auch in die Tat umzusetzen. „Angesichts seines unbestreitbaren Eroberungswillens kommt freilich der Frage, welche Entschlüsse er in dieser Hinsicht [1937] bereits gefaßt haben könnte, nur sekundäre Bedeutung zu" (Meinck, S. 177). Jedenfalls madn die rasche Aufeinanderfolge der Reden, in denen Hitler über seine außenpolitischen Pläne und Absichten reflektierte (7.11.37 23.11.37 22.1.38), den Eindruck, daß damals so etwas wie ein

kunftspläne Rede

vom

Reifungsprozeß seiner außenpolitischen Absichten stattgefunden hat. -

187

-

Raeder, Bd II, S. 150; IMT XIV, S. 44 ff. und Bd XL, S. 406.

Vgl.

auch Keitel, S. 101,

Anm. 171.

Raeder, Bd II, S. 149. Nach der Sitzung habe Blomberg ihm ebenfalls gesagt, das Ganze sei wohl nicht so ernst zu nehmen. O'Neill, S. 135, verwechselt den Inhalt der beiden Gespräche, die Raeder mit Göring (zuerst) und mit Blomberg (danach) hatte. 189 Raeder will wie er im Nürnberger Prozeß aussagte die Worte Hitlers so verstanden haben, daß dieser einen Krieg mit Frankreich und mit England insbesondere vermeiden werde. Nach dem Abschluß des zweiten deutschen Flottenabkommens vom 17. 7. 37 sei er davon ohnehin überzeugt gewesen. Er habe deshalb eine friedliche Lösung der österreichischen und sudetendeutschen Frage für möglich gehalten. Er zog aus der Rede Hitlers die Folgerung, den „Aufbau der Flotte im Verhältnis 1 : 3 zu England weiterzuführen und ein freundliches Verhältnis weiterhin zu erstreben" (IMT XIV, S. 54). 199 Vgl. auch die Aufzeichnung, die der ObdM dann am 1.9.39 machte, als der Kriegsfall mit England eingetreten war: Fuehrer Conferences on Naval Affairs, in: Brassey's Naval Annual 1948, S. 37 f. (Original in MGFA/DZ PG 34004 Sammlung Raeder 3, ObdM Persönlidies). 191 Hierzu und zum folgenden vgl. IMT XII, S. 700 ff. 188

-

-

-

V. Probleme der

246

ObdH, der ohnehin

Außenpolitik und der Führungsorganisation

Vortrag bei Hitler angemeldet

dem Führer nochmals die militärischen Gründe darlegte, die gegen seine Pläne sprachen; anschließend wollte der Reichsaußenminister die politischen Gegenargumente zu Gehör bringen. Es ist allerdings ungeklärt, ob Fritsch noch die Gelegenheit hatte, seine Absicht zu verwirklichen192. Kurz darauf ging er auf eine zweimonatige Urlaubsreise nach Ägypten193. Dem Reichsaußenminister gelang es dagegen erst Mitte Januar 1938, Hitler zu sprechen. Er versuchte ihm klarzumachen, daß „seine Politik zum Weltkrieg führen müsse Viele seiner Pläne könne man auf friedlichem Wege allerdings etwas langsamer lösen." Er erhielt jedoch von Hitler lediglich die Antwort, „er habe keine Zeit mehr". Kurze Zeit danach erhielt Neurath seinen Abschied194. Auch der Kriegsminister hatte am 5. November, wie geschildert, Bedenken gegen die Pläne und Absichten Hitlers vorgebracht und auf die Gefahr einer englisch-französischen Einmischung in den geplanten Krieg gegen die Tschechoslowakei und auf den unfertigen Rüstungsstand der Wehrmacht hingewiesen. Aber das war wie sein weiteres Verhalten zeigte105 kein grundsätzlicher Widerspruch gewesen. Vielmehr handelten er und sein Oberkommando der Wehrmacht fortan als gutfunktionierende Transmissionsorgane der Willensäußerungen Hitlers im Bereich der Streitkräfte. Dabei wurden die politischen und militärischen Konsequenzen der obersten Führungsstruktur in einer Weise offenkundig, daß die seit langem aufkeimenden Befürchtungen der Heeresführung nur allzu sehr bestätigt wurden. Blomberg orientierte den Chef des Wehrmachtamtes, General Keitel, über Hitlers Ausführungen106, dieser informierte wiederum den Chef der Abteilung Landesverteidigung, Oberst i. G. Jodl. Hier überschneiden sich nun die Entwiddungslinien. Jodls funktionale Auffassung von der absolut instrumentalen Rolle der hohen militärischen Kommandostellen im nationalsozialistischen Führerstaat kombinierte sich nunmehr mit seiner kampfbereiten Wachsamkeit in Fragen der Wehrmachtführung. Ideologische Impulse und eine spezifische Auffassung über die Spitzengliederung wirkten zusammen. Jodl hatte inzwischen erfahren107, daß Göring aufgrund der Besprechung vom 5. Novemzu

einem

war,

...

-

-

-

-

102 Buchheit, Beck, S. 100, erwähnt eine Audienz des ObdH bei Hitler vom 9. November, über die keine Niederschrift existiert; es ist daher weiterhin ungewiß, was Fritsch danach Hitler vorgetragen hat. 193 Fritsch hatte, beunruhigt durch die von Hitler am 5.11. entwickelten Pläne, diesem am Schluß der Sitzung angeboten, angesichts der gespannten Situation seinen in Kürze geplanten mehrwöchigen Urlaub abzusagen; aber Hitler hatte ihn mit dem Hinweis beruhigt, daß nach seiner Meinung eine unmittelbar bevorstehende Kriegsgefahr nicht gegeben sei. Vielleicht mag er aus diesem Grunde seine Bedenken zurückgestellt haben. Jedenfalls fuhr er kurz anschließend auf eine zweimonatige Ägyptenreise (Hoßbach, S. 192). Vgl. auch seine bei J. A. Graf v. Kielmansegg, S. 34, abgedruckten Briefe vom 28. 10. und 9. 11. 37. 194 Über Hintergründe und Anstoß zu dieser Verabschiedung Gackenholz, S. 471 ff. 195 Yg[ we;ter unten S. 248 dieses Kapitels. 196 Vgl. dazu Keitel, S. 101, Anm. 171: Blomberg hat in Nürnberg auf die Frage des Verteidigers Keitels, ob er diesem von der Besprechung vom 5. 11.37 Mitteilung gemacht habe, geantwortet, das sei anzunehmen, da Keitel als sein Chef an seinen Erfahrungen und Überlegungen teilhaben mußte. 197 Tagebuch Jodl, IMT XXVII, S. 355.

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

247

ber gewisse Weisungen an den Generalstab der Luftwaffe erteilt hatte. Hierin sah er einen Präzedenzfall. Die einheitliche Führung der Wehrmacht konnte nach seiner, ihres eifrigsten Verfechters Ansicht durch diesen das OKW offensichtlich ignorierenden Schritt des Oberbefehlshabers der Luftwaffe gefährdet werden, zumal die Wiedergabe der Gedanken des Reichskanzlers in der Weisung des Oberbefehlshabers der Luftwaffe von der Darstellung abwich, die Keitel ihm gegeben hatte. Er erwirkte daher von Blomberg den Befehl, Hitlers Gedanken den Wehrmachtteilen zu übermitteln und in die Aufmarschanweisung für das laufende Mobilmachungsjahr einzuarbeiten198. So entstand unter dem Datum des 7. Dezember 1937 ein „Nachtrag zur Weisung für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht vom 24. 6. 1937"199. Die außenpolitischen Äußerungen Hitlers vom 5. November und eine nur aus dem Streit um die Spitzengliederung und Jodls Auffassung zu verstehende Reaktion des Chefs der Abteilung Landesverteidigung waren also die beiden Komponenten, die zu einer prinzipiellen Änderung der bisherigen Aufmarschanweisung geführt haben, ohne daß dazu ein ausdrücklicher Befehl Hitlers überhaupt

vorlag200. Die Bedeutung dieses Vorgangs wird an dem sachlichen Gehalt der Änderung offenkundig. Sie betraf den in der bisherigen Weisung vom 24. Juni 1937 enthaltenen Abschnitt über den Zweifrontenkrieg mit Schwerpunkt Südost (Aufmarsch Grün), also speziell den Aufmarsch gegen die Tschechoslowakei. Er war zu streichen und wurde von einer Neufassung ersetzt, die einen grundlegenden Wandel in der bisherigen operativen Planungsarbeit der Wehrmacht darstellt. Die ganze bisherige Planung war nach Aussagen Mansteins bloße Routinearbeit201 gewesen und trug einen ausschließlich defensiven Charakter202. In der Neufassung des Aufmarschplanes „Grün" vom 21. Dezember 1937 jedoch fand sich nunmehr der Satz: „Hat Deutschland seine volle Kriegsbereitschaft auf allen Gebieten erreicht, so wird die militärische Voraussetzung geschaffen sein, einen Angriffskrieg gegen die Tschechoslowakei und damit die Lösung des deutschen Raumproblems auch dann zu einem siegreichen Ende zu führen, wenn die eine oder andere Großmacht gegen uns eingreift203." Das war der Übergang von der bisher grundsätzlich defensiv gehaltenen militärischen Konzeption zu konkreten Aggressionsvorbereitungen. Erstmals war in einer militärischen Weisung nicht mehr die Sicherung des Reiches, sondern die Eroberung fremden Staatsgebietes als Zweck eines künftigen Krieges genannt worden. Hatte bisher Hitler an 198

Ebd. sowie Jodls Aussage IMT XV, S. 388, und 497 f.; Keitels Aussage IMT X, S. 565. Vgl. auch Gackenholz, S. 475 ff. 199 Dieser Nachtrag ist im IMT XXXIV, S. 754 ff., als Dokument 175-C abgedruckt. Unter dem 21.12.37 wurde dann die erste Anlage als „Neufassung" des Abschnittes II, Teil 2 der Weisung vom 24. 6. 37 (Aufmarsch „Grün") übersandt. Sie ist abgedr. in ADAP, Serie D, Bd VII, S. 547 ff. Jodl benutzte bei der Abfassung der neuen Weisung vermutlich die Niederschrift Hoßbachs mit (Gackenholz, S. 476, und P. Graf v. Kielmansegg, S. 268). 299 Hitler billigte die Änderung am 13. 12. 36. 291 Manstein, S. 225 f. 292 Hoßbach, S. 44. So auch noch z. B. die „Weisung für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht" vom 24. 6. 37 (IMT XXIV, S. 732 ff.). 293 ADAP, Serie D, Bd VII, S. 574 f.

V. Probleme der

248

Außenpolitik und der Führungsorganisation

operativen Planungsarbeit keinen Anteil genommen, so hatten jetzt Blomberg und Jodl sich aus eigener Initiative zum Transmissionsorgan von nicht als Befehl anzusehenden Absichtsäußerungen des „Führers" gemacht. In der von ihnen entworfenen Weisungsänderung schlug sich Hitlers außenpolitische Zielsetzung, wie sie am 5. November von der

ihm umrissen worden war, konkret nieder. Der Fall „Grün" war damit durch die Initiative der Repräsentanten des OKW aus der defensiven Gesamtplanung herausgenommen worden und „zum Ansatzpunkt einer neuen von Hitler inspirierten Offensivplanung im Dienste des nationalsozialistischen Imperialismus"204 gemacht worden. Den für diese Initiative letzten Endes verantwortlichen ObdW wird einmal genauso wie Jodl die Überlegung geleitet haben, mit der neuen Weisung vor allem die durch Göring gefährdete Einheitlichkeit der Wehrmachtführung205 zu bewahren. Als geschulter Generalstäbler hatte auch er seine Bedenken; aber er war nicht der Mann, der auf Biegen und Brechen Hitler gegenüber seinen Widerspruch aufrechterhielt. Vielleicht ist das Verdikt Hoßbachs zu hart, der über Blomberg urteilt: „Seiner Intelligenz fehlte die Grundlage eines festen Charakters206." Gewiß fehlte ihm wohl auch die Energie, gegenüber Hitler seine Ansichten und seinen Standpunkt entschieden zu vertreten. Zudem mag die Faszination, die Hitler auf ihn ausübte, für ihn eine weitere Hemmung gewesen sein. So hatte er knapp ein Jahr zuvor bereits Joachim v. Stülpnagel gegenüber zugegeben, daß „realpolitisch gesehen" die internationale Lage „sehr ernst" sei, dann aber angefügt, daß Hitler „durch seine Intuition bei der kommenden Weltenwende siegen würde"207. Dennoch hemmte ihn seine irrationale Bindung an Hitler durchaus nicht, gelegentlich gewichtige Bedenken zu äußern. Dann aber flüchtete er sich wieder in Resignation. Bereits 1935 hatte er dem deutschen Militärattache in London, Geyr v. Schweppenburg, auf dessen Warnung hin, ein deutscher Konflikt mit den Westmächten könne schließlich die Russen an den Rhein führen, resignierend und achselzuckend geantwortet: „Ja, wissen Sie, die Leute sind solche Herostraten208." Nach dem Kriege gab er zu Protokoll, er habe sich trotz aller Bedenken schließlich mit der Überlegung „Kommt Zeit, kommt Rat" beruhigt200. Jedenfalls ließ er es genug sein, Hitler bei der Vorlage der Neufassung des Falles „Grün" auf 294

So P. Graf

sdiränkungen

v.

und

Kielmansegg, S. 272 ff. Der Nachtrag enthielt allerdings noch gewisse EinVorbedingungen, von deren Erfüllung der Gesamtplan abhängig gemacht

wurde. Robertson, S. 110, meint, es sei möglich, daß in diesen Voraussetzungen gewisse Vorbehalte Blombergs gegenüber Hitlers am 5.11. geäußerten Absichten zum Ausdruck kommen. 205 Es hieß daher in ihr, der Reichskriegsminister verbiete alle Maßnahmen, welche die Vermutung auslösen könnten, es sei schon im Jahr 1938 mit einem Kriege zu rechnen; alles, was den vorgesehenen planmäßigen Aufbau der Wehrmacht und ihrer Mobilmachung schädigen und unterbrechen könne, habe zu unterbleiben.

Hoßbach, S. 76. Stülpnagel, S. 349. Vgl. auch Meinck, S. 238, Anm. 45 (Joachim von Stülpnagel vom 1. 11. 1954 an Meinck). 208 Geyr v. Schweppenburg, S. 73. Ebenfalls soll er im Dezember 1937 gegenüber Stülpnagel einmal geäußert haben: „Stülpnagel, Sie haben in allem recht gehabt!" Meinck, S. 238, Anm. 45; im Gegensatz dazu Taylor, S. 152 (auf Grund der Aufzeichnungen Blombergs). 298

297

299

IMT XL, S. 406.

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

249

den niedrigen Stand der deutschen Rüstung und insbesondere auf den unzureichenden Munitionsvorrat des Heeres hinzuweisen210. Daß der Generalstabschef Beck zutiefst alarmiert wurde, als er Hitlers Gedankengänge durch die Niederschrift und einen mündlichen Vortrag Hoßbachs erfuhr211, ist verständlich. Hatte er doch seit geraumer Zeit mit Sorge die unberechenbare Sprunghaftigkeit der deutschen Außenpolitik beobachtet! Wenn er schon gegen gewisse Partien der Weisung Blombergs vom 27. Juni 1934 opponiert hatte, dann war von ihm eine noch massivere Reaktion auf die Gedanken Hitlers vom 5. November erst recht zu erwarten. Mit seiner Kenntnis der Hoßbach-Niederschrift war er einer der ganz wenigen Personen, die die geheimsten Überlegungen und Absichten Hitlers kannten. Seine Stellungnahme gewinnt dadurch ein besonderes Gewicht212 und diese schriftliche Stellungnahme, die unter dem Datum des 12. November 1937213 überliefert ist214, zeigt, wie sehr Beck die von Hitler geäußerten Absichten als Ungeheuerlichkeit empfand; sie zeigt aber auch, wo bei Beck zu jener Zeit die Grenzlinien zwischen prinzipieller Übereinstimmung, realpolitischen Diffe-

Tagebuch Jodl vom 13.12. 37, IMT XXVII, S. 356. Die These Warlimonts, S. 26 f., Blombergs militärische Einsicht hätte ihn wohl doch dazu geführt, „einen maßgeblichen, zumindest hemmenden Einfluß auf die Kriegspolitik und, wenn nicht auf diese, so doch sicher auf die militärische Führung Hitlers zu nehmen", ist wenig überzeugend. Denn Warlimont führt als Beweis unter anderem Blombergs Einspruch am 5.11. und seine Warnung vom 13.12. an; er vergißt jedoch, daß trotz dieser Tatsachen der Minister dennoch die entscheidende Weisungsänderung hat durchführen 210

lassen. 211

Foerster, S. 80. Das ¡st nachdrücklich festzuhalten

gegenüber den späteren Abschwächungsversuchen Blombergs und Raeders in Nürnberg, daß der ObdH, der Außenminister und eben audi Beck die Tragweite der Ausführungen Hitlers wohl begriffen und sie damals ernst genommen haben. Beck war auch bei der Unterredung Neurath-Fritseh vom 7.11. zugegen (IMT XVI, S. 701). 213 Zu diesem Zeitpunkt vertrat Beck den in Erholungsurlaub befindlichen ObdH in den laufenden Geschäften. Fritsch war nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 284, am 10.11.37 in Urlaub gefahren. 214 Im Beck-Nachlaß (BA/MA H 08-28/4) befindet sich das Original (ohne Überschrift) und ein Durchschlag mit handschriftlicher Bleistiftüberschrift von Becks Hand „Randbemerkungen zu einem mir vorgelegenen Protokoll der Besprechung des Führers mit Blomberg, Göring, Fritsch, Raeder, anfangs November 1937". Auf dem Original sind etliche handschriftliche Bleistiftkorrekturen Becks sowie (von fremder Hand) mit roter Tinter „Für die Sonderakte ,Chef Generalstab'". Da das Schreibmaschinenoriginal vorhanden ist, hat Foerster (S. 80 und S. 168, Anm. 46) vermutet, daß das Memorandum wohl kaum weitergegeben worden sei, sondern als ein Produkt „schriftlichen Denkens", wie es Becks Angewohnheit war (Foerster, S. 80), anzusehen sei. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, daß er diese „Randbemerkungen" als Vortragsnotizen für eine Besprechung mit Blomberg benutzt hat. Dafür könnte die Tatsache sprechen, daß von diesem Produkt schriftlichen Denkens überhaupt eine Schreibmaschinen-Umschrift angefertigt wurde sowie daß die auf Hitlers Argument bezogene Qualifikation, sie sei „niederschmetternd", im Original von Beck handschriftlich in „nicht überzeugend" abgeändert worden ist. Becks Aufzeichnung ist auch bei Foerster, S. 80-82, unter (nicht gekennzeichneter) Auslassung des ersten Absatzes abgedruckt. Foerster hat dabei zahlreiche stilistische und grammatische (nicht vermerkte) Änderungen, Zusätze bzw. Auslassungen vorgenommen. Unsere Zitate im Text folgen der Originalquelle. Die Datierung der Aufzeichnung ergibt sich aus Becks Paraphe mit dem Datum „12. 11. 37". 212

V. Probleme der

250 renzen

und

Außenpolitik und der Führungsorganisation

grundsätzlicher Ablehnung im Verhältnis

zu

Hitler und dessen Plänen

ver-

liefen. Beck räumte ein, daß „das Problem des Raumes... für Deutschland zweifelsohne" bestehe; er betonte jedoch, man dürfe nicht übersehen, daß die Bevölkerungslage in Europa seit längerer Zeit sich so stabilisiert habe, „daß weitgehende Änderungen ohne schwerste und in ihrer Dauer nicht abzusehende Erschütterungen kaum noch erreichbar erscheinen". Diese Ansicht war geradezu ein Grundaxiom seines Denkens215. Weiterhin räumte er ein, daß man hinsichtlich der Beteiligung an der Weltwirtschaft nicht unabhängig sei, aber aus dieser Tatsache „als einzige Abhilfe die Gewinnung eines größeren Lebensraumes" zu fordern, schien ihm eine nicht überzeugende Schlußfolgerung zu sein. Er akzeptierte wohl die Möglichkeit, auch die Zweckmäßigkeit von begrenzten Gebiets-

veränderungen und Grenzrevisionen zugunsten Deutschlands; jedoch gab er zu bedenken, das dürfte nicht dazu führen, „die Einheitlichkeit des deutschen Volkes, des deutschen Rassekerns, erneut" zu gefährden216. Beck würde die Möglichkeit „Bereinigung" des tschechischen Problems durchaus begrüßen, warnt aber davor, die Wichtigkeit der Tschechoslowakei und Österreichs als Ernährungsüberschußgebiete zu übertreiben. Diese seine Ausführungen wie auch frühere Äußerungen217 von ihm lassen gewisse prinzipielle Übereinstimmungen mit einigen Vorstellungen Hitlers durchscheinen, vor allem hinsichtlich einer weitgestreckten Revisionspolitik. Was die konkrete Verwirklichung derartiger Vorstellungen und Desiderate jedoch anging, so stellte sich der Generalstabschef eindeutig in Gegensatz zu der Auffassung Hitlers, die er recht schroff kritisierte. So sehr er eine Revision der Lage wünschte, so sehr er auch die augenblickliche „Raumnot", die er als ein Resultat der Mittellage Deutschlands und des „Versailler Vertrages" ansah218, für tatsächlich gegeben hielt, hinsichtlich der Modalitäten einer Lösung dieser Probleme hatte er völlig andere Vorstellungen: „Die Politik ist die Kunst des Möglichen, alle drei Völker [gemeint sind Deutschland, Frankreich, England] sind zugleich auf der Welt, noch dazu in Europa, da heißt es doch wohl zunächst, alle Möglichkeiten sich zu arran-



Vgl. auch seine Formulierungen von 1942 (Studien, S. 251, „Die Lehre vom totalen Krieg"): „Das Deutsche Reich als ein Land inmitten Europas und umgeben von vielen, darunter mächtigen Nationen, muß eine behutsamere Politik treiben, als es für manche seiner Nachbarn nötig ist", sowie einen Schriftsatz vom 20. 5. 37 („Die Gruppierung der Mächte in Europa ist heute so, daß man einen Krieg nur zwischen zwei unter ihnen nicht denken kann."). Interessant ist jedoch, daß auch Hitler nach der Hoßbach-Niederschrift die jahrtausendalte Konstanz der europäischen „Bevölkerungslage" feststellt, die kaum noch verändert werden könne. Wie Beck, so kalkuliert auch Hitler Widerstände als Reaktion auf eine Veränderungsinitiative ein. 218 Die an nationalsozialistische Terminologie anklingende Formulierung „Rassekern" ist eine wörtliche Übernahme aus der Hoßbach-Niederschrift (Hoßbach, S. 207) und hier synonym für „ethnischer Kern" gebraucht. 215

-

217

Siehe oben S. 236. „Das Problem des Raumes besteht für Deutschland... in erster Linie auf Grund seiner zentralen Lage in Europa und insofern [Foerster, S. 80, „insoweit"] seit jeher sodann aber auch auf Grund der Gebietsveränderungen durch Versailles." 218

...

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

251

gieren, zu erschöpfen, zumal angesichts des gegenseitigen Stärkeverhältnisses219." Die gegenwärtige europäische Machtkonstellation verbot seiner Ansicht nach im Moment also

eine durchgreifende, gewaltsame Lösung der deutschen Probleme. Einer der wichtigsten Grundsätze seines politischen Denkens und Handelns die Ausrichtung des Wünschbaren an dem Maßstab des Möglichen wird hier erneut deutlich. Es werden jedoch auch Übereinstimmung und Diskrepanz der Vorstellungen des Generalstabschefs und Hitlers deutlich: Beck erkennt Notwendigkeit und Berechtigung einer Revisionspolitik, mehr noch: einer nationalstaatlichen Expansions- und Machtpolitik prinzipiell an, zweifelt jedoch aufgrund der konkreten Gegebenheiten an ihrer Durchführbarkeit, verneint sogar für den Augenblick ihre Opportunität220. Gegenüber allen Versuchen221, diesen Tatbestand abzuschwächen, muß man daher feststellen, daß Beck offensichtlich eine etwaige Kriegspolitik prinzipiell nicht unbedingt ablehnte222, und zwar nicht einmal dann, wenn sie bereits auf konkrete Objekte bezogen wurde: „Die Zweckmäßigkeit, den Fall Tschechei (evtl. auch Österreich) bei sich bietender Gelegenheit zu bereinigen und dafür Überlegungen anzustellen und Vorbereitungen im Rahmen des Möglichen zu treffen, wird nicht bestritten223." Er forderte allerdings genaue und umfassende Vorbereitungen und eine angemessene Berücksichtigung der internationalen politischen Konstellation. Wenn ein Krieg begonnen werde, dann müsse er politisch sinnvoll, militärisch aussichtsreich, politisch wie militärisch hinreichend und sachgerecht vorbereitet224 und im nationalen Interesse sein: So wird man Becks Prinzipien in diesen theoretischen Grundsatzfragen umschreiben dürfen. Da er bei aller Übereinstimmung im Theoretisch-Grundsätzlichen doch in der damaligen Lage das augenblickliche Interesse der Nation, letztlich sogar den Bestand des Reiches, unauflöslich mit der Erhaltung des Friedens verknüpft sah, kam er zu einer Art praktischer Opposition aus Opportunitätsgründen gegen die von Hitler am 5. November umrissene Politik225. -



-

-

Zit. nach Originaltext; Hervorhebung vom Verf. Das zeigt das Wort „zunächst" im vorhergehenden Zitat sowie die darin enthaltene Anregung, die Möglichkeiten des bisher noch nicht begangenen Verhandlungsweges zu erproben. 221 Vgl. vor allem die Interpretation von Buchheit, Beck, S. 103, der in Becks Ausführungen „bereits eine Verurteilung der von Hitler später proklamierten und betriebenen Ostpolitik" sieht. Buchheit zitiert bezeichnenderweise auch nicht die in unserem Text nach Anm. 222 und in Anm. 224 zitierten Absätze! 222 So auch Gackenholz, S. 481 f. 223 Man kann das Gewicht dieser Worte nicht bagatellisieren, zumal diese Aufzeichnung nicht für Hitler bestimmt, also auch nicht taktisch gemeint war; als Ausdruck eines „schriftlichen Denkens" hat sie hohe Beweiskraft für Becks wirkliche Einstellung und Auffassung. 224 „Die über die Voraussetzungen einer solchen Gelegenheit [= „Bereinigung" des Problems Tschechoslowakei und Österreich] angestellten Betrachtungen bedürfen aber einer weit gründlicheren und umfassenderen Untersuchung, als sie aus der Niederschrift der Besprechung entnommen werden kann." 225 Auffallend ist allerdings, daß keine Reaktion Becks auf den am 21. 12. 37 den Oberkommandos der Teilstreitkräfte übersandten „1. Nachtrag zur Weisung... vom 24.6.37" überliefert ist, in deren Anlage 1 (vgl. ADAP, Serie D, Bd VII, S. 548 ff.) als Konsequenz der Hitler-Ausführungen vom 5. 11. 37 unter gewissen Voraussetzungen ein „Angriffskrieg gegen die Tschechoslowa219

229

V. Probleme der

252

Außenpolitik und der Führungsorganisation

Indessen steht hinter der Spannung zwischen Prinzipien und Opportunität, die aus der Denkschrift spricht, mehr als nur Meinungsverschiedenheiten über Methoden- oder Terminfragen226. Das Außergewöhnliche an der Denkschrift war die überaus schroffe, geradezu aggressive Kritik, die Beck an der Grundlage der politischen Gedankenbildung und Entschlußfassung des obersten verantwortlichen Staatsmannes des Reiches übte, des Mannes, der zugleich Oberster Befehlshaber der Wehrmacht war. Nicht so sehr Flitlers damalige außenpolitische Pläne, auch nicht die Differenzen in der Beurteilung des Opporund Möglichen waren es, die seine leidenschaftliche, geradezu zornige Opposition erregten. Die verantwortungslose Leichtfertigkeit, die sachliche Inkompetenz und der offenkundige Dilettantismus, mit denen Hitler seine außenpolitischen Entschlüsse faßte, das war es, was Becks Empörung hervorrief, was diesen sonst so beherrschten und korrekten Mann die schärfsten Formulierungen finden ließ227. In Hitlers zur Argumentation herangezogenen Gedankenführung, fand er, seien die „gesamten historischen Parallelen anfechtbar". Militärpolitische, finanzielle, wirtschaftliche und seelische Grundlagen seien überhaupt nicht behandelt. Die über die Voraussetzungen228 derartiger politischer Pläne angestellten Erwägungen bedürften „einer weit gründlicheren und umfassenderen Untersuchung, als sie aus der Niederschrift der Besprechung entnommen werden" könne. Hitlers Schlußfolgerungen erschienen ihm als ein Versuch, „der Schwierigkeiten wenig durchdacht Herr werden zu wollen". Er qualifizierte sie schlichthin als „Wunschdenken". Seine ganze Empörung faßte er in die Worte: „Der Schluß, spätestens 1943/45 muß die deutsche Raumfrage daher gelöst werden, wirkt in seiner mangelnden Fundierung niederschmetternd229." Konnte die Kritik eines Generalstabschefs an seinem Obersten Befehlshaber noch schärfer und vernichtender sein als diese Worte Becks? tunen

...

kei und damit die Lösung des deutschen Raumproblems" als Planungsfrage genannt wurde. Sollte tatsächlich keine Reaktion Becks auf diese Weisung erfolgt sein, wird man angesidits der Niederschrift vom 12.11. und vor allem der Opposition Becks vom Sommer 1938 daraus selbstverständlich noch keine stillschweigende Zustimmung Becks zu einem Angriffskrieg gegen die Tschechoslowakei unter den gegebenen Zuständen ableiten dürfen. Sein Schweigen könnte mancherlei Gründe gehabt haben. Meincks Ansicht (S. 187) allerdings, daß von dieser Weisung an „die Opposition des Generals Beck gegen Hitlers Pläne" begonnen habe, ¡st in dieser prägnanten Form ebenfalls nicht haltbar. 226 Darauf hat u. E. gegen Wheeler-Bennett u. a. schon Robertson, S. 110, hingewiesen. Er sah etwas unscharf die Differenzen zwischen Beck bzw. Fritsch und Hitler als eine „matter of mental perspective" an. 227 Hatte er früher die Methode der Außenpolitik des Reiches („nicht was wir tun, sondern wie wir es tun...") kritisiert, so zielte seine Kritik nunmehr direkt und unverhüllt auf die Entschlußfassung und die Denkmethoden des „Führers", also auf die Person Hitlers selbst. 228 Er sagte dazu z.B.: „Die kurzen allgemeinen Betrachtungen über England und Frankreich Rußland als Machtfaktor wird leider nicht näher behandelt haben mit dem konkreten Endgegenstand der Ausführungen wenig zu tun. Für diesen [d. h. den „Führer"] handelt es sich nicht um vage Zukunfisspekulationen, sondern nur um die Frage: wo stehen 1938 ff. England, Frankreich usw." (Die vom Verf. hervorgehobenen Worte fehlen in der Wiedergabe bei Foerster, S. 81.) 229 Im Original als Zweitversion handschriftlich mit Bleistift von Beck das Wort „niederschmetternd" in „nicht überzeugend" geändert. -

-

-

-

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

253

Halten wir aber fest, daß diese Kritik sich primär an der Methode und den Modalitäten der Entschlußbildung des Staatsmannes, nicht jedoch so sehr an dem sachlichen Gehalt und den Zielvorstellungen dieses Entschlusses entzündete. Es war also noch keine grundsätzliche, auf den Gehalt der projektierten Politik gehende Kritik. Zu einer solchen auf die Sache zielenden, prinzipiellen Opposition hätte es noch eines tiefgehenderen inneren Durchbruches bei Beck bedurft. Daran hinderte ihn vorerst noch sein in nationalstaatlichen Kategorien verhaftetes und den nationalen Machtstaat als Wert an sich, als absoluten Wert gar, begreifendes Denken. Und doch stand er schon vielleicht ohne daß es ihm in diesem Augenblick ganz bewußt geworden war unmittelbar an jener Grenzscheide, hinter der die grundsätzliche, radikale Opposition begann. Die fachlich-methodische Kritik Becks, sein offenkundiges Entsetzen über die Art und Weise, wie dieser Staatschef Hitler Entschlüsse von schicksalhafter Bedeutung faßte, wurzelte nämlich im letzten in einem spezifischen Ethos230 strenger verantwortungsbewußter Sachgerechtigkeit und unbedingter intellektueller Redlichkeit. An der gröblichen Mißachtung dieser methodischfachlichen Prinzipien, die für ihn eine Frage des Gewissens waren, nahm Beck, dieser in fachlichen Dingen so penible, von hoher Berufsauffassung erfüllte Mann, heftigen Anstoß. In weiterem Zusammenhang mit diesem Sachkomplex wird bisweilen auf die Formulierung verwiesen, die Beck in späteren Jahren, in denen sein Denken immer wieder um das Problem des Verhältnisses von militärischer und politischer Führung kreiste231, in einem Vortrag benutzte, nämlich auf sein Postulat der „sittlich fundierten Politik"232. Worin liegt aber diese sittliche Fundierung? eine wichtige Frage, die bei den einschlägigen Erörterungen meist nicht gestellt wird. Sie hat für Beck, betrachtet man seine späteren Äußerungen, zwei Komponenten: eine „fachliche" und eine „staatspolitische". So stellte er, etwa ein halbes Jahr später, am 16. Juli 1938, in jener bekannten Mahnung an den ObdH233, die gleichsam „sein politisches und militärisches Glaubensbekenntnis" darstellt234, auch das „fachliche und staatspolitische Wissen und Gewissen" als Entscheidungsquellen des geschichtlich-verantwortlich Handelnden heraus. „Staatspolitisch": das geht für ihn auf die Substanz, auf die Materie, auf Inhalt und Ziel der Politik; das meint ihre Bezogenheit auf das „Wohl des Ganzen". Die Komponente des „fachlichen Gewissens" aber bezieht sich auf die Methode, auf das an Sachgerechtigkeit und Berufspflichten aus-

-

-

230

Vgl.

seine

Ausführungen

vom

15. 10. 35

„Zusammenhänge in ihrem Urgrund", warnte vor sprunghaften Eingebungen. 231 232

Vgl. Speidel, „Die Lehre

von

vor

der

der

Kriegsakademie, wo er von dem Erfassen der „erschöpfenden Gedankenarbeit" sprach, wo er

S. 14.

totalen

Krieg" (1942), abgedruckt

Beck, Studien,

S. 231 ff. Der hier anmüsse ein „moralischer Mensch" sein. Dabei zitierte Beck Treitschke, nach dem „Klugheit... für den Staatsmann, auf dessen Schultern das Schicksal von Millionen ruht, nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine moralische Tugend" sei. (Hervorhebung vom Verf.) 233 Beck-Nachlaß BA/MA H 08-28/4. 231 So Speidel, S. 15. vom

gezogene Passus

in:

ebd., S. 249, mit dem Postulat, der Träger einer solchen Politik

254

V. Probleme der

Außenpolitik und der Führungsorganisation

gerichtete Planen und Handeln, auf die Art und Weise des Planens und Handelns. Die Mißachtung dieser Komponente war im November 1937 Anlaß und Grund seiner heftigen Kritik. Und weil diese Methodenfrage für ihn letztlich eine Frage der Ethik war, deshalb formulierte er, trotz noch weitgehender Übereinstimmung in der Sache selbst, seine Kritik derart schroff und schneidend, deshalb lag in seiner Entrüstung und Kritik auch schon der Keim, aus dem später dann seine grundsätzliche Opposition erwuchs, die ihn schließlich, nach Überwindung mancher inneren Hemmungen und nachdem schließlich eine immer weitergehende Ablehnung der konkreten Ziele Hitlers noch hinzukam, geradezu zur Verkörperung einer prinzipiellen Gegenposition zu Hitler werden ließ235. Daß die innere Lage des Offizierkorps und die internen Spannungen zwischen der obersten Heeresführung und der obersten Reichswehrführung keine günstige Basis für eine derartige Position abgeben konnte, ist allerdings dem rückschauenden Historiker nicht verwunderlich.

Krausnick, Vorgeschichte, S. 267.

VI. BLOMBERG-SKANDAL UND FRITSCH-KRISE

Jahr 1938 begann mit einem Skandal. Am 12. Januar heiratete Generalfeldmarschall v. Blomberg in zweiter Ehe eine junge Frau, von der er gegenüber Hitler und Göring erwähnte, sie hätte eine „Vergangenheit"1. Hitler und Göring waren auf Bitten des Reichskriegsministers Trauzeugen bei der in aller Stille vorgenommenen Trauung. Am 23. Januar teilte der Polizeipräsident von Berlin, Graf Helldorf, General Keitel unter Vorlage entsprechender Akten mit, daß die Frau des Feldmarschalls wegen unsittlichen Lebenswandels mehrfach vorbestraft sei2. Keitel erklärte sich bereit, Blomberg dieses Das

Material zu zeigen; Helldorf aber wollte es ihm nicht überlassen, sondern sofort Klarheit schaffen. Daraufhin verwies Keitel, der die neue Frau des Ministers noch nicht kannte, den Polizeipräsidenten an Göring, der als Trauzeuge die Identität der in den Polizeiakten erwähnten Person mit der Gattin des Feldmarschalls einwandfrei feststellen könne. Dieser Rat Keitels war verhängnisvoll3. Statt die Akte an sich zu nehmen und den Fall wehrmachtintern zunächst zu klären etwa unter Einschaltung des Wehrmachtadjutanten Hoßbach verwies Keitel den Polizeipräsidenten an den Mann, der selbst das Amt des Oberbefehlshabers der Wehrmacht anstrebte. Göring bestätigte nicht nur Helldorff die Identität, sondern er unterrichtete auch noch am Abend des 24. Januar Hitler4. Dieser beauftragte Göring, den Feldmarschall am nächsten Tage von der Vergangenheit seiner Frau zu unterrichten. Blomberg lehnte bei der Unterredung mit Göring eine ihm zur Vermeidung eines Skandals vorgeschlagene Nichtigkeitserklärung der Ehe ab. Bei einer zweiten Unterredung mit Göring und Hitler blieb Blomberg auf seinem Standpunkt bestehen5. Die Aussprache endete schließlich mit der Verabschiedung des Feldmarschalls6. -

-

Keitel, S. 103, schreibt, Blomberg habe ihm mitgeteilt, sie sei „aus einfachen Kreisen". Graf Helldorf war durch den Reichskriminaldirektor Nebe unterrichtet worden. 3 Vgl. dazu Keitel, S. 104. Keitel wollte mit dem Hinweis auf Göring gewiß der Wehrmacht nicht bewußt schaden, sondern Helldorf zur Aufklärung des Falles verhelfen. Daß er jedoch die politische Bedeutung der Sache, insbesondere wenn man Göring einbezog, nicht begriff, zeigt seine Naivität. Immerhin hatten sich nach den ersten Gerüchten über die neue Frau des Ministers der ObdH, Hoßbach und Beck bereits bemüht, die Dinge diskret und intern zu behandeln (vgl. 1

2

Hoßbach,

S. 122 f.). Zur Chronologie vgl. Keitel, S. 104 ff.; Hoßbach, S. 123 ff.; J. A. Graf v. Kielmansegg, S. 36 ff., und Foertsch, S. 88. 5 Keitel, S. 104, erklärte, Hitler und Göring hätten Blomberg nicht geglaubt, daß er „unwissend sich in das Abenteuer begeben" hätte. Ebd., S. 105, aber läßt Keitel den ObdW darlegen, er habe von dem „leichtsinnigen Vorlegen" seiner Frau gewußt. 6 Generalfeldmarschall Frhr. v. Weichs berichtet in seinen Erinnerungen, Hitler habe am 4. 2. 38, als er den höheren Generalen u. a. vom Fall Blomberg Mitteilung machte, erklärt, Blomberg sei bei dieser Unterredung zusammengebrochen und habe die äußersten Konsequenzen ziehen wollen. Er, Hitler, habe ihm dies verboten und ihm zugestanden, unter dem Vorwand einer Krankheit den Abschied zu nehmen. Dagegen soll Blomberg nach Aussagen Admiral Patzigs (an das MGFA 4

256

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

Die Verabschiedung Blombergs7 warf die Frage der Nachfolge des gestürzten Oberbefehlshabers der Wehrmacht und Reichskriegsministers auf. Diese Frage ist sowohl der Schlüssel für das Tor, das den Blick auf die Hintergründe freigibt, als auch äußerlicher Anknüpfungspunkt und Überleitung zu jener folgenreichen und verwirrend bösen FritschAffäre. Als Blomberg im Verlauf einer Unterredung mit Hitler Generaloberst Freiherr v. Fritsch als möglichen Nachfolger nannte, hat Hitler geantwortet, auch Fritsch werde gehen müssen, da gegen ihn der Verdacht eines Vergehens gegen den § 175 StGB bestehe8. An diesem Punkte enthüllt sich, daß der Heiratsskandal des Oberbefehlshabers der Wehrmacht, so schwerwiegend dieser moralische Fehltritt Blombergs für das Prestige des Offizierkorps sein mochte, seine historische Bedeutung vor allem als auslösendes Moment für den Fall Fritsch und für die bedeutsame Regelung der Nachfolge im Oberbefehl über die Wehrmacht erhält. Die Koppelung dieser beiden „Fälle", des Heiratsskandals Blombergs und der Anschuldigung gegen den Oberbefehlshaber des Heeres, erfolgte durch Görings Initiative. Er hatte am Abend des 24. Januar Hitler nicht nur den Fall Blomberg unterbreitet, sondern zugleich auch auf eine „Affäre Fritsch" hingedeutet9. Jedenfalls sorgte er dafür, daß Hitler noch in der Nacht oder spätestens am Morgen des 25. Januar eine Akte mit Unterlagen über angebliche sittliche Verfehlungen Fritschs vorgelegt erhielt10. Vieles deutet darauf hin, daß die Angelegenheit Blomberg für Hitler selbst überraschend gekommen ist. Nach dem Zeugnis Keitels sowie seines eigenen Adjutanten Wiedemann soll Hitler von der Nachricht über die Eheaffäre Blombergs tief erschüttert gewesen sein11. 18. bis 19.1.66) etliche Zeit später die Aufforderungen seines einstigen Marineadjutanten Wangenheim, sich zu erschießen, abgelehnt haben. 7 Laut Keitel, S. 105, beklagte sich Blomberg bei dem Chef des Wehrmachtamtes, er habe seinen Sturz dem Ehrgeiz Görings, der ObdW werden wolle, zu verdanken. Nach Foertsch, S. 88, hat Blomberg später selbst erklärt, er habe Hitler am 27. 1. bei der Nachfolgeerörterung auf Göring vom

von

als den dienstältesten Offizier verwiesen. 8 Keitel, S. 105; Foertsch, S. 88. Nach Keitel, ebd. und Tagebuch Jodl, Eintrag vom 26.1.38, IMT XXVIII, S. 356, fanden am 26.1.38 Unterredungen zwischen Blomberg und Hitler statt. Als Hoßbach dem ObdH am 25.1. von dem Heiratsskandal berichtete, lehnte Fritsch für seine Person eine Nachfolge Blombergs ab (Hoßbach, S. 126). 9 Wohl als bei Erörterung etwa notwendiger Konsequenzen im Fall Blomberg der ObdH als dessen Nachfolger erwogen wurde. 19 Hoßbach, S. 123, berichtet, er sei um 2.15 Uhr in der Nacht vom 24. auf 25. 1. in die Reichskanzlei gebeten worden. Zudem haben Gestapobeamte mehrfach ausgesagt, die Akte sei in intensiver Naditarbeit rekonstruiert worden (Krausnick, Vorgeschichte, S. 286, Anm. 177). Die Originale des Aktenvorganges hatten Hitler bereits 1936 vorgelegen, sollten aber auf seinen Befehl vernichtet werden. Das ist offenbar aber nur unvollkommen erfolgt. 11 Keitel, S. 107; Foertsch, S. 140; Wiedemann, S. 114 f. Auch Keitel und Hoßbach berichten, Hitler habe mehrfach betont, wie sehr ihn der Fall Blomberg getroffen habe. Auch später hat Hitler „das historische Verdienst des Kriegsministers um die Errichtung des nationalsozialistischen Staates" mehrfach betont. Blomberg, so sagte er im April 1938, sei es zu verdanken, daß 1933 das konservative Heer reibungslos in den neuen Staat überführt worden sei. Noch im September 1939 bemerkte er, er werde jenes Verdienst Blombergs, „überhaupt seine Einstellung zum National-

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

257

Die Frage, ob Göring aus Anlaß des Blomberg-Skandals das angeblich belastende „Material" von sich aus wieder zutage gefördert hat, um eine dem eigenen Ehrgeiz abträgliche Nachfolge Fritschs als ObdW zu verhindern, oder ob hier ein Zusammenspiel GöringHimmler-Heydrich vorlag, ist aufgrund der unzulänglichen und sich teilweise widersprechenden Unterlagen nicht sicher zu beantworten. Nicht zu übersehen ist jedenfalls, daß Göring zielbewußt die Nachfolge Blombergs anstrebte12. Insgesamt jedoch ist die Frage nach dem Urheber der jetzt eingefädelten Intrige gegen Fritsch von geringerer Bedeutung angesichts der rasdien Entschlossenheit, mit der Hitler nunmehr die Gelegenheit zu einer umfassenden Änderung in der Wehrmachtspitze ergriff. Manches deutet darauf hin, daß dieser Entschluß Hitlers bereits in der Nacht vom 24. zum 25. Januar erfolgt ist. Am Morgen des 25. Januar jedenfalls eröffnete er seinem Wehrmachtadjutanten Hoßbach bereits seine Absicht, auch Fritsch zu entlassen, da dieser homosexuell belastet sei13. Er hat sich also kaum die Zeit genommen, diese Anklage näher zu prüfen14, sondern hielt Fritsch sogleich für schuldig15. Er ließ sich auch erst zwei Tage später auf Drängen Hoßbachs herbei, Fritsch selbst zu hören. Hitler hat also die Situation, die er selbst mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht geschaffen hatte, sogleich unbedenklich und wendig für sich ausgenutzt. Sicherlich hätte es für ihn zahlreiche und weniger anrüchige Mittel gegeben, sich des Oberbefehlshabers des Heeres zu entledigen. Er hätte sachliche Meinungsverschiedenheiten vorschützen können, hätte dem General sein Vertrauen entziehen und unter dem Vorwand der Gesundheitsrücksichten entlassen können. Daß er aber jetzt gerade eine so schmutzige Angelegenheit zum Anlaß nahm, Fritsch zu stürzen, ist von der Methode her auf den ersten Blick schwer verständlich. Oder wollte er Sozialismus... trotz allem nie vergessen; durch ihn sei eine große Anzahl von Reaktionären aus dem Heer entfetnt worden und die anderen mundtot gemacht und auf den Weg der Disziplin und Unterordnung verwiesen worden". (Krausnick, Vorgeschichte, S. 284 f.) Vgl. ebd. aber auch seine Bemerkung aus der Kriegszeit, Blomberg habe mit seinem breiten Rücken zwischen ihm und der Wehrmacht gestanden. 12 Vgl. Keitel, S. 106 (Telefongespräch Keitel-Göring) und S. 106, Anm. 185 (Aussage Wiedemann); Weichs, Erinnerungen, Bd II, S. 39, berichtet, Blomberg habe ihm gegenüber 1946 in der Gefangenschaft die Vermutung geäußert, Göring sei der Urheber der Intrige gegen ihn gewesen, um selbst ObdW zu werden. Wiedemann, S. 112 f., berichtet, Göring habe ihn um Vermittlung bei Hitler gebeten, damit dieser ihm auch das Heer gebe. Hitler habe jedoch auf Wiedemanns entspredienden Hinweis Göring für sachlich ungeeignet erklärt. ...

13

Hoßbach, S. 124. Nach Wiedemann, S.

115 f., hatte der Justizminister Gürtner die Fritsch belastende Akte eine Nacht eingesehen und sie für eine Anklage für ausreichend erachtet, allerdings dringend geraten, nichts gegen den ObdH zu unternehmen. Hoßbach, S. 128, hat am 26. 1. eine Stellungnahme des Justizministers von Hitler gefordert, was dann geschehen sei. Keitel, S. 108, hat Gürtners Stel14

lungnahme

am späten Nachmittag des 26. 1. bei Hitler gesehen. Vgl. auch Tagebuch Jodl vom 38, IMT XXVIII, S. 356 f. 15 Hoßbach, S. 127, berichtet, Hitler habe am 26.1. morgens auf Fritsch's ihm von Hoßbach übermittelte Unschuldsversicherung hin zunächst den Fall für erledigt erklärt, dann aber habe sich

28.1.

seine Haltung wieder wesentlich verschärft. Diese entsprungen sein. 17

Haltung

Hitlers mag taktischen Erwägungen

VI.

258

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

in der Person Fritsch bewußt dem konservativen Offizierkorps moralisch das Rückgrat brechen? Fraglos war sich Hitler seit längerem der bei aller Loyalität doch letztlich konservativen Grundeinstellung des Oberbefehlshabers des Heeres bewußt. Wiewohl er Fritsch bisweilen hofierte und gegenüber der Generalität mit seiner Kritik zurückhielt, so war doch seine wahre Stimmung eine andere16. Er hatte auch erkannt, daß das Oberkommando des Heeres aus fachlichen Gründen sich nur schwer mit dem von ihm geforderten Tempo der Aufrüstung abfand, um nur ein Beispiel zu nennen. Überhaupt vermißte er bei den Generälen die erwünschte „Dynamik". Vollends seit der Besprechung vom 5. November 1937 wird ihm der militärpolitische und außenpolitische Gegensatz zu seinen führenden Militärs offenkundig gewesen sein. Seitdem gab er nämlich wiederholt seinem Mißmut gegenüber der Armee deutlich Ausdruck17. Ob allerdings ein direkter Zusammenhang zwischen dem Widerspruch Blombergs und Fritschs am 5. November 1937 und ihrer Entlassung besteht, ist zweifelhaft und wohl unwahrscheinlich18. Gewiß hat Hitler das Widerstreben Blombergs19, Fritschs und anderer Generäle gegen seine sich abzeichnende außenpolitische Konzeption gesehen. Aber es läßt sich nicht beweisen, daß ihr Widerspruch am 5. November der unmittelbare Anlaß zu ihrer Entlassung im Januar/Februar 1938 war; bestimmt traf das nicht für Blomberg zu. Gewiß aber wird Hitler sich über den Gegensatz im klaren gewesen sein, der durch die Eigenständigkeitsbestrebungen der Armee gegeben war. So hat auch Hoßbach mit vollem Recht rückblickend die Frage aufgeworfen, ob nicht „aus innerer Gesetzmäßigkeit" die Auseinandersetzung zwischen den divergierenden „sittlichgeistigen Tendenzen des Heeres und der Partei" eines Tages doch hätte erfolgen müssen womit er das Problem der um die Wahrung einer inneren Autonomie und einer Sonderstellung bedachten Armee in einem totalitären Staatswesen auf eine einfache Formel gebracht hat20. Demgegenüber ist jedoch anzumerken, daß der damalige Zeitpunkt für so -

16

Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 283 (Aussagen Görings und Bodenschatz') und S. 288; WiedeFritsch sei der Offizierstyp gewesen, „den Hitler innerlich ablehnte". Vgl. Hoßbach, S. 139 und 143. Fritsch wurde auf seiner Ägyptenreise 1937 von der Gestapo

mann, S. 115: 17

beobachtet;

kursierten zu jener Zeit auch Gerüchte, Fritsch werde demnächst seines Postens entKrausnick, (vgl. Vorgeschichte, S. 284, Anm. 169), vgl. auch BA/MA H 08-110/1 (Nachlaß v. Gaertner). Stülpnagel, S. 356, berichtet von einem Anruf, den er einige Tage vor dem Ausbruch es

hoben

der Fritsch-Krise erhielt. Ein Unbekannter sagte ihm: „Sie sind ein Freund des Generals v. Fritsch. Er ist in größter Gefahr!" Stülpnagel machte Fritsch sogleich von diesem mysteriösen Anruf Mitteilung; der ObdH zeigte sich jedoch wenig beunruhigt, wies allerdings die Möglichkeit irgendeines Anschlages von Seiten der Partei nicht von der Hand. Audi Goerdeler will Fritsch im Januar 1938 vor einer Aktion der Gestapo „gegen die Armee" gewarnt haben (Ritter, Goerdeler, S. 163). 18 Vgl. dazu die Kontroverse zwischen Gackenholz, der diesen Zusammenhang verneint, und P. Graf v. Kielmansegg, der stärker Hitlers Absicht, sich des ObdH zu entledigen, herausstellt. 19 Generalfeldmarschall Frhr. v. Weichs berichtet in seinen Erinnerungen, daß Hitler am 4. 2. 38 vor der Generalität heftige Vorwürfe gegen Blomberg erhoben habe, da dieser aus Besorgnis vor einer drohenden Kriegsgefahr versucht habe, ihn in seinen politischen Entschlüssen wie Aufrüstung und Rheinlandbesetzung zu behindern. 29 Hoßbach, S. 174.

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

259

einschneidende Veränderungen in der Wehrmachtspitze gerade aus außenpolitischen Gründen keineswegs günstig war21. Zudem war Blomberg zweifellos für Hitler immer noch ein getreuer Gefolgsmann in der nationalsozialistischen Beeinflussung der Wehrmacht. Jetzt aber mag Hitler, zweifellos von dem Heiratsskandal völlig überrascht, erkannt haben, daß Blomberg nicht mehr zu halten war. Warum aber versuchte er dann nicht wenigstens, den Sturz des ObdH zu vermeiden? Indessen lagen jetzt, wo auch ein „Fall Fritsch" ins Spiel gebracht worden war, die Dinge für ihn anders. Mochte er anfänglich vielleicht wirklich an die Echtheit des ihm unterbreiteten Materials gegen den Generaloberst geglaubt haben was immerhin angesichts des sich ihm an dem Fall Blomberg enthüllenden menschlichen Versagens eines hohen Offiziers nicht unverständlich gewesen wäre -, er mußte sich jedenfalls sogleich sagen, daß mit Blombergs Sturz in erster Linie der ObdH als dessen Nachfolger in Frage käme. Das aber war eine Aussicht, die ihm nicht unbedingt behagen mochte. Hatte er doch selbst den General einmal als Turm der politischen Opposition bezeichnet! Unter Blomberg konnte er einer Führung der Wehrmacht im Sinne des Regimes noch sicher sein. Unter Fritsch jedoch würden die Dinge bei aller Loyalität des ObdH gewiß anders liegen. Man denke doch nur an das bereits geschilderte Ringen zwischen OKH und OKW um die Spitzenorganisation der Wehrmacht, auf deren politische Relevanz schon hingewiesen worden ist! Nun, da Blombergs Sturz unvermeidlich schien, mußte unter Berücksichtigung der machtpolitischen Aspekte der Lage auch Fritsch ausgeschaltet werden. Das mag der Grund gewesen sein, warum Hitler die ihm gebotene Gelegenheit, Fritsch ebenfalls zu beseitigen, ergriff, ohne lange Überlegungen darüber anzustellen, ob und wie man möglicherweise den doppelten Wechsel vermeiden könnte. Vielmehr richtete sich nunmehr sein ganzes Tun und Trachten darauf, diese von ihm mit Recht als Machtfrage betrachtete Angelegenheit so zu erledigen, daß unangenehmen oder gar seine Position gefährdenden Reaktionen von seiten des Militärs zuvorgekommen würde. Daher griff er die ungeheuerlichen Anschuldigungen gegen den ObdH so rasch und zielstrebig auf. Sie boten ihm die Möglichkeit, die ganze Sache auf eine persönliche und unpolitische Ebene zu transponieren. Um eventuellen unliebsamen Gegenzügen von Seiten der Generalität vorzubeugen, setzte er seine ganze taktische Raffinesse und Bedenkenlosigkeit ein. Er mußte nunmehr die Initiative in der Hand behalten. Daher beließ er es nicht bei der eines Staatsoberhauptes wie eines Oberbefehlshabers des Heeres unwürdigen Gegenüberstellung mit dem angeblichen Tatzeugen, einem Zuchthäusler und berufsmäßigen Erpresser; daher wies er das ihm von Fritsch als Unterpfand der Unschuld angebotene Ehrenwort zurück. Er befahl Fritsch noch am Abend des 26. Januar, seinen Abschied einzureichen und sich am nächsten Tage zwecks Vernehmung ins Gestapo-Hauptquartier zu begeben was der ObdH auch trotz -

-

21

Vgl. Hitlers Äußerung zu Himmler und Heydrich, als diese ihm nach der Rheinlandbesetzung das Material über die angeblichen sittlichen Verfehlungen von Fritsch unterbreiteten. Er soll damals gesagt haben, Fritsch sei zwar der stärkste und bedeutendste Gegner im Lager der Armee, aber aus Gründen der außenpolitischen Lage könne und wolle er nichts gegen ihn unternehmen. Daher sollte die Akte vernichtet werden. 1938 vor der Österreich-Besetzung galten eigentlich ähnlidie Gründe.

260

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise tat22. Hitler lehnte auch den

Vorschlag Hoßbachs ab, die heranzuziehen. Ebenfalls wollte er rangältesten Untersuchung von die Angelegenheit nicht einem militärischen Ehrengericht klären lassen. Als er schließlich eine kriegsgerichtliche Untersuchung und die Einsetzung eines Kriegsgerichtes doch nicht abwenden konnte23, behielt er sich jedoch die Befugnisse des Gerichtsherrn vor und ordnete vor allem eine Paralleluntersuchung durch die Gestapo an. Hitler war also bemüht, durch vollendete Tatsachen die Weichen zu stellen und Verwirrung in die Reihen seiner Gegenspieler zu tragen. Nachdem er einmal den Entschluß zur Beseitigung des ObdW als auch des ObdH gefaßt hatte, wollte er auch die Affäre Fritsch unter allen Umständen so zum Abschluß bringen, daß die Nachfolgefrage zugunsten seiner weiteren Machtbefestigung und Verstärkung gelöst wurde. Das Nachfolgeproblem und der Komplex der Rehabilitierung des Generalobersten waren also eng mit der Frage der Usurpierung der Wehrmachtführung durch Hitler verknüpft. Hinsichtlich der Nachfolge Blombergs traf Hitler bald eine Entscheidung. Bei der Unterredung mit Blomberg am 26. Januar bemerkte er, Fritsch käme als Nachfolger nicht in Frage, da dieser ebenfalls ginge. Blombergs Vorschlag, Göring zu seinem Nachfolger zu ernennen, da dieser der rangälteste Offizier der Wehrmacht sei, wischte er mit einigen unfreundlichen Bemerkungen über seines Paladins Bequemlichkeit beiseite. Daraufhin schlug Blomberg vor, Hitler solle selbst die Stellung des Reichskriegsministers wahrnehmen24. Dieser äußerte sich dazu nicht, sondern nahm diesen Vorschlag lediglich zur Kenntnis. Trotz dieser gegenüber Blombergs Vorschlag zur Schau getragenen Gleichgültigkeit griff Hitler die Anregung zielstrebig auf. Als Keitel mit ihm am nächsten Tag, dem 27. Januar, über die Nachfolge sprach und ihm, wie auch schon am Vortage, Göring als den geeigneten Nachfolger für Blomberg vorschlug25, erklärte er, er werde selbst die Nachfolge antreten. Noch am 26. Januar fielen in einer Unterhaltung zwischen Hoßbach und Hitler26 die Namen der Generäle v. Rundstedt und Beck sowie, als Übergangslösung, auch der des Generals a. D. Graf v. d. Schulenburg27. Am 27. Januar aber hatte er nach Blombergs letztem Besuch seinen Entschluß bezüglich dessen Nachfolge gefaßt28. Bezeichnend an diesen Vorgängen ist folgendes: Sowohl Blomberg als auch Keitel haben als Nachfolger für das Amt des Reichskriegsministers zunächst keinen General, sondern Göring vorgeschlagen. Blomberg begründete seinen Vorschlag mit dem Argument der der

Warnungen seiner Freunde

Offiziere des Heeres

zur

Stülpnagel, Erinnerungen, S. 356, erklärt dies mit Fritschs tiefer seelischer Erschütterung. Auch Keitel, S. 110, hat Hitler mehrfach stark gedrängt, ein kriegsgerichtliches Verfahren anzuordnen. Über die Vorgeschichte des Verfahrens vgl. J. A. Graf v. Kielmansegg, S. 43 ff. 24 Foertsch, S. 88 (Aussage Goltz aufgrund einer Mitteilung Blombergs). 25 Keitel, S. 107 (26.1.) und 109 (27.1.). 29 Hoßbach, S. 128. Schon am 26.1. hatte Hoßbach Göring als Nachfolger abgelehnt und war damit auf Hitlers Verständnis gestoßen. Raeder will gegenüber Hitler Fritsch als Nachfolger Blombergs genannt haben. (Raeder, Bd II, S. 120.) 27 Friedrich Graf v. d. Schulenburg (1865-1939), General d. Kavallerie a. D., im Ersten Weltkrieg 22

23

u. a. Chef des Generalstabes der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz, 1924—1928 deutschnationaler Reichstagsabgeordneter, seit 1931 Mitglied der NSDAP, Ehren-SS-Führer. 28 Hoßbach, S. 131 (27.1. 38), und Keitel, S. 109.

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

261

Anciennität. Wahrscheinlich aber spielte auch eine persönliche Verstimmung gegenüber seinen Kameraden und Standesgenossen mit, von denen er sich wegen seiner Eheaffäre ausgestoßen fühlte29. Ausschlaggebend für Hitlers Entschluß, selbst die Nachfolge des ObdW anzutreten, scheint dann der Rat Blombergs gewesen zu sein30, der ihm die persönliche Übernahme der Wehrmachtführung vorschlug, als Hitler Görings Kandidatur abgelehnt hatte. Keitel hatte eine Nachfolge Görings schon vor seinem Gespräch mit Hitler ins Auge gefaßt. Am 26. Januar suggerierte er diesem, nur er Göring käme doch für die Nachfolge des gestürzten Ministers in Betracht31. Er begründete es damit, daß Göring sich wohl kaum einem anderen Heeresgeneral unterstellen würde eine Feststellung, welcher dieser natürlich zustimmte. In zwei Unterredungen am nächsten und übernächsten Tage (26. und 27. Januar) versuchte Keitel dann, Hitler zu bewegen32, Göring zum Oberbefehlshaber der Wehrmacht zu ernennen. Seine Stellungnahme für Göring in dieser Angelegenheit ist für die politische Unbedarftheit des Chefs des Wehrmachtamtes ebenso bezeichnend wie für seine einseitig militärische, speziell organisationstechnische Denkweise. Indem er Göring, den formal rangältesten Offizier, vor allem aber den vermeintlich zweitmächtigsten Mann im Staat, vorschlug, glaubte er, die einheitliche oberste Wehrmachtführung gegenüber den Eigenständigkeitsbestrebungen der Teilstreitkräfte in besonderem Maße sichern zu können. Die politischen Gegebenheiten kamen ihm überhaupt nicht in den Blick; er sah nur das Ziel, die Schaffung einer einheitlichen Wehrmachtführung, die sich auch gegenüber den anderen Wehrmachtteilen durchsetzen könnte. Das war für ihn der einzig ausschlaggebende Punkt33. Der Gegensatz zu der Einstellung Becks springt ins Auge. Ebenso offenkundig ist, wie sehr eine solche Haltung den Plänen Hitlers entgegenkam. In einem totalitären Staatswesen, wie das Dritte Reich es war, mußte zwangsläufig, ob gewollt oder ungewollt, der unpolitische Soldat, der sich nicht nur grundsätzlich von der Politik zurückzog, sondern dem vor allem auch die politische Relevanz seines eigenen Bereiches nicht in den Sinn kam, zum Werkzeug des Totalitarismus werden. -

-

-

So die Vermutung von Foertsch, S. 88. Interessant ist allerdings, daß auf einer Kommandeursbesprechung des XIII. Armeekorps vom 7. 2. 38 in einer „Erklärung zur Lage" behauptet wird, die „Befehlsübernahme [Hitlers] war in seinem Programm bereits vorgesehen, allerdings für einen späteren Zeitpunkt" (MGFA/DZ WK XIII/1021; vgl. Dok.-Anh. Nr. 31). 31 Keitel, S. 106. 32 Ebd. S. 107 und 109. 33 Über die Motive Keitels und die Haltung Jodls vgl. auch Jodls Tagebuchaufzeichnungen vom 26.1.: „Keitel spricht erschüttert und mit Tränen in den Augen über den Schlag, den unser gemeinsames Werk erlitten hat. Ich sage ihm: Mag der Mann auch fallen, sein Werk muß bleiben." Ebenfalls hatte Keitel am 26. 1. nach dem Tagebuch Jodls eine Aussprache mit dem ObdH und dem ObdM „in dem Sinne, daß die einheitlidie Führung der Wehrmacht gesichert sein und bleiben muß". Vgl. auch Jodls Tagebucheintragung vom 27. 1.: „General K. sagt zu mir: Die Einheit der Wehrmacht ist gerettet... alle Schatten werden überstrahlt durch die Gewißheit: das Werk des ersten Feldmarschalls des Dritten Reiches, die Einheit der Wehrmacht und ihrer Führung lebt..." (IMT XXVIII, S. 356 ff.) 29

39

-

VI.

262

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

Verhalten und Stellungnahmen Blombergs und Keitels haben es Hitler so in entscheidendem Maße ermöglicht, die oberste Wehrmachtführung an sich zu ziehen. Bei der Regelung der Nachfolge des ObdH zeigte Hitlers Verhalten, daß er alsbald entschlossen war, mit der Beseitigung Fritschs zugleich eine Art Systemwechsel in der Führung des Heeres anzustreben. Der Gedanke, sich von Fritsch zu trennen, wird ihm wohl bereits in der Nacht vom 24. auf den 25. Januar gekommen sein. Hartnäckig hielt er an seinen angeblichen oder tatsächlichen Zweifeln hinsichtlich der Unschuld des ObdH fest, auch als Beck ihm dessen ehrenwörtliche Versicherung, er sei schuldlos, überbrachte. Daß er bei dieser Gelegenheit Beck den Posten des ObdH anbot, mag ein weiteres Indiz dafür sein, daß er Fritsch bereits fallengelassen hatte34. Beck lehnte allerdings ab, da Fritschs Schuld nicht einwandfrei erwiesen sei, und forderte eine kriegsgerichtliche Untersuchung, bevor überhaupt an eine Amtsenthebung des Oberbefehlshabers des Heeres gedacht werden könne35. Hitlers Angebot an Beck war entweder nur ein unverbindlicher Testversuch oder ein Anzeichen dafür, daß er zu diesem Zeitpunkt wohl an einen personellen, nicht aber bereits an einen Systemwechsel in der Führung des Heeres gedacht haben mag. Kurz darauf aber scheint er dann doch einen solchen ins Auge gefaßt zu haben: In den Unterredungen mit dem General Keitel wies er den Vorschlag nämlich zurück36, General v. Rundstedt zu berufen37, da dieser zu alt sei, und schlug nunmehr von sich aus den General v. Reichenau vor. Keitel lehnte Reichenau ab, da dieser weder gründlich noch fleißig sei, zu oberflächlich, wenig beliebt in der Armee und da dessen Ehrgeiz auf politischem, nicht aber auf S. 130. Zwei Unterredungen Becks mit Hitler fanden danach in der Nacht vom 26. statt. Nach dem ersten Gespräch mit Hitler, in dem dieser den Generalstabschef von der Beschuldigung gegen den ObdH in Kenntnis setzte, stand Beck nach Hoßbach „zunächst noch stark unter dem Eindruck der Eröffnungen, die Hitler ihm gemacht hatte". Daß es sich um eine Intrige gegen Fritsch handelte, „durchschaute Beck... natürlich noch nicht ganz". Diese Schilderung Hoßbachs von den Zweifeln und der Unklarheit Becks ist als das primäre Zeugnis der Darstellung von Foerster, S. 87, vorzuziehen (vgl. aber auch Foerster, S. 168 f. Anm. 52). Wichtig für die Beurteilung des Angebotes Hitlers an Beck wäre die Datierung. Hoßbach gibt die Nacht vom 26. auf 27.1. an; Keitel, S. 108, aber berichtet, er habe am 26. 1. dem „Führer" die Generale v. Rundstedt und v. Brauchitsch als Nachfolger des ObdH vorgeschlagen. Hitler jedoch hätte von sich aus Reichenau genannt, den Keitel seinerseits ablehnte. Jodl dagegen verlegt diese Unterredung in seinen Tagebudinotizen auf den 28.1. vormittags. Wenn Keitels Angaben stimmten, dann könnte man Hitlers Angebot an Bede, das also dann nach der Unterredung Hitlers mit Keitel stattgefunden hätte (in der Nacht vom 26. auf 27. 1.), nur als einen nicht ernst gemeinten Versuch auffassen, da er ja dann schon vorher gegenüber Keitel eine Kandidatur Reichenaus befürwortet hätte. Sollten Jodls Tagebucheintragungen dagegen zutreffen, dann stellt sich die Entwicklung so dar, daß Hitler erst ernsthaft an Beck gedacht haben mag und erst, nachdem dieser abgelehnt hätte, auf Reichenau gekommen wäre, also spätestens am 28. 1., also auch dann erst einen Richtungswechsel ins Auge gefaßt hätte. 34

Hoßbach,

zum

27.1. 38

-

35

Foerster, S. 87.

Keitel,

S. 107 und 109. Gerd v. Rundstedt (1875-1955), General der mandos 1. 36

37

-

Infanterie, Oberbefehlshaber des Gruppenkom-

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

263

rein militärischem Gebiet Befriedigung suche38. Nach Keitels Aussagen hätte Hitler ihm im letzteren Punkte recht gegeben, im übrigen aber bemerkt, sein Urteil sei wohl zu scharf. Keitel empfahl nunmehr den General v. Brauchitsch39, der ein Nur-Soldat sei und ein Könner in Organisation, Ausbildung und Führung; auch das Heer schätzte ihn40. Hitler erwiderte, er wolle mit Brauchitsch selbst einmal sprechen, und entließ Keitel. Bezeichnend war, daß Hitler den General v. Reichenau ins Spiel brachte. Sollte er vielleicht geglaubt haben, dieser biete Gewähr für eine dynamische Führung des Heeres im Sinne seiner Absichten? Dafür spricht, daß er am 31. Januar den General v. Rundstedt empfing und, als dieser Beck vorschlug41, darauf nicht einging, sondern wiederum Reichenau nannte. Diesen aber lehnte Rundstedt „im Namen der Armee" ab42. Hitlers hartnäckiges Festhalten an einer Kandidatur Reichenaus bezeugt auch Keitel43, der während seiner stundenlangen Beratungen mit Hitler in diesen Tagen den Eindruck bekam, daß Hitler von dem Gedanken, Reichenau solle Oberbefehlshaber des Heeres werden, sich nicht lösen konnte44. Dies alles läßt den Schluß zu, daß Hitler mit dem personellen Wechsel der Heeresführung mindestens ab 28. Januar auch ganz bewußt eine Richtungsänderung

anstrebte45.

Auffassung spricht auch, daß Hitler sich erst zur Berufung des Generals Brauchitsch entschloß, nachdem dieser sich bereit erklärt hatte, „das Heer enger an den Staat und sein Gedankengut heranzuführen", einen Wechsel in der Führung und Einstellung des Heerespersonalamtes durchzuführen und, wenn nötig, auch einen neuen Chef Für diese

v.

38

Keitel,

S. 108.

Walther

Brauchitsch (1881-1948), damals General der Infanterie und Oberbefehlshaber des 4 in Leipzig; vorher Befehlshaber im Wehrkreis I und Kommandeur der 1. Division bzw. Kommandierender General des I.Armeekorps. Vgl. die biographische Skizze von Krausnick, in: NDB Bd II, S. 540, sowie die Charakteristik bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 297 f. 40 Auch Blomberg hatte am 26.1.38 Hitler schon den General v. Brauchitsch vorgeschlagen (Keitel, S. 105). 41 Das könnte darauf hindeuten, daß Hitlers Angebot an Beck vom 26. bis 27. 1.38 nicht ernst 39

v.

Gruppenkommandos

gemeint

war.

Rundstedt berichtet in einer 1946 verfaßten Niederschrift, Hitler nahm das zur Kenntnis und „wußte wohl, warum wir diesen nicht wollten". Daraufhin nannte Hitler seinerseits Brauchitsch, den ihm auch Keitel vorgeschlagen hatte. Diesem Vorschlag stimmte Rundstedt zu, denn der General v. Brauchitsch sei ein vornehmer Mann, als sehr guter Führer bekannt und der Armee durchaus als Nachfolger Fritschs willkommen, Foertsch, S. 103. 42

43 44

Keitel, S. 111. Vgl. Tagebuch Jodl vom 28.1. 38,

IMT XXVIII, S. 358 f. Ebd.: „Chef des Wehrmachtamtes rät dringend ab [von einer Ernennung Reichenaus] der allgemeine Eindruck wäre der eines Systemwechsels und nicht nur eines Personenwechsels..." Bezeichnend war auch Hitlers Reaktion, als Rundstedt bei der Unterredung am 31. 1. 38 auf Hitlers Einwurf, später denke er an einen Generalissimus, spontan erwiderte, das müsse dann Fritsch sein. Hitler schwieg daraufhin. (Foertsch, S. 103.) Ähnlich wich Hitler am 4.2.38, als er die Generalität mit den organisatorischen Veränderungen in der Wehrmachtspitze bekannt machte, aus: Auf Mansteins Frage, ob nicht ein Wehrmachtsgeneralstabschef geschaffen würde, antwortete er, dazu sei „zur gegebenen Zeit" der Weg frei. Vgl. Keitel, S. 113. 45

-

VI.

264

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

des Generalstabs des Heeres sich zu nehmen46. Da Hitler die Schwierigkeiten erkannt hatte, eine Kandidatur Reichenaus durchzusetzen, ergriff er die für ihn zweitbeste Möglichkeit, nämlich die an politische Bedingungen geknüpfte Kandidatur des ihm als unpolitisch geschilderten Generals v. Brauchitsch. Der angestrebte Richtungswechsel konnte ihm durch die genannten, von Brauchitsch akzeptierten Bedingungen gleichfalls gewährleistet erscheinen. Hitler hatte sich also sehr frühzeitig bereits zu einer Entlassung des Generals v. Fritsch entschlossen und sogleich oder mindestens kurz darauf auch einen Systemwechsel in der Führung des Heeres angestrebt. Mit dem Sturz des Generalobersten v. Fritsch und seiner Ersetzung durch Brauchitsch war indessen der „Fall Fritsch" noch keineswegs erledigt. Es ging jetzt um die Klärung der gegen den Generalobersten erhobenen Vorwürfe, also um die Frage: Rehabilitierung oder Verurteilung. Das war indessen keine Frage, die nur Fritsch persönlich anging. Sein Verhalten, aber auch Solidarität bzw. Desinteresse seiner Kameraden-vor allem des neuen ObdH und der höheren Generalität mußten den Gang der Entwicklung beeinflussen, ganz abgesehen von den Schachzügen seiner Gegenspieler. Wie reagierte aber der Generaloberst auf die schwere Beschuldigung, vor allem auf die ihm angetane ungeheuerliche Behandlung, die Zurückweisung seines Ehrenwortes, die auf Überrumpelung abgestellte Konfrontation mit einem berufsmäßigen Erpresser, die Ablehnung eines militärischen Ehrenverfahrens, die Einschaltung der Gestapo? Unter dem unmittelbaren Eindruck der ihm gemachten Mitteilung47 von der Anschuldigung hat er für den Fall, daß Hitler sein Ehrenwort nicht annähme, einen Moment spontan an eine bewaffnete Gegenwehr gedacht. Als dieser Fall dann eintrat, hat er jedoch sehr rasch den Gedanken an eine Gegenwehr aufgegeben. Neben seiner seelischen Erschütterung und der Überlegung, daß die Masse des unter dem Einfluß der nationalsozialistischen Propaganda stehenden Volkes vertrauensvoll hinter Hitler stünde und in einer Gegenaktion nur die Reaktion eines persönlich gekränkten, ehrgeizigen Generals erblickt hätte48, leitete ihn vor allem das Motiv, es dürfe wegen seiner Person auf keinen -

Als dritte Bedingungen sollte Brauchitsch die gegenwärtige Spitzenorganisation anerkennen. In diesem Punkte jedoch legte er sich nicht fest, weil er die sachliche Problematik noch nicht übersehe. Tagebuch Jodl vom 28.1.38, IMT XXVIII, S. 358 f. Nach Keitel, S. 111, hat dieser Brauchitsch nach Berlin gebeten, was zu einem schweren Zusammenstoß zwischen Beck als dem geschäftsführenden Vertreter des ObdH und Keitel führte. Beck verbat sich derartige Eigenmächtigkeiten seitens des Oberkommandos der Wehrmacht. Rundstedt habe dann den Streit geschlichtet. Die Bedingungen, die Keitel dem General v. Brauchitsch vorlegte, werden wohl zuvor in jenen „stundenlangen" Gesprächen, die der Chef des Wehrmachtamtes mit Hitler hatte, erwogen worden sein. Ob Keitel sie Hitler suggeriert hat, ist nicht sicher festzustellen, aber wahrscheinlich. 47 Hierzu und zum folgenden vgl. J. A. Graf v. Kielmansegg, S. 36 ff., und Krausnick, Vorgeschichte, S. 288 ff. 48 Vgl. Foertsch, S. 205, vgl. auch die Ansicht von Admiral Dr. h. c. Groos, die dieser in seinen unveröffentlichten Memoiren (Bd III, S. 53) vertritt: man müsse an der Durchführbarkeit eines offenen Widerstandes damals zweifeln, denn die Vertrauenskrise gegenüber Hitler hätte zu jener Zeit lediglich die höheren Führer des Heeres, nicht aber die Masse des Offizierkorps oder gar die 48

-

Truppe ergriffen.

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

265

Blutvergießen und Bürgerkrieg kommen40. Joachim v. Stülpnagel, dem Fritsch der Unterredung mit Hitler und der Gegenüberstellung in der Reichskanzlei berichtete, schlug dem ObdH vor, sofort die höhere Generalität zusammenzurufen, ihnen gegenüber ehrenwörtlich seine Schuldlosigkeit zu erklären und sie aufzufordern, sich zur WahFall

zu

von

Schütze der Ehre des Heeres mit ihm solidarisch zu erklären. Fritsch aber lehnte diesen Vorschlag ab und meinte, er sei jetzt eben ausgeschaltet und müsse abwarten, was die Generalität nun von sich aus unternehme60. Damit hatte Fritsch genau die Haltung eingenommen, die Hitlers taktisches Vorgehen bezweckte: die ganze Sache sollte auf das Gleis einer privaten, persönlichen und unpolitischen Affäre geschoben werden. Mit seinem Verhalten gab Fritsch seinen Gegenspielern eine unerwartete und bedeutsame Hilfestellung. Wie ist diese Haltung des Generalobersten zu erklären? Daß er vor dem Gedanken an bewaffnete Gegenwehr zurückschreckte, ist verständlich. Der Fall eines gestürzten Generals, zumal bei undurchsichtigen Hintergründen, eignet sich schlecht als Anlaß eines Pronunziamento51. Unverständlicher ist jedoch, warum Fritsch nicht auf Stülpnagels Vorschlag einging. Die Erklärung, des Generalobersten Passivität resultiere aus seiner ungeheuren seelischen Erschütterung, erscheint als zu vordergründig. Es war auch mehr als die an Schwäche grenzende Noblesse des adligen Offiziers52. Vielmehr kommt im Verhalten Fritschs während der Intrige gegen ihn exemplarisch die seit 1918 latente Existenz-Krise des Offizierkorps seiner Generation zum Ausdruck. Dieser traditionsverbundene Offizier konnte nicht anders als in Hitler, dem verantwortlichen Staatsführer, seinen „Obersten Kriegsherrn" oder wenigstens eine Art Ersatzpersönlichkeit für einen solchen zu sehen. Die verschiedenen Äußerungen und Aufzeichnungen Fritschs aus jenen Tagen und aus späterer Zeit, die sein Verhältnis zu Hitler betreffen, zeigen mit erschütternder Deutlichkeit, daß Fritsch, eingebunden in eine gewiß ehrenhafte, aber den neuen politischen und soziologischen Gegebenheiten in keiner Weise entsprechende traditionelle Gedankenwelt, hilflos den Ereignissen ausgeliefert war, daß er mit dem Problem Hitler nicht fertig wurde. Daß ein Staatschef Félonie oder gar Schlimmeres noch zu begehen fähig war, überstieg sein Vorstellungsvermögen. So vermochte er zunächst nicht, Hitler hinter diesem Schurkenstreich zu erkennen; er erblickte darin nur die Auswirkungen der „Feindschaft der SS, Himmlers und Heydrichs"53. In seiner Aufzeichnung vom 1. Februar 1938 setzte er daher die üblen Machenschaften jener Kreise in Gegensatz zu der Vertrauenskundgebung Hitlers für die Armee und ihren Oberbefehlshaber vom 3. Januar 1935. Er schrieb darüber: „Ich bin dem Führer hierfür aus tiefstem Herzen dankbar. Ich rung und

49

zum

Foertsch, S. 205; vgl. auch Hoßbach, S. 141. Stülpnagel, Erinnerungen, S. 356 (BA/MA H 08-5/27). 61 Das Tagebuch Jodl, Eintrag vom 26. 2. 38 (IMT XXVIII, S. 368) zeigt aber, daß bei der Truppe eine Resonanzmöglichkeit nicht unbedingt auszuschließen gewesen ist. Vgl. auch August Winnig, Aus zwanzig Jahren, Marburg 21949, S. 81: „Jeder von ihnen wäre bereit gewesen, sein Leben für die Befreiung [des ObdH] zu wagen, nur war keiner da, der sie aufgerufen und geführt hätte." Vgl. auch Foertsch, S. 40. 52 So Krausnick, Vorgeschichte, S. 289. 53 Aufzeichnungen vom 1. 2. 38: vgl. Hoßbach, S. 70 f. 59

VI.

266

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

bin dem Führer überhaupt von ganzem Herzen dankbar für das große Vertrauen, das er mir stets bis auf diesen Fall entgegengebracht hat. Ich bin ihm um so dankbarer, als ich weiß, auch aus seinem Munde weiß, daß von der Partei aus ständig gegen mich gehetzt wird54." Kein Zeugnis kann treffender jenes traditionelle Verhältnis von Offizier und Kriegsherrn kennzeichnen, das Fritsch seinem Verhältnis zu Hitler zugrunde legte, als die Worte, die er damals gesagt haben soll: „Ich denke bestimmt nicht wie Adolf Hitler, aber irgendwie habe ich an ihn geglaubt, er war der Führer, dem ich gehorcht habe55." Erst im weiteren Verlauf der Untersuchung mag ihm wohl eine Ahnung von Hitlers Rolle ge-

-

kommen sein. Erst dann mag er, der sich bisher weigerte, mehr als nur einen persönlichen „Fall" in der ganzen Affäre zu sehen, gespürt haben, daß hier die Ehre der Armee überhaupt getroffen sei; denn er gab am 28. Februar, nach einer erneuten GestapoVernehmung, bei der wiederum eine Gegenüberstellung erfolgt war, zu Protokoll: Eine so schmachvolle Behandlung habe zu keiner Zeit je ein Volk seinem Oberbefehlshaber des Heeres angedeihen lassen. Eine solche Behandlung sei nicht nur unwürdig für ihn selbst, sondern zugleich entehrend für die ganze Armee56. Ende März schrieb er an eine ihm freundschaftlich verbundene Persönlichkeit, nie werde er Hitler das Geschehene vergessen. So scheint Fritsch am Ende erkannt zu haben, daß Hitler sich gar nicht von seiner Unschuld überzeugen lassen wollte57. Als sein Verteidiger, Rechtsanwalt v. d. Goltz, ihm nämlich von der Aufdeckung dieser „Verwechslung" Mitteilung machte, da erwiderte er resignierend „auch das wird dem Führer nicht genügen. Man will etwas derartiges nicht glauben"58. Resignation spricht daraus; ebensosehr aber auch eine eigenartige Scheu, Hitler in diesem kompromittierend ehrlosen Zusammenhang als den Urheber beim Namen zu nennen. Noch nachdem ihm die Erkenntnis der üblen Rolle, die Hitler gespielt haben mag, gekommen war, vermochte er sich nicht aus dem Bann jenes fiktiven, schon längst überholten Vorstellungsverhältnisses von Offizier und Oberstem Kriegsherrn zu lösen59. So verharrte er seelisch gebrochen in passivem Fatalismus: „Dieser Mann ist Deutschlands Schicksal im Dieser Teil ist von Hoßbach, der die Aufzeichnung vom 1. 2. 38 auf S. 68 ff. wiedergibt, nicht abgedruckt. Zit. aus dem Beck-Nachlaß (BA/MA H 08-28/3). 55 Zit. nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 289. 56 Ebd. S. 291. Vgl. auch Hermann Bosch, Heeresrichter Dr. Karl Sack im Widerstand, München 1967, S. 31. 57 Zit. bei J.A.Graf v. Kielmansegg, S. 111; Abschrift auch in BA/MA H 08-33/6, Privatkorrespondenz Frhr. v. Fritsch, Brief vom 23. 3. 38. 58 Foertsch, S. 121. 59 Ähnlich irreal war seine Auffassung vom Automatismus offiziersmäßiger Solidarität. Seine Erwartung, daß die Generalität für ihn eintrete, war gewiß verständlich. Er hat jedoch selbst durch seine Passivität und seine wiederholten Hinweise, man solle sich nicht für ihn exponieren, die Initiative der für ihn zum Einsatz bereiten Offiziere entscheidend behindert. Es waren durchaus Offiziere bereit, für ihn einzutreten. Sie wurden aber durch sein Verhalten gehemmt. Eine automatisch erfolgende Kollektivaktion zu seinen Gunsten zu erwarten, war eine von gewiß hohem Ethos getragene, aber an längst vergangenen Leitbildern orientierte Vorstellung. Stülpnagel, Erinnerungen, S. 357, berichtet, Fritsch habe betont, er sei von seinen militärischen Alterskameraden verraten worden; es sei nicht seine Aufgabe, für sich selbst einzutreten. 54

VI.

Guten wie im Bösen. Geht

es

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

267

jetzt in den Abgrund, so reißt er uns alle mit. Zu machen ist

nichts60." Im Falle Fritsch

zeigt sich eindrucksvoll, wie zählebig traditionelle Verhaltensweisen und zutiefst gewandelter Umwelt noch waren. Sie stammten aus einer Vorstellungen so fehlte diesen Auffassungen jetzt der Wurzelboden; sie waren noch vergangenen Zeit; individuell, subjektiv in einzelnen Persönlichkeiten lebendig. Aber gerade das machte ihre Träger wesensmäßig unfähig, mit den der neuen Wirklichkeit angemessenen Mitteln zu reagieren. Angesichts eines historischen Phänomens, wie es in diesem Falle transparent wurde, ist die kritische Feststellung61, daß Fritsch doch mehr war als eine Privatperson, trotz

daß

er

Repräsentant und berufener Sachwalter des Heeres

war

und daß

er

hinter der

ungeheuerlichen Behandlung seiner Person auch den skrupellosen Anschlag auf die Armee hätte erkennen müssen, weitgehend theoretisch, mag sie auch im Lichte der politischen Vernunft noch so berechtigt sein. Am historischen Befund geht sie vorbei. Die weitere Entwicklung vollzog sich auf zwei Ebenen: Fritsch, mehr noch seine Freunde, kämpften um die Rehabilitierung; Hitler dagegen war bemüht, die Affäre sich nicht zu einer offenen Staatskrise auswadisen zu lassen, sondern möglichst entscheidende Tatsachen zu schaffen. Für ihn war es primär eine Machtfrage. Während die beteiligten Militärs die politische Relevanz der Entwicklung zum Teil wenigstens verkannten und nur eine Ehrenrettung des gestürzten ObdH im Auge hatten, ging Hitler daran, seine Machtstellung über die Wehrmacht zielbewußt auszubauen. Eigene taktische Schachzüge sowie das Verhalten seiner Gegenspieler halfen ihm, die Angelegenheit Fritsch so lange in der Schwebe zu halten, bis er dies erreicht hatte. Die Einschaltung der Gestapo erschwerte die kriegsgerichtliche Voruntersuchung. Als von der Militärjustiz die „Namensverwechslung" aufgedeckt wurde und der Vorschlag gemacht wurde, das Verfahren gegen Fritsch einzustellen62, lehnte Hitler dies ab, gestützt auf Himmlers Behauptung, es handele sich um zwei verschiedene Fälle. Fritsch versagte sich daraufhin ein energisches Auftrumpfen trotz des bestehenden Verdachtes böswilliger Manipulationen, da im Prozeß eine aufgrund der Sachlage zu erwartende Rehabilitierung in Aussicht stand. Hitlers striktes Schweigegebot, -

-

das vom Oberkommando des Heeres unterstützt wurde, beschränkte die Kenntnis des wahren Sachverhaltes auf einen ganz kleinen Kreis. Das brachte weiteren Zeitgewinn: die Mehrzahl der Offiziere, auch der höheren, war unorientiert. Fritsch selbst überließ durch Resignation und Zurückhaltung seinen Gegenspielern weitgehend das Feld. Damit war 60

H

Ausspruch wird bezeugt von Foerster, S. 96, und Stülpnagel, Erinnerungen, S. 357 (BA/MA 08-5/27). J. v. Stülpnagel, der mit Fritsch damals und später häufig zusammentraf, schreibt:

Der

„Er blieb ein seelisch gebrochener Mann feln." (Ebd. S. 358 und 367.)

...

Der Nur-Soldat verlor sich in Grübeln und Verzwei-

So z.B. Krausnick, Vorgeschichte, S. 291; an anderer Stelle aber meint K. dann doch, die Armee sei wohl „an sich" als alleinige Sachwalterin des Gemeinwohls überfordert gewesen (Krausnidc, Stationen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, S. 126). 62 Weichs, Erinnerungen, Bd II, S. 35 (BA/MA H 08-19/6) gibt den Bericht des Präsidenten des 61

Reichskriegsgerichtes, General Heitz, wieder, wonach dieser bei Hitler daraufhin das Verfahren einzustellen.

beantragt habe,

VI.

268

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

Hitler in der Lage, den am 4. Februar in die Reichskanzlei beorderten höheren Generälen und Admirälen die Sachlage so darzustellen, daß wie General Liebmann später schrieb „über die tatsächliche Schuld kaum noch ein Zweifel bestehen konnte"63. Wieder legte Hitler seinen konsternierten Zuhörern absolutes Stillschweigen auf64.

-

-

Inzwischen war General v. Brauchitsch am 3. Februar zum neuen ObdH ernannt worden. Die Umstände dieser Ernennung sind häufig scharf kritisiert worden65. Wie immer man auch die Tatsache bewerten mag, daß Brauchitsch auf die ihm als Voraussetzung für seine Ernennung gestellten Bedingungen einging das Heer näher an den nationalsozialistischen Staat heranzuführen, personelle Veränderungen in den Spitzenpositionen vorzunehmen und einer Wehrmachtsspitzengliederung, wie sie Keitel und Jodl vorschwebte, zuzustimmen66 -, fest steht zweifellos, daß der neue ObdH durch sein Verhalten nicht nur die Position des Heeres beeinträchtigte, sondern zunächst jedenfalls der Sache seines Vorgängers ganz und gar nicht genützt hat. Hätte er nicht wie Beck es auf Hitlers Angebot, ObdH zu werden, getan hatte jede Erwägung einer Nachfolge zurückweisen müssen, solange eine Klärung des Falles Fritsch nicht erfolgt war67? Manche Indizien lassen allerdings vermuten, daß Brauchitsch sich in dieser Phase der Vorbesprechungen zu seiner Ernennung auch erheblich von taktischen Momenten, insbesondere von der Vorstellung, alles tun zu müssen, um eine Kandidatur Reichenaus zu verhindern, hatte leiten lassen68. Daß er sich jedoch auf lange Verhandlungen mit Keitel, Jodl und dann mit Hitler einließ, ohne sich mit den Generälen des Oberkommandos des Heeres vorher abzustimmen, schon um sich für derartige Besprechungen Rat und Rückendeckung zu verschaffen und nicht einsam und allein der geschlossenen Front Oberkommando der Wehrmacht-Hitler gegenübertreten zu müssen, war ein schwerer taktischer Fehler. Er trug ihm das Mißtrauen vieler höherer Führer des Heeres, vor allem im Oberkommando des Hee-

-

-

J. A. Graf v. Kielmansegg,

S. 125. 4.2.38 Tagung vgl. Foertsch, S. 117 ff. (Aufzeichnungen Hoth und sowie Weichs, Erinnerungen, Bd II, S. 34 (BA/MA H 08-19/6). 63

44

Über die

vom

Liebmann),

Stimmen zeitgenössischer Kritik (Hammerstein) bringen die unveröffentlichten Erinnerungen Admiral Dr. h. c. Otto Groos, Bd III, S. 52 (MGFA/DZ). Vgl. auch Krausnick, Vorgeschichte, S. 298 ff. Inwieweit Brauchitsch auch privat sich binden ließ durch erhebliche finanzielle Hilfe von Seiten Hitlers zur Lösung seiner ersten Ehe, wie oft behauptet wird (Krausnick, Vorgeschichte, S. 299; Foertsch, S. 101), ist schwer zu klären. Generalleutnant a.D. Siewert, damaliger 1.Generalstabsoffizier, bezeugt, Brauchitsch habe „von Hitler keine Abfindungssumme für seine Scheidung erhalten" (ZS Nr. 148), sondern aus Eigenem die Abfindung gezahlt. Außerdem, so betont Siewert (ebd. sowie in Mitteilung vom 19. 7. 66 an das MGFA), bewiesen Brauchitschs spätere jahrelange und heftige Auseinandersetzungen mit Hitler, daß der ObdH sich nicht in eine unzulässige Abhängigkeit begeben habe. Vgl. auch Zs. 222, 240, 353 sowie Brauchitschs eigene Aussage: IMT XX, S. 636. Dazu auch Erich Kosthorst, Die deutsche Opposition gegen Hitler zwischen Polen- und Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst Heft 8, Frankreichfeldzug, Bonn 1954 S. 41 und 93 f. 88 Vgl. hierzu Tagebuch Jodl, Eintrag vom 28.1. 38, IMT XXVIII, S. 360. 87 Schärfste Kritik deshalb bei J. A. Graf v. Kielmansegg, S. 112 f., 124. 68 Vgl. Mitteilung Generalleutnant a. D. Siewert vom 19. 7. 66 an das MGFA. Vgl. auch Krausnick, Vorgeschichte, S. 299. So auch trotz sonstiger kritischer Einstellung Schwerin-Krosigk, S. 284. 65

von

=

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

269

ein69. Welche Motive ihn auch zu dieser Verhaltensweise bestimmt haben mögen, er förderte damit die Sache Fritschs überhaupt nicht, im Gegenteil, er bot Hitler unwillentlich wertvolle Hilfestellung. Indem er dann der Verabschiedung einer Reihe älterer, z. T. wegen ihrer konservativen Einstellung bekannter Generäle zustimmte70, gab er dem „Führer" die Möglichkeit, den doppelten Wechsel in der Wehrmachtführung durch die Fassade eines umfassenden Revirements auch Neurath wurde als Außenminister abgelöst zu relativieren. Auch die außenpolitische Entwicklung nutzte Hitler geschickt aus: als am 10. März endlich das Reichskriegsgericht zusammentrat, wurde sogleich die Verhandlung auf Hitlers Verlangen wegen der Zuspitzung der österreichischen Frage wieder vertagt71. Das hatte einen Doppeleffekt: einmal weitere Ablenkung, sodann eine zeitweise Neutralisierung der Militärs, die mit Durchführung des Einmarsches in Österreich befaßt und ausgelastet waren. Schließlich sprach das Reichskriegsgericht den Generalobersten am 18. März wegen erwiesener Unschuld frei. Die Folge war aber keine vollständige Rehabilitierung, also eine Wiedereinsetzung in sein altes Amt; da saß bereits Brauchitsch. Keine Rede auch von einer Reaktivierung; denn damit wäre die Frage der ObdW-Stellenbesetzung wieder akut geworden. Hitler hatte zwar gegenüber Rundstedt geäußert, vorerst wolle er selbst das Amt des ObdW übernehmen, später aber eventuell einen Generalissimus einsetzen. Inzwischen aber hatte er mit den Erlassen vom 4. Februar selbst die oberste Wehrmachtführung usurpiert. Am 30. März Hitler ließ sich Zeit erging an den Generalobersten daher in kühler Freundlichkeit ein Handschreiben72, und unter dem 1. April wurde eine kurze Notiz veröffentlicht: „Der Führer und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht hat dem Generalobersten Freiherrn v. Fritsch zur Wiederherstellung seiner Gesundheit in einem Handschreiben seine besten Wünsche ausgesprochen73." Das war angesichts der gegen Fritsch erhobenen Beschuldigung und der ihm zuteil gewordenen demütigenden Behandlung sowie unter Berücksichtigung des völligen Freispruches alles andere als eine angemessene Rehabilitierung74. Fritsch antwortete in einem Schreiben vom 7. April 193875: „Die kriminelle Beschuldigung ist restlos zusammengebrochen. Nicht aber beseitigt sind res,

-

-

-

69

-

Vgl. Keitel, S. 111.

Hammerstein kritisierte damals unwillig „diese Hekatombe für Brauchitsch" (Otto Groos, Erinnerungen, Bd III, S. 52). 71 Die Vermutung (in zugespitzter Form von Gisevius, Adolf Hitler, S. 408 ff., vorgetragen), daß Göring als der an einer weiteren Ablenkung am meisten Interessierte die Österreich-Aktion im Hinblick auf die im Zusammenhang mit der Fritsch-Affäre möglichen Schwierigkeiten vorangetrieben und überstürzt ausgelöst hätte, ist naheliegend, aber wohl kaum zu beweisen. Vgl. aber auch Tagebuch Jodl, Eintrag vom 31. 1. 38, IMT XXVIII, S. 362: „Führer will Scheinwerfer von der Wehrmacht ablenken, Europa in Atem halten Schuschnigg soll nicht Mut fassen, sondern 70

...

zittern." 72 Text bei Foertsch, S. 126 f.; eine Abschrift befindet sich im Beck-Nachlaß: BA/MA H 08-28/3 (vgl. auch Foerster, S. 169, Anm. 60). Urteil und Urteilsbegründung neuerdings abgedruckt bei Schlabrendorff, The Secret War, S. 375-416. 75 Zit. bei Gisevius, Adolf Hitler, S. 419. 74 Zum gesamten Komplex vgl. J. A. Graf v. Kielmansegg, S. 114 ff. 75 Abgedruckt bei Foertsch, S. 127 f.

VI.

270

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

die mich tief verletzenden Begleitumstände meiner Entfernung aus dem Heere, die um so schwerer wiegen, als der wahre Anlaß meiner Verabschiedung sowohl in weiten Kreisen der Wehrmacht wie des Volkes nicht unbekannt geblieben ist. Ich halte mich für um so mehr verpflichtet, Ihnen, mein Führer, diese den tatsächlichen Verhältnissen Rechnung tragende Auffassung zur Kenntnis zu bringen, als ich aus Ihrem Schreiben ersehe, daß man Sie in dieser Beziehung offenbar falsch-unterrichtet hat." Sodann sprach Fritsch die dringende Bitte aus, „im Interesse von Führer und Armee diejenigen Persönlichkeiten zur Rechenschaft zu ziehen, denen von Amts wegen die Behandlung meines Falles sowie die

rechtzeitige und vollständige Unterrichtung Ihrer Person oblag. Das Kriegsgericht hat meine volle Unschuld festgestellt. Die Wiederherstellung meiner Ehre gegenüber der ...

Armee und dem Volk bleibt der weisen Einsicht Ihrer Person, des Obersten Befehlshabers, vorbehalten ..." Eine Antwort erhielt Fritsch nie. Am 13. Juni hielt Hitler in Barth vor der dort versammelten Generalität eine Ansprache76. Er legte ihnen, die zum überwiegenden Teil über den Fall Fritsch nicht hinreichend und genau unterrichtet waren, die Ereignisse um den ehemaligen ObdH mit großem Geschick aus seiner Sicht dar. Es gelang ihm, seine Zuhörer weitgehend davon zu überzeugen, daß der Ablauf der Affäre nicht anders zu gestalten gewesen sei. Fritsch könne aus Gründen der Staatsautorität nicht wiedereingesetzt werden, so sehr er dies und die menschliche Tragik des Falles auch bedauere. Eine demonstrative öffentliche Rehabilitierung, etwa im Reichstag, sei aus außenpolitischen Gründen ebenfalls unmöglich. Als Genugtuung kündete er sodann an, daß der Erpresser, den die eigentliche Schuld treffe, erschossen werde77. Fritsch aber solle durch Ernennung zum Inhaber des Artillerie-Regiments 12, dessen Kommandeur er einst gewesen war, geehrt werden. Eng verknüpft mit dem persönlichen Schicksal des Generalobersten, aber doch auf einer anderen Ebene liegt die Frage, wie es kommen konnte, daß Hitler die Ausschaltung des ObdH und die Usurpierung der obersten Wehrmachtführung so verhältnismäßig rasch gelang. Im Grunde läßt sich diese Frage nur durch einen Blick auf die Struktur der höheren Generalität der Wehrmacht78 und die individuelle Bewußtseinslage der einzelnen

Vgl. dazu die späteren Niederschriften von Liebmann aus dem Jahr 1939 und Sodenstern aus Jahr 1950, abgedruckt bei Foertsch, S. 129-131, und die zeitgenössischen Berichte von Halder und Stülpnagel im Nachlaß Becks: BA/MA H 08-28/3. Wir folgen hier dem Beridit Halders (auch mit leichten Abweichungen vom Original abgedruckt bei Foerster, S. 94-96). 77 Wie aus einem Schreiben Himmlers vom 29.7.42 (BA EAP 104/3, Bd III) hervorgeht, ist die angeordnete Erschießung nicht erfolgt bis 1942: vgl. Dok.-Anh. Nr. 32. Die rechtsstaatliche Ungeheuerlichkeit einer Erschießung nur aufgrund einer Willensäußerung des Führers ist offensichtlich den in Barth versammelten Offizieren nicht bewußt gewesen. Vgl. allerdings die bei Kraus76

dem

nick, Vorgeschichte, S. 303

Bemerkungen des Gen.-Admirals a. D. Boehm. den Bericht Admirai a. D. Patzigs (Mitteilung an das MGFA vom 18. bis 19. 1. 1966). Patzig wurde damals bei Raeder vorstellig und erklärte: „Es handelt sich um eine Wehrmachtangelegenheit, um nichts anderes als den Generalangriff der Partei auf die Wehrmacht; Sie als dienstältester Oberbefehlshaber müssen jetzt dafür sorgen, daß Hitler keinen General findet, der bereit ist, die Nachfolge von Generaloberst v. Fritsch zu übernehmen." Raeder 78

Vgl.

dazu

Anm. 252, zit.

beispielsweise

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

271

Akteure auf seiten des Heeres beantworten; denn auch die Aktionen und Reaktionen der Gegenseite erfolgten nicht beziehungslos, sondern waren wenigstens bis zu einem gewissen Grade am Objekt orientiert. Wie die Dinge sich nun einmal entwickelt haben, so waren es Haltung und Verhalten einer Reihe höherer Offiziere, die Hitlers erfolgreichen Zugriff auf die Wehrmachtführung jedenfalls in der Art, wie er geschah in wesentlichen Momenten überhaupt erst ermöglicht haben. Blomberg und Keitel haben mit ihren Vorschlägen für die Besetzung des Amtes des ObdW Hitler psychologisch wie taktisch den Weg geebnet. Dabei ist schwer zu entscheiden, ob bei Blomberg persönliche Animosität gegenüber seinen Kameraden in der hohen Generalität oder seine persönliche Gläubigkeit gegenüber Hitler den Ausschlag gegeben hat. Bei Keitel jedenfalls war die unpolitische Verabsolutierung der reinen „Sachlichkeit", das Verhaftetsein in bloß technisch-organisatorischem Denken das ausschlaggebende Motiv seines Verhaltens79. Die Kehrseite war die Blindheit gegenüber der politischen Relevanz der Probleme. Das gilt ebenso für Jodl, bei dem allerdings noch wie seine Tagebuchnotizen beweisen mehr gefühlsbetonte „Gläubigkeit" gegenüber Hitler hinzukam. Diese Kombination von rein fachlicher „Sachlichkeit" und sentimentaler gläubiger Begeisterung ist keineswegs ein schwer verständliches Paradox, denn beide Verhaltensweisen entspringen der gleichen unpolitischen Einstellung. Aus diesem Motiv-Komplex heraus hat Keitel80 erst Göring, dann Hitler selbst als ObdW vorgeschlagen. Aus den gleichen Motiven heraus nahm er entsprechend Einfluß auf die Besetzung des Postens des ObdH. Er lehnte Reichenau ab; dessen Ernennung wäre ihm eine „sachfremde" Politisierung gewesen. Er hat vielleicht auch Hitler den Gedanken einer Kandidatur Becks ausgeredet. Mit Beck als ObdH wäre die von ihm angestrebte einheitliche oberste Wehrmachtführung durch das Oberkommando der Wehrmacht unmöglich gewesen. Bezeichnend ist auch die Kombination der von ihm gestellten Bedingungen für Brauchitsdis Ernennung: das geforderte „nähere Heranführen" des Heeres an den Staat war ebenso zur Förderung der Wehrmaditseinh "¡t gedacht wie die verlangte Hinnahme der neuen Spitzengliederung; auch mit der geforderten Eliminierung von Beck und anderen Heeresgenerälen wäre in die Phalanx der Gegner eines Oberkommando der Wehrmacht eine breite Bresche geschlagen worden. Diese Tendenz Keitels und die in ihr zum Ausdruck kommende geradezu antagonistische Spaltung innerhalb der hohen Generalität des Heeres war ein wichtiges Moment, das Hitler den Griff nach der Wehrmachtführung erleichterte. Wie sehr Generaloberst v. Fritsch durch sein Verhalten selbst ungewollt und in geradezu tragischer Weise dazu beigetragen hat, seinen und den Gegnern der Armee ihr trübes Spiel zu erleichtern, ist bereits geschildert worden. Ihm war es nicht gegeben, seine eigene Sache -

-

-

-

meinte aber:

„Ich mische mich da nicht ein; das ¡st eine Suppe, die sich die

roten

Hosen selbst

eingebrockt haben, sie sollen sie auch auslöffeln." Er ist dann in dem Gericht tätig gewesen und hat für den Freispruch von Fritsch gewirkt, aber eine entscheidende Chance war wohl verpaßt. Vgl. auch Raeder, Bd II, S. 120 ff. 79 Vgl. dazu die analogen Ausführungen bei Meinck, S. 140. 80 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Keitel, S. 106 ff.

272

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

mit den der Situation und den Gegenspielern angemessenen Mitteln zu begegnen. Er vermochte kaum zu verstehen, daß in seiner Person auch die Sache der Armee getroffen war. Darum ließ er die eigene Person und das persönliche Schicksal zurücktreten, auch als es schon längst nicht mehr um ihn selbst ging, sondern in seiner Person um die Sache, das Heer. In Fritschs traurigem persönlichen Schicksal wurde zugleich die Niederlage seiner auf grundsätzlicher Bejahung des „neuen Staates" und gleichzeitig auf Defensive gegen die „parteipolitischen Einflüsse" wie er das Totalitätsstreben des Regimes mißverstand ausgerichtete „Heerespolitik" offenbar. So vermochte er sich nicht zu wehren, die ihm anvertraute Sache nicht zu schützen, ja, er vermochte damit auch seinen Freunden und Mitstreitern im Kampf für seine und die Sache des Heeres nicht zu nützen. Brauchitschs Verhalten gab Hitler ebenfalls manche Vorteile, vor allem taktischer Art, an die Hand. Es ist vor allem gekennzeichnet durch eine Verkennung der relativen Stärkeposition der Armee in negativer wie in positiver Hinsicht. Zunächst hat er während der Vorverhandlungen zu seiner Ernennung es versäumt, sich der Solidarität der obersten Heeresgeneralität als Rückendeckung zu versichern. Die Konzessionen, auf die er sich dabei einließ, hat er teilweise zwar praktisch entschärft bzw. zu umgehen versucht; aber insgesamt verlor das Heer doch dadurch an Boden. Vor allem aber schwächte er damit seine eigene, ohnehin nicht sehr glänzende Ausgangsposition bei der Generalität. Sein Verhalten führte ihn sogleich in ein peinliches Dilemma: einerseits konnte er nicht gleich zu Beginn seiner Amtsübernahme sein Verhältnis zu Hitler dadurch belasten, daß er sich im Fall Fritsch über Gebühr exponierte81; zum anderen aber spürte er sehr wohl, daß es von seinem Verhalten in der Angelegenheit Fritsch abhänge, ob und in welchem Maße er das Vertrauen der Generalität, jedenfalls der Anhänger seines Vorgängers, gewänne. Gerade diese Kreise ließen ihn mehr oder weniger deutlich spüren, daß man das Vertrauen zu ihm weitgehend davon abhängig mache82. Schließlich verzichtete er darauf, dieses Dilemma und die Schwäche seiner Position dadurch auszugleichen, daß er mit anderen Kräften paktierte, die ihm gewisse Avancen machten und die nicht nur im Kampf um Fritschs Rehabilitierung, sondern auch auf dem Wege einer Initiative gegen SS und SD dem Heer verlorenes Terrain wiederzugewinnen versuchen wollten. Er tat ein Angebot des Polizeipräsidenten Graf Helldorf, einen Coup gegen Himmler und Heydrich in die Wege zu leiten, ebenso hochfahrend ab83 wie einen Annäherungsversuch des Stabschefs Lutze, der gleichfalls auf eine Entente gegen die SS zielte84. Auf der anderen Seite ließ er sich durch Hitler von seinem Eintreten für Fritsch während der Untersuchung und für eine Rehabilitierung durch formale Kon-

-

Vgl. dazu Keitel, S. 174 f. Keitel riet ihm, „sein Prestige bei Hitler zunächst nicht weiter zu belasten in dieser delikaten Angelegenheit". Krausnick, Vorgeschichte, S. 297; Westphal, S. 50, und vor allem J. A. Graf v. Kielmansegg, S. 112, 124 f., sprechen Brauchitsch ein ausreichendes Eintreten für Fritsch ab; anders Foertsch, S. 208, und Ritter, Goerdeler, S. 145. 82 Nach Weichs, Erinnerungen, Bd II, S. 34 f., habe Brauchitsch am 4. 2. 38 die um ihn versammelte Generalität eindringlich um ihr Vertrauen gebeten. 83 Gisevius, S. 308 f. 84 Vgl. den Bericht von Gen. Ulex bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 300 f., Anm. 247. 81

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

273

Zessionen davon abbringen, energisch den Dingen weiter auf den Grund zu gehen, wiewohl ihm oppositionelle Offiziere und Beamte genug Hinweise vermittelten und taktisch gut auszunutzende Informationen an die Hand gaben. Das alles zeigt einen geringen Sinn sowohl für die relative Machtposition, welche die Armee immer noch hatte, wie für die Notwendigkeit, jede zur Wahrung der eigenen Interessen des Heeres mögliche Anlehnung wahrzunehmen. Diese Verkennung von Stellung und Lage der Armee offenbart eine bedeutsame Politikfremdheit85. Damit stand er gewiß nicht allein. Das zeigte sich darin, daß seitens der höheren Generalität häufig zurückgesteckt wurde, wenn die Gegenseite „politische" Gründe ins Feld führte. Die Versammlung der Generalität in Barth vom 13. Juni ist dafür bezeichnend. Obwohl einer der damaligen Teilnehmer bestätigte, der „Verdacht, daß die Partei vor allem Himmler hier wieder einmal einen heimtückischen Schlag gegen das Heer geführt hatte"86, sei geblieben, genügte Hitlers Appell, die Generäle mögen „die Fahne in dieser Krise nicht im Stich lassen", um sie zum Schweigen zu bringen und sich mit der unzulänglichen Rehabilitierung abfinden zu lassen. Keiner der um Hitler versammelten Generäle, auch nicht ihr ObdH, hat, wie es einst General v. Loßberg 1918 in Avesnes gegenüber Ludendorff tat87, nachgefaßt, wieso und welche staatspolitischen Gründe eigentlich einer echten Rehabilitierung im Wege standen. Diese offenkundige Hilflosigkeit gegenüber totalitären Praktiken, die Blindheit gegenüber der sich verändernden Machtkonstellation, das nahezu widerspruchslose Zurückstecken, wenn „politische" Argumente ins Spiel gebracht wurden, ebenso auch das Reagieren und Handeln ausschließlich aus organisatorisch-technischen Denkkategorien heraus gegenüber Problemen von höchster politischer Tragweite, all das erleichterte es Hitler, entscheidende Schritte zur weiteren Entmachtung der Wehrmacht zu tun. Es offenbart sich darin gleichsam symptomatisch die Tatsache, daß das einst unter der Monarchie in einen sinngebenden Bezug eingebundene Offizierkorps nunmehr infolge des politischen Strukturwandels seinen festen Ort verloren und noch keine neue, gesicherte innere Ausrichtung gefunden hatte. Die Auswirkungen einer historischen Übergangssituation wurden in Krisenlagen, wie es die Fritsch-Affäre zweifellos war, spürbar. Die Fritsch-Affäre hat außer ihrem Charakter als entscheidendem Markstein auf dem Wege zur fortschreitenden Entmachtung der Streitkräfte noch einen anderen Aspekt. Die Intrige gegen den Generalobersten führte zu einem spontanen Zusammenwirken von verschiedensten Persönlichkeiten, die zuvor nur lockeren Kontakt miteinander hatten. Daraus entstanden Initiativen, die in einigen Fällen sogar zu Aktionsüberlegungen führten. Die oppositionellen Impulse, die in diesem Zusammenhang spürbar wurden, waren gewiß sehr unterschiedlich in Art und Intensität. Ebenso waren die betreffenden Persönlichkeiten nach Stellung und Eigenart, vor allem aber dem „oppositionellen Reifegrad" nach höchst differenziert. Auf—



85

Bezeichnend dafür sind seine

Formulierungen in einem Geheimerlaß über Erziehung im Offi18.12.38 (MGFA/DZ WK VII/1169), in dem es heißt: „Der Offizier soll keine Politik treiben. Sein Dasein, sein ganzes Tun und Handeln aber ist Politik." 88 Liebmann-AufZeichnungen, zit. nach Foertsch, S. 130. 87 Friedrich v. Loßberg, Meine Tätigkeit im Weltkrieg 1914-1918, Berlin 1939, S. 346. zierkorps

IS

vom

VI.

274

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gestört zunächst wegen der unglaublichen Anschuldigung, die gegen Fritsch erhoben wurde, entsetzt sodann und empört über die sich abzeichnenden Umrisse einer bösartigen

Intrige, fanden sie sich zusammen, um nach Kräften dem Generalobersten Hilfestellung geben. Einige wenige Männer bildeten dabei eine Art aktive Kerngruppe, deren Repräsentanten vor allem Oberstleutnant (E) Oster88 von der Abwehrabteilung und sein Freund, der Regierungsrat Gisevius, der aus der politischen Polizeiabteilung des Innenministeriums kam, waren. Oster war seit dem 30. Juni 1934 ein erbitterter Gegner der SS und Gestapo geworden. Er verfolgte von seiner Position in der Abwehrabteilung aus voll Sorge und Entrüstung Ausbau und Wirken des von der SS kontrollierten totalitären Polizei- und Terrorapparates. Zwar identifizierte er die SS noch nicht mit dem NS-Regime schlechthin, aber seine ursprünglich am Bild des nationalistischen Machtstaates orientierten politischen Vorstellungen begannen angesichts der Wirklichkeit des nationalsozialistischen Staates in Konflikt zu geraten mit den religiös-ethischen Prinzipien, denen er sich verpflichtet wußte. So stand er „Anfang 1938 nicht erst, wie andere, an der Grenze zur Opposition", sondern schon im Niemandsland zwischen Opposition und Widerstand89. Die Intrige gegen Fritsch war für ihn zudem nicht bloß ein weiteres skandalöses Beispiel für die Gemeingefahr, zu der er die SS sich auswachsen sah, sondern sie berührte ihn zutiefst persönlich, da er gerade Fritsch „als Soldaten wie als Menschen"00 besonders verehrte. Noch nach dem 20. Juli 1944 bekannte er vor der Gestapo, er habe die Sache Fritschs zu seiner eigenen gemacht, denn durch die dem ObdH angediehene Behandlung sei die Armee in ihrer Ehre getroffen worden91. Für ihn war der Anschlag auf den ObdH jene letzte Grenzverletzung der totalitären Polizeimaschinerie, die ihn über die Trennlinie zwischen Opposition und Widerstand trieb. Dabei sprach seine aus rechtlichen und moralischen Motiven entspringende Empörung über den perfiden Angriff auf Fritsch ebenso mit wie die spontane Abwehrreaktion gegen das Übergreifen der SS auf die Sphäre der Armee, deren Integrität ihm auch im „Dritten Reich" ein Noli me tangere war. Noch gingen seine und seiner Freunde Überlegungen allerdings nicht gegen das Regime schlechthin oder gar gegen Hitler92, aber ihre Absicht, dem von der SS gelenkten totalitären Kontroll- und Maßnahmen-Apparat entgegenzutreten, konzentrierte sich bereits auf Aktionen außergewöhnlicher und formal nicht mehr legaler Art. Unter dem Eindruck des Geschehens um Fritsch verdichteten sich die bisher einigermaßen zufälligen oder temporären Kontakte zwischen diesen bereits hochgradig oppositionellen Kräften und anderen Persönlichkeiten, die erst an der Schwelle zu aktiver Opposition standen93. Unter diesen gab es jedoch noch erhebliche Gradunterschiede. General Tho-

zu

88

Vgl. auch Kap. III dieser Arbeit. Für Oster allgemein vgl. Graml, Der Fall Oster, S. 26-39.

89

Ebd.,

90

KB, S. 430.

91

S. 31.

Ebd. Über Osters politische Ansichten vgl. KB, S. 320, und Graml, Der Fall Oster, S. 28 f. 93 Vgl. zu diesem Komplex Krausnick, Vorgeschichte, S. 305 ff. Die in der Überschrift dieses Abschnitts bei Krausnick anklingende These von „Widerstandspläne[n] im Frühjahr 1938" ist u. E.

92

VI.

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275

mas94, der Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes im OKW, der dem Nationalsozialismus im Prinzip stets fremd und ablehnend gegenübergestanden, ihn anfangs jedoch als eine für den Aufbau einer deutschen Machtstellung nützliche Bewegung angesehen hatte, war sich seit einigen Jahren, nicht zuletzt infolge zweier persönlicher Vorträge vor Hitler, der Gefahr bewußt geworden, die dessen auf kriegerische Expansion abzielende Rüstungspolitik bedeutete95. Noch war er, schwankend zwischen herber Fachkritik an den NSRüstungsmethoden, gewissen Befürchtungen wegen der sich abzeichnenden Risikopolitik und der Überzeugung, daß die Deutschland zukommende Machtstellung auch und vor allem vom Regime Hitlers errungen werden konnte, nicht zu einer eindeutigen Festlegung seiner Einstellung gegenüber dem neuen Staat gelangt. Die Fritsch-Affäre bedeutete, nach seinem eigenen Zeugnis, für ihn nunmehr den „völligen inneren Bruch" mit dem Regime96. Gewiß bedeutete das nicht, daß er von nun an zu grundsätzlichem Widerstand übergegangen ist. Es gab noch entscheidende, aus seiner religiösen Einstellung, aus Überlieferung, Herkunft und Erziehung resultierende Hemmungen, die ihm den Weg dazu noch versperrten. Aber der erhebliche Restbestand an innerer Loyalität, an Vertrauen und Wohlwollen, den er bisher trotz heftiger Fachkritik dem nationalsozialistischen Staat noch entgegengebracht hatte, ging ihm jetzt verloren. Dem Staat Hitlers als der gegenwärtigen politischen Organisationsform des Vaterlandes diente er wohl noch weiterhin, der innere Bezug jedoch war in qualitativ entscheidendem Maße gestört97. Der Reichsbankpräsident und zeitweilige Wirtschaftsminister, Dr. Schacht98, war sowohl wegen der von Hitler eingeleiteten Wirtschafts- und Währungspolitik wie wegen der innenpolitischen Methoden des Regimes wohl noch kritischer als Thomas eingestellt. Auch der ehemalige Oberbürgermeister von Leipzig und einstige Reichspreiskommissar, Dr. Goerdeler99, war aufgrund seines Einblickes in die Entwicklung zu einem temperamentvollen Kritiker des Regimes geworden. In seiner rastlosen Art hatte er versucht, möglichst viele maßgebende Persönlichkeiten, insbesondere auch unter den Militärs, mit seinen Ansichten bekannt zu machen. Er hatte seit geraumer Zeit Kontakt zu Beck, aber auch mit Fritsch den Tatsachen nicht ganz angemessen. Wie aus unserer weiteren Darstellung hervorgeht, kann höchstens von ganz massiven Oppositionsakten, die geplant waren, sprechen, nicht aber von Widerstand im Sinne einer auf die Beseitigung des Regimes zielenden Aktivität. 94 Über Thomas neuerdings: Georg Thomas, Geschichte der deutschen Wehr- und Rüstungswirtschaft 1918-1943/45, hrsg. von Wolfgang Birkenfeld, Boppard 1966 « Schriften des Bundesarchivs 14. Darin S. 1-20 eine biographische Würdigung des Generals vom Herausgeber (fortan zit. Birkenfeld). Über Thomas' Rolle 1938 ebd., S. 8 f. 95 Vgl. Georg Thomas, Gedanken und Ereignisse zum Jahrestag des 20. Juli 1944, MGFA/DZ III H (A) 50. 96 Ebd., S. 2. 97 Über Art und Begrenzung der Oppositionshaltung des Gen. Thomas vgl. die kontroversen Auffassungen von Rothfels, S. 87 f., und Kosthorst, S. 93 f., einerseits sowie Birkenfeld, S. 20 ff., anderseits. 98 Vgl. Hjalmar Schacht, 76 Jahre meines Lebens, Bad Wörishofen 1953, und Krausnick, Vorgeschichte, S. 290, 292, 295, 306, 308. 99 Hierzu Ritter, Goerdeler, S. 146 f. man

VI.

276

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

sowie mit verschiedenen anderen höheren Offizieren in der Provinz100. Beck hatte, wie bereits geschildert, bei noch erheblichen Übereinstimmungen auf sachlich-prinzipiellem Gebiet dennoch in Einzelfragen, in diesen sogar mit einer Art prinzipieller Akzentsetzung, eine scharfe kritische Stellung gefunden, ohne indessen schon zu einer im ganzen oppositionellen Haltung durchgestoßen zu sein. Für die innere Entwicklung all dieser mehr oder weniger nahe an der Schwelle zur Opposition stehenden Persönlichkeiten bedeutete die Fritsch-Krise ein entscheidendes Moment. Für die einen wurde sie der Anstoß zum entweder vorerst noch latenten oder gar zum akuten inneren Bruch mit dem Regime; für die anderen war sie das Erlebnis, das sie auf einen Weg lenkte, der dann irgendwann einmal in der Opposition oder gar im Widerstand endete101. Dieses Zusammenrücken von nach Status, Rang und oppositionellem Reifegrad so unterschiedlichen Persönlichkeiten ist das in unserem Zusammenhang bedeutsame Faktum der Fritsch-Krise. Ebenso wichtig war die Tatsache, daß weitere Persönlichkeiten noch hinzu kamen, die, welche Stellung sie in der offiziellen Hierarchie auch einnahmen, auf Grund ihrer amtlichen Funktion einen wertvollen Zuwachs für die sidi bildende Opposition bedeuteten. Durch Gisevius und Oster wurden der Berliner Polizeipräsident Graf Helldorf ein hoher SA-Führer, aber als alter Soldat tief empört über die Behandlung des ObdH102 sowie der Direktor des Reichskriminalamtes, Nebe103, gewonnen. Der an der kriegsgerichtlichen Untersuchung beteiligte Reichskriegsgerichtsrat Dr. Carl Sack sowie der als persönlicher Referent des Justizministers in das Verfahren eingeschaltete Oberregierungsrat v. Dohnanyi ein Schwager des Bekenntnispfarrers Bonhoeffer beides wertvolle Nachrichten- und Informationsquellen traten in engen Kontakt zu Oster, Gisevius und Beck104. Dohnanyi hatte durch seine Stellung bereits seit langem einen nachhaltigen Eindruck von den verbrecherischen Handlungen des Regimes bekommen. Auch Kapitän z. S. Canaris, der Oster und seinen Freunden in der Zentralabteilung des Amtes „Ausland/Abwehr" in ihrem beständigen Kleinkrieg gegen Partei und SS den Rücken freigehalten hatte, wurde orientiert und intensivierte seine Beziehungen zu Beck106. -

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Fritsch hatte ihm bei seinen Auslandsreisen Empfehlungsschreiben an die betreffenden deutschen Militärattaches mitgegeben und oft im Beisein Becks aufmerksam seinen Reiseberichten zugehört (KB, S. 431). Goerdeler hatte ebenfalls seit einiger Zeit Kontakt zum Chef des Stabes im Wehrkreiskommando IV (Dresden), dem Oberst bzw. General Ulbricht (Ritter, Goerdeler, 109

-

-

S.

146). Vgl. Schacht, 76 Jahre meines Lebens, S. 17: „Die Vorgänge des Februar 1938 wurden für viele Gesinnungsgenossen der Anlaß zu engerem Zusammenschluß, insbesondere für diejenigen, die bis dahin noch gehofft hatten, den politischen Kurs zum Guten wenden zu können." 191

102

So

103

Stülpnagel, Erinnerungen, S. 358, und KB, S. 451 ff.

Dazu Hans Bernd Zürich 1966.

Gisevius,

Wo ist Nebe?

Erinnerungen

an

Hitlers

Reichskriminaldirektor,

Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 306, und Bosch, S. 25 ff. und 31 ff. Abshagen, S. 179 ff., sowie Krausnick, Wilhelm Canaris, in: NDB, Bd III, S. 116 ff., und die Dokumentation „Aus den Personalakten von Canaris" in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 10 194

105

(1962),

S. 280 ff.

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

277

Über die Aktivität und die Pläne dieses Kreises von Einzelpersönlichkeiten, der sich damals bildete, ist im Detail nicht immer vollständig Klarheit zu gewinnen. Aus den verschiedenen Zeugnissen106 ist allerdings zu ersehen, daß ihre Bestrebungen durch eine gewisse Mehrgleisigkeit gekennzeichnet wurden. Dabei handelte es sich weniger um verschieden ausgeprägte Ansätze oder Stoßrichtungen, sondern mehr um differierende ZielvorGemeinsam war ihnen der Wille, dem Generalobersten v. Fritsch mit allen Mitteln zu helfen. Abgesehen von dem Bestreben, Fritsch mit kameradschaftlicher Anteilnahme zu stützen, bemühten sie sich zunächst vornehmlich um die Widerlegung der Anschuldigungen. Das erforderte zunächst ein Eingreifen, um ein ordnungsgemäßes Verfahren zu sichern und eine für Fritschs Sache schädliche Prozedur zu verhindern. Sehr bald führten derartige Bemühungen jedoch zwangsläufig dazu, die Hintergründe aufzuhellen und damit auch die Hintermänner dieser Affäre ans Licht zu ziehen. Diese Erweiterung des Aktionsbereiches resultierte nicht allein aus der Sache selbst; die oppositionelle Aktivgruppe um Oster und Gisevius hatte vielmehr von vornherein allen Bemühungen eine entsprechende Richtung zu geben versucht. Über Nebe und die Abwehr brachte sie die Verteidigung auf die Fährte, die zur Aufdeckung der angeblichen „Namensverwechslung" führte. Canaris teilte diese Personenverwechslung dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Keitel, mit. Fritsch wurde gewarnt, sich weiterhin von der Gestapo vernehmen zu lassen. Beck, in vorsichtiger Zurückhaltung, versuchte, allerdings vergeblich, sich bei Keitel gegen die angeordnete Paralleluntersuchung durch die Gestapo zu verwenden. Durch Vermittlung Osters wurde, als Fritsch sich zur letzten Vernehmung durch die Gestapo in eine Villa am Wannsee begab, für den Fall eines Gewaltstreiches gegen den gestürzten ObdH vorsorglich eine zuverlässige Truppeneinheit in der Nähe unter dem Vorwand einer „Übung" bereitgestellt. Canaris, Viebahn Chef der Abteilung Wehrmachtführung im Oberkommando der Wehrmacht -, und der Präsident des Reichskriegsgerichtes, General Heitz, bemühten sich um den Nachweis, daß Himmler und Heydrich hinter der Intrige gegen Fritsch steckten107. Sorgsam wurden alle im Laufe des Verfahrens gegen den ObdH vorgekommenen Übergriffe der Gestapo registriert. Man begnügte sich also nicht damit, Fritsch durch Sammlung und Bereitstellung entlastenden Materials zu unterstützen, sondern versuchte zugleich, die Machenschaften der SS, Gestapo und SD aufzudecken. Zu diesem Zweck strebte man danach, neue Informations- und Einflußmöglichkeiten sich zu eröffnen. Vor allem ließen es sich die Aktivisten unter jenen Männern angelegen sein, durch gezielte Verbreitung zweckentsprechender Informationen hochgestellte und einflußreiche oder über gewisse Aktionsmöglichkeiten verfügende Persönlichkeiten, speziell aus dem militärischen Bereich, über das Treiben von SS und Gestapo aufzuklären und, wenn möglich, irgendwelche Interventionen zugunsten Fritschs und gegen Himmler und Heydrich herbeizuführen. So kam es schon im frühen Stadium der Entwicklung zu Einwirkungsversuchen Schachts auf Raeder und Rundstedt. Der eine jedoch bedauerte, nichts

stellungen.

-

Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 305 ff.; dort auch die Quellenangaben. Weichs, Erinnerungen, Bd II, S. 35 und Bosch, S. 31 ff.

VI.

278

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

können, der andere bemerkte, seine Lippen seien ihm verschlossen, im schon, was er zu tun habe108. Goerdeler, nach vergeblichem Bemühen, zum Handeln zu bewegen, versuchte, Justizminister Gürtner gegen die zu er stieß auf resignierte Ablehnung. Daraufhin verlagerten sich die aktivieren; Gestapo von der Bemühungen Hauptstadt fort. Goerdeler fuhr nach Dresden, um den Befehlshaber im Wehrkreis IV, General List, zu gewinnen109. Dort hatte man zu jener Zeit, Ende Januar-Anfang Februar, noch gar nichts von einem Fall Fritsch gehört. Gisevius bedrängte in Münster den Wehrkreisbefehlshaber, General v. Kluge; gleichfalls besuchte

unternehmen

übrigen wisse Fritsch selbst

zu

er

dort den Oberpräsidenten Lüninck, der dann seinerseits bei dem General vorstellig wurde110. Auch Kluge wußte zu der Zeit noch nichts von dem, was sich in Berlin abspielte. Alle Generäle außerhalb Berlins wiesen zudem auf das Fehlen einer einheitlichen militärischen Führung hin und hegten dieselben politischen Bedenken wie Fritsch bezüglich der Haltung in Volk und Truppe. In den Zusammenhang mit diesen Bemühungen gehört ebenfalls die Verbreitung des von Fritsch am 23. Februar verfaßten Protokolls, in dem dieser die ihm angediehene Behandlung als entwürdigend und für die Armee entehrend bezeichnete111. Dieses Dokument wurde verschiedenen führenden Persönlichkeiten er

zugeleitet. Nach diesen Mißerfolgen versuchte Schacht über General Thomas, die Wehrmachtführung auf die Machenschaften der SS gegen das Heer hinzuweisen112. Wie erwähnt, wirkten audi Beck und Canaris auf Keitel ein. Canaris unterrichtete zudem den Chef des Wehrmachtführungsamtes von der entwürdigenden Behandlung des ObdH durch die Gestapo. Auf Grund der personellen Gegebenheiten im Oberkommando der Wehrmacht mußten jedoch alle Bemühungen gerade an dieser Stelle vergeblich sein. Immerhin machte man sich im OKW besorgte Gedanken, insbesondere über die Reaktion bei der Truppe. Jodl notierte damals: „Wenn das in der Truppe bekannt wird, gibt es Revolution113." Man schätzte im Oberkommando der Wehrmacht die Haltung der Soldaten offenbar anders ein als Fritsch und die militärischen Führer in der Provinz. So völlig falsch haben die aktivistischen Oppositionellen mit dem von ihnen in Aussidit genommenen taktischen Vorgehen die allgemeine Lage im Heer wohl doch nicht beurteilt. Nach Ernennung des neuen ObdH war klar, daß bei der vorgegebenen hierarchischen Struktur der Armee alles von General v. Brauchitsch abhing; nur von seiner Seite konnten aussichtsreiche Initiativen erfolgen114. Darum konzentrierten sich die Bemühungen hinfort vornehmlich auf seine Person. Die

Vgl. das in Anm. 78 Ausgeführte. Ritter, Goerdeler, S. 146 f. Neuerdings ausführlicher Bericht über die Episode bei Röhricht, S. 110 ff. Augenscheinlich hatte Goerdeler über den ihm bekannten Chef des Stabes von List,

108

109

Ulbricht, den Besuch arrangiert.

118

Gisevius, S. 290 f.

111

Zit. nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 291. Tagebuch Jodl, Eintrag vom 3. 2. 38, IMT XXVIII, S. 365. Ebd., S. 368. Vgl. auch die verschleiernde Informationspolitik der militärischen Führung:

112 113

Dok.-Anh. Nr. 31. 114 Ein eindrucksvolles Bild der

Bemühungen Brauchitschs zeichnet Gisevius,

S. 297 ff.

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

279

Aussichten, den neuen ObdH gewinnen zu können, schienen nicht ungünstig zu sein. War soeben doch nach Berchtesgaden zu Hitler geflogen und hatte gegen die Intrigen Himmlers und Görings den widerstrebenden „Führer" dazu gebracht, ein Kriegsgericht zur Klärung der Angelegenheit Fritsch einzusetzen! Mit Hilfe von Beck und Canaris versuchten Oster und Gisevius dem ObdH deutlich zu machen, daß eventuell auch hinter dem Fall Blomberg undurchsichtige Intrigen steckten, die es aufzuklären gelte. Mit jeder neuerlangten Information über Gestapoübergriffe wirkten sie auf Brauchitsch ein; die Meldung, daß die Gestapo sich der Haushälterin Fritschs und seiner ehemaligen Burschen bemächtigt habe, wurde benutzt, um dem ObdH darzulegen, jetzt müsse eingeschritten werden. Als Fritsch eine neue Vorladung zur Vernehmung in die Prinz-Albrecht-Straße erhielt, drang Canaris in Anwesenheit von Beck wieder auf Brauchitsch ein: nun endlich müsse dem Spiel ein Ende gemacht werden. Dieser aber wollte sich nicht unter Druck setzen lassen. Immerhin schien auch er jetzt erkannt zu haben, daß der Fall Fritsch nicht bloß eine Privatangelegenheit oder höchstens eine Ehrenfrage war. Er habe so sagte er nämlich den beiden hohen Offizieren seinen eigenen Plan: zu warten, bis Himmler sich eine entscheidende Blöße gebe; auch müsse der Spruch des Gerichtes abgewartet werden. Statt „zu marschieren" wie Oster und Gisevius, beide stets temperamentvoll und zu optimistisch, es erhofften115 wurde er bei Hitler beschwerdeführend vorstellig und erreichte die Freilassung der festgesetzten Burschen und der Haushälterin, bewirkte, daß Fritsch nicht im Hauptquartier der Gestapo, sondern an einem „neutralen Ort", der erwähnten Villa am Wannsee, vernommen wurde. Brauchitsch begnügte sich also mit formalen Korrekturen, er versagte es sich, die ganze Angelegenheit grundsätzlich aufzurollen. Als Indizien auftauchten, die auf Görings Rolle bei Blombergs Heiratsprojekt ein bedenkliches Licht warfen, als schließlich die erwähnte „Namensverwechslung" aufgedeckt wurde, drängten sie den neuen ObdH wieder zum Handeln. Brauchitsch wollte jedoch die Entscheidung des Kriegsgerichts abwarten, dann aber so versicherte er werde er handeln. Er hielt auch fortan weiter Fühlung mit dem Kreis um Oster und Gisevius, allerdings mehr mit der Absicht, sich diese Informationsquelle nicht zu verstopfen; denn weder von Hitler, noch von Keitel, noch vom Vorsitzenden des Reichskriegsgerichts wurde er hinreichend orientiert. Er vermied es allerdings, sich in irgendeiner Weise festzulegen. Ein Gespräch mit Schacht brach er im entscheidenden Moment ab. Erst müsse ein klarer Richterspruch vorliegen. Inzwischen gelte es, das Zustandekommen der Hauptverhandlung zu gewährleisten. Gisevius und Oster versuchten nunmehr, auf einem Umwege die Dinge voranzutreiben. Nach Abstimmung mit Polizeipräsident Graf Helldorf erklärte Oster dem ObdH: Helldorf sei bereit, direkt bei Hitler vorstellig zu werden und ihm darzulegen, wie Göring ihn, den Führer und Reichskanzler, in die peinliche Trauzeugenschaft er

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115 Nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 294, Anm. 216, erklärte Oster damals gegenüber dem Verteidiger des Generalobersten spontan, man müsse den ganzen Laden der Gestapo ausheben und besetzen; die Gauleiter machten auch, was sie wollten, und Hitler habe bisher immer in dieser Beziehung vollzogene Tatsachen anerkannt.

VI.

280

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

bei Blombergs Eheschließung und in jene widerliche Gegenüberstellung Fritschs mit einem Zuchthäusler hineinmanövriert hätte. Wenn dabei und das sei Helldorfs Bedingung die Generäle ihm sekundierten und entsprechend nachstießen, dann bestünde die Aussicht, Göring formell immer noch oberster Gestapochef zu stürzen und damit ein Lawine ins Rollen zu bringen. Brauchitsch aber winkte wiederum ab. Er habe seine eigenen Pläne; die Wehrmacht bedürfe einer Hilfe von seiten der Partei Helldorf war immerhin hoher SA-Führer nicht116. Da Beck sich Brauchitschs Ansicht ebenfalls zu eigen gemacht hatte, daß es erst zur Verhandlung kommen müsse, war klar, daß vor Beginn des Prozesses gegen Fritsch kaum etwas auszurichten sei. Daraufhin wurde versucht, Fritsch zu veranlassen, im Prozeß gleichsam als Ankläger aufzutreten und eindeutige, die Gestapomachenschaften entlarvende Fragen zu stellen, vor allem aber eine Zeugenvernehmung Himmlers und Heydrichs zu verlangen. Die dann zur Sprache kommenden Tatsachen würden so hoffte man genügen, um die Führungsrepräsentanten des Heeres zu den sich daraus ergebenden Forderungen zu veranlassen. In der Hauptverhandlung beschränkten sich Fritsch und seine Verteidigung jedoch auf die rein persönliche Seite des Skandals117. Immerhin ließ das Ergebnis der Verhandlung noch genug offene Fragen übrig: warum z. B. hatte der Verleumder so hartnäckig gelogen? War er etwa unter Druck gesetzt worden? Wie war eigentlich die verdächtige „Personenverwechslung" zustande gekommen? Welche Rolle hatte die Gestapo gespielt? Waren diese immer noch ungeklärten Fragen nicht Anlaß genug, nun endlich energisch auf gründliche und konsequente Erhellung aller Hintergründe zu drängen, nötigenfalls eine solche zu erzwingen? Canaris und Hoßbach legten daher Beck einen Entwurf für eine entsprechende Demarche des -

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Heeres bei Hitler vor118. Ihre Initiative hatte jedoch keinen Erfolg. Canaris wurde zusammen mit Oster bei Brauchitsch vorstellig. Sie fanden ihn auch geneigt, gewisse

Schritte bei Hitler zu unternehmen. Vorher aber wollte er noch die Ansicht des Justizministers über die Hauptverhandlung hören. Mit Schachts Vermittlung kam ein Gespräch zwischen Brauchitsch und Gürtner zustande. Das Ergebnis war aber nur, daß der ObdH, von Raeder sekundiert, bei Hitler auf Fritschs Rehabilitierung drängte. Hitler ließ sich jedoch Zeit. Es kam lediglich zur Veröffentlichung eines „Glüdcwunsches des Führers zur erfolgten Wiederherstellung der Gesundheit des Generalobersten v. Fritsch" und zu dem erwähnten Schreiben Hitlers vom 31. März. Die Gestapo dagegen ging, abgesehen von einem Disziplinarverfahren gegen einen untergeordneten Beamten, ungeschoren aus der ganzen Affäre hervor. Daraufhin kam es zu massiveren Vorstößen bei Brauchitsch. Wie Gisevius berichtet, fanden verschiedene Gespräche zwischen Gisevius, Helldorf und Goerdeler einerseits und dem ObdH andererseits statt. Helldorf legte Brauchitsch Unterlagen über die Untaten der Gestapo vor. Der ObdH deutete nun an, für ihn sei der Fall Fritsch noch nicht abgeschlossen. Gisevius stellte ihm die Gefahr der Isolierung der Armee und ihre Bedrohung durch die SS vor Augen, drängte zur Vermeidung weiterer Anschläge 116 117 118

Gisevius, S. 309.

Über diese Verhandlung vgl. J. A. Graf v. Kielmansegg, S. 86 ff. Text des Entwurfes Dok.-Anh. Nr. 34 (auszugsweise auch abgedruckt bei Foerster, S. 92 f.).

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

gegen führende Militärs auf ein

Vorgehen

gegen die

281

in der Prinz-Albrechtden Schlag als Notstands-

Gestapo;

Straße werde sich dabei genügend Material finden lassen, um aktion gegen kriminelle Machenschaften zu rechtfertigen. Wenn wir Gisevius' Bericht119 Glauben schenken können, dann hat Brauchitsch in diesem Gespräch lediglich Bedenken gegen das Verfahren, nicht gegen den Gedanken einer Aktion als solcher vorgebracht. Goerdeler wies Brauchitsch unter Schilderung der wirtschaftlichen und außenpolitischen Lage auf die Gefahr eines Krieges hin, mahnte ebenfalls zum Handeln und erklärte das Verschwinden der Gestapoherrschaft zur notwendigen Vorbedingung einer „allgemeinen Lagebereinigung". Brauchitsch ließ im Laufe des Gesprächs eine eventuelle Bereitschaft zur Initiative durchblicken. Soweit der Bericht des einzigen überlebenden Zeugen, Hans-Bernd Gisevius. Ob er die tatsächliche Haltung des ObdH richtig wiedergibt, ist schwer zu entscheiden. Einerseits ist bekannt, daß Brauchitsch sich zeitweilig mit dem Gedanken trug, wegen des Falles Fritsch sogar die Kabinettsfrage zu stellen120; weiterhin ist nicht zu leugnen, daß er mehrfach bei Hitler auf eine demonstrative Rehabilitierung Fritschs gedrängt und sich um dessen Beförderung zum Generalfeldmarschall bemüht hat. Zu General Ulex soll er sogar gesagt haben: „Ich versichere Ihnen, daß ich nicht eher nachgebe, bis ich diesen Saustall Himmler ausgemistet habe121." Andererseits ist über die Angaben von Gisevius hinaus bezeugt, daß Brauchitsch sich dem Drängen Hoßbachs122 bezüglich eines Schrittes gegen die Gestapo entzog, daß er sich durch die außenpolitische Entwicklung zu größter Zurückhaltung veranlaßt sah, vor allem aber, daß er das erwähnte ihm im Mai durch General Ulex überbrachte Angebot des Stabschefs der SA, Lutze, Material über die Rolle der Gestapo im Fall Fritsch zur Verfügung zu stellen und seitens der SA ein entsprechendes Vorgehen der Wehrmacht zu unterstützen, abgelehnt hat, und zwar mit den Worten: „Wenn die Herren das wollen, dann sollen sie es doch alleine machen123." Das alles legt den Schluß nahe, daß das Verhalten Brauchitschs in jener Zeit gegenüber den durch die Fritsch-Affäre aufgeworfenen Problemen, jedenfalls wie sie ihm von jenen aktivistischen Oppositionellen dargelegt wurden, unentschieden gewesen ist, falls man nicht sogar ein gewisses Ausweichen konstatieren will. Immerhin muß dazu auch bemerkt werden, daß sein Generalstabschef ebenfalls auf weitgehende Anregungen der Aktivisten nicht eingegangen ist124. Brauchitsch hat schließlich den Kontakt mit der ihn bedrängenden Fronde schroff abgebrochen, indem er ihm zu Ohren gekommene Indiskretionen über Goerdelers sicherlich nicht allzu vorsichtig geführte politische Gespräche in London als wohl willkommenen Vorwand zum Anlaß nahm125. 119

120 121 122

123

Gisevius, S. 318 ff. und 322 ff. Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 303, Anm. 254. Ebd., S. 301, Anm. 247. Das erfolgte unabhängig von der Aktivität der Oster-Gisevius-Gruppe. Krausnick, Vorgeschichte, S. 301, Anm. 247.

Vgl. weiter unten S. 282 ff. dieses Kapitels. Dazu Ritter, Goerdeler, S. 165 f., sowie Hjalmar Schacht, Abrechnung Stuttgart 1948, S. 17. 124

125

mit Hitler,

Hamburg-

VI. Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

282

Die Aktionen und Einwirkungsversuche dieser Männer offenbaren bei allem unklaren, improvisierenden Tasten doch deutlich Unterschiede in Intensität und Ausmaß, vor allem aber treten Unterschiede in Absicht und Zielsetzung klar zutage. Gemeinsam war ihnen allen wie gezeigt der Wille, Fritsch zu entlasten und seine Rehabilitierung durchzusetzen. Einig waren sie sich auch in dem Streben, die Hintergründe dieser Affäre aufzuhellen. Eine Übereinstimmung darüber, daß in der Person des Generalobersten das Heer mitgetroffen war, ergab sich allmählich im Verlauf der Entwicklung ebenfalls. Erhebliche Unterschiede aber sind in Methodik und Intensität ihrer Aktivität feststellbar. Die Initiative, vor allem aber die ständige Dynamik kam von Zivilisten Gisevius und Goerdeler, in zweiter Linie auch Schacht wären hier zu nennen und einigen Militärs, die mittleren Rangstufen angehörten: so insbesondere Oster, dann auch zeitweilig Hoßbach126. Einige Generale wie Thomas, Viebahn, Beck zeigten kein derartig ausgeprägtes Handeln; sie wirkten entweder mehr als Transmissionsorgane der Initiativen jener Aktivkräfte oder dosierten ihre eigenen Aktivitäten vorsichtig und zurückhaltend. Sie handelten vornehmlich informierend und koordinierend: sie brachten der Wehrmadits- und Heeresführung unablässig das Material zur Kenntnis, das in engem Zusammenspiel zwischen der Abwehr, dem Reichskriminalamt, der kriegsgerichtlichen Untersuchungsbehörde und der Verteidigung über das Vorgehen von SS und Gestapo ans Licht gebracht worden war. Weiterhin vermittelten sie Kontakte zwischen Vertretern der höheren Generalität wie Brauchitsch, Raeder und Rundstedt und den aktiven Oppositionellen. Daß auch sie sich im Verlauf der Fritsch-Affäre innerlich dem Regime, auch dessen obersten Repräsentanten einschließlich des „Führers" selbst, bis zum Vertrauensverlust entfremdeten, steht außer Zweifel. Daß jedoch hinter ihrer Zurückhaltung eine unterschiedliche Lagebeurteilung und Zielsetzung stand, ist ebenfalls nicht zu leugnen. Das macht Becks Verhalten deutlich. Er hat diskret und, von einigen Vorstößen bei Keitel und Brauchitsch abgesehen, sehr zurückhaltend und vorsichtig zugunsten Fritschs und im Sinne einer Aufklärung der Angelegenheit gewirkt. Das ist um so erstaunlicher, als in der Interimsphase zwischen Fritschs Sturz und Brauchitschs Ernennung Beck der berufene Repräsentant der Heeresleitung war, dessen Initiative den weiteren Gang der Entwicklung nachhaltig hätte beeinflussen können. Durch sein striktes Verbot, im Generalstab und im Oberkommando des Heeres überhaupt über die Angelegenheit auch nur zu reden eine Maßnahme, die von den Offizieren der Bendlerstraße teilweise heftig kritisiert wurde127 -, hat er, fraglos ungewollt, der Sache des Heeres wenig genützt. Die mangelnde Informiertheit zahlreicher hoher Offiziere128 trug unleugbar dazu bei, daß eine energische Reaktion seitens der Führer der Armee nicht erfolgte. Die letzten Motive, die Beck zu dieser eigentümlichen Zurückhaltung veranlaßten, sind nicht deutlich zu erkennen. Zum Teil standen jedoch verschiedene sachlich-taktische Überlegungen dahinter, auf die noch -

-

-

-

-

Zeitweilig wird man auch Halder dazu rechnen müssen. Mitteilung von Generaloberst a.D. Halder vom 15.10. und 10.11.1965, von General Heusinger vom 17. 2. 1966 an das MGFA. 128 Vgl. beispielsweise Röhricht, S. 112 (Wehrkreiskommando IV in Dresden) und S. 116 f. 128

127

a.D.

VI.

Blomberg-Skandal und

Fritsch-Krise

283

zurückzukommen sein wird. Alles in allem aber beweist sein damaliges Verhalten, daß er in dieser Krise jeder Art „tour de force" abhold war129. Nur sehr langsam erkannte auch er130, daß der Angriff auf Fritsch symptomatisch für die Tendenz gewisser Kräfte des Regimes war, daß er im Grunde einen Schlag gegen das Heer bedeutete. Aber trotzdem

glaubte er, so ernüchtert, so kritikerfüllt er auch schon seit längerem gewesen sein mochte, damals offensichtlich noch an die Möglichkeit einer Entwicklung des Regimes zum Besseren131; vor allem stand er dem Gedanken, mit Gewalt oder auch nur mit außergewöhnlichen Mitteln, die sogar noch im Rahmen formaler Legalität blieben, zu jener Zeit noch durchaus ablehnend gegenüber. Das zeigt seine erregte Auseinandersetzung mit Halder. Dieser hatte in der Zeit des Interregnums nach mehrfachen Andeutungen eines Tages dem Generalstabschef, wohl mit leiser Kritik auch, vorgestellt132, er müsse die Befehlshaber und höheren Kommandeure zusammenrufen, sie orientieren und „zur Aktion schreiten". In der darauf folgenden, bald heftigere Formen annehmenden Diskussion hielt der Generalstabschef in hochgradiger Erregung Halder schließlich vor133, was er verlange, sei Meuterei; die Worte Rebellion und Meuterei aber gebe es im Lexikon des deutschen Offiziers nicht134. Beck hat danach aber wie es scheint auch nicht gewisse, zwar massive, aber noch völlig im Rahmen formaler Legalität bleibende Demarchen bei Hitler nachdrücklich unterstützt, die die Forderung einer demonstrativen Rehabilitierung Fritschs mit der nach Eindämmung der SS und Gestapo verbanden. Canaris und Hoßbach legten135 Beck für Brauchitsch bestimmte Vorschläge vor, in denen im Rahmen der Rehabilitierung Fritschs auch ein Vorgehen gegen die Gestapo gefordert wurde. Das Heer als der zunächst angegriffene und diffamierte Wehrmachtteil müsse bei Hitler intervenieren, damit Fritsch „in eindrucksvoller Weise in der Öffentlichkeit" Genugtuung geleistet werde, am besten -

129

Darüber

10. 11.

klagten

Oster

zu

1965) und Goerdeler

-

Halder (Mitteilung Generaloberst a. D. Halder an das MGFA vom List (Röhricht, S. 112): in Berlin gebe es keine Führung in der

zu

Wehrmacht. 130 Ygi_ Röhricht (S. 116 f.), dem List nach einer Unterredung mit Beck berichtete, man „tappt völlig im Dunkeln. Auch Beck ist der Verdacht unbegreiflich". Ähnlich Hoßbach, S. 13. 131 Vgl. Halder: a) Spruchkammer-Aussage vom 15.9.1948, fol. 4 und 26 f. b) Mitteilung an das MGFA vom 15.10. und 10.11.1966. Zs. Nr. 240, Bd IV (Brief Halder an Witzleben). Vgl. auch Bor, S. 113: Beck wollte in der Fritsch-Krise „noch immer nicht einsehen, gegen welche unterweltlichen Gewalten es anzutreten galt". Schwerin-Krosigk, S. 277: Beck habe damals immer noch auf „Läuterung des Regimes auf evolutionärem Wege" gehofft. 132 Das erfolgte nicht zuletzt auf Drängen Osters (vgl. Halder-Aussagen in vorstehender Anmerkung). Die Kritik der radikalen Oppositionellen klingt an bei Gisevius, S. 312 f. (Beck sei ganz auf die Linie Brauchitsch eingeschwenkt), S. 315, sowie Zs. Nr. 240, Bd V (Halder an Krausnick 26. 4. 55). Mitteilung Halders

vom 133

vom

10.11.1966

an

das MGFA und

Spruchkammer-Aussage

vom

15.9.

1948, fol. 4, sowie Bor, S. 113, und Zs. Nr. 240, Bd I (Halder an Foertsch vom 23.11. 50). 134 Ritter, Goerdeler, S. 146, meint dazu: „Eine für das spätere Haupt der Verschwörung sehr

merkwürdige Äußerung." 135 Beck S. 92 f.

Nachlaß,

BA/MA H 08-28/3, Dok.-Anh. Nr. 34,

auszugsweise abgedruckt bei Foerster,

VI.

284

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

durch einen persönlichen Besuch des „Führers und Reichskanzlers" bei dem Generalobersten. Vor allem aber müsse Brauchitsch im Namen des Heeres „wesentliche Änderungen in der Führerstellenbesetzung der Gestapo" verlangen, insbesondere was Himmler und Heydrich angehe. Daß damit der totalitäre Kontrollapparat selbst entscheidend getroffen werden sollte, geht aus der Begründung hervor, die für die Notwendigkeit eines solchen Schrittes gegeben wurde: es handele sich neben der Wiederherstellung der Ehre des Generalobersten und der Armee zugleich „um die Befreiung der Wehrmacht von dem Alpdruck einer Tscheka". Eine weitere Zusammenarbeit mit den verantwortlichen und an der Diffamierung und den niederträchtigen Angriffen auf das Heer beteiligten Persönlichkeiten der Gestapo sei nach Lage der Dinge nämlich untragbar. Es sollte also mit gewissem Druck, aber doch noch im Rahmen loyaler Einwirkungen auf Hitler, das totalitäre, von der SS kontrollierte Geheimpolizeisystem eingedämmt und damit die Integrität der militärischen Autonomiesphäre gesichert werden. Beck scheint sich für diesen Vorschlag bei dem neuen ObdH entweder überhaupt nicht oder doch nicht nachdrücklich eingesetzt zu haben. Jedenfalls ist von entsprechenden Initiativen Becks bei Brauchitsch nichts bekannt136. Der Vorschlag von Canaris und Hoßbach ging fraglos schon mit seiner vorgesehenen ultimativen Form weiter als das immer noch im Rahmen dienstlich normaler Initiativen bleibende Verhalten Becks und Brauchitschs. Die Autoren dieses Vorschlags dachten gewiß noch keinesfalls an irgendein wie auch immer verbrämtes, gewaltsames Vorgehen. Während Beck offensichtlich noch auf positive Entwicklungsmöglichkeiten

hoffte137, wollten sie durch eine nachdrückliche Intervention der Heeresführung eine derartige Entwicklung in Gang setzen. Demgegenüber hatten die radikaleren Oppositionellen wie Oster, Gisevius, Nebe, Goerdeler, wohl auch Schacht und etwas unabhängiger von diesen zeitweilig auch Halder erheblich weitgehendere Absichten. Sie erwogen die durch eine Möglichkeit, außergewöhnliche, bewaffnete Selbsthilfe-Aktion der Armee gegen und die SS Hauptgefahrenquelle für die Position der Armee zu beseitigen und Gestapo -

-

damit

gleichzeitig

eine Reform der

innenpolitischen Verhältnisse

in ihrem Sinne in die

Wege zu leiten. Ihre diesbezüglichen Erwägungen waren teilweise noch recht vage. Irgendwie sollte so stellten es sich etliche von ihnen vor irgendein General, am besten der neue ObdH, „handeln", „marschieren", jedenfalls eingreifen. Oster und Gisevius so scheint es hatten etwas präzisere Vorstellungen. Ihre Pläne kreisten alle um den Gedanken, die Gestapozentrale durch Heerestruppen zu besetzen, Himmler, Heydrich und ihre Haupthelfer festzusetzen und dann das bisher gesammelte sowie im Gestapo-Haupt-

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Foerster, S. 93. Krausnick, Vorgeschichte, S. 309, betont, daß die Demarche scheiterte, da Brauchitsch sich weigerte. Es ist jedoch auch nicht überliefert, daß Beck sich seinerseits überhaupt in diesem Sinne bei Brauchitsch verwandt hat. Auch in der Darstellung von Gisevius, S. 318 ff., 136

wird Beck nicht genannt. 137 Nach Max Pribilla, Die Fritsch-Krise 1938 als deutsche Schicksalswende, in: Stimmen der Zeit, Heft 9, Juni 1952, S. 211, soll Beck später mehrfach geäußert haben, er habe in der Fritsch-Krise den rechten Zeitpunkt zum entscheidenden Entschluß nicht gefunden und ihn daher verpaßt. Foerster, S. 169, Anm. 57a, hält das bloß für eine aus vorübergehender Stimmungslage resultierende Äußerung.

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

285

publizieren, um die öffentliche Meinung zu gewinnen. So müßte Hitler, vor vollendete Tatsachen gestellt und durch den als Folge der Veröffentlichung von Beweismaterial über das Treiben der SS zu erwartenden Stimmungsumschwung unter Druck gesetzt, seine Paladine fallen lassen und einer Abschaffung des Gestapo-Terrors zustimmen138. Fraglos planten auch die radikalen quartier

mit Sicherheit

zu

findende

Belastungsmaterial sofort

zu

Kräfte wohl noch keinen indirekten und schon gar nicht einen direkten Staatsstreich139. Aber ein derartiges Vorgehen hätte natürlich das Regime erheblich erschüttert, da es die Axt an eine seiner Grundfesten, den totalitären Kontrollapparat, legte. Ob sie sich darüber klar waren, ist aus den Quellen nicht recht zu erkennen140. Es scheint vielmehr, daß sie doch primär auf den SS-Gestapo-Komplex fixiert waren und glaubten, durch eine entsprechende Säuberung das Regime im Sinne einer inneren Gesundung wandeln und bessern zu können141. Es läßt sich demnach eine dreifache Schichtung nach dem oppositionellen Reifegrad, wie er sich in den Zielvorstellungen ausdrückte, feststellen. Ein Teil jener Persönlichkeiten strebte vor allem danach, eine ordnungsgemäße und gründliche Klärung des Falles Fritsch zu ermöglichen und dabei dem Generalobersten angemessene Genugtuung zu verschaffen. Sie hofften, daß wenn alles mit rechten Dingen dabei zugehe der durch den Anschlag auf Fritsch betroffene Bereich des Heeres geschützt werden könne. Sie hofften weiter, daß die ganze Affäre eine reinigende Wirkung hätte. -

-

138 IMT XII, S. 222 ff.; Krausnick, Vorgeschichte, S. 308 f; Graml, Der Fall Oster, S. 32; Gisevius, S. 323 ff.; KB, S. 430. 139 So auch Graml, Der Fall Oster, S. 32 f.; Krausnick, Vorgeschichte, S. 308, meint dagegen, dieser Plan wäre praktisch auf einen Systemwechsel hinausgelaufen. Man wird hier jedoch zwischen Intention und etwaiger Folgewirkung trennen müssen. Bei ersterer spricht die Hauptquelle (Gisevius, S. 324) gegen Krausnicks Interpretation, und über letztere lassen sich sowieso nur Vermutungen äußern. 140 Vgl. Gisevius, S. 324. 141 Krausnick, Vorgeschichte, S. 309, berichtet im Zusammenhang mit den damaligen Plänen, daß der Befehlshaber im Wehrkreis III, v. Witzleben, der Kommandeur der Potsdamer Division, Graf Brockdorff-Ahlefeldt, und der Kommandeur des Infanterieregiments 50 in Landsberg/Warthe, Oberst v. Hase, bereits zu jener Zeit zum bewaffneten Eingreifen bereit gewesen seien. Hier scheint eine Verwechslung mit den Ereignissen des Sommers und Herbstes 1938 vorzuliegen. Denn weder Schacht (S. 18) noch Gisevius (IMT XII, S. 222 ff., und II, S. 360) berichten davon. Nach Gisevius soll Witzleben damals krank in Dresden gelegen haben und erst im Juni durch Oster von den Hintergründen der Intrige erfahren haben. Krausnick stützt sich auf eine Erklärung Frau v. Hases im Wilhelmstraßen-Prozeß von 1948 sowie auf die späteren schriftlichen Aussagen des Freiherrn v. d. Goltz beides post-factum-Aussagen mit Irrtumsmöglichkeiten bezüglich der Datierung. Die ebenfalls herangezogene Aufzeichnung des Generals Thomas von 1947 ist dagegen ganz allgemein auf das Jahr 1938 bezogen. Gisevius dagegen behauptet (IMT XII, S. 235), daß Witzleben erstmals in die Verschwörung eingetreten sei, als Halder Generalstabschef gewesen ist, also nach der Fritsch-Krise. Vgl. aber auch Albert Krebs, Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg. Zwischen Staatsraison und Hochverrat, Hamburg 1964 Hamburger Beiträge zur Zeitgeschichte, Bd II, S. 164. Röhrichts Angaben, S. 111 ff., über Goerdelers Ausführungen gegenüber List und Ulbricht sind wiedersprüchlich und vage: „Staatsstreich" (S. 112 und 113), „Ausräuchern" des Gestapo-Hauptquartiers (S. 113), „Eingreifen der Wehrmacht" (S. 111). -

=

VI.

286

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

Einige andere scheinen diesen Optimismus nicht ganz geteilt zu haben. Skeptischer als jene wollten sie einer derartigen Evolution durch wohldosierten, durchaus noch innerhalb der Grenzen formaler Loyalität und Legitimität bleibenden Drude auf die politische Führung nachhelfen. Die radikaleren Kräfte dagegen faßten bereits eine limitierte Gewaltaktion ins Auge. Sie nahmen die Fritsch-Affäre zum Anlaß, um unter Einsatz physischer Machtmittel einen Schlag gegen SS und Gestapo überhaupt zu planen. Die Unterschiede in der Zielsetzung waren also erheblich. Die Ursachen lagen in erster Linie in dem unterschiedlichen oppositionellen Bewußtsein. Dieser hing wiederum entscheidend davon ab, wie man die Möglichkeiten einer evolutionären Läuterung des Regimes einschätzte. Wer optimistischer in dieser Hinsicht war, auch wer noch größeres Vertrauen in die moralische Qualität der Staatsführung besaß, der neigte naturgemäß weniger zu radikaleren Lösungen als jener, der die Hoffnung auf eine Besserung des Regimes aus sich heraus schon aufgegeben hatte. Zum anderen waren jene Unterschiede, wenigstens teilweise, auch eine Frage der Perspektive und Erlebnisintensität. Oster und Gisevius, auch Dohnanyi, hatten aufgrund ihrer Stellung und entsprechender Querverbindungen seit längerem einen tiefen Einblick in die Machenschaften von SS und Gestapo gewonnen. Das gab ihnen eine ganz andere psychologische Ausgangsbasis als anderen, noch weniger desillusionierten Persönlichkeiten142, die im Verlauf der Fritschihnen stießen oder von ihnen angesprochen wurden. Daher gewannen die ErFritsch für sie ein ganz anderes Gewicht. Sie hatten aufgrund ihrer Einsicht eignisse und Erfahrungen bereits seit langem „den großen Schlag" gegen das Heer als einer der letzten dem totalitären Trend widerstehenden Bastionen kommen sehen und glaubten, ihn jetzt in der Intrige gegen Fritsch erkennen zu können. Sie waren innerlich mehr darauf vorbereitet als jene anderen, denen erst die Fritsch-Krise die Desillusionierung brachte. Sie nahmen daher auch eine viel radikalere Haltung ein. Was für sie der berühmte Tropfen war, der das Faß zum Überlaufen brachte, mußte sich aus der Sicht ihrer Gesprächspartner wenigstens im Anfang noch keineswegs so darstellen. Dieses psychologische Moment war von nicht geringem Einfluß auf die differierenden Zielsetzungen unter den einzelnen Gruppen und Persönlichkeiten. Die unterschiedliche Lagebeurteilung wirkte nicht bloß auf die Zielvorstellungen, sondern hatte auch zur Folge, daß natürlich die Ansichten über die einzuschlagende Methode auseinandergingen. Während beispielsweise Affäre

zu

um

Eingreifen noch vor der Hauptverhandlung gegen Fritsch befürden auch Brauchitsch vertrat -, man worteten, stellte Beck sich auf den Standpunkt müsse den Ausgang des Verfahrens abwarten. Das war gewiß kein Ausweichen, sondern

Oster und Gisevius ein

-

Haltung Becks drückte sich einfach seine trotz aller Skepsis anfangs doch noch positivere Lagebeurteilung und sein noch nicht restlos abgebautes Vertrauen in die Staatsführung aus. Gewiß haben Beck und andere bei Brauchitsch auf die Notwendigkeit, die Hintermänner zu entlarven, hingewiesen. Aber angesichts der jedenfalls formal erfolgten Rehabilitierung und der zugesagten Bestrafung der angeblich Schuldigen besaßen sie praktisch keine Aktionsfreiheit mehr143, zumal auch Fritsch sehr bestimmt jegliche Demonin dieser

142

143

vgl. Hoßbach, S. 130, Foerster, S. 87, und Foertsch, S. 94. Stülpnagel, Erinnerungen, S. 358, schreibt, daß Beck anfangs zugab,

Für Beet

er

wisse selbst

nicht,

was

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

287

stration zu seinen Gunsten ablehnte144. Klare Voraussetzungen für eine Demarche seitens der Heeresführung waren somit für sie nicht mehr gegeben. Von diesem Standpunkt aus war die Fritsch-Krise tatsächlich als Anlaß einer Demonstration von seiten der Generalität ungeeignet145. Für die radikaler eingestellten Oppositionellen dagegen spielten diese Dinge eine vergleichsweise geringere Rolle. Sicherlich wirkte die geschilderte Entwicklung erschwerend, aber keinesfalls war sie für sie von ausschlaggebender Bedeutung. Wenn man sowieso keine Selbstregeneration des Regimes mehr erwartete, wenn man vor allem schon davon überzeugt war, daß der Krebsschaden des Regimes, die SS-Gestapo-Tyrannei, nur noch durch einen gewaltsamen Eingriff zu beseitigen war, dann konnte eine Rehabilitierung zweiter Klasse kein Hinderungsgrund sein, zumal das trübe Spiel der Gestapo hinreichend offenkundig geworden und genügend Verdachtsmomente und argwohnerregende Indizien vorhanden waren. Das vorstehend Ausgeführte enthält bereits schon die Antworten auf die Frage, warum jene Männer, Offiziere wie Zivilisten, damals nicht zum Zuge kamen, warum in der Fritsch-Krise keine adäquate Reaktion aus der Führungsschicht der Armee heraus erfolgt ist. Der Hauptgrund liegt eben in der unterschiedlichen Bewußtseinslage der verschiedenen Beteiligten. Die Fritsch-Affäre wirkte zwar als integrierendes Moment für das Zusammenrücken sehr heterogener Kräfte146; sie war aber keineswegs der taktisch günstige Ansatzpunkt für eine Säuberungsaktion, über deren Notwendigkeit sich alle Beteiligten etwa schon von vornherein einig gewesen wären. So kam es, daß man innerhalb der Opposition nicht so sehr erörterte, wie man eine bestimmte Absicht realisierte, sondern sich überhaupt erst einmal darüber klar werden mußte, welches Ziel anzustreben sei. Das führte dazu, daß immer nur im Nachzug reagiert wurde; die Initiative lag von Anbeginn an eindeutig auf seiten der Gegenspieler. Gisevius hat später selbst festgestellt, daß sie eigentlich den Ereignissen stets hinterhergelaufen seien. Von hier aus erklärt sich der sprunghafte Wechsel in der Argumentation der radikaleren Fronde, der zweifellos auf ihre Gesprächspartner, die es erst zu gewinnen galt, nicht immer überzeugend wirkte: heute brachten

könne, nachdem Brauchitsch und Rundstedt versagt hätten. Hinzu kommt auch noch, daß trotz Osters, Halders, Gisevius' u. a. Aufklärungsbemühungen lange Zeit nicht erkannte, was eigentlich gespielt wurde. Röhricht, S. 116, gibt die Aussage des Adjutanten Becks aus jenen Tagen wieder: „Offenbar ginge es jetzt nicht mehr um die Beseitigung einzelner Persönlichkeiten unter irgendeinem Vorwand, sondern um eine Umgruppierung der oberen Spitze, ohne daß die er tun

Beck

-

-

-

Tendenz schon klar zu Tage lag." 144 Nach Raeder, Bd II, S. 122 f., habe der ObdM den Generaloberst zweimal gedrängt, er müsse im Amt bleiben; Raeder erklärte sich bereit, jede Maßnahme zu ergreifen, die Fritsch im Interesse seines Ansehens für angebracht hielt. Fritsch beharrte jedoch auf seinem Abschiedsgesuch und bat Raeder inständig, von irgendwelchen Schritten in seiner persönlichen Angelegenheit Abstand zu nehmen. Nach Foertsch, S. 203, hatte Fritsch sehr bestimmt gewünscht, daß „niemand seiner Person wegen" den Abschied nehmen sollte. 145 Nur von diesem Standpunkt aus ist also Ritters gleichartige Wertung zu verstehen, mit der er allerdings die Fritsch-Krise allgemein meinte (Ritter, Goerdeler, S. 145 f.). 148 Nach Ritter, Goerdeler, S. 163, hat beispielsweise Goerdeler in der Fritsch-Krise erstmals Kontakt mit Gisevius bekommen. Beide sind fortan mit die „Motoren" des Widerstandes gegen Hitler.

VI.

288

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

sie die Vermutung einer böswilligen Personenverwechslung vor im Augenblick bloß eine Vermutung wohlgemerkt, die sich hinterher allerdings als Tatsache herausstellte -, morgen drängten sie zum Handeln, weil die Gestapo mit der Festnahme der Burschen des -

Generalobersten ihre Kompetenzen überschritten habe, übermorgen war es die wohl zutreffende, aber im Moment nicht zu beweisende Behauptung, Göring habe bei der Heirat Blombergs eine dubiose Rolle gespielt. Sicherlich, irgendwann bewahrheiteten sich alle diese Informationen; aber im jeweiligen Augenblick blieben noch hinreichende Zweifel. Was für die radikaleren Oppositionellen der geeignete und sofort auszunutzende taktische Vorwand war, mußte für andere Beteiligte erst als Beweisargument evident gemacht werden. Überdies war ebenfalls entscheidend, daß gerade diejenigen, welche die weitergehenden Aktionspläne hatten Gisevius, Oster, Dohnanyi, Goerdeler, Schacht -, entweder als Zivilisten nicht über die notwendigen physischen Machtmittel verfügten oder, falls sie Militärs waren, funktionsmäßig jeglicher Kommandogewalt entbehrten und rangmäßig nur auf mittlerer Ebene standen. Daher waren sie gezwungen, an so viele Türen anzuklopfen und ihre Gedanken und Vorschläge anzubieten. Im Grunde bestand ihre Tätigkeit zum größten Teil deshalb darin, „den General" zu suchen, der bereit war, in ihrem Sinne zu handeln. So kam es zu dem raschen, situationsbedingten Wechsel ihrer Ansätze: zuerst Einwirkungen auf Fritsch, dann auf das OKW, dann auf einige Generäle außerhalb Berlins, dann auf Brauchitsch, dann wieder auf Fritsch und einige Mitglieder des Kriegsgerichtes, dann wieder auf Brauchitsch. Das alles war zweifellos keine sehr günstige Ausgangslage für eine Aktionsgemeinschaft zur mehr oder minder gewaltsamen Beseitigung von staatspolitisch gravierenden Mißständen. Sie konnten lediglich vorschlagen, drängen, aufklären, antreiben. Der so angegangene Befehlshaber, sei es ein Wehrkreiskommandeur oder in Berlin der ObdH, aber hatte einen sehr viel schwereren Stand, er mußte sich entscheiden, und zwar zu einem auf einen integrierenden Teil des Staatssystems selbst abzielenden Vorgehen. Die aktiven Frondeure konnten immerhin eine ganze Reihe von Indizien zur Untermauerung der Ansicht, jetzt müsse gehandelt werden, vorbringen über deren Interpretation ließ sich streiten -, die Voraussetzungen des geforderten Handelns jedoch entzogen sich weitgehend dem Beurteilungsvermögen der radikalen Oppositionsmitglieder. Sie konnten gegenüber dem Argument, man werde bei der Truppe und deren Kommandeuren wenig Verständnis und Bereitschaft für ein Vorgehen mit unabwägbaren Folgen finden, kaum stichhaltige Gegengründe finden. So vermochten sie lediglich zu versichern, daß man nach erfolgtem Zugriff in der Gestapozentrale genügend kompromittierendes Material finden werde, um das eigene Vorgehen zu rechtfertigen. Damit aber konnte man schwerlich an sich schon zögernde und durch mannigfache Bindungen eingeengte Befehlshaber zum Handeln veranlassen147; vor allem dann auch nicht, wenn obendrein ein posi-

-

Aufschlußreich der von Röhricht, S. 113, wiedergegebene Eindruck, den Goerdelers Darlegungen auf List und Olbricht in Dresden machten. Röhricht qualifizierte sie als „Wunschideen", von deren praktischen Realisierungsmöglichkeiten Goerdeler keine Vorstellung hatte. 147

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

289

tives Konzept nicht vorzuweisen war. Das war geeignet, den Eindruck mangelnder Seriosität, wenn nicht gar leichtsinnigen Draufgängertums hervorzurufen sicherlich ein Moment, das manchen Willigen zur Zurückhaltung bewog, die Zögernden, die noch ganz und gar nicht Überzeugten jedoch vollends abschreckte. -

Im Vorstehenden ist bisweilen auf Becks Zurückhaltung hingewiesen worden, die bei ihm, der späteren Zentralfigur des militärischen Widerstandes, doch eigentümlich berührt. Derselbe Beck, der einige Monate später während der Tschechenkrise seinen ObdH mit Vorschlägen bedrängte, die mindestens auf eine innenpolitische Säuberung hinausliefen148, wies im Januar-Februar alles, was nach Rebellion, sogar alles, was nur nach außergewöhnlichem Druck aussah, energisch und mit Entrüstung zurück149. Der wesentliche Grund dafür wird, wie gesagt, in seiner noch illusionären Befangenheit hinsichtlich des Charakters und der Entwicklungsmöglichkeit des Regimes sowie in seiner Eingebundenheit in traditionelle Auffassungen gelegen haben150. Darüber hinaus jedoch gab es noch aktuelle sachliche Gründe, die ebenfalls sein Verhalten mitbestimmt haben werden. Damals trat durch den Sturz des ObdH unter anderem auch das alte Problem der obersten Spitzenorganisation wieder in ein akutes Stadium. Dies wird man gerade für die Beurteilung des Verhaltens Becks entscheidend zu berücksichtigen haben151. Er erklärte dem Verteidiger Fritschs, im Augenblick könne er sich nicht kompromittieren, stünde jedoch, wenn gebraucht, zur Verfügung, allerdings „in einer nach Möglichkeit diskreten Form"152. Es war daher verständlich, wenn Goerdeler und Oster, die energisch drängenden Oppositionellen, damals mit resigniert kritischem Unterton geäußert haben, daß eine Führung eben nicht mehr vorhanden sei, Beck tue gar nichts153. Gegenüber Fritschs Verteidiger bemerkte der Generalstabschef, er könne sich nicht exponieren, da er „aus Gründen, die er... nicht sagen könne, völlig unentbehrlich" sei154. Hiermit spielte Beck fraglos auf das erneut entbrannte Ringen um die Spitzenorganisation an. Keitel hatte inzwischen das Wehrmachtamt laufend vergrößert, hatte aus den bisherigen Abteilungen Ämter bzw. Amtsgruppen geschaffen und zum 1. April 1938 eine wichtige Neuordnung ins Auge gefaßt: im Rahmen seiner Behörde sollten die ministeriellen Geschäfte und die militärischen Führungsaufgaben schärfer getrennt werden, um eine intensivere Tätigkeit im Sinne stärkerer Konzentration zu gewährleisten155. Das hätte dem Oberkommando der Wehrmacht auch militärisch einen größeren Einfluß verschaffen können. In dieser Entwicklungsphase entstand plötzlich durch Blomberg-Skandal und Fritsch-

Vgl. Kap. VII dieser Arbeit. Vgl. seine Auseinandersetzung mit Halder (oben S. 283 dieses Kapitels). 159 Generaloberst a. D. Halder, Spruchkammer-Aussage vom 15. 9.1948 (BA/MA Mitteilung vom 10.11.1965 an das MGFA. 148

149

151

Das ist

152

Foerster, S. 90.

153

Krausnick, Vorgeschichte,

155

19

eines Hinweises bei

vom

92-1/3) und

Warlimont, S. 27 f., der Forschung bisher entgangen.

S. 294, Anm. 15. 10. und 10. 11. 1965. Foerster, S. 90 und S. 169, Anm. 57a. Keitel, S. 98.

MGFA 154

trotz

H

217, und

Mitteilung Generaloberst

a.D. Halder

an

das

VI.

290

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

Krise eine ganz neue Lage. Daher war es auch nicht verwunderlich, daß sofort, nachdem Blombergs Sturz offenbar geworden war, Heer und Marine neue Vorstöße machten, um unter Ausnutzung der neuen Situation ihre Interessen durchzusetzen. Bereits am Tage der Entlassung Blombergs wurde „von verschiedenen Seiten" der Gedanke dreier selbständiger Ministerien für Heer, Marine und Luftwaffe propagiert156. Hoßbach erschien bei Hitler und machte, gewiß nicht ohne Becks Billigung, den Vorschlag, in diesem Falle müsse das Heeresministerium die Führung haben157. Keitels und Jodls Sorge158, die Widersacher einer OKW-Lösung würden sich jetzt erneut zum Generalangriff sammeln, um die ganze bisherige Lösung rückgängig zu machen und eine völlig neue Organisation durchzusetzen, war

Die

keineswegs grundlos. Ereignisse überstürzten

sich

nun.

Am selben 26.

Januar wurde der Fall Fritsch auf-

gerollt. Hitler befahl dem ObdH, seinen Abschied einzureichen. Fritsch war damit dienstlich ausgeschaltet, ein Nachfolger noch nicht ernannt. Auf General Beck allein lastete jetzt die ausschließliche Pflicht, unter Berücksichtigung der neuen Lage die Interessen des Heeres in der Frage der Spitzengliederung nachdrücklich zur Geltung zu bringen. In dieser ungeklärten Situation hatte er somit eine doppelte Aufgabe: einmal seinem gestürzten Oberbefehlshaber in der Abwehr der ruchlosen Intrige Hilfestellung zu geben, zum anderen jedoch die Vorstellungen der Heeresleitung über die militärische Spitzenorganisation durchzusetzen. Kompliziert wurde Becks Stellung dadurch, daß in den seit dem 29. Januar einsetzenden Besprechungen über die Ernennung Brauchitschs weitreichende Personalveränderungen erörtert wurden, bei denen Hitler auch Becks Ablösung erwog159. In dieser prekären eigenen Lage, die sehr umsichtiges Taktieren verlangte, mußte er die Interessen des Heeres wahren, in erster Linie also die zukunftsentscheidende Frage der Spitzengliederung im Sinne der Heereskonzeption zu beeinflussen trachten, gerade weil diese Frage nicht nur von rein technisch-organisatorischer, sondern auch von politischer Bedeutung war. Eine führende

Stellung des Heeres innerhalb der Wehrmachtführung schien Beck die beste Gewähr dafür, einen mitbestimmenden Einfluß auf die Außenpolitik des Reiches zu erhalten160. Ihn leitete dabei kein Ressort-Egoismus, sondern staatspolitisches Verant156 157

Tagebuch Jodl, Eintrag vom 26.1. 38, IMT XXVIII, S. 357. Hoßbach, S. 122.

Tagebuch Jodl, Eintrag vom 27.1. 38, IMT XXVIII, S. 358 f. Tagebuch Jodl, Eintrag vom 28.1. 38, IMT XXVIII, S. 360, gibt Keitels Forderung an Brauchitsch wieder: „...das Heer enger an den Staat und sein Gedankengut heranzuführen, einen ebensolchen Chef des Generalstabes, wenn nötig, zu nehmen..." Da Hitler immerhin am 26. 1. noch mit dem Gedanken gespielt hatte, eventuell sogar Beck den Oberbefehl anzutragen, ist zu vermuten, daß Keitel der Urheber jener Forderung auf Beseitigung Becks gewesen ist. Das legt auch Jodls Eintrag vom 2. und 3. 2. 38 (IMT XXVIII, S. 363 ff.) nahe, aus dem hervorgeht, daß Jodl versuchte, Keitel zu bremsen, indem er zur Umsicht bei eventuellen Personalveränderungen 158

159

riet und Becks Verbleiben im Amt befürwortete. 160 Das hat auch Keitel im Rückblick später erkannt. Vgl. Keitel, S. 167, Aufzeichnung „Die Stellung des Chefs OKW" vom 8.12.45: „Beim Heer war das Bemühen um Wiedererrichtung des

,Großen Generalstabes' neben der Rückgewinnung der Macht über die Wehrmacht

ganz offen-

-

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

291

wortungsgefühl angesichts der sich andeutenden Risikopolitik Hitlers. Wie immer die Fritsch-Affäre auch ausgehen und das persönliche Schicksal des Generalobersten sich gestalten mochte, die mit der Spitzenorganisation erneut aufgeworfenen Probleme waren für die Armee von größter Tragweite. In Becks Augen war sie genauso oder wohl sogar noch wichtiger und entscheidender als das Schicksal des ObdH161. Denn selbst wenn die Angelegenheit Fritsch erfolgreich und zufriedenstellend gelöst, die Spitzengliederung jedoch nach den Vorstellungen der Vertreter des Oberkommandos der Wehrmacht entschieden würde, wäre eine äußerst bedenkliche und für lange Zeit nicht mehr rückgängig zu machende Konstellation entstanden. Gerade weil Beck, der im Anfang zudem die Hintergründe der Affäre Fritsch noch nicht durchschaut hatte, noch an evolutionäre Möglichkeiten des Regimes glaubte, sah er sich veranlaßt, nachdrücklich und intensiv in die Debatte um die Spitzenorganisation einzugreifen. Hätte er diesen Glauben nicht mehr gehabt, wäre es wenig sinnvoll gewesen, sich allzu sehr mit sachlichorganisatorischen Problemen zu belasten, die sich nach erfolgreichen Demarchen außergewöhnlicher Art, wie sie die radikaleren Oppositionellen vorgeschlagen hatten, sowieso von selbst im Sinne des Heeres erledigt hätten. In der damaligen Lage Becks dagegen stellten sich eben die Dinge nicht so dar. Er stieß daher zwei Tage nach Hoßbachs Intervention bei Hitler seinerseits bei Keitel nach und legte diesem nochmals eindringlich den Standpunkt des Oberkommandos des Heeres dar162 : das Heer sei für Deutschland der ausschlaggebende Faktor, die Abteilung Landesverteidigung müsse daher zum Generalstab des Heeres treten. Der Chef des Wehrmachtamtes spürte sofort, daß die Dinge zur Entscheidung trieben, und versuchte in den nächsten Tagen, sich dem Drängen Becks zu entziehen163, zugleich aber bei den Besprechungen mit Hitler über die Nachfolge Fritschs die Weichen im Sinne der OKW-Vorstellungen zu stellen. Vermutlich wirkte er auch auf Becks Ablösung hin164. Jedenfalls begann nun ein hektisches Tauziehen165, das sich bis in die ersten Märztage hinein fortsetzte. Die Übernahme des Oberbefehls über die Wehrmacht durch Hitler am 4. Februar 1938 und die Ernennung Keitels zum Chef des Oberkommandos der Wehrmacht unter rangmäßiger Gleichstellung mit den Reichsministern166 sichtlich auch geleitet von dem Streben, auf die Außenpolitik des Reiches wenigstens insoweit Einfluß wiederzugewinnen, als dies mit strategischen Gesichtspunkten zu rechtfertigen war." 161 Nach Keitel, S. 173, habe Brauchitsch bei Hitler nach längeren Auseinandersetzungen damals durchgesetzt, daß Beck noch bis zum Herbst wenigstens bleibe, damit er, Brauchitsch, sich einarbeiten könne. Wenn das zutrifft, dann wird Becks Verhalten noch verständlicher; da er sich dann bewußt war, daß er gleichsam nur noch auf Abruf im Amte war, mußte er um so mehr versuchen, vorher die organisatorischen Fragen von so großer politischer Bedeutung möglichst

günstig zu regeln.

162 Hoßbach, S. 122; nach Warlimont, S. 27, ging der Streit konkret um die Wehrmachtführungsabteilung. 183 Tagebuch Jodl, Eintrag vom 2.2. 38, IMT XXVIII, S. 364. i«4 Vgl. oben Anm. 159 dieses Kapitels. 185 Jodl erhielt am 30. 1. 38 von Keitel den Auftrag, eine Denkschrift gegen den Gedanken einer ministeriellen Selbständigkeit der Teilstreitkräfte zu verfassen. 168 Erlaß vom 4. 2. 38 abgedruckt bei Foertsch, S. 106.

292

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

bedeutete durch die damit erfolgte Präjudizierung vorerst einen Teilerfolg der Verfechter einer OKW-Lösung; Keitel nahm daher auch die Gelegenheit sogleich wahr und führte die von ihm beabsichtigte Neuorganisation des Oberkommandos der Wehrmacht durch167. Gleichzeitig hatte jedoch das Oberkommando des Heeres in der Person des Beck befreundeten Generalleutnants v. Viebahn, der zum Amtschef des Wehrmachtführungsamtes im Oberkommando der Wehrmacht ernannt wurde, einen Vertrauensmann des Generalstabes in das Oberkommando der Wehrmacht eingeschleust168. Damit standen an der Spitze der drei wichtigsten Abteilungen bzw. Ämter im Oberkommando der Wehrmacht Persönlichkeiten, auf die Beck sich verlassen konnte und deren kritische Einstellung er kannte, nämlich Canaris (Abwehr), Thomas (Wehrwirtschaft und Rüstung) und nunmehr Viebahn. Gewisse personelle „Sicherungen" waren auf diese Weise eingebaut. Gleichwohl mußten die von Hitler dann am 4. Februar 1938 dekretierten Organisations- und Personaländerungen als ein Rückschlag für die Heereskonzeption angesehen werden. Immerhin war es Canaris jedoch gelungen, zeitweilig seinen Arbeits- und Einflußbereich auszudehnen. Die Abteilung Inland wurde seiner Amtsgruppe unterstellt160. Das war insofern wichtig, als der Abwehrchef damit einen Vorwand hatte, die bisher von Oster inoffiziell betriebenen innenpolitischen Nachrichtenrecherchen gleichsam zu legalisieren, der Gestapo auf der Fährte zu bleiben und wenigstens bis zu einem gewissen Grade auch zu begegnen170. Er nutzte sogleich die Gelegenheit und berief Anfang März die ihm unterstehenden Abwehrreferenten in den Wehrkreisen, nicht zuletzt, um sie in diesem Sinne zu instruieren. Er wandte sich dabei gegen stillschweigendes Hinnehmen parteipolitischer Angriffe, befahl strengstens, diesbezüglidie Vorkommnisse ungeschminkt zu melden, versicherte die Offiziere seiner stärksten Unterstützung bei Auseinandersetzungen mit der Partei; bei derartigen Vorfällen müsse man sich energisch und „mit sicherer und schneller Entschlossenheit zur Wehr setzen" ; bei dienstlichen Unstimmigkeiten mit Stapostellen sollten die Abwehrreferenten in diesem Sinne selbständig handeln171. Nach der Eingliederung öster167

Erlaß Keitel

188

Vgl.

vom 7.2. 38 (MGFA/DZ W 01-7/102 sowie OKW 1754): Dok.-Anh. Nr. 35. IMT XXVIII, S. 366-368, Keitel, S. 181; Hoßbach, S. 47. Viebahn begann auch sogleich zusammen mit Canaris innerhalb des OKW für Fritsch und gegen die Gestapo Stimmung zu

machen. 169 179

Tagebuch Jodl, Eintrag vom 7. 2. 38, IMT XXVIII, S. 367. Vgl. Ansprache Canaris vom 3. 3. 38 vor den Ic-Bearbeitern

der Wehrkreise: „Unsere gemeinsame Arbeit erstreckt und erweitert sich also jetzt auch auf das innerpolitische Gebiet." (MGFA/DZ W 01-5/156), vgl. Dok.-Anh. Nr. 35 und 37. 171 Ebd. Vgl. auch eine Ansprache von Canaris aus dem April 1938, in der er eine dem Totalitätsanspruch des Regimes entgegenkommende Fach-Selbstbeschränkung des Offiziers ablehnte und ausführte: „Es gibt in verschiedenen Staaten rings um Deutschland Auffassungen, die den Offizier zum militärischen Spezialisten, zum militärischen Fachhandwerker gewissermaßen, degradieren wollen. Diese aus Hochmut und dünkelhaftem Intellekt kommende Auffassung meint, der Offizier möge sich auf das rein Militärische, auf taktische Führung und Vermittlung des Waffenhandwerks beschränken, während das Erzieherische und Weltansdiauliche einem politischen Kommissar überantwortet werden soll... Stoßen Sie jedoch ., gleichgültig wo immer, auf diese Ansichten und Forderungen, so greifen Sie unerbittlich zu ...!" (Zit. nach Krausnick, Stationen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, S. 127.) ...

..

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

293

reichs bemühte er sich zudem, aus dem österreichischen Heer möglichst nicht-nationalsozialistisch gesonnene Offiziere in den Abwehrdienst zu übernehmen172. Inzwischen war es Beck gelungen, den neuen ObdH für den Standpunkt der Heeresleitung bezüglich der obersten Wehrmachtorganisation zu gewinnen. Knapp zwei Wochen später versuchte Brauchitsch178, den Oberbefehlshaber der Marine zu einem neuen Vorstoß in der Frage der Spitzengliederung zu veranlassen. Solange Hitler noch keine endgültige Stellung zu der vorgelegten Denkschrift des Heeres genommen habe so wurde im Oberkommando des Heeres argumentiert -, sei das Problem der Spitzengliederung trotz der Regelung vom 4. Februar noch nicht als entschieden anzusehen. Raeder hatte inzwischen versucht, Görings Hilfe für seinen Plan zu gewinnen, ein vom Oberkommando der Wehrmacht unabhängiges Marineministerium zu schaffen. Keitel gelang es indessen, Göring der zeitweilig auch mit dem Gedanken an drei Ministerien geliebäugelt hatte dadurch auf die Seite des Oberkommandos der Wehrmacht zu ziehen, daß er dessen Forderungen zustimmte, an den Personalerörterungen teilzunehmen. Göring äußerte zu Keitel, er würde notfalls sogar einer Trennung von ObdL und Reichsluftfahrtministerium zustimmen, eine Äußerung des sonst eifrig auf Selbständigkeit und Unabhängigkeit bedachten Göring, die nur im Zusammenhang mit dem geschilderten Tauziehen verständlich wird. Ein Oberkommando der Wehrmacht unter Keitel wäre für Göring in jedem Fall einer Reichsgeneralstabslösung unter dem dominierenden Einfluß des Heeres vorzuziehen gewesen. Hier wird der machtpolitische Hintergrund des ganzen Problems deutlich. Keitel seinerseits versuchte, bei Hitler den Bestrebungen der anderen beiden Wehrmachtteile entgegenzuarbeiten, indem er ihn über die zu erwartenden Vorstöße von Heer und Marine informierte. Das Ergebnis zeigte sich alsbald. Am 1. März reichte das Oberkommando des Heeres einen Vorschlag zur Regelung der Befugnisse des ObdH ein, der wie Jodl in seinem Tagebuch notierte174 „einer völligen Kaltstellung des OKW gleichkommt". Hitler aber lavierte vorerst. Er lehnte es zwar ab, dem Oberkommando des Heeres die erbetenen ministeriellen Befugnisse zuzugestehen, stellte den neuen ObdH jedoch im Rang mit den Reichsministern gleich. Daraufhin legte ihm der ObdH am 8. März 1938 unter Umgehung Keitels175 eine unter der Leitung Becks von General v. Manstein, dem Oberquartiermeister I des Generalstabes, entworfene Denkschrift über die Organisation der Wehrmachtführung vor176. Sie basierte auf den Grundgedanken jener noch von Fritsch eingereichten und später zurückgezogenen Denkschrift vom August 1937, die aber jetzt den durch die Entscheidung vom 4. Februar veränderten Umständen angepaßt war177. Mit ihr wurden nochmals die Ansprüche des Heeres durchzusetzen ver-

-

-

-

172

Abshagen,

-

S. 182. Hierzu und zum folgenden vgl. Tagebuch Jodl, Eintragungen ab 30.1. 38, IMT XXVIII, S. 361 ff. 174 Ebd. S. 369, Eintrag vom 1. 3. 38. 175 Vgl. Keitel, S. 184. 176 MGFA/DZ OKW/214: ObdH Nr. 93/38 Chefsache vom 7.3.38. Vgl. Manstein, S. 294, und Tagebuch Jodl, IMT XXVIII, S. 369-370. 177 Es war also nicht, wie Keitel, S. 184, meint, die alte Denkschrift. 173

VI.

294

sucht. So wurde

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

Beispiel die Koppelung der Ämter von ObdH und Reichs-(d. h. Wehrmacht-)Generalstabschef sowie die Eingliederung der OKW-Abteilungen „Landesverteidigung" und „Abwehr" in das Oberkommando des Heeres gefordert und gleichzeitig versucht, durch eine Hintertür den einzelnen Wehrmachtteilen eigene ministerielle zum

Funktionen zu verschaffen. An zwei Punkten dieser Denkschrift wird das Politikum erkennbar; auch enthüllt sich ein indirekter Bezug zu den Problemen, die in der Fritsch-Affäre akut geworden waren: Erstens enthielt sie den Vorschlag, die Amtsgruppe Abwehr in den Generalstab des Heeres einzugliedern. Wäre die Abwehr mit der Abteilung „Inland" zum Oberkommando des Heeres getreten, dann hätte das Heer ganz legal ein Instrument erhalten, das für die weitere Auseinandersetzung mit SS, Gestapo und Partei hätte wirkungsvoll eingesetzt werden können. Zweitens wurde der Vorschlag gemacht, für den Kriegsfall ein Reichssicherheitsamt, das der vom Heer beherrschten Wehrmachtführung unterstehen sollte, zu gründen. Damit wären dann SS und Polizei unter militärische Kontrolle gebracht worden und die gesamte vollziehende Gewalt auf die Wehrmacht übergegangen178. In der Rückschau mag dieser Gedanke utopisch erscheinen170. Aber angesichts der damaligen Lage, wo organisatorisch alles in Fluß geraten zu sein schien und wo die Position von SD und Gestapo durch die im Verlauf des Fritsch-Prozesses ruchbar gewordenen Gestapoübergriffe zeitweilig prekär geworden war, mußte eine solche Idee zweifellos naheliegen. Im Gegensatz zu den Aktionsplänen der radikaleren Oppositionellen mit ihrem Rückgriff auf den Einsatz physischer Machtmittel, im Gegensatz auch zum CanarisHoßbach-Vorschlag, der eine Pression ohne Anwendung physischer Mittel vorsah, zeigt sich an diesen Punkten der OKH-Denkschrift die evolutionäre Tendenz Becks. Indessen kam das Oberkommando des Heeres mit seiner Denkschrift nicht zum Zuge. Göring und Raeder wandten sich gegen den OKH-Vorschlag. Göring stärkte vielmehr Keitel den Rücken, indem er ihm sagen ließ, der OKH-Vorschlag käme gar nicht in Frage, er solle seine Gegendenkschrift in aller Ruhe fertigstellen und, bevor er zum Führer gehe, mit ihm, Göring, sprechen180. Hitler soll dann über die OKH-Denkschrift schwer verstimmt gewesen sein und sie als Angriff gegen seine Person aufgefaßt haben; nach seiner Meinung 178 179

lso

Keitel, S. 149. So Görlitz in:

Keitel, S. 153. Tagebuch Jodl, IMT XXVIII,

S. 370. Vorarbeiten für diese Denkschrift stellte eine AusarbeiOKW 1502; auch abgedruckt bei Keitel, S. 143-145). Sie stammt wahrscheinlich aus Jodls Feder. In ihr wurden die gegensätzlichen Standpunkte einander gegenübergestellt. Die eigentliche Antwort des OKW erfolgte dann mit einer Denkschrift vom 19. 4. 38: „Die Kriegführung als Problem der Organisation" (MGFA/DZ OKW 312; auch abgedruckt bei Keitel, S. 154 ff.). Sie hat nach Keitel, S. 184, beim Heer schwere Verstimmung hervorgerufen. Bemerkenswert an diesen beiden Dokumenten ist einmal, daß aus ihnen hervorgeht, daß sowohl OKW wie OKH für den Kriegsfall nicht mit einer Leitung der militärisdten Kriegführung durch Hitler selbst rechneten, sondern an einen Generalissimus dachten; zum anderen und hier zeigt sich wieder die grundlegende Differenz des politischen Denkens der Kontrahenten -, daß das OKW den angeblich „übermäßig entwickelten Generalstabsdienstweg" als dem „Führerprinzip"

tung des OKW dar

(MGFA/DZ

-

widersprechend erklärte.

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

295

hätte Brauchitsch diese Demarche des Heeres abfangen müssen181. Immerhin antwortete er dem Oberkommando des Heeres vorerst ausweichend: Keitel werde keineswegs zum Wehrmachtgeneralstabschef gemacht, im übrigen wolle er sich die Angelegenheit überlegen. Damit war das Problem zunächst vertagt. Erst am 13. Juni, als sich die Gesamtsituation grundlegend gewandelt hatte, entschied Hitler mit einem Erlaß endgültig über die Spitzengliederung im Sinne der OKW-Konzeption. Damit war Becks Kampf um die Durchsetzung einer Lösung gescheitert, durch die dem Oberkommando des Heeres bzw. dem Generalstab des Heeres eine direkte Einflußnahme auf die militärpolitischen und strategischen Entschlüsse Hitlers sowie damit indirekt auch auf dessen Innen- und Außenpolitik ermöglicht worden wäre. Im Rückblick mag man angesichts dieses Scheiterns bedauern, daß Beck sich so intensiv in der Frage der Spitzenorganisation engagierte, anstatt im Sinne der radikalen Oppositionellen eine direkte Intervention des Heeres in die Wege zu leiten, etwa dadurch, daß er

die Kommandierenden Generale und höheren Generalstabsoffiziere nach Berlin rief, ihnen die Lage schilderte und eine Demarche bei Hitler in die Wege leitete. Eine solche Kritik übersieht zunächst, daß Becks Bemühungen um eine dem Heeresstandpunkt angemessene Spitzenorganisation durchaus nicht von vornherein aussichtslos waren, zumal Brauchitsch, der bei Hitler damals noch ein gewisses Vertrauenskapital besaß, ebenfalls für Becks Konzeption eintrat. Auch Canaris hatte damals immerhin in Teilbereichen relative Erfolge für sich erringen können. Entscheidend jedoch für Becks Verhalten war schließlich die Tatsache, daß er in jenen Wochen innerlich einfach noch nicht in der Lage war, den Schritt in die offene Opposition zu tun. Damit aber ist ein Abwägen, was nun ratsamer gewesen wäre, ein müßiges Unterfangen. Die mit der Fritsch-Affäre und den Oppositionsüberlegungen parallel laufende Auseinandersetzung um die Spitzenorganisation ist nicht zuletzt deswegen so bedeutungsvoll, weil sie von erheblichem Einfluß auf das Verhalten maßgeblicher Persönlichkeiten damals war. Man wird weder die damaligen Ereignisse noch das Verhalten einzelner Beteiligter das Beispiel Becks zeigt dies richtig verstehen können, wenn man allzu einseitig nur die Fritsch-Krise und die Aktivität des Oppositionskreises im Auge hat, nicht aber zugleich die anderen zu jener Zeit akuten gewichtigen -

-

Probleme berücksichtigt. Überblickt man die Ereignisse vom Frühjahr 1938, so wäre festzustellen: Die Armee hatte infolge des Blomberg-Skandals und der im Zusammenhang mit der Neuregelung der Obersten Führung auftretenden Diadochenkämpfe eine bemerkenswerte moralische Schlappe erlitten. So unzweifelhaft dies auch ist, so schwierig ist es aber, Gehalt und Folgen eines solchen Tatbestandes in den Blick zu bekommen. Offenkundiger und gewiß nicht weniger gravierend in Tatbestand und Auswirkungen ist der machtpolitische Terrainverlust der Armee. Der Fortfall der Institution des Kriegs-

ministers und ObdW eliminierte die gemeinsame in einer Person sich darstellende Repräsentanz der Gesamtstreitkräfte gegenüber der Staatsführung. Die Oberbefehlshaber der 181

Keitel, S. 184.

VI.

296

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

Teilstreitkräfte standen ihr nunmehr einzeln gegenüber. Hitler hatte den nominellen Oberbefehl, den er seit Hindenburgs Tod innehatte, in einen faktischen verwandelt. Im Oberkommando der Wehrmacht, wie es jetzt Gestalt gewann, schuf er sich ein Instrument zur Ausübung dieses Oberbefehls und zugleich die Voraussetzung für die Manipulierung des militärischen Apparates182, zumal nunmehr jede Teilstreitkraft, gleichsam isoliert, für sich existierte. Da das Oberkommando der Wehrmacht „zu einem Befehlsapparat ohne eigenes Schwergewicht... ohne eigene Autorität weder nach oben noch nach unten" geworden war183, bestand keine Möglichkeit einer politischen und sachlichen Interessenvertretung der Streitkräfte mehr. Was dies für die Position des Heeres bedeutete, ist klar. Diese wurde zusätzlich noch dadurch beeinträchtigt, daß der neue ObdH sowohl gegenüber den höheren Generälen, von denen etliche dienstälter waren, als auch gegenüber Hitler keineswegs die Autorität besaß, deren sich Fritsch erfreut hatte184. Mehr noch, durch die ihm abgezwungene Annahme gewisser sachlicher und personeller Vorbedingungen war er erheblich eingeengt. Wenngleich er auch in gewissem Umfang diese Auflage zu umgehen oder zu unterlaufen verstand185, so war allein die Tatsache selbst sowie der Zwang, sie berücksichtigen zu müssen, eine beträchtliche Verkleinerung seines Aktionsspielraumes. Die ideologisch stärker akzentuierten Auslassungen Brauchitschs186 sowie Becks Anordnung, an der Kriegsakademie den Unterricht über „die nationalsozialistische Weltanschauung als Grundpfeiler des deutschen Staates und seiner Wehrmacht"187 zu verstärken, waren symptomatisch für die geSelbst Jodl hatte zeitweilig gewisse Bedenken. Er schrieb damals: „Nur vereinzelt trifft die Erkenntnis, daß die Wehrmacht zusammenstehen muß. Jeder Riß, den sie in sich trägt, bietet anderen Kräften willkommenen Anlaß, in das Gefüge einzubrechen." (Zitiert nach einer Zuschrift von Luise Jodl in: „Soldat im Volk", Mai 1966, Nr. 5, S. 5). 183 Zs. Nr. 125 (Röhricht), vgl. auch Warlimont, S. 29 f. 184 Vgl. dazu Hoßbach, S. 155 f., sowie Mitteilungen von Generaloberst a. D. Halder vom 10. 11. 1965 und Generalleutnant a.D. Siewert vom 19.7.1966 an das MGFA. Keitel (S. 175) warnte Brauchitsch bezeichnenderweise, er solle nicht das Vertrauen „des Führers" aufs Spiel setzen, um das der Generale zu gewinnen. 185 Brauchitsch setzte es nach längerem Bemühen durch, daß Beck erst noch auf seinem Posten blieb (Keitel, S. 173). Er hat weiterhin die OKW-Spitzengliederung trotz der ihm gestellten Bedingung, „die jetzige Spitzenorganisation anzuerkennen" (Jodl Tagebuch, Eintrag vom 28. und 29.1.38) abgelehnt und den Heeresstandpunkt vertreten (vgl. auch Zs. Nr. 148). Warlimont, S. 27 f. schreibt, Brauchitsch habe sogleich Becks alte Forderung übernommen, das Wehrmachtführungsamt müsse in das OKH eingegliedert werden und der ObdH, nicht aber das OKW, müsse der erste und einzige Berater der Staatsführung in militärischen Dingen sein. 186 Vgl. dazu seinen Erlaß vom 18.12. 38, in: MGFA/DZ H 7/30 oder Messerschmidt, Offiziere im Bild von Dokumenten, S. 274 f. Dazu auch O'Neill, S. 67 f., und Hassell, S. 71. General a. D. Heusinger (Mitteilung an das MGFA vom 17.2.1966) ist überzeugt, daß Brauchitsch innerlich bestimmt dagegen gewesen sei, aber geglaubt habe, Konzessionen machen zu müssen, um das Heer bewahren zu können. Ähnlich auch Generalleutnant a. D. Siewert (Mitteilung an das MGFA/DZ 182

man

...

7.1966).

vom 19. 187 MGFA/DZ

vom

24. 5. 38

H 35/31, Schreiben des Kommandeurs der Kriegsakademie, General Liebmann, das Oberkommando der Wehrmacht: „Der Herr Chef des Generalstabes hat eine

an

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

297

schwächte Position der Heeresführung, die offensichtlich derartigen ideologischen Pflichtübungen nicht mehr entgehen konnte oder entgehen zu können glaubte. Geschwächt wurde sie weiterhin nicht zuletzt auch infolge des tiefen Unbehagens, das sich durch die für die Masse der Offiziere undurchschaubaren Vorgänge in Berlin im Offizierkorps breitmachte und zeitweilig sogar den Charakter einer schleichenden Vertrauenskrise annahm. Denn trotz aller Geheimhaltungsbemühungen des Regimes, trotz der Verbote von Seiten des Oberkommandos des Heeres und des Oberkommandos der Wehrmacht ließ sich nicht verhindern, daß mancherlei bis in die unteren Ränge durchsickerte. Die aus Unsicherheit und Schwäche resultierende, bis an Unaufrichtigkeit grenzende Informations- bzw. Vertuschungstaktik der militärischen Führung gab zu Gerüchten Anlaß, etwa jenem, daß die Partei die Krise bei der militärischen Führung benützt habe, „um Eingriffe in die Wehrmacht zu machen"188. Weiterhin: dadurch, daß es im Verlauf der Fritsch-Krise nicht gelang, die SS in ihre Schranken zu verweisen, geschweige denn, sie entscheidend zu schwächen, erhielt sie nach Lage der Dinge einen Gewichtszuwachs, der vor allem auf Kosten des Heeres ging. Das kam unter anderem dadurch zum Ausdruck, daß die traditionelle Befugnis der Armee, die vollziehende Gewalt in Kriegszeiten allgemein auszuüben, alsbald auf das eigentliche Operationsgebiet eingeschränkt wurde189; vor allem aber drückte es sich in der eben ab 1938 erfolgenden Vermehrung und Modernisierung der bewaffneten SS-Verbände aus190, bei der Keitel und Jodl bereitwillig Hilfestellung leisteten191. Keitel war es auch, der im Verlauf der Fritsch-Krise mit einem Achselzucken über „die Gepflogenheiten" der Gestapo hinwegging und, indem er sie wie etwas Alltägliches und naturgegeben Unvermeidliches hinnahm192, dadurch Verstrickung und Ohnmacht der bewaffneten Macht gleicherweise reflektierte.

Erweiterung der Vorlesungen über nationalpolitische Themen an der Kriegsakademie angeordnet." waren 27 bis 28 Vorträge pro Lehrjahr vorgesehen. Vgl. Dok.-Anh. Nr. 38. 188 Ygj_ Dok.-Anh. Nr. 31 und 33. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang der Passus einer

Es

Rede

von Admirai Canaris vor den Ic-Offizieren der Wehrkreise am 3.3.38: „Über die Vorgänge, die zur Verabschiedung des Reichskriegsministers und des Generaloberst Frhr. v. Fritsch geführt haben, sind Sie bereits durch die Kommandierenden Generale auf Grund einer Besprechung

beim Führer unterrichtet worden. Wir haben uns zunächst mit dieser Erklärung abzufinden. Es ist zur Zeit nicht möglich, auch nur ein Wort mehr darüber zu sagen. Es kommt darauf an, daß Sie in diesem Sinne alle Anfragen beantworten... Sie haben niemandem etwas zu erkennen zu geben, auch wenn Sie tatsächlich etwas wissen sollten." (Vgl. Dok.-Anh. Nr. 36.) 189 Vgl. dazu Walter Baum, Vollziehende Gewalt und Kriegsverwaltung im „Dritten Reich", in: WWR 6 (1956), S. 470 ff. 199 Stein, S. 18 ff., und O'Neill, S. 103 ff. 191 Vgl. Dok.-Anh. Nr. 39 und die Weisung Hitlers zur Aufstellung, Stellung und Aufgabe der bewaffneten SS-Truppen (MGFA/DZ OKW 1551, abgedruckt auch in IMT, S. 190 ff.). Sie brachte die entscheidende offizielle Grundlage für diese Truppen. Zur Interpretation dieser Weisung vgl. Buchheim, Die SS Das Herrschaftsinstrument, S. 200 ff. 192 J. A. Graf v. Kielmansegg, S. 74, sowie Warlimont, S. 29 f., und Krausnick, Vorgeschichte, -

S. 296.

VI.

298

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

Blombergs, der Beseitigung Fritschs, der Neugliederung der Spitzenorganisation, vor allem aber in den Konsequenzen und Folgeerscheinungen dieser Ereignisse zeigt sich, daß im Frühjahr 1938 endgültig jenes Konzept der Armee scheiterte, dessen Kerngehalt in der Machtteilhabe, Autonomie und Integrität der bewaffneten Macht lag. Reichenau, der jenes Konzept dynamisch und offensiv zu verwirklichen sich bemüht hatte, war schon seit 1935 nahezu ausgeschaltet sein Versuch, während der Fritsch-Krise durch seine Anwesenheit in Berlin sich noch einmal einzuschalten, schlug fehl193; damit schwand In dem Sturz

-

wohl die für ihn letzte Chance. Im Sturz Fritschs wurde das Scheitern der konservativ-defensiven Spielart jenes Konzeptes offenkundig. Die neue Heeresführung stand auf seinen Trümmern; sie mußte fortan ohne konkrete Zielvorstellung sich den Ereignissen stellen und auf der innersten Linie kämpfend sich um die bloße Bewahrung des Bestandes bemühen. Insofern hat die Wende

vom

Das

Frühjahr 1938 Epochencharakter. gilt im Prinzipiellen auch für das Aufkeimen oppositioneller Regungen

im militärischen Raum, wie schwach und unreflektiert sie auch zu jener Zeit teilweise noch gewesen sein mochten. Die Ereignisse um Fritsch bedeuteten für die einen den Beginn eines folgereichen Desillusionierungsprozesses, für die anderen den entscheidenden Anstoß zum Zusammenbruch ihres Vertrauens in die oberste politische Führung194, für wieder andere waren sie das Moment, das sie den Schritt von oppositioneller Einstellung zur Widerstandsbereitschaft tun ließ195. Diese Entwicklung war bei jedem einzelnen gewiß individuell gefärbt, an ihrem generellen Charakter ist gleichwohl nidit zu zweifeln. Sie ist im Grunde primär eine Folge der perfiden Methoden, die im Fall Fritsch angewandt wurden. Das bisherige Treiben der „braunen Tscheka" hatte wohl Ärgernis und Abscheu erregt; Konsequenzen aber zog man erst jetzt daraus, als die eigene Sphäre, noch dazu in dem

198 Nach Röhricht, S. 116 ff., haben nicht zuletzt die Gegenbemühungen aus den Reihen der Generalität mit zum Scheitern Reichenaus beigetragen. 194 In Becks Papieren (BA/MA H 08-28/3) befindet sich eine „Aufzeichnung" vom 29. 7.1938 also einige Monate nach der Fritsch-Affäre in der es heißt, der Fall Fritsch „hat zwischen Hitler und dem Offizierkorps eine Kluft gerissen, auch in bezug auf das Vertrauen, die nie wieder zu überbrücken ist." Dieser Satz muß trotz Foerster, S. 96 („Beck wußte jetzt, wie es um die Moral des Gewalthabers stand.") nicht unbedingt Becks Meinung wiedergeben, da die Aufzeichnung offenbar ihm übermittelte Informationen und Ansichten Dritter enthält. 195 Nach Graml, Der Fall Oster, S. 32 f., hat Oster sich von nun an gleichsam institutionell seinen innerpolitischen Nachrichtendienst intensiviert. Seit 1938 wuchs sehr rasch seine Einsicht, daß Hitler selbst der Kern des Übels sei. Canaris soll nach der Eingliederung Österreichs zu einem in seine Abteilung versetzten einstigen österreichischen Offizier gesagt haben, er müsse sich darüber klar sein, daß an der Spitze des Reiches ein Verbrecher stehe (Abshagen, S. 182). Schacht, Abrechnung, S. 17, schreibt im Rückblick: „Wir erkannten nunmehr, daß die Führung der deutschen Regierung in die Hände von Verbrechern geraten war. Und neben dieser Erkenntnis tauchte das noch schrecklichere Gespenst des Krieges auf. Die Beseitigung Blombergs, Fritschs und Neuraths konnte nur den einen Sinn haben, daß man sich aller mäßigenden politischen und militärischen Elemente entledigen wollte. Auch meine Ausschaltung aus der Wirtschaftspolitik fügte sich in dieses drohende Bild." -

-

...

VI.

Blomberg-Skandal und Fritsch-Krise

299

Spitzenrepräsentanten, betroffen wurde. Erst jetzt empfanden jene Männer die innenpolitische Radikalisierung und den institutionalisierten Terror des SS-Apparates als Gemeingefahr ein spätes Symptom der Identifizierung der Interessen der Armee mit denen der Allgemeinheit, wobei in diesem Fall und unter den Umständen des Jahres 1938 diese Identität tatsächlich sogar weitgehend gegeben war. Sechs Jahre später, nach dem 20. Juli, haben sich dann in den Vernehmungen durch die Gestapo zahlreiche Offiziere auf das Erlebnis der Fritsch-Krise als dem Ausgangspunkt ihres Vertrauensschwundes und damit ihrer persönlichen oppositionellen Entwicklung berufen196. Aber abgesehen von dem psychologischen Einbruch, den jene Ereignisse bedeuteten, hat die Fritsch-Krise auf jene oppositionellen Kreise integrierend gewirkt. verehrten

-

196

Vgl. KB, S. 430 (Oster) und S. 273 (v. d. Schulenburg), sowie Thomas, Gedanken und Ereignisse, S. 2. Zu Thomas vgl. auch Birkenfeld, S. 8 und S. 23.

VII. DROHENDE KRIEGSGEFAHR

Beck und die Sudeten-Krise

Während der Nachhall der Fritsch-Krise noch nicht verklungen war, führte Hitlers Politik einer Zuspitzung der außenpolitischen Lage. In der Nacht vom 20. auf 21. April beauftragte Hitler den Chef OKW, General Keitel, die generalstabsmäßigen Vorarbeiten für eine Auseinandersetzung mit der Tschechoslowakei einzuleiten. Das tschechische Problem müsse doch einmal gelöst werden, und zwar sowohl wegen der unhaltbaren Lage der dortigen Volksdeutschen als auch aus strategischen Gründen. Er habe zwar nicht die Absicht, sogleich einen Krieg zu beginnen, aber es könnten politische Konstellationen entstehen, die zu blitzschnellem Handeln zwingen würden1. Damit war zwar noch keine akute Kriegsabsicht gegen die Tschechoslowakei gegeben; aber eine Aggression als Reaktion, als „blitzschnelles Handeln aufgrund eines Zwischenfalls"2, der immerhin beliebig zu provozieren war, mußte jetzt als im Bereich der Möglichkeiten liegend angesehen werden. Keitel nahm, nach seinen eigenen Worten, diese Anordnung Hitlers daher „wortlos und nicht ohne Sorgen" entgegen. Trotz seiner Besorgnis bereitete er am nächsten Tag nach Rücksprache mit Jodl eine entsprechende Weisung vor, hielt sie aber zunächst noch zurück. Er und Jodl waren sich einig, „die Sache vorerst dilatorisch zu behandeln"3. Vermutlich ist den leitenden Männern des Oberkommandos der Wehrmacht bei dem ihnen eröffneten Entschluß Hitlers, in absehbarer Zeit eine kriegerische Lösung ins Auge zu fassen, auch nicht ganz wohl gewesen. Zugleich sahen sie, in Kenntnis der Grundhaltung des Oberkommandos des Heeres, daß dieser Entschluß bei der Führung des Heeres auf heftige Opposition stoßen würde. Daher hielten sie nicht nur den Weisungsentwurf zunächst zurück, sondern verschwiegen dem Generalstab des Heeeres überhaupt die ganze Angelegenheit, „um jede unnötige Beunruhigung zu vermeiden"4. Hier treten die Konsequenzen der total differierenden Grundansdiauungen innerhalb der höchsten militärischen Führungsgremien offen zutage. Keitel, wie Jodl ein Verfechter des politischen „Führerprinzips" auch im militärischen Räume, stellte seine eigene Besorgnis zurück, machte keinerlei Einwände, sondern gestattete sich höchstens einiges Zögern. In Kenntnis der ganz anders gearteten Anschauungen des Generalstabes des Heeres gab er die folgenreiche Willensäußerung Hitlers, die das Schicksal der Nation zutiefst zu beeinflussen geeignet war, nicht der Führung des Heeres zur Kenntnis. Er hielt damit nicht nur den wichtigsten Teil des militärischen Instrumentes über politisch bedeutsame, die Armee

zu

1 Vgl. Keitel, S. 182 f. Ferner ist heranzuziehen das sogenannte „Schmundt-Protokoll" über diese Besprechung: abgedruckt bei Peter de Mendelsohn, Sein Kampf, Hamburg-Wien, o.J., S. 60, und

IMT X, S. 569. IMT XXV, S. 434. 3 Keitel, S. 183, auch IMT X, S. 571. Vgl. auch IMT X, S. 572, sowie IMT XXV, S. 431. 4 Keitel, S. 183. 2

ADAP, Serie D, Bd II, Dok. 175, S. 236 f., und

VII. Drohende

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

301

betreffende Vorgänge in Unkenntnis, sondern er versuchte vor allem eventuelle fachlich fundierte Reaktionen des OKH gegenüber der Staatsführung auf diese Weise zu verhindern. Eindrucksvoll beleuchtet diese Episode, in welch erschreckendem Maße die Vertrauensbasis innerhalb der obersten militärischen Führungsgremien im Laufe der Konfrontation mit dem Nationalsozialismus schon zerstört worden war. Fast zur selben Zeit, als im Oberkommando der Wehrmacht die erwähnte Weisung vorbereitet wurde, legte General Beck dem Oberbefehlshaber des Heeres eine umfangreiche Ausarbeitung mit dem Titel „Betrachtungen zur gegenwärtigen militärpolitischen Lage Deutschlands" vor5. Was Beck gerade zu diesem Zeitpunkt veranlaßt haben mag, eine solche Ausarbeitung vorzulegen, ist nicht festzustellen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er trotz der Diskretion des Oberkommandos der Wehrmacht von der vorzubereitenden Weisung erfahren hatte6. Auf jeden Fall aber war dem Generalstabschef seit der Jahreswende klar geworden, daß Hitler seine Politik in eine Richtung orientierte, die in Europa Unruhe und Konflikte hervorrufen könnte. Ende Januar hatte er vor hohen Offizieren geäußert, das deutsche Volk in Zukunft ausreichend zu ernähren, sei „nur möglich, wenn wir neuen Raum gewinnen, den wir uns gewaltsam schaffen müssen"7. Wenn ein so enger Vertrauter Becks wie Karl-Heinrich v. Stülpnagel zudem gegenüber Staatssekretär v. Weizsäcker Anfang Mai äußerte, Hitler bewege sich wohl auf kriegerischen Pfaden8, dann zeigt das das Mißtrauen, das die Politik der Staatsführung damals bei den Spitzen des Generalstabes hervorgerufen hatte. In jener Atmosphäre entstand die Ausarbeitung Becks vom 5. Mai 1938. Sie ist in drei Abschnitte gegliedert9. Im ersten Teil behandelte Beck die politische Lage, insbesondere das europäische Staatensystem vor dem Hintergrund der Weltpolitik. Er wies auf die engere politische und militärische Zusammenarbeit hin, die zwischen England und Frankreich sich abzuzeichnen beginne. Man müsse unterstellen, daß sie in erster Linie gegen Deutschland gerichtet sei und in ihrem Endziel mit der Möglichkeit eines europäischen oder auch eines Weltkrieges rechne. Dabei sei schon heute Amerika als Kriegslieferant in Aussicht genommen. Beide Länder erweiterten und beschleunigten ihre Aufrüstung. Ebenfalls müsse

Korrigierter und unterzeichneter Schreibmaschinen-Entwurf in BA/MA H 08-28/4; abgedruckt mit kleineren Textvarianten bei Foerster, S. 100-105, und korrekt nach dem Original bei Buchheit, Beck, S. 133-138. Der Entwurf stammt vom 5. 5. 38 und trägt den Vermerk: „am 7. 5. nachm. Reinschrift an Ob.d.H." Dieser Vermerk stammt entgegen der Annahme von Foerster, S. 169, Anm. 68, nicht von Beck. 8 Vgl. dazu auch den Schlußteil der Ausarbeitung, wo indirekt von Bedt unterstellt wird, Deutschland suche „den Weg der Lösung des tschechischen Problems gegen England zu erzwingen". (Herfalls Deutschland eine England nicht gevorhebung vom Verf.) Weiter oben heißt es dann: zu erzwingen sucht." nehme Lösung 5

„...

...

7

8

MGFA/DZ WK XIII/823. Nach Rönnefarth, Bd II, S. 311. Das

Gespräch soll in Rom während des Staatsbesuches Hitlers stattgefunden haben. 9 Hierzu und zum folgenden konnte ich einige Anregungen verwerten, die aus einem von meinem Kollegen Priv.-Dozent Dr. Wohlfeil im Sommersemester 1966 an der Universität Freiburg i. Br. veranstalteten Seminar stammen (insbesondere aus den Arbeiten von K. Bleeck und K.-V. Gießler).

VIL Drohende

302

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

Rußland weiterhin als sicherer Feind Deutschlands angesehen werden, der sich an einem Kriege sofort mit seiner Luftwaffe und seiner Flotte beteiligen würde. Was die kleineren europäischen Mächte angehe, so müsse damit gerechnet werden, daß sie im Laufe eines europäischen Krieges mehr oder weniger ihre neutrale Haltung gegen Deutschland aufzugeben gezwungen werden könnten. In einem zweiten Abschnitt wandte sich Beck dem voraussichtlichen Verhalten Englands und Frankreichs bei einem Konflikt Deutschlands mit der Tschechoslowakei zu. Er wies auf die Verschlechterung der britischen Stimmung seit dem Anschluß Österreichs und auf die durch dieses Ereignis verstärkten Bindungen Frankreichs an Prag hin. In einem Konflikt zwischen der Tschechoslowakei und Deutschland würde Frankreich auf jeden Fall entsprechend seiner Zusage auf seiten der Tschechoslowakei stehen. Ein solidarisches Handeln der Westmächte, also Englands und Frankreichs, müsse als sehr wahrscheinlich angesehen werden, auch wenn zunächst das Ziel der Westmächte, die Erhaltung der Tschechoslowakei, nicht erreicht werde. Daß die Westmächte notfalls bereit wären, die Tschechoslowakei zunächst preiszugeben und ihre Wiederherstellung erst der Gesamtbereinigung am Ende eines langen Krieges zu überlassen, dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie, mit Amerika im Hintergrund, zum Handeln bereit seien. Im letzten Abschnitt behandelte Beck die Lage Deutschlands in einem Kriegsfalle. Er unterstrich nachdrücklich die relativen Schwächen der militärischen und wehrwirtschaftlichen Lage. Aufgrund der militärpolitischen Lage Deutschlands würden keine Voraussetzungen bestehen, einen großen Krieg zu Wasser, zu Lande und in der Luft erfolgreich durchzustehen. Auch aufgrund der militärischen und der wehrwirtschaftlichen Lage dürfe sich Deutschland nicht der Gefahr eines langen Krieges aussetzen. Ein Krieg würde aber von den potentiellen Gegnern von vornherein als langer Krieg ins Auge gefaßt werden. Immerhin hielt er bezüglich der tschechischen Frage eine Einigung mit England für möglich. Voraussetzung sei aber, daß Deutschland einer für England noch tragbaren Lösung zustimme. Niemals würden die Briten uns gänzlich freie Hand gegen die Tschechoslowakei zugestehen. „England so heißt es weiter10 bereitet sich darauf vor, sein Schwert in die Waagschale zu werfen, falls Deutschland eine England nicht genehme Lösung des tschechischen Problems zu erzwingen sucht. Es war immer sein Grundsatz, sich gegen die stärkste Kontinentalmacht einzustellen. Wenn auch heute in dieser Hinsicht die Stellung Englands zu Deutschland eine andere ist wie 1914, so sorgt es dodi offensichtlich dafür, daß wir einer Koalition gegenüberstehen, die mächtiger ist als wir. Frankreich und Rußland stehen für diesen Fall schon auf seiten Englands. Amerika wird sich ihnen anschließen, wenn auch vielleicht zunächst nur durch materielle Kriegshilfe England mit seiner ungeheuren Macht, die heute noch trotz gelegentlich anderer Urteile von Persönlichkeiten, die die Weltmacht Englands aus eigener Anschauung nicht kennen, fortbesteht, -

-

.

..

...

wird die

sonst

in

Frage kommenden kleinen Mächte spätestens im Laufe eines Krieges

zwingen können, ebenfalls mitzugehen oder uns wirtschaftlich abzuschnüren." Über den Wert Italiens als Bündnispartner meinte er, daß dessen „Hilfe aufgrund weltanschau10

BA/MA H 08-28/4; siehe auch Foerster, S. 105.

VIL Drohende

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

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licher Verbundenheit"11 in dem brutalen Machtkampf, der entbrennen könnte, bedeutungslos wäre. Damit ließ er indirekt auch seine Skepsis über die von Hitler wiederholt als entscheidend hingestellte ideologische Komponente anklingen. Abschließend erhob er vom militärischen Standpunkt aus die Forderung, England dürfe „im Falle eines europäischen Konfliktes"12 keinesfalls auf seiten unserer Gegner stehen. Das aber sei zu erwarten, wenn Deutschland den Weg der Lösung des tschechischen Problems gegen England zu erzwingen suche13. Zwei Charakteristika fallen dem Leser dieser Ausarbeitung sogleich auf: erstens der zwar unausgesprochene, aber nahezu ständige direkte oder indirekte Bezug auf Hitlers Ausführungen vom 5. November 1937; und zweitens die Zuspitzung des Ganzen auf das tschechische Problem, genauer: der gesamte weltpolitische Tour-d'horizon, den Beck unternimmt, dient ausschließlich dazu, sachgerecht und umfassend das tschechische Problem und die Schwierigkeiten seiner Lösung zu erörtern. Der Bezug auf die Auslassungen Hitlers vom 5. November wird deutlich in Becks Analyse der weltpolitischen Lage. Die Konstellationen, die Hitler im November als für eine deutsche expansive Politik günstig bezeichnet hatte und für die Zukunft, unter Umständen also für 193814, zu erwarten schien, waren nach Ansicht des Generalstabschefs nicht eingetreten. Weder war Englands weltpolitische Stellung durch den japanisch-chinesischen Krieg geschwächt worden15, noch war es zu einem britisch-französisch-italienischen Konflikt im Mittelmeer gekommen England und Italien schienen sich vielmehr in diesem Raum zu arrangieren16. Auch waren in Frankreich keine innenpolitischen Spannungen entstanden, die Hitler erwartet und von denen er eine außenpolitische Lähmung Frankreichs erhofft hatte das Kabinett Daladier suchte vielmehr innenpolitisch ausgeglichene Verhältnisse, insbesondere gute Beziehungen zwischen Regierung und Armee herzustellen17. In großen Teilen liefen die Ausführungen Becks also darauf hinaus, die An-

-

Ebd. Wohl eine Anspielung auf die während des gleichzeitig stattfindenden Hitler-Besuches in Italien propagandistisch herausgestellte ideologische Verbundenheit. Beck fährt dann fort: „Über allen anderen Faktoren werden die der brutalen Macht stehen." (So im Gegensatz zu Foerster, S. 105, die Version des Textes im Beck-Nachlaß.) 12 Ebd. Foerster, S. 105, schreibt „Krieges" statt richtig „Konfliktes". 13 Ebd. 14 Nach der Hoßbach-Niederschrift plante Hitler schon 1938 dann einen Krieg gegen die Tschechoslowakei zu beginnen, wenn ein Mittelmeerkonflikt zwischen England, Frankreich und Italien in jenem Jahr ausbrechen sollte. Entsprechend ging Beck auch in seiner Stellungnahme zu der Hoßbach-Niederschrift auf diese Terminplanung ein, wenn er schreibt, für Hitler „handelt es sidi nicht um vage Zukunftsspekulationen, sondern nur um die Frage: Wo steht 1938 ff. England, Frankreich usw.". 15 Nach der Hoßbach-Niederschrift (Hoßbach, S. 211) erwartete Hitler dies. 16 Britisch-italienisches Abkommen vom 16. 4. 38 über die Regelung von Streitfällen und Interessenkonflikten. Entsprechend dagegen in der Hoßbach-Niederschrift vgl. Hoßbach, S. 211. 17 BA/MA H 08-24/4 (auch Foerster, S. 102 f.): „Frankreich wird nicht dem Bolschewismus verfallen Die französische Armee ist und bleibt intakt und ist... immer noch die stärkste Europas." Aus der „Stärke der neuen Regierung Daladier... dürfte eine größere Entschlossenheit auch in außenpolitischen Fragen zu folgern sein". In der Hoßbach-Niederschrift die entsprechenden gegenteiligen Auslassungen Hitlers: Hoßbach, S. 213 f. 11

...

VIL Drohende

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nähme Hitlers, das Jahr 1938 könnte eventuell eine für eine expansive Politik des Reiches günstige Situation bringen, zu entkräften. Im Gegenteil, der Generalstabschef bemühte sich seinerseits um den Nachweis, daß für eine solche Politik die sich konkret zunächst gegen die Tschechoslowakei richten müsse und nach Hitlers Absichten auch sollte zum gegenwärtigen Zeitpunkt die denkbar ungünstigsten Voraussetzungen bestünden. Damit wird der zweite Aspekt, das tschechische Problem, angesprochen. Die gesamte politische Konstellation, so meint Beck, sei zur gewaltsamen, aber auch zur bloß einseitigen Lösung dieser Frage völlig ungeeignet. Trotz der im Augenblick prinzipiell friedenserhaltenden Tendenz Englands und Frankreichs würden die Westmächte stets einem deutschen Angriff auf die Tschechoslowakei entgegentreten. Eine Lösung der tschechischen Frage und Beck hält eine solche offenbar schon für notwendig könne nur mit England erfolgen18; würde sie gegen England versucht, so werde Deutschland in einen langdauernden Krieg gegen -

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übermächtige Gegnerkoalition verstrickt, den es militärisch, wirtschaftlich, psychologisch und politisch niemals durchstehen könne. Man sieht: Die Leitmotive der Auffassungen Becks wurden wiederum deutlich. Ein Konflikt mit der Tschechoslowakei ist nicht zu isolieren; England wird Deutschlands Gegner in einem solchen Fall sein; Krieg mit England aber bedeutet unausweichlich einen langen Krieg, einen Krieg noch dazu gegen eine übermächtige Koalition1*. eine

die Denkschrift und ihre Vorlage beim Oberbefehlshaber des Heeres zu bewerten? Einerseits hat Beck, indem er sie abfaßte und seinem Oberbefehlshaber unterbreitete, keinen ungewöhnlichen Schritt getan. Er ist damit im Rahmen seiner Aufgaben lediglich seiner Pflicht der fachgerechten Beratung des Oberbefehlshabers des Heeres nachgekommen. Er blieb damit völlig innerhalb der Grenzen seiner Kompetenzen. Sie trug zudem weder polemischen noch gar ultimativen Charakter. Andererseits war nicht zu übersehen, daß sie bei aller Verhaltenheit in den Formulierungen inhaltlich eine kritische Stellungnahme zum politischen Grundkonzept Hitlers bedeutete, wie es sich seit November 1937 für den Generalstabschef abzuzeichnen begann. Inhaltlich-sachlich änderte sich in den folgenden Monaten bis zur Entlassung Becks an seinen militärpolitischen und außenpolitischen Axiomen und Vorstellungen im Prinzip nichts mehr. Was sich fortan änderte, war die Leidenschaft, mit der er ihnen Anerkennung zu verschaffen suchte, und vor allem die fortschreitend gravierenden Konsequenzen, die er aus der Tatsache zog, daß er diese Anerkennung bei seinen Vorgesetzten nicht zu erreichen vermochte. Anfang Mai jedoch war er noch weit davon entfernt. Er legte bloß pflichtgemäß und in ordnungsgemäßer Form seine Beurteilung der Lage vor, überließ es Wie ist

18

nun

Vgl. oben Anm. 6 dieses Kapitels.

Zweifellos hat sich Beck in Einzelheiten seiner Analyse getäuscht, wie die späteren Ereignisse zeigten, insbesondere hat er die Entschlossenheit der Westmächte zu hoch angesetzt und den Spielraum einer für England annehmbaren Lösung des tschechischen Problems zu eng gesehen. Ins10

gesamt aber darf

man sagen, daß Becks Ausführungen in ihren Grundlinien eine zutreffende Prophezeiung des kommenden Verhängnisses bieten. Beck sah die Gefahr eines europäischen Krieges, den er nach seiner Kenntnis der Weltlage in einen Weltkrieg und damit in einer deutschen Niederlage einmünden sah.

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Heeres, die entsprechenden Schlüsse daraus zu ziehen. Demnach scheint er trotz allem Argwohn gegenüber Hitlers Plänen, trotz aller Kritik an den sachlichen Grundlagen von dessen Plänen und trotz der Tatsache, daß er Brauchitsch als Oberbefehlshaber ganz und gar nicht für die glücklichste Wahl hielt, immer noch gehofft zu haben, die Entwicklung beeinflussen zu können, ohne außergewöhnliche Schritte unternehmen zu müssen. Nicht zuletzt mag diese Denkschrift auch den Zweck gehabt haben, den neuen ObdH mit den Gedanken des Generalstabschefs vertraut zu machen und ihn durch ihre zwingende Logik für dessen Sichtweise zu gewinnen. Die Reaktion des Oberbefehlshabers des Heeres auf die ihm am 7. Mai übergebene Denkschrift Becks war symptomatisch für das damals prekäre Verhältnis zwischen der obersten Führung des Heeres, dem OKW und der Staatsführung. Der sensible Brauchitsch war noch von der schroffen Ablehnung Hitlers beeindruckt, mit der dieser die in der BlombergFritsch-Krise übergebene OKH-Denkschrift über die Spitzengliederung zurückgewiesen hatte. Daher war er jetzt vorsichtiger und besprach die Denkschrift Becks zuvor mit General Keitel20. Dieser riet ihm, auf keinen Fall die gesamte Denkschrift vorzulegen, weil Hitler die darin enthaltenen militärpolitischen Betrachtungen von vornherein ablehnen und dann auch die anderen Teile der Denkschrift gar nicht mehr lesen würde. Die beiden beschlossen daher, nur den dritten, also den militärischen Teil der Ausarbeitung Hitler vorzulegen. Hitler reagierte auf die Teildenkschrift mit empörtem Protest. Er rügte vor allem, daß das Kräftepotential des Feindes viel zu günstig dargestellt sei, und wischte die gesamte Denkschrift mit der Bemerkung vom Tisch, die Angaben seien nicht objektiv21. Der Zweck, den Beck mit der Denkschrift erreichen wollte, nämlich durch fachlich fundierte Warnungen die politische Führung zu mäßigen, war nicht erreicht. Bereits am Schicksal dieses ersten Memorandums zeigt sich, daß die Methode des Generalstabschefs, Einflußnahme mittels schriftlicher Vorstellungen eine Methode, die formal völlig legitim war schwerlich als angemessen zu bezeichnen ist. Ebenfalls wird an Brauchitschs Verhalten schon deutlich, daß zwischen Oberbefehlshaber und Chef nicht das enge Vertrauen und der persönliche Zusammenklang bestanden, die notwendig waren, um unter den gegebenen schwierigen Verhältnissen gegenüber dem Staats- und Regierungschef den Standpunkt der Heeresspitze Geltung zu verschaffen. Menschlich und psychologisch war weder für Beck noch für Brauchitsch die Situation einfach. Brauchitsch, mehr als ein Jahr jünger als Beck, hatte die Führung des Heeres in einer schwierigen, zeitweilig nicht leicht zu durchschauenden Lage übernommen. Schon durch die Präliminarien der Übernahme, seine ohne Fühlung mit Beck begonnenen Berufungsgespräche im OKW und mit Hitler, war ein Schatten auf seine Beziehungen zu Beck gefallen, der damals als Generalstabschef die interimistische Spitze der Heeresführung verkörperte22. Beck hatte zuvor das Angebot, die Führung des Heeres zu übernehmen, abgelehnt, da der sogar dem Oberbefehlshaber des

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29

Keitel, S. 185.

21

Ebd. Dazu und

22

(vom (vom :o

zum

folgenden

die

Mitteilungen

an

10. 11. 1965), Generalleutnant a.D. Siewert 16. 2.1966).

das MGFA von Generaloberst a. D. Halder 19.7. 1966) und General a.D. Heusinger

(vom

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Fall Fritsch noch nicht geklärt war. Brauchitsch dagegen hatte schließlich das Angebot angenommen und obendrein noch zusätzliche Bedingungen akzeptiert. Das Tauziehen um eine angemessene Rehabilitierung hatte schließlich den neuen Oberbefehlshaber des Heeres zeitweilig in die Gefahr gebracht, zwischen zwei Fronten Hitler und die Fritsdi-treue Generalität zu geraten. Er mußte in seinem neuen Pflichtenkreis erst Fuß fassen, mußte das Vertrauen der hohen Führungspersönlichkeiten des Heeres gewinnen, durfte gleichzeitig aber auch nicht darauf verzichten, seine Position als Neuling bei Hitler zu konsolidieren. Innerhalb des OKH selbst lagen die Dinge für die beiden Männer nicht weniger schwierig. Beck, der langjährige, erfahrene und als Autorität allseitig anerkannte Chef, der zudem seit Beginn der Fritsch-Krise das Heft fest in der Hand hatte, sah nun plötz-

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lich einen Mann an der Spitze des Heeres als Oberbefehlshaber, den er im Grunde nur schwer akzeptierte, der weder Autorität, Können und Persönlichkeit eines Fritsch mitbrachte noch in seinen Augen militärische Spitzenqualitäten besaß23. War es angesichts dessen, angesichts auch der erwähnten Auffassung Becks, der Generalstabschef müsse eigentlich der erste Berater der Regierung sein und der Oberbefehlshaber des Heeres sei überflüssig, nicht naheliegend, daß der Chef dazu neigte, seinen neuen Oberbefehlshaber zu bestimmen, gar zu dominieren? So sehr Brauchitsch das Können seines Chefs auch anerkennen mochte, er war, wenn zwar kein harter, so doch ein selbstbewußter Mann. Daher war er auch nicht geneigt, sich das Heft aus der Hand nehmen zu lassen und Becks Gedanken, Pläne und Forderungen unbesehen sich zu eigen zu machen oder gar sich von diesen bestimmen zu lassen24. Ein schwacher, wenig erfahrener Oberbefehlshaber, ein selbstbewußter, hochqualifizierter Chef, beide weder durch gegenseitige menschliche Sympathie noch durch rückhaltloses Vertrauen25 verbunden: das war eine denkbar schmale Basis für eine Zusammenarbeit in kritischen, konfliktreichen Situationen. So war im Fall der Mai-Denkschrift Brauchitsch auch nicht bereit, wie bei dem Spitzengliederungs-Memorandum erneut bei Hitler den Kopf hinzuhalten. Mochte er auch mit Becks Ansichten prinzipiell übereinstimmen, die Entscheidung über die Art des taktischen Vorgehens, um sie zur Geltung zu bringen, behielt er sich vor. Daß er sich dabei ausgerechnet mit Keitel beriet, Becks Kontrahenten im Streit um die Spitzenorganisation, war gewiß psychologisch wie sachlich nicht gerade geschickt. Diese Episode ließ für den Fall von gewichtigen Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen zwischen Heeresleitung und Staatsführung kaum eine innere, feste Geschlossenheit der Nach Mitteilung von General a. D. Heusinger habe Beck die mit der Ernennung Brauchitschs ObdH vorgenommenen Personalveränderungen als gezielte Umbesetzung aufgefaßt. Die aus der Operationsabteilung, Becks Kernabteilung, stammenden leitenden Offiziere (wie z. B. Manstein) erhielten Verwendungen außerhalb der Zentrale; Brauchitsch, einst Chef der Ausbildungsabteilung, zog Offiziere nach, die dieser Abteilung entstammten, wie Halder, Stülpnagel, Greiffenberg. In den Augen Becks sah das wie eine „Machtergreifung" der „Ausbildungsbranche" aus. 24 So Generaloberst a. D. Halder und Generalleutnant a. D. Siewert. 25 Die anfangs zwischen Beck und Fritsch entstandenen und damals auf Grund der beiderseitigen Persönlichkeitsqualitäten ausgeglichenen Spannungen (s. oben Kap. V) brachen nun bei der neuen Konstellation wieder auf. 23

zum

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Heeresspitze erwarten. Becks Position war in einem solchen Fall angesichts seines Verhält-

nisses zum Oberbefehlshaber des Heeres nicht sehr krisenfest. Die Demarche des Generalstabschefs vom 5. Mai hatte also nicht nur ihren Zweck nicht erreicht, sie rief sogar das Gegenteil hervor: Hitlers Verstimmung gegenüber dem Heer, insbesondere gegenüber dem Generalstab und seinem Chef, verstärkte sich nur noch. Sie machte sich in heftigen Vorwürfen gegen den Generalstab Luft. Aufgrund eines Inspektionsberichtes Görings rügte er den mangelnden Ausbau des Westwalles, obwohl dessen Bau bereits in der Ära Blombergs mit Billigung des Reichskriegsministers auf eine Zeit von 20 Jahren geplant war. Er drohte, er werde die Bauleitung den Pionierstäben entziehen und sie dem Generalinspekteur für das Straßenwesen übergeben, und beschuldigte den Generalstab, er sabotiere seine Befehle. Das auffallende Interesse Hitlers an einer beschleunigten Fertigstellung der Westbefestigungen bestärkte Beck in seiner Vermutung, daß Hitler es auf Krieg abgesehen habe. Die Berechtigung dieser Vermutung wird auch indirekt neben anderen Indizien von Keitel bestätigt, der in seinen späteren Aufzeichnungen bemerkte26, Hitler habe zwar aufgrund der Vorträge Blombergs vom Sommer 1937 vom Stand und Zeitplan der Ausbauten gewußt, aber jetzt paßte dies nicht mit seinen geheimsten politischen Absichten zusammen; Hitlers Ausfälle in der Frage der Westbefestigungen beweisen daher, daß nicht sachliche Kritik, sondern politische Absichten und tiefes Mißtrauen gegenüber dem Generalstab dahinter standen. Daß Keitel, der von den Zusammenhängen wußte, nichts tat, um durch persönlichen Einsatz die gespannte und sich immer mehr verschlechternde Atmosphäre zu entgiften, sondern trotz eigener Besorgnis seine Rolle als treuer Diener seines Herrn weiterspielte, war für Beck eine weitere Bestätigung seiner Ansicht, daß von seiten des OKW nichts zu erwarten war und daher der Führung des Heeres ein Großteil der Verantwortung für die kommende Entwicklung -

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zufalle.

Ende Mai überstürzten sich die Ereignisse27. Am 20. Mai war es aufgrund von falschen Meldungen über deutsche Truppenbewegungen zur zeitweiligen Mobilmachung der Tschechoslowakei und zu Warnungen der Westmächte in Berlin gekommen. Die Auslandspresse sprach daraufhin wegen des vermeintlichen Zurückweichens des Diktators von einem „Prestigeverlust", was Hitler veranlaßte, die Durchführung seiner Absichten zu beschleunigen. Er versammelte am 28. Mai hohe Repräsentanten von Wehrmacht, Partei und Staat in der Reichskanzlei. In einer längeren Ansprache legte er seine Ansichten über die politische Lage und seine eigenen Pläne dar28. Unter erneuter Darlegung seiner Lebensraumtheorien forderte er die baldige Beseitigung der Tschechoslowakei und erwähnte auch die Möglichkeit eines Krieges Deutschlands gegen die Westmächte, dessen Ziel „die Erweiterung unserer Küstenbasis in holländischem und belgischem Räume" sein müsse29. Die 26

Keitel,

S. 185. Hierzu und zum

folgenden vgl. Rönnefarth, Bd I, S. 277 ff. Quelle hierzu: Becks stichwortartige Bleistiftnotizen (BA/MA H 08-28/3). Weitere Quellenangaben bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 311, Anm. 288. 29 Vgl. Weichs, Erinnerungen, Bd I, S. 12: Aufzeichnungen über Hitlers Ausführungen vom 27

28

308

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Tschechoslowakei müsse beseitigt werden, da sie einem sicheren deutschen Siege im Wege stünde. Zwar könne das im jetzigen Augenblick noch nicht geschehen. Ein zeitlich begrenztes Abwarten hätte zudem den Vorteil, die tschechischen Maßnahmen zu erkunden und das deutsche Volk psychologisch vorzubereiten. Es sei aber kein Gedanke, daß der Ernstfall Deutschland erspart bleibe. Ein glücklicher Augenblick müsse, wenn er sich biete, erfaßt werden. Das Rüstungsprogramm sei auf das äußerste zu beschleunigen. Inzwischen hatte Hitler die von ihm befohlene Neufassung der Weisung „Grün" durch energische Interventionen vorangetrieben, wobei der jüngsten Lageentwicklung Rechnung getragen wurde. Mitte Mai hatte die Abteilung L im Wehrmachtführungsamt des OKW Hitler einen Entwurf nach Berchtesgaden zur Genehmigung gesandt30. Im ersten Absatz hieß es darin unter dem Stichwort „Politische Voraussetzungen" : „Es liegt nicht in meiner Absicht, die Tschechoslowakei ohne Herausforderung schon in nächster Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen, es sei denn, daß eine unabwendbare Entwicklung der politischen Verhältnisse innerhalb der Tschechoslowakei dazu zwingt oder die politischen Ereignisse in Europa eine besonders günstige und vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit dazu schaffen31." Nachdem nun die Wochenendkrise vom 20.-21. Mai die Lage verändert hatte, ließ er diesen Entwurf umarbeiten. Am 23. Mai übermittelte Sdimundt dem OKW seine Gedanken dazu32. In weiteren Besprechungen zwischen dem Wehrmachtsadjutanten und Keitel enthüllten sich wie Jodl schreibt -33 „allmählich die genauen Absichten des Führers", nämlich die Tschechoslowakei „in Bälde zu zerschlagen"34. Am 28. Mai, anläßlich jener erwähnten Versammlung in der Reichskanzlei, teilte Hitler diesen seinen Entschluß dem Oberbefehlshaber des Heeres persönlich mit. Die von Hitler somit intensiv gesteuerte Neufassung des Entwurfs war am 30. Mai 1938 beendet. An diesem Tag wurde mit seiner Unterschrift die neue Fassung des Aufmarsches „Grün" herausgegeben, die nunmehr im Gegensatz zum ursprünglichen Entwurf des OKW mit den Worten begann: „Es ist mein unabänderlicher Entschluß, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen. Den politischen und militärisch geeigneten Zeitpunkt abzuwarten oder herbeizuführen, ist Sache der politischen Führung. Eine unabwendbare Entwicklung der Zustände innerhalb der Tschechoslowakei oder sonstige politische Ereignisse in Europa, die eine überraschend günstige, vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit schaffen, können mich zu frühzeitigem Handeln veranlassen." Der Wehrmacht wurde befohlen: „Die Vorbereitungen sind unverzüglich zu treffen35." Diese beiden Ereignisse -

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28.2. 34, in denen

er erstmals vor der höheren Generalität schon von einem Krieg auch gegen die Westmächte gesprochen hat. 38 IMT XV, S. 393 f. Hitlers Wehrmachtadjutant Sdimundt hatte bereits gedrängt. 31 IMT XV, S. 422 f. 32 Tagebuch Jodl, Eintrag vom 23. 5. 38, IMT XXVIII, S. 373. 33 Ebd. 34 Tagebuch Jodl, Eintrag vom 30. 5. 38, IMT XXVIII, S. 373. 35 ADAP, Serie D, Bd II, S. 281 ff., IMT XXV, Dok. 388-PS, S. 433 ff. Vgl. auch Tagebuch Jodl, Eintrag vom 30. 5.38. IMT XXVIII, S. 373, wo es heißt: „Unterschreibt d. Fü. die Weisung Grün,

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Ausführungen Hitlers vom 28. Mai und die neue Weisung „Grün" vom 30. Mai waren geeignet, Becks Besorgnisse aufs neue zu steigern. Jetzt hatte er erstmals selbst aus dem Munde Hitlers gehört, welche Absichten dieser hegte. Die Neufassung der Weisung „Grün" schien bereits die Konkretisierung dieser Absichten einzuleiten36. Zu Hitlers Rede vom 28. Mai nahm er sogleich am nächsten Tag in einer Niederschrift Stellung, die er tags darauf dem Oberbefehlshaber des Heeres persönlich vortrug. Diese Aufzeichnung vom 29. Mai37 ist eine der wichtigsten Quellen für das Denken Becks zu jener Zeit. Inhaltlich stimmt sie weitgehend mit dem überein, was er schon am 5. Mai dargelegt hat; dennoch ist sie klarer, nachdrücklicher formuliert und enthält mehrere aufdie

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schlußreiche Passagen. In einem ersten, in sechs Abschnitte gegliederten Teil hebt er einleitend hervor, was er an Hitlers Plänen und Vorstellungen, wenn auch bedingungsweise, bejahen konnte. Erstens

erkannte er an, daß Deutschland grundsätzlich größeren Lebensraum brauche, „und zwar sowohl in Europa wie auf kolonialem Gebiet". Zweitens bezeichnet auch er die Tschechoslowakei in der Gestalt, wie sie durch den Versailler Vertrag geschaffen wurde, als „unerträglich" für Deutschland. Notfalls müsse dieser Gefahrenherd sogar durch eine kriegerische Lösung bereinigt werden. Allerdings, so schränkte er ein, müsse der Einsatz auch den Erfolg lohnen. Weiterhin gesteht er zu, daß „verschiedene Gründe für eine baldige gewaltsame Lösung der tschechischen Frage sprechen". Er hält dann jedoch dagegen, daß alle günstigen Faktoren dennoch zuungunsten Deutschlands überwiegen werden, solange wie es der Fall sei die Tschechoslowakei auf die Waffenhilfe Englands und Frankreichs rechnen könnte. Die prinzipielle Bejahung des Lebensraumgedankens und der Ansicht, daß die Tschechoslowakei im Grunde beseitigt werden müsse, war keineswegs ein taktisch motiviertes Entgegenkommen, gleichsam eine absichtsvolle Vorleistung, die inhaltlich gar nicht Becks wirklicher Überzeugung entspräche. Die Vorstellung, die Tschechoslowakei sei letztlich für Deutschland „unerträglich", findet sich nämlich in anderen Auslassungen Becks, genauso wie die Ansicht, Frankreich sei und bleibe ein Feind jeglicher deutschen Machterweiterung38. Wäre seine Zustimmung nur eine taktische Geste, hätte er kaum in dieser Ausarbeitung angeregt, „das politische Vorfeld" für einen späteren Konflikt mit der Tschecho-

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die seinen Entschluß, die Tschechei in Bälde zu zerschlagen endgültig festlegt u. damit die milit. Vorbereitungen auf der ganzen Linie auslöst." Gleichzeitig wurde der Bau der Westwallbefestigungen dem Generalinspekteur für das Straßenwesen übertragen und diesem befohlen, den Ausbau beschleunigt voranzutreiben (Keitel, S. 185 f.). 36 Zahlreiche Rückfragen Hitlers beim OKW nach dem 30. 5. 38 machen deutlich, daß er sich endgültig zu einer gewaltsamen Lösung des tschechischen Problems entschlossen hatte. Vgl. auch

IMT XXV, S. 427 ff., Dok. 388-PS. 37 BA/MA H 08-28/3: eigenhändiger Entwurf und ein Schreibmaschinendurchschlag. Auf dem hs. Entwurf der Vermerk Becks: „Am 30. 5. von mir Ob.d.H. vorgelesen." 38 Vgl. auch den Brief Mansteins an Beck vom 21. 7. 38, wo Manstein in bezug auf das Ziel, der Zerschlagung der Tschechoslowakei, sdireibt, „das, wie ich weiß, niemand heißer erstrebt als Herr General". (Vgl. Dok.-Anh. Nr. 42.)

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Bundesgenossen zu erwerben, gar schon militärische Vorbesprechungen Man sieht: Beck stimmt immer noch in wesentlichen Punkten mit diesen

Slowakei zu klären, zu

beginnen39.

Zielen Hitlers überein. Die Übereinstimmung stammt aus einem traditionellen, bei Beck gewiß recht sublimierten nationalstaatlichen Machtdenken, wie es am klarsten in der wilhelminischen Epoche artikuliert wurde, jener Epoche, in der Becks Weltbild seine erste Prägung erfuhr. Ein Gutteil der Ziele und wenigstens im Prinzip die Anvon militärischer Macht als mehreren eines wendung staatlich-politischen Mitteln zu ihrer Erreichung wird von Beck akzeptiert40. Konkret jedoch lehnte er ein kriegerisches Vorgehen, um jene Ziele zu erreichen, auf Grund der aktuellen politischen und strategischen Gegebenheiten für den Augenblick ab. Die Begründung, die er dieser seiner momensie bildet den zweiten Großabschnitt der Niedersdirift trägt tanen Ablehnung gibt einen Doppelcharakter. Einmal besteht sie in einer Analyse der politischen, militärpolitischen und strategischen Situation in weitestem Rahmen. In ihr kehren alle schon bekannten Elemente der Becksdien Lagebeurteilung wieder. Im Gegensatz zu der Denkschrift vom 5. Mai jedoch sind sie und das ist das zweite Charakteristikum dieser Ausarbeitung nunmehr als scharf zugespitzte, direkte Kritik auf die Ausführungen Hitlers, gleichsam in antithetischer Form, formuliert. Deutschland sei keineswegs, wie Hitler behauptet hatte, psychologisch, militärisch, personell und materiell stärker als 1914. Vor allem sei die militärische Einschätzung der potentiellen Gegner falsch. Ein Krieg gegen die Tschechoslowakei müsse sich unausweichlich zu einem europäischen und damit zu einem Weltkrieg ausweiten. Solange die Tschechen mit der Unterstützung Frankreichs und Englands und indirekt auch der Hilfe Amerikas rechnen dürften, könne man zwar den Feldzug gegen die Tschechoslowakei gewinnen, würde aber den Krieg letztlich doch verlieren. Denn Deutschland stehe heute einer Koalition der Tschechoslowakei, Frankreichs, Englands und Amerikas gegenüber. In einem dritten, letzten Großabschnitt kritisiert Beck schließlich die militärischen Ausführungen und Anordnungen Hitlers im Hinblick auf einen Krieg gegen die Tschechoslowakei. Er greift sowohl die mangelnde fachliche Kompetenz an, die aus ihnen spreche, als auch ihre sachliche Unzulänglichkeit; Einzeleingriffe, wie sie sich Hitler beispielsweise bei dem Ausbau der Westbefestigungen erlaubt hatte, bezeichnet er als „unerträglich". Es habe in diesen fachlichen Detailfragen nur eine, die militärische Stelle zu führen und Verantwortung zu tragen. Werde dieser Standpunkt nicht anerkannt, sei notfalls „die Kabinettsfrage zu stellen". Die Schärfe der Kritik, die Antithetik der Gedankenführung und der gereizte Ton der -

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Vgl. in Punkt 6 der Denkschrift: „Möglich und notwendig erscheinen letztere [= militärische Besprechungen] schon lange mit Ungarn." 39

Vgl. auch Goerdelers Ansichten zur Lösung des Sudeten-Problems, die er im März-April 1938 britischen Regierungskreisen in London darlegte. Goerdeler forderte dabei den Anschluß des Sudetenlandes. Ritter, S. 165, schreibt dazu, daß dies in den Augen der Briten eine bedenkliche Spielart des gefürchteten deutschen Imperialismus darstellte. Vgl. dazu auch Bernd-Jürgen Wendt, München 1938. England zwischen Hitler und Preußen, Stuttgart 1965 Hamburger Studien zur neueren Geschichte Bd 3. 40

=

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Formulierungen sind nicht zu überhören. Aber was folgert nun Beck aus der ihm offenkundigen fachlichen Unzulänglichkeit und Leichtfertigkeit der Entschlußfassung des „Führers", aus dem unverantwortlichen Erstreben von Zielen, das bei der augenblicklichen Lage katastrophale Folgen haben mußte, aus den Übergriffen in den Verantwortungsbereich der militärischen Führung? Schließt er daraus auf die mangelnde ethische Qualifikation des „Führers"? Zieht er daraus die Folgerung, der verantwortungsbewußte militärische Führer in höchster Position könne und dürfe hier nicht mehr mitmachen? Er spricht nicht von Rücktritt, nicht von Kollektivschritten, geschweige denn von offener Rebellion. Beck zieht keineswegs derartige Schlüsse. „Die Ausführungen des Führers" zeigen ihm nicht so sehr die Unzulänglichkeit des Mannes an der Spitze, sondern „ergeben aufs neue die völlige Unzulänglichkeit der bisherigen obersten militärischen Hierarchie". Er fordert eine klare Abgrenzung und Achtung der Verantwortlichkeiten, vor allem aber und hiermit greift er seine Forderung der letzten Jahre wieder auf beanspruchte, er, Hitler ständig und sachverständig in Fragen der Kriegspolitik und der Kriegführung zu beraten41. Die jetzigen Verhältnisse seien unerträglich geworden und kämen einer Anarchie gleich. Bleibe dies der Dauerzustand, so könne man das weitere Schicksal der Wehrmacht im Frieden wie im Kriege, damit aber auch das Schicksal Deutschlands in einem künftigen Kriege nur in den schwärzesten Farben sehen. Beck antwortet also auf den von ihm zuvor festgestellten Tatbestand leichtfertiger, sachlich unzulänglicher Planung und Entschlußfassung seitens des Regierungschefs und Staatsführers mit der Forderung nach klarer Neuordnung der Beraterhierarchie, also mit der Forderung einer neuen Spitzengliederung, und zwar natürlich im Sinne seiner alten Vorstellungen. Nicht gegen den Staatsmann geht er zunächst an, vielmehr will er dessen verantwortliche sachliche und fachliche Beratung reorganisieren und indem er für die sachkompetente Heeresführung das Beratungsmonopol etabliert auf diesem Wege die mangelnde Qualifikation des Staatsmannes ausgleichen. Damit wird klar: Beck begann, den Ernst und die Gefahr der Pläne Hitlers zu erfassen, er hat ihre sachliche Inkompetenz und Leichtfertigkeit begriffen, er artikuliert seine Kritik dementsprechend deutlich, Abhilfe aber erhofft er sich immer noch auf evolutionäre Weise42, erstrebt sie durch eine Änderung der Spitzengliederung, die ihm -

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Beck unterscheidet „Kriegführung" (womit er die „große Strategie", die Kriegspolitik, meint) und „Waffenkrieg", die eigentliche (militärische) Kriegführung. 42 Das differenzierte Verhältnis Becks zum Regime, dem im Grunde seine Hoffnung auf evolutionäre Besserung entstammte, wird schlaglichtartig auch in zwei Bemerkungen der Niederschrift vom 29. 5. 38 erhellt. An einer Stelle spricht er von „den Vorteilen des neuen Großdeutschland als Einheitsstaates, der nationalen und weltanschaulichen Geschlossenheit, des zurückgekehrten Vertrauens im Volk und der wiederhergestellten Achtung vor uns..." (Abschnitt II1; bei Foerster, S. 110). Das waren jene Momente, die die national-konservative Saite in Beck zum Schwingen brachten, die für ihn „positiven" Momente des Regimes. Einige Zeilen weiter deutet sich eine schwache Kritik an, wenn Beck feststellt, „daß unterschiedliche Auffassungen über religiöse, rassische und völkische Probleme auch über die hier genannten [d. h. England, Frankreich, Amerika und die Tschechoslowakei] Mächte hinaus Ablehnung, teilweise sogar Haßstimmung gegen das heutige Deutschland hervorgerufen haben". [Abschnitt II2.] Bei einer solchen offensichtlich zwiespältigen Einstellung zu dem Regime war es nur zu natürlich, daß es nicht die Zustände im Inneren waren, 41

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und dem Oberbefehlshaber des Heeres eine Einflußnahme auf und damit indirekt eine Teilhabe an den Entschlüssen des Staatsmannes gestatten würde. War diese Niederschrift Becks Reaktion auf Hitlers Ausführungen vom 28. Mai, so befaßte er sich mit der neuergangenen Weisung „Grün" in einer Denkschrift vom 3. Juni. Hatte er bereits in der Niederschrift vom 29. Mai deutlich gegen die seiner Ansicht nach falsche Spitzengliederung Stellung genommen, so griff er nunmehr ganz konkret das OKW an, das jene neue Weisung herausgegeben hatte. Die Denkschrift vom 3. Juni43 ist geradezu eine Anti-OKW-Denkschrift44. Er polemisiert nicht gegen den Urheber jenes in der Weisung enthaltenen Kriegsplanes, nicht einmal gegen den Plan als solchen macht er Front. Vielmehr betont er erneut, daß wohl keine Stelle klarer als die Heeresführung die Notwendigkeit einer militärischen Niederwerfung der Tschechoslowakei seit langem erkannt und entsprechende Planungen betrieben habe45. Diese Planungen hätten zu ganz bestimmten grundlegenden Überlegungen und Vorstellungen für die Bearbeitung der Kriegsvorbereitungen gegen die Tschechoslowakei geführt. All dies sei vom OKW nicht beachtet worden. Die Weisung sei vielmehr ohne Fühlungnahme mit dem Chef des Generalstabes des Heeres entstanden. Ohne Rücksicht auf das Heer würden darin in entscheidenden Fragen Auffassungen vertreten, die denen des Generalstabes des Heeres scharf entgegengesetzt seien und in denen die Leistungsfähigkeit des Heeres überschätzt würde. Die Erarbeitung und Entwicklung strategischer Gedanken seien Sache des Heeres. Sodann unterzog er unter Berufung auf seine Dienstanweisung die in der Weisung dargelegten Gedanken einer eingehenden Analyse und kam zu dem Schluß, daß, ganz abgesehen von der militärpolitischen Lage, die militärischen Grundgedanken der Weisung einer Prüfung nicht standhielten. Eine auf solchen militärischen Grundlagen aufgebaute Aktion gegen die Tschechoslowakei müsse als verhängnisvoll angesehen werden. Am Schluß lehnte Beck die Becks spätere Opposition entbanden. Eine oppositionelle Wendung gegen gewisse innerpolitische Verhältnisse findet sich erst in den Vortragsnotizen vom Juli. Sie hat jedoch dort einen ganz anderen Hintergrund (s. u.). Becks prinzipielle Ablehnung des Regimes ist für Anfang 1940 durch Hassell, S. 111, überliefert. Bei Hassell, S. 64 (14. 8. 39), dagegen spricht Beck nur von der „Verwerflichkeit der Politik des Dritten Reiches". Im November 1939 deutet sich schon der Wandel bei Beck an: vgl. Anm. 174 dieses Kapitels. Vgl. aber auch Zeller, S. 26: „Für die Sichtweise Becks war es bis in den Beginn des Jahres 1938 nicht entschieden, was in dem Niedrigen und Niederziehenden, dem man sich gegenüberfand, Wucherungen einer selbständigen Teilgewalt, was zentraler Wille war. Noch war er zu diesem Zeitpunkt nicht bereit, den Mann, der mit seinem Wort auf die gleiche Stufe zu stellen mit den Elementen eines Nationalbolschewisso viele bewegte, mus ..., die Terror und Neuheidentum verbreiteten." 43 Text nach BA/MA H 08-28/3 (Beck-Nachlaß), vgl. auch Dok.-Anh. Nr. 40. 44 Es war keineswegs so, daß Beck deshalb zur Feder griff, weil er die OKW-Weisung in seine „ureigenste Domäne, ins rein Militärische" (so Foerster, S. 114) übergreifen sah. Dann hätten seine außen- und militärpolitischen Darlegungen keine formelle Berechtigung gehabt. Es ist vielmehr gerade das typische für Beck, daß er einen sehr weitgesteckten Bereich für sich und die Heeresleitung in Anspruch nahm, nämlich die alleinige Beratung des Politikers in allen militärischen wie ...

Fragen. militärpolitischen 45

Foerster, S. 114 f., und Buchheit, Beck, S. 146, bringen diese wichtigen Abschnitte der Denk-

schrift

überhaupt nicht.

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313

für den Generalstab ausdrücklich eine Mitverantwortung hinsichtlich der „einseitigen und unzureichenden militärischen Grundlagen des Teils 2 des Abschnitts 2 der Weisung für die einheitliche Kriegführung der Wehrmacht, soweit sie das Heer betreffen, ausdrücklich" ab46. Im übrigen hatte Beck inzwischen anstelle der sonst alljährlich stattfindenden Generalstabsreisen den Offizieren des Generalstabes eine schriftlich zu bearbeitende Aufgabe gestellt, die insbesondere der Prüfung der Frage galt, wie die Operationen gegen die Tschechoslowakei zu führen seien und wie lange ein solcher Feldzug dauern könnte47. Das Ergebnis dieser Arbeiten bestätigte seine Bedenken, daß auch ein erfolgreicher Feldzug gegen die Tschechoslowakei letztlich mit einem Pyrrhussieg enden müsse, der schließlich in eine Katastrophe der deutschen Wehrmacht und des deutschen Volkes einmünden würde. Damit hatte er nochmals eine sachliche Prüfung durch das berufene Organ, den Generalstab des Heeres, veranlaßt. Becks Kampf gegen ein Tschechenabenteuer stellt sich in dieser Phase der Entwicklung eindeutig als ein Kampf gegen die verfehlte Spitzengliederung dar und gegen deren Repräsentanten, das OKW, nicht jedoch primär gegen Hitler. Es war damit vor allem ein Kampf um die Wiederherstellung und institutionelle Festigung des von Beck für unumgänglich gehaltenen Vertrauensverhältnisses zwischen politischer und militärischer Führung. In der militärischen Konkretisierung der Pläne Hitlers, wie sie die neue OKWWeisung gebracht hatte, sah er offensichtlich nicht so sehr den verbrecherischen Kriegswillen des Diktators als vielmehr dessen verhängnisvolle Fehlplanung, zu der es nicht gekommen wäre, hätte der leitende Staatsmann in sachgerechtem Verantwortungsbewußtsein sich vertrauensvoll des berufenen und kompetenten Planungs- und Konsultativorganes der Führung, des Generalstabes des Heeres, bedient. Immerhin kam Beck mit Brauchitsch überein48, die befohlenen Vorbereitungen zunächst einmal „anlaufen zu lassen". Das verhinderte jedoch nicht, daß das Verhältnis Becks zu Brauchitsch immer gespannter wurde. Der neue Oberbefehlshaber des Heeres mag das Gefühl gehabt haben, daß Beck ihm nicht nur kompromißlos seine Ansichten sie teilte Brauchitsch im Prinzip -, sondern auch Methode und Verhalten aufzwingen wollte. Beck seinerseits spürte wohl die wachsende Reserve seines Oberbefehlshabers und versuchte nur noch um so energischer, diesen unter seinen bestimmenden Einfluß zu bekommen, zumal er in seiner Position unbedingt der Unterstützung, mindestens aber der Zustimmung des Oberbefehlshabers des Heeres bedurfte, um seine Ansichten zur Geltung zu bringen. So kam es allmählich zu -

46

114 f., und Buchheit, Beck, S. 145 f., haben den Der Teil II, Abschnitt II jener Weisung betrifft den

Foerster, S.

ausgelassen. punkt Südost (Aufmarsch ,Grün')". 47

48

Foerster, S. 115. Vgl. seine Denkschrift

vom

Übereinstimmung bestanden,

16.7., in der die

es

Führer

mir hervorgehobenen Satz „Zweifrontenkrieg mit Schwer-

von

in Abschnitt IV heißt: „Es hat seinerzeit darüber

gewünschten Maßnahmen in vollem Umfang zunächst einmal in Gang zu setzen." (BA/MA H 08-28/4, vgl. auch Buchheit, Beck, S. 151). Vgl. auch Tagebuch Jodl, Eintrag vom 30.5.38, IMT XXVIII, S. 373, wo es heißt, aufgrund der neuen Weisung ,Grün' müsse das Heer seine bisherigen Ansichten erheblich ändern. vom

VII. Drohende

314

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

Spannungen zwischen Beck und Brauchitsch49, die in einer Situation, in der es um die Vermeidung verhängnisvoller außenpolitischer und militärischer Abenteuer ging, verheerende

Auswirkungen haben mußten. Offenkundig wurden diese Spannungen bei der Schlußbesprechung jener erwähnten Generalstabsaufgabe, die Beck gestellt hatte. Der Generalstabschef führte sie in Anwesenheit des Oberbefehlshabers des Heeres durch. Er nahm in außergewöhnlich ernster und beschwörender Form50 gegen ein solches Unternehmen Stellung, wie es in der Aufgabe bezeichnet worden war. Er wies auf die entscheidende Bedeutung hin, die in Krieg und Frieden der von rückhaltlosem gegenseitigen Vertrauen getragenen Zusammenarbeit zwischen politischer und militärischer Führung zukam, wobei er dieser Bemerkung nicht zuletzt einen Akzent gegen das OKW gab51, jenem Organ, das diese vertrauensvolle Zusammenarbeit seiner Ansicht nach störte. Des weiteren aber so wird bezeugt brach im Verlaufe der Besprechung seine Gereiztheit gegen Brauchitsch durch, den er indirekt apostrophierte52. Die Diskrepanz zwischen den beiden Männern an der Spitze des Heeres wurde den Zuhörern sodann offenbar, als Brauchitsch einige abschließende Worte sprach „die, wenn auch keine Ablehnung, so doch auch keinesfalls Zustimmung zu den Ausführungen Becks enthielten"53. Für die von den Hintergründen nichts ahnenden General-

-

stabsoffiziere mußte diese ganze Szene verwirrend sein. Sie erlebten einen Generalstabschef, der mit Blick auf den obersten Staatsführer das fehlende Vertrauen zwischen politischer und militärischer Führung beklagte und seine Meinungsdifferenzen mit dem Oberbefehlshaber des Heeres recht akzentuiert zutage treten ließ. Einer von ihnen schrieb da der Schlußappell [Becks] nicht als Ausdruck der Auflehnung gemeint war, später: wirkte er als Geste der Hilflosigkeit54." Nach diesem kaum verhüllten Ausbruch der Spannungen hat Beck sich betont von Brauchitsch isoliert; dieser aber zog daraufhin zur Erledigung laufender Arbeiten den Oberquartiermeister I und Stellvertreter Becks, Generalleutnant Halder, immer stärker heran55. Der Generalstabschef wiederum argwöhnte, der Oberbefehlshaber des Heeres wolle ihm die Zügel aus der Hand nehmen56. So wurden die Verhältnisse auf der Spitzenebene im OKH allmählich immer konfliktgeladener57. Zu allem Überfluß machte sich Brauchitsch „...

Mitteilung an das MGFA von Generaloberst a.D. Halder (10.11.1965), Generalleutnant a.D. Siewert (19. 7.1966) und General a. D. Heusinger (16. 2.1966). 50 Vgl. Foerster, S. 115; Warlimont, S. 31; Röhricht, S. 119 f. 51 Vgl. dazu insbesondere Warlimont, S. 31, der von einem vor der Besprechung erfolgenden bezeichnenden Ausfall Hoßbachs gegen das OKW berichtet. 52 So Mitteilung Generaloberst a. D. Halders an das MGFA vom 10.11. 1965. 58 So Warlimonts Aussage bei Foerster, S. 115; Brauchitsch habe so berichtet General a.D. Warlimont dem MGFA am 25.11. 1966 zu den temperamentvollen Ausführungen Becks mit 49

-

einigen nicht überzeugenden Sätzen „abwiegelnd" Stellung genommen. Röhricht, S. 120. 55 Vgl. dazu Hoßbach, S. 148. 56 Halder, der zu vermitteln versuchte (Mitteilung an das MGFA vom Gefahr, seinerseits mit Beck in Konflikt zu geraten. 57 Hoßbach, S. 148. -

54

10. 11.

1965), lief dabei

VII. Drohende

einige Tage später,

am

13.

Juni

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise in

Barth, wenigstens äußerlich,

zum

315

Sprachrohr Hitlers,

als er den dort versammelten Befehlshabern ohne eigene Stellungnahme mitteilte, Hitler sei zu der Überzeugung gekommen, die tschechische Frage ließe sich nur noch gewaltsam lösen58. Wir wissen nichts über die Beweggründe, die den Oberbefehlshaber des Heeres zu diesem Verhalten veranlaßt haben. Alle diesbezüglich vorgebrachten Hinweise bleiben Vermutungen. So heißt es etwa, Brauchitsch hätte unter dem Einfluß seiner nationalsozialistisch gesonnenen Frau gestanden, er habe sich wegen der ihm von Hitler zugekommenen finanziellen Hilfestellung bei der Regelung familiärer Probleme innerlich gebunden gefühlt, er sei tief beeindruckt gewesen von Hitlers Empörung über die diesem zur Kenntnis gekommenen Ansichten des Generalstabschefs59. Beck wollte frontal vorgehen; Brauchitsch aber wollte, wie es scheint, es nicht auf eine Kraftprobe ankommen lassen; er wollte hinhaltend, nicht aber offensiv taktieren. Der Oberbefehlshaber des Heeres teilte gewiß nicht Keitels und Jodls Auffassung von dem reinen Instrumentalcharakter der höchsten militärischen Führung. Er sah sich jedoch in eine ihm unerträglich vorkommende Zwangslage versetzt zwischen einsichtsvoller Zustimmung zu den von seinem Generalstabschef vertretenen Prinzipien und der Pflichtenbindung an die Aufträge der politischen Führung. Er sah wohl die grundsätzliche Richtigkeit und Berechtigung der Ansicht Becks ein, aber ihm mißfielen die Methoden, die Beck vorschlug, die er ihm so meinte es der Oberbefehlshaber des Heeres aufzuzwingen suchte und die ihn in einen Konflikt mit Hitler treiben würden, vor dem er zurückzuckte. Beck fürchtete, daß das Heer noch mehr an Einfluß verlor und immer weiter in eine problematische Situation hineingeriet. Dennoch gelang es ihm nicht wie die oben zitierten Zornesausbrüche beweisen60 -, den Folgen dieses Dilemmas zu entrinnen. Diese internen Verhältnisse innerhalb der obersten Führung des Heeres wird man bei der Betrachtung und Beurteilung der folgenden Entwicklung stets zu berücksichtigen haben. Nach einer kurzen scheinbaren Entspannung spitzte sich die allgemeine Lage im Juli erneut zu. Die vom Propagandaministerium gelenkte Presse nahm den Nervenkrieg gegen die Tschechoslowakei wieder auf. Eine Reihe von ungewöhnlichen Maßnahmen in Deutschland vermittelten ausländischen Beobachtern den Eindruck einer getarnten Probemobilmachung, in breiten Volkskreisen entstand eine lebhafte Kriegsbesorgnis61. Das war das äußere, jedem Zeitgenossen sichtbare Bild. In den militärischen Führungskreisen hatte in-



-

58

Krausnick, Vorgeschichte,

S. 303, Anm. 254 und 312.

Vgl. Hitlers überlieferte damalige Ausbrüche: „Was sind das für Generale, die ich als Staatsoberhaupt womöglich zum Kriege treiben muß! Wäre es richtig, so dürfte ich mich doch vor dem Drängen der Generale nach Krieg nicht retten können!" und „Ich verlange nicht, daß meine Generale meine Befehle verstehen, sondern daß sie sie befolgen." Foerster, S. 116. 69 59

IMT XXVIII, S. 373, Dok. 1780-PS: „Noch einmal flammt der Gegensatz auf, der sich ergibt aus der Erkenntnis des Führers und der Auffassung des Heeres." 61 Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 313: intensiver Ausbau der Westbefestigungen, Anlage kriegswichtiger Vorräte, Einführung der zivilen Dienstpflicht am 22.6., Leistungsgesetz für Wehrzwecke 13.7., Einreiseverbote für ausländische Militärs in Grenzgebiete, dazu ausgedehnte Übungen von Großverbänden, Konzentrierung von Divisionen auf Übungsplätzen in Grenz...

nähe.

316

VIL Drohende

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

zwischen die außenpolitische Entwicklung steigende Besorgnis und Unruhe ausgelöst. Seit der „Wochenendkrise" und der damit aufkeimenden Gefahr eines europäischen Krieges hatte Polen, mit dessen möglichem Eingreifen auf seiten Deutschlands in einem Konflikt mit der Tschechoslowakei man eventuell in Berlin gerechnet hatte, im Laufe des Juni begonnen, seine bisherige anti-tschechische Politik zu beenden und die Reibungsflächen mit der Tschechoslowakei zu beseitigen62. Dieser Umschwung der außenpolitischen Lage in Mitteleuropa zwang zur Überprüfung auch der operativen Planungen63. Wenn Hitler trotz dieser Entwicklung sich von seinen Wunschbildern nicht zu lösen vermochte und an seinen grundsätzlichen Absichten festhielt, so waren jetzt doch neue unübersehbare Unsicherheitsfaktoren entstanden. Angesichts dieser Situation war es nicht verwunderlich, daß Beck auf das höchste alarmiert war, zumal er den Eindruck gewann, daß die allgemeine Entwicklung in eine entscheidende Phase eintrat64. Schon war vom OKW im Rahmen der allgemeinen Vorbereitungen ein Zeitplan aufgestellt worden, in dem als X-Tag, als erster möglicher Angriffstermin, der 28. September festgesetzt war65. Becks Besorgnis über die Zuspitzung der Entwicklung entsprang also keineswegs einer subjektiv-pessimistischen, nervös übersteigerten Sichtweise. Im Oberkommando der Marine war man zu jener Zeit ebenfalls aufs höchste besorgt. Der Chef des Stabes der Seekriegsleitung, Admiral Guse, verfaßte am 17. Juli 1938 eine für den Oberbefehlshaber der Marine bestimmte Aufzeichnung66, in der er Gedanken zur Lage äußerte, die nahezu vollständig mit den Auffassungen Becks übereinstimmten. Auch Guse unterstrich die Gefahr einer Intervention Großbritanniens und Frankreichs. Die ständig steigende Spannung könne so schreibt er „zu ultimativen Forderungen oder sogar präventiven Maßnahmen" der Westmächte gegen Deutschland führen, die es Deutschland dann nicht mehr ermöglichten, zurückzuweichen. Jetzt könne Hitler die Entwicklung der Dinge noch, etwa durch eine Friedensrede vor dem Reichstage, lenken. Das Schicksal Europas liege in der Hand Hitlers. Bezüglich der Aussichten Deutschlands in einem Kriege kam Guse zu der gleichen Beurteilung wie Beck. In einem Konflikt europäischen Ausmaßes müsse Deutschland unterliegen. „Ich habe bisher keinen höheren Offizier aller drei Wehrmachtteile gesprochen67" fuhr er dann fort „der anderer Ansicht wäre, oder der nicht die Befürchtungen hätte, daß bei der augenblicklichen politi-

-

-

82

-

Zu diesem ganzen

Komplex vgl. Rönnefarth, Bd I, S. 344 ff. Niederschlag dieser Überprüfungen vgl. IMT XXV, S. 499 ff., Dok. 388-PS. 84 Außerdem hatte Hitler am 13. 7. 38 die endgültige Entscheidung über die Organisation Spitzengliederung gefällt. Vgl. Kap. V dieser Arbeit. 65 63

86

IMT XXV, S. 451 ff. Zitiert bei Krausnick,

Vorgeschichte,

der

S. 315. Guse erteilte gleichzeitig seinem Mitarbeiter, dem Auftrag, eine militärpolitische Lagebeurteilung anzustellen, die sehr kritisch ausfiel und auch vor ketzerischen politischen Bemerkungen nicht zurückschreckte (Auszüge bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 316 f.). Guse habe sich so berichtete Admiral a. D. Heye am 4. 6. 1965 gegenüber dem Verfasser durch seine Unterschrift mit dieser Ausarbeitung identifiziert und sie dem ObdM vorgelegt. Raeder jedoch habe sie nicht an Hitler weitergegeben. (Vgl. aber auch Krausnick, Vorgeschichte, S. 317, Anm. 302.) 87 Dieser Satz könnte auf eine Fühlungnahme zwischen Guse und Beck hinweisen.

damaligen Fregattenkapitän Heye,

den

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317

sehen Spannung aus dem Überfall auf die Tschechoslowakei ein europäischer Konflikt sich entwickeln würde. In dieser Lage haben die verantwortlichen Berater des Führers nicht nur die Pflicht des Gehorsams gegen seine Befehle, sondern zugleich auch die Pflicht, sich mit der ganzen Kraft ihrer Person bis zur letzten Konsequenz dafür einzusetzen, daß eine Entwicklung, die den Bestand des Reiches bedroht, rechtzeitig gebremst wird68." Ähnlich warnte um dieselbe Zeit der Staatssekretär des Äußeren, Freiherr v. Weizsäcker, in einem für den Reichsaußenminister bestimmten Memorandum69 vor der Gefahr einer sich abzeichnenden gegnerischen Koalition, der Deutschland nie gewachsen sein könne. Beck, der damals enge Kontakte mit Weizsäcker70, höchstwahrscheinlich auch mit Guse, pflegte, hatte schon kurz zuvor selbst zur Feder gegriffen71. Seine große Denkschrift vom 15.-16. Juli 193872 war eine erneute und vertiefte Auseinandersetzung mit der Weisung Hitlers vom 30. Mai73. Einleitend bezog er sich daher auch auf seine am 3. Juni erfolgte erste Stellungnahme. Ausdrücklich nahm er seine vor kurzem wohl kaum mit innerer Überzeugung gemachte Konzession zurück, die von Hitler befohlenen Maßnahmen „zunächst einmal" anlaufen zu lassen. Er sei allmählich zu der Überzeugung gelangt, daß es nicht angehe, diese Maßnahme, deren Wirkung sich schon jetzt deutlich beurteilen ließe, so lange laufen zu lassen, bis eine Lage eintrete, die entweder zu einer Katastrophenpolitik führen könne oder die Änderung der Maßnahmen als einen von außen kommenden Zwang erkennen ließe. Die bisherige Entwicklung der Lage stellte für ihn eine Bestätigung seiner bisherigen Beurteilungen und Voraussagen dar. Die von Frankreich zu erwartende Haltung sah er nunmehr in einer Rede Daladiers eindeutig festgelegt, in der der französische Regierungschef von den heiligen und unaufgebbaren Verpflichtungen gegenüber der Tschechoslowakei sprach. Im übrigen legte er sodann alle seine bisherigen militärpolitischen Argumente gegen eine kriegerische Politik gegenüber der Tschechoslowakei erneut dar. Im Rahmen seiner scharfen Kritik über die vom OKW beabsichtigten Maßnahmen machte er nochmals nachdrücklich deutlich, daß eine solche Politik mit Notwendigkeit die Westmächte auf den Plan rufen würde. Eine derartige, durch einen kriegeDieser Satz enthält auffallende Anklänge an die Gedanken, die Beck vor allem in seiner Vor16. 7. 38 äußerte. 89 ADAP, Serie D, Bd II, S. 334 f. Vgl. auch Rönnefarth, Bd II, S. 180 f. 79 Dazu vgl. Weizsäcker, S. 172 ff. 71 Über die Unterschiede in Argumentation und Beurteilung zwischen Weizsäcker und Beck vgl. Rönnefarth, Bd I, S. 347. 72 BA/MA H 08-28/4: a) handschriftlicher Entwurf vom 15.7.38; b) Schreibmaschinen-Entwurf vom 15. 7. 38, stark durchkorrigiert; c) Schreibmaschinen-Exemplar (Durchschlag) vom 16. 7. 38 mit geändertem Schlußteil, von Beck unterschrieben. Vollständig abgedruckt ist die Denkschrift in der unter c) genannten Version bei Buchheit, Beck, S. 147-152. Die auszugsweise Wiedergabe bei Foerster, S. 116 ff. ist fehlerhaft. 73 Diese Denkschrift ist wie auch die drei Vortragsnotizen Becks vom Juli 1938 nie im Ganzen gleichmäßig interpretiert worden. Das Interesse der Historiker galt vielmehr in überwiegendem Maße den gewiß entscheidenden Abschnitten, in denen Beck gegen den Krieg mit der Tschechoslowakei Stellung nimmt, bzw. in den Vortragsnotizen, von innenpolitischen Auseinandersetzungen spricht; der Kontext dagegen wurde kaum beachtet. 88

tragsnotiz vom

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Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

risdien Akt gegen die Tschechoslowakei ausgelöste Kettenreaktion würde in eine allgemeine Katastrophe für Deutschland einmünden. Wohl werde dann die Tschechoslowakei der äußere Anlaß zum Kriege für die Westmächte sein, aber in dem Augenblick, in dem diese beiden Mächte in den Krieg eingetreten seien, handele es sich für sie nicht mehr um eine Intervention im Interesse der Tschechoslowakei, sondern um einen Kampf auf Leben und Tod mit Deutschland. Insoweit brachte die Denkschrift nichts Neues. Von der Sache her enthielt sie Becks alte Argumente74. Und doch leitete sie eine neue Phase im Denken und Handeln Becks ein. In zwei Punkten trat das hervor. Beck schrieb im zweiten Abschnitt des Memorandums, das Volk, sogar ein Teil des Heeres, wollten diesen Krieg nicht. Sie begriffen seinen Sinn und Zweck nicht und zweifelten am Erfolg. Diesen behaupteten Befund machte er sodann zum Angelpunkt des Vertrauens zwischen dem Volk und der militärischen Führung75: „Volk und Heer... machen die militärischen Führer dafür verantwortlich, daß nichts militärisch unternommen wird, was nicht ein ausreichendes Maß an Aussicht auf Erfolg hat. Beide fühlen schon heute instinktmäßig, daß solche Aussichten nicht bestehen. Damit wird aber die Kriegsfrage... schon heute auch zu einer Vertrauensfrage des Volkes und des Heeres an die oberste Stelle des Heeres." Das ist ein aufschlußreicher Abschnitt. Beck brachte im Gewände militärischen Interesses76 hochpolitische Gedanken zu Papier, indem er eine direkte Beziehung nicht etwa zwischen Volk und politischer Spitze, sondern zwischen Volk und oberster militärischer Führung herstellte. Das war gewiß auch ein indirekter Ausfluß der traditionellen militärischen Vorstellung der Herrschaftsteilhabe. In diesem Moment aber bedeutete es vor allem ganz konkret, daß für Beck sich eine Vertrauensverpflichtung der militärischen Führung gegenüber dem Volk ergab, die jener dem Obersten Befehlshaber gegenüber gleichwertig war oder sie gar zu überwiegen begann. Damit jedoch deutet sich gewiß eine unter den Gegebenheiten der totalitären Diktatur ungewöhnliche Ausklammerung des charismatischen Diktators an. In welchem Grade sich Beck selbst damals dieses Tatbestandes bewußt gewesen sein mag, bleibe dahingestellt. Sicher ist jedenfalls, daß dieser Abschnitt der Denkschrift den sich erweiternden Riß in der Vertrauensbasis zur obersten politischen Führung widerspiegelt, den Beck so sehr beklagte und den er für so unheilvoll hielt. Das andere neue Element in dieser Denkschrift ist im Grunde nichts anderes und nichts weniger als die praktische Konsequenz aus den soeben erläuterten Auffassungen. Unter Berufung auf seine in der Dienstanweisung für den Generalstabschef festgelegten Verantwortlichkeit für die Vorbereitung und Führung eines Krieges sowie unter Hinweis auf die zuvor dargelegten Argumente sprach Beck in der Denkschrift vom 15. Juli gegenüber dem Oberbefehlshaber des Heeres „die dringende Bitte" aus, Hitler zu veranlassen, die von ...

Nur wurden diese nunmehr noch stichhaltiger belegt. So weist Beck in Abschnitt IV der Denkschrift ausdrücklich auf das Ergebnis der „diesjährigen Generalstabsreise" hin; gemeint ist die von ihm zur Bearbeitung gestellte Jahresaufgabe. 75 Mit „militärischer Führung" meinte Beck bezeichnenderweise die Heeresführung, wie aus der Denkschrift klar hervorgeht. 76 Er schreibt, das fehlende Vertrauen müsse nicht nur den Kriegsverlauf beeinträchtigen, sondern sogar schon vor dem Kriegsbeginn weit schlimmere Folgen zeitigen. 74

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ihm befohlenen Kriegsvorbereitungen einzustellen und eine „gewaltsame Lösung der tschechischen Frage solange zurückzustellen, bis sich die militärischen Voraussetzungen dafür grundlegend geändert haben"77. Hatte Beck in den vorhergehenden Niederschriften und Notizen, insbesondere in jener vom 29. Mai, noch auf dem Umwege über eine Neuverteilung der Konsultativkompetenz auf die Entschlüsse der obersten politischen Instanz Einfluß zu nehmen getrachtet, so wählte er nunmehr eine direkte Intervention, nämlich die formelle nachdrückliche Demarche des Oberbefehlshabers des Heeres beim „Führer". Er ging sodann noch einen entscheidenden Schritt weiter: unter Berufung auf die direkte Verantwortung des hohen militärischen Führers gegenüber dem Volk78 erklärte er sich für „außerstande, dem Herrn Oberbefehlshaber des Heeres der Berater zu sein, den er braucht, falls eine Sinnesänderung des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht [das heißt Hitlers] nicht zu erreichen ist". Also kündigte er seinen Rücktritt an, wenn Hitler nicht von seinen kriegerischen Plänen abließe. Damit hatte Beck das äußerste Druckmittel ins Spiel gebracht, das nach traditioneller Auffassung einem hohen Militär in verantwortlicher Stellung zu Gebote stand. Im übrigen darf nicht übersehen werden, daß der Adressat der Denkschrift der Oberbefehlshaber des Heeres war. Er sollte bei Hitler vorstellig werden79, und ihm versagte Beck sich als Berater, wenn es ihm nicht gelingen würde, Hitler von seinen Absichten abzubringen. Von der Substanz her auf eine Sinnesänderung Hitlers gerichtet, war die Denkschrift jedoch in erster Linie80 dazu bestimmt, Brauchitsch zum Handeln zu veranlassen. Das war um so notwendiger, weil Beck nicht nur die Abneigung seines Oberbefehlshabers vor entsprechenden Schritten bei Hitler kannte, sondern weil es auch sein eigenes zeitweiliges Entgegenkommen zurückzunehmen galt. Der Oberbefehlshaber des Heeres mußte zu energischem Handeln, zu entscheidenden Schritten gebracht werden. Der Generalstabschef wollte unmißverständlich zu erkennen geben, daß für ihn die Stunde der Entscheidung herannahte. Das eigentliche Ziel, die machtpolitische Ausschaltung der Tschechoslowakei, erschien, wie gesagt, auch Beck notwendig. Aber in der gegenwärtigen internationalen Lage, angesichts des deutschen Rüstungsstandes, angesichts einer mitten im Aufbau befindlichen Armee sah er in einem Anstreben dieses Zieles eine gefährliche verantwortungslose, weil undurchführbare und verhängnisvolle Politik. Sie zu verhindern, war er fest entschlossen. Aber wie sollte man, wie konnte man, vor allem wie Also auch diese Worte enthalten keine grundsätzliche Ablehnung des Gedankens der Zerschlagung der Tschechoslowakei. 78 Erneut taucht hier der Gedanke des unmittelbaren Verantwortungsbezuges „Volk-Militärische Führung" auf: angesichts der gekennzeichneten militärischen Verantwortung vor Volk und Heer, die der Chef des Generalstabes des Heeres zwar mit anderen teilt, die ihm aber in besonderem Maße obliegt..." 79 Nach Mitteilung des ehemaligen 1. Generalstabsoffiziers beim ObdH, Generalleutnant a. D. Siewert (am 19. 7. 1966 an das MGFA), habe Beck praktisch wie theoretisch die Möglichkeit gehabt, Hitler selbst Vortrag zu halten. Einerseits jedoch bemühte er sich nicht darum, andererseits habe wohl Brauchitsch sich nicht das Heft aus der Hand nehmen lassen wollen. Vgl. auch Becks Klage in einem Brief vom Oktober 1938 an Hoßbach (BA/MA H 08-28/6, im Auszug abgedruckt bei Foerster, S. 151). 80 Das Endziel war natürlich, Hitler zur Aufgabe seiner Kriegspläne zu veranlassen. 77

„...

VIL Drohende

320

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

verhindern trachten? Das war für Beck in jenen Hochsommerwochen des Jahres quälende Frage. Die Sachfrage, das Verhältnis zur Tschechoslowakei und die Gefahr eines Krieges, war für ihn nicht problematisch; sachbezogen hatte er sich eine eindeutige, nicht in Frage zu stellende Beurteilung erarbeitet. Diesen konservativen, korrekten Offizier quälte es, wie er ohne Verstoß gegen die traditionellen Verhaltensmaßstäbe des Offizierkorps die aus seiner Lagebeurteilung resultierenden Konsequenzen durchsetzen könnte, wenn die politische Führung nicht bereit war, auf ihn zu hören. Wieder also ging es um das Vertrauensverhältnis zwischen politischer und militärischer Führung. Das war sein persönliches Problem und das war zugleich das große Problem der Armee und ihrer berufenen Führer. In jenem Sommer, als er vor diese Frage gestellt war, für die es so gar keine traditionellen Lösungsschemata zu geben schien, ein offenbar in der preußisch-deutschen Militärgeschichte kaum dagewesener Ausnahmefall, da mußte sich Beck erst vorsichtig und unsicher zugleich an eine Lösungsmöglichkeit herantasten. Daß er ihr nicht auswich, sondern auch auf die Gefahr des Scheiterns hin und 1938 ist er dann sddießlich gescheitert sich ihr stellte, das ist ein Element seiner Größe. Wie sehr er sich angesichts jener Frage auf ungewohntem Terrain bewegte, zeigt nichts eindrucksvoller als die Tatsache, daß er, ehe er die Denkschrift seinem Oberbefehlshaber übergab, ihren Schlußteil mit der Rücktrittsdrohung grundlegend abänderte. Statt seinen Rücktritt81 in Aussicht zu stellen, empfahl er nunmehr, erstens die Oberbefehlshaber der Gruppen und die Kommandierenden Generäle zusammenzurufen, sie „über Geist, Stimmung und innere Festigkeit der Truppe im Hinblick auf die etwa zu erwartenden Ereignisse persönlich zu hören und mit ihnen in Fühlung zu bleiben"; und zweitens die höheren Führer des Heeres über „die bevorstehenden Kriegsabsichten" aufzuklären, ihnen ihre Aufgaben im Kriegsfall darzulegen, vor allem ihre „Einwände entgegenzunehmen". Eine derartige enge Fühlungnahme zwischen der höheren Generalität und dem Oberbefehlshaber des Heeres82 erschien Beck vor allem deshalb notwendig, „damit alle Fragen vor der vom Führer mit den Kommandierenden Generälen beabsichtigten Besprechung geklärt werden und diesem gegenüber eine klar einheitliche Auffassung vertreten werden kann". Drittens regte er an, der Oberbefehlshaber des Heeres solle „eine einheitliche Auffassung über den gesamten Fragenkomplex mit den Oberbefehlshabern der anderen Wehrmachtteile herbeizuführen" versuchen. Statt Brauchitsch mit einer Rücktrittsdrohung zur Initiative zu veranlassen, wollte Beck nunmehr dem Oberbefehlshaber des Heeres bei der von ihm geforderten Demarche bei Hitler durch eine Einheitsfront der höheren Generalität, eventuell unter Einbeziehung Raeders und Görings, Grundlage und Rückhalt geben, nicht zuletzt ihn aber auch mit und in dieser Konferenz der Generalität zur Entscheidung

durfte

man

sie

zu

1938 schließlich die

-

-

zwingen.

Dieser Rücktrittsgedanke taucht in der Vortragsnotiz vom 16. 7. 38 in allgemeiner und erweiForm (Rücktritt aller höchsten militärischen Führer) auf. 82 Man erinnere sich, daß Beck in der Fritsch-Krise es gerade versäumt hatte, die höhere Generalität zu orientieren. Vielleicht hatte Beck dieses gravierende Versäumnis in Erinnerung, als er den ersten Entwurf der Denkschrift entsprechend abänderte. 81

terter

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Beck beließ es nicht bei dieser Denkschrift, am gleichen Tage stieß er bei Brauchitsch mit einem mündlichen Vortrag nach83. Dem Oberbefehlshaber des Heeres sollten nachdrücklich die Ereignisse des Augenblicks klargemacht werden. Die hierfür aufgesetzte „Vortragsnotiz" vom 16. Juli 193884 enthielt in beschwörenden Worten die mahnende Feststellung, daß „alle aufrechten und ernsten deutschen Männer in staatsverantwortlichen Stellungen" sich berufen und verpflichtet fühlen müssen, „alle erdenklichen Mittel und Wege bis zur letzten Konsequenz anzuwenden, um einen Krieg gegen die Tschechei abzuwenden, der in seinen Auswirkungen zu einem Weltkrieg führen muß, der das Ende Deutschlands bedeuten würde". Die höchsten Führer in der Wehrmacht seien hierzu in erster Linie berufen und befähigt, denn die Wehrmacht sei das ausübende Machtmittel der Staatsführung in der Durchführung eines Krieges. Sodann folgen jene berühmten Sätze, die, ungeachtet der konkreten Absicht, Brauchitsch im Gewissen aufzurütteln und zur Tat zu drängen, in ihrem politischethischen Gehalt Allgemeingültigkeit besitzen: „Es stehen hier letzte Entscheidungen für den Bestand der Nation auf dem Spiel; die Geschichte wird diese Führer mit einer Blutschuld belasten, wenn sie nicht nach ihrem fachlichen und staatspolitischen Wissen und Gewissen handeln. Ihr soldatischer Gehorsam hat dort eine Grenze, wo ihr Wissen, ihr Gewissen und ihre Verantwortung die Ausführung eines Befehls verbietet." Als Konsequenz daraus und unter Hinweis auf die Maxime „außergewöhnliche Zeiten verlangen außergewöhnliche Handlungen" sowie unter Ablehnung jeglicher begrenzten Ressortverantwortlichkeit schlug Beck sodann in forderndem Ton vor, die höchsten militärischen Führer müßten, wenn in solcher Lage ihre Warnungen und Ratschläge kein Gehör fänden, von ihren Ämtern abtreten. „Wenn sie alle in einem geschlossenen Willen so handeln, ist die Durchführung einer kriegerischen Handlung unmöglich. Sie haben damit ihr Vaterland vor dem Schlimmsten, vor dem Untergang bewahrt." Der Gedanke eines „Streiks" der höchsten Generalität war ausgesprochen: Kollektiv-Rücktritt, um die politische Führung zur Aufgabe einer als katastrophal erkannten Politik zu bewegen, gar zu

zwingen. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Denkschrift vom 15. bis 16.7.38 wenigstens in Teilen früher entstanden als die Vortragsnotiz vom 16. 7. Foerster, S. 170, Anm. 79, bezeugt, daß Beck länger an der Denkschrift gearbeitete habe. So gibt es gewisse Diskrepanzen zwischen den beiden Dokumenten, die kaum erklärbar sind, wenn sie beide am selben Tag, dem 16. 7., entstanden wären; z. B. fordert er in der Denkschrift, der ObdH solle bei Hitler „die dringende Bitte" aussprechen; wogegen in der Vortragsnotiz schon von einem „Einspruch berufener Männer" die Rede ¡st, die „Bitte" hat Interventionscharakter angenommen. 84 BA/MA H 08-28/4: Schreibmaschinen-Niederschrift; Abdruck bei Foerster, S. 122-124 (mit 83

ungekennzeichneter Auslassung des zweiten und des letzten Absatzes. Der zweite Absatz ist bei Buchheit, Beck, S. 154, abgedruckt). Ungenau u.a. bei Foerster, S. 122, 2. Absatz: „...denn die Wehrmacht ist das ausübende Machtmittel des Staates" (im Original: „der Staatsgewalt"); sodann ebd. der Absatz 2, S. 123: man sollte aus der modernen Kriegsgeschichte gelernt haben, daß überfallartige Unternehmungen..." (im Original „Überraschungen"). Im Original sind außer„...

dem die bei Foerster, S. 122, gesperrten Absätze nicht 21

hervorgehoben.

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322

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

grundlegende qualitative Unterschied zwischen der Denkschrift vom 15.-16. Juli und der Vortragsnotiz vom 16. Juli ist klar: dort Rücktritt des Generalstabschefs, falls Hitler nach Intervention des Oberbefehlshabers des Heeres nicht von seiner Kriegspolitik abginge, also eine individuelle Lösung; schließlich dann nur noch eine eindringliche Darlegung der Lage durch die berufenen Führer der Wehrmachtteile; hier nun das radikalere Vorgehen, ein kollektiver Schritt der gesamten Führungsschicht der Wehrmacht, ein gerade eben noch im Rahmen formaler Legalität sich haltender Streik der Generale. Beck glaubte übrigens, daß der vorgeschlagene Kollektivschritt der obersten Wehrmachtführer als Initialzündung wirken könnte: „Andere aufrechte Männer in staatsverantwortlichen Stellungen außerhalb der Wehrmacht werden sich auf ihrem Wege anschließen." Die qualitative Stufe zwischen der Denkschrift und der Vortragsnotiz liegt, außer in dem Gedanken an einen Kollektivrücktritt, vielleicht sogar mehr noch in der Vorstellung, daß bei einer erfolgreichen Demarche in dem erwähnten Sinne „mit erheblichen innenpolitischen Spannungen zu rechnen" sei. Eigentümlich ist die Vorstellung, daß derartige Spannungen gerade nach einem Gelingen85 der Demarche ausbrechen könnten, also nachdem die Drohung mit dem Kollektiv-Rücktritt Erfolg gehabt und Hitler damit seine Kriegsabsichten angesichts dieser Pression hätte aufgeben müssen86. Dann würden nämlich so meinte Beck jene „radikalen" Kräfte in der Umgebung Hitlers „erklären, daß die Durchführung der Absichten des Führers an der Unfähigkeit der Wehrmacht und ihrer Führer gescheitert" sei. Eine „erneute und verstärkte Diffamierung" der militärischen Führer werde einsetzen. Beck sah für diesen Fall also eine akute Zuspitzung des seit Jahren schwelenden, in der Fritsch-Affäre schon verdeckt zum Ausbruch gekommenen Der

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Konfliktes mit jenen „radikalen" Kräften der Partei, vornehmlich der SS, voraus, die nach Ansicht der Armeeführung immer schon ein störendes Element im Verhältnis der Wehrmacht zu Hitler gewesen waren. Man muß tatsächlich diese Vorstellung Becks in Zusammenhang mit dem eigentlich seit 1933 währenden Antagonismus zwischen Armee und wie man auf militärischer Seite weitgehend glaubte den „radikalen" Teilen der NS-Bewegung bringen. Dahinter stand die Vorstellung, daß der Nationalsozialismus teilweise aus „guten" und teilweise aus -

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Das ist nie recht beachtet worden. Vgl. z. B. Gerhard Ritter, Zur Frage der soldatischen Widerstandspflkht. Die „Tschechenkrise" als Vorläufer des 20. Juli, in: Merkur 8 (1954), S. 665: „Es bleibt aber ganz unklar, wie er diese Auseinandersetzung durchführen wollte, wenn vorher alle 85

oberen Führer der Wehrmacht abdanken sollten ..." 86 Beck erwog vermutlich nicht, was geschehen würde, wenn Hitler auf seinen Absichten bestehen bliebe, was doch wohl eine naheliegende Möglichkeit war, und wenn dann die Generalität und evtl. noch andere hohe Staatsdiener ihren Rücktritt erklärten. Das hätte gewiß auch „innerpolitische Spannungen" hervorgerufen. Es wäre an sich schon ein Zeichen solcher Spannungen gewesen. Sollte Beck etwa nicht nur von der Durchführbarkeit, sondern sogar vom Erfolg jener beabsichtigten Pression so überzeugt gewesen sein, daß er die Möglichkeit eines Mißerfolges gar nicht einkalkuliert hat? Schwer zu glauben bei einem Generalstabsoffizier, der gewohnt war, auch und vor allem den ungünstigsten Fall mit in Erwägung zu ziehen. Vielleicht kann man vermuten, daß Beck seinem unentschlossenen Oberbefehlshaber zunächst noch nicht alle Konsequenzen eines Gesamtrücktritts bei Hitlers Weigerung vor Augen führen wollte.

VII. Drohende

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

„schlechten" Elementen bestehe, die Auffassung, die Halder

1934 mit der

323

Differenzierung

idealen Wollen" erfüllten Kanzler und den „wahrhaft minderwertigen Ausführungsorganen" auf Parteiseite umschrieben hatte. Diese „minderwertigen" Kräfte, gegen die die militärische Führung seit langen Jahren sich hatte zur Wehr setzen müssen, die immer wieder versucht hatten, auf den Bereich der Streitkräfte überzugreifen, diese sah Beck auch jetzt wieder mit ihren ruchlosen Machenschaften am Werk, wo es um die Frage „Krieg oder Frieden", um abenteuerliche Politik und damit auch um sachgerechte, verantwortungsbewußte Beratung ging: der Führer so schreibt er gleich am Anfang seiner Vortragsnotiz werde in seiner Auffassung, man müsse die sudetendeutsche Frage gewaltsam lösen, „bestärkt durch eine Umgebung verantwortungsloser, radikaler Elemente"87. Und jene würden auch so heißt es dann etwas später in der Notiz die Wehrmacht diffamieren, wenn sie eine solche Lösung verhinderte. Die von Beck vorausgesagten „erheblichen innenpolitischen Spannungen" stellten sich damit als eine akute, in höchstem Maße das Wohl und Wehe der Nation beeinflussende Zuspitzung dieses alten Antagonismus dar. Sie waren in der spezifischen Situation von 1938 zugleich der offene Ausbruch eines Kampfes um den maßgeblichen Einfluß auf den „Führer" oder wie Beck es umschrieb des Vertrauensverhältnisses zwischen Staatsmann und militärischer Führung; insofern waren sie also auch Symptom einer gefährlichen Krise des seit 1933 in der Bewährung stehenden Konzeptes der Teilhabe an der Macht in Form der Entscheidungsteilhabe. Tödlich gefährlich war diese Krise deshalb, weil offensichtlich so meinte Beck Hitler gänzlich unter den Einfluß jener radikalen Kreise geraten sei: „Der Führer soll" berichtete er seinem Oberbefehlshaber „in kleinem Kreise erklärt haben: den Krieg gegen die Tschechei muß ich noch mit den alten Generalen führen, den Krieg gegen England und Frankreich führe ich mit einer neuen Führerschicht88." Konnte der Generalstabschef unverhüllter die unmittelbare Gefahr eines Scheiterns jenes Konzeptes der Machtteilhabe ausdrücken? Es ging jetzt darum, sich noch in letzter Minute zwischen dem

„vom

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dem

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Verhängnis entgegenzuwerfen,

das in einer

gefährlichen Kriegspolitik lag.

Diese

entstehen, weil die von der Armeeführung geforderte Mitentscheidungsqualifikation bestritten beziehungsweise nicht beachtet wurde. War doch die Tatsache, daß Becks Memoranden über das tschechoslowakische Problem und über die Spitzengliederungsfrage89 keine Resonanz gefunden hatten, der überzeugende Beweis für eine solch gefährliche Entwicklung! Man würde „sich daher" schreibt Beck nach Erwähnung des zitierten angeblichen Ausspruches Hitlers „entschließen müssen, in unmittelbarer Gefahr konnte

nur

-

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Interessanterweise nähert sich diese Ansicht Becks offensichtlich jenen Vorstellungen, die wie Wendt herausgearbeitet hat auch in maßgeblichen britischen Kreisen damals vorherrschte: Hitler sei im Grunde als „gemäßigt" anzusprechen, aber „radikale" Kräfte in seiner Umgebung (wie 87

-

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vor

allem

Ribbentrop)

trieben

zum

Krieg.

Vgl. dazu die Aufzeichnungen Wiedemanns vom 5.9.38, wo Hitlers Bemerkung wiedergegeben wird: „Die Tschechei werden die alten Generale ja noch machen, dann vier bis fünf Jahre Zeit." (ADAP, Serie D, Bd VII, Anhang III, Abschnitt H, Dok. V, S. 544 f.) 89 Es ist zu beachten, daß Beck daher folgerichtig mehrfach beide Sachkomplexe in seinen Denkschriften miteinander verknüpft hat. Im folgenden Satz Hervorhebung vom Verf. 88

VIL Drohende

324

oder

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

nachfolgender Verbindung mit dem Einspruch nunmehr eine klärende Auseinander-

setzung zwischen Wehrmacht und SS herbeizuführen". Das sind entscheidende Sätze. Sie enthalten in der Tat erregende Gedanken. In den meisten Untersuchungen und Darstellungen hat man daher auch wie gebannt auf sie und die in den Vortragsnotizen Becks vom 19. und 29. Juli 1938 enthaltenen entsprechenden Ergänzungen und Erläuterungen geblickt, sie dabei isoliert und sich nie gefragt, wieso eigentlich der Generalstabschef plötzlich innenpolitische Aktionen aus Anlaß einer die Außenpolitik betreffenden Meinungsverschiedenheit zwischen Armeeführung und Staatsführung ins Auge faßte. So kam es zu einer verzerrenden Interpretation00 dieses Satzes und der entsprechenden anderen Partien in den späteren Dokumenten. Dabei hat Beck wie oben gezeigt selbst den Grund für diese Koppelung von innen- und außenpolitisch bedeutsamen Initiativen angegeben: mit der vorgeschlagenen Pression eines Kollektivschrittes sollte dem Kriegskurs Hitlers der Weg verlegt werden; mit der „klärenden Auseinandersetzung zwischen Wehrmacht und SS" sollte die seiner Ansicht nach vorhandene Ursache dieses außenpolitischen Vabanque-Spiels, nämlich der verantwortungslose „radikale" Beraterkreis des „Führers", ausgeschaltet und die militärische Spitze als legitimes, weil sachkompetentes, verantwortungsbewußtes Beratungsorgan etabliert werden. Das war nichts weniger als der Versuch, das Konzept der Teilhabe an der Macht, nämlich die gesicherte Einflußnahme auf staatspolitisch wesentliche Entscheidungen der Staatsführung, nunmehr erneut zur Geltung zu bringen. Die rivalisierenden Elemente sollten endgültig ausgeschaltet, dem „Führer" das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen Staatsmann und militärischer Spitze aufoktroyiert werden91. Die beiden wesentlichen Gedanken dieser Vortragsnotiz: Kollektivdemarche der obersten militärischen Führer und die Vorstellung von einer innenpolitischen Klärung des Verhältnisses zwischen Wehrmacht und SS und ihrer jeweiligen Rolle im Staat sind das grundsätzlich Neue im Denken des Generalstabschefs in der zweiten Julihälfte 1938. An die Stelle der betonten, aber immer noch im Rahmen normaler Dienstroutine sich haltenden Einwirkungen durch Denkschriften hatte er zunächst die nach traditioneller Auffassung noch legale, individuelle Demonstration, den persönlichen Rücktritt, gesetzt, schließlich aber eine gerade noch innerhalb der Legalität sich bewegende äußerst un-

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90

Buchheit, Beck,

S. 155, kommt daher

zu

der

am

tatsächlichen

Sachgehalt vorbeigehenden

Kau-

salverknüpfung: „...die unausbleibliche Auseinandersetzung mit der SS herbeizuführen, anders sei eine geordnete Wiederherstellung der Rechtsverhältnisse in Deutschland unmöglich." (Hervorhebung vom Verf.)

Daß Beck bei außenpolitischen Kontroversen plötzlich innerpolitische Auseinandersetzungen ins Auge faßt, läßt sich nicht so sehr damit erklären (wie Krausnick, Vorgeschichte, S. 319, meint), daß die „gewissenlose Kriegspolitik" erst das „lange aufgestaute Widerstreben ethisch verwurzelter Soldaten gegen die amoralische Substanz des Regimes nun offen zum Durchbruch" kommen ließ und daß dies „tief... in der Stärke der militärischen Tradition begründet" lag. Es war nicht so sehr „erst die moralische Auflehnung", die „die Kraft gab, den Bann überkommenen soldatischen Gehorsams... zu brechen", sondern die Mißachtung des bei Beck besonders ausgeprägten Anspruches der Armeeführung auf verantwortliche Mitwirkung an grundlegenden Entschlüssen der 91

Staatsführung.

VII. Drohende

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

325

gewöhnliche und massive Pression, die Kollektivdemarche mit der Drohung des KollektivRücktritts, ins Auge gefaßt. Entsprechend hatte Beck auch das Ziel derartigen Vorgehens,

Verhinderung einer verhängnisvollen Kriegspolitik, schließlich ausgeweitet durch die angestrebte Durchsetzung des militärischen Einflußanspruches. Hier ist also in relativ kurzer Zeit eine weitgespannte, grundlegende Entwicklung im Denken des Generalstabschefs zu bemerken. Die gefährliche Zuspitzung der außenpolitischen Lage sowie die Tatsache, daß bisher eine Sinnesänderung bei Hitler nicht zu bemerken war, werden gewiß entscheidende Faktoren dieser Entwicklung gewesen sein. Weiterhin wird Beck besonders betroffen worden sein von der am 13. Juli erfolgenden endgültigen Entscheidung Hitlers über die Organisation der Spitzengliederung. Als nicht weniger entscheidend wird man aber auch den Einfluß von Männern veranschlagen müssen, die mit dem General enge dienstliche oder persönliche Kontakte hatten, deren Einstellung zum Regime schon radikaler und negativer war als die Becks. Halder, damals als Oberquartiermeister I Becks Stellvertreter, berichtet von etlichen in jener Zeit stattfindenden Auseinandersetzungen mit dem Generalstabschef infolge unterschiedlicher Ansichten hinsichtlich den Hitler gegenüber angemessenen Methoden92. Bei einer derartigen Gelegenheit versuchte Halder seinem immer noch auf Einsicht beim „Führer" hoffenden Vorgesetzten in deutlichen Worten die grundsätzliche Unbelehrbarkeit Hitlers die

führen. Beck, der sich, wie Halder weiter berichtet, offensichtlich innerlich noch vor dieser Einsicht sträubte, habe ihm geantwortet: „Aber ich habe ihm doch eine Denkschrift geschrieben!" Halder suchte ihm in eindringlicher Weise darzulegen, daß man einem Mann wie Hitler mit Denkschriften bestimmt keinen Eindruck machte. Sollte eine derartige Beeinflussung nicht mitgewirkt haben, daß Beck dann, wie erwähnt, den Gedanken an eine Einwirkung durch Denkschriften aufgab? Auch Karl-Heinrich v. Stülpnagel, ebenfalls einer der Oberquartiermeister, dem Generalstabschef menschlich näher stehend als Halder, war erheblich negativer in der Beurteilung Hitlers als Beck93. Er wird gewiß nicht versäumt haben, dem Generalstabschef seine Meinung über Hitler und dessen Politik zu sagen. Bezeugt ist vor allem94, daß Oberstleutnant Oster in jenen Wochen fast täglich, oft sogar stundenlang, bei Beck gewesen ist. Dieser temperamentvolle und entschiedene Gegner von SS und Partei wird, das darf man mit Sicherheit annehmen, alles getan haben, um Beck im Sinne eines massiveren Vorgehens zu beeinflussen. So war er in jener Zeit zusammen mit Canaris an Halder herangetreten, um auch über den Oberquartiermeister I auf den Generalstabschef einzuwirken95. Es ist obendrein wohl sicher, vor

Augen

zu

92

Hierzu und zum folgenden: Mitteilung Generaloberst a.D. Halder vom 10.11.1965 an das MGFA. Nach Mitteilung von General a.D. Heusinger vom 16.2. 1966 an das MGFA soll der damalige 1. Generalstabsoffizier beim ObdH, Siewert, bei Brauchitsch besonders auf Intransigenz gegenüber Hitler gedrängt haben. 93 Vgl. K.-H. Stülpnagels Ausspruch zu Weizsäcker während der Romreise Hitlers (oben Seite 301 dieses Kapitels). 94 Mitteilung Generaloberst a.D. Halder vom 10.11.1965 an das MGFA sowie Graml, Oster, S. 33. 85

Krausnick, Vorgeschichte,

S. 342.

VII. Drohende

326

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

daß er Beck auch mit Informationen, und zwar gewiß nicht beruhigenden, versorgt hat. Alle Vortragsnotizen und Aufzeichnungen aus der zweiten Julihälfte enthalten nämlich auch eine ganze Reihe von Informationen, die er kaum auf dem regulären Dienstweg erhalten haben wird96. Man wird daher mit einer gewissen Berechtigung annehmen dürfen, daß es nicht zuletzt auch Einflüsse dieser Art waren, die Beck im Juli 1938, wenn nicht vorangetrieben der grundlegende Impuls bei ihm resultierte aus der Sachlage selbst -, so doch hinsichtlich der Methode und der Intensität des gebotenen Vorgehens mitbestimmt haben. Gerade der entscheidende Schritt von der Denkschrift zur Rücktrittsdrohung, sodann der Gedanke an eine innenpolitische Auseinandersetzung mit der SS97 wird ihm wohl aus diesen Einflußnahmen erwachsen sein. Halder hat ihn mehrfach auf die Angemessenheit der Hitler gegenüber zu wählenden Mittel hingewiesen; und von Oster wissen wir, daß er seit der Fritsch-Krise mit unbändigem Haß das Treiben von SS, SD und Gestapo verfolgte. Des weiteren wird seine Entschlossenheit in der gegenwärtigen Lage noch dadurch bestärkt worden sein, daß ihm allmählich, durch Osters entsprechende Einflußnahme gefördert, die Erkenntnis gekommen sein mag, sein Verhalten in der Fritsch-Krise habe nicht unbedingt den Erfordernissen der damaligen Situation ent-

sprochen98. Die Einwirkungen auf den Oberbefehlshaber des Heeres,

die Beck in den folgenden Julitagen unternahm, zeichnen sich daher auch weiterhin durch eine graduelle Verschärfung der bisherigen methodischen Vorschläge und eine umfassendere Interpretation der Zielvorstellungen aus; sie enthalten prinzipiell jedodi kaum etwas Neues. Drei Tage nach seinem ersten Vortrag trug er wie eine Vortragsnotiz vom 19. Juli90 zeigt dem Oberbefehlshaber des Heeres nochmals den Gedanken eines Kollektivschritts der höchsten Führer der Wehrmacht in eindringlicher Form vor. Insbesondere war dieser Vortrag dazu bestimmt, den drei Tage zuvor aufgetauchten Gedanken einer eventuell sich ergebenden „klärenden Auseinandersetzung mit der SS" näher zu erläutern und auszugestalten. Beck legte nunmehr dem Oberbefehlshaber des Heeres nahe zu prüfen, „ob man diesen Schritt nicht dahin aktivieren sollte, daß man es zu einer für die Wiederherstellung geordneter -

-

Vgl. z. B. den Hinweis auf Hitlers Äußerung „in kleinem Kreise" über die „alten Generale", sowie die Bemerkungen über die Einstellung Görings (in der Vortragsnotiz vom 16.7.38); oder auch die Aufzeichnung „Einzelheiten am 29. 7.1938", die offensichtlich vertrauliche Informationen festhält. 97 Auch Hoßbach mag einen gewissen Einfluß ausgeübt haben; denn der Gedanke einer grundlegenden Bereinigung des Verhältnisses zur SS war auch in jenem Beck von ihm und Canaris unterbreiteten Vorschlag z. Z. der Fritsch-Krise enthalten (vgl. Foerster, S. 92). 98 Die Fritsch-Krise hat offensichtlich zu jener Zeit im Bewußtsein Becks eine nicht geringe Rolle gespielt. Auch Manstein kommt wohl eingehend auf eine Passage in einem Brief Becks in seinem Schreiben vom 21. Juli an den Generalstabschef auf die Fritsch-Krise zu sprechen, und zwar bezeichnenderweise unter dem Gesichtspunkt der fehlerhaften Spitzenorganisation, die dazu geführt habe, daß allein der Chef WA, General Keitel, damals zu Hitler Zutritt gehabt habe. (Vgl. Dok.-Anh. Nr. 42, Hervorhebung vom Verf.) 99 BA/MA H 08-28/4: Schreibmaschinen-Niedersdirift, überschrieben „Nachtrag am 19.7.1938". Abgedruckt mit kleineren Varianten bei Foerster, S. 124. 96

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VII. Drohende

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

327

Rechtszustände unausbleiblichen Auseinandersetzung mit der SS und der Bonzokratie kommen lassen muß". Wohl zum letzten Male biete das Schicksal die Gelegenheit an, „das deutsche Volk und den Führer selbst zu befreien von dem Alpdruck einer Tscheka und von den Erscheinungen eines Bonzentums, die den Bestand und das Wohl des Reiches durch die Stimmung im Volke zerstören und den Kommunismus wieder aufleben lassen"100. Hier wird nicht bloß die Idee ausgesprochen, die Wehrmachtführung müsse von sich aus die Initiative zu einer „klärenden Auseinandersetzung" mit der SS ergreifen; als neues Element tritt zugleich eine gewisse Ausweitung des Zieles hinzu, das damit angestrebt werden sollte. Nicht bloß sollte diese Auseinandersetzung die Stellung der Streitkräfte im obersten Entscheidungsbereich des Regimes sicher etablieren und stabilisieren, sie sollte gleichzeitig eine Reform des „Dritten Reiches" in Gang setzen. Daher wird neben dem Gegner „SS" und dessen „Tscheka"-Methoden jetzt die „Bonzokratie" und das „Bonzentum" herausgestellt. Wohlgemerkt, es soll nicht gegen die Partei als solche gehen offiziell ist sie die eine, die Armee die andere Säule des Staates -, vielmehr schreibt Beck ausdrücklich, daß „aufrechte und tüchtige Männer der Partei... von der Notwendigkeit eines solchen Schrittes überzeugt und dafür gewonnen werden" müssen. Die Partei selbst sollte demnach, jedenfalls grundsätzlich keineswegs betroffen werden, sie sollte sogar in ihren „guten Elementen"101 zum Mitmachen aktiviert werden. Im folgenden betonte Beck sodann nachdrücklich, es könne102 und dürfe „kein Zweifel darüber aufkommen, daß der Kampf für den Führer geführt" werde103. Die oben erwähnten Bemerkungen, es gehe wohl gegen „Bonzokratie" und SS, nicht aber gegen, sondern sogar mit Parteirepräsentanten sowie vor allem die Tatsache, daß Beck zweimal hervorhebt, der Kampf werde für den Führer geführt, dazu noch betont, keineswegs dürfe „auch nur die leiseste Vermutung etwa eines Komplottes aufkommen"104, diese aufläßt die der Plan Generalstabschefs des sehe lediglich fällige Akzentuierung Annahme, eine vorerst taktische Ausklammerung der Person Hitlers vor, kaum als wahrscheinlich erscheinen. Vielmehr knüpfte Beck hier an jenen Hoßbach-Canaris-Plan aus der Zeit der Fritsch-Krise an, in welchem diese beiden hohen Offiziere auf Hitler einen massiven -

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.

Der Ausdruck „Tscheka" kam auch in dem Hoßbach-Canaris-Plan anläßlich der FritschKrise in diesem Gebrauch vor. Vgl. auch eine undatierte Aufzeichnung im Beck-Nachlaß (BA/MA H 08-28/3) mit dem Titel „Bemerkungen über die Arbeitsweise und Maßnahmen der Gestapo auf Grund des Stenogramms in dem Verfahren vor dem Reichsgericht", in dem es in bezug auf die Gestapo heißt: „Darüber hinaus [d.h. außer einem Dienststrafverfahren gegen Gestapobeamte] muß eine völlige Änderung des Systems und der leitenden Personen verlangt werden." 191 Die Annahme, Beck habe mit diesen Formulierungen sowie auch mit jenem „Für den Führer!" in den kurzen, knappen Parolen am Ende dieser Notiz eine taktisch und propagandistisch geschickte Fiktion aufbauen wollen zur Absicherung einer Art Staatsstreich (so Ritter, die „Tschechenkrise", S. 665; ähnliche Andeutungen auch bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 319-320), ist durch nichts gerechtfertigt. 102 Das Wort „können" ist im Zusammenhang mit der vorstehend erwähnten These der „taktischen Fiktion" nie beachtet worden. 199

193 194

Sperrung im Original. Sperrung im Original.

VII. Drohende

328

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

Druck mittels einer direkten Demarche gegen die SS vorsahen, um deren „Tsdieka"Methoden ein für alle Mal abzuschaffen. Auch ähnliche Vorschläge Osters und Gisevius' aus jener Zeit sind jetzt Beck erneut nahegebracht worden. Wenn Beck bald darauf105 auch festhielt, seit dem Fall Fritsch sei eine Vertrauenskrise zwischen Offizierkorps und Hitler entstanden, so wies er in derselben Aufzeichnung ebenfalls warnend auf die Gefahr hin, daß Göring, der „letzten Endes" Blomberg habe ins Verderben rennen lassen und Fritsch beseitigt habe, „sich eines Tages zu gegebener Stunde auch des Führers entledigen könnte". Das unterstützt gewiß nicht die These von irgendwelchen taktisch raffinierten, indirekten Aktionsüberlegungen gegen Hitler. Natürlich ging es Beck damals darum, durch eine massive Intervention die, wie er am 29. Juli in einer weiteren Vortragsnotiz106 schrieb, „nicht eindrucksvoll, hart und brutal genug" sein könne, Hitler von der Kriegspolitik abzubringen, ihn zu veranlassen, das SS-System grundlegend zu ändern, aber die Person des Staatsoberhauptes war für Beck damals bei aller unverhohlenen, heftigen Kritik107 noch unantastbar. Es ging für ihn ganz und gar nicht gegen Hitler, sondern so sah es Beck noch in seiner gegen dessen Kriegspolitik; und hinter dieser standen Vortragsnotiz vom 29. Juli Ribbentrop und auch Himmler, letzterer zudem der Repräsentant jener verhaßten braun-schwarzen „Tscheka". Es ging für ihn bei der vorausgesehenen und vorgesehenen innenpolitischen Auseinandersetzung auch nicht um das politische System überhaupt, sondern um die Reform dieses Systems108 nach den Vorstellungen der Armeeführung. Sowohl zur Rechtfertigung wie auch als Richtpunkte einer innenpolitischen Aktion schlug er dem Oberbefehlshaber des Heeres ,,kurze[n], klare[n] Parolen" vor: „Für den Führer! Gegen den Krieg! Gegen die Bonzokratie! Friede mit der Kirche ! -

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195

In der

196

Schreibmaschinen-Niederschrift

Aufzeichnung „Einzelheiten zum 29. 7.1938" in Abschnitt 3: vgl. Dok.-Anh. Nr. 41. vom 29. 7.1938 (BA/MA H 08-28/4), abgedruckt bei Foerster,

S. 125-127. 107 So z. B. in Abschnitt 2 und 4 der „Aufzeichnung zum 29. 7.1938" („Einzelheiten"): vgl. Dok.Anh. Nr.41. Auffallend ist die unterschiedliche Wertung der Rolle Görings: in der Vortragsnotiz vom 29. 7. 38 gibt Beck die Versicherung Wiedemanns wieder, Göring gehöre „unter keinen Umständen zu den Kriegshetzern"; in den „Einzelheiten" vom selben Tag dagegen wird Göring nicht nur die Schuld am Sturze Blombergs und Fritschs zugeschrieben, sondern ihm auch die Möglichkeit eines Vorgehens gegen Hitler selbst unterstellt. (Vgl. dazu die Ausführungen bei Wiedemann, S. 114: Göring habe geäußert, das deutsche Volk stünde ihm höher als der Führer selbst.) Diese unterschiedliche Wertung Görings legt die Vermutung nahe, daß Beck hier Informationen aus verschiedenen Quellen wiedergibt. (Vgl. auch die Unsicherheit bei der Bewertung der Haltung Görings durch die Opposition nach Kriegsausbruch: Kap. XI dieser Arbeit.) 108 Im Gegensatz zu Buchheit, Beck, S. 155 („Wiederherstellung der Rechtsverhältnisse dem weiterdrängenden Bewegungs- und Entwicklungsgesetz des Widerstandes folgend... in Richtung auf eine aggressive Lösung...") formuliert Foerster, S. 127, etwas zurückhaltender: als auch gegen das von ihm [= Hitler] gezüchtete und gedeckte innerpolitisch gezüchtete System .., nicht aber gegen die Person des Staatsoberhauptes selbst." ...

„.

..

.

VII. Drohende

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

329

Freie Meinungsäußerung! Schluß mit den Tschekamethoden! Wieder Recht im Reich! Senkung aller Beiträge um die Hälfte! Kein Bau von Palästen! Wohnungsbau für Volksgenossen ! Preußische Einfachheit und Sauberkeit!" Das war gewiß kein Programm einer Gegenrevolution109, schon gar nicht das Programm einer grundstürzenden Regimeumwälzung, sondern eindeutig ein Reformprogramm110. Wenn Beck am 19. Juli darauf hinwies, daß das terroristische Treiben der SS und das „Bonzentum" insofern staatsgefährdend seien, als sie „die Stimmung im Volk"111 beeinträchtigen und dadurch die Gefahr des „Kommunismus Wiederaufleben lassen" ein Trauma der Militärs wie aller Rechtskreise seit den Jahren bürgerkriegsähnlicher Zustände zu Beginn und am Ende der Weimarer Republik -, dann zeigt das indirekt ebenfalls, daß es ihm um Reform, um ein besseres, geläutertes „Drittes Reich", nicht aber um die Errichtung eines neuen, grundsätzlich geänderten Staatswesens ging. Die erwähnten Programmpunkte, soviel propagandistischen Gehalt sie auch haben mochten, spiegeln daher auch sieht man von der Anti-Kriegsparole einmal ab nicht zuletzt jene Sekundärtugenden wie preußische Einfachheit, Fürsorge und Volksgemeinschaft wider, die in der Euphorie der „nationalen Wiedergeburt" des Jahres 1933 mit die attraktivsten Elemente des Nationalsozialismus in den Augen der konservativen Kräfte gewesen waren112. Und wenn als Spezifizierung jener Pauschalforderung „Schluß mit den Tscheka-Methoden" vor allem der Friede mit der Kirche und die Garantie der freien Meinungsäußerung genannt wurden, dann sprach Beck damit indirekt diejenigen Züge des Regimes an, die innerhalb der Armee wie des nationalen Bürgertums das stärkste Mißfallen erregt hatten113. Nicht Hitler, sondern dessen Kriegspolitik, nicht Hitlers Regime, sondern die Auswüchse dieses Regimes sollten bekämpft werden. Dazu war freilich eine innenpolitische Umstrukturierung des nationalsozialistischen Systems notwendig; denn die Auswüchse und die Kriegspolitik waren für Beck Folgen der fehlerhaften Struktur, die die Willens- und Meinungsäußerungen der Armeeführung bei staatspolitischen Entscheidungen erster Ordnung nicht genügend berücksichtigte. In der Vortragsnotiz vom 29. Juli schreibt Beck, wegen der „in jedem Falle"114 zu erwartenden Spannungen werde es „notwendig sein115, daß sich das -

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-

Wie Ritter, Die „Tschechenkrise", S. 666, meint. Ritter, Goerdeler, S. 185, glaubt, daß diese Parolen den Reformvorstellungen Goerdelers ähneln. 110 Foerster, S. 127, kommt m. E. dem Tatbestand mit dem Begriff „innerpolitische Säuberungsaktion" näher als Ritter. 111 Vgl. auch die stimmungspolitischen Ausführungen in Abschnitt 2 der „Einzelheiten am 29. 7. 109

1938"

(Dok.-Anh. Nr. 41). politische Alternative zum nationalsozialistischen Staat enthalten die zitierten Programm-Punkte nicht. 113 Vgl. dazu vor allem Kap. IV dieser Arbeit. 114 Das ist eine Steigerung zu dem „für den Fall, daß ist mit... innerpolitischen Spannungen 112

Eine wirklich

..

.,

VIL Drohende

330

Heer nicht

nur

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

auf einen möglichen Krieg, sondern auch auf eine innere Auseinander-

setzung, die sich

nur in Berlin abzuspielen braucht, vorbereitet. Entsprechenden Auftrag erteilen. Witzleben116 mit Helldorf117 zusammenbringen". Aus diesen Sätzen sowie aus einer Nachkriegsaussage Hoßbachs, daß die Anfänge der späteren Umsturzpläne Halders und Witzlebens bis in die Amtszeit Becks .zurückgingen118, glaubte man schließen zu können, der Generalstabschef habe für den Fall, daß die angestrebte legale Lösung erfolglos bliebe, einen Militärputsch gegen Hitler selbst ins Auge gefaßt110. Abgesehen davon, daß Hoßbachs Aussagen relativ vage sind und eine scheinbar seine These stützende Aussage Halders120 ebenfalls sehr unbestimmt ist, sprechen eine Reihe anderer Indizien gegen die erwähnte Annahme. Zunächst ist zu beachten, daß der vornehmliche Akzent der Vortragsnotiz vom 29. Juli auf der ausführlichen Darlegung der Art und Weise der vorgesehenen Kollektivdemarche und des angedrohten gemeinsamen Rücktritts liegt. Der Oberbefehlshaber des Heeres solle zu einem bestimmten Zeitpunkt Beck schlägt die zweite Septemberhälfte vor „mit den Generalen des Heeres geschlossen hinter sich" vor Hitler treten und „ihm in schärfster Form" erklären, daß er „mit seinen höchsten führenden Generalen bedauert, die Verantwortung für die Führung eines derartigen Krieges nicht übernehmen zu können, ohne sich vor dem Volk und der Geschichte mitschuldig zu machen. Sie treten daher von ihren Ämtern zurück für den Fall, daß der Führer auf der Durchführung des Krieges besteht". Wichtig ist vor allem, daß Beck nunmehr lediglich an eine Demarche der Heeresgeneralität dachte; eine Beteiligung der höchsten Offiziere von Marine und Luftwaffe schien ihm offensichtlich nidit mehr realisierbar zu sein. Sollte ein Mann wie Beck unter diesen Umständen tatsächlich an einen Militärputsch gedacht haben? Eine höchst unwahrscheinliche Annahme. Weiter: Becks Vorstellung, daß die voraussichtliche Auseinandersetzung sich wohl nur in Berlin abzuspielen brauche, müßte man als illusionär und unrealistisch121 an-

zu

rechnen"

zungen

„zu

(16.7.38) und dem Vorschlag

aktivieren".

-

vom

19.7.38, diese innerpolitischen Auseinanderset-

Aufgrund von Mitteilungen aus Hitlers nächster Umgebung (Wiedemann) kam Beck jetzt zu dem Schluß, daß der Zeitpunkt, wo man Hitler noch durch „sachliche Begründungen und Warnungen" von seiner Abenteuerpolitik abbringen könne, vorbei zu sein scheine. Der Reichsaußenminister und der Reichsführer SS bestärkten Hitler noch in seinen Absichten. 119 Befehlshaber im Wehrkreis III (Berlin). 117 Polizeipräsident von Berlin. 118 Hoßbach, S. 156, sowie seine Aussage bei Foerster, S. 170, Anm. 83. Bei Hoßbachs Aussagen scheinen hier Becks Überlegungen vom Juli, weitergehende Gedanken seiner Umgebung (etwa K.-H. Stülpnagel, der auch später häufig zur Aktion drängte) und Halders Pläne vom September zusammenzufließen. 119 Über die Kontroverse zu dieser Frage vgl. die Angaben bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 321, Anm. 312. Bei der bisherigen Behandlung des Problems ist der enge Zusammenhang von innerpolitischer Klärung und (der damit intentionell verbundenen) Sicherung der Einflußnahme der Armeeführung auf die staatspolitisch bedeutsame Entschlußfassung nicht beachtet worden. 120 Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 321, Anm. 312, und Zs. Nr. 240, Bd I und V. 121 Dementsprechend hat von jener Prämisse aus Ritter, Goerdeler, S. 184 f., die Undurchführbarkeit der Pläne besonders hervorgehoben. 115

VIL Drohende

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

331

sehen, wenn ein Putsdi beabsichtigt gewesen wäre; nicht aber, wenn dahinter nur die Absicht stand, die verbrecherische SS-Führung mit ihrem unheilvollen Einfluß auszuschalten, etwa so wie am 30. Juni 1934 die SA-Führung, nicht aber die ganze SA oder gar das Regime beseitigt werden sollten. Da sich das Heer jedoch außer für diese innenpolitische „Klärung" nach Becks ausdrücklichem Willen auch und vor allem in jedem Fall auf einen Krieg vorbereiten sollte122, hatte der Generalstabschef offensichtlich auch die Möglichkeit einkalkuliert, daß trotz des von ihm geforderten Rücktritts der Generäle Hitler seinen Willen weiterverfolgte, mit anderen Männern an der Spitze des Heeres: genau der Fall also, der dann nach Becks Rücktritt im wäre ein

OKH in kleinerem Maßstab eintrat. Schließlich:

Mann, der Ende Juli angeblich einen Militärputsch als mögliche Alternative

nur knapp vier Wochen später sang- und klanglos zurückgetreten, sondern hätte er schon vor Abfassung der Ausarbeitung vom 29. Juli den Gedanken an Rücktritt ernsthaft erwogen123? Hätte dieser Mann seinem Nachfolger, der stets ein radikales Vorgehen befürwortet hatte, aber damit bei Beck nicht durchgedrungen war, bei der Amtsübergabe dann zu verstehen gegeben, er werde es doch wohl besser machen eine Bemerkung, die sich, nach Halders Aussage, eindeutig auf die Methode der Auseinandersetzung bezog124? Wieso auch findet man in der von Beck entworfenen Rede125, mit welcher der Oberbefehlshaber des Heeres auf die hohe Generalität einwirken sollte, wohl den Gedanke an die Kollektivdemarche, nicht aber an eine weitergehende Aktion angedeutet? So spricht alles für den Plan an eine „evolutionäre Säuberungsaktion", für eine forcierte Reforminitiative, bei der durchaus das Gewicht der Armee wohl in die Waagschale geworfen werden sollte, bei der jedoch nach Becks Vorstellungen mit keinem Gedanken die Person des „Führers" oder das Regime in seiner Existenz berührt werden sollte. Auf einer ganz anderen Ebene liegt natürlich die Tatsache, daß wäre der Maximalplan Becks realisiert worden das nationalsozialistische Regime so grundlegend umgeformt worden wäre, daß es eben kein totalitäres und damit kein genuin nationalsozialistisches Regime mehr gewesen wäre126. Meinungs- und Glaubensfreiheit, Rechtssicherheit, Autorität, Ordnung und wesentlicher Einfluß der Armee auf die Politik des Staates darauf liefen die Vorschläge Becks letztlich hinaus, und das hätte de facto das Ende des totalitären nationalsozialistischen Herrschaftssystems bedeutet, hätte es etwa zu einer Art autoritärem Einparteienstaat modifiziert. Ob in einem solchen Staatsgebilde Platz für einen Mann wie Hitler gewesen wäre, ob dieser sich damit abgefunden, es überhaupt soweit

vorsah, nicht

-

-

-

-

122 Der Passus in jener Aufzeichnung „nicht nur auf einen möglichen Krieg vorbereiten" ist soweit wir sehen bei allen Interpretationen bisher nicht beachtet worden. 123 Das hat Beck offensichtlich getan, wie aus dem Briefwechsel Manstein(21.7.38)-Beck(31.7.38) hervorgeht (BA/MA H 08-28/4; vgl. Dok.-Anh. Nr. 42 und 43). 121 Mitteilung Generaloberst a. D. Halder vom 10. 11. 1965 an das MGFA. 125 Vgl. unten Seite 334 dieses Kapitels. 126 £)er Verfasser ist daher nicht der Meinung, „daß die von Beck angestrebte innerpolitische Aktion das nationalsozialistische Regime in seiner Substanz treffen sollte" (so Krausnick, Vorgeschichte, S. 320, Hervorhebung vom Verf.), wohl aber, daß diese Aktion das Regime (unbeabsichtigt, aber tatsächlidi) in seiner Substanz getroffen hätte.

-

-

332

VII. Drohende

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

hätte kommen lassen, das sind unlösbare Fragen, die Spekulationen aller Art offenstehen. Ob Beck derartige Überlegungen angestellt und derartige Konsequenzen erwogen hat? Hinter seinen Vorstellungen, so wie sie uns in seinen damaligen Aufzeichnungen wie auch noch in späteren aus der Kriegszeit127 greifbar sind, scheint vielmehr das typische konservativ-nationalistische Mißverständnis über das Wesen des Hitler-Regimes zu stehen. Es wurde als ein der Intention nach autoritärer, von Monopolpartei und Armee (gemäß der „Zwei-Säulen-Theorie") getragener Obrigkeitsstaat preußisch-deutscher Art in modernem Gewände verkannt. Nun läßt sich allerdings eine gewisse Unausgeglichenheit in den Vorschlägen Becks nicht übersehen. Das von ihm angeratene Vorgehen zur Verhinderung eines Krieges ist bei aller feststellbaren Entwicklung im Detail klar durchdacht und unmißverständlich ausgedrückt. Hinsichtlich der damit zusammenhängenden innenpolitischen Flurbereinigung wird man das nicht sagen können. Hier, wo Beck mit seinen Gedanken den Grenzen der Legalität doch recht nahe kommt, bleibt manches sehr vage. Eine letzte Unsicherheit, ein eigentümlich ungeklärter Zug ist all diesen Überlegungen eigen. Sollte das seine Ursache darin haben, daß Beck in seinem Kampf gegen ein Kriegsrisiko sich auf bekanntem Terrain, in seinem eigenen Bereich bewegte, bei den innenpolitischen Überlegungen dagegen stärker von fremden Einflüssen bestimmt worden ist, Einflüssen von Persönlichkeiten, die innerlich in der Konsequenz ihrer Einstellung gegenüber „Führer" und Regime schon weiter waren als der sorgsam sich noch in den Grenzen traditioneller Loyalität haltende Generalstabschef? Beck wollte noch nicht zum Rebellen gegen das Regime, oder gar gegen Hitler werden. Er wollte den der Substanz nach noch legalen Versuch unternehmen, in Verfolgung des Konzeptes der Machtteilhabe das Gewicht der Armee in die Waagschale zu werfen, um Hitler die verhängnisvollerweise fehlende vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Feldherrn und Politiker in Fragen der großen Politik gleichsam aufzuzwingen128. Wohl schloß jenes Konzept das Element einer möglichen Intervention seitens der Armeeführung nicht aus; unaufgebbar aber beinhaltete es das Element der Kooperation. Solange daher grundsätzlich an diesem Konzept festgehalten wurde, wie auch immer man dabei die Akzente setzte und Beck setzte sie gewiß anders als Reichenau -, solange war bei allem Vertrauensschwund gegenüber dem Staatsführer120 ein Durchbruch durch die Barriere der Legalität und Loyalität nicht möglich. Damit mußten aber auch alle Gedanken an irgendwelche innenpolitischen Flurbereinigungen des notwendigen Realitätsgehaltes entbehren. Nicht zuletzt liegen hier die tieferen Gründe des Scheiterns Becks im Sommer 1938. Diese Barrieren, die Beck 1938 noch nicht zu überwinden vermochte, gaben seinen damaligen Überlegungen den Charakter des Unbestimmten, nahmen ihnen den letzten Grad der Entschlossenheit. Gewiß war es dem Generalstabschef bitter ernst bei der Sache, um die es ging. Aber was die Methode zur Klärung des Sachproblems anging, war -

127

Vgl. z.B. die Denkschrift „Das Ziel" und „Der Weg" Gemeinschaftsdokumente für den Frieden 1941-1944). 128

129

(abgedruckt

in: Beck und Goerdeler.

Vgl. oben Anm. 9 dieses Kapitels. Vgl. Abschnitte 2 und 4 der „Einzelheiten am 29. 7.1938", Dok.-Anh. Nr. 41.

VII. Drohende

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

333

seine Entschlossenheit und Gewißheit nicht von gleicher kristallklarer Substanz. Offenbar hat er nach der Monatsmitte doch auch schon ernsthaft an einen Rücktritt gedacht. Manstein beschwor ihn nämlich in einem Brief vom 21. Juli, auf keinen Fall zurückzutreten: „Die Armee verfügt... über Niemand, der nach Können und Charakterstärke Herrn General ersetzen kann .130." Offensichtlich hatte Becks einstiger enger Mitarbeiter und Stellvertreter entsprechende Informationen erhalten131. Vielleicht waren derartige Überlegungen des Generalstabschefs auch teilweise Reaktionen auf die Entscheidung Hitlers vom 13. Juli über die Spitzengliederung; auch mögen sie Folgeerscheinungen seiner Auseinandersetzungen mit Brauchitsch über die Gedanken seiner Denkschrift und Vortragsnotizen gewesen sein. Indessen hat er vielleicht auch unter Osters Einfluß zeitweilig die Möglichkeit eines Rücktritts wieder in den Hintergrund gerückt. Auch Mansteins Brief mag ihn unter Umständen bewogen haben, weiter auf Brauchitsch einzuwirken, denn am 29. Juli, drei Tage nach Erhalt dieses Schreibens132, entstand seine letzte, massive Vortragsnotiz. Bei diesem Vortrag wird ihm wohl klar geworden sein, daß er den Oberbefehlshaber des Heeres nicht im Sinne seiner Vorstellungen zu beeinflussen vermochte. Am 31. Juli beantwortete er nämlich Mansteins Brief und teilte ihm mit, die Voraussetzungen für dessen Vorschlag, im Amt zu bleiben, seien nicht mehr gegeben heute „und seit „wenn sie es überhaupt je getan haben", fügte er resignierend hinzu ein er nur konstatieren133. könne „Zu spät" längerem" Innerlich war also Becks Entschluß zurückzutreten bereits vor dem 31. Juli gefallen. Was nach diesem Datum noch geschah, hatte höchstens auf die Modalitäten, nicht aber auf die Entscheidung selbst noch einen Einfluß. Er hatte Brauchitsch nicht für seine Gedanken gewinnen können. Damit gab es für ihn als ersten Berater des Oberbefehlshabers des Heeres, selbst ohne jede Befehlsbefugnis, keine Wirkmöglichkeit mehr. Vielleicht lag noch eine kleine Chance in der Besprechung der höchsten Generalität des Heeres, die Brauchitsch, gleichsam als Zugeständnis auf Becks Drängen, für den 4. August einberufen hatte134. Indessen wird man dem Ergebnis dieser Besprechung nach Becks erwähntem Entschluß keineswegs mehr jene Bedeutung für den späteren Rücktritt des Generalstabschefs zumessen dürfen, wie man es bisher allgemein getan hat. Die Entscheidung war bereits, wenigstens innerlich, höchstwahrscheinlich aber auch schon zwischen Brauchitsch und Beck, gefallen. Das würde auch erklären, warum nach den kühnen Paukenschlägen der Vorträge vom 16., 19. und 29. Juli die für diese Besprechung von Beck entworfene Rede135, die der Oberbefehlshaber des Heeres halten sollte, so gedämpft in den Schlußfolgerungen war. ..

-

-

-

-

Brief Mansteins an Beck vom 21. 7. 38 (BA/MA H 08-28/4; Dok.-Anh. Nr. 42). Vgl. den ersten Absatz dieses Briefes. 132 Beck zeichnete das Schreiben Mansteins am 26. 7. ab. 133 Antwortschreiben Becks an Manstein vom 31.7.38: Dok.-Anh. Nr. 43. Dieser Brief wurde nicht abgesandt, Beck teilte seinen Inhalt dem General von Manstein bei seinem Besuch am 9. 8. 38 mündlich mit. 130 131

134 135

Vgl. Foerster, S. 138 ff., Krausnick, Vorgeschichte, S. 322. BA/MA H 08-28/4, Schreibmaschinen-Durchschrift, die erste

S. 128 f.

Seite fehlt.

Vgl.

auch Foerster,

VII. Drohende

334

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

In diesem Entwurf stellte Beck eine ausführliche

militärpolitische Lagebeurteilung

an,

zeigte nochmals die Konsequenzen einer gewaltsamen Lösung des tschechischen Problems auf, die nach seiner Ansicht unvermeidlich zu einem Weltkrieg führten. Dieser sei zur Zeit von Deutschland jedoch nicht zu gewinnen: zwar könne die Armee gegenüber der Tschechoslowakei anfangs ihre Aufgaben erfüllen, den Gesamtkrieg aber, in dem dann die Tschechoslowakei die Rolle Serbiens im letzten Weltkrieg spielen würde, müsse Deutschland verlieren; denn so bemerkte Beck vielsagend England würde es schließlich auf die Niederschlagung des neuen Deutschlands ankommen, „das es als Ruhestörer empfindet und von dem es die wichtigsten Elemente englischer Staatsauffassung bedroht glaubt: Recht, Christentum und Toleranz"136. Weiterhin unterstrich Beck die Schwäche des materiallen wie moralischen Potentials Deutschlands. Im Anschluß an diese Lagebetrachtung sollte Brauchitsch so dachte es sich Beck den Generälen darlegen: „Als Oberbefehlshaber und berufener Vertreter des Heeres sehe ich mich verpflichtet, dem Obersten Befehlshaber der Wehrmacht die hier ausgeführten Gedankengänge und Schlußfolgerungen in aller Offenheit vorzutragen. Ich muß von ihm fordern, daß die trotz äußerster Kraftanstrengung begrenzte Leistungsfähigkeit unserer militärischen Machtmittel, die Mängel unserer Versorgungslage und das Fehlen der unentbehrlichen Kraft-

-

-

-

unserem Volkskörper maßgeblich berücksichtigt werden bei der politischen Entschlußbildung. Ich bin mir des Ernstes der Forderung bewußt. Ich setze bei diesem Schritt voraus, daß ich midi in voller Übereinstimmung mit den hier versammelten oberreserven

in

Führern des Heeres befinde. Sollte diese Übereinstimmung bei einem der Herren nicht gegeben sein, so bitte ich, es mir jetzt vor diesem Hörerkreis zu melden." Für den Fall einer allgemeinen Zustimmung sollte der Oberbefehlshaber des Heeres dies ausdrücklich feststellen und die Generalität davon in Kenntnis setzen, daß er Hitler darüber Meldung erstatten würde. Alle Generäle und Offiziere des Heeres sollten verpflichtet sein, diesen Standpunkt als einheitliche Auffassung des Heeres Hitler rückhaltlos gegenüber zu vertreten. Es sei unbedingte Geschlossenheit notwendig. „Die militärische Führung wird ihrer Stimme um so nachdrücklicher Gehör verschaffen können, je geschlossener sie die in ihren obersten Führern verkörperten Werte mit militärischer Erfahrung und soldatischer Entschlossenheit zur Geltung bringt." Im Vergleich zu den in der Denkschrift vom 16. Juli und den Vortragsnotizen vom 16., 19. und 29. Juli enthaltenen Vorschlägen und Forderungen war dieser Entwurf Becks doch erheblich zurückhaltender: er zielte darauf ab, die Übereinstimmung der Ansichten über die Lage und deren Beurteilung innerhalb der höheren Generalität herzustellen; er enthielt die Forderung des Oberbefehlshabers des Heeres, diese gemeinsame Meinung stets und nachdrücklich vor Hitler zu vertreten, sodann die Ankündigung, daß Brauchitsch Hitler diese Übereinstimmung melden werde. Es folgte offenbar als Höhesten

ein

punkt gedacht

Appell

inneren Geschlossenheit und die

-

zur

einigermaßen

dunkle

-

136

Dieser Gedanke ähnelt dem in seiner Denkschrift vom 5. 5. 38, Abschnitt II 2, sowie den Gein seinem Memorandum ausgeführt hatte.

danken, die der Fregattenkapitän Heye

VII. Drohende

Kriegsgefahr: Bede und die Sudetenkrise

335

Formulierung: „Ich muß daher von Ihnen, meine Herren, verlangen, daß Sie auf Gedeih und Verderb hinter mir stehen und mir bedingungslos auf dem Wege folgen, den ich zum Besten unseres deutschen Vaterlandes gehen muß." Aus diesen Worten wird nicht recht klar, welchen Weg Brauchitsch nach Becks Willen gehen sollte, auf dem ihm bedingungslos zu folgen er die höheren Generäle des Heeres aufforderte. Kein Wort mehr von einem Kollektivrücktritt, keine Andeutung mehr von „klärenden innenpolitischen Auseinandersetzungen"! Sollte Brauchitsdi sich inzwischen Becks diesbezüglichen Vorschlägen bereits versagt haben? Der schon gefaßte Rücktrittsentschluß Becks137 läßt das mit einiger Wahrscheinlichkeit vermuten. Aber nicht einmal zu einer Stellungnahme entsprechend diesem

Entwurf fand sich Brauchitsch bereit, als er am 4. August in Berlin vor die Gruppenbefehlshaber und Kommandierenden Generäle trat. Auf dieser Besprechung wurde statt dessen zunächst die Denkschrift Becks vom 16. Juli verlesen138. Sodann erhielt der General Adam, der zum Oberbefehlshaber im Westen vorgesehen war, das Wort, um über den Stand der dortigen Befestigungen und Kräfteverhältnisse zu berichten. Er stellte die Lage in den dunkelsten Farben dar139. Beck wie Brauchitsch billigten seine Ausführungen; damals forderte der Oberbefehlshaber des Heeres die anwesenden Generäle zu rückhaltloser, freimütiger Meinungsäußerung über Einstellung des Volkes, Haltung der Truppen und Ausbildungsstand des Eleeres im Hinblick auf einen Krieg auf. Das Ergebnis war, wie Generalfeldmarschall Freiherr v. Weichs später bezeugte140, die „in verschiedener Form vorgebrachte, ziemlich übereinstimmende Feststellung, daß die Stimmung von Volk und Truppe im allgemeinen gegen einen Krieg eingestellt sei, daß Aufbau, Ausbildung und Ausrüstung zwar für einen Kampf gegen die Tschechoslowakei ausreichten, einem Kampf gegen europäische Großmächte nicht gewachsen seien". Einer der Generäle bemerkte, ein Weltkrieg würde das Ende Deutschlands bedeuten141. Lediglich zwei abweichende Meinungsäußerungen erfolgten, wiewohl sachlich volle Übereinstimmung herrschte. Weichs berichtete, daß General v. Reichenau „aufgrund seiner persönlichen Kenntnis des Führers davor [warnte], daß einzelne Generale, wie Brauchitsch meinte, Hitler über diese Streitfrage ansprechen sollten. Damit würde man nur das Gegenteil erreichen .142" General Busch allerdings beschränkte sich nicht wie Reichenau auf einen Diskussionsbeitrag über die Taktik, die man zweckmäßigerweise bei diesem Schritt anwenden sollte, sondern äußerte Zweifel, ob es grundsätzlich richtig und zweckmäßig für den Soldaten sei, sich in Angelegenheiten zu mischen, die Sache des Politikers seien. Mindestens also Busch stellte sich auf den Standpunkt absoluten soldatischen Gehorsams. Das führte zu einem scharfen Ausfall Becks gegen Busch, dem er sehr heftig erklärte, daß ein generalstabsmäßig ausgebildeter Offizier in der Lage sein müsse, militärpolitische .

137 138

.

Vgl. Briefwechsel Manstein-Beck (s. o. Anm. 123 dieses Kapitels).

Nach Aussagen von Generaloberst a. D. Adam (Krausnick, Vorgeschichte, S. 322) habe Beck diese Denkschrift verlesen, nach Weichs, Erinnerungen, Bd II, S. 65, habe Brauchitsch es getan. 139 Vgl. Rönnefarth, Bd I, S. 397, und Krausnick, Vorgeschichte, S. 322 f. 149 Rönnefarth, Bd II, S. 65. 141 Ebd. und Krausnick, Vorgeschichte, S. 323. 141 Ebd.

VII. Drohende

336

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

Fragen zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen143. Brauchitsch stellte abschließend die

Übereinstimmung der Führer des Heeres in der Ablehnung eines Krieges fest und schloß mit der Bemerkung, daß ein neuer Weltkrieg das Ende der deutschen Kultur bedeuten würde. Einmütigkeit der Generalität über die für einen langen Krieg größeren Ausmaßes unzureichende Gesamtlage Deutschlands war jedoch nicht entscheidend. Entscheidend war auch nicht die durchgehende Ablehnung einer Kriegspolitik unter den augenblicklichen Gegebenheiten. Entscheidend war, daß bei aller Einmütigkeit in der Sache keine Überdie aus dieser Lage zu ziehenden Konsequenzen erzielt wurde144. Der Oberbefehlshaber des Heeres bemühte sich nicht, die Generäle auf die in Becks Denkschrift aufgewiesenen Konsequenzen einzuschwören145. Er distanzierte sich praktisch von den Vorschlägen seines Generalstabschefs. Eine Einheitsfront der höheren Generalität kam nicht zustande. Nicht nur die Einwände der Generäle Busch und v. Reichenau waren symptomatisch dafür; auch daß Rundstedt den Oberbefehlshaber des Heeres am Schluß der Besprechung bat, er möge die Verhandlungen bei Hitler so führen, daß um die Heeresleitung keine neue Krise eintrete146, macht deutlich, wie wenig günstig die Voraussetzungen für Becks Vorschläge innerhalb der höchsten Führer des Heeres waren. Indessen entbehrte nicht nur diese Gruppe der höchsten Offiziere der Einheitlichkeit der Ansichten, die für Becks Vorstellungen und Absichten die Vorbedingung war. Auch unter den Teilnehmern der erwähnten Abschlußbesprechung der damaligen jährlichen Generalstabsaufgabe soll anschließend an die Besprechung eine hitzige Diskussion über Becks Beurteilung der Lage und der Chancen Deutschlands in einem Konflikt mit der Tschechoslowakei entstanden sein147. Also auch unter der jüngeren Generation höherer Generalstabsoffiziere herrschte keine Einhelligkeit in dieser grundlegenden Frage. Selbst Becks einstiger Stellvertreter Manstein stimmte nicht mit der grundlegenden und alle Vorschläge und Konsequenzen des Generalstabschefs bedingenden Ansicht überein, die höchste militärische Führung sei für die politischen Entschlüsse mitverantwortlich. In seinem Brief vom 21. Juli148 stimmte er dem Generalstabschef zwar darin zu, daß „die notwendige Präponderanz der Heerführung" bei der „auf derBasis eines Vertrauensverhältnisses zwischen dem Führer und dem O.K.H." neu zu ordnenden Spitzenorganisation erlangt werden müsse; aber über die Punkte, in denen Beck seine Verantwortlichkeit angesprochen sah,

einstimmung über

143

Ebd. und

Krausnick, Vorgeschichte, S. 323. Vgl. Weichs, Erinnerungen, Bd II, S. 65 : „Sachlich

herrschte volle Übereinstimmung. Nur in der anzuwendenden Taktik wichen zwei Herren von der Ansicht Brauchitschs ab." W5 Tjer Vorwurf, den Foerster, S. 140, dem ObdH macht: „Kein Wort war gefallen über den ultimativen Schritt, den er nach Becks Vorschlag im Namen der Generalität bei Hitler tun sollte", trifft nicht zu; denn von einem ultimativen Schritt war in Becks Ansprache-Entwurf nicht mehr die Rede, nur die Forderung, das militärische Potential bei der politischen Entschlußbil144

dung „maßgeblich" zu berücksichtigen. 148 Weichs, Bd II, S. 65. Generaloberst

a. D. Halder berichtet, daß Reichenaus sehr geschickt vorgetragene Stellungnahme die anderen Generäle beeindruckt habe. (Mitteilung vom 10.11.1965 an das MGFA.) 147 Röhricht, S. 120 f. 148 Vgl. Dok-Anh. Nr. 42

VIL Drohende

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

337

teilweise abweichende Ansichten. Vor allem riet er Beck „sich von der Last des Teils der Verantwortung innerlich frei [zu] machen, der letzten Endes Sache der politischen] Führung bleibt, und damit die Freiheit [zu] gewinnen, die Sicherstellung eines militärischen] Erfolges gegen die Tschechei mit voller Überzeugung in die Hand zu nehmen". In diesen Worten offenbart sich eine dem Generalleutnant v. Manstein wohl kaum bewußt gewordene, grundsätzliche Diskrepanz der Auffassungen über die politische Mitverantwortung von Offizieren in höchsten Positionen. Wenn das der Fall bei langjährigen engsten Mitarbeitern Becks war, wieviel weniger war dann eine Einhelligkeit bei der übrigen Generalität zu erwarten? War es unter diesen Umständen verwunderlich, daß Brauchitsch sich nicht dazu verstand, den ihm von Beck gewiesenen Weg zu gehen? Er hielt nicht die ihm von seinem Generalstabschef vorbereitete Rede, sondern ließ Beck selbst seine Denkschrift vorlesen; er unternahm schon gar nicht die ihm von Beck nahegelegte ultimative Demarche bei Hitler, sondern ließ diesem die Denkschrift Becks über den Heeresadjutanten vorlegen149. Damit vermied er es, sich selbst zu exponieren; damit distanzierte er sich aber auch nicht unbedingt von Becks Ansichten. Daß er die Denkschrift überhaupt zu Hitler gelangen ließ, mag gar als ein Anzeichen des Einverständnisses mit der darin enthaltenen sachlichen Feststellung angesehen werden. Zu weitergehenden Initiativen aber war er weder bereit noch nach dem Ergebnis der Besprechung vom 4. August in der Lage. Nervlich bereits durch die bisherigen Auseinandersetzungen mit Beck einigermaßen strapaziert, fühlte er sich einer Auseinandersetzung mit Hitler innerlich wohl nicht gewachsen, zumal dieser in einem erregten Gespräch ihm gegenüber dem Generalstabschef das Recht zu derartigen Darlegungen rundweg abgesprochen hatte150. Zweifellos teilte er Becks Analyse der Lage und gewiß war auch er davon überzeugt, daß ein Krieg großes Unheil für die Nation heraufbeschwören würde. Er hat deshalb seitdem mehrfach eindringlich vor einer Gewaltlösung gewarnt151, aber da er zu wissen glaubte, daß er mit der Methode, die Beck ihm vorschlug, bei Hitler keinen Erfolg hätte, war er auch nicht geneigt, seine ohnehin prekäre Position beim „Führer" dadurch zu ruinieren, daß er sich für die ihm unbequemen Pläne seines Generalstabschefs einsetzte. So kam ein methodischer Gegensatz zu dem menschlichen Gegensatz zwischen Beck und Brauchitsch hinzu. Das Verhältnis zwischen den beiden Männern wurde dadurch noch mehr belastet. Brauchitsch verstrickte sich im Laufe der Entwicklung immer mehr in das typische Dilemma des schwachen Oberbefehlshabers. Er sah sich dem Drängen seines Generalstabschefs ausgesetzt, dessen Forderungen er eine innere Berechtigung nicht absprechen konnte; dessen Vorschlag eines frontalen Vorgehens wollte und konnte er nicht aufgreifen. Er wollte restiktiv vorgehen, bremsend, abbiegend152. Gleichzeitig mag er sich in dem forcierten Bemühen, seine Autorität zu bewahren, hatte

er

-

-

149

Foerster, S.

150

Aussage Brauchitschs in IMT XX, S. 621. Vgl. dazu Keitels enttäuschte Bemerkung, festgehalten

151

und 388. 152 Hierzu und 19. 7. 1966. «2

141.

zum

folgenden Mitteilung

im

Generalleutnant

Tagebuch Jodl, a.

D. Siewert

IMT an

XXVIII, S.

das MGFA

378

vom

VII. Drohende

338

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

in einer Art Trotzreaktion gesträubt haben, das zu tun, was ihm sein Chef im Gefühl intellektueller und fachlicher Überlegenheit aufzuzwingen trachtete, obwohl er dessen innere Notwendigkeit kaum leugnete, eine menschlich wie sachlich auf die Dauer unerfreuliche und unerträgliche Lage. Hitler hatte inzwischen erfahren, daß der Oberbefehlshaber des Heeres die führenden Generäle aufgefordert habe, ihn zu unterstützen, um die politische Führung von ihrer abenteuerlichen Politik abzubringen153. Er ergriff nun seinerseits die Initiative. Am 10. August berief er in ungewöhnlicher Übergehung der höchsten militärischen Führer deren Gehilfen, die im Konfliktfall als Generalstabschefs der Heeresgruppen und Armeen vorgesehenen jüngeren Generäle, auf den Berghof154. In mehrstündigen Darlegungen versuchte er ihnen seine These darzulegen, daß die Westmächte sich in einen bewaffneten Konflikt Deutschlands mit der Tschechoslowakei niemals einmischen würden. Indem er sich an die höheren Führergehilfen wandte, mag er gehofft haben, die jüngere Generation für seine Auffassung gewinnen zu können. Er erlebte jedoch eine Enttäuschung. Beck hatte diese Generäle zuvor nach Berlin bestellt, sie mit seiner Denkschrift vom 16. Juli bekannt gemacht und zur Stellungnahme in gleichem Sinne verpflichtet155. So brachten sie auf dem Berghof ebenfalls ihre starken Bedenken zu den militärischen Aspekten eines Konfliktes vor. Hitler wurde aus ihrem Kreis die Ansicht Becks vorgehalten, daß der Westwall höchstens drei Wochen gehalten werden könne. Erregt hielt Hitler ihnen daraufhin entgegen, dann tauge die ganze Armee nichts mehr; die Stellung werde nicht drei Wochen, sondern drei Jahre gehalten156. Fünf Tage später, am 15. August, versammelte Hitler die höheren Generäle auf dem Truppenübungsplatz Jüterbog157, um erneut auf sie einzuwirken, auch wohl um möglichen Auswirkungen der Denkschrift Becks entgegenzuarbeiten158. Zunächst versuchte er, durch Vorführung von Schießversuchen gegen Betonbauten verschiedener Stärke die von der Generalität vorgebrachten Bedenken bezüglich S. 186, berichtet, daß der General v. Reichenau, der immer noch persönliche BeziehunHitler unterhielt, diesem berichtet habe, der ObdH habe den kommandierenden Generälen die Denkschrift Becks in einer Besprechung vorlesen lassen, wobei Reichenau behauptet habe, dies hätte bei den Befehlshabern einen ungünstigen Eindruck hinterlassen. Das deutet darauf hin, daß eventuell Reichenau bei Hitler gegen Brauchitsch intrigierte. In diesem Zusammenhang nennt Keitel auch Guderian. Träfe das zu, dann wäre es ein weiteres Zeichen dafür, auf welchen schwachen Füßen Becks Plan einer gemeinsamen Generalsdemonstration gestanden hat. Vgl. auch Jodl-Tagebuch, Eintrag vom 10. 8. 38, IMT XXVIII, S. 374. Hinsichtlich Reichenaus Kontakte zu Hitler vgl. Lüttwitz, fol. 100 f. 154 Jodl-Tagebuch, Eintrag vom 10. 8. 38, IMT XXVIII, S. 374; Foertsch, S. 175 f.; Manstein, S. 336 f.; Buchheit, Beck, S. 168; O'Neill, S. 159 f.; Keitel, S. 208 (verlegt irrtümlich diese Besprechung in das Jahr 1939). 155 Aufzeichnung eines Teilnehmers, des späteren Generals d. Inf. Felber, in: BA/MA H 08-110/1,

Keitel,

153

gen

S. 9 150

157 158

zu

(Nachlaß v. Gaertner). Foertsch, S. 175. ebd., sowie Krausnick, Vorgeschichte,

S. 329.

gefährlich Hitler Becks Einfluß auf die Generalität einschätzte, geht aus seinen Worten hervor, die er gegenüber Brauchitsch bei der Übergabe der Denkschrift Becks gebrauchte: „Wer hat sie alles gelesen?" (Foerster, S. 141.) W/ig

VII. Drohende

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gegen die tschechischen Bunker zu entkräften. AnGenerälen schließend legte er im Kasino den die außenpolitischen Grundlagen seines Entschlusses dar, das tschechische Problem noch in diesem Herbst gewaltsam zu lösen. Nachdrücklich betonte er, daß mit einem Eingreifen der Westmächte unter Chamberlain und Daladier nicht zu rechnen sei. England sei rüstungsmäßig, Frankreich psychologisch nicht dazu bereit. Deutschland könne damit rechnen, daß Ungarn sich ihm anschließen würde, auch Polen würde sich vielleicht beteiligen. Der Schwerpunkt der Ansprache Hitlers lag eindeutig in einer Widerlegung der in den Denkschriften Becks dargelegten Auffassungen, auch wenn er nicht direkt darauf Bezug nahm. Keitel ist zwar der Meinung, daß die Ausführungen Hitlers eine „schneidende Kritik dem Generalstab und seinem Chef gegenüber" dargestellt hätten150. Der spätere Generalfeldmarschall Freiherr v. Weichs aber berichtet, daß die Rede Hitlers zwar einer ausgesprochenen Schärfe entbehrte, aber die Kenntnis einer Denkschrift oder einer Vereinbarung unter der Generalität voraussetzte sowie ein „ausgesprochenes Mißtrauen" gegenüber den Generälen des Heeres spüren ließ160. Trotz seiner Bemühungen vermochte Hitler bei der Mehrzahl seiner Zuhörer keineswegs alle Bedenken auszuräumen. Die Besorgnis, ob nicht die Westmächte eventuell doch marschieren würden, blieb bei ihnen auch weiterhin bestehen. Beck war über das Geschehene und Gehörte zutiefst erregt. Wie Gisevius berichtet161, machte er einen letzten Versuch, bei Brauchitsch eine Klärung herbeizuführen und ihn zu einer endgültigen Stellungnahme zu den nunmehr offen verkündeten Kriegsplänen Hitlers zu veranlassen. Brauchitsch entzog sich jedoch der geforderten Unterredung. Noch Jahre danach ergriff diesen meist so beherrschten Mann in der Rückerinnerung starke Erregung darüber, dann hat er gegenüber Vertrauten seine empörte Enttäuschung über Brauchitschs Verhalten ausgedrückt162. Damals muß für Beck innerlich der Bruch mit seinem Oberbefehlshaber erfolgt sein; der Generalstabschef war nun endgültig entschlossen, seinen im Grunde längst gefaßten Entschluß zurückzutreten, zu verwirklichen. Das war um so notwendiger geworden, als sich inzwischen, wohl seit Monatsende im besonderen Maße, innerhalb des OKH unhaltbare Zustände entwickelt hatten. Beck hatte sich mehr und mehr zurückgezogen; Brauchitsch seinerseits war durch das Verhalten seines Generalstabschefs ihm gegenüber schwer verstimmt. Die Verhältnisse erforderten eine baldige Klärung. Hoßbach schreibt dazu: „Innerhalb des Generalstabes bot sich das Bild, daß bei aller Verehrung für den hoch angesehenen Generalstabschef in seinem Verhalten stellenweise ein Faktor erblickt wurde, der den Ablauf der Dienstgeschäfte und damit das Vertrauen innerhalb des Generalstabes beeinträchtigte163." Nach der letzten Auseinandersetzung mit Brauchitsch, noch ganz unter dem Eindruck der Ausführungen Hitlers in Jüterbog, bat er drei Tage später, am 18. August, den Oberbefehlshaber des Heeres, seine Enthebung vom Posten des Chefs des

eines wirksamen

159

189

Keitel, S. 183. Krausnick, Vorgeschichte, S. 329, Anm. 348.

181

Ebd.

182

Gisevius, S. 344. Hoßbach, S. 148.

163

Angriffsverfahrens

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Generalstabes des Heeres zu erwirken164. Am 21. August erhielt er die Mitteilung165, daß Hitler seinem Ausscheiden aus dem Amt des Chefs des Generalstabes des Heeres zustimme. Der Oberbefehlshaber des Heeres teilte ihm in zwei Aussprachen am 24. und 26. August mit, Hitler ersuche ihn, „aus außenpolitischen Gründen" den Rücktritt vorerst nicht publik werden zu lassen. Trotz inneren Widerstrebens und starken Unwillens fügte Beck sich und verzichtete darauf, seinen Abgang Generalstab, Offizierkorps und Armee in aller Offenheit und Deutlichkeit bekanntzugeben. Damit brachte er sich zweifellos um den möglichen Effekt seines Rücktritts in Truppe und Nation166. Später hat er es auch bedauert, Hitlers Forderung aus formaler Disziplin erfüllt zu haben, und gab zu, damit einen Fehler begangen zu haben167. Damals aber mochte er wohl auch deswegen auf einen Eklat verzichtet haben, weil er noch hoffte, eventuell ein hohes Truppenkommando, etwa den Oberbefehl eines Gruppenkommandos, zu erhalten168. Aber das war offensichtlich mehr Illusion als realisierbare Hoffnung. Brauchitsch hätte sich, nach allem was geschehen war, kaum für eine solche Lösung stark gemacht, wenngleich er sie auch kaum zu verhindern versucht hätte160. Hitler ging auf die Anregung, Beck zum Gruppenoberbefehlshaber zu ernennen, nicht ein170. So war der Abschied, wie er ihn am 28. August von seinen engeren Mitarbeitern im Generalstab nahm, endgültig. Er schilderte ihnen nochmals sein Ringen um die unabhängige, freie, schöpferische Aufgabe des Generalstabes und schloß mit der eindringlichen Mahnung zur Unabhängigkeit der Urteilsbildung und Charakterfestigkeit im Handeln171. Nach fast zweimonatigem Stillschweigen Beck war inzwischen zur Disposition für den Mob.-Fall gestellt worden forderte ihn Hitler auf, „die Folgeaus zu Schritt vom seinem ziehen172. Beck trat am 31. Oktober 1938 unter rungen" Juli zum Er Generalobersten in den Ruhestand. hat damit zweifellos nach jener Beförderung Devise gehandelt, die er Fritsch gegenüber einmal formuliert hatte: „Was der Chef des Generalstabes lehrt, danach muß er auch handeln. Ein Zwiespalt zwischen Worten und -

-

Vgl. dazu die Darstellung bei Foerster, S. 142 ff., und Buchheit, Beck, S. 170 ff. Keitel, S. 336, gibt nur einen Teil des Wortlautes von dem Schreiben wieder, mit dem Beck seine Ablösung forderte. Vgl. auch Weizsäcker, S. 173, der Beck drängte, im Amt zu bleiben. Dort auch die Gründe, 164

die Beck gegen sein Verbleiben im Amt anführte. 165 Hierzu und zum folgenden Foerster, S. 142 ff. 186 Die Parallele zum Ausscheiden des Generalobersten 167 188 169

Gisevius, S. 345. Vgl. Foerster, S.

v.

Fritsch

drängt sich auf.

151.

So Generalleutnant a. D. Siewert (Mitteilung vom 19. 7. 1966 an das MGFA). Dazu auch Foerster, S. 151. 170 Aus einem Brief Becks vom 20.10. 38 an Hoßbach (Hoßbach, S. 221) geht hervor, daß Hitler zunächst Becks Ernennung zum Oberbefehlshaber eines Gruppenkommandos akzeptiert haben, dann aber mit der Begründung abgelehnt haben soll, das dafür notwendige Vertrauensverhältnis könne nicht wiederhergestellt werden. Vgl. auch Keitel, S. 336, und Zs. Nr. 125 (Röhricht): Hitler habe seither den „ewigen Neinsager" mit seinem Haß verfolgt. Nach Schlabrendorff, S. 44, soll Hitler zu Justizminister Gürtner gesagt haben, Beck sei der einzige Mann, den er fürchte; der sei in der Lage, etwas gegen ihn zu unternehmen. 171 Hoßbach, S. 149. 172 Hoßbach, S. 221.

VII. Drohende

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

341

Handeln wäre für ihn tödlich und von verderblichster Wirkung auf den Generalstab. Sieht er sich daher vor eine Lage gestellt, die nach gewissenhafter Prüfung subjektiv nur diesen Ausweg für ihn lassen würde ganz einerlei, daß seine Auffassung objektiv falsch sein kann -, so muß er im Interesse des Generalstabes seinen Platz räumen. Zweifel an seiner Gradlinigkeit sind ausgeschlossen173." Folgerichtig gab er in jenen Tagen als Ergänzung zu seiner Juli-Denkschrift die Notiz zu den Akten: „Um unsere Stellung den Historikern gegenüber in der Zukunft klarzustellen und den Ruf des Oberkommandos sauberzuhalten, wünsche ich als Chef des Generalstabs zu Protokoll zu geben, daß ich mich geweigert habe, irgendwelche nationalsozialistischen Abenteuer zu billigen. Ein endgültiger deutscher Sieg ist eine Unmöglichkeit174." Die Unbedingtheit und Kompromißlosigkeit dieses Standpunktes, auch die hohe Auffassung von seinem Amte, sind von bewundernswerter Klarheit und Eindeutigkeit. Sie waren die Prinzipien, von denen Beck sidi in seinem Dienst leiten ließ. Auf der konkreten menschlichen Ebene werden indessen daraus resultierende Entschlüsse und Schritte nicht ohne innere Schmerzen und Schwierigkeiten realisiert. Becks Handeln war vom Prinzip her konsequent; seine Hoffnung, als Gruppenoberbefehlshaber vielleicht im Dienst bleiben zu können, war eine Illusion, die wohl der Liebe zum Beruf entsprang, dem so viele Jahre des Lebens dieses einsamen Mannes gewidmet waren; ihn aufzugeben mußte ihm schmerzhaft sein. Sein Rücktritt war konsequent; er war aber nicht zuletzt auch ein Ergebnis menschlicher Spannungen, die mit sachlichen Differenzen eng verbunden, gar aus diesen zu einem Gutteil entstanden waren. Der Rücktritt entsprang schließlich nicht allein der Treue zu jenen Prinzipien; er war auch ein Ausdruck der Resignation. Beck hatte angesichts der äußeren Sachlage, aber auch aufgrund seiner inneren Begrenzungen zu diesem Zeitpunkt keine andere Möglichkeit. Der Durchbruch nadi vorn, etwa zu einem staatsstreichähnlichen Vorgehen, eventuell auch ohne den Oberbefehlshaber des Heeres oder gar gegen dessen Willen, war ihm nicht nur aus äußeren Gründen versperrt, sondern auch deshalb, weil er innerlich noch nicht zu einem derartigen Entschluß fähig war. Eine Lösung, die wenigstens formal noch im Rahmen einer relativen Legalität und Loyalität blieb, die zudem grundsätzlich das Regime und das Staatsoberhaupt ausklammerte, war äußerlich unmöglich. Aber das Odium einer offenen Auflehnung zu tragen, war ihm innerlich noch nicht gegeben. Damals konnte er für sich selbst noch nicht die Schranken militärisch-traditionellen Denkens durchbrechen175. Er bedurfte einer Frist, um die vergangenen Ereignisse zu verarbeiten und sich selbst innerlich Klarheit zu verschaffen. -

BA/MA H 08-28/2 (Denkschrift vom 9. 12. 35). Nach der Erinnerung überliefert von Siegfried Westphal, Heer in Fesseln. Aus den Papieren des Stabschefs von Rommel, Kesselring und Rundstedt, Bonn 21952, S. 75. Einige Monate später, im November 1938, soll Beck gegenüber einem Generalstabsoffizier geäußert haben: „Schließlich saß ich auf dem Stuhl Moltkes und hatte ein Erbe zu verwalten. Deshalb konnte ich nicht untätig mitansehen, wie diese Verbrecherbande einen Krieg vom Zaune brach." (Hans Doerr, Der Große Chef, in: Wehrkunde 1957, S. 549, Anm. 5.) 175 Offensichtlich war auch ein radikaler Oppositioneller wie Oster bis zu Becks Rücktritt noch nicht zu einem Staatsstreich bereit. Graml, Oster, S. 33, schreibt, als Konsequenz aus Becks vergeh173

174

VIL Drohende

342

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

Überwinden mußte er zudem die schmerzliche Enttäuschung, daß die oberste Führungsschicht des Heeres nicht so geschlossen war, wie er es in seiner idealen Auffassung sich erhofft haben mag. Er setzte mit seiner Konzeption einer geschlossen auftretenden Generalsfronde das Vorhandensein eines in sich homogenen und untereinander solidarisch verbundenen Korps der obersten Heeresführer voraus. Das war ein Trugschluß. Die der führenden Generalität gemeinsame Generalstabsschulung und Erziehung vermochte zwar eine einigermaßen einheitliche Meinungsbildung im Sachlichen zu gewährleisten, was sich in der Einmütigkeit über die Lagebeurteilung am 4. August zeigte. Es gab jedoch keine in überfachlichem Ethos gründende Übereinstimmung innerhalb der obersten Führungsschicht des Heeres mehr, welche die moralische Basis für eine aus der Erkenntnis einer unhaltbaren Situation resultierende Tatbereitschaft hätte abgeben können. Im Letzten lag Becks Irrtum darin begründet, daß er in einer hochgespannten idealistischen Vorstellung vom Menschen lebte, die ihn glauben ließ, rechte Erkenntnis veranlasse auch zum rechten Handeln. Daß Erkenntnis und Handeln auseinanderklaffen konnten, insbesondere bei der obersten Generalität des Heeres, ja sogar bei dem Oberbefehlshaber des Heeres, das mußte ihm damals eine schmerzliche Enttäuschung sein. So zog er sich vorerst ins Privatleben zurück, nicht ohne allerdings die Sache, für die er eingetreten war, bei seinem Abgang noch zu fördern. Gisevius berichtet176, daß Beck die Ansicht geäußert habe, sein Abtreten könne im Hinblick auf die Opposition geradezu eine Verbesserung darstellen; denn sein Nachfolger Halder war in seiner Gegnerschaft gegen das nationalsozialistische Regime eindeutig. Halder sei jedoch nicht durch die Auseinandersetzung während der FritschKrise belastet und könne daher um so ungefährdeter einen Gegenschlag vorbereiten. Beck hatte gute Gründe für seine Ansicht; er kannte Halder seit langem und hatte ihn selbst gedrängt, seine Nachfolge anzutreten. Halder hatte 1937 bei den Herbstmanövern Fritsch ein gewaltsames Vorgehen gegen Hitler nahegelegt; vollends nach Fritschs Sturz drängte er auf „praktische Opposition"177. Beck sah auch, daß Halder, der ein gutes Verhältnis zu Brauchitsch besaß178, damit eine bessere Wirkmöglichkeit besaß als er. Wiewohl sein Verhältnis zu seinem Nachfolger menschlich nie besonders eng gewesen war, schätzte er Halder als hochqualifizierten Generalstabsoffizier und aufrechten, entschlossenen Kritiker des Nationalsozialismus. So empfahl er in den Tagen seines Rücktritts seinen Nachfolger wärmstens der Aufmerksamkeit der Oppositionellen. Er wies Goerdeler auf ihn hin, lichem Bemühen ergab sich für Oster die „einzig übrig gebliebene Form der Opposition, nämlich ." der Staatsstreich, und zwar gegen Hitler selbst gerichtet. Diese Konsequenz zog dann audi Halder, Becks Nachfolger. 176 Gisevius, S. 345. 177 Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 338 ff. Halder hatte bereits gegen den 15.8.38, eine Anregung Osters aufgreifend, eine Reise des ihm gut bekannten Industriellen Boehm-Tettelbach nach London ins Auge gefaßt, der die britische Regierung zu einer klaren Stellungnahme gegen Hitlers Absichten veranlassen und sie von den Bestrebungen der deutschen Opposition unterrichten sollte. Zu dieser Reise kam es aber erst am 2. 9. 38. 178 Halder hatte als Ia der Ausbildungsabteilung Brauchitsch zeitweilig als Abteilungsleiter zum Vorgesetzten gehabt (Mitteilung Generaloberst a. D. Halder vom 10. 11. 1965 an das MGFA). .

.

VII. Drohende

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

343

bereitete Kontakte zwischen Halder und dem ihm in oppositioneller Einstellung eng verbundenen Staatssekretär v. Weizsäcker vor179. Er riet seinem Nachfolger, sich in heiklen Fragen an Oberstleutnant Oster zu wenden180. Beck scheiterte mit seinem Vorhaben, er half aber trotz seines Rücktritts weiter mit, die Weichen für einen neuen Ansatz zu stellen181. Sein Nachfolger Halder trat in seine Fußstapfen, wenn auch mit anderen Absichten und unter anderen Bedingungen. In der ersten Hälfte des Jahres 1938 hatte die bewaffnete Macht folgenschwere Schwächungen ihrer Position erlitten. Kennzeichnend dafür waren Blombergs Sturz und die daraufhin erfolgende Übernahme des gesamten Wehrmachtoberbefehls durch Hitler, die ungesühnte Intrige gegen Fritsch, schließlich Becks Rücktritt. Spätestens im Verlauf der Kontroverse über ein Vorgehen gegen die Tschechoslowakei, die mit dem Abgang des Generalstabschefs endete, war der Anspruch auf Entscheidungsmitbestimmung gescheitert. Einen ausschlaggebenden Einfluß auf die Politik des Staatsoberhauptes auszuüben, war der Armeeführung offensichtlich nicht mehr möglich zuvor war immerhin der Anschein eines solchen Einflusses infolge der Übereinstimmung der vermeintlichen Revisionspolitik Hitlers mit den politischen Zielvorstellungen des höheren Offizierkorps vorhanden gewesen. Becks Kampf vom Sommer 1938 war gleichsam das letzte Gefecht um die Bewahrung dieses Konzeptes, das bei aller Verschiedenheit Fritsch und Beck genauso wie Reichenau seit 1933 durchzusetzen trachteten, vor allem das sie im „Dritten Reich" auch durchsetzen zu können glaubten. Becks Bestrebungen gingen, wie dargelegt, daher nicht allein gegen eine verhängnisvolle Kriegspolitik, sondern stellten sich im Sommer 1938 konkret als ein Ringen um Einflußnahme auf die politische Entscheidung über Krieg und Frieden dar und waren insofern nicht zuletzt auch ein Kampf für jenes Konzept. Das hohe Ethos politischen Verantwortungsbewußtseins, das sich in Becks Kampf damals manifestierte, darf den Blick nicht vor der Erkenntnis verstellen, daß es auch um das spezifische Interesse der militärischen Führung, also ihre Stellung im Staat Hitlers, ging. Dieses Anliegen ging in diesem Fall konform mit vitalen nationalen Interessen. Die Forderung nach Mitbestimmung bei speziellen politischen Entschlüssen, vornehmlich wenn -

-

179

-

Weizsäcker,

S. 174. Hierzu und zu Vorstehendem auch Krausnick, Vorgeschichte, S. 341 und 335, Anm. 370, sowie Gisevius, S. 345. 181 Im übrigen scheinen sich damals doch die Kontakte unter den einzelnen in der Fritsch-Krise zusammengerückten oppositionellen Persönlichkeiten wieder etwas gelockert zu haben. Kurz vor dem Tage, an dem Beck sein Rücktrittsgesuch einreichte, fuhr der alt-konservative Ewald von Kleist-Schmenzin, ein von Anbeginn an entschlossener Gegner Hitlers, mit Wissen von Canaris und unterstützt von der Abwehr nach London, um in Gesprächen mit Lord Vansittard, Lord Lloyd und Winston Churchill die britische Regierung von Hitlers festem Entschluß, die tschechische Frage mit Gewalt zu lösen, in Kenntnis zu setzen was in London allerdings bereits bekannt war und eine klare Aussage der britischen Regierung zu provozieren, daß sie dies nicht dulden würde. Bekäme die deutsche Opposition eine derartige „Ermutigung und Unterstützung von außen", so würde dies der Auftakt zu einem Sturz des Regimes sein können. Die Mission Kleists hatte nicht das erhoffte Ergebnis. Brit. Doc. II, S. 683 ff., Ritter, S. 178 ff., und Krausnick, Vorgeschichte, S. 330 ff., sowie die ausführliche Darstellung bei Scheurig, Kleist, S. 150 ff. 180



-

344

VIL Drohende

Kriegsgefahr: Beck und die Sudetenkrise

Krieg und Frieden gehe, konkretisierte sich in dem Anspruch Becks, das höhere Führerkorps der Armee habe im Extremfall über die Sicherung der nationalen Existenz auch gegenüber dem Staatsführer zu wachen. Mit diesem Anspruch geriet er zwangsläufig in Konflikt mit der politischen Führungsinstanz der totalitären Diktatur; in diesem Konflikt vermochte er sich nicht durchzusetzen. Sein Scheitern und sein Abgang bedeuteten im Grunde die Aufgabe des Anspruches auf Entscheidungsmitbestimmung, womit zugleich die Substanz jener „Politik" der Armeeführung aufgegeben wurde182. Der neue Oberbefehlshaber des Heeres begnügte sich mit restriktiver Tendenz des Abwehrens, Abbiegens und Auffangens von bereits gefällten Entscheidungen; höchstens versuchte er noch von der Grundlage seines Ressorts aus und mit rein fachlichen Argumenten bei der Entscheidung von Entschlüssen der politischen Führung partiell und fallweise der militärischen Vernunft Gehör zu verschaffen. Von einem universalen Anspruch auf Teilhabe am Entsdieidungsprozeß jedoch konnte nicht mehr die Rede sein. Der neue Chef des Generalstabes dagegen tat kurz nach Übernahme seines Amtes bereits den entscheidenden Schritt in die Verschwörung. Damit begann in doppelter Hinsicht um die Jahreswende eine neue es um

Phase im Verhältnis

182

von

Armee und

Regime.

Die Marine hatte sowieso nie diesen Anspruch erhoben; die Luftwaffe war durch ihren Oberbefehlshaber so eng mit Hitlers Regime verbunden, daß ihre Führung keine eigenständige militärische Kraft sein konnte.

VIII. DER KAMPF GEGEN DEN KRIEG

Die

September-Verschwörung 1938

den das Heer im Sommer 1938 erlitten hatte, konnte sich nicht deutlicher ausdrücken als durch den Aufstieg seines großen Rivalen, der SS. Ein Erlaß Hitlers vom 17. August1 verzichtete unter Aufhebung der 19352 getroffenen Regelung auf zahlenmäßige Begrenzung aller bewaffneten SS-Verbände und erkannte sie als stehende Truppe in Friedens- und Kriegszeiten an. Der Erlaß erstreckte sich nicht nur auf die SS-Verfügungstruppen, sondern insbesondere auch auf die Totenkopf verbände und deren Verstärkungen; jeder organisatorische Zusammenhang mit der Wehrmacht im Frieden wurde nunmehr ausdrücklich verneint. Die Verantwortung für Organisation, Ausbildung, Ausrüstung und Einsatzfähigkeit lag ausschließlich beim Reichsführer SS3. Wie sehr dies einer Niederlage der Armee gleichkam, geht aus einem Erfahrungsbericht des Persönlichen Stabes des Reichsführers SS vom Januar 1939 hervor, in dem es rückblickend heißt, die Wehrmacht habe die vom Reichsführer SS entworfene und durch den erwähnten Hitler-Erlaß vom 17. August 1938 festgelegte Regelung annehmen müssen. Die Wehrmacht habe „eingesehen, daß die SS-Einheiten sich ein Lebensrecht erworben haben und daß sie sich mit diesem neuartigen Gebilde ein für alle Mal abzufinden" habe4. Angesichts dieser Entwicklung und in Anbetracht der noch nicht überwundenen Schockwirkung, die aus der Blomberg-Affäre und der Fritsch-Krise resultierte, sowie der Verwirrung innerhalb der Führung des Heeres, die eine Folge des Konfliktes zwischen Beck und Brauchitsch war, nimmt es nicht wunder, daß sich im Offizierkorps teilweise ein Gefühl der Schwäche und Unsicherheit gegenüber der expansiven Dynamik des Regimes bemerkbar machte. Besorgt erklärte ein Offizier des Oberkommandos des Heeres Ende August dem britischen Militärattache, bei zu intransigenter Haltung der Heeresführung gegenüber den Nationalsozialisten laufe die Armee Gefahr, „die Zügel aus den Händen" zu verlieren und in Himmlers Griff zu geraten5. Eindrucksvoller kann die Ohnmacht der Armeeführung nicht illustriert werden: sie war leisezutreten gezwungen, um nicht Himmler in die Hände zu fallen. Triumphierend stellte der Verfasser des erwähnten SS-Erfahrungsberichtes fest, der Wehrmacht sei jetzt langsam die Erkenntnis gekommen, daß die „Zähigkeit des Reichsführers SS doch wohl stärker ist als ihre [d. h. der Wehrmacht]6 innere Ablehnung und ihr Widerstand gegen Neuerscheinungen" des Hitler-Staates wie Verfügungstruppe und TotenkopfDer

machtpolitische Terrainverlust,

.

1

2 3 4 5 8

Zur Interpretation dieses Erlasses vgl. Buchheim, Die SS Das Herrschaftsinstrument, S. 200 f. Vgl. Kap. VI dieser Arbeit. Vgl. aber Abschnitt II A 2 dieses Erlasses sowie Seraphim, SS-Verfügungstruppe, S. 576 ff. -

Akten Persönlicher Stab Reichsführer SS (BA NS 19/29, fol. 5 und Zit. nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 328. Zusatz vom Verf.

6).

.

.

VIII.Der

346

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

verbände es sind7. Halder fand also bei der Übernahme des Amtes des Generalstabschefs des Heeres8 eine Lage vor, die der Heeresführung nur noch äußerst geringes Manövrierfeld bot. Das wog um so schwerer, als sich ab Anfang September die außenpolitische Situation krisenhaft zuspitzte. Das Verantwortungsbewußtsein der Männer an der Spitze des Heeres wurde dadurch in einem ungewöhnlichen Maß auf die Probe gestellt. Immer deutlicher war zu erkennen, daß es Hitler gar nicht auf eine friedliche Lösung des sudetendeutschen Problems ankam. Am 4. September hatte Präsident Benesch auf Drängen der Westmächte die Forderungen der Sudetendeutschen nach Autonomie akzeptiert. Statt jedoch diesen Schritt zur Grundlage einer vernünftigen Lösung zu machen, brach die von Berlin gelenkte Sudetendeutsche Partei die Verhandlungen ab. Ihre Führer gingen nach Deutschland und riefen von dort aus zur offenen Revolte auf. Die Sudetendeutsche Partei erhielt eindeutige Anweisung, Zwischenfälle und Provokationen zu inszenieren, um die Spannungen auf den Höhepunkt zu treiben9. Gleichzeitig sekundierte Goebbels mit seiner gesamten Propagandamaschinerie und entfesselte einen regelrechten Nervenkrieg gegen die Tschechoslowakei zur systematischen Bearbeitung des deutschen Volkes und der Weltöffentlichkeit. Der Rundfunk erhielt beispielsweise vom Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda am 8. September die Anweisung, „jeden unnötigen Angriff auf ein anderes Land, auch jede Herabsetzung und Kränkung peinlichst zu vermeiden. Ausgenommen hiervon ist der Staat, der im Augenblick den Terror gegen die Deutschen losbrechen läßt, denen er die Lebensrechte verweigert10." Durch eine zweckgerichtete Nachrichtenpolitik wurde bewußt versucht, die Spannung weiter zu steigern und gleichzeitig das Volk psychologisch vorzubereiten. Einen Höhepunkt brachten die Ausführungen Hitlers während des Nürnberger Reichsparteitages am 12. September. Er richtete demagogisch scharfe Angriffe gegen Benesch, aber auch was die oppositionellen Kräfte aufmerksam zur Kenntnis nahmen gegen eine gewisse Oberschicht in Deutschland, die keinen Sinn für die Größe der Zeit habe und voller Feigheit sei. Das alles hatte eine wie Ulrich v. Hassell damals in seinem Tagebuch schrieb11 „internationale Gewitterstimmung" hervorgerufen, in der es jederzeit zu kriegsauslösenden Komplikationen kommen konnte. In dieser Lage trat General Franz Halder sein Amt als Chef des Generalstabes des Heeres an. Halders Persönlichkeit ist oft geschildert worden. Übereinstimmend wird an ihm überragendes fachliches Können, nahezu unerschöpfliche Arbeitskraft, breitgefächertes und tiefgehendes Interesse an historisch-politischen und technisch-naturwissenschaftlichen Fra-

-

-

-

gen

gerühmt.

Unbestritten ist auch seine

Verwurzelung

im christlichen Glauben12. Aus alter Offiziers-

Akten Persönlicher Stab Reichsführer SS (BA NS 19/29, fol. 6). Die offizielle Ernennung Halders erfolgte zum 1.9.38 (Mitteilung Generaloberst a.D. Halder an das MGFA vom 15. 10. 1965). 9 Vgl. Rönnefarth, Bd I, S. 491 ff. 19 Ebd. 7 8

11 12

Hassell,

S. 17.

Bor, S. 17.

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

347

familie stammend, deren Söhne seit über dreihundert Jahren Soldaten geworden waren, war soldatische Tradition ihm durchaus lebendige Überlieferung. Auseinander gehen jedoch die Ansichten bei der tieferen Beurteilung des Charakters des neuen Chefs des Generalstabes des Heeres. Mehrfach wurde Halder als sensible und weiche Natur geschildert und in Gegenüberstellung mit der charaktervollen Gestalt Becks als schwankende Hamletfigur gezeichnet13. Andere dagegen lehnten diese Charakterisierung ab und nennen ihn einen bei aller feinen Gemütsstruktur doch ganzen Mann und höchst achtbaren Charakter14. Die kritischeren Urteile sind indessen in starkem Maße auch Reflexe der internen Spannungen innerhalb der damaligen Oppositionen, die nicht zuletzt aus dem Gegensatz zwischen den innerlich freieren, daher auch ungehemmter drängenden, nicht mehr im Amt oder nur in weniger wichtigen Stellungen ohne spezifische Verantwortung befindlichen Aktivisten und dem aus der Bindung eines hohen Amtes heraus konspirierenden General resultieren. Die Tatsache, daß Beck selbst den Charakter seines späteren Nachfolgers sehr positiv beurteilt hat, ebenso das entschlossene Drängen Halders während der Fritsch-Krise, nicht zuletzt auch die innere Standfestigkeit, wie sie bei seinen militärischen Führungshandlungen zum Ausdruck kam15, dies alles läßt fraglos einen festgegründeten Charakter erkennen. Methodisch ist es allerdings nicht restlos überzeugend, bei einem hohen Militär von kühler Ruhe bei der Operationsführung und von souveräner innerer Festigkeit in kritischen Lagen auch auf ebensolche Charaktereigenschaften im Bereich des politischen Handelns, insbesondere in hochgradigen Ausnahmesituationen, zu schließen16, wenngleich ein relativer Bezug in dieser Hinsicht gewiß nicht völlig geleugnet werden darf. Indessen reagiert jeder Mensch gegenüber Problemen und Aufgaben aus ihm vertrauten und fachmäßig durchschaubaren Bereichen anders als bei jenen, die ihm aus einem ungewohnten oder gar fremden Bereich entgegentreten. Die Eigenart des Betreffenden wird dabei aber Konsequenz und Intensität seines Handelns bis zu einem gewissen Grad wohl doch beeinflussen. Weiterhin darf die Wahrscheinlichkeit innerer Entwicklung, auch zeitweiligen Schwankens gemäß den jeweiligen Gegebenheiten und veränderten Einsichten nicht außer acht gelassen werden; gerade dies scheinen die extremen Kritiker nicht zu sehen. Der Halder von 1938/39 muß nicht unbedingt identisch sein mit jenem von 1940/41. Ereignisse wie Kriegsausbruch, Polenfeldzug, „Sitzkrieg", vor allem aber der überwältigende Sieg im Westfeldzug werden das Denken, Planen und vor allem das Handeln von Offizieren in hohen Positionen nachhaltig beeinflußt haben. Daher ist es eher angemessen, an Hand der Fakten und Ereignisse das Wollen und Handeln einer geschicht13 So z. B. Gisevius und auch Hassell; differenzierter Krausnick, Vorgeschichte, S. 336. Vgl. auch die bei Zeller, S. 42 ff., wiedergegebenen kritischen Beurteilungen sowie die Ausführungen bei Kosthorst, S. 51, und in Kap. XI dieser Arbeit. 14 Ritter, Goerdeler, S. 183, und Kosthorst, S. 50 ff. 15 Es sei hier nur erinnert, mit welcher Ruhe und Entschlossenheit Halder im Frankreichfeldzug gegenüber der zeitweilig geradezu hysterischen Nervosität Hitlers und den lagebedingten Schwankungen mittlerer Kommandostellen seine Operationsabsichten durchzuhalten sich bemühte.

18

So

Ritter, Goerdeler, S. 183.

348

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

liehen Persönlichkeit in den einzelnen Phasen der Entwicklung zu erschließen und zu verstehen versuchen als generalisierende Urteile abzugeben. Sidier bezeugt ist Halders scharfe, bisweilen sich in urtümlichen Haßausbrüchen äußernde Ablehnung Hitlers, in dem er schon verhältnismäßig früh nicht nur eine verderbliche Gefahr für Deutschland, sondern die Manifestation des Bösen schlechthin erblickte17. Er hatte in Hitler den amoralischen Menschen erkannt, dem jedes positive Verhältnis zur Wahrheit fehlte, den egozentrischen, hemmungslos nach Macht strebenden „absoluten Revolutionär" und Tyrannen18. So sprach er kurz nach seiner Ernennung zum Chef des Generalstabes des Heeres gegenüber Gisevius von Hitler als dem „Blutsäufer" und dem „Verbrecher", als dem „Geisteskranken" mit „sexualpathologischer Veranlagung"19. Das war nicht immer so gewesen; im Jahr 1934 hatte er ja noch in einem Brief an Beck zwischen „dem reinen Wollen des Kanzlers" und den „wahrhaft minderwertigen" Trabanten Hitlers zu differenzieren sich bemüht20. Aber er war späterhin, je mehr sich ihm in den vermeintlichen „bedenklichen Nebenerscheinungen" des Regimes das wahre Gesicht der nationalsozialistischen Herrschaft offenbarte, zu der Erkenntnis gekommen, daß die Wurzel des Übels bei dem Manne zu suchen war, der nun die Geschicke Deutschlands bestimmte. Der 30. Juni 1934 sowie der Kampf gegen die Kirchen und das Christentum waren wesentliche Etappen dieses Erkenntnisprozesses. Die „Röhm-Revolte" war ihm „nur eine, die Deutschlands kranker Körper und vielleicht nicht die gefährlichste Eiterbeule Die ebenfalls schon Ende 1934 als eine er Verhältnisse sah innenpolitischen trägt"21. einem zu Punkt führen die könne, „wo die Staatsautorität gefährliche Entwicklung an, auf dem Spiele steht"22. Schon zu jener Zeit hielt er „vorbeugende Maßnahmen" für „dringend geboten"23, womit er gewiß keinem Staatsstreich das Wort redete, wohl aber doch einer „die Kräfte richtig wertende[n], vorausschauende[n] und ihr Schwergewicht geschickt geltend machende[n] Vertretung der Armee", durch die vorbeugend viel getan werden könne, „was uns später die schreckliche Rolle des bewaffneten Friedensstifters im eigenen Volk ersparen kann"24. Der Gedanke, daß die Armee zur Wahrung „der Staatsvon sich aus ihr was immer Halder darunter verstanden haben mag autorität" Gewicht nachdrücklich, sogar unter Einsatz ihrer Machtmittel, geltend machen könnte, war diesem Offizier demnach nicht von vornherein undenkbar. Als konkrete Möglichkeit scheint er diesem Gedanken erstmals unmittelbar vor und während der Fritsch-Krise .

.

.

...

-

-

bezeugt sogar einer seiner schärfsten Kritiker, Gisevius, S. 348 f., wodurch andere spätere Zeugnisse bestätigt werden: Bor, S. 106; IMT XII, S. 234; Nürnberg, OKW-Prozeß, Fall XII, Dt. Protokoll, S. 1822. Vgl. auch Ritter, Goerdeler, S. 184, und Krausnick, Vorgeschichte, S. 337 f. 18 Krausnick, Vorgeschichte, S. 338: dort Belege für diese Auffassung. 17

Das

19

Gisevius, S.

29

Vgl. BA/MA H 08-28/1 (Halders Brief vom 6. 4. 34).

21

22 23 24

349.

Ebd. sowie Foerster, S. 27 f. Lagebericht Halders vom 28.12. 34: Dok.-Anh. Nr. 14. Ebd.

Foerster, S. 28.

VIII. Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

349

nähergetreten zu sein. Die Fritsch-Krise ist wohl für ihn wie für manche anderen Oppositionellen auch der entscheidende Wendepunkt gewesen. Bereits im Herbst 1937 soll er Fritsch eine gewaltsame Beseitigung Hitlers nahegelegt haben25, und nach der infamen Intrige gegen den ObdH drängte er dann bei Beck auf Übergang zu praktischer Opposition. Diese innere Entwicklung Halders ging allerdings wohl nicht so linear und folgerichtig, wie es in einer zeitraffenden Darstellung auf wenigen Zeilen aussehen mag. Dieser seinem Wesen und äußeren Habitus nach so bürgerlich korrekte Mann, der aus der Tradition einer alten Soldatenfamilie wie aus langjährigem, prägendem Dienst im Generalstab an sorgfältige Pflichterfüllung und sachgerechtes Dienen gewöhnt war, empfand den „Zwang zum Widerstand als ein fürchterliches und qualvolles Erleben"26. Die Perversion der Staatsführung hatte ihn auf den Weg zur Auflehnung geführt. Dabei war gerade dieser Mann alles andere als ein geborener Frondeur; er war allerdings wohl realistischer als Beck. Sein nüchterner Sinn ließ ihn Becks Bemühungen für irreal und illusionär halten. Er wollte einen neuen und seiner Ansicht nach angemesseneren Ansatz im Kampf gegen Hitler wagen. Sein ausgeprägter Sinn für die Grenzen des Möglichen führte ihn einerseits zu einem radikaleren Ansatz, eben Weil er den legalen Weg nicht für gangbar hielt, hinderte ihn anderseits aber wohl gelegentlich auch, kühn ins Ungewisse zu stürmen. Bei Übernahme seines Amtes erklärte er Brauchitsch offen, er lehne Hitlers Kriegspläne ebenso nachdrücklich ab, wie es sein Vorgänger getan habe; er sei entschlossen, „jede Möglichkeit zum Kampf gegen Hitler auszunutzen, die dieses Amt biete"27. Brauchitsch drückte Halder spontan beide Hände. Aus diesem Verhalten des ObdH sprach allerdings wohl mehr die Erleichterung über Halders Bereitschaft, das Amt zu übernehmen, und die damit gesicherte reibungslose Neubesetzung des Postens des Generalstabschefs als eine ausdrückliche Zustimmung zu irgendwelchen, den Rahmen des Fachlichen überschreitenden Oppositionsplänen. Halders Vorgehen in der Folgezeit wird im Vergleich zu Becks Verhalten fraglos durch stärkeren Realismus und größere Nüchternheit gekennzeichnet. Er ließ sich vorerst nicht mehr in die seit Hitlers Entscheidung vom Juni fruchtlosen Auseinandersetzungen über das Spitzengliederungsproblem ein. Ebenfalls trieb er gemäß den Weisungen Hitlers die operative Planung, an der sich Beck bereits seit geraumer Zeit desinteressiert gezeigt hatte, tatkräftig voran, was auch ihn allerdings nicht davor bewahrte, über operative und taktische Einzelfragen sehr bald mit Hitler heftig zusammenzustoßen28. Gleichzeitig jedoch machte er sich daran, Vorsorge zu treffen, unter allen Umständen den Ausbruch eines Krieges notfalls mit Gewalt zu verhindern. Dabei ging er indessen in Methode und Planung seine eigenen Wege. Er war überzeugt, daß man im Vergleich -

25 28 27

-

Bor, S. 112. Ritter, Goerdeler, S. 184. Kosthorst, S. 50; dazu auch Mitteilung

das MGFA. 28 Vgl. den von

Keitel,

S. 190

von

Generaloberst a.D. Halder

f., geschilderten charakteristischen Einzelfall.

vom

10.11.1965

an

350

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

Becks Ansatz sehr viel massivere Mittel anwenden müsse. Beck hatte ihm empfohlen, mit Goerdeler Kontakt aufzunehmen. Darauf ging Halder, wie scheint, nicht ein29. Zudem war Goerdeler seit August wieder auf Auslandsreisen und bis Dezember nicht verfügbar. Auch darf man wohl vermuten, daß Halder wenig geneigt war, eine zwar so kluge und aktivistische, aber doch ohne Amt und Funktion konkret wenig nützliche Persönlichkeit, wie es Goerdeler war, bei seinen Planungen und Vorbereitungen allzu frühzeitig heranzuziehen30. Überhaupt war Halder im Rahmen seiner oppositionellen Aktivität ausgesprochen vorsichtig bei persönlichen Kontakten. In dieser Hinsicht unterschied sich die nun sich immer mehr verdichtende September-Verschwörung erheblich von jenem ungeordneten Zusammenwirken oppositioneller Persönlichkeiten zur Zeit der Fritsch-Krise. Er nahm vielmehr, unter Vermeidung allzu umfangreicher, weil gefährlicher, personeller Fühlungnahmen, nur mit jenen militärischen und zivilen Amtsträgern Verbindung auf, mit deren Entschlossenheit und Wirkungsmöglichkeit man rechnen konnte. Becks Rat, sich in allen heiklen Fragen an Oberstleutnant Oster zu wenden, griff Halder auf. Oster war ihm aus seiner Dienstzeit im Generalkommando in Münster bekannt. Über seine oppositionelle Einstellung, wenn nicht sogar seine bisherige konspirative Aktivität, war er orientiert. Es kam daher in der Folgezeit zu einem von Halders Seiten zwar vorsichtigen, aber doch recht engen Zusammenspiel zwischen den beiden Offizieren. Halder suchte bei Oster zunächst ausführliche politische Orientierung und Information, insbesondere auch über die Einstellung der Westmächte, vor allem Englands. War Klarheit darüber doch die wesentliche Voraussetzung, um die Konsequenzen der Risikopolitik Hitlers beurteilen zu können, sowie Grundlage aller konspirativen Überlegungen. Daher griff Halder jetzt den ihm von Oster vorgetragenen Plan auf, einen Vertrauensmann nach London zu entsenden, und erklärte sich bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Der Gedanke zu dieser Demarche stammte schon aus den letzten Tagen der Amtszeit Becks, der ihn gebilligt hatte31. Oster hatte schon am oder um den 15. August herum den sowohl ihm wie Beck und Halder seit langem gut bekannten rheinischen Industriellen und ehemaligen Major Boehm-Tettelbach, mit dem er schon häufiger die innenpolitische Lage und auch etwaige Möglichkeiten einer inneren „Flurbereinigung" diskutiert hatte, nach Berlin gerufen, wo er mit ihm das Problem erörterte32, London zu einer klaren Stellungnahme zu veranlassen und von dem Streben der Opposition zu unterrichten. Boehm-Tettelbach reiste am 2. September nach London. Dort traf er mit dem ehemaligen britischen Rheinlandkommissar Piggott und einem Offizier des Intelligence Service zusammen. Er legte zu

29

Gisevius, S. 346.

39

Vgl. die Bemerkung von Gisevius,

S. 346, Halder habe Distanz zu Goerdeler gehalten. Zs. Nr. 240, Bd V, und die Aussagen Halders, Spruchkammerverfahren (BA/MA H 92-1/3, fol. 6 f.) sowie die Darstellung bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 339 ff. Neuerdings auch Helmut Krausnick und Hermann Graml, Die Alliierten und der deutsche Widerstand, in: Die Vollmacht des Gewissens. Der militärische Widerstand gegen Hitler im Kriege, Bd II, Frankfurt a. M.-Berlin 1965, S. 487 ff. (fortan zit. Krausnick-Graml). 32 Nach Zs. Nr. 240, Bd V, hat Halder damals Boehm-Tettelbach nur ganz kurz gesehen. 31

Hierzu und

zum

folgenden

VIII.Der

ihnen dar, wie

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

notwendig

eine entschiedene

Haltung

der britischen

Regierung

351

Hitler

gegenüber sei. Wenn Hitler einer friedlichen Regelung im Wege stünde, so wären deutsche Militärs bereit, den Diktator zu stürzen. Nach einer späteren Mitteilung jenes erwähnten Geheimdienst-Offiziers soll diese Botschaft dem diplomatischen Chefberater des britischen Außenministers, Sir Robert Vansittard, übermittelt worden sein, der sich indessen nach Kriegsende nicht mehr erinnern konnte oder wollte. Boehm-Tettelbach orientierte sogleich nach Rückkehr Oster und durch ihn auch Halder. Da er keinen unmittelbaren Kontakt mit maßgeblichen britischen Politikern hatte aufnehmen können, mag man diese Episode für historisch belanglos ansehen33. Indessen beweist sie zumindest die Entschlossenheit Halders bereits für den Zeitpunkt seiner Amtsübernahme. Das unbefriedigende Ergebnis der Mission Boehm-Tettelbadis war indessen für die Sache der Opposition nicht allzu gravierend. Einige Tage später erhielt der britische Außenminister durch die Gebrüder Kordt34 die Mitteilung, die deutsche Opposition würde, falls die britische Regierung ihr durch feste Haltung und eindeutige Meinungsäußerung die unter den gegebenen Umständen unerläßliche Hilfestellung zukommen lasse, gegen Hitler gewaltsam vorgehen35. Halder hat zwar von dieser Mission Kordt damals keine Kenntnis erhalten, Erich Kordt jedoch war von Oster über die Entsendung Boehm-Tettelbadis unterrichtet worden36 eine Tatsache, die man als Indiz für mangelnde Koordinierung innerhalb der oppositionellen Kräfte ansehen könnte37. Im Zusammenhang mit seinem ebenso vorsichtigen wie intensiven Streben nach politischer Information und nach konspirativen Kontakten trat Halder sogleich nach seiner Amtsübernahme in engere Beziehungen zu Staatssekretär v. Weizsäcker, die Beck vorbereitet hatte38. Da den beiden Amtsträgern der direkte dienstliche Verkehr nicht gestattet war, mußte hierbei auf sorgfältige Tarnung geachtet werden. Einerseits spielten sich diese Fühlungnahmen unter dem Vorwand abendlichen familiär-gesellschaftlichen Verkehrs ab, andererseits fungierte Canaris als Vermittler, mit dem Halder ebenfalls näheren Kontakt aufnahm, wenngleich er ihn allerdings als einen „von Natur schwierigen Gesprächspartner" empfand30; Weizsäcker war als ehemaliger Seeoffizier dem Abwehrchef besonders verbunden40. Für Halder war Canaris aufgrund seiner Position an der Spitze des leistungsfähigen Abwehrapparates eine wichtige Informationsquelle. Die zentrale Vermittlerfigur zwischen den verschiedenen Oppositionskräften war und blieb der geschäftige -

33 34

So Ritter, Goerdeler, S. 478. Dr. Theo Kordt, deutscher Geschäftsträger in

des Reichsaußenministers. 35 36 37

London;

Dr. Erich

Kordt, Chef des Ministerbüros

Vgl. Weizsäcker, S. 177 ff., und Kordt, S. 245 ff. Kordt, S. 258, und Krausnick, Vorgeschichte, S. 341, Anm. 394. Andere Fühlungnahmen mit den Westmächten behandelt bei Krausnick-Graml,

S. 487 ff., und Ritter, Goerdeler, S. 186 und 478 f. Dadurch erhielt London zusätzlich Informationen. 38 Weizsäcker, S. 174; Krausnick, Vorgeschichte, S. 341, Anm. 396; Zs. Nr. 240, Bd I. 39 Vgl. Halders Aussage bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 341, Anm. 399, sowie Weizsäcker, S. 174

und 176.

40

Weizsäcker, S. 174 f.; nach Zs. Nr. 240, Bd V, fungierte dabei

Oster als Mittelsmann.

VIII.Der

352

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

August ein Treffen Erich Kordts mit Brauchitsch arrandem ObdH sich bei der allerdings auf wohlwollendes Zuhören beschränkt hatte. giert41, Nun war er mit seinem Einfallsreichtum und seiner rastlosen Einsatzbereitschaft, deren Kehrseite allerdings ein über alle Vorsichtsmaßregeln und über die Gebote realistischer Nüchternheit sich oft hinwegsetzendes Temperament war, der nie versagende Mittelsmann. Die Verschiedenheit der Naturen, insbesondere aber die erforderliche sorgsame konspirative Technik bewogen den Chef des Generalstabes des Heeres zwar, seinen Verkehr mit Oster auf das notwendige Maß zu beschränken, aber er nahm ihn doch zur Anbahnung entscheidender Verbindungen in Anspruch. Über den späteren Generalquartiermeister Wagner hatte Halder bereits Kontakt zu Schacht bekommen, eine Verbindung, die dem Generalstabschef zur Klärung der politischen Aspekte der Aktion besonders wertvoll sein mußte. Der Generalstabschef wünschte Klarheit über das, was politisch nach der Beseitigung Hitlers zu geschehen habe; er suchte Beratung durch eine politisch erfahrene und sachverständige Persönlichkeit. Zudem wußte Halder von Schachts Beziehungen zu Witzleben. Vor allem aber bot Schachts formale Zugehörigkeit zum Reichskabinett42 hinsichtlich Tarnung und Ausweitung der Beziehungen mancherlei Vorteile. Es kam daraufhin seit Anfang September zu zwei Besprechungen zwischen Halder und Schacht, an deren Zustandekommen beide Male Oster entscheidend beteiligt war43. Nach Gisevius habe Halder ohne große Umschweife Schacht gefragt, ob er bereit sei, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen, falls Hitler die Dinge bis zum Kriege triebe und ein gewaltsamer Umsturz unumgänglich würde44. Nach Halders späterem Bericht45 habe der erste Besuch nur den Zweck einer näheren Fühlungnahme gehabt. Das Ergebnis dieser Kontakte war jedenfalls, daß Schacht sich für eine neue Regierung zur Verfügung stellte46 sowie fortan ohne allerdings eine zentrale Rolle dabei zu spielen47 die geplante Aktion in enger Fühlung mit Oster und Gisevius unterstützte. Auf Osters und wohl auch Schachts Anregung hin empfing Halder Gisevius, um sich über die Frage der Haltung der Polizei und eines eventuellen Einsatzes des vielfältig gegliederten Polizeiapparates im Falle einer Aktion orientieren zu lassen48. Beide kamen überein, daß Gisevius in enger Fühlung mit Oster die polizeiliche Seite des Putsches vorbereiten sollte. In der folgenden Zeit arbeitete Gisevius in Witzlebens Amtsräumen wo ihm dieser unter dem Vorwand privater Tätigkeit auf familiengeschichtlichem Gebiet eine Arbeitsmöglichkeit gegeben hatte entsprechende Pläne aus, wobei er, von Nebe und Oster mit entsprechenden Unterlagen versehen, neben dem eventuellen Einsatz der Polizei auch Maßnahmen zur Oster. Er hatte bereits Ende

-

-

-

-

41

Ritter, Goerdeler, S.

42

Schacht

44

Gisevius, S. 347. Krausnick, Vorgeschichte, S. 343, Anm. 403. Vgl. Schacht, Abrechnung, S. 79 ff., und ders., Ritter, Goerdeler, S. 479. Gisevius, S. 348 ff.

185 ff. immer noch Reichsminister ohne Geschäftsbereich. 43 Vgl. Gisevius, S. 347; für die erste wird auch Oberst Wagner als Vermittler genannt: Krausnick, Vorgeschichte, S. 343, Anm. 403.

43

46 47 48

war

76

Jahre, S. 491, sowie IMT XII, S. 233 ff.

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

353

Ausschaltung der SS- und SD-Dienststellen ins Auge faßte40. Dabei bereitete besondere Schwierigkeiten, daß auf militärischer Seite keinerlei Unterlagen für den Fall eines Ausnahmezustandes mehr geführt wurden, weil bekanntlich die „Sicherung des Reiches nach Innen" seit 1934 in den Aufgabenbereich der SS übergegangen war. Erleichtert wurde Gisevius' Arbeit in gewisser Weise durch die vorsichtige Verständigung mit Polizeipräsident Graf Helldorf, dessen Vizepräsident, Graf Fritz-Dietlof v. d. Schulenburg, ebenfalls der Konspiration nahestand50. Die wichtigste Seite des Vorhabens war nach der Natur der Sache die militärische Durchführung. Als Träger der militärischen Kommandogewalt einer solchen bedurfte man unumgänglich, da Halder als Generalstabschef keine Befehlsbefugnis über Verbände -

besaß bot sich der Befehlshaber im Wehrkreis III (Berlin), General v. Witzleben, an. Der beliebte Truppenführer war ein eindeutiger Gegner Hitlers51; bekanntlich hatte Beck an ihn schon im Zusammenhang mit der Möglichkeit innenpolitischer Auseinandersetzungen gedacht. Inzwischen hatte Oster, der früher eine Zeitlang Witzlebens Untergebener gewesen war52, ihn über die Hintergründe der Fritsch-Affäre aufgeklärt. Die verantwortungslose Kriegsplanung Hitlers hatte diesen schlicht-aufrechten Soldaten ebenfalls empört. Als Halder daher an ihn herantrat53, war er ohne Umschweife bereit und „über die Möglichkeiten, die sich boten, völlig im Bilde"54. Witzleben war ein gerader, unkomplizierter Offizier, für den sich das Problem des Vorgehens gegen Hitler „offenbar in glücklicher Weise vereinfachte"55. So soll er gesagt haben: „Ich verstehe nichts von Politik, aber das brauche ich ja nicht, um zu wissen, was da zu machen ist"56. Sein späteres Verhalten wie auch alle vorliegenden Aussagen bestätigen die Charakteristik, die Gisevius nach eingehender Kenntnis von ihm gibt57: „Politische Finessen lagen ihm nicht. Er war ein typischer Front-

.

.

.

S. 352 und 365. S. 170 ff.: Bei einer Besprechung im Polizeipräsidium soll für den Fall eines Umsturzes in Berlin eine neutrale Haltung der Polizei in Aussicht genommen worden sein. Dagegen gibt Halder (Spruchkammerverfahren, BA/MA H 92-1/3, fol. 6) an, Helldorf habe sich „mit seiner ganzen Polizei Witzleben zur Verfügung gestellt". Diese widersprüchlichen Aussagen lassen vermuten, daß in dieser Frage noch keine ausreichende Abstimmung erfolgt war. 51 Über Witzleben vgl. Annedore Leber, Das Gewissen entscheidet, Bereiche des deutschen Widerstandes in Lebensbildern 1933-1945 (in Zusammenarbeit mit Willy Brandt und Karl Dietrich Bracher), Berlin 41960, S. 231. Vgl. audi Zeller, S. 28 (das Aufkommen Hitlers habe ihn nie tief berührt, die Politik überließ er anderen), ferner KB, S. 271. 52 Im Wehrkreiskommando VI, Münster, dessen Chef des Stabes Witzleben eine Zeitlang war. 53 Gisevius, Bd II, S. 42, und seine Aussage in: IMT XII, S. 235, Witzleben sei erst damals durch Schacht gewonnen worden, stehen entgegen: a) die Notiz Becks vom 19.7.38; b) Halders Aussage, zit. bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 334, Anm. 407. Gisevius (Ausgabe in einem Band, o. J.), S. 360, korrigierte auch seine früheren Aussagen. 54 Aussage Halders bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 345, Anm. 407. 55 Ebd., S. 344. 56 Rainer Hildebrand, Wir sind die Letzten, Neuwied/Bern 1949, S. 92. 57 Gisevius, S. 360. Vgl. auch die Aussage von Schacht, Abrechnung, S. 22: „Ein gerader, aufrechter Offizier, ein geborener und erzogener Edelmann, mehr Korpsführer als Generalstäbler." 49

Ebd.,

50

Vgl. Krebs,

23

354

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

Herz auf dem rechten Fleck hatte. Vielleicht nicht sonderlich belesen, sicherlich nicht den hohen Künsten zugetan, dafür fest in den ritterlichen Traditionen des alten preußischen Offizierkorps verwurzelt, dem Landleben verbunden, ein passionierter

offizier, der das

Jäger..." Für Vorbereitung und Durchführung einer Aktion war es von Wichtigkeit, daß es Witzleben gelungen war, den Kommandeur der ihm unterstehenden 23. Division (Potsdam), General Graf v. Brockdorff-Ahlefeldt, und den Kommandeur des Infanterie-Regiments 50 in Landsberg a. d. Warthe, Oberst v. Hase, für die Konspiration zu gewinnen58. Brockdorff war aus voller Überzeugung bereit, zum entsprechenden Zeitpunkt mit seiner Division auf Berlin zu marschieren. Er unternahm im Laufe der weiteren Vorbereitungen zusammen mit Gisevius eine ausgedehnte Autofahrt durch Berlin und Umgebung, um die zu besetzenden oder auszuschaltenden Objekte zu erkunden und Anhaltspunkte für Art und Umfang des notwendigen Truppeneinsatzes zu gewinnen59. Damit waren vorerst die wichtigsten technischen Planungen in Gang gesetzt worden. Hinter der vordergründig scheinbar so reibungslos anlaufenden konspirativen Aktivität lassen sich indessen nicht unbedenkliche Entwicklungen feststellen. Es begann bereits damit, daß Gisevius auf Schacht einwirkte, von dem Generalstabschef, der um ein Zusammentreffen an einem dritten Ort gebeten hatte, zu verlangen, der General solle zu ihm kommen. „Der hohe Offizier sollte" so schrieb Gisevius60 „zu dem Zivilisten kommen! In dem Erscheinen in Schachts Wohnung lag so etwas wie eine zusätzliche Bindung." Hier wird ein kaum mehr verhohlenes Mißtrauen offenbar, das nicht geeignet war, für eine mit so hohem Einsatz spielende Konspiration die tragfähige Grundlage abzugeben. Dahinter stand weniger der Gegensatz zwischen Zivil und Militär wie Gisevius glaubhaft zu machen versucht -, sondern die Voreingenommenheit des unablässig drängenden, oft wenig die Realitäten nüchtern abwägenden „ewigen Putschisten" gegenüber dem aus umfassender Sicht planenden, mit der Verantwortung und den Bindungen eines hohen Amtes belasteten aktiven General. Subjektiv ist dabei auf Gisevius' Seite die Erfahrung zu berücksichtigen, die er und seine Freunde im Frühjahr während der Fritsch-Krise mit den „zögernden Generalen" gemacht zu haben glaubten. Daß in diesem Zusammenhang viel -

-

-

Vgl. Aussage Frau v. Hases bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 310, Anm. 284: „Nach der Fritschgehörte Herr v. Witzleben zu denjenigen Personen, die ein energisches Auftreten gegen diesen Angriff auf die militärische Ehre und die damit verbundene Gefährdung der staatlichen Sicherheit für notwendig hielten. Über diese Ansichten hat er meinen Mann unterrichtet und ihm Befehle für den Fall gegeben, daß eine Krise zwischen Wehrmacht und Staatsführung ausbrechen würde." (Hervorhebung vom Verf.) 59 Vgl. Gisevius, S. 371 ; dabei stellte sich nach Gisevius' Aussagen übrigens heraus, daß ein unerwartet großer Aufwand an Truppen erforderlidi war und man daher auf eine Mitwirkung der 58

Krise

Schutzpolizei nicht verzichten könne. Erinnert man sich in diesem Zusammenhang, daß nach Krebs, S. 170, von dem in die Verschwörung einbezogenen Polizeipräsidenten eine vorerst neutrale Haltung der Berliner Polizei beschlossen zu sein scheint, Halder aber offenbar eine Mitwirkung der Polizei annahm (Spruchkammerverfahren, BA/MA H 92-1/3, fol. 6), dann wirft das ein be-

zeichnendes Licht auf die Problematik und Gisevius, S. 347.

80

Schwierigkeit des Unternehmens.

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

355

eher der zögernde Beck und keineswegs der damals drängende Halder zu tadeln gewesen wäre, war den oppositionellen Ultras offensichtlich nicht klar. Hierin kommen erneut die erwähnten61 verschiedenartigen Erlebnis- und Beurteilungsgrundlagen der einzelnen oppositionellen Persönlichkeiten zum Ausdruck. Das hatte vor allem eine bedeutsame Dis-

krepanz der Ansichten über die Ansatz- und Realisierungsmöglichkeiten einer Aktion zur Folge, die deutlich in dem Gespräch Halders mit Gisevius zutage trat62. Gisevius konstaüberrascht und erfreut, daß Halder leidenschaftlich das Ende des nationalsozialistischen Terror-Regimes erstrebte. War dieses Erstaunen bereits symptomatisch für seine Voreingenommenheit, so kam es vor allem aber über das „Wie" und, damit zusammenhängend, auch das „Wann" eines entsprechenden Vorgehens zu grundlegenden Meinungsverschiedenheiten. Halder vertrat den Standpunkt, man müsse den Augenblick abwarten, in dem Hitler einen eklatanten, durch keinerlei Propagandanebel zu vertuschenden Rückschlag erleide; denn noch sei das Prestige des Diktators in Volk und Armee zu stark verankert. Es komme bei einem staatsstreichähnlichen Unternehmen nicht darauf an, was einige Generäle denken, sondern entscheidend sei die Haltung des unteren Offizierkorps, das engsten Kontakt mit der Truppe und damit indirekt mit dem Volk hätte. Erst böse Erfahrungen könnten dem Volk die Augen öffnen. Ein solcher Rückschlag aber sei nur auf außenpolitischem Gebiet zu erwarten. Erst wenn die noch von Hitler faszinierten Massen erkennen, daß dieser Mann sie in einen Krieg stürze, daß die Zeit der „Blumen-Erfolge" vorbei sei und die Westmächte vor einer Kriegserklärung nicht zurückschreckten, erst dann würde in einem nationalen Katzenjammer der illusionäre Rauschzustand verfliegen und damit der geeignete Moment zum Losschlagen gekommen sein. Nur dann könne man dem Risiko eines Bürgerkrieges entgehen, bei dem die Armee Gefahr liefe, auseinanderzubrechen. Gisevius dagegen vertrat die Ansidit, man müsse „dem Kontingent der Gutgläubigen und Opportunisten mit Tatsadien zu Leibe rücken" und wiederholte seinen bereits während der Fritsch-Krise vorgebrachten Vorschlag, das Regime statt von der politischen, vielmehr von der kriminellen Seite zu packen, also Volk und Armee die Augen über die nationalsozialistischen Willkürakte und Schandtaten zu öffnen. Er wollte nicht warten, bis sich eine geeignete Situation ergeben würde, sondern sie von sich aus herbeiführen. Sicherlich sah Halder die Lage realistischer als Gisevius. Er hatte besseren Einblick in die Haltung des jüngeren Offizierkorps63. Seine Ansichten fand Gisevius während eines Besuches beim Regierungspräsidenten in Düsseldorf bestätigt. Er bekam dort den Eindruck, daß die Bevölkerung vom Arbeiter bis zum Generaldirektor mit den Verhältnissen im ganzen zufrieden sei und glaubte, Hitler bluffe außenpolitisch lediglich und werde es nicht zum Kriege kommen lassen. Ähnliche Ansichten auf der höheren Kommandoebene des Heeres fand er beim Generalkommando in Münster64. Daß eine von allen erkennbare Kriegsgefahr oder gar erst ein unmittelbar bevorstehender Kriegsausbruch wie Halder tierte

zwar

-

91 62 63 64

Vgl. Kap. VI, S. 285 ff. Zum folgenden Gisevius, S. 349 ff.

Ebd., S. 351. Ebd., S. 356 ff.

VIII.Der

356

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

meinte die Masse des Volkes und der Armee nachhaltig erschüttern und den Bann der Illusionen brechen würden, läßt sich auch indirekt aus anderen Quellen erschließen65. Das alles spricht gewiß mehr für Halders These, man müsse den geeigneten Zeitpunkt abwarten. Indessen ist es weniger von Gewicht, ob Halder oder ob Gisevius mit ihrer jeweiligen Lagebeurteilung recht hatten oder nicht. Die Differenzen haben Halder jedenfalls nicht gehindert, am nächsten Tag Oster zu beauftragen, Gisevius zur Vorbereitung der polizeilichen Maßnahmen heranzuziehen. Wichtig dagegen ist, daß die in dem Gespräch zutage getretenen Meinungsverschiedenheiten über die Frage des Zeitpunktes und des Ansatzes eines Staatsstreiches bei Gisevius und dessen Freunden Anlaß zu Zweifeln an Halders Entschlossenheit gaben. Damit war die Einheitlichkeit und infolgedessen auch die konsequente Zielgerichtetheit der Konspiration potentiell gefährdet. Die Folgen sollten sich bald zeigen. Wenngleich die „Zivilisten" der Fronde, Schacht und Gisevius, sich bald wohl oder übel dazu durchrangen, Halders Standpunkt wenigstens praktisch zu akzeptieren, glaubten sie bei einem erneuten Besuch66 Anzeichen mangelnder Entschlossenheit bei Halder zu spüren und feststellen zu können, der Generalstabschef suche „irgendwie eine Rückzugslinie". Dieses mangelnde Vertrauen läßt sich nur aus dem seit Gisevius' erstem Besuch aufgekommenen Zweifel an Halder erklären. Dieser hatte jetzt nämlich lediglich die Befürchtung geäußert, die Westmächte könnten Hitler nochmals einen Blankoscheck hinsichtlich der Tschechoslowakei ausstellen. Hatte Halder vielleicht unter dem Eindruck der Ergebnislosigkeit der Mission Boehm-Tettelbachs oder aufgrund von Lagebeurteilungen seitens der Gesinnungsfreunde im Auswärtigen Amt etwa schon die böse Vorahnung eines kommenden „München"? Jedenfalls waren Schachts und Gisevius' Zweifel objektiv unangebracht, da der Generalstabschef nochmals klar seine Entschlossenheit betonte, es nicht zu einem Krieg kommen zu lassen und auch seinen Mitverschworenen insofern einen Vertrauensbeweis lieferte, als er ihnen Einblick in seine militärische Planung gab; er berichtete, er habe diese so angelegt, daß er drei Tage vorher eindeutig feststellen könne, ob Hitler einen Krieg auszulösen beabsichtigte67. Das Mißtrauen der beiden zivilen Oppositionellen schien aber fortzubestehen, denn nach Aussagen von Gisevius brachte er Schacht praktisch hinter dem Rücken des Generalstabschefs mit Witzleben und Brockdorff-Ahlefeldt zusammen. Das Ergebnis dieser Bespre-

...

-

-

Vgl. Hassel, S. 19 (Eintrag vom 17.9.38): Die Tochter Hasseils berichtete, „viele junge Offiziere meinten, es sollten doch erstmal die .Braunen' ins Feuer gehen, die jetzt das Maul so aufrissen." Vgl. auch Tagebuch Jodl, vom 7.9.38, IMT XXVIII, S. 376: Oberst Toussaint, der dem Regime gegenüber nicht negativ eingestellte Militärattache in Prag, sei bei einem Besuch in Berlin „betroffen über die unlustige und wenig kämpferische Stimmung" gewesen. 88 Gisevius, S. 355, gibt als Datum Mitte September an; Halder meint, es wäre kurz nach seinem Amtsantritt im September gewesen: Krausnick, Vorgeschichte, S. 343, Anm. 403. 87 Gisevius, S.356. Vgl. auch IMT XXVIII, S. 376: Halders Stellvertreter und Vertrauter, der Oberquartiermeister I, Karl-Heinrich v. Stülpnagel, verlangte am 8. 9. 38 vom OKW schriftlich die Zusage, daß das OKH fünf Tage vorher erführe, wenn eine militärische Operation unternommen werden sollte. Jodl sagte das zu mit der Ergänzung, aus technischen Gründen könnte eventuell diese Frist auf 24 Stunden verkürzt werden. Halder hatte also, indem er einen Mittel3 Tage ansetzte, den beiden Verschwörern korrekt Auskunft gegeben. wert 65

-

-

VIII.Der

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chung auf Schachts märkischem Landsitz war, daß Witzleben, „vom Temperament Schachts mitgerissen"88, den beiden Zivilisten versprach, er werde aufs Ganze gehen, und zwar „ob mit Halder oder ohne ihn"60. War es an sich schon bei Berücksichtigung der zu beachtenden konspirativen Vorsichtsmaßnahmen bedenklich, wenn nicht gar leichtsinnig, ein solches gar nicht zwingend notwendiges Treffen zu veranstalten, denn Witzleben war ja bereits von Halder orientiert und mit den militärischen Vorbereitungen beauftragt70, so zeigt das geschilderte Ergebnis vor allem, daß sich hier geradezu eine Art Konspiration innerhalb der Konspiration anbahnte. Das ging so weit71, daß Witzleben offensichtlich eine Art Doppelspiel ins Auge faßte, wozu er wohl schwerlich aus eigenem Antrieb gekommen sein mag. Er soll nämlich fortan seine militärischen Vorbereitungen mit Blick sowohl auf einen „Staatsstreich von oben" wie auf eine Meuterei von unten getroffen haben. Gisevius schreibt dazu ganz offen: Während Witzleben Halder „beruhigte, seine Vorbereitungen bezögen sich lediglich auf eine vom Oberbefehlshaber des Heeres oder notfalls seinem Vertreter, dem Generalstabschef, auszulösende Aktion, faßte er als zweite Möglichkeit gleichzeitig ins Auge, beide zu überspielen. Brauchitsch konnte er seine Haltung in der Fritsch-Krise nicht vergessen. Halder war in seinen Augen kein großer Held. Sie für die entscheidenden Stunden hinter Schloß und Riegel zu setzen, hätte ihm nichts ausgemacht"72. Hier wurde ganz offensichtlich ein gefährliches, wenn nicht gar leichtsinniges Spiel getrieben. Mißtrauen und Zweifel gegenüber dem Generalstabschef, der, wie die Dinge nun einmal lagen, die entscheidende Figur der Verschwörung war73, führten dazu, daß während der vorbereitenden Planungsarbeiten Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Konspiration erheblich beeinträchtigt wurden. Das hat mit einem Mangel an Koordinierung kaum mehr etwas zu tun74. Vielmehr zeigten sich hier bereits die AusSo die Formulierung bei Gisevius, S. 361. Ebd. 70 Bezeichnend ist, daß Gisevius in IMT XII, S. 235, und in der alten Ausgabe von „Bis zum bitteren Ende" Bd II, S. 42, darlegte, Schacht habe damals Witzleben gewonnen; in der späteren Ausgabe seines Buches, S. 360-361, dagegen gibt er indirekt zu, daß Witzleben zu diesem Zeitpunkt bereits in der Verschwörung stand, und motivierte das Treffen mit Witzlebens Wunsch nach außenpolitischer Information, was immerhin bei dessen betontem politischem Desinteresse erstaunlich ist! 71 So Gisevius, S. 365. 68 69

72 73

Gisevius, S. 365. Auch Gisevius, der

sonst einer der schärfsten Kritiker des Generalobersten Halder ist, erkennt für 1938 bei Halder den entschlossenen Willen hinsichtlich eines Staatsstreiches absolut an: Vgl. Gisevius, Nebe, S. 186. Daß Witzleben nicht ganz verläßlich war, hat der dienstjüngere Halder damals nach eigenen Aussagen (Mitteilung vom 15. 10. 1965 an das MGFA) wohl gespürt; er vertraute jedoch dem General und glaubte nicht, daß dieser ihn etwa vor vollendete Tatsachen stellen werde. 74 Allerdings hat Halder auch bewußt und auf Grund seiner dienstlichen Überlastung darauf verzichtet, eine straffe Führung auszuüben. Sie war seiner Ansicht nach nicht möglich, da keine „allgemein anerkannte Persönlichkeit an der Spitze der Opposition stand" (Mitteilung von GenOb. a. D. Halder vom 15. 10. 1965 an das MGFA). Halders Aussage vor der Spruchkammer (BA/MA H 92-1/3, fol. 6) : „Witzleben übernahm nun die gesamte Vorbereitung des militärischen Einsatzes. Den Startbefehl habe ich mir nach Vereinbarung mit Witzleben vorbehalten."

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Wirkungen der den Beteiligten subjektiv vielleicht gar nicht deutlich gewordenen Diskrepanz im Grundsätzlichen. Wie immer man über den Grad der Entschlossenheit Halders denken mag zu begründeten Zweifeln an ihr bieten jedenfalls für den damaligen Zeitpunkt unsere Unterlagen keinen Anlaß eins darf gewiß gesagt werden: der Generalstabschef unterschätzte weder die psychologischen Faktoren, die die Voraussetzung für jegliches verantwortungsbewußte Handeln im Sinne eines Staatsstreiches bildeten, noch die Notwendigkeit einer sorgsamen militärischen Planung, vor allem aber legte er mit Recht entscheidenden Wert auf das Bestehen einer in den Grenzen der Gegebenheiten einigermaßen sinnvollen Erfolgsaussicht; er ließ das abwägende Kalkül nicht von seinem Haß gegen das Regime überwuchern. Bei den Verschwörern à tout prix dagegen war der klare was angesichts ihrer monatelangen, Blick gewiß stärker von Wunschdenken getrübt enttäuschenden und fruchtlosen Bemühungen menschlich verständlich sein mag, jedoch einer nüchternen Beurteilung bestimmt nicht förderlich war. Sie mußten schließlich doch erkennen, daß sie sich bezüglich der militärischen Seite des Putsches „die Dinge entschieden zu einfach gedacht" hatten, daß es „mit bloßem Marschieren nicht getan" sei75. Ihre mißtrauischen Vorbehalte gegen Halder waren zumindest ungerecht, denn sogar Witzleben verlangte auch eine relative Erfolgschance76. Er wollte ebenfalls erst handeln, wenn ein Eingreifen der Westmächte sicher sei77. Die geschilderte Uneinheitlichkeit und Diskrepanz zeigen eindrucksvoll, welche Belastungen sich unter dem Druck der raschen Entwicklung der Lage und angesichts des nationalsozialistischen Herrschaftsapparates für eine Konspiration gegen das Regime ergaben, sie zeigen aber auch, wie sehr „die Generalität" an Vertrauen bei profilierten Oppositionellen außerhalb der Armee verloren hatte. Das war gerade für die wenigen entschlossen antinationalsozialistisch eingestellten und zum Handeln bereiten Generäle eine schwere Hypothek. Offenkundig wird auch, wie wenig Verständnis die nicht mit der letzten Verantwortung für die Auslösung der Aktion belasteten zivilen Verschwörer für die Lage des exponierten Militärs hatten, wie wenig sie seine Möglichkeiten im Rahmen der Gegebenheiten und Schwierigkeiten begriffen. Gewiß konnte man damals wie heute über den AnHerbeiführen der geeigneten Situation oder Abwarten des satz und den Zeitpunkt günstigen Momentes sehr verschiedener Meinung sein. Weiterhin ist das stete und oft maßlose Drängen der zivilen Verschwörer angesichts jahrelanger Ohnmacht gegenüber dem sich mehr und mehr konsolidierenden totalitären Herrschaftssystem und angesichts enttäuschender konspirativer Erfahrungen psychologisch nur allzu verständlich. Aber gerade deshalb wird der rückblickende Betrachter um so weniger geneigt sein, einseitige und absolute Urteile zu fällen. Vielmehr wird er jene Differenzen als Symptome der außergewöhnlichen Lage nehmen, in der alle Beteiligten sich damals befanden. Die extreme Situation zwang die Verschwörer, in wenigen Tagen und Wochen eilig einen -

-,

-

.

.

.

-

-

Plan für den in Aussicht genommenen Umsturz 75 76 77

Wie selbst Gisevius, S. 363, Ebd. S. 361. Gisevius, Bd II, S. 50.

zugibt.

zu

entwerfen. Die militärische Seite der

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

359

Oster und vor allem Gisevius überlassen, der Reichskriminaldirektor Nebe und Polizeipräsident Graf Helldorf ins Komplott einbezog. Halder behielt sich vor, die Aktion auszulösen und die dann einzuleitenden Maßnahmen in die Hand zu nehmen. Er versprach, Witzleben im Rahmen des Aufmarsches gegen die Tschechoslowakei die Truppen zu belassen bzw. zur Verfügung zu stellen, die man für den Staatsstreich unmittelbar benötigte. Brauchitsch, der nach Halders Plan direkt nach dem Umsturz mit der zeitweiligen Verhängung des militärischen Ausnahmezustandes hervortreten sollte, wurde vom Generalstabschef nicht ausdrücklich eingeweiht. Er mußte aber, nach Halders späteren Aussagen, „ahnen, worum es ging". Als Witzleben einmal bei Halder war und Brauchitsch dazukam, äußerte sich Witzleben derart, daß der ObdH nicht umhin konnte, zu begreifen, was da vor sich ging78. Halder rechnete damit, daß Brauchitsch sich im gegebenen Augenblick nicht versagen würde, vermied es aber, ihn zu orientieren, um ihn für den Fall eines Mißlingens nicht zu kompromittieren. „Man kann seinen eigenen Hals riskieren, aber nicht den von jemand anderem", sagte er später79. Außerdem kannte er seinen Oberbefehlshaber auch zu gut; denn gegenüber General Adam, dem Oberbefehlshaber im Westen, zeigte er weniger Zurückhaltung. Ihm erklärte er bei einer sorgenvollen Besprediung über die Politik Hitlers ganz unvermittelt: „Wenn Witzleben losschlägt, müssen eben die Oberbefehlshaber im Reiche mitmachen", worauf Adam, nach eigener Aussage, erklärt hat: „Nur los, ich bin bereit80." Eine auf Wunsch Halders vorgenommene Sondierung Adams bei Rundstedt stieß aber ebenso auf kühle Reserve wie der Versuch des Generalstabschefs erfolglos blieb, Fritsch für die Führung des Staatsstreichs zu gewin-

Vorbereitungen war Witzleben, die polizeiliche

nen81.

Aktionsplanes sind nur in Umrissen bekannt82. In einer Art Stoßtrupp von Freiwilligen in die Reichskanzlei eindringen, um sich Hitlers zu bemächtigen. Gleichzeitig sollten in Berlin alle wichtigen Nachrichtenzentralen besetzt werden, um das Befehlssystem des Regimes zu lähmen. Ebenso war eine Besetzung anderer wichtiger Punkte der Stadt, insbesondere von SS- und Gestapozentralen geplant. Prominente Funktionäre sollten gleichfalls verhaftet werden. Für den Fall eines Eingreifens der in München liegenden SS-Leibstandarte sollte die in Thüringen Die Einzelheiten des Handstreich sollte ein

befindliche Division des innerlich auf seiten der Verschwörer stehenden Generals Hoepner ihr entgegentreten. Die Bevölkerung sollte sogleich über die Motive und den Zweck des Umsturzes aufgeklärt und ihr durch Veröffentlichung von dokumentarischem Material die nationalsozialistischen Verbrechen vor Augen geführt werden. Um der Truppe die ungewöhnlichen Einsatzbefehle verständlich zu machen und sicherzustellen, daß sie diese 78

Bor, S.

121.

Vgl. auch Allen Welsh Dulles, Verschwörung in Deutschland, Kassel 1947, S. 62 f., und Krausnick, Vorgeschichte, S. 345. 88 Krausnick, Vorgeschichte, S. 345. 81 Foertsch, S. 179, und Bor, S. 112. Vgl. auch Röhricht, S. 137 ff. 82 Vgl. dazu Krausnick, Vorgeschichte, S. 347, Ritter, Goerdeler, S. 187-188, und Gisevius in: 79

Ebd.

IMT XII, S. 236.

VIII.Der Kampf gegen den

360

auch

erwogen die

Krieg:

Die

September-Verschwörung 1938

Verschwörer, zunächst die fiktive Parole

eines „Putsches der ahnungslosen Führer" auszugeben83. Dieser übrigens auch bei späteren Staatsstreicherwägungen mehrfach wieder auftauchende Gedanke war gar nicht so abseitig, wie er im Rückblick erscheinen mag; bedenkt man nämlich die jahrelange, gerade in den Garnisonen bisweilen recht handgreiflich sich manifestierende feindselige Rivalität zwischen SS und Armee, dann war die Fiktion eines SS-Komplottes eine nicht ungeschickte Ausnutzung einer vorgegebenen psychologischen Situation. Nach erfolgtem Staatsstreich war zur Sicherung von Ruhe und Ordnung sowie zur Gewährleistung eines reibungslosen Überganges in geordnete Zustände an die Verhängung des Ausnahmerechtes und an eine zeitlich begrenzte Militärdiktatur gedacht. Möglichst schnell war dann eine zivile Ubergangsregierung zu bilden, für die Halder neben anderen Neurath, Noske oder Gessler in Aussicht genommen hatte. Schließlich sollten allgemeine Wahlen abgehalten werden und eine verfassungsmäßige parlamentarische Regierung entstehen84. Halder berichtet, er und Witzleben hätten sich gegenseitig gelobt, nach gelungenem Staatsstreich ihren Abschied zu fordern, um so den an sich grundsätzlich unantastbaren Postulaten soldatischer Disziplin und Gehorsams demonstrativ ihren Respekt zu erweisen85. Das war eine Abrede, die deutlich die für diese hohen Militärs damals bestehende extreme Konfliktsituation aufweist. Sie waren sich bewußt, daß in jener Lage normale Wertkategorien und traditionelle Verhaltensweisen impraktikabel geworden waren und daß man daher eherne soldatische Gesetze durchbrechen müsse; gleichzeitig aber suchten sie verzweifelt nach einer Möglichkeit, trotzdem diese alten Wertmaßstäbe in irgendeiner Weise wenigstens zeichenhaft zu

befolgte,

SS gegen den

respektieren. Die Angaben

über das Ausmaß und den Stand der Vorbereitungen zur Durchführung dieses Planes sind widerspruchsvoll. Hoßbach berichtet, Witzleben habe ihm damals gesagt, alles sei bereit, es bedürfe nur noch „des Druckes auf einen Knopf"86. Halder dagegen äußerte nach dem Kriege, Witzleben habe sich leider um die Details viel zu wenig gekümmert. Als er ihn am Morgen des 28. September nach Einzelheiten über den Stand der Vorbereitungen fragte, habe er eine völlig unbefriedigende Auskunft erhalten87. Sofern diese Diskrepanz der Aussagen nicht bloß die verschiedenen Ansichten über Ausmaß und Intensität der erforderlichen Detailvorbereitungen widerspiegelt, mag sich vielleicht darin die Tatsache ausdrücken, daß die Kürze der Zeit technisch wirklich ausreichenden Vorbereitungen eine Grenze gesetzt hatte. Immerhin wissen wir, daß jedenfalls für das Kernstück des Staatsstreiches, die Ausschal83 Gisevius, S. 370. Bei Helldorfs Einbeziehung in die Verschwörung dachte Gisevius auch daran, daß die Teilnahme dieses hohen SA-Führers die SS-Putsch-Fiktion noch glaubwürdiger machen könnte. 84 Spruchkammer-Aussage Halders (BA/MA H 92-1/3, fol. 6) : „Es sollte eine provisorische zivile Zwischenregierung gebildet werden, Wahlen ausgeschrieben werden, die zu einem Neubau führten." 85 Ritter, Goerdeler, S. 479, Anm. 61. 88 Hoßbach, S. 156. 87 Halders Aussage bei Ritter, Goerdeler, S. 479, Anm. 61 und 62.

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

361

war. Um die Septembermitte herum früheren Stahlhelm-Führer und ehedem mit Wohnung maligen Freikorpsangehörigen Friedrich-Wilhelm Heinz und dem Kapitänleutnant Liedig von der Abwehr zu einer Besprechung88. Witzleben beauftragte Heinz, unter Ausnutzung seiner Beziehungen zum früheren Jungstahlhelm und Stahlhelm-Studentenring einen Stoßtrupp aufzustellen, der Witzleben in die Reichskanzlei begleiten und Hitler verhaften solle. Heinz berichtet, er habe diesen Stoßtrupp bis etwa 22. September aus jungen Offizieren, Studenten und Arbeitern zusammengestellt, die dann nach dem Godesberger Besuch Chamberlains auf Osters Veranlassung in Berlin in einigen Privatwohnungen in Bereitschaft gehalten worden seien. Über die Entschlossenheit Witzlebens dieser äußerte, und der Führer des er werde sich notfalls den Weg in die Reichskanzlei freischießen Stoßtrupps kann kein Zweifel bestehen. Ob es allerdings so einfach gewesen wäre, wie man es sich gedacht hatte, zu Hitler vorzudringen, ist schwer zu beurteilen. Indessen hat in ähnlidien Situationen rasches und entschlossenes Handeln, insbesondere gegenüber einem Gegner, der, wenngleich stark, doch letztlich riiditsahnend war, häufig Erfolg

tung

Hitlers, handfeste Vorsorge getroffen worden

traf sich Witzleben in Osters

-

-

gehabt. Einhelligkeit bestand bei den Verschwörern, daß Hitler vorerst einmal bei dem Staatsstreich ausgeschaltet werden müsse. Ungeklärt jedoch war, was mit dem „Führer" nach seiner Verhaftung schließlich zu geschehen habe. Es wurde erwogen, ihn vor ein Gericht zu stellen und abzuurteilen. Dazu hatte Oster eine umfangreiche, von Dohnanyi angelegte Dokumentensammlung über die Verbrechen des Regimes als Anklagematerial bereitgestellt. Oster soll auch schon seit 1936 ein „Politisches ABC" vorbereitet haben, das in populärer Form mit dem Nationalsozialismus abrechnete. Ebenfalls war der Gedanke diskutiert worden, Hitler aufgrund von ärztlichen Gutachten, bei denen der Berliner Psychiater, Professor Bonhoeffer, der Schwiegervater Dohnanyis, mitwirken sollte, zu internieren80. Witzleben und Halder haben wie letzterer später ein Attentat zu jener Zeit grundsätzlich abgelehnt90. Es ist schwer vorstellbar,

als Geisteskranken

-

bezeugte -

daß die Verschwörer sich über die offenbare Problematik der geschilderten Erwägungen nicht im klaren gewesen wären. Einen Mann wie Hitler vor einem rechtsstaatlich strukturierten Gericht zu Worte kommen zu lassen, wäre wie die Präzedenzfälle des von 1924 und des Ulmer Reichswehrprozesses von 1930 Münchener Hochverratsprozesses beweisen ein erhebliches Risiko gewesen. Eine Bewahrung als Geisteskranker in einer geschlossenen Anstalt dagegen hätte Mißtrauen und unbeantwortete Fragen im Volk aufkommen lassen, die nicht weniger problematisch werden konnten. Hier dachten gewisse radikale Widerstandskämpfer wie Heinz und seine Freunde viel -

-

Vgl. hierzu Krausnick, Vorgeschichte, S. 347, Anm. 419; Hildebrand, S. 93; Ritter, Goerdeler, S. 189; über F.W.Heinz vgl. vor allem Margret Boveri, Der Verrat im XX. Jahrhundert. Für und gegen die Nation, Bd. II, S. 109 ff., Hamburg 1956 rowohlts deutsche enzyklopädie Nr. 24. 89 Ritter, Goerdeler, S. 188; Krausnick, Vorgeschichte, S. 348. 90 Vgl. dazu Ritter, Goerdeler, S. 479, Anm. 58, im Gegensatz zu Gisevius, Bd II, S. 38, und neue Ausgabe, S. 352, sowie gegen Dulles, S. 45. Vgl. auch für November 1939 Halders Anregung, führende Nationalsozialisten „verunglücken" zu lassen: Kap. XI, S. 512 dieser Arbeit. 88

=

VIII.Der

362

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

entschiedener, vielleicht auch realistischer. Bei der erwähnten Besprechung will Heinz nach dem Weggang Witzlebens dem ihm seit langen Jahren bekannten Oster erklärt haben, ein lebender Hitler stelle eine Potenz dar, die stärker als alle Verschworenen, stärker sogar als Witzleben mit seinem ganzen Armeekorps sei91. Er gab daher, wie es scheint mit Osters Einverständnis, seinen Leuten die Weisung, es gar nicht erst zur Verhaftung Hitlers kommen zu lassen, sondern einen Zwischenfall zu provozieren und Hitler kurzerhand niederzuschießen. Beck soll jedoch einige Tage später Oster, der ihn augenscheinlich orientierte, warnend widersprochen haben. Die deutsche Opposition dürfe sich nicht durch ein

eine Äußerung, die ebenso wie die erwähnte Abrede zwischen Halder und Witzleben symptomatisch für das Dilemma ist, das sich für die militärischen Verschwörer aus der Gebundenheit an die Wertvorstellungen ihres Standes und der Notwendigkeit ergab, eine gegenüber dem totalitären Gegner angemessene Form des Vorgehens zu finden. So etwas konnte nur geschehen, wenn in tiefstem Wesen unrevolutionäre Männer zu revolutionärem Handeln sich gezwungen sahen. Ein vom Erlebnis der Freikorpszeit geprägter Mann wie Heinz, ein von unbändigem Haß gegen den Nationalsozialismus erfüllter Offizier wie Oster und jene Gruppe der jüngeren Generation, die sich in dem Stoßtrupp zusammengefunden hatte, waren da weniger von traditionellem „Ballast" gehemmt, dachten unproblematischer, waren vielleicht auch unbedenklicher. So blieb es für sie bei der von Heinz ausgegebenen Parole. Mehr noch, der Kreis um Heinz hatte seine eigenen Vorstellungen von dem, was nach einem erfolgreichen Umsturz zu geschehen hatte. Sie wollten, ohne viel Rücksicht auf die älteren Generäle und zivilen Verschwörer zu nehmen, den ältesten Kronprinzensohn, den später im Westfeldzug 1940 gefallenen Prinzen Wilhelm, den sie als eine „sehr saubere, sehr klare und sehr tapfere Soldatengestalt" verehrten92, zum Reichsregenten ausrufen. Sie scheinen dabei offensichtlich auch mit einem Widerhall in den Infanterie-Regimentern 1 (Königsberg) und 9 (Potsdam) gerechnet zu haben. Die Offizierkorps dieser Regimenter hielten sie wegen ihrer sozialen Zusammensetzung für ansprechbar. Auch stand der Prinz dort in hohem Ansehen. Späterhin sollte auf demokratischem Wege die Regentschaft in eine monarchische Staatsform übergeleitet werden. Am Ende aber war nicht an eine Restauration des Kaiserreiches, sondern an ein deutsches Königtum gedacht. Eine von Oster, Heinz und Schulenburg93 ausgearbeitete diesbezügliche Verfassungsdenkschrift soll bereits vor Mitte August 1938 mit dem Prinzen beraten worden sein. Im selben Jahr hat Heinz nach seinen Angaben auch ehemalige sozialdemokratische Führer wie Leuschner und Dr. Leber sowie den einstigen Geschäftsführer des Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände, Maas, für diese Ideen gewonnen94. Attentat beflecken

-

91

Krausnick, Vorgeschichte, S. 348.

92

Ritter, Goerdeler, S.

98

Vgl. Krebs,

Kontaktmann ten 94

189 und 479 f., Anm. 64. S. 157 f. und S. 171: Schulenburg hatte 1937

zur

Abwehr

endgültig ausgespielt.

geworden

war.

Seh.

war

zufällig

Oster

kennengelernt,

der sein

der Ansicht, „Herrenklub und Weimar" hät-

Ritter, Goerdeler, S. 380; Krausnick, Vorgeschichte, S. 348 f. Von Leuschner ist auch für spätere

Zeit

bezeugt,

daß

er

monarchischen

Restaurationsplänen nicht abgeneigt war.

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

363

Es ist gewiß interessant und naheliegend, die skizzierten Zukunftspläne des Kreises von Heinz mit den Vorstellungen Halders und der Männer um ihn über das, was nach gelungenem Putsch kommen sollte, kritisch zu kontrastieren. Ritter95 macht den Ansatz dazu, wenn er die von Halder für eine Übergangsregierung in Aussicht genommenen Persönlichkeiten als „Repräsentanten einer versunkenen Epoche" bezeichnet, zu den Gedanken des Kreises um Heinz jedoch meint, hier könne von „Reaktion" offensichtlich keine Rede sein, „wohl aber von der Aufrichtung eines neuen wirksamen Symbols: der verfassungsmäßigen Monarchie, mit deren Zerstörung in den Augen der Massen das ganze Elend Deutschlands angefangen hatte". Krausnick dagegen96 nennt den Plan, ein deutsches Königtum zu errichten, mit kritisch-skeptischem Ton ein „merkwürdiges Endziel"97. Es ist indessen müßig, darüber zu streiten, welche von den beiden Konzeptionen wenn man für diese vagen Ideen überhaupt diesen Ausdruck gebrauchen will nun reaktionär oder realistisch gewesen sei. Gewiß trifft es zu, daß in weiten Kreisen des Volkes das „System von Weimar" und dessen Repräsentanten wenig populär waren. Das „Dritte Reich" hatte zu deren Diskreditierung mit seiner hämischen Polemik erheblich beigetragen. Es ist allerdings fraglich, ob die Parole einer konstitutionellen Monarchie im Jahre 1938 wirklich im Volksganzen und nicht nur in einem kleinen Kreis von Konservativen oder von Offizieren in gewissen Regimentern gezündet hätte, denn in den Augen der arbeitenden Massen hatte die Monarchie die soziale Frage auch nicht gelöst; sie waren der Krone schon früher keineswegs überall gefühlsmäßig so verbunden gewesen, wie manche noch so aufgeschlossene Konservative in Bürgertum und Aristokratie meinten. Revolution, Staatskrise, Inflation und nationalsozialistische Herrschaft hatten die Bande der Tradition gelockert, wenn nicht ganz zerstört. Aber tatsächlich entsprangen die aufgezeigten Differenzen über das angestrebte Ziel letztlich gar nicht der Frage, wie und mit welcher Methode ein möglichst großer Widerhall im Volk zu erzielen sei98. Die Ursache der unterschiedlichen Zielvorstellungen lag auf einer ganz anderen Ebene als der des Faktisch-Methodischen; sie lag im grundsätzlichen Ansatz des oppositionellen Handelns. Halder und seine Gesinnungsgenossen wie Weizsäcker, Witzleben und auch Schacht wollten ein Regime beseitigen, dessen abenteuerliche Politik den Bestand des Reiches nach außen aufs Spiel setzte und dessen verbrecherische Herrschaft im Innern skandalöse, unerträgliche Zustände geschaffen hatte. Ihr Ziel war Rechtsstaatlichkeit, Sauberkeit und Ordnung, war Erhaltung des Friedens. Sie wollten gar nicht den Durchbruch zu „neuen Ufern", sondern die „Normalität" staatlichen und persönlichen Lebens. Daher sahen sie in den genannten, in Verwaltung und politischer Führung erfahrenen Männern die geeigneten Persönlichkeiten, um den zerrütteten Staat wieder in geordnete Verhältnisse zu überführen. Das waren ehrenwerte Absichten, die aber einem höchst unpolitischen, gleichsam verwaltungsmäßigen Denken entsprangen und sich an -

-

rechts- und 95 a. a. 98 a.

a.

97 98

obrigkeitsstaatlichen Modellvorstellungen

orientierten. Wohl

gemerkt:

O., S. 189 f. O., S. 348.

Noch schärfer Krebs, S. 171. Dieses Kriterium scheint für die kritische

Wertung Ritters bestimmender Maßstab zu sein.

es

364

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

sollen derartige Vorstellungen nicht in überheblicher Besserwisserei gering geschätzt werden; hatten gerade sie doch bei jenen Männern den oppositionellen Impuls gegen das ordnungszerstörende, unrechtsetzende Regime entbunden. Aber es sollte auch nicht übersehen werden, daß sich mit solchen an Kategorien von Recht und Ordnung orientierten Vorstellungen schwerlich die politischen Struktur- und Gesellschaftsprobleme hätten lösen lassen, die eine grundlegende gewaltsame Regimeänderung aufgeworfen hätte. Die Vermutung, daß ihr Vorhaben aus Mangel an politischer Substanz letzten Endes auf eine allerdings radikale Reform des Regimes oder auf die Etablierung eines autoritären Verwaltungsstaates hinausgelaufen wäre, erscheint daher nicht abwegig. Der Kreis um Heinz dagegen zielte auf etwas Neues. Hier sind Anklänge an einen romantischen, revolutionären Nationalismus zu verspüren99. Gewiß, auch diese Männer dachten an eine in irgendeinem Sinne konstitutionelle Neuordnung, aber eine solche ganz neuen Stils, was die Idee eines „deutschen Königtums" zeigt. Ihrer gewiß realistischen Unbedenklichkeit in der Durchführung des Staatsstreiches wie sie sich in der Absicht, mit Hitler kurzen Prozeß zu machen, zeigte entsprach ein allzu unbekümmertes Streben, zu politisch-staatlichem Neuland durchzustoßen, ohne viel über die wirtschaftlichen, sozialpolitischen und staatlichen Probleme zu reflektieren. Ihre zupackende Unbekümmertheit beim beabsichtigten Putsch paarte sich mit einem ausgesprochenen Mangel an Einsicht in die Forderungen der modernen staatlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit. Im übrigen aber ist es wenig sinnvoll, darüber zu streiten, welche von beiden Gruppen den realistischeren, der Wirklichkeit angemesseneren Denkansatz im Rahmen der Konspiration besaß. Diese Frage hätte nur die praktische Bewährung beantworten können, zu der es nicht gekommen ist. Wichtiger erscheint in diesem Zusammenhang eine andere Feststellung: Der Staatsstreich wurde in organisatorisch-technischer Hinsicht von einigen hohen Militärs leitend vorbereitet. In politischer Hinsicht richteten sie ihr Augenmerk auf die außenpolitischen Faktoren und Konsequenzen, innenpolitisch überließen sie die konkreten Vorbereitungen nach ziemlich allgemeiner Abstimmung anderen Persönlichkeiten. Das war gewiß aufgrund der Umstände und unter Berücksichtigung der Notwendigkeit vorsichtigen konspirativen Vorgehens angebracht. Es führte jedoch dazu, daß die gesamte Verschwörung einer einheitlichen politischen Führung entbehrte und kein auch politisch dominierender Faktor vorhanden war. Die Folge war, daß diesbezüglich divergierende Tendenzen aufbrachen. Gisevius' und Schachts Alleingang bei Witzleben sowie die eigenständige politische Gedankenentwicklung der Gruppe um Heinz beweisen dies. Eine bloß in militärischer Hinsicht einigermaßen zielstrebig gelenkte Verschwörung, der im politischen Bereich ein gleicherweise klarer Führungswille fehlte, steigerte das an sich schon beträchtliche Risiko erheblich. Solche Feststellungen stellen keine unangemessene Kritik an dem Wollen der Verschwörer dar. Es gab eben im Bereich der zivilen Opposition keine politische Führungspotenz, vielmehr nur Einzelpersönlichkeiten; diese waren im September -

-

Vgl. hierzu Carsten, Nationalrevolutionäre Offiziere, S. 46 f. Carsten schreibt allerdings Unrecht die monarchischen Restaurationspläne von 1938 insgesamt der militärischen Opposition

99

zu zu.

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

365

durch die vom Generalstabschef ausgehende Initiative zur konkreten Konspiration zusammengebracht worden. Auch war die bewaffnete Macht, sowohl als Gesamtorganismus wie auch in ihrer Führungsschicht, ihrerseits nie in der Lage gewesen, aus sich heraus mitreißende politische Ideen zu entwickeln und ein adäquates politisches Gegengewicht zum Regime zu schaffen, das für die zivilen Oppositionellen zum Kristallisationspunkt oder wenigstens zur Basis einer politischen Konzeption hätte werden können wobei sich eben die Frage stellt, ob überhaupt eine Armee ihrem Wesen nach dazu fähig ist. Es war gerade das Charakteristische und damit das Ausweglose der damaligen Situation, daß der bewaffneten Macht eine Aufgabe erwuchs, der sie ihrem Wesen nach schwerlich zu entsprechen vermochte. Bezeichnend für die exzeptionelle Lage ist es eben, daß der entscheidende Anstoß zur Verschwörung von seiten eines Mitgliedes der hohen Generalität, vom Chef des Generalstabes, ausging. Betrachtet man die Staatsstreichplanung, so wie sie heute zu erkennen ist, dann läßt sich nicht bestreiten, daß mancherlei Unsicherheitsfaktoren darin enthalten waren. Konnte der Handstreich gegen die Reichskanzlei wirklich so reibungslos durchgeführt werden? Würde es gelingen, rechtzeitig die nötigen Truppen in Berlin zu massieren und einzusetzen? Wie würde schließlich die Fiktion vom SS-Putsch auf die Truppe wirken? Wie würden die Bevölkerung, die Gliederungen der Partei, die Polizei und Beamtenschaft reagieren? Das waren Fragen, die man vorher kaum schlüssig beantworten konnte. Immerhin waren die Verschworenen damals zuversichtlich. Auch Halder, der mit den technischen Vorbereitungen nicht gänzlich zufrieden gewesen war, erklärte später, daß sie damals an die Durchführbarkeit der Aktion geglaubt hätten; und diese Zuversicht war in sich bereits ein positives Element. Unter Berücksichtigung aller damaligen Umstände sowie vor allem der Tatsache, daß die Verschwörer im September 1938 noch nicht unter den später durch den Kriegszustand gegebenen zusätzlichen Belastungen gestanden haben, wird eine Erfolgschance nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sein. Vielleicht war sie damals größer denn je. Aber der Gang der Ereignisse ließ es nicht zu der entscheidenden Bewährungsprobe kommen; so ist ein letztes Urteil über diese Konspiration vom September 1938 nicht möglich. Damit aber wird der schwache Punkt der ganzen Verschwörung offenbar. Die konspirierenden Oppositionellen hatten ihr Handeln von Faktoren abhängig gemacht, auf die sie keinen entscheidenden Einfluß hatten100. Halder wollte den Staatsstreich auslösen, wenn Hitler die Schwelle zum Kriege zu überschreiten drohte. Das setzte jedoch eine feste und entschiedene Haltung der westlichen Regierungen voraus, die in klarer Erkenntnis der Unersättlichkeit des totalitären Diktators fortan zu keinerlei Konzessionen mehr bereit wären. Ob sich der deutschen Opposition der Weg zum Losschlagen eröffnete oder nicht, hing hiernach also letztlich von den Regierungen in London und Paris ab. In dieser Aberst

-

hängigkeit lag die entscheidende Schwäche des ganzen Planes. Erinnert man sich in diesem Zusammenhang der Meinungsverschiedenheit, wie sie in dem Gespräch zwischen Halder und Gisevius über den grundsätzlichen oppositionellen Ansatz100

Krausnick, Vorgeschichte, S. 349.

VIII. Der

366

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

punkt zum Ausdruck kam, dann versteht man, daß hinter Gisevius' Konzept, das Regime von der kriminellen Seite her zu packen, das Bemühen stand, sich von derartigen unbeeinflußbaren Voraussetzungen frei zu machen. Damit jedoch wäre wiederum das Risiko gewachsen. Der Ansatz Halders dagegen zeigt, wie die Verminderung des Risikos die Grundlagen des Planes problematisch machte. Einige Oppositionelle versuchten, dieses Dilemma mit der Überlegung zu unterlaufen, Hitler werde, falls er angesichts einer festen Haltung der Westmächte vor einem Krieg zurückschrecke, einen derartigen Prestigeverlust erleiden, daß die Verschwörer dann die Möglichkeit hätten, energisch gegen das so erschütterte Regime nachzustoßen101. Das aber Hilfskonstruktion, die man schon als Wunschdenken bezeichnen kann. In London jedenfalls das war für das Scheitern der Konspiration von 1938 entscheidend stießen die Abgesandten der Opposition auf taube Ohren102. Die Lenker der britischen Politik waren schon längst entschlossen, ihre Zustimmung zur Verstümmelung der Tschechoslowakei zu geben und das Sudetengebiet Deutschland zu überlassen. Dabei übersahen sie keineswegs, daß Hitler durch einen derartigen diplomatischen Erfolg über die Tschechoslowakei und die Angliederung des Sudetenlandes eine ungeheure Stärkung seines Prestiges und seiner politischen Stellung erringen würde. Vielmehr lag das sogar in der Absicht der britischen Politik103. Abgesehen davon, daß den britischen Staatsmännern die Beschwerden der Sudetendeutschen völlig berechtigt erschienen, war ihre Politik vor allem durch eine doppelte Fehleinschätzung Hitlers bestimmt. Dieser Mann, den das Haupt der militärischen Fronde, Halder, einen Verbrecher und Blutsäufer nannte, erschien den Politikern in Whitehall als ein „Gemäßigter", den man gegen eine Umgebung verantwortungsloser, kriegstreiberischer „Radikaler", wie Ribbentrop beispielsweise, stützen müsse. Lord Halifax vertrat die Ansicht104, die Gemäßigten in Berlin würden gerade durch Konzessionen in der Sudetenfrage gestärkt. Von Berlin aus beeinflußte Botschafter Henderson die britische Regierung in der Tendenz, dem seiner Überzeugung nach im Grunde friedenswilligen Hitler Vertrauen entgegenzubringen und ihm die Chance zu geben, „to be a good boy"105. Hinter diesen Auffassungen stand die Vorstellung, daß Hitler mit seinem starken nationalsozialistischen Deutschland die beste Garantie gegen ein weiteres Vordringen des war

eine theoretische

-

-

191 Vgl. Kordt, S. 248, und Krausnick, Vorgeschichte, S. 349 f., Anm. 428, der auch den Widerspruch aufzeigt, der darin lag, daß man einerseits eine entschiedene britische Stellungnahme anstrebte, andererseits aber annahm, Hitler werde dann im letzten Augenblick vor einem Krieg

zurückschrecken. 192 Vgl. hierzu Krausnick, nick-Graml, S. 487 ff. 103

Vorgeschichte,

S. 349

ff.; Ritter, Goerdeler,

S. 178 ff. und 190

ff.;

Kraus-

zum folgenden vgl. Wendt, passim. S. 488. Krausnick-Graml, Vgl. 105 Documents on British Foreign Policy 1919-1939, London 1919, Bd III, 1, S. 604 (fortan DBFP abgekürzt). Vgl. auch Rudi Strauch, Sir Nevile Henderson, Britischer Botschafter in Berlin 1937-1939. Ein Beitrag zur diplomatischen Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges, Bonn 1959

Hierzu und

194

=

Bonner Historische

Forschungen Bd 11.

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

367

russischen Kommunismus sei106. Ihn zu schwächen, gar zu seinem Sturz durch einen Handel mit der oppositionellen Fronde eventuell beizutragen, erschien den Männern in London eine gefährliche, das Schreckgespenst einer „Bolschewisierung" Mitteleuropas heraufbeschwörende Politik zu sein. Ein durch Konzessionen saturiertes Hitler-Deutschland als Kernstüdc eines antibolschewistischen Cordon sanitaire schien der britischen Regierung eine realisierbare Zielvorstellung. Eine groteskere Fehleinschätzung des Diktators als diese sich in einem blinden Antikommunismus erschöpfende konservative Politik107 ist schwer vorstellbar. Die Kehrseite dieser Einschätzung war die Überzeugung der britischen Regierung, daß die Anti-Hitler-Fronde keine annehmbare Alternative zum Hitler-Deutschland darstellte108. Sie mißtraute der konservativen Opposition. Für sie verkörperten diese „Junker" und „Militärs" einen preußisch-deutschen Wilhelminismus unseligen Angedenkens. Das Trauma der Wiedererstehung eines preußisch-militaristischen Deutschlands durch einen erfolgreidien Putsch der konservativen Opposition ließ ihnen Hitlers „Drittes Reich" als das kleinere Übel erscheinen. Chamberlains Bezeichnung der Opposition als „Jacobiten am Hofe von Frankreich"109 zeigt, daß er diese Männer als reaktionäre Frondeure einer vergangenen Epoche ansah, deren Wiedererstehung eine Neuauflage der unheilvollen deutsch-britischen Rivalität vor dem Ersten Weltkrieg mit sich bringen könnte. Angesichts einer vermeintlichen oder tatsächlichen kommunistischen Gefährdung bot die Anti-Hitler-Fronde damit für Whitehall keine politische Alternative, sondern als ein Faktor der Instabilität vielmehr das Risiko eines mitteleuropäischen Unruheherdes110. Diese mißtrauische Aversion gegenüber der Opposition entsprang gewiß einer aufs Ganze gesehen unzutreffenden Klischeevorstellung. Immerhin ist nicht von der Hand zu weisen, daß manche politischen Vorstellungen in den Kreisen der konservativen Fronde stark restaurative oder romantisch-reaktionäre Züge trugen111. Ob die Briten dies nun tatsächlich erkannt hatten oder lediglich ihre präfixierte Vorstellung von einem militärischen Preußen-Deutschland wilhelminischer Prägung auf die konservative Fronde projizierten, mag dahingestellt bleiben. Fest steht jedenfalls, daß infolge ihrer politischen Sterilität die konspirierende Opposition die britischen Klischeevorstellungen nicht abbauen konnte und damit für die maßgebenden Männer in London keine annehmbare Alternative dar-

Vgl. dazu

den Abschnitt „Hitler als Bollwerk gegen den Bolschewismus" bei Wendt, S. 104 ff. Weitere konstitutive Komponenten der britischen Politik waren damals die militärische Schwäche Großbritanniens sowie gewisse wirtschaftliche Interessenkomplexe (vgl. die Ausführungen über die Zusammenhänge von politischem und wirtschaftlichem Appeasement bei Wendt, S. 116 ff. und 121 f.). 198 Über die Einschätzung der Ziele der Fronde durch die Briten als einer Restauration des wilhelminischen Preußen-Deutschland siehe Wendt, S. 17 ff. und 36 ff. 109 Zit. nach Wendt, S. 36 (als Eindruck Chamberlais von Ewald v. Kleist) ; vgl. dazu Scheurig, Kleist, S. 163 f. und S. 230 f. 118 Ebd. S. 52. 111 Vgl. dazu die kritischen Untersuchungen von Graml und Mommsen in: Schmitthenner-Buchheim, S. 15 ff. und 73 ff. los 107

368

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

stellte. Allerdings ist gerechterweise zu bedenken, daß ein Eingehen auf die Anregungen der deutschen Opposition die Briten gezwungen hätte, ihre Deutschlandpolitik auf ein in jeder Hinsicht außergewöhnliches und problematisches Unternehmen zu basieren. Mußte schon die Bildung der „großen Politik" an eine Konspiration aller überkommenen Auffassung von Diplomatie widersprechen, so war gleichfalls eine nicht unnatürliche Skepsis gegenüber den Erfolgschancen eines innerdeutschen Staatsstreiches ein weiteres Moment, das zur Zurückhaltung mahnen mußte. Bei dieser Grundeinstellung Londons mußten alle Bemühungen der deutschen Opposition fruchtlos bleiben. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß Briten und Franzosen seit Ende August eine Fülle zutreffender Informationen und Warnzeichen über die Entwicklung in Deutschland und über die Absichten der deutschen Führung erhielten112. Es kam zwar aufgrund dieser Meldungen seit Ende August zu einem Druck der französischen Regierung auf die Briten, dem sich diese, durch Anregung Weizsäckers113 und Zwischenfälle im Sudetenland beunruhigt, nicht entzogen. Das britische Kabinett beschloß, eine warnende Botschaft an Hitler zu richten. Am 9. September wurden außerdem erste Mobilmachungsmaßnahmen bei der Royal Navy durchgeführt, und am 11. September ließ sich Chamberlain sogar zu einer allerdings verklausulierten Warnung vor der Presse herbei. Das Ganze blieb aber vorerst nur eine Episode, zumal die vom Kabinett beschlossene Warnung auf Vorstellungen Hendersons dann doch nicht ausgeführt wurde. Diese schwachen und vorübergehenden Ansätze einer festeren Haltung waren nur ein Symptom für das stimmungsmäßige und taktische Schwanken der Westmächte im Rahmen eines grundsätzlichen Ausgleichsbemühens um nahezu jeden Preis. Je mehr sich die bedrohlichen Vorzeichen häuften, desto stärker wurde auch die innerdeutsche Spannung. In den Reihen des höheren Offizierkorps wuchs die Besorgnis. Ende August versuchte General Adam nochmals, Hitler anläßlich einer Besichtigung der Westbefestigungen zu warnen, als er die voraussichtliche Lage in diesem Abschnitt bei einem militärischen Eingreifen der Westmächte schilderte. Er holte sich jedoch nur eine massive Abfuhr. Bei einer Einzelheiten hierzu bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 352 f., sowie Paul Stehlin, Auftrag in Berlin, Berlin 1966, S. 64 ff., 81, 127 f., 143, 160 ff., 166 f., der berichtet, daß Görings Vertrauter, General 112

Bodenschatz, ihm häufig

aus eigener Initiative wie auch in Görings Auftrag gezielte Hinweise und Informationen gegeben habe. Vgl. auch über ähnliche Initiativen General Bodenschatz' gegenüber dem polnischen Militärattache, Kap. IX, S. 393, dieser Arbeit. 113 Wendt, S. 55 f. und 58 ff., charakterisiert Weizsäcker als gemäßigten nationalsozialistischen Staatsfunktionär, der damals einen Ausgleich zwischen England und Hitler-Deutschland ebenso eifrig betrieb er befürwortete ein Treffen des Premierministers mit Hitler -, wie er gleichzeitig auch den Putschplan der Fronde unterstützte (vgl. Weizsäcker, S. 193). Wendt übersieht bei seiner Einordnung Weizsäckers als gemäßigten nationalsozialistischen Prominenten, daß im Denken dieser staatlichen Funktionärsgeneration die Identität von „Vaterland" und der seit 1918 jeweils gegenwärtigen staatlich-politischen Organisationsform keineswegs unbedingt gegeben war (vgl. dazu die Ausführungen von Wolfgang Birkenfeld in: Georg Thomas, Rüstungswirtschaft, S. 24); insofern erscheint uns die Klassifizierung Weizsäckers als „nationalsozialistisch" (Wendt, S. 58) un-

angemessen.

VIII. Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

369

die als Oberbefehlshaber der drei Westarmeen in Aussicht genommenen Generäle sich über die politischen und militärischen Gefahren völlig einig. Entsetzt und voller Sorge rief einer der Teilnehmer, der als vorläufig Verabschiedeter dabei unvermittelt mit den Realitäten konfrontiert wurde, aus: „Ja, sind denn diese Leute wahnsinnig geworden114!" Selbst alten Parteigenossen wurde angesichts der Lageentwicklung jener Tage unheimlich, einige suchten sich sogar Orientierung- und hilfeheischend der Heeresführung zu nähern115. Das Anwachsen sorgenvoller Beklemmung hatte übrigens Erscheinungen zur Folge, die symptomatisch für die innere Lage der Armee waren. Es ist beispielsweise interessant zu sehen, wie Jodl angesichts selbst bei ihm aufkommender Besorgnisse hinsichtlich einer Reaktion der Westmächte und angesichts der spürbar werdenden Zurückhaltung Ungarns und Italiens reagierte. Sich selbst sagte er, dieser „Nervenkrieg des Auslandes" müsse eben durchgestanden werden; bei den ebenso besorgten und skeptisch nüchternen Generälen des Heeres dagegen konstatierte er bezeichnenderweise „mangelnde Seelenstärke", „Kleinmut und Besserwissen", die der „Überheblichkeit" der Generäle entspringen würde, die „nicht mehr glauben und nicht mehr gehorchen; weil sie das Genie des Führers nicht anerkennen"116. Der geschulte und über die deutschen Möglichkeiten genau orientierte Generalstäbler Jodl verkannte also keinesfalls die gefährliche Zuspitzung der Lage; aber anstatt mit derselben generalstabsmäßigen Nüchternheit, die seine Lagebeurteilung kennzeichnete, auch die daraus entspringenden Folgerungen zu überdenken, wich er für sich selbst in eine Durchhaltementalität aus und bedachte andere mit diskriminierender Kritik beides symptomatisch für eine geradezu mystische Führergläubigkeit, der gewiß nicht der Leiter der Abteilung „Landesverteidigung" im Oberkommando der Wehrmacht allein verfallen war. Es blieb indessen nicht nur bei solcher einem persönlichen Tagebuch anvertrauten Reaktion. Die regimetreuen Kreise versuchten vielmehr mit massiven Methoden jener sorgenvollen Stimmung, der auch sie sich nicht völlig zu entziehen vermochten, entgegenzuwirken. Jodl hielt es für „das einzig richtige", die Informationsmöglichkeiten der höheren Offiziere zu beschränken, indem besorgniserregende Nachrichten „nur einem kleinsten Kreis" zugänglich gemacht würden117. Keitel wandte sich in einer „sehr erregte[n] Aussprache" an die Amtsgruppenchefs und Abteilungsleiter des Oberkommandos der Wehrmacht, in der er drohte, „daß er keinen Offizier im Oberkommando der Wehrmacht dulden wird, der sich in Kritik, Bedenken und Miesmachen ergeht"118. Göring, der schon einige Wochen vorher bei einem Vortrag behauptet hatte, in den Räumen des Generalstabes herrsche ein Geist der Zaghaftigkeit110, warf in Nürnberg bei einem Essen den bald darauf

von

Adam

geleiteten Besprechung

waren

...

-

114 lls

116 117 118

Vgl. Krausnick, Vorgeschichte,

S. 358 f.

Vgl. Aussage Halders bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 361; vgl. auch Gisevius, Tagebuch Jodl vom 8., 12., 13. 9. 38, IMT XXVIII, S. 376 ff.

S. 372.

Ebd. S. 376, Ebd. S. 378,

Eintrag vom 8. 9. 38. Eintrag vom 13. 9. 38. Vgl. Weichs, Erinnerungen, Bd II,

119 S. 69: „Seltsamerweise drückte ihm nach dieser Rede der Oberbefehlshaber des Heeres und der Marine die Hand."

24

370

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

Offizieren des XIII. Armeekorps ziemlich unverblümt Feigheit vor120. Als sich der Kommandierende General, Freiherr v. Weichs, darüber bei Brauchitsch erregt beschwerte, versuchte ihn dieser, wohl im Bewußtsein seiner eigenen schwachen Position Hitler gegenüber, zu beschwichtigen. Nicht nur Anzeichen bewußter Unterdrückung sachlicher Bedenken offenbarten sich im Laufe dieser Nervenkrise; auch eine auffällige Häufung intriganter Vorfälle zeigte erneut, wie wenig die militärische Führungsschicht noch eine geschlossene, von gemeinschaftlichem Geist geprägte Gruppe war; sie enthüllte vielmehr, wie weit die innere Spaltung bereits gediehen war. Von seiten der Luftwaffe war Hitler das Protokoll einer Besprechung eines Abteilungschefs im Oberkommando der Wehrmacht zugespielt worden, in der wenig zuversichtliche Äußerungen über die Lage im Westen enthalten waren121. Wie das auf den Staatschef wirken mußte, ist unschwer vorstellbar, wenn man sich seiner zornigen Reaktionen auf entsprechende Äußerungen des Generals Adam erinnert. Gleichfalls war General Liebmann bei Göring als einer der „miesmachenden Generale des Heeres" angeschwärzt worden122. Jodl notierte dementsprechend mit sorgenvollem Bedauern, daß „Anklagen beim Führer wegen Miesmachens" erfolgt seien, die zum Entsetzen Keitels sogar auf das Oberkommando der Wehrmacht ausgedehnt würden123. Anlaß dazu hatten eine Denkschrift des Wehrwirtschaftsstabes des Oberkommandos der Wehrmacht über Stärke und Unverletzlichkeit der britischen Rüstungsindustrie sowie Berichte über ein Gespräch des Admirals Canaris mit dem italienischen Generalstabschef Pariani gegeben. So entsprangen der seelischen Belastung, in die die Politik der Staatsführung die Armee gestürzt hatte, bösartige Reaktionen. Für die Opposition, die natürlich von all dem nicht unberührt blieb, wurden die Tage nach dem Nürnberger Parteitag zu einer besonderen Nervenprobe, zumal die Sudetenkrise jetzt in ein akutes Stadium trat. Die ursprünglich von Berlin der Sudetendeutschen Partei (SdP) befohlene Taktik, zu verhandeln und dabei die Forderungen stets höher zu schrauben, als die Gegenseite gewähren konnte, war durch deren Konzessionsbereitschaft allmählich undurchführbar gemacht worden; daher brach die SdP jetzt die Verhandlungen ab und forderte nichts weniger als den Anschluß an das Reich. So schien alles einer Entscheidung zuzutreiben. Halder sagte damals zu General Liebmann ganz offen, es gebe nur ein Mittel, den Lauf der Dinge aufzuhalten: einen gewaltsamen Sturz Hitlers124. Die Nervosität in den Reihen der Opposition zeigte sich in der Ungeduld, mit der die einen drängten und durch die die anderen des Mangels an Entschlossenheit verdächtigt wurden. Gerade zu dieser Zeit, noch vor Berchtesgaden, aber nach dem Ende des Reichsparteitages, fand das geschilderte Gespräch Halders mit Schacht und Gisevius statt, bei dem die internen Differenzen so offensichtlich zutage traten125. Erich Kordt versuchte ebenfalls, bei 129

121 122 123

124 125

Krausnick, Vorgeschichte, S. 359 f. Tagebuch Jodl vom 13. 9. 38, IMT XXVIII, S. 378. Krausnidc, Vorgeschichte, S. 360. Tagebuch Jodl vom 13. 9. 38, IMT XXVIII, S. 378. Krausnick, Vorgeschichte, S. 361, Anm. 490. Vgl. oben S. 354 f.

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

371

den mitverschworenen Militärs zu drängen. Oster beruhigte ihn jedoch, der Staatsstreich würde bestimmt durchgeführt126. In dieses Treiben nun platzte wie eine Bombe die Nachricht von der Bereitschaft Chamberlains, Hitler persönlich in Berditesgaden aufzusuchen, um den Diktator zu veranlassen, seine Gewaltpläne aufzugeben. Das lag ganz in der Konsequenz der Politik der britischen Regierung, die glaubte, gerade eine solche Geste würde „die Gemäßigten in Deutschland stärken"127. Die Verwirrung und der Schock, den dieses Ereignis unter den Verschwörern auslöste, hätten nicht größer sein können: sprachloses Entsetzen packte die einen, Zweifel überfiel die anderen. Brockdorff machte sich angesichts dieses diplomatischen Erfolges Hitlers Sorgen über die Zuverlässigkeit und Einsatzbereitschaft der Truppen bei dem geplanten Staatsstreich. Selbst Witzleben zeigte eine gewisse Unsicherheit und fragte sich, ob seine politischen Berater unter den Verschwörern die Lage richtig berurteilt hätten. Mißstimmung und gegenseitige Vorwürfe blieben wenigstens zeitweilig nicht aus. Es schien, als ob sich ein deutsch-britisches Arrangement zur friedlichen Lösung der Sudetenfrage anbahne und damit der ganzen Konspiration die Grundlage entzogen würde128. Jedoch, wenn Chamberlain sich in Berditesgaden auch bereit erklärt hatte, Hitlers Forderung nach Abtretung des Sudetenlandes zu unterstützen, so blieb die von vielen Zeitgenossen erhoffte, von den Verschwörern gefürchtete Entspannung aus. Hitler hatte sich wie die Verschwörer durch dessen Chef-Dolmetscher erfuhren offen damit gebrüstet, er scheue selbst einen Zweiten Weltkrieg nicht, hoffe nur, ihn noch in voller Manneskraft zu erleben. Dementsprechend schürte er weiter das Feuer. Erich Kordt erfuhr vom Verbindungsmann des Auswärtigen Amtes bei Hitler, dieser würde weiter an eine Zerstückelung der Tschechoslowakei129 denken. Die Presse- und Propagandakampagne wurde fortgesetzt. Zwei Tage nach der Konferenz von Berditesgaden wurde, entgegen früheren Absichten, auf Hitlers Weisung hin aus sudetendeutschen Nationalsozialisten im Reich ein sudetendeutsches Freikorps gebildet130. Hitler mochte dabei der Gedanke leiten, Chamberlain werde das in Berditesgaden besprochene Programm schwerlich durchzusetzen vermögen. Tatsächlich hatte der britische Premier, als am 18. September das britische und französische Kabinett in London zu einer gemeinsamen Sitzung zusammentraten, Schwierigkeiten, die Zustimmung der Franzosen zu erreichen. Daladier bezweifelte Hitlers Versicherung, dies sei seine letzte territoriale Forderung. Er sah voraus, daß es dem Diktator letztlich um die vollständige Zerstückelung der Tschechoslowakei ging. Schließlich einigten sich die -

129 127

-

Kordt,

S. 258. So Lord Halifax: DBFP, Bd III, S. 324.

Zur Interpretation vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 362; Kordt, S. 259; Ritter, Goerdeler, S. 480, Anm. 66 (gegen Wheeler-Bennett, S. 445). 129 Kordt, S. 259; vgl. auch Hitlers Bemerkung gegenüber ungarischen Ministern am 20.9.1938: „...es wäre das beste, die Tschechoslowakei zu zerschlagen." (Zit. nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 362.) 138 IMT XXVIII, S. 381. 128

372

VIII.Der

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Westmächte auf einen Kompromiß: Prag sollte mit Hilfe einer internationalen Kommission die für beide Seiten noch tragbaren Grenzen festlegen, die Westmächte wollten dann den Bestand der Resttschechoslowakei garantieren. Das war bereits ein außerordentliches Entgegenkommen, da England mit der in Aussicht genommenen Garantie ein recht problematisches Engagement auf dem Kontinent einging, Frankreich aber praktisch unter Mißachtung vertraglicher Verpflichtungen einen Verbündeten preisgab. Die sehr weitgehende Konzessionsbereitschaft der Westmächte brachte jedoch keinerlei Entspannung. Als nämlich Chamberlain in Godesberg bei seinem nächsten Besuch (22. bis 23. September) die grundsätzliche Annahme der Forderungen Hitlers durch die Westmächte erklärte und über die konkrete Durchführung verhandeln wollte, verließ Hitler mit klarer Absicht die bisherige Verhandlungsgrundlage. In ultimativer Form er werde spätestens am 1. Oktober angreifen, wenn man bis dahin sich nicht geeinigt hätte verlangte er ohne vorherige Regelung der Modalitäten, insbesondere der Grenzziehung, eine sofortige Besetzung des Sudetenlandes. Das lief auf die vollständige Wehrlosmachung der Tschechoslowakei hinaus, da somit jegliche vertragliche Fixierung der Details fehlte, Hitler also alle Möglichkeiten, vollendete Tatsachen in exzessivem Maße zu schaffen, offenstanden. Hitler hatte also nur scheinbar seine Absicht aufgegeben, zu einer gewaltsamen Lösung zu schreiten; vielmehr hatte der jetzt von ihm unter ultimativem Druck geforderte modus procedendi praktisch den gleichen Effekt. Die Folge war eine erneute Zuspitzung der Krise. Sie wurde gekennzeichnet durch sich überstürzende Lageveränderungen, vor allem aber durch eine nunmehr fühlbar werdende Versteifung der westlichen Haltung. Wiewohl Chamberlain, von Henderson gedrängt, doch auf jeden Fall alle Forderungen Hitlers zu akzeptieren, in Godesberg unermüdlich versucht hatte, durch ständiges Entgegenkommen dem Diktator jeden Kriegsvorwand zu nehmen, konnte er sein Kabinett nicht mehr zur Annahme der Godesberger Verhandlungsergebnisse bringen. Auch das französische Kabinett lehnte einstimmig die Godesberger Forderungen ab. Frankreich mobilisierte 14 Divisionen und verlegte sie an die Maginotlinie. Auf einer am 26. September in London stattfindenden gemeinsamen Ministerberatung traten die Franzosen mit überraschender Entschlossenheit der Kompromißbereitschaft Chamberlains entgegen131. Der Stimmungsumschwung auf westlicher Seite kam in einer Presseerklärung des Foreign Office vom 26. September zum Ausdruck. Sie besagte, daß, falls Deutschland trotz aller ausgleichenden Bemühungen des britischen Premiers die Tschechoslowakei angreife, Frankreich Prag unvermeidlich zu Hilfe eilen und Großbritannien wie Rußland sicherlich Beistand leisten würden. Chamberlain schrieb Hitler auch noch einen Brief, der neben der Versicherung unverminderter britischer Verhandlungsbereitschaft die beschwörende Bitte enthielt, nicht wegen bloßer Methodenfragen einen Krieg vom Zaune zu brechen; gleichzeitig aber wies er unüberhör-

-

bar warnend auf die „tragischen Folgen" einer etwaigen Weigerung Hitlers hin. Dieser Brief, den Chamberlains vertrauter Berater Sir Horace Wilson am Nachmittag des 26. September persönlich überbrachte, rief Hitlers heftigste Ablehnung hervor. Der

181

DBFP, Bd III 2, Nr. 1096 ff. Dazu vgl. auch Rönnefarth, Bd I,

S. 505 f.

VIII.Der

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373

Diktator fuhr den britischen Unterhändler schroff an: Londons Einspruch sei ihm völlig gleichgültig, der Angriff auf die Tschechoslowakei würde am 1. Oktober beginnen, falls bis dahin seine Godesberger Forderungen nicht angenommen worden seien. Eingeschüchtert von der heftigen und intransigenten Haltung Hitlers wagte Wilson es gar nicht mehr, eine zweite, ihm nachgesandte Botschaft des britischen Premiers zu übergeben, die inhaltlich jener zur gleichen Zeit veröffentlichten Presseerklärung des Foreign Office entsprach, also auf Frankreichs Entschlossenheit hinwies, die Tschechoslowakei mit offensiven Maßnahmen zu unterstützen, wodurch England sich gleichfalls zum Handeln gezwungen sehen könnte. Am 26. September war Hitler demnach noch fest entschlossen, das Sudetenproblem auf seine Weise zu lösen. Ab Mittag des nächsten Tages setzte der entscheidende Umschwung ein. Um 13 Uhr hatte Hitler noch den Befehl erteilt, die Angriffstruppen aus ihren Übungsräumen in die vorgesehenen Ausgangsstellungen vorzuziehen132. Als jedoch kurz

darauf Wilson nochmals erschien und ihm, allerdings unter beredten Versicherungen des britischen Verständigungswillens, nunmehr doch jene zweite Botschaft aus London mitteilte, da wurde Hitler stutzig. Er erwiderte: „Also, das bedeutet, daß Frankreich uns angreift und daß England uns angreift? Wir wollen dod. Frankreich nicht angreifen133!" Wenn auch diese Abschiedsaudienz Wilsons bei Hitler noch nicht das Eis gebrochen hatte134, so zeigte der Diktator aufgrund der nunmehr offenkundigen westlichen Entschlossenheit erstmals ein gewisses unsicheres Schwanken. Den entscheidenden Durchbruch bei Hitler brachte diese Episode zwar nicht, wohl aber war es der erste wesentliche Anstoß dazu. Noch schwankte der Diktator. Am Nachmittag akzeptierte er zwar einen entgegenkommenden Antwort-Entwurf Weizsäckers auf Chamberlains Brief vom Tage zuvor, in dem zwischen den Zeilen eine gewisse Bereitschaft zum Einlenken zu erkennen war und der die Versicherung enthielt, er wolle gar nicht die ganze Tschechoslowakei besetzen, sei sogar bereit, dafür Garantie zu geben135. Am Abend ließ er aber als Demonstration deutscher Stärke und Entschlossenheit motorisierte Verbände durch Berlin ziehen136. Sie rief übrigens bei der Bevölkerung nicht die erhoffte Begeisterung, sondern vielmehr eine spürbar depressive Stimmung hervor. Weizsäcker berichtet, daß er dann um Mitternacht Hitler und Ribbentrop wieder ganz entschlossen gefunden habe, die Tschechoslowakei zu vernichten137. Der 27. September war also ein Tag der Unsicherheit und des Schwankens bei Hitler. Der Durchbruch zur Lösung des Problems setzte am anderen Morgen ein. Die Meldungen über eine halb drohende, halb beschwörende Rundfunkrede Chamberlains vom Vorabend,

132

IMT XXV, S. 485 f. Zur

Anm. 502. m 134

135 138 137

Datierung und

DBFP, Bd III 2, Nr. 1129. So Ritter, Goerdeler, S. 194. DBFP, Bd III 2, Nr. 1144; Kordt, S. 264 ff. IMT XXVIII, S. 388.

Weizsäcker,

S. 186.

Uhrzeit

vgl. Krausnick, Vorgesdiichte,

S. 364,

374

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

vollends die Nachricht von den Mobilmachungsmaßnahmen der Royal Navy138, zudem auch die Ribbentrops Quertreibereien geschickt ausmanövrierende Audienz des französischen Botschafters, der eindringlich zur friedlichen Beilegung des Konfliktes mahnte139, verfehlten ihre Wirkung auf Hitler nicht. Auch der Chor warnender Stimmen auf deutscher Seite, in den selbst Göring und Goebbels jetzt einstimmten140, verhallte nunmehr, wie es schien, nicht mehr ungehört. Als dann noch gegen Mittag der Duce zum Einlenken riet und mindestens um eine Verschiebung des Angriffstermins bat, da lenkte Hitler, für den Mussolinis Haltung von größter Bedeutung war141, ein und ließ sich zu einer Konferenz der vier Großmächte in München herbei. Die feste Haltung der Westmächte sowie das Eingreifen Mussolinis bewogen ihn, wenn auch widerwillig142, einer „Etappenlösung" der tschechischen Frage zuzustimmen. Der Friede war vorerst noch einmal gerettet. Dieser Verlauf der Entwicklung, vollends die unerwartete Wende, die in knapp 24 Stunden zwischen dem 27. und 28. September eintrat, überraschte nicht nur die in atemloser Beklemmung das Schauspiel verfolgenden Völker. Überrascht wurden insbesondere die Verschwörer, die mit einem solchen Gang der Dinge natürlich überhaupt nicht mehr gerechnet hatten. Sie, die durch ihre Gesinnungsfreunde im Auswärtigen Amt ständig von der sich mehr und mehr zuspitzenden Lage erfuhren, erwarteten vielmehr in fieberhafter Spannung, daß Hitler den Mobilmachungsbefehl gab und damit den Rubikon zum Kriege überschritt. Die nervliche und seelische Belastung dieser Männer angesichts des raschen Wechsels der Ereignisse mag für den rückschauenden Betrachter kaum zu ermessen sein. Nachdem infolge der Berchtesgadener Besprechungen zeitweilig eine scheinbare Entspannung sich abgezeichnet hatte, brachte die nach dem Godesberger Treffen, an dem Halders Mitarbeiter Karl-Heinrich v. Stülpnagel als Beobachter teilnahm, sich rasch wieder zuspitzende Krise eine um so stärkere stimmungsmäßige Reaktion bei den Verschwörern. Oster rief, als ihm Kordt am Nachmittag des 23. September Unterlagen über die Godesberger Gespräche überreichte, aus: „Jetzt haben wir Gott sei Dank endlich den klaren Beweis, daß Hitler unter allen Umständen zum Kriege treiben will. Nun kann es kein Zurück mehr geben143." Die aus den Worten Osters zu spürende Erleichterung wird verständlich, wenn man sich an die vorübergehenden Differenzen innerhalb der Fronde über den zeitlichen und sachlichen Ansatzpunkt einer Aktion erinnert144. Die Zeit der Sie trafen erst am 28. 9. morgens ein, können daher nicht, wie Ritter, Goerdeler, S. 194, meint, unmittelbar die Wirkung der Audienz Wilsons vom 27. 9. mitbestimmt haben. Damit wird Ritters These, die besagte Audienz habe das Eis gebrochen, relativiert. Vgl. dazu auch die angeführte Aussage Weizsäckers über Hitlers Stimmung in der Nacht vom 27. auf 28. 9. 38. 139 Vgl. DBFP, Bd III 2, S. 619, und Paul Schmidt, Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945, Bonn 1949, S. 410 f. 138

149

Weizsäcker,

S. 188. Hinzu kam noch die starke Zurückhaltung der Ungarn, die Hitler sehr enttäuschte. 142 Weizsäcker, S. 191. 143 Kordt, S. 262. 144 Das Problem tauchte am 27. 9. 38 nochmals kurz auf, als Staatssekretär v. Weizsäcker Erich Kordt mitteilte, er sei dabei, eine versöhnlich gehaltene Antwort Hitlers auf den ChamberlainBrief vom Vortage zu entwerfen, womit er den Diktator in Anknüpfung an einige Wendungen 141

VIII.Der

Kampf gegen den Krieg: Die September-Verschwörung 1938

375

Erörterungen und des Pläneschmiedens schien vorbei, der Augenblick des Handelns in Nähe gerückt. Von nun an setzten die Verschwörer gleichsam zum großen Sprung ins Ungewisse an. Daß Oster sich allerdings erst in den folgenden Tagen mit Hilfe von Kordt einen für den vorgesehenen Stoßtruppeinsatz benötigten Plan der Reichskanzlei besorgen konnte, beweist, daß Halders kurz darauf zum Ausdruck gebrachte Unzufriedenheit über den Stand der technischen Vorbereitungen berechtigt war145. Im übrigen funktionierte das Zusammenspiel der Verschwörer fortan jedoch, wie die Ereignisse zeigten, zufriedenstellend. Erich Kordt und Oster verabredeten eine laufende gegenseitige Information. Am Vormittag des 29. September teilte Kordt Oster den Inhalt des Briefwechsels zwischen Hitler und Chamberlain vom 26727. September mit. Seit Hitlers Sportpalastrede und der wütenden Abfuhr, die der Diktator dem britischen Unterhändler Wilson bei der ersten Unterredung erteilt hatte was bei den Verschwörern bekannt geworden war -, war man bei der Opposition völlig überzeugt, daß der 29. September die erwartete Katastrophe bringen würde. Aus dieser psychologischen Situation heraus erklärt sich, daß das nun über Oster, Gisevius und Witzleben zu Halder gelangte Material Kordts bei den Militärs Zorn und Entrüstung hervorrief. Daraufhin entschlossen sich Witzleben und Halder, ihren Oberbefehlshaber zu unterrichten. Brauchitsch soll angesichts der ihm von den beiden Generälen vorgelegten Schriftstücke ausgerufen haben: „Also hat er mich wieder belogen!"146, worauf ihn Witzleben, die Karten offen auf den Tisch legend, für eine Aktion gegen Hitler offenbar gewinnen konnte147. Der ObdH begab sich sofort in die Reichskanzlei, um sich persönlich Klarheit über die Lage zu verschaffen, bevor er sich entschloß, selbst das Signal zur Aktion zu geben, wozu ihn insbesondere Witzleben geradezu flehentlich bat148. Daß Brauchitsch sich die letzte Entscheidung bis zu seiner Rückkehr vorbehielt, mag als ein letzter innerer Vorbehalt des ObdH, vielleicht als Absicht gedeutet werden, sich dem Drängen der beiden Generäle zu entziehen149; immerhin ist es andererseits verständlich, daß der ObdH vor einem Schritt von der Tragweite eines Staatsstreiches das Bedürfnis hatte, sich persönlich letzte Klarheit

greifbare

-

Sportpalastrede (26.9. abends) auf einen ausdrücklichen Verzicht auf weitere territoriale Forderungen festzulegen gedachte. Der schon innerlich ganz auf eine Aktion gestimmte Kordt protestierte, aber der Staatssekretär erwiderte ungehalten: „Wir müssen auf unserer Ebene alles getan haben, um den Krieg zu vermeiden und dürfen nicht va banque spielen." aus

145 146

147 148

dessen

E. Kordt, S. 263; Ritter, Goerdeler, S. 479, Anm. 61. Kordt, S. 269. Vgl. Kordt, S. 269, Gisevius, S. 377. Es hat den Anschein, daß damals sogar schon einige Vertrauensleute der Konspiration in

hohen Truppenkommandos Hinweise auf eine unmittelbar bevorstehende Aktion der Verschwörer erhalten haben, so General Olbricht, der Chef des Generalstabes des GenKdo. IV. AK: Vgl. dazu Röhricht, S. 137 ff. Danach sollten einige motorisierte Verbände, die aus Geheimhaltungsgründen ihre Ausgangsstellungen erst in der Nacht erreichen würden, auf Berlin abgedreht werden. Außerdem sollte das Stichwort für den Angriff auf die Tschechoslowakei vom OKH nicht weitergegeben werden. Röhricht, damals Ulbrichts Ia, hat, als dieser ihn einweihte, nach seiner Aussage militärtechnische und politisch-psychologische Bedenken geltend gemacht. 149

So

Gisevius, S.

377.

376

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verschaffen. Jedenfalls haben die beiden Generäle damals kein Ausweichen in Brauchitschs Verhalten gesehen, wie aus der Bemerkung Witzlebens hervorgeht, der kurz darauf Gisevius zurief: „Doktor, gleich ist es soweit!" Inzwischen liefen bei Oster die verschiedenen Alarmnachrichten zusammen. Kordt erhielt gegen 11 Uhr von seinem Bruder Theo aus London einen Anruf, in dem der Botschaftsrat nochmals eindringlich darauf hinwies, daß bei einem gewaltsamen deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei Großbritannien ohne Zweifel zum Kriege schreiten werde150. Schulenburg, der auch von Brauchitschs angeblicher Geneigtheit bereits Kenntnis hatte, wurde von Kordt verständigt, daß der Krieg jeden Augenblick ausbrechen könne und daher sofort gehandelt werden müsse. Witzlebens Stoßtrupp stand inzwischen auf Abruf bereit. Erich Kordt, der sich vergewissert hatte, daß in der Reichskanzlei noch keinerlei außergewöhnliche Sicherungsmaßnahmen getroffen worden waren, hoffte, bei dem dort herrschenden Kommen und Gehen Schulenburg in das Gebäude hineinbringen zu können und unbemerkt dem Stoßtrupp die große Eingangstür hinter den Wachen zu öffnen151. Schulenburg begab sich sofort zu Witzleben und Halder. Der Generalstabschef war bereit, jetzt das Zeichen zum Losschlagen zu geben. Da überbrachte ein Adjutant die Meldung vom Eingreifen Mussolinis und der bevorstehenden Konferenz von München152. Oster, Kordt, Gisevius und Schulenburg, in nervenaufreibender Spannung Halders Startzeichen erwartend, wurden von dem mitverschworenen Legationsrat Brücklmeier, der in der Reichskanzlei die dramatischen Ereignisse miterlebt hatte, von Mussolinis Vermittlung und dem Konferenzvorhaben verständigt. Damit war dem Aktionsplan, so wie er angelegt war, jede Voraussetzung entzogen. Gisevius, der „ewige Putschist", versuchte noch in trotzig sinnloser Aufwallung, Witzleben zum Handeln zu veranlassen, mußte sich jedoch von dem General mit aller Deutlichkeit sagen lassen, was der Truppe angesichts einem offensichtlich triumphierenden Diktator gegenüber zuzumuten war153. Goerdeler schrieb kurz darauf einem amerikanischen Freund einen Brief, der die ohnmächtig verzweifelte Stimmung der deutschen Opposition nach München ebenso widerspiegelt wie die historische Bedeutung des 28. September für Deutschland und Europa: „Eine ausgezeichnete Gelegenheit ist verpaßt worden. Das deutsche Volk wollte keinen Krieg; die Armee würde alles getan Wenn England eine entschlossene Haltung gezeigt und haben, ihn zu vermeiden öffentlich dem deutschen Volk erklärt hätte: wir sind bereit, alle eure begründeten Ansprüche zu befriedigen, doch nicht unter dem Druck der Gewalt, und nur, wenn alle Fragen auf einmal in aller Offenheit und mit der festen Absicht erörtert werden, einen gesicherten Dauerfrieden herzustellen und die gefährlichen Lasten der Aufrüstung zu beseitigen, wenn England und Frankreich nur das Risiko eines Krieges auf sich genommen hätten, Hitler würde nie Gewalt angewendet haben. Und dann wäre er der Blamierte gewesen, und nicht, wie es jetzt der Fall ist, die guten Elemente meines Volkes. zu

-

.

150

Kordt,

151

Ebd.

152

Krausnick, Vorgeschichte,

153

..

S. 269.

Gisevius, S. 378.

S.

368; Bor, S. 122; Kordt, S. 270 f.

-

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Es wäre das Ende Hitlers gewesen... Das Münchener Abkommen war nichts anders als eine glatte Kapitulation Frankreichs und Englands vor aufgeblasenen Gaukelspielern. Indem Mr. Chamberlain vor einem kleinen Risiko zurückscheute, hat er einen Krieg unvermeidbar gemacht. Das englische wie das französische Volk werden nun ihre Freiheit mit den Waffen zu verteidigen haben, es sei denn, daß sie ein Sklavendasein vorziehen. Doch sie werden in der Zukunft unter weit schwierigeren Bedingungen zu kämpfen haben154." Der Tag von München war für die deutsche Opposition wie Krausnick schreibt155 zum Dies ater geworden. -

Ritter, Goerdeler, S. 198 f. Vgl. auch Hassell, S. 22. Krausnick, Vorgeschichte, S. 368.

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IX. VON MÜNCHEN BIS ZUM KRIEGSAUSBRUCH

Wendung, die der Gang der Ereignisse mit der Konferenz von München genommen hatte, entzog der Konspiration ihre inneren Voraussetzungen. Die Männer der Opposition hatten das politische Scheitern Hitlers, das nach ihrer Beurteilung der Lage unausweichlich schien, zur Grundlage des Handelns gemacht. Hitlers Erfolg erschütterte daher die Grundlage ihres Planes. Zugleich erlitt ihr Selbstvertrauen, ihre innere Gewißheit von der Richtigkeit ihrer fachlichen und sachgemäßen Beurteilung einen schweren Stoß. Sie fühlten sich wie der zitierte Brief Goerdelers zeigte von den Westmächten im Stich gelassen, die sie allzu selbstverständlich als ihre natürlichen Bundesgenossen gegen den Diktator angesehen hatten. Insofern trifft zu, was Henderson allerdings in einem anderen Zusammenhang kurz nach München schrieb1: „Wie die Dinge liegen, haben wir durch die Erhaltung des Friedens Hitler und sein Regime gerettet." Hitlers diplomatischer Erfolg hatte sein persönliches Prestige im Volk erheblich gesteigert. Die von ihm offensichtlich erreichte Durchsetzung scheinbarer oder tatsächlicher nationaler Interessen steigerte die Neigung, gewisse unerfreuliche Tatbestände des Regimes zu übersehen oder deren Bedeutung geringer einzuschätzen. Damit aber stand bei nüchterner Betrachtung das Reservoir der potentiellen Verbündeten, nämlich aller jener, die zwar nicht grundsätzlich das Regime ablehnten, aber deren zeitweilig heftige Kritik sich an einzelnen Erscheinungsformen des „Dritten Reiches" entzündete, der Opposition für den „Ernstfall" nicht mehr zur Verfügung. So verengte sich ihre Basis. Das führte zusammen Die

unerwartete

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mit der Erschütterung des Selbstvertrauens und der inneren Sicherheit dazu, daß sie vorerst keine praktische Möglichkeit zu aktivem Widerstand mehr sah. Halder äußerte damals gegenüber einem Vertrauten2, das Ziel bleibe unverändert, aber Hitlers unwahrscheinliches Glück auf außenpolitischem Gebiet lasse zur Zeit irgendwelche Aktionen als unmöglich erscheinen. Offiziere und Soldaten seien von Hitlers Erfolgen gebannt; da das Ausland keine Konsequenzen gezogen habe, sondern im Gegenteil alles hinnehme, sei man in diesen Kreisen davon überzeugt, daß die Dinge weiterhin im Guten verlaufen würden eine Lagebeurteilung, die, wie heute zur Verfügung stehende Quellen beweisen, sogar noch bis zum September 1939 als zutreffend zu bezeichnen ist3. Verbitterung, resignierende Skepsis, verwirrte und verwirrende Ratlosigkeit machten sich in den Reihen der Opposition breit. Die unter großen Schwierigkeiten geknüpften Kontakte lockerten sich, gegenseitige Kritik und schleichendes Mißtrauen kamen auf. Man sah keine klare Richtung des Handelns mehr; es zerbröckelte die innere, bei der heterogenen Zusammensetzung nie ganz stabil gegründete Einheitlichkeit. Zweifel und Kritik an der -

1 2 3

DBFP, Bd III, Appendix I, S. 615. Krausnick, Vorgeschichte, S. 370.

Vgl. S. 414 dieses Kapitels.

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zum

Kriegsausbruch

379

Richtigkeit der moralisch-politischen Prognosen Becks erhoben sich4, Mißtrauen an der Aufrichtigkeit Schachts5 wurden laut. Der Resignation, wie sie Fritsch, aber auch Hammerstein ausdrückten, versuchte Hassell zwar zu widersprechen, er mußte sich aber selbst eingestehen, daß es kaum noch begründete Hoffnung gebe, „die Reise in den Abgrund aufzuhalten"6. Goerdeler, aktiv wie immer, hielt zwar sogleich nach München weiterhin nach Mitteln und Möglichkeiten Ausschau, aber was er plante und dachte, waren utopische „Phantasiegebilde"7, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hatten und insofern ebenfalls nur ein betrübliches Symptom für die unheilvolle Lage der Opposition waren.

Nicht nur für die militärische Opposition, sondern für die Armee insgesamt hatte das Abkommen von München bedenkliche Folgen. Es blieb nicht aus, daß die diplomatischen Erfolge des seiner Intuition vertrauenden Diktators dem Selbstgefühl der scheinbar in ihrem militärischen Sachverstand durch den Gang der Ereignisse widerlegten Generalität einen erheblichen Stoß versetzten und ihr Prestige schmälerten8. Hatte sich nicht Becks Auffassung, die mutatis mutandis doch von allen führenden Generälen, wenn nicht in ihren Folgerungen, so doch in ihrem sachlichen Gehalt, anerkannt worden war, als scheinbar verfehlt herausgestellt? Damit hatte die Führung des Heeres eine bedenkliche Schlappe erlitten; sie sollte noch weitere Einbußen ihres Ansehens und ihrer Stellung erleiden. Hitler versäumte es nicht, unterstützt von seinen Gefolgsleuten im Oberkommando der Wehrmacht, entsprechend nachzustoßen. Mitte Oktober entwarf das OKW einen „Erlaß des Führers und Obersten Befehlshabers der Wehrmacht", der, formal als „Aufruf an die Offiziere" stilisiert, nahezu unverhüllte Kritik an der Haltung des Generalstabes enthielt und direkt auf das im Sinne des Regimes unbefriedigende Verhalten der Führung der bewaffneten Macht in den letzten Monaten einging9. Der Erlaß ist insbesondere deswegen so bezeichnend für die Argumentation der nationalsozialistischen Wehrmachtführung, weil in ihm an sich objektiv richtige Feststellungen in einen ideologisch-irrationalen Zusammenhang gestellt und damit zum Zwecke des totalitären Führerstaates manipulierbar gemacht wurden. Eine für den politischen Stil des Regimes typische Methode hatte damit Eingang in den Bereich der militärischen Führung gefunden. So wird die unbestreitbare Feststellung, daß es „allein Aufgabe des Staatsmannes" sei, „die militärischen Realitäten als Größenfaktor richtig einzureihen in die politische Zielsetzung", dadurch problematisch, daß gleichzeitig vom Offizier, welche Position auch immer er innehabe, ausschließlich „gläubige und trotzige Entschlossenheit", „Gehorsam,... Gefolgstreue und der Glaube an seine Führung", keineswegs aber verant-

Hassell, S. 23. Hassell, S. 40. 6 Hassell, S. 36 und 39. 7 Ritter, Goerdeler, S. 200 und 209. 8 Vgl. Manstein, S. 14. 9 MGFA/DZ OKW 193 (III W 50/1): Handakte Chef WFA, darin Entwurf des genannten Erlasses, datiert vom 19. 10. 38. Es war nicht festzustellen, von welcher Stelle im OKW dieser Entwurf angefertigt und ob er tatsächlich herausgegeben worden ist. Auf jeden Fall aber kennzeichnet 4 5

er

die Tendenz des OKW.

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wortliche Fachberatung und die Tatsachen nüchtern wertendes Kalkül verlangt wurden. Hier scheint die von Jodl in seinen Tagebuchaufzeichnungen10 vertretene Auffassung durch, nach der Gehorsam und Glaube an das „Genie des Führers" in der heutigen Zeit die wichtigsten Tugenden des Offiziers zu sein hätten; denn wie er am 29. 9. 38 schrieb11 in der Sudetenkrise habe das „Genie des Führers" allein den Sieg gebracht. Becks Forderung nach mitverantwortlicher Beratung und Entschlußfassung wird damit zurückgewiesen. Weiterhin versucht der Erlaß, durch unzutreffende Unterstellungen die fachliche Autorität des Offizierkorps, insbesondere des Generalstabes und dessen Führung, zu untergraben. Er rügte nämlich, daß es „eine sonderbare Erziehung des Offiziers" sei, wenn dieser lediglich „gehalten würde, die eigene und feindliche Stärke nüchtern gegeneinander abzuschätzen" und alle die moralischen Faktoren geringzuschätzen oder zu übersehen, „die zu allen Zeiten über Sieg und Niederlage bestimmend mitgewirkt" hätten. Genau das aber konnte man der Heeresleitung gerade nicht vorwerfen; insbesondere Beck hat vielmehr neben dem Abwägen der realen Kräftefaktoren immer auch nachdrücklich auf die Bedeutung der moralischen Komponenten hingewiesen. Dem Verfasser des Erlasses aber ging es gar nicht um eine ausgewogene Berücksichtigung realer und moralischer Faktoren, sondern einzig und allein um die Rechtfertigung einer Risikopolitik und um die bedingungslos-gläubige Unterwerfung unter eine als unfehlbar aufgefaßte Führung. Daher setzt sich der Erlaß nicht sachlich mit der in den vergangenen Monaten von der Heeresführung wiederholt dargelegten Warnung auseinander, eine gewagte Außenpolitik werde eine für das Reich in jeder Hinsicht ungünstige und verhängnisvolle machtpolitische Konstellation hervorrufen, sondern stellt schlicht und lapidar dazu fest: „Der Kampf gegen Übermacht ist von jeher deutsches Schidcsal gewesen." Für eine derartige jeder Vernunft entratende Ansicht ist natürlich von vornherein jegliche verantwortungsbewußte, abwägende Lagebeurteilung und Entschlußfassung ein sinnloses Unterfangen; für sie bleibt tatsächlich nur der Rückgriff auf irrationale „Gefolgschaftstreue" und die Realitäten nicht beachtender „Glaube". Darauf allein kam es offensichtlich dem Urheber des Erlasses an, nicht aber auf das vom Generalstab gepflegte Abwägen aller relevanten Faktoren. In einen solchen Zusammenhang gestellt, zielen die in dem Erlaß mit den Worten „unsoldatische Erscheinungen" und „Zeichen falscher soldatischer Erziehung" massiv gerügten Verhaltensweisen nicht auf tatsächliche militärische Fehlhaltungen, sondern bezwecken eine Diskriminierung von im großen und ganzen bewährten militärischen Arbeitsweisen zugunsten einer den führenden Soldaten entmündigenden totalitären Führungsweise. Ähnlich unsachlich wurden die von den führenden Militärs bisher oft vorgebrachten Hinweise auf die unzureichende Kriegsbereitschaft der Streitkräfte, die eine zu kriegerischen Verwicklungen führende Politik wenigstens vorerst noch verbiete, kurzerhand mit dem Argument vom Tisch gewischt, daß, wolle der Staatsmann -

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darauf warten, bis seine Wehrmacht in vollem Maße kriegsbereit sei, er nie zum Handeln käme, „denn eine Wehrmacht ist nie fertig, ja sie darf es gar nicht sein". Der richtige 19 11

Tagebuch Jodl vom 13. 9. 38, IMT XXVIII, S. 379. Halder-Tagebuch, Bd I, S. 84, vom 25. 9. 39, und Jacobsen, S. 8.

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Gedanke, daß jede Armee immer der fortschreitenden technischen und militärischen Entwicklung unterworfen ist, wird hier pervertierend benutzt, um die ebenso richtige und dazu in keinem Widerspruch stehende Ansicht, die einer Armee gestellten Aufgaben

müßten dem jeweiligen Stand der Streitkräfte angepaßt sein, als falsch und verwerflich brandmarken. Indirekt sollte damit wohl jene in der Sudetenkrise praktizierte Risikopolitik nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar als klassische Staatskunst hingestellt werden. In diesem Sinne rühmt der Erlaß abschließend „felsenfestes Vertrauen" und „gläubige und trotzige Entschlossenheit" als „vorbildliche Haltung" und stellt sie im Hinblick auf den diplomatischen Sieg von München als „die durch Erfolg erhärteten Erkenntnisse dieses großen geschichtlichen Erlebnisses" hin. Dieser Erlaß zeigt eindrucksvoll, wie und mit welchen Methoden die nationalsozialistische Führung, unterstützt durch führende Männer12 im Oberkommando der Wehrmacht, die infolge der außenpolitischen Ereignisse der letzten Zeit entstandene Situation sogleich ausnutzte, um die höhere militärische Führung moralisch unter Druck zu setzen und das Offizierkorps im Sinne des totalitären Führungsprinzips geistig zu formieren. Daß der Zeitpunkt dazu geschickt gewählt war, läßt sich nicht bestreiten. Durch den Erfolg von München war Hitlers Prestige in dem Maße gewachsen, wie das der militärischen Führung sich gemindert und Unsicherheit in den Reihen der Armee sich breit gemacht hatte. Indessen blieb es nicht bloß bei der Ausübung moralischen Druckes. Hitler nutzte die Gunst der Stunde. Er verabschiedete eine Reihe mißliebiger, mehr oder weniger oppositionell eingestellter Generäle wie Adam, Liebmann, Geyer und Ulex und entzog dadurch jeder künftigen militärischen Fronde wertvolle Kräfte. Damit schmolz auch die Phalanx jener Persönlichkeiten zusammen, die willens und in der Lage waren, offen und sachgerecht den militärischen Sachverstand gegenüber der Staatsführung zur Geltung zu bringen und der Heeresführung entsprechenden Rückhalt zu verleihen. Das Gewicht der Armee wurde also weiterhin gemindert, Hitlers Macht aber gestärkt. Gleichzeitig wurde eine grundsätzliche Änderung hinsichtlich der Mitverantwortlichkeit des Generalstabes auf allen Führungsebenen befohlen13. Der Sonderdienstweg und das Prinzip der Mitverantwortlichkeit des Generalstabes, aber auch das seit Moltkes Zeiten praktizierte Recht höherer Offiziere, abweichende Meinungen aktenkundig zu machen, wurde nunmehr abgeschafft. Der Generalstabsoffizier so bestimmte dann 1939 das neue Handbuch für zu

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12

Warlimont,

S. 51.

Nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 372; Foertsch, S. 163; Bor, S. 78 f.; Westphal, S. 42, u. a. soll Hitler diese Änderung befohlen haben. Generaloberst a. D. Halder teilte jedoch dem MGFA am 3. 6.1960 mit (MGFA/DZ VS-Nr. 238/61), er habe als Generalstabschef die eindeutige Verantwortlichkeit des Befehlshabers gewollt und daher im „Handbuch für den Generalstabsdienst im Kriege" (Teil I, abgeschlossen 1. 8. 39, S. 15) die in der Fassung vom 5. 2. 36 enthaltene Verfügung gestrichen, daß die Chefs der Generalstäbe der Armeen und Korps ihre gegenteilige Ansicht aktenkundig machen könnten. Im Gegensatz zu Beck sei er der Auffassung gewesen, daß der Generalstabsoffizier keine offizielle Mitverantwortung mit dem Befehlshaber teile. Vgl. dagegen jedoch die Ausführungen von Friedrich Hoßbach, Verantwortlichkeit der Generalstabsoffiziere in der deutschen Armee, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 118 (1952), S. 220 ff., insbesondere S. 222. 13

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den Generalstabsdienst im Kriege habe fortan nur noch Gehilfe, nicht aber verantwortlicher Teilhaber an den Entschlüssen eines Befehlshabers zu sein. Das war ein weiterer Akt zur Gleichschaltung des militärischen Führungsapparates und zur Durchsetzung des Führerprinzips im nationalsozialistischen Sinne; das war zugleich auch ein Schlag gegen den Generalstab als das Zentrum der fachlichen Opposition. In dem Bestreben, die Heeresführung und den Generalstab in seinem Sinne zur Raison zu bringen, fand Hitler die willfährige Unterstützung der Spitzen des Oberkommandos der Wehrmacht, wie bereits der Entwurf des erwähnten Führererlasses zeigt. Jodl gab dem mit der interimistischen Übernahme des Postens eines Chefs des Wehrmachtführungsamtes betrauten Oberst d. G. Warlimont Anfang Oktober zu verstehen, daß trotz des Wechsels an der Spitze des Generalstabes des Heeres im Oberkommando des Heeres immer noch eine unverändert starke Strömung gegen Hitlers Absichten und Befehle fortbestehe; er verlange von ihm als nunmehrigem Mitarbeiter des Oberkommandos der Wehrmacht, in diesem Konflikt „eindeutig Stellung zu beziehen und auch das persönliche Verhalten zum Generalstab des Heeres entsprechend einzurichten"14. Auch andere Offiziere, die in der Umgebung Hitlers Dienst taten, ließen es sich angelegen sein, gegenüber Kameraden Hitlers Unzufriedenheit und Mißfallen über das Heer mit klagend-vorwurfsvollen Worten zu verbreiten. Hitlers Wehrmachtadjutant machte sich in einem Gespräch Anfang 1939 gegenüber einem ehemaligen Regimentskameraden des „Führers" Ansicht zu eigen, „durch Haltlosigkeit besonders der Generalität sei viel Vertrauen verschüttet worden"15. So weit war die Spaltung unter den höheren Offizieren des Heeres denn auch die Spitzen des Oberkommandos der Wehrmacht waren aus diesem hervorschon gediehen. Demgemäß fand das Oberkommando des Heeres in den gegangen Repräsentanten des Oberkommandos der Wehrmacht keine Unterstützung, als Hitler es geradezu darauf anlegte, wo es nur möglich war, das Widerstreben der Heeresleitung zu brechen und ihr zu zeigen, daß er unumschränkter Herr im Hause war. Als er Anfang November 1938 Keitel befahl, zusammen mit der Führung des Heeres eine Besichtigungsreise zu den Ostbefestigungen vorzubereiten, setzte dieser den ObdH unter Druck, der im Bewußtsein dessen, was er nach den Erfahrungen der jüngsten Besichtigung Hitlers am Westwall dabei zu erwarten hatte, sich einer Teilnahme zu entziehen suchte. Brauchitschs Vorahnungen waren nicht falsch. Die Reise brachte wie Keitel es ebenfalls geahnt hatte16 für das Heer nur Ärgernisse. Hitler kritisierte das bisher Geleistete in heftiger Weise17, gab seinem Mißfallen gegenüber dem Oberkommando des Heeres deutlich Ausdruck und setzte den Inspekteur der Pioniere und Festungen persönlich ab. -

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14

Warlimont,

Adjutanten,

Jodls

vom

S. 33;

aus

dem

28. 7. 39

vgl. auch ähnliche Ausführungen des Oberstleutnants Schmundt, Hitlers Frühjahr 1939, bei Teske, S. 59; vgl. weiterhin bei Keitel, S. 215, den Brief

an

seine

spätere Frau,

wo er

bezüglich

der Feindseite..." schreibt. Vgl. dazu die Stellungnahme Volk", Mai 1963, Nr. 5, S. 5. 13 Teske, S. 59. 18 Keitel, S. 197. 17 viel Gutes wurde nicht daran gelassen." Ebd.: „...

des Generalstabes des Heeres als „von von Frau Luise Jodl, in: „Soldat im

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383

höchster Stelle offensichtlich bewußt geführte Nervenkrieg gegen die Heeressich bis ins Frühjahr 1939 fort. Hitler hielt am 10. Februar 1939 den in leitung Berlin zur Besichtigung der neuen Reichskanzlei versammelten Gruppenoberbefehlshabern in der Kroll-Oper einen langen Vortrag über „Aufgaben und Pflichten des Offiziers im nationalsozialistischen Staat"18, in dem er ganz im Sinne jenes „Aufruf"-Entwurfes, den das Wehrmachtführungsamt im Oktober des Vorjahres verfaßt hatte, mit heftigen Worten die „pessimistischen Elemente" in der militärischen Führungsschicht tadelte19, die seit Schlieffen angeblich herrschende „intellektuelle Vergeistigung" und „Uberzüchtung" kritisierte und in deutlichem Bezug auf Beck bemerkte: „Ich will keine warnenden Denkschriften mehr." Unter Hinweis auf den „Fall Adam" warf er dem Offizierkorps vor, während der Sudetenkrise in Pessimismus verfallen zu sein. Er forderte einen „absolut radikalen Wandel", Leitbild müsse künftig der „gläubige Offizier" sein, „Vertrauen in blinder Zuversicht" tue Not. Der ObdH müsse das Offizierkorps „wenden"20. In diesen Zusammenhang gehört auch eine Rede, die Göring als „ältester Offizier der Wehrmacht"21 vor einem Kreis hoher militärischer Führer hielt. Er machte der Armee unverblümt den Vorwurf, ihre traditionsgebundene Einstellung passe nicht in das nationalsozialistische System. Die Rede war nach Ton und Inhalt derart, daß, wie der anwesende General v. Manstein meinte, Generaloberst v. Brauchitsch sie „unter gar keinen Umständen hätte einstecken dürfen"22. Mit der Tendenz, unter Ausnutzung der besonderen psychologischen Situation der Armee die Führung des Heeres unter Druck zu setzen, ging das Bestreben einher, die Streitkräfte nach der dramatischen Entwicklung der letzten Zeit von der Außenpolitik abzuschließen und auf ihren engsten Fachbereich zu verweisen. Zu diesem Behuf wurde den Offizieren im Oberkommando der Wehrmacht sogar die Benutzung des Terminus „Militärpolitik" verboten, da er angeblich eine „Einmischung" des Militärs in den politischen Bereich beinhalte23. Die Tatsache, daß die Offiziere des Oberkommandos der Wehrmacht diesen Befehl nicht als ungewöhnlich empfanden, vielmehr in ihm einen Ausfluß des Grundsatzes „der säuberlichen Trennung von Militär und Politik" sahen, der ihnen „zunächst richtig zu sein... schien"24, zeigt, wie wenig im mittleren und jüngeren Offizierkorps auch des Generalstabes das einstige Konzept der Machtteilhabe fundiert gewesen war. Unter diesen Umständen stieß die Weisung Hitlers vom Dezember 193825 auf bereitwillige ZustimDer

von

setzte

Zu Zeitpunkt und Thema vgl. Domarus, Bd II, S. 1075. Zum Inhalt vgl. Keitel, S. 410 (Wiedergabe nach einer Aufzeichnung Keitels). 20 Nach Keitel, S. 410, habe Hitler weiterhin ausgeführt, die Wehrmacht müsse bis 1942 einsatzbereit sein. Die „Generalauseinandersetzung" mit England und Frankreich sei unvermeidlich. Er werde sie herbeiführen, wenn die Zeit sich anbiete. Nach Hassell, S. 44, habe sieh der ObdH später von dieser Rede Hitlers sehr angetan gezeigt. 21 Er war am 4. 2. 38 zum Feldmarschall befördert worden. 22 Erich v. Manstein, Verlorene Siege, Frankfurt a. M. 41963, S. 74. 23 Loßberg, S. 33. 24 Ebd. 25 IMT XX, S. 623 (Aussage Brauchitschs). Vgl. auch Foerster, S. 150; Görlitz, S. 487, und Kraus18 19

nick, Vorgeschichte, S. 372.

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„Führer" stellte darin fest, daß bei der gegenwärtigen politischen Lage militäSpannungen für absehbare Zeit unwahrscheinlich seien. Das Heer habe daher bis

mung. Der

rische

Jahre 1945 den vorgesehenen planmäßigen Aufbau durchzuführen. Jegliche Vorbereitungen für einen Aufmarsch oder eine Operation seien verboten. Die Weisung wie auch die Vorbefehle für eine eventuelle Besetzung des Memelgebietes26 und der Resttschechoslowakei, in denen diese Aktionen nur als Möglichkeiten erwähnt und für den Fall einer Durchführung ausdrücklich als „Befriedungs"- bzw. Besetzungsaktionen, nicht aber als kriegerische Operationen bezeichnet wurden, haben insofern durchaus ihren Zweck erfüllt. Dem Offizierkorps und vor allem zahlreichen höheren Führern des Heeres wurde dadurch der Eindruck suggeriert, es stünde nunmehr eine Periode außenpolitischer Ruhe bevor. Dieser Eindruck, der bei vielen bis kurz vor Kriegsausbruch anhielt, war gar nicht so unverständlich, wie es heute im Rückblick erscheinen mag. Aufgrund der gesamten psychologischen Situation machte sich auch in der Armee die durch offizielle und offiziöse Verlautbarungen noch bestärkte Auffassung breit, Deutschland sei ja nun nach Einverleibung des Sudetenlandes saturiert. Das verminderte für irgendwelche oppositionellen Strömungen innerhalb des Generalstabes und der Generalität die Erfolgschancen erhebzum

lich. All dies mag eine nachhaltige Wirkung auf den ObdH ausgeübt haben. Er spürte sehr wohl die Ungnade des Diktators, fühlte den fortlaufenden Vertrauensschwund, den er bei Hitler erlitt. Vielleicht neigte er auch bewußt oder unbewußt dazu, seine auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise vorsichtig angedeutete indirekte Bereitschaft, Halders Aktionsplan zu unterstützen, jetzt durch eine Mischung von Zurückhaltung auf der einen und Eifer auf der anderen Seite zu bemänteln oder vor sich selbst vergessen zu machen. Gewiß wird er auch die massive Andeutung Hitlers verstanden haben, die dieser im Februar 1939 während einer Rede vor höheren Offizieren machte, in die er einen Rückblick auf die Fritsch-Affäre einflocht. Er erklärte, ein politischer Führer könne keinen Oberbefehlshaber brauchen, der in allem immer nur militärische und politische Schwierigkeiten sehe und sich deshalb dem Staatsoberhaupt versage27. Jedenfalls versuchte Brauchitsch, nach Möglichkeit irgendwelchen Gelegenheiten28, die einen Zusammenstoß mit Hitler befürchten ließen, aus dem Wege zu gehen29. Er vermied es, wie beispielsweise bei der erwähnten Rede Görings, dort seinen Widerspruch anzumelden, wo es im Interesse des Heeres geboten schien. Auch wich er Diskussionen mit höheren Führern aus, wenn es um das Verhältnis von Heeresleitung und politischer Spitze ging. General Liebmann legte vor seiner Verabschiedung im Oktober 1938 dem ObdH einen Bericht vor30, in dem er unter Hinweis auf die Ereignisse während der Sudetenkrise auf die schwere Erschütterung des Vertrauens zwischen der oberen Führung des Heeres und der Staatsführung hin26

IMT XXXIV, S. 481, Dok. C-137 vom 21. 10. 38. A. Graf. v. Kielmansegg, S. 35. 28 Vgl. seine Diskussion mit Keitel anläßlich der Besichtigung der Ostbefestigungen, Keitel, S. 196. 29 Hassell, S. 49, notierte unter dem 29.1.39 anläßlich einer privaten Zusammenkunft mit Brauchitsch, es sei schwer zu glauben, daß dieser Mann sich bei Hitler werde durchsetzen können. 38 Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 369, Anm. 521. 27

J.

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dürfe kein Mittel unversucht bleiben, die Staatsleitung zu einer richtigeren Beurteilung zu bekehren. Es sei geradezu unerträglich, daß jeder vom Heer ausgehende Versuch sachlicher Klarstellung in den letzten Monaten mit dem Vorwurf der Schwarzseherei, der Miesmacherei, des Pazifismus oder gar der persönlichen Feigheit beantwortet worden sei. Auch trotz der anscheinend von der Staatsführung beschlossenen Entlassung von Generälen, die vor und während der Krise Widerspruch und Bedenken geäußert hätten, müsse im Hinblick auf die tödliche Gefahr für das Vaterland eine solche Aufklärung erfolgen. Mit dem Hinweis auf das notwendige Vertrauen zwischen Politik und Militär und mit seinem Drängen, die Staatsführung zu dem Standpunkt der militärischen Führung „zu bekehren", nahm Liebmann in der Form konzilianter, in der Sache kaum weniger substantiell die Forderungen Becks und damit den wesentlichen Inhalt des bisherigen politisch-militärischen Konzeptes der Armeeführung nochmals auf. Brauchitsch aber ging in seinem Antwortschreiben in keiner Weise auf das von Liebmann angesprochene Problem ein, sondern bat den General mit der versöhnenden Bemerkung, er verüble ihm die gezeigte Offenheit keineswegs, ihm doch seinen Posten zur Verfügung zu stellen. Klarer konnte der ObdH seinen Verzicht auf jenes Konzept nicht ausdrücken; deutlicher konnte auch die grundlegend veränderte Position des Heeres und seiner Führung sich nicht widerspiegeln. Die wenig kämpferische Haltung des ObdH und die Tatsache, daß er demonstrativ „linientreue" Äußerungen in der Öffentlichkeit31 und vor dem Offizierkorps machen zu müssen glaubte, gaben diesem Sachverhalt nur noch zusätzliche Akzente. Angesichts eines derartigen Verhaltens war es nicht verwunderlich, daß Brauchitsch nicht imstande und auch sicherlich nicht willens war, sich zum Organ jener weitreichenden Entrüstung zu machen, die in Nation und Armee sogar in den Reihen von Parteigenossen und Regimeanhängern durch die skandalösen Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger in der sogenannten „Reichskristallnacht" am 9. und 10. November 1938 entstanden war. Er ging mit einem Achselzucken über die bei einer Befehlshaberbesprechung laut und offen von einigen Generälen geäußerte Empörung hinweg32. Generaloberst v. Bock soll damals in erbittertem Zorn ausgerufen haben: „Kann man dieses Schwein, den Goebbels, nicht aufhängen?33" In dieser rhetorischen Frage kommt ebenso das Gefühl der Ohnmacht zum Ausdruck wie die bezeichnende Annahme, daß Goebbels und nicht Hitler letzter Urheber jener Exzesse gewesen sei. Wie stark jedenfalls in moralischer Hinsicht trotz allem das Prestige Hitlers damals bei den Mitgliedern der höheren Generalität noch war, bestätigt auch Freiherr v. Weichs. Er berichtet, er habe trotz der Mitteilung eines hohen wies und

bemerkte,

es

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Vgl. Hassell, S. 63, und den Erlaß Brauchitschs über die Zusammenarbeit mit der SS sowie seinen Geheimerlaß über Erziehung des Offizierkorps vom 18.12.38, in dem er Hitler als den „genialen Führer, der die tiefe Lehre des Frontkämpfertums in die Weltanschauung des Nationalsozialismus umgeprägt hat" feierte und daran die Forderung knüpfte: „In der Reinheit und Echtheit der nationalsozialistischen Weltanschauung darf sich das Offizierkorps von niemandem übertreffen lassen." 32 Nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 373. 83 Ebd. 31

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SA-Führers, daß Goebbels unter Berufung auf einen Befehl Hitlers den zum 9. November in München versammelten SA-Führern Weisungen für den Pogrom erteilt habe, nicht glauben wollen, daß der Befehl von Hitler ausgehe; vielmehr war er geneigt, anzunehmen, die Idee sei Goebbels Hirn entsprungen, der sich nur hinter einem „Führerbefehl" verstecke34. Hitler selbst förderte diese unter den hohen Militärs verbreitete Auffassung. Als Raeder, bei dem eine Reihe höherer Seeoffiziere, darunter die Admirale Patzig und Foerster sowie die Kapitäne Lütjens und Dönitz, dienstlich gegen die Vorfälle Protest eingelegt hatten, ihn daraufhin ansprach, erwiderte er, die Gauleiter seien ihm eben aus dem Ruder gelaufen35. Damit hielt er seine Person geschickt aus der Affäre heraus und lenkte die Empörung der Militärs ab. Indessen wird man aus der Rückschau mit Recht die Frage stellen dürfen, warum die berufenen Repräsentanten der Armee und andere führende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens nicht unter Hinweis auf die spürbare Schädigung des deutschen Ansehens im Ausland nachdrücklicher auf strenge Ahndung der Ausschreitung und Bestrafung der dafür Verantwortlichen bestanden haben36. Daß Hitlers militärische Gefolgsleute im Oberkommando der Wehrmacht entsprechend reagierten, ist demnach nicht verwunderlich, es zeigt nur erneut die tiefe Spaltung in der obersten militärischen Führungs- und Funktionsschicht. So holte sich Admirai Canaris bei Keitel eine „kaltschnäuzige Abfuhr", als er dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Vorstellungen wegen der verheerenden außenpolitischen Wirkungen und des Entsetzens aller anständigen Elemente im deutschen Volke über die Vorfälle machte37. Brauchitschs Zurückhaltung, Keitels Abstinenz, nicht zuletzt aber Hitlers geschicktes Taktieren und die verbreitete Ansicht, der „Führer und Reichskanzler" sei mit jenen skandalösen Vorfällen nicht zu belasten, ließen es jedenfalls zu keiner Intervention von Seiten der Wehrmacht oder auch nur des Heeres kommen. Es gab daher in der Armee keine auch von autoritativer Stelle amtlich zum Ausdruck gebrachten Proteste oder Distanzierungen. Damit blieb die Armee genauso „stumm" wie die Mehrzahl der Repräsentanten aus anderen Bereichen des öffentlichen Lebens wie Justiz und Hochschullehrerschaft; Ausnahmen wie Schacht oder Helldorf, die vor ihren Mitarbeitern sich über die Vorfälle mißbilligend aussprachen, ändern an diesem Tatbestand nichts38. Trotz aller Empörung in den Reihen des Offizierkorps39 trugen die widerspruchslos hingenommenen Ereignisse des 9. und 10. November dazu bei, das Prestige der Armee noch 34

35 36

Weichs, Erinnerungen, Bd II, S. 91. Krausnick, Vorgeschichte, S. 373, und Raeder, Bd II, S. 133 ff. Raeder, Bd II, S. 134, schreibt dazu: „Von diesen Ausführungen [Hitlers]

nicht

befriedigt. Aber nach Hitlers

ausdrücklicher

Mißbilligung

war

der Geschehnisse

ich innerlich konnte ich

...

keine weiteren Schritte unternehmen .." 37 Vgl. Gisevius, S. 383 (aufgrund des Berichtes von Canaris' Mitarbeiter Lahousen). 38 Vgl. Schacht, Abrechnung, S. 84, und ders., 76 Jahre, S. 498 f.; über Helldorf vgl. Gisevius, S. 383. 39 Vgl. Hassell, S. 34, der von kritischen Reden jüngerer Offiziere berichtet; sogar Luftwaffenoffiziere führten „eine tolle Sprache über das Dritte Reich". .

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über die unzufriedenen und oppositionell eingestellten Kreise hinaus zu vermindern40. Im Ausland begann sich jetzt schon jener Stimmungsumschwung abzuzeichnen, der dann nach der Besetzung Prags vollends zum Durchbruch kam und das Ende des euphorischen Optimismus, des „Geistes von München", bedeutete. Die lähmenden Nachwirkungen von München, nicht zuletzt die seitdem zutage getretene absolute oppositionelle Abstinenz des ObdH hatten zur Folge, daß auch Halder gegenüber verschiedenen Anregungen von seiten oppositioneller Persönlichkeiten kühle Reserve an den Tag legte. Oster versuchte, den Generalstabschef durch Vorlage einer Dokumentensammlung über die Pogrome des 9. und 10. November aufzurütteln41. Aber bedurfte es bei Halder noch dessen? Ihm war doch längst bewußt, daß Deutschland von „Narren und Verbrechern" regiert wurde. Jedoch hatten die Bemühungen von Oster und Gisevius während der Sudetenkrise bereits gezeigt, daß der General nicht geneigt war, die kriminellen Aspekte des Regimes zum taktischen Ausgangspunkt eines Putsches zu nehmen. Unter der gegenwärtigen innen- und außenpolitischen Konstellation sah er noch weniger Anlaß dazu, zumal die Orientierungslosigkeit in oppositionellen Kreisen keineswegs zu irgendwelchen Initiativen einlud. Daher legte er sich nicht fest, als er im Dezember einer Aussprache mit Goerdeler nicht aus dem Weg gehen konnte, obwohl beide Männer im Grundsätzlichen, wie stets, keineswegs uneins zu sein schienen42. Auch mögen Goerdelers Ausführungen nach allem, was wir über seine Ideen und Pläne zu jenem Zeitpunkt wissen43, nicht geeignet gewesen sein, den nüchtern denkenden Generalstabschef aus seiner augenblicklichen Reserve herauszulocken. Aus ähnlichen Gründen mag er sich im Januar 1939 auch einem Kontaktversuch von Gisevius entzogen haben44. Nach dem Scheitern der Fronde vom September sah Halder, für den immer noch die außenpolitische Komponente einer Aktion primär ausschlaggebend war, vorerst keine Möglichkeit, wieder aktiv zu werden. Er wußte damals bereits von Hitlers Absicht, die Resttschechoslowakei alsbald zu besetzen, und war wie es scheint der Meinung, daß die Westmächte auch in diesem Falle nicht eingreifen würden. Daher lehnte er vorerst jegliche konspirative Gespräche ab. Dabei wird die Erinnerung an München gewiß eine abschreckende Wirkung gehabt -

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haben45.

Hassell,

S. 32. Vgl. auch Eberhard Zeller, Claus und Berthold Stauffenberg, in: VierteljahrsZeitgeschichte 3 (1964), S. 237: Stauffenberg, damals junger Hauptmann und angehender Generalstabsoffizier, soll sich zu jener Zeit sehr skeptisch und negativ aufgrund der von der Generalität hingenommenen Vorfälle über das höhere Offizierkorps geäußert haben. Von Leuten, die schon ein- oder zweimal sich das Rückgrat gebrochen hätten, sei eben nichts zu erwarten. 41 40

hefte für

Gisevius, S. 383.

42

43 44

Ebd. S. 384; zum Zeitpunkt vgl. Ritter, Goerdeler, S. 482, Anm. 10. Vgl. darüber Ritter, Goerdeler, S. 200 ff.

Gisevius,

S. 384.

Vgl. IMT XII, S. 243 (Gisevius' Aussage). Ritter meint, daß zu jenem Zeitpunkt trotz der Weisung v. 17. 12. 38 (= Dok. C-138) noch nichts auf eine Tschechoslowakei-Aktion hingedeutet habe. Dagegen sprechen jedoch sowohl die Angaben bei Keitel, S. 195, wie auch Brauchitschs Aussage in IMT XII, S. 497, und das Dokument C-136/US-104 Weisung vom 21. 10. 38 -, in der es heißt: „Die der Tschechoslowakei naheliegenden Einheiten und motorisierten Verbände sind 45

-

388

IX. Von München bis

zum

Kriegsausbruch

Diese Einschätzung Halders sollte sich am 15. März 1939 als zutreffend erweisen. Die Reaktion der westlichen Regierungen auf die Besetzung der Resttschechoslowakei bestand lediglich aus wirkungslosen Protesten. Angesichts der Hinnahme eines neuerlichen Gewaltstreiches Hitlers durch die Westmächte allerdings war, wie die weitere Entwicklung zeigen sollte, damit die Geduld Londons schließlich erschöpft hätte sich der Opposition kein Anlaß zu irgendeiner Aktion geboten, auch wenn sie den Willen und die Fähigkeit zum Handeln gehabt hätte. Zudem hatte Hitler gegenüber den Militärs bei der Vorbereitung des Coups gegen die Tschechoslowakei mit besonderer Sorgfalt taktiert. Seine Weisung vom 21. Oktober 193846, mit der die Aufrechterhaltung der militärischen Bereitschaft befohlen wurde, um „gegebenenfalls... die Resttschechoslowakei zu überfallen", wenn „sie etwa eine deutschfeindliche Politik betreiben würde", wurde durch einen beruhigenden Nachtrag vom 17. Dezember 193847 ergänzt, der betont darauf hinwies, daß es sich bei der geplanten Aktion nicht um ein „kriegerisches Unternehmen", sondern um eine „Befriedungsaktion" handeln solle, die nur unter der Voraussetzung erfolgen werde, „daß kein nennenswerter Widerstand" zu erwarten sei. Ebenfalls im Dezember wurde das Oberkommando des Heeres angewiesen, seinen planmäßigen Aufbau, wie vorgesehen, bis zum Jahr 1945 durchzuführen und jede Aufmarschplanung zu unterlassen48. Hitler war demnach bemüht, gegenüber der Wehrmacht, insbesondere dem Heer, den Eindruck einer Risikopolitik zu vermeiden, die ihm doch in der Sudetenkrise die Opposition der Militärs beschert hatte. Im Rahmen einer solchen Tendenz lag es auch, daß die führenden Militärs planmäßig über die politischen Absichten im unklaren gelassen wurden. Das galt auch für die Spitzen des Oberkommandos der Wehrmacht, denn Keitel klagt noch in seinen Memoiren darüber, daß er nichts Näheres über das politische Spiel erfahren habe und lediglich auf Vermutungen angewiesen gewesen sei49. So wurde Prag für die deutsche Opposition, insbesondere für ihren militärischen Zweig, nicht zu dem aufrüttelnden Ereignis, das die Verwirrung und Lähmung, in der sie sich seit München befand, hätte verscheuchen können. Im Gegenteil, der geglückte Handstreich Hitlers gegen die Resttschechoslowakei verstärkte ihre Erstarrung nur noch. Selbst Beck gab damals denen recht, die einen Militärputsch zur Zeit für undurchführbar hielten50. Ein Gefühl der Ohnmacht, des hilflosen Ausgeliefertsein befiel die Männer der Opposition in starkem Maße, lähmte ihre Entschlußkraft oder wie das Beispiel Goerdelers zeigt51 ließ ihren Aktionsdrang in illusionäre Projekte und phantastische Kombinationen abirren. Wie Hitlers diplomatischer Erfolg von München, so stärkte auch jetzt wieder sein neuester -

-

-

-

für einen überfallartigen Angriff vorzusehen." Vgl. IMT XXXIV, S. 480; Halders Ansicht, Hitler werde es nicht zu kriegerischen Verwicklungen kommen lassen, wird gestützt durch IMT XX, S. 623, und die erwähnte Weisung vom 17.12. 38. 48 IMT XXXIV, S. 477 ff., Dok. C-136; vgl. auch Keitel, S. 196. 47 IMT XXXIV, S. 483, Dok. C-138. 48 IMT XX, S. 623. 49 Keitel, S. 199. -

50

51

Gisevius, S. 389. Ritter, Goerdeler, S. 212 f.

IX. Von München bis

zum

Kriegsausbruch

389

in Volk und Armee sein Prestige, und zwar in nie zuvor erreichtem Maße; Gisevius meint sogar, mit Prag sei in den Augen der Nation Hitlers politische Unfehlbarkeitssprechung erfolgt52. Etwas differenzierter, aber im Ergebnis ähnlich, stellt sich auch die Reaktion der im Gegensatz zu der Masse der Offiziere besser orientierten höheren Offiziere im Oberkommando des Heeres dar. Unmittelbar nach Prag ist der damalige Oberst Wagner, später einer der Männer des 20. Juli, „voller Bewunderung" über den ungeheuren Machtzuwachs63. Doch mischte sich in diese Euphorie sogleich gedämpfte Skepsis, als er „Eiseskälte" in der außenpolitischen Lage konstatierte54 und meinte: „Zur Zeit ist nichts zu befürchten, die Quittung wird uns aber präsentiert werden55." Bald jedoch, unter dem Eindruck der Inaktivität der Westmächte und der auf Prag folgenden deutlichen Anlehnungstendenzen einiger Balkanstaaten an das Reich, wurde seine nüchterne Betrachtungsweise endgültig von befriedigter Bewunderung über den scheinbar durchschlagenden Erfolg hinweggefegt: „Der Handelsvertrag mit Rumänien ist ein großer Schlag, der... die Engländer trifft und wirtschaftlich für uns von ungeheurer Bedeutung ist. Die kleinen Staaten sagen sich doch allmählich,... die Hilfe Englands ist weit und der Arm des Führers sehr nah.. die von England erstrebte Entente kommt nicht zusammen56." Gerade diese Aufzeichnungen eines hohen Generalstabsoffiziers zeigen nur allzu deutlich, wie stark in nüchternem Denken geschulte und unkontrollierten Emotionen abgeneigte Offiziere des Oberkommandos des Heeres schließlich von den Erfolgen Hitlers mitgerissen wurden. Sie offenbaren zugleich die Anfälligkeit höherer Offiziere für rein machtpolitisches Denken, machen deutlich, wie Wunschdenken und vertrauensvolle Zukunftsgläubigkeit um sich griffen. Sie zeigen vor allem die Auswirkungen einer politischen Vorstellungswelt, die noch vollständig in Kategorien des nationalen Machtstaates trotz der bisher erfolgten umstürzenden innenpolitischen Wandlungen verhaftet geblieben ist. Der Umschwung der Stimmung im Generalstab gegenüber den Monaten Juni bis September des Vorjahres ist offenkundig57. Ebenso offenkundig ist das damit gegebene Schwinden der psychologischen Voraussetzungen für jegliche oppositionelle Reaktion aus den Reihen der Militärs. Für die Opposition in den Reihen des höheren Offizierkorps kam noch hinzu, daß sie ebenfalls, von Hitlers neuerlichem Triumph, wenn auch in anderer Weise, geblendet, zunädist nicht erkannte, daß Hitler in den Augen der Westmächte mit der Besetzung der Resttschechoslowakei den Rubikon überschritten hatte, daß in London und Paris von nun an ein Stimmungsumschwung einsetzte und der Wille wuchs, fortan weitere Expansionen des „Dritten Reiches" nicht mehr hinzunehmen. Die Opposition hat, nach den Erfahrungen der letzten Monate verwirrt und gelähmt, daher dem westlichen Widerstandswillen

unblutiger Erfolg

.

52 53 54 53

Gisevius, S. 389. Wagner, S. 82, Briefe

vom 17. 3. 39 und 18. 3. 39. Ebd. S. 84, Brief vom 21. 3. 39. Ebd. S. 62, Brief vom 18. 3. 39 und Brief vom 21. 3. 39: „Etwas kalte Füße hat

kommen." 56

Ebd. S. 85, Brief

57

Hassell,

S. 53

vom

man

doch be-

24. 3. 39.

(3. 4. 39) : „Der

trotz aller Widerstände durchgesetzte Vertrag mit Rumänien und die Memelsache haben in Deutschland begreiflichen Eindruck gemacht."

..

.

IX. Von München bis

390

zum

Kriegsausbruch

lange Zeit noch nicht getraut58. Erst wenn man alle diese Zusammenhänge berücksichtigt, wird die weitere Entwicklung verständlich. Die Liquidierung der Resttschechoslowakei war kaum erfolgt, da ließ Hitler erkennen, daß er die bereits im Oktober-November 1938 angeschnittene Frage Danzigs und des Korridors nunmehr lösen wolle59. Aufschlußreich dabei war, wie er gegenüber den Militärs eine Taktik des divide et impera verfolgte, gleichzeitig aber peinlich bemüht war, bei ihnen nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, er wiederhole das außenpolitische Vabanque-Spiel des letzten Jahres. Ende März ließ Hitler fast beiläufig zunächst nur den ObdH wissen, daß er Polen notfalls mit Waffengewalt zur Annahme seiner Forderungen zwingen würde, wenn nicht bis zum Spätsommer eine Einigung auf diplomatischem Wege erfolge60. Kurz darauf orientierte Hitler auch die Oberbefehlshaber von Marine und Luftwaffe, daß ihm eine Lösung der Polenfrage in absehbarer Zeit unvermeidlich erscheine61. Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht dagegen erfuhr erst einige Tage später von dieser „Willensmeinung" Hitlers62. Keitel beeilte sich sogleich, das Wehrmachtführungsamt anzuweisen, die wie alljährlich zu Beginn des Mobilmachungsjahres (Herbst 1938) ergangene „Weisung für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht" durch einen entsprechenden Nachtrag zu ergänzen. Sie wurde unter dem Datum des 3. April 1939 herausgegeben63. Daß Hitler zuerst die Oberbefehlshaber der Wehrmachtteile, insbesondere den ObdH, einweihte und nicht wie zeitweilig im Vorjahr die Wehrmachtteile sogleich mit einer Weisung von seiten des Oberkommandos der Wehrmacht überraschte, deutet auf Hitlers Absicht hin64, etwaige aus den ihm bekannten Spannungen zwischen dem Oberkommando der Wehrmacht und den Oberkommandos der Wehrmachtteile resultierende Schwierigkeiten, vor allem mit dem Oberkommando des Heeres, zu vermeiden. Indem er den ObdH unter sichtbarer Zurücksetzung des Oberkommandos der Wehrmacht ins Vertrauen zog, wollte er eingedenk der im Vorjahr gemachten Erfahrungen von vornherein der Heeresleitung die Möglichkeit nehmen, unter dem Vorwand von Kompetenzstreitigkeiten mit dem -

58 59 80

-

Vgl. Ritter, Goerdeler, S. 214. Vgl. IMT XXXIV, S. 481, Dok. C-137, Nachtrag vom 24. 11. 38 zur Weisung vom 21. 10. 38. IMT XXXVIII, S. 274, Dok. 100-R „Unterrichtung des Herrn ObdH durch den Führer" am

25. 3. 39. 61

62 63

Krausnick, Vorgeschichte, S. 374. Warlimont, S. 34. IMT XXXIV, S. 388; Nachtrag

unter der Bezeichnung „Weisung Fall Weiß", abgedruckt bei Walther Hubatsdi (Hrsg.), Hitlers Weisungen für die Kriegführung 1939-1945. Dokumente des OKW, Frankfurt a. M. 1962, S. 17 ff. (fortan zit. Hubatsch, Weisungen). 64 Dementsprechend stellte Hitler zur Vorbereitung des „kommenden Angriffsprogrammes" in Europa die Gründung eines aus Vertretern aller drei Wehrmachtteile zusammengesetzten „Studienstabes" für „die geistige Vorbereitung der Operationen im höchsten Grade und die sich zwangsläufig daraus ergebenden Vorbereitungen" in Aussicht (sogen. Schmundt-Protokoll, IMT XXXVII, S. 546 ff., Dok. L-79, auch in ADAP, Serie D, Bd VI), ein Stab also, der Aufgaben übernehmen sollte, die bisher das OKW als die Seinen angesehen hatte. Da es jedoch nie zur Einrichtung eines soldien Stabes kam, liegt der Schluß nahe, daß Hitler damit lediglich bei den Oberkommandos der Wehrmachtteile einen guten Eindruck machen wollte.

IX. Von München bis

zum

Kriegsausbruch

391

Oberkommando der Wehrmacht Einwände gegen seine Absichten zu erheben. Ein Mann wie Brauchitsch würde ihm persönlich gegenüber weniger zum Widerspruch geneigt sein als gegenüber dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Hitlers Bestreben, der Heeresleitung so wenig wie möglich Anlaß zu formalem Widerspruch zu bieten, wurde allerdings ohne Wissen Hitlers noch dadurch gefördert, daß Jodls kommissarischer Nachfolger Warlimont es sich besonders angelegen sein ließ, in bewußtem Gegensatz zu seinem Vorgänger ein gutes Verhältnis zum Generalstab des Heeres zu pflegen. „Bei der weittragenden Bedeutung dieses Auftrages, ebenso aber auch im Sinne seiner Anschauungen über das Verhältnis der Wehrmachtführung zum Generalstab des Heeres" sprach er daher die das Heer betreffenden Abschnitte der neuen Weisung, die auch die Grundlage für die Beiträge der anderen Wehrmachtteile bildeten05, Wort für Wort gemeinsam mit dem Oberquartiermeister I im Generalstab des Heeres, General v. Stülpnagel, ab66. Dieses von Hitler und vom neuen Chef des Wehrmachtführungsstabes unabhängig voneinander und gewiß aus ganz unterschiedlichen Motiven heraus angewandte Vorgehen hat fraglos dazu beigetragen, dem ObdH und seinem Stab den Eindruck zu vermitteln, an der Planung mehr als zuvor beteiligt zu werden und damit auch gewisse Einflußmöglichkeiten auf die Entwicklung zu haben67. Von ausschlaggebender Bedeutung jedoch war, daß die neue Weisung zum „Fall Weiß" in ihrem politischen Teil Formulierungen enthielt, die zwar Hitlers damalige Sicht der Dinge wohl widerspiegelte, den führenden Männern der Wehrmacht aber den Ernst der Entwicklung nicht ganz augenfällig werden ließ. Dieser Tatbestand ist für das Verständnis ihrer Haltung bis zum Kriegsausbruch entscheidend. Hitler erklärte in dieser Weisung nicht einfach seinen eindeutigen Entschluß zum Kriege mit Polen. Vielmehr umriß er nur eine mögliche politische Lage, die ihn gegebenenfalls nötigen werde, zu den Waffen greifen zu müssen. So wie er bereits bei der kurzen Orientierung des ObdH die Unmöglichkeit einer diplomatisch-politischen Einigung über die strittigen Fragen zur Voraussetzung für eine Gewaltanwendung gegenüber Polen erklärt hatte, so schrieb er nunmehr ebenfalls ausdrücklich: „Das deutsche Verhältnis zu Polen bleibt weiterhin von dem Grundsatz bestimmt, Störungen zu vermeiden. Sollte Polen seine bisher auf dem gleichen Grundsatz -

-

Hubatsch, Weisungen, S. 18, Nr. 4 a-c. Warlimont, S. 35. 67 Vgl. dazu auch Warlimont, S. 36: „Die Oberkommandos der Wehrmachtteile ihrerseits führten bei ihren Vorbereitungen die nötige Abstimmung untereinander auf dem Wege über Verbindungsoffiziere herbei, ohne daß sich das Bedürfnis ergeben hätte, einen W[ehrmacht]f [ührungs]stab zu beteiligen oder als Schiedsrichter anzurufen. Dagegen ließen es sich die Oberbefehlshaber ebenso wie ihre Stäbe, befreit von dem früheren Zwischenvorgesetzten, dem ObdW, angelegen sein, aus die85

Bei

66

sem

Anlaß das unmittelbare Verhältnis

zu

Hitler nach Kräften

ständigen Umgebung Hitlers gehörten, fanden

zu

pflegen.

In den

Adjutanten, die

zwanglos die Organe, um den mißliebigen Stab der Wehrmachtführung nach Gutdünken zu übergehen und beiseite zu schieben. Selbst der Chef OKW geriet auf diesem Wege immer mehr in den Hintergrund. Vom ,einzigen Berater in den Fragen der Wehrmacht' sah er sich seitens der Oberkommandos in die Rolle eines Mittelsmannes, um nicht zu sagen eines .Prügelknaben', in solchen Fragen versetzt, die als heißes Eisen sonst niemand anfassen mochte und die man ihm als vorgeblich seines Amtes zuschob." zur

sie dabei auch

392

IX. Von München bis

zum

Kriegsausbruch

beruhende Politik gegenüber Deutschland umstellen, so kann eine endgültige Abrechnung erforderlich werden88." Er tarnte also seine Absichten durch Hinweis auf einen Eventualfall. Insbesondere betonte er, die politische Führung sehe es dabei „als ihre Aufgabe an, Polen in diesem Fall womöglich zu isolieren, d. h. den Krieg auf Polen zu beschränken"69. Im Gegensatz zu dem „Nachtrag zur Weisung vom 21. 10. 1938"70, in der „eine handstreichartige Besetzung von Danzig,. nicht ein Krieg gegen Polen" vorzubereiten angeordnet wurde, war nunmehr offen die Rede von einem Krieg gegen Polen; trotzdem mag den führenden Militärs in Erinnerung an die apodiktischen Willensäußerungen des Diktators in der Sudeten- und Tschechen-Frage und angesichts der ausdrücklich hervorgehobenen einschränkenden Voraussetzungen Scheitern einer diplomatischen Einigung mit Polen und Isolierung des Gegners71 der Ernst der eingeleiteten Entwicklung entgangen sein, zumal Hitler die eine Voraussetzung, die Isolierung Polens aufgrund einer günstigen außenpolitischen Konstellation, noch ganz konkret kennzeichnete. Die Weisung enthielt nämlich diesbezüglich den Passus: „Eine zunehmend krisenhafte innere Entwicklung Frankreichs und eine daraus folgende Zurückhaltung Englands könnte eine derartige Lage in nicht zu ferner Zeit entstehen lassen Der Fall ,Weiß' bildet lediglich eine vorsorgliche Ergänzung der Vorbereitungen, ist aber keineswegs als die Vorbedingung einer militärischen Auseinandersetzung mit den Westgegnern anzusehen72." Mag diese einschränkende, den Ernst und die Konsequenzen des Vorhabens abschwächende Tendenz der Weisung nun Ausfluß einer mit der bereits erwähnten Absperrung der Wehrmacht von außenpolitischen Problemen zusammenhängenden Beruhigungstaktik Hitlers gegenüber den Militärs gewesen sein, oder mag sich darin subjektiv ehrlich sein wunschbildhaftes Denken ausdrücken, jedenfalls bot die Weisung den verantwortlichen militärischen Führern eine Reihe von Elementen, die das Gewicht eventueller Bedenken zu erleichtern vermochten. Indessen erstaunt angesichts der bisherigen Außenpolitik Hitlers doch die Vertrauensseligkeit und der Mangel an Skepsis, mit denen in der Armeeführung nunmehr alle bisherigen Erfahrungen unberücksichtigt blieben, und die zahlreichen Indizien, die auf eine Fortsetzung der Risikopolitik hindeuteten, nicht beachtet wurden. Immerhin wäre allerdings zu vermerken, daß im Gegensatz zur Frage der Annexion der Resttschechoslowakei eine Revision der deutsch-polnischen Grenzen bei den Soldaten73, im Volk und bei den meisten Oppositionellen populär war und unter gewissen Voraussetzungen für berechtigt gehalten wurde74. .

.

-

-

..

.

Hubatsch, Weisungen,

S. 17, auch in IMT XXXIV, S. 388. Ebd. (Hervorhebung vom Verf.). 79 IMT XXXIV, S. 481 ff., Dok. C-137. 71 Wobei das Wort „womöglich" für sie nicht das Gewicht gehabt haben mag, wie schauenden Betrachter der Fall ist. 72 IMT XXXIV, S. 481 ff. Dok. C-137. 88 69

es

für den rück-

Geyr v. Schweppenburg, Lebenserinnerungen (unveröffentlicht), Kapitel „Polen 1939", S. 5, berichtet, 1939 sei seine Truppe (die 3. Pz.Div.) kampfesfreudig gegen die Polen gewesen, „bereit, ihnen mit höchstem Schwung ans Leder zu gehen". 74 Vgl. Graml, S. 19 ff. 73

IX. Von München bis

zum

Kriegsausbruch

393

Trotz allem müssen aber einigen Militärs, insbesondere den kritisch oder gar oppositionell eingestellten, die Dinge doch nicht ganz so harmlos vorgekommen sein. General Liebmann wies bei seiner Abmeldung am 30. April den Generalstabschef darauf hin, daß die Besetzung der Resttschechoslowakei den Geduldsfaden in London und Paris offensichtlich zum Zerreißen gebracht habe75. Halder erwiderte dem General, er verstehe sehr gut diese Sorgen, und machte die dunkle Andeutung: „Wenn Sie aber wüßten, was wirklich gespielt wird, würden Ihre Sorgen noch viel größer sein76." Es ist unklar, ob Halder auf die ab Mitte April laufenden Bemühungen der Westmächte um eine gegen Hitler gerichtete Verständigung mit der UdSSR anspielen wollte, die im Erfolgsfall die Drohung eines Zweifrontenkrieges für Deutschland bedeutet hätten, oder ob der Generalstabschef die zitierten Bemerkungen aufgrund der ihm eventuell schon bekanntgewordenen, zur selben Zeit sich anspinnenden deutsch-sowjetischen Kontakte gemacht hat, die Hitler die Tür zum Kriege aufstießen77. Es könnte allerdings auch sein, daß Halders Besorgnisse einfach der militärischen Weisung zum Fall „Weiß" entsprangen. Das wäre allerdings ein Zeichen dafür, daß der Generalstabschef sich nicht durch die darin ausgedrückten Vorbehalte den Blick für die Realitäten verstellen ließ. Diese Beispiele machen deutlich, daß Ende April wenigstens bei einigen führenden Militärs erhebliche Befürchtungen hinsichtlich der weiteren Entwicklung bestanden. Dennoch wurden sie nicht zum Anstoß für irgendwelche Konspirationspläne im militärischen Bereich. Die Gründe hierfür sind offenkundig. Auf dem zivilen Sektor der Opposition herrschten Unklarheit, Verwirrung, teilweise sogar Resignation und vielerlei unfruchtbares Raisonnement78. Goerdeler verzehrte sich in Eifer und Ungeduld, schrieb Denkschriften voller phantastischer Pläne, konnte aber seinen ausländischen Gesprächspartnern im Augenblick auch keine Revolte im Reich in Aussicht stellen. Eine Besprechung zwischen ihm und Schacht in der Schweiz79 führte ebenfalls zu nichts, offenbarte vielmehr grundlegende Differenzen über die Beurteilung der Lage. Sie war damit für die Situation der zivilen Opposition zu jener Zeit symptomatisch. Über die allgemeine politische Lage vgl. den Abriß bei Ritter, Goerdeler, S. 198 ff., sowie die ausführliche Darstellung von Helmut Metzmacher, Die deutsch-englischen Ausgleichsbemühungen im Sommer 1939, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 14 (1966), S. 369—412. 76 Krausnick, Vorgeschichte, S. 375. 77 Vgl. hierzu den Bericht des damaligen polnischen Militärattaches Oberst Szymanski, der berichtet, daß Görings Vertrauter, General Bodenschatz, ihm Ende März 1938 anläßlich einer offensichtlich zu diesem Zweck arrangierten gesellschaftlichen Zusammenkunft unter vier Augen die Warnung habe zukommen lassen, Hitler werde, wenn er zu der Überzeugung gelange, daß Deutschland von Osten her durch Polen eingekreist werde, sich selbst mit dem Teufel verbünden. „Und unter uns kann ja wohl kein Zweifel herrschen, wer der Teufel ist." Antoni Szymanski, Das deutsch-polnische Verhältnis vor dem Kriege, in: Politische Studien 13 (1962), Heft 142, S. 184-185. Szymanski berichtete dies mit dem Hinweis nach Warschau, daß Bodenschatz bisher stets zuverlässige Informationen geliefert habe, wie z. B. anläßlich der Rheinland-, österreichund Sudetenbesetzung. 78 Vgl. dazu Hassells Tagebuchaufzeichnungen von Ende März, Hassell, S. 54 f. 79 IMT XII, S. 244; Gisevius, Bd II, S. 85-87. 75

394

IX. Von München bis

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Kriegsausbruch

Gleichzeitig standen einer konspirativen Aktivität schwerwiegende äußere Hindernisse im Wege80. Witzleben war im Herbst 1938 als Oberbefehlshaber des Gruppenkommandos 2 nach Frankfurt a. M. versetzt worden, sein Nachfolger wurde als für die Verschwörung nicht geeignet angesehen. Brockdorff fühlte sich allein nicht in der Lage, den bei der Truppe populären Witzleben zu ersetzen. Generaloberst Adam war verabschiedet worden. General Fromm, der Chef des Allgemeinen Heeresamtes, ging nach kurzem Zögern auf diesbezügliche Fühlungnahmen nicht ein. Graf Helldorf schien sich von jeglicher konspirativen Tätigkeit zu distanzieren. Vor allem aber war die Verfügungsgewalt über Truppenverbände für den Chef des Generalstabes oder den ObdH durch organisatorische Maßnahmen beeinträchtigt worden81. Bei dieser Gesamtlage sah Halder vorerst keine Möglichkeit, in sinnvoller Weise aktiv zu werden. Als Liebmann bei der erwähnten Unterredung ihn fragte, warum denn nichts geschehe, zuckte er nur resignierend die Schultern82. Er beschränkte sich in jenen Wochen darauf, über ausländische Diplomaten die Westmächte zu einem festen und nachdrücklichen Auftreten gegen Hitler anzuregen. Er war also der Ansicht, daß der weitere Verlauf der Entwicklung entscheidend nur durch das Ausland zu beeinflussen sei. In diesem Sinne erklärte er am 15. April dem Geschäftsträger der USA, die deutsche Armee sei zwar von dem Gedanken an einen europäischen Krieg entsetzt, würde aber ganz sicher marschieren, wenn es ihr befohlen würde. Es gebe keine Alternative83 für die Armee. Dem französischen Botschafter Coulondre sagte er, man müsse Hitler den vollen Ernst der Lage vor Augen führen; ebenso drängte er den britischen Botschafter Henderson, er möge Hitler klarmachen, daß England nicht mehr zurückweichen, sondern einen deutschen Angriff auf Polen unvermeidlich mit einer Kriegserklärung beantworten werde: „Man muß dem Mann mit der Axt auf die Hand hauen." Er versuchte, Weizsäcker, mit dem er in ständigem Kontakt stand, zu ähnlichen Einwirkungen auf Henderson zu veranlassen; mit Recht bezweifelte er, daß sein ObdH oder er selbst durch Vorstellungen nach der Art Becks dem Diktator die Gefährlichkeit seiner Politik vor Augen führen könne. Er befürchtete wohl auch, mit einer derartigen Methode die Armeeführung erneut und ohne Nutzen dem Zorn Hitlers auszuliefern. Dennoch versuchte er, Brauchitsch immer wieder zu veranlassen, Hitler vor den Risiken eines deutsch-polnischen Konfliktes zu warnen, der unvermeidlich zum Zweifrontenkrieg führen werde84. Halder erkannte den Ernst der Lage wohl. Aber er beschränkte sich auf gewisse und, gemessen an der von einem Generalstabschef eigentlich zu fordernden Loyalität, sehr weitgehende Versuche, auf die westlichen Regierungen einzuwirken85. Weitergehende Initiativen zu ergreifen,

Krausnick, Vorgeschichte, S. 376. Bezüglich der sogenannten „Zeittafeln", auf die Krausnick, Vorgeschichte, S. 376, hinweist, vgl. Bor, S. 124, und, einschränkend, Warlimont, S. 39 f. 82 Krausnick, Vorgeschichte, S. 376. 83 DBFP, Bd V, S. 107. 84 Krausnick, Vorgeschichte, S. 377. 85 Vgl. seine von Krausnick, Vorgeschichte, S. 377, zit. Bemerkung zu Weizsäcker: er könne als 80

81

Generalstabschef den

Engländern

doch nicht gut sagen, sie sollten die Home Fleet auslaufen lassen

IX. Von München bis

zum

Kriegsausbruch

395

aller Einsicht in die Gefährlichkeit der Entwicklung ab. Man wird in dieser Haltung Halders eine Konsequenz aus der im September 1938 gemachten bitteren Erfahrung sehen dürfen. Damals hatte er den Staatsstreich weitestgehend vorbereiten lassen in der Annahme, die Westmächte würden Hitler Paroli bieten und damit die Auslösung des Putsches ermöglichen; eine Rechnung, die nicht aufgegangen war. Sollte dies bedeuten, daß er im Innern etwa entschlossen gewesen wäre, bei einer solchen Konstellation gleichsam im Nachzug einen Putsch zu wagen, daß er also eine Art verbesserter Neuauflage der September-Planung dieses Mal vorhergehendes Anregen und Abwarten der westlichen Reaktion im Sinne gehabt hätte? Darauf deutet nichts hin. Als Beck, von Gisevius, Goerdeler, Popitz, Hassell und Thomas gedrängt, zuerst an Brauchitsch schrieb, der nicht antwortete, und dann Halder zu sich bat, um den Generalstabschef zum Handeln zu veranlassen, da meinte dieser, der Zeitpunkt dazu sei noch nicht gegeben. Im Grundsätzlichen, in der prinzipiellen Ablehnung des Regimes, auch in der langfristigen Beurteilung der Lage waren beide Generäle sich einig; in der Beantwortung der Frage, ob und wann man handeln müsse, trennte sie dagegen eine tiefe Kluft. Halder bestritt die Opportunität des gegenwärtigen Zeitpunktes, er wies auf die von der gesamten Nation als unsinnig empfundene Grenzziehung im Osten hin, Danzig sei nun einmal eine unleugbar deutsche Stadt, die Briten schienen Hitler doch freie Hand im Osten zu geben, und der Diktator würde es über die polnische Frage nie zu einem Weltkrieg kommen lassen. Warum solle man Hitler nicht noch einige unaufschiebbare „Flurbereinigungen" vornehmen lassen86? Beck war angesichts dieser Argumente in einer schwierigen Lage. Über die Wahl des psychologisch richtigen Zeitpunktes ließ sich in der Tat streiten, und die Geschichte des deutschen Widerstandes ist bis zu ihrem Ende voll von derartigen Auseinandersetzungen. Aber da zu diesem Problem ausschließlich subjektive Beurteilungen vorgebracht werden konnten, gab es keine Möglichkeit zu logisch zwingender und damit überzeugender Beweisführung. Becks gewichtigstes Argument war, daß es, wenn der Krieg erst einmal ausgebrochen sei, für die Armee selbst einem Tyrannen gegenüber andere, eben patriotische, damit stärker und enger bindende Gesetze gebe als im Frieden; daher dränge die Zeit. Halder dagegen brachte als stärkstes Argument vor, es sei nicht von vornherein ausgeschlossen, daß die diplomatischen Verhandlungen mit Polen, die zudem eben erst begonnen hätten, doch noch zu einer mehr oder weniger gütlichen Regelung führen könnten. Beide Männer argumentierten in gewissem Sinne aneinander vorbei. Trotz grundsätzlicher Übereinstimmung kam daher in der zentralen Frage keine Einhelligkeit zustande. Als sie sich trennten, schied Beck grollend von dem Manne, den er im lehnte

er trotz

-

-

und Frankreich möge mobilisieren, denn nur eine solche Sprache verstünde Hitler. Vgl. auch Herbert v. Dirksen, Moskau, Tokio, London. Erinnerungen und Betrachtungen zu 20 Jahren deutscher Außenpolitik 1919-1939, Stuttgart 1949, S. 256, und Krausnick, Vorgeschichte, S. 382, Anm. 559: Halder versuchte den zur Berichterstattung in Berlin zur Zeit gerade anwesenden Botschafter v. Dirksen zu veranlassen, Hitler ganz klar zu sagen, daß England bei einem deutschen Angriff auf Polen in den Konflikt eingreifen würde. 86 So die Wiedergabe des Gespräches bei Gisevius, S. 395.

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Kriegsausbruch

seinen Gesinnungsgenossen noch als seinen Nachfolger auch in oppositioneller Hinsicht empfohlen hatte. Trotz gegenseitiger Hochschätzung im Beruflichen hatte ein menschlich vertrautes Verhältnis sie nie verbunden. Sachliche, auch politische Meinungsverschiedenheiten hatten sie bereits mehrfach gehabt. Früher war es Halder einige Male, der den noch im Amt befindlichen Beck zur Tat zu drängen suchte. Jetzt waren die Rollen vertauscht. Bei Beck entstand allmählich die Überzeugung, daß es Halder sicher nicht an Einsicht fehle, wohl aber am Willen zur Tat. Der Keim zu dem dann im ersten Kriegsjahr offen aufbrechenden Zerwürfnis zwischen dem ehemaligen und dem amtierenden Generalstabschef war damit gelegt. Mißtrauen an Halders Tatwillen machte sich bei Beck und seinem Kreis breit. Gewiß ist bereits vor dem Gespräch bei Beck eine gewisse derartige Voreingenommenheit vorhanden gewesen; denn er hatte sich lange gesträubt, Halder zu einer Unterredung zu sich zu bitten. Gisevius87 schreibt dazu: „Ich entsinne mich, wie heiß dieser Entschluß umkämpft war. Irgendein Stolz bäumte sich in dem vereinsamten Generalobersten auf, vielleicht auch ein besseres Wissen, eine böse Vorahnung. Er meinte, wenn Halder nicht selber das Bedürfnis empfände, sich mit ihm auszusprechen, wolle er ihn nicht drängen: vermutlich bereite er bereits seine Rückzugslinie vor. Doch Goerdeler, Thomas, Hassell, Popitz und ich bedrängten Beck, er möchte Halder das Entweichen nicht zu leicht machen." Eine solche Voreingenommenheit hat gewiß dazu beigetragen, daß Beck in Halders Ausführungen, stärker als vom Generalstabschef gewollt, die scheinbare Ausrede, das Nein zum Handeln herausgehört hat. Indessen scheint Becks Eindruck nicht ganz unverständlich gewesen zu sein. Auffallend ist nämlich Halders relativ optimistische Annahme, die Westmächte würden Hitler freie Hand im Osten geben und dieser werde es in der polnischen Frage nicht zum Weltkrieg kommen lassen. Diese Argumentation steht in offenkundigem Gegensatz sowohl zu seiner kurz zuvor Liebmann gegenüber ausgedrückten tiefen Besorgnis über den Gang der Entwicklung als auch zu seinen Warnungen an Brauchitsch. Seine erwähnten Darlegungen gegenüber Beck werden somit tatsächlich als bloßer Vorwand angesehen werden müssen, um dem Drängen seines Vorgängers zu entgehen88. Es erscheint daher nicht abwegig anzunehmen, daß Halder zu jener Zeit nicht bereit war, dem Gedanken einer Aktion gegen Hitler näherzutreten. In der Zeit zwischen dem Ende des Polenfeldzuges und dem Beginn der Westoffensive hat er wie noch zu zeigen sein wird dann noch einmal intensiv den Weg zum Staatsstreich beschritten. Im FrühjahrFrühsommer 1939 aber ist bei ihm ein diesbezüglicher entschlossener Wille nicht zu bemerken. Das wird einmal den psychologischen Nachwirkungen von München zuzuschreiben sein, sodann aber auch in den aufgezeigten äußeren Schwierigkeiten begründet gelegen haben. Ob als zusätzliches Motiv eine innere Zustimmung zur Bereinigung der Frage der Ostgrenzen bei ihm eine Rolle gespielt hat, mag dahingestellt bleiben; sein Hinweis gegenüber Beck, Danzig sei schließlich eine deutsche Stadt, könnte das nahelegen. Daß die Sommer

zuvor

-

-

87

Gisevius, S. 394.

Diese Überlegung setzt lichen korrekt wiedergibt. 88

allerdings

voraus, daß Gisevius den Inhalt des

Gesprächs

im

wesent-

IX. Von München bis

zum

Kriegsausbruch

397

Hitler am 23. Mai 1939 vor der Generalität gehaltene Rede den Generalstabschef beruhigt haben mag, in der der Diktator zwar einen Krieg mit Polen in Aussicht stellte, aber nochmals auf die Wichtigkeit seiner Lokalisierung hinwies und vor allem betonte, die Rüstungsprogramme sollten weiterhin auf 1943/44 abgestellt werden, ist kaum anzunehmen. Hitler hatte immerhin auch gesagt, Danzig sei nicht das Objekt, um das es gehe, sondern das sei die „Erweiterung des Lebensraumes im Osten", und das Problem Polen sei „von der Auseinandersetzung mit dem Westen nicht zu trennen". Schließlich hat er ganz offen erklärt, „England ist daher unser Feind"89. Hinzu kam ebenfalls, daß sich einige Tage später, am 31. Mai, die Lage durch die britisch-französische Garantieerklärung für Polen weiter verschärfte90. Die kritische internationale Lage ist Halder gewiß deutlich gewesen. Die unsichere Hoffnung, daß es vielleicht auch diesmal nicht zum Äußersten kommen werde, mag in ihm jedoch angesichts der jüngsten Erfahrungen und der für einen Putschversuch widrigen äußeren Umstände den Willen zur Tat auf ein nicht mehr erkennbares Maß verringert haben. Einen entscheidenden Einfluß auf das Verhalten des Generalstabschefs in dieser Frage hatte vor allem die Tatsache, daß Brauchitsch sich betont auf den soldatischen Gehorsamsstandpunkt zurückzog. Der ObdH hat zwar wie Halder bezeugt91 Hitler mehrfach nachdrücklich vor einem Eingreifen der Westmächte gewarnt und auch versucht, entsprechende Warnungen durch Dritte, so über den Stabschef der SA92, an Hitler gelangen zu lassen. Aber zu weitergehenden Demarchen, etwa nach dem Vorbild Becks, fand er sich nicht bereit. Einmal mag Brauchitsch selbst auf die von Hitler wiederholt in Aussicht gestellte Isolierung Polens und damit die Vermeidung eines Zweifrontenkrieges gebaut haben. Zum anderen deutet einiges darauf hin, daß er, der im Anschluß an München eine Periode der Ungnade von seiten Hitlers hatte durchstehen müssen, jetzt glaubte, seine Stellung festige sich wieder etwas. Daher war er nicht geneigt, sie durch irgendwelche kritischen Warnungen aufs Spiel zu setzen. Tatsächlich konnten gewisse Entwicklungen in den beiden Bereichen, in denen sich seit langem offene Machtkämpfe abgespielt hatten nämlich im Verhältnis zum Oberkommando der Wehrmacht und zur SS -, ihm den Eindruck vermitteln, wieder an Boden gewonnen zu haben. Es war den Wehrmachtteilen seit geraumer Zeit gelungen, die Zwisdieninstanz des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht mehrfach zu umgehen oder auszuschalten und unter Ausnutzung der Institution der Verbindungsoffiziere sowie durch verstärkte persönliche Präsenz der Oberbefehlshaber in ein unmittelbares Verhältnis zu Hitler zu kommen93. Zudem hatte in einem Fall der Expansionsdrang der SS auf militärischem Gebiet eingedämmt werden können. Der von

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-

-

Eine gewisse Anglophobie mag ebenfalls bei Halder nicht ganz gefehlt haben. Ähnliche Ausführungen auch in der Mitteilung von Generaloberst Halder an das MGFA vom 10. 1. 1965. 90 Zu Hitlers Rede vom 23.5.39 vgl. IMT XXXVII, S. 546; Manstein, S. 14; Keitel, S. 206 f.; vgl. auch Brauchitschs Aussage in IMT XX, S. 623 ff. 91 Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 378, Anm. 547, und Brauchitschs eigene Aussage in IMT XX, 89

S. 622 f. IMT XX, S. 623.

92

93

Vgl. Warlimont,

S. 36.

IX. Von München bis

398

zum

Kriegsausbruch

in engem Zusammenwirken mit der Obersten SA-Führung erreicht, daß im Januar 1939 ein Führererlaß die vor- und nachmilitärische Ausbildung und Fortbildung in sogenannten „Wehrmannschaften" der SA übertrug. Wichtig war dabei, daß die Wehrmacht nicht nur ein Aufsichtsrecht, sondern sogar ein so weitgehendes Mitspracherecht erhielt, daß die SA dadurch geradewegs zu einem Instrument des Heeres wurde. Insbesondere schlug sich dies in der Verfügung nieder, daß zu Führern dieser nicht nach Parteigliederungen, sondern nach Waffengattung organisierten Wehrmannschaften nicht SA-Dienstgrade bestimmt wurden, sondern ausschließlich Persönlichkeiten mit der Qualifikation des Reserveoffiziers94. Brauchitsch selbst hatte diese Regelung, welche die SA unter militärischen Einfluß bringen sollte, als ausgesprochen gegen die SS gerichtet angesehen05. Dies und das scheinbar erreichte Beiseitedrängen des Oberkommandos der Wehrmacht mochten ihm die Illusion vermitteln, daß sich seine Stellung und damit der Einfluß der Heeresführung auf Hitler verstärkt hätten. Daher war er nicht geneigt, das Erreichte wieder aufs Spiel zu setzen. Vielmehr schien er danach zu streben, es durch betont „linientreues" Auftreten noch weiter zu festigen. In diesem Zusammenhang muß eine von ihm vor Rüstungsarbeitern gehaltene, ausgesprochen ideologisch gefärbte Rede vielleicht gesehen werden, in der er sich als einer der engeren Mitarbeiter des „Führers" bezeichnete und versicherte, Hitler werde niemals „das Leben der deutschen Menschen leichtfertig aufs Spiel setzen. Wenn aber der Führer einmal den letzten und höchsten Einsatz von uns fordert, dann können wir sicher sein, daß es keinen anderen Weg gibt, sondern daß dies zur Erhaltung unseres Volkes eine unabänderliche Notwendigkeit ist86." Halder erlebte dies alles aus nächster Nähe mit; er kannte seinen Oberbefehlshaber zu genau und wußte, daß Brauchitsch im gegenwärtigen Zeitpunkt für jegliche oppositionelle Aktivität ausfiel. Das mußte ihn um so mehr zu einer spürbaren, wenn auch mit gemischten Gefühlen vollzogenen Abwendung von derartigen Initiativen veranlassen, zumal Witzleben nicht mehr in Berlin war. Von den Männern der Armeeführung war demnach zur großen Enttäuschung der zivilen Opposition keine Initiative zum Staatsstreich zu erwarten. Dennoch kam es in der Periode zwischen München und dem Kriegsausbruch wenigstens im Ansatz zu einer von einigen

ObdH hatte

es

Führererlaß vom 19.1.39 in: Verordnungsblatt der Obersten SA-Führung 1939, Nr. 5; vgl. auch Ministerialblatt des Reichsinnenministeriums 1939, S. 1189, und bezüglich dieses Erlasses und der folgenden Durchführungsbestimmungen Keesings Archiv 1939/3901 C, 3911 G und 4081 F sowie MGFA/DZ WK XIII/299. 95 Vgl. Hassell, S. 49-50: „Die neuen Bestimmungen über die prä- und postmilitärischen Funktionen der SA hat er offenbar selbst mitgeschmiedet. Sein Gedanke: die SA unter militärischen Einfluß zu bringen. Er meinte selbst, man müsse sehen, wer sich durchsetze. Auf alle Fälle ist die Maßnahme von ihm aus vor allem gegen die SS gerichtet, deren Führer wütend sei (Himmler)." Ein Vergleich mit den Intentionen des Heeres im Jahre 1933/34 zeigt, wie sehr sich inzwischen die Lage der Armee gewandelt hatte und wie „besdieiden" die Heeresführung 1939 bereits geworden 94

war. 98 Vgl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 379; Brauchitsch und Raeder überbieten sich in

vgl. dazu auch Hassell, S. 71 : „Die byzantinischem Bramarbasieren."

letzten Reden

von

IX. Von München bis

zum

Kriegsausbruch

399

Konspiration. Diese Tatsache ist allerdings bis heute der diese Konspiration im Rahmen der Geschichte Wenngleich völlig Forschung entgangen97. des militärischen Widerstandes lediglich eine Episode ohne irgendwelche Auswirkungen höheren Offizieren getragenen

blieb, so ist sie doch in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. Während in Berlin Halder sich jedem Gedanken an einen Gewaltstreich verschloß, während die zivile Oppositionsgruppe dementsprechend keinen Ansatzpunkt zum Handeln sah, befand sich General v. Witzleben als Oberbefehlshaber des Gruppenkommandos 2 in Frankfurt a. M. Von der Zentrale entfernt, ohne genaue politische Informationen, nahezu ohne Kontakte zu Berliner Oppositionskreisen, wollte diese ebenso aufrechte wie politisch problemlose Soldatennatur nicht resignieren. Jedoch, was konnte er, nun trotz äußeren Aufstiegs doch bloß ein Befehlshaber außerhalb Berlins, noch machen? Gisevius kennzeichnet Witzlebens Lage mit den Worten: „Nun saß er in Frankfurt a. M. und sehnte sich in die Zeit zurück, wo er nicht mehrere Armeekorps, dafür aber in Berlin jene eine oder zwei Divisionen befehligte, die den Weg zur Reichskanzlei bahnen konnten98." In der Hierarchie des Heeres jetzt in eine der drei oder vier höchsten Stellen hinter den ObdH gerückt, empfand Witzleben es schmerzlich, wie mit jeder Rangerhöhung auch die Distanz zur Truppe wuchs und damit die unmittelbare Wirkungsmöglichkeit des soldatischen Führers stärker mediatisiert wurde. Jetzt konnte er sich nicht mehr einfach zum Pronunziamento an die Spitze einer Division setzen. In der Person des klugen und gebildeten Generalmajors v. Sodenstern besaß er jedoch einen Chef des Generalstabes, der alles andere als nationalsozialistisch eingestellt war. Sodenstern hatte sogar im Frühjahr 1938 einen Aufsatz „Über das Wesen des Soldatentums" verfaßt, den der Generalstab des Heeres erst nach langem, bedenkenvollem Zögern und auch dann nur mit zahlreichen abschwächenden Änderungen in der „Militärwissenschaftlichen Rundschau"99, dem offiziösen Fachblatt des Generalstabes, zur Veröffentlichung freigab. In der französischen Zeitschrift „Cyrano" wurde dieser Artikel als „offene Stellungnahme gegen die Nazifizierung der Armee" bezeichnet100. Es erstaunt daher nicht, daß Witzleben bei seinem Chef des Stabes bald eine Übereinstimmung der beiderseitigen Auffassungen feststellte, zumal auch Sodenstern seit längerem die politische Entwicklung mit wachsender Besorgnis verfolgt hatte. Beide Männer erkannten rasch, daß sie Becks Auffassung teilten, daß die Politik Hitlers letztlich zum Kriege führen müsse; in diesem würde sich schließlich die ganze Welt gegen Deutschland stellen; das wäre das Ende des Reiches. In zahlreichen ernsten 97

Vgl. hierzu und

zum

folgenden Georg

v.

Sodenstern,

Zur

Vorgeschichte des

20.

Juli

1944

(MGFA/DZ B-499, unveröffentlichte Studie aus dem Jahr 1947). 98 Gisevius, S. 395. 99 Georg v. Sodenstern, Vom Wesen des Soldatentums, in: Militärwissenschaftliche Rundschau 4 (1939), S. 42-60. 199 „Cyrano" vom 26. 5. 39. Dieser Aufsatz brachte Sodenstern eine Fülle von Zuschriften ein, darunter einen zustimmenden Brief des damaligen Hauptmanns Graf von Stauffenberg. Er erweckte auch die Aufmerksamkeit von Canaris, mit dem es fortan zu mehrfachen, von ernster Sorge um die Zukunft getragenen Aussprachen kam.

IX. Von München bis

400

zum

Kriegsausbruch

Aussprachen „wurden sich Oberbefehlshaber und Chef darüber klar, daß hier Grenzen wer solchen Ausgang der soldatischen Gehorsamspflicht sichtbar wurden und daß befürchtete auch an der Verantwortung für die weitere Entwicklung mit zu tragen darin stimmten beide Offiziere überein hatte"101. Ein Rückzug ins Privatleben käme einer Flucht vor der Verantwortung gleich. Der Gleichklang der Auffassungen ver-

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-

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anlaßte Witzleben, seinem Chef anzuvertrauen, daß er sich schon seit langem Gedanken über die daraus resultierenden Konsequenzen gemacht habe und auch diesbezüglich bereits mit anderen Persönlichkeiten er nannte dabei den Namen Goerdeler in Kontakt stünde. Aufgrund der übereinstimmenden Lagebeurteilung fand er bald Sodensterns Zustimmung zu dem Versuch, Widerstandsgruppen ins Leben zu rufen, auf die gestützt man im gegebenen Moment Hitler zur Änderung seiner verhängnisvollen Politik zwingen könnte. So verhältnismäßig schnell Witzleben auch mit seinem Chef des Stabes über die sich aus der gemeinsamen Lagebeurteilung ergebenden Konsequenzen einig wurde, so wenig sahen beide Offiziere jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt konkrete und bald zu realisierende Möglichkeiten. Darin spiegelte sich die allgemeine Lage der gesamten Opposition wider. Aber während die Berliner Frondeure angesichts der Aussichtslosigkeit der Situation praktisch im unfruchtbaren Raisonnement stecken blieben, ließ sich Witzleben nicht davon abhalten, wenigstens auf lange Sicht hin Pläne zu schmieden. Dabei zerbrach er sich vorerst nicht den Kopf über die Frage, was mit Hitler bei einem Putsch zu geschehen habe; das zu entscheiden, wäre bei gegebener Gelegenheit noch Zeit genug. Für Witzleben ging es allein um die Frage, was man jetzt tun könne. Das war zwar wenig, aber dieses wenige wollte er jedenfalls tun. Dieser General drängte zur Aktion, so eng ihr die Grenzen auch gezogen sein mochten. So konnte in wenig günstigen Zeitläuften Unkompliziertheit, verbunden mit persönlicher Dynamik, ein Rettungsmittel vor der lähmenden Resignation sein. Bei näherer Überlegung kamen die beiden Offiziere zu dem Schluß, man müsse für jede zukünftige Militäraktion eine solide personelle Basis haben. Sie entschlossen sich daher, langfristige Grundlagenarbeit zu leisten und „eine Kerntruppe zu bilden, welche die zuverlässige bewaffnete Stoßkraft für eine Widerstandsbewegung abgeben konnte, die wenn andere Mittel versagten die gewaltsame Entmachtung des Diktators zum Ziel haben mußte". Witzleben und sein Chef schreckten demnach vor dem Gedanken, notfalls zum Äußersten zu schreiten, nicht zurück. Zunächst aber wollten sie insgeheim gleichgesinnte höhere Offiziere gewinnen, die dann zuverlässige Truppenkommandeure ausfindig machen sollten. Deren Aufgabe wäre es gewesen, jüngere Offiziere zu überzeugen. Dabei kämen vor allem solche Persönlichkeiten in Frage, die mitreißenden persönlichen Einfluß auf ihre Leute hätten. Dieser Plan lief in Konsequenz auf eine breite konspirative Zellenbildung hinaus. Am 20. Juli 1944 versuchte dagegen eine kleine Aktionsgruppe, die an wichtigen Schaltstellen im Führungsorganismus -





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des Heeres saß, den Automatismus des militärischen Apparates, der mit formal korrekten Befehlen nach ihrer Ansicht zu manipulieren war, für den Staatsstreich auszunützen. Witzleben dagegen faßte im Sommer 1939 die kadermäßige Revolutionierung eines klei181

MGFA/DZ B-499, S. 34.

IX. Von München bis

zum

Kriegsausbruch

401

aber hinreichenden Teiles des Offizierkorps ins Auge102. Das war in der Tat ein im Rahmen des bisherigen Denkens der oppositionellen Militärs ganz neues, angesichts der deutschen militärischen Tradition sogar ungeheuer kühnes Unterfangen. Gewiß, von differenzierten politischen Überlegungen war in diesem Plan nichts zu finden. Die Frage, zu welchem Zeitpunkt und mit welchem Ziel man diesen anti-nationalsozialistischen Kader einsetzen sollte, wie man praktisch den Umsturz zu organisieren und wie man danach die Verhältnisse zu regeln gedachte, stellten sich wie es scheint die beiden Offiziere nicht. Insofern war ihre Planung bei aller Kühnheit der Methode doch recht vage. Das mag nicht nur an Witzlebens notorischem politischem Desinteresse103 gelegen haben; sein Chef Sodenstern war immerhin ein auch in politischen Dingen umsichtiger und verständiger Offizier. Ihnen ging es vorerst darum, überhaupt etwas zu tun. Beide glaubten auch, daß eben die dafür notwendige Zeit noch zur Verfügung stünde; denn hielten sie „einen etwa von deutscher Seite ausgehenden wie Sodenstern berichtet Angriff nicht vor den vierziger Jahren für möglich". In dieser Auffassung fühlten sie sich „noch bestärkt durch den Ausbauzustand des ,Westwalles', der der militärischen Aufsicht des Gruppenkommandos unterstand und nicht vor 1942 verteidigungsfähig sein konnte104. Diese völlige Unorientiertheit eines der höchsten Befehlshaber des Heeres und seines ersten Beraters erscheint dem heutigen Betrachter nahezu unglaublich; daß Sodensterns Bericht in diesem Punkt jedoch zutreffend ist, bezeugt auch Gisevius. Bei einem Besuch am 20. August 1939 in der Privatwohnung des Generals traf er Witzleben beim Abhören britischer Rundfunksendungen, „der einzigen zuverlässigen Nachrichtenquelle, über die zu jenem Zeitpunkt diejenigen verfügten, auf deren Befehl bald Hunderttausende in die Feldschlacht zogen"105. Er fand den General auch von der Zuspitzung der politischen Lage kaum unterrichtet106. Das erklärt die angesichts der politischen Krisensituation gewiß in zeitlicher Hinsicht unangemessenen konspirativen Pläne der beiden Offiziere; außerdem standen sie mit der Verkennung der Lage nicht allein, wie andere Beispiele zeigen. Der Unermüdlichkeit, der Tatbereitschaft und der Originalität der Planung Witzlebens und Sodensterns tut diese Feststellung jedenfalls keinen Abbruch. Allerdings war die zeitliche Fehlrechnung der beiden Generäle schließlich der entscheidende nen,

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allerdings auch zu fragen, ob der Wettlauf mit der fortschreitenden Nazifizierung gerade jüngeren Offizierkorps auf diese Weise hätte erfolgreich durchgestanden werden können. 103 In MGFA/DZ B-499, S. 37, berichtet Sodenstern, Witzleben hielt weder sich noch irgendeinen anderen Soldaten für eine Einflußnahme auf die innen- und außenpolitische Gestaltung der Zukunft für zuständig. Diese von Sodenstern überlieferte Auffassung Witzlebens klingt auch bei Gisevius, S. 360, an. Vgl. auch den von Hildebrand überlieferten Ausspuch Witzlebens (Kap. VIII, 102

Es ist

des

S. 353, dieser Arbeit). 104 Ebd. S. 35. 103 Gisevius, S. 395-396. 106 Wobei allerdings Witzlebens zugegebenes Unverständnis bezüglich politischer Dinge wohl als zusätzliches Moment mangelnder Orientierung zu veranschlagen ist. Im übrigen wurde er als Oberbefehlshaber eines nach Westen angesetzten Gruppenkommandos auch über die für den „Ost-Fall" vorgesehenen Maßnahmen nicht orientiert. 26

IX. Von München bis

402

zum

Kriegsausbruch

Faktor, welcher der Ergebnislosigkeit ihres Unterfangens zugrunde lag. Das wurde am 1. September dann deutlich. Vorerst jedoch begannen die beiden Offiziere, vorsichtig und behutsam zwar, aber nicht minder entschlossen, Mittel und Wege zu suchen, ihren Plan verwirklichen. Aus dem Stab des Gruppenkommandos wurde lediglich der I a, der damalige Oberst und spätere Generalleutnant Vincenz Müller, eingeweiht107. Ansonsten ging die Arbeit, erschwert durch die notwendigerweise zu beachtende Vorsicht und Geheimhaltung bei weiteren Kontaktaufnahmen nur langsam voran. Zu den Berliner Oppositionskreisen scheinen keine Kontakte bestanden zu haben. Sodenstern gibt zwar an, daß Oberst Oster seine alten Beziehungen zu Witzleben weiter gepflegt habe, aber wahrscheinlich wird dieser, da die Frankfurter Gruppe auf lange Sicht plante und vorerst keine direkte Aktion ins Auge gefaßt hatte, in Berlin die Dinge nicht weiter verbreitet haben108. Auch sagt Sodensterns Bericht nicht, daß Oster in Witzlebens Pläne eingeweiht war, sondern nur, daß er weitere Kontakte zu vermitteln sich bemühte. Ein Ergebnis dieser Vermittlertätigkeit Osters könnte gewesen sein, daß Graf Fritz-Dietlof v. d. Schulenburg, der seit der Sudetenkrise enge Beziehungen zur Abwehr unterhielt109, im Frühjahr 1939 auf der Rückreise von einem Urlaub in Frankfurt Station machte und eine Unterredung mit Witzleben hatte110. Das wichtigste Ergebnis dieser Vermittlertätigkeit Osters, die man sich im übrigen nidit als permanent, sondern mehr als von Fall zu Fall ausgeübt vorzustellen hat, war das Zustandekommen einer Aussprache zwischen Goerdeler und Witzleben in Frankfurt. Nach Sodensterns Angaben fand dieses Treffen „wenige Wochen es mögen 5-8 gezu

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Dieser, gebürtiger Bayer, einstiger württembergischer Pionieroffizier, war ein sehr qualifizierter Generalstäbler, der im Kriege Chef einer Armee, Div.-Kommandeur und Kommandierender General wurde. Später schloß er sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft dem „Nationalkomitee Freies Deutschland" an und wurde in der DDR Generalinspekteur der Volkspolizei, Generalstabschef der NVA und Vizepräsident der Volkskammer. Als einstiger Mitarbeiter Schleichers schien er Witzleben vielleicht für seine Pläne geeignet. Seine Aufzeichnungen (Vincenz Müller, Ich fand das wahre Vaterland, Nachgelassene Memoiren, hrsg. von Klaus Mammach, [Ost]-Berlin 1963, S. 369) bestätigen, daß Witzleben ihn in die Konspiration eingeweiht hatte und daß er später im November 1939, als Witzleben das AOK 1 in Bad Kreuznach hatte, bei der Heeresgruppe C in Frankfurt geblieben war und den Mittelsmann zwischen Witzleben, Leeb und Oster spielte. Als Oster ihn im November 1939 aufsuchte, war diesem jedenfalls bekannt, daß Witzleben Müller bereits vor Kriegsausbruch eingeweiht hatte, also noch zu Witzlebens Frankfurter Zeit; damit werden obige Angaben Sodensterns bestätigt. 108 Daß die Gruppe um Beck von Witzlebens Plänen nichts wußte, zeigt der uns in Hassells Tagebuchaufzeichnungen, S.73, unter dem 14.8.39 zu findende und auf Beck bezogene Eintrag: „Leider hat er d. h. Beck eine sehr geringe Meinung von den führenden Leuten der Wehrmacht. Er sieht daher keinen Punkt, an dem man ansetzen könnte." 109 Vgl. Krebs, S. 172. 118 Krebs, S. 175. Schulenburg sagte kurz darauf zu seiner Schwester: „Wir werden ihn umbringen, wenn er das deutsche Volk in einen schlechten Krieg zwingt", ebd. S. 176. Man kann, so allgemein diese Aussage auch war, sie vielleicht als Indiz für Schulenburgs Wissen von den Plänen Witzlebens ansehen; denn worauf anders sollte Schulenburg damals angespielt haben, wo dodi die Opposition in Berlin völlig untätig war? 187

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IX. Von München bis

zum

Kriegsausbruch

403

September 1939 in der Wohnung Witzlebens"111, also im Juli oder Anfang August, statt112. Das Ergebnis dieser Aussprache gibt Sodensterns Bericht113 folgendermaßen wieder: „1. Ein reiner Generalsputsch konnte keine Resonanz im Volk haben, war auch von Witzleben nicht beabsichtigt. 2. Der Aufstand war hoffnungslos, solange die sozialistischen Massen und das war der Fall! in geschlossener Front hinter den Hakenkreuzfahnen standen. Ein Generalwesen

sein

vor

dem 1.

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-

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streik, der auch Post und Eisenbahn erfaßt hätte, wäre unvermeidlich gewesen. Bewegung müßten sofort alle Gauleiter verhaftet, alle Rundfunk-

3. Beim Start der

sender besetzt und die gesamte Presse unter Kontrolle genommen werden. Also mußte in jeder Gauhauptstadt eine zuverlässige Verschwörergruppe vorhanden sein. 4. Witzleben hoffte, bis zum Frühjahr 1940 eine zuverlässige Aktionsgruppe organisiert und in allen Wehrkreisen die Vertrauensleute (gemäß Zff. 3) gewonnen zu haben. 5. Dr. Goerdeler übernahm es, auf dem Wege über christliche und sozialistische Gewerkschaftsführer die Front der Arbeiterschaft aufzusprengen und die Gefahr eines Generalstreiks auszuschalten. Auch er hoffte, bis zum Frühjahr 1940 am Ziel zu sein. 6. Man kam überein, sich nach einigen Monaten zur Festlegung endgültiger Daten und Maßnahmen wieder zu treffen. In der Zwischenzeit sollte unauffällige Verbindung durch Oberst Oster gehalten werden."

Die Zeitplanung wurde also, wie Punkt 4 zeigt, nicht geändert, d. h. sie entsprach weiterhin nicht der tatsächlichen Lage des August 1939. Da Goerdeler wie es scheint dem zustimmte, war auch er sich wohl infolge seiner längeren Auslandsreisen über die akute Zuspitzung der Lage nicht ganz im klaren114. Auffallend ist an der Planung die stark pessimistische Beurteilung der Stimmung im Volk, die man einem Staatsstreich gegenüber nicht für günstig einschätzte. Die Tagebücher Hassells ergeben dagegen ein völlig anderes Bild115. Danach sei damals die Zukunftssorge im Volk groß, die Unzufriedenheit mit dem System spürbar gewesen. Man wird allerdings die unleugbare Abneigung gegen einen Krieg nicht unbedingt mit einer tiefgehenden Unzufriedenheit mit dem Regime gleich-

-

111

MGFA/DZ B-499, S. 36. Diese allerdings etwas unklare Terminangabe Sodensterns scheint ungefähr zutreffend zu sein; denn nach Ritter, Goerdeler, S. 201, war Goerdeler von März bis August auf Auslandsreisen. Zudem machte Goerdeler am 14. 8. 39 bereits bei seinem ersten Zusammentreffen mit Hassell die Bemerkung, „daß es im Lande,... schon wieder Faktoren des Widerstandes gebe" (Hassell, S. 72). Nimmt man diese Bemerkung als Ausfluß seiner Unterredung mit Witzleben was sollte den soeben erst aus dem Ausland zurückgekehrten Goerdeler denn sonst zu ihr veranlaßt haben? -, so hätte man für das Frankfurter Treffen einen terminus ante quern. 113 in den wesentlichen Punkten Sodenstern, S. 36-37: in diesen aber zuverlässig -" wie Sodenstern betont. 114 Vgl. dazu Ritter, Goerdeler, S. 219, der in bezug auf Goerdelers damalige Denkschriften schreibt: „Man gewinnt fast den Eindruck, als hätte ihr Autor die nächsten konkreten Eroberungsziele des Diktators noch gar nicht gekannt." 115 Vgl. Hassell, S. 51 f., 57, 63, 68 f., und Wagner, S. 92, 93, 104. 112

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„.

..

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IX. Von München bis

404

zum

Kriegsausbruch

können. Für den rückblickenden Betrachter ist es aber schwierig, die Volksstimmung damaligen Zeit im einzelnen zu rekonstruieren, zumal eine erkennbare öffentliche Meinung im „Dritten Reich" nicht bestand. Gewiß aber darf man wohl nicht derart undifferenziert wie es Witzleben und Goerdeler damals taten von einer „geschlossenen Front" der hinter dem Regime stehenden „sozialistischen Massen" der Arbeiterschaft sprechen116. Immerhin ist es bezeichnend für die Denkweise der beiden konservativen Verschwörer, daß sie annahmen, die deutsche Arbeiterschaft sei durch die Sozialpolitik der Hitler-Regierung derart regimetreu, daß sie einen Militärputsch mit einem Generalstreik beantwortet hätten. Hier scheint der mißglückte Kapp-Lüttwitz-Putsch eine späte Nachwirkung gehabt zu haben. Witzlebens Plan einer konspirativen Kaderbildung wurde, wie Punkt 1 und 4 der Übereinkunft zeigen von Goerdeler voll gebilligt. Das wichtigste Ergebnis der Besprechung mit Goerdeler jedoch war die Konkretisierung der Pläne Witzlebens für den Zeitpunkt der Aktion; das kam in der Absprache über die Verhaftung der Gauleiter, die Besetzung der Rundfunksender, die in Aussicht genommene Kontrolle der Presse und die örtlichen Aktionsgruppen zum Ausdruck. Damit war zugleich wenigstens der Intention nach eine Ausweitung der vorbereitenden Aktivität über den Rahmen des Kommandobereidies Witzlebens hinaus auf das ganze Reichsgebiet ins Auge gefaßt. Sodann und das war ebenso wichtig wurde durch Goerdelers Bereitschaft, mit christlichen und sozialistischen Gewerkschaftsführern Kontakt aufzunehmen, eine wichtige Basisverbreiterung der Konspiration vorgesehen. Goerdelers Mitarbeit brachte in das ursprünglich auf den militärischen Bereich beschränkte Aktionsprogramm Witzlebens neben der notwendigen Konkretisierung einen großzügigeren und mehr politischen Zug hinein. Erst damit war die Möglichkeit gegeben, die Planung zur eigentlichen politischen Verschwörung auszuweiten. Dennoch bleibt es das Verdienst der Frankfurter Offiziersgruppe, daß sie zu einer Zeit, als die übrige Opposition untätig und gelähmt vorerst keine Aktionsmöglichkeiten mehr sah, wieder die Initiative ergriff und sich nicht in theoretischen, rein militärischen Planungen erschöpfte; vor allem aber knüpfte sie das durch den Schock der Ereignisse von München und durch Flalders Absage zerrissene Band zwischen militärischer und ziviler Opposition wieder an. Auch dies gehört nämlich in das Bild, das die Beziehungen zwischen Wehrmacht und nationalsozialistischem Regime damals boten: trotz des bereits geschilderten weiteren Einflußverlustes der Armee, der betonten Zurückhaltung des Generalstabschefs und des Rückzuges des ObdH auf den militärischen Gehorsamsstandpunkt verzichteten dennoch einige wenige Offiziere, abseits der Führungszentrale, nicht auf eine konkrete oppositionelle Aktivität; mehr noch, sie bemühten sich sogar, die Beziehungen zwischen den oppositionellen Kräften wieder zu beleben. In Verfolgung derartiger konspirativer Pläne bat Witzleben durch Osters Vermittlung

setzen

der

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Gisevius um einen Besuch, der am 20. August stattfand. Der General ließ sich zunächst über die jüngste politische Lageentwicklung und über die Verhältnisse in Berlin berichten. Darüber hatte ihm auch Goerdeler nichts sagen können; der ObdH aber habe sich wie -

Vgl. Punkt 2

der

Zusammenfassung Sodensterns.

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zum

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405

ergrimmt feststellte bei einer kürzlichen Besichtigung kühl an rein dienstliche Fragen gehalten und jedes Wort über politische Dinge vermieden; gleichfalls sei der Brauchitsch begleitende Halder ihm ausgewichen117. Gisevius konnte dem General nicht viel Positives von den Berliner Oppositionskreisen berichten. Er erwähnte lediglich Becks Versuche, auf Halder einzuwirken. Im Gegenteil, Gisevius und Oster hatten gehofft, als Witzleben

-

Witzlebens Bitte um einen Besuch sie erreichte, daß der General seinerseits einen konstruktiven Aktionsplan zu diskutieren wünsche. Indessen zeigt Gisevius' Bericht über seinen Besuch bei Witzleben, daß der General ihn bei diesem Treffen nicht direkt in seine Pläne eingeweiht hat. Vielmehr sandte er ihn mit dem Auftrag nach Berlin zurück, Beck, Canaris und Oster zu fragen, ob sie sich von einer Reise Witzlebens nach Berlin etwas versprechen würden. Witzleben dachte daran, in Berlin eventuell im Bunde mit Stülpnagel und Canaris auf den Generalstabschef und über diesen auf den ObdH einzuwirken. Gisevius sollte in vier Tagen wieder nach Frankfurt kommen und Witzleben das Ergebnis dieser Befragung mitteilen. Wenngleich Witzleben vorerst Gisevius nichts über seinen Plan anvertraute, so paßt sich doch der diesem erteilte Auftrag nahtlos in das Vorhaben der Frankfurter Gruppe ein. Man wird darin einen spontanen Versuch Witzlebens118 sehen dürfen, durch persönliche Einschaltung wieder unmittelbaren Kontakt mit den Berliner oppositionellen Kreisen zu bekommen sowie die personelle Planung möglicherweise dadurch auf eine gewichtige Grundlage zu stellen, daß er mit dem Generalstabschef zu einer Absprache zu kommen sich bemühte. Aus dem Vorhaben wurde jedoch nichts. Bereits am nächsten Tage bestellte Witzleben telefonisch den in Aussicht genommenen Besuch seines Freundes Gisevius ab, da alle höheren militärischen Führer für den 22. August zu Hitler nach Berchtesgaden beordert worden waren. Die Rede, die Hitler dort vor der Generalität hielt119, machte auf Witzleben und seinen Chef „den bestimmten Eindruck, daß der Krieg mit Polen unmittelbar bevorstehe"120. Damit war praktisch der auf längere Sicht angelegte Plan hinfällig geworden. Der General und sein Chef wurden infolge der nun in Kraft tretenden Mobilmachungs-Stellenbesetzung getrennt. Witzleben erhielt das Oberkommando der 1. Armee im Westen, Sodenstern wurde Chef des Stabes der Heeresgruppe Leeb. Vor allem aber waren mit der durch Mobilmachung und Kriegsausbruch gegebenen veränderten Gesamtlage keinerlei Aussichten mehr gegeben, ihr Vorhaben zu verwirklichen. Infolge der strikten Geheimhaltung und der schlagartigen Änderung der Lage mit Kriegsbeginn blieb die Initiative des Kreises um Witzleben den anderen zivilen Oppositionskräften verborgen. Das hatte gewichtige psychologische Auswirkungen. Bei der zivilen Fronde in Berlin, zu der in diesem Fall auch der im Ruhestand befindliche Generaloberst Beck zu rechnen ist, verbreitete sich eine stark negative Beurteilung der gesamten 117

Hierzu und zum folgenden Gisevius, S. 395 ff. £)er Versuch könnte vielleicht durch Gisevius' Bericht über Becks Bemühungen geregt worden sein. 119 Siehe unten S. 409 ff. dieses Kapitels. 129 Zs. Nr. 149 (Sodenstern), zit. nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 380, Anm. 552. us

um

Halder

an-

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406

zum

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Generalität. Hasseils Tagebuchaufzeichnungen121 geben eindrucksvoll die pessimistische, abwertende Einschätzung dieser Kreise hinsichtlich einer Initiative zum Widerstand von seiten hoher Militärs wieder. Erst jetzt wurde ihnen der seit dem 4. Februar 1938, vollends dann seit München eingetretene fortlaufende Machtverlust der Armee voll bewußt. So kam auch Beck, obwohl mehr denn je von der Verwerflichkeit der Politik des HitlerRegimes fest überzeugt, zu dem entmutigenden Schluß, daß vorerst kein Punkt zu sehen sei, „an dem man ansetzen könnte"122. Es zeigt die ganze Zersplitterung und den Mangel an Koordinierung der noch vor einem Dreivierteljahr noch einigermaßen entschlossenen Oppositionskräfte, daß diese Bemerkung Becks an dem Tag fiel, an dem Goerdeler nach seiner Fühlung mit Witzleben zu Hassell von jenen „Faktoren des Widerstandes" sprach, die es bereits wieder im Lande gebe. Offensichtlich funktionierte nicht einmal mehr der Informationsaustausch unter den in Berlin befindlichen Oppositionellen. Das ist nicht bloß auf die jeder oppositionellen Artikulierung höchst ungünstigen Verhältnisse in einem totalitären Polizeistaat zurückzuführen, es ist fraglos auch ein weiteres Zeichen für den Zerfall und die Lähmung innerhalb der Fronde. Gewiß wird man Witzlebens Aktivität nicht überbewerten dürfen; aber wenn die anderen Oppositionellen, die zu jener Zeit immer wieder vergeblich nach der geringsten Ansatzmöglichkeit Ausschau hielten, von seinen Plänen erfahren hätten, dann wäre ihr Urteil über die Generalität wohl differenzierter ausgefallen, zumindest hätten sie wenigstens auf einen General und einige hohe Offiziere ihre bescheiden gewordene Hoffnung geriditet. So aber mußten sie weiter die Bitternis der Ohnmacht auskosten. Dennoch kam es im Laufe des Sommers 1939 zu einigen Kontakten zwischen oppositionellen Emissären und britischen Regierungsstellen. Die Gebrüder Kordt konnten Gespräche mit Vansittard bis in den August hinein führen; Schlabrendorff wurde von Lord Lloyd empfangen; auch Adam v. Trott zu Solz und Graf Moltke führten ähnliche Gespräche; aber welch ein Unterschied zu jenen Fühlungnahmen im Jahre 1938! Damals konnten die Beauftragten der Opposition mit gutem Gewissen für den Eventualfall und unter gewissen Bedingungen einen Generalsputsch in Aussicht stellen, ja ihre Missionen waren geradezu integrierender Teil eines militärischen Staatsstreichplanes. Jetzt dagegen vermochten sie auf keine derartigen Aktionen hinzuweisen; nach Hitlers Rede vom 23. Mai wußten sie auch, daß der Diktator sich kaum noch durch eine feste Haltung der Westmächte von seinen Plänen würde abbringen lassen. Die Opposition im Auswärtigen Amt und die anderen Abgesandten aus Deutschland mußten daher auf einer anderen Ebene agieren. Sie bemühten sich mit ihren Demarchen, Hitler die Möglichkeit weiterer diplomatischer Triumphe zu verbauen, die es ihm eventuell gestatteten, seinen Krieg als Kampf um legitime und populäre Interessen der Nation zu deklarieren123. So ließen sie bereits frühzeitig Warnungen vor einer deutsch-sowjetischen Annäherung nach London gelangen124, was dort im übrigen aufgrund anderweitiger 121

Vgl. Hassell, S. 54, Eintrag vom

vom 122

29. 8. 39.

Hassell,

123 124

13. 7.

39, und S. 67, Eintrag

S. 73. Hierzu und zum folgenden Ritter, Goerdeler, S. 226 f. Ebd. und oben S. 393, Anm. 2, dieses Kapitels.

vom

7. 8. 39, sowie S. 80,

Eintrag

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Kriegsausbrudi

407

Informationen nicht als Überraschung wirkte; es rief vielmehr Verwirrung und Mißverständnisse hervor, jedenfalls verschaffte es der Opposition in den Augen der Briten keinen besonderen Kredit125. Auch eine Initiative des damaligen Oberstleutnants i. G. Graf v. Schwerin, der am 6. Juli 1939 anläßlich eines Besuches in London mit dem Chef des britischen Marine-Nachrichtendienstes, einem Parlamentarier und dem General MarshallCornwall dinierte, hatte kein Ergebnis126. Schwerin bemühte sich, seinen Gesprächspartnern klarzumachen, daß Hitler, der von seinem eigenen Generalstab gar nichts halte, nur mit Taten, nicht mit Worten zu beeindrucken sei. Es werde in nächster Zukunft Krieg geben, falls Hitler nicht davon überzeugt werde, daß die Westmächte es ernst meinten. Zu diesem Zwecke machte Schwerin den Briten sogar konkrete Vorschläge, was zu tun sei: eine britische Flottendemonstration, falls Deutschland einen Kreuzerbesuch in Danzig ankündige; Churchill ins Kabinett aufzunehmen, da dieser der einzige von Hitler respektierte britische Politiker sei; und schließlich die operative Luftwaffe Englands bereits jetzt in Frankreich zu stationieren127. Auf die Einwände der Briten, es sei schwierig bei derartigen Unternehmen die Grenze zwischen einer festen und einer provokatorischen Haltung einzuhalten, erwiderte Schwerin nochmals sehr betont, England müsse seine Stärke zeigen, wenn es Hitler im Zaume halten wolle; denn dieser sei überzeugt, daß die britische Außenpolitik schlapp sei. Das deutsche Volk so fügte er abschließend hinzu überließe Hitler das politische Denken, es habe Vertrauen zu ihm und sei einigermaßen glücklich im „Dritten Reich". Schwerin mußte jedoch trotz aller seiner Argumente aus den Worten seiner britischen Gesprächspartner entnehmen, daß London seinem Rat nicht -

zu

-

folgen gedachte.

Alles in allem also waren dies sehr vage Bemühungen, aber keinerlei planvolle Initiativen. Es fehlte ihnen die solide Basis und ein sinnvolles Ziel128. Das hatte seinen Grund nicht zuletzt darin, daß keine Aussicht auf irgendwelche Aktionen von militärischer Seite bestand. Indessen war es nicht so, daß es innerhalb der Wehrmacht- und Heeresführung keinerlei Besorgnis über den Gang der Entwicklung gab. Im Gegenteil, sogar im OKW entstanden bei maßgeblichen Offizieren sorgenvolle Bedenken. Keitel selbst will Hitler im Laufe des Sommers gewarnt und dargelegt haben, die führende Generalität sei wegen der mangelnden Kriegsbereitschaft der Wehrmacht, insbesondere aber wegen der gefährlidien Möglichkeit eines Zweifrontenkrieges von größter Sorge erfüllt129. Das mag ein Ergebnis der Interventionen von Canaris und Thomas gewesen sein. Der Abwehrchef, der seit der

Vgl. Ritter, Goerdeler, S. 226. Vgl. DBFP, BdVI, Nr. 269: „Report on conversation with an officer of German General Staff" (S. 295-298). Es ist nicht zu ersehen, ob Schwerin auf eigene Faust gehandelt hat. Offen125

128

sichtlich aber war seine Aktion nicht mit denen der zivilen Emissäre abgestimmt. 127 Also auch Schwerin konnte keine Aktion in Aussicht stellen, sondern mußte gleichsam in der Rolle eines Bittstellers in London vorstellig werden, um eine Initiative der Westmächte zur Rettung des Friedens hervorzurufen. 118 Dazu Krausnick-Graml, S. 490 ff. 129 Keitel, S. 208.

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„Reichskristallnacht" dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht laufend Material über die Verbrechen der Gestapo vorlegte, hatte schon am 17. April versucht, Keitel von

Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit eines Eingreifens Englands zu überer gleichzeitig darauf hinwies, daß man auf Italien als Bundesnossen nicht wobei zeugen, werde rechnen können130. Ebenfalls um diese Zeit hatte General Thomas131 dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht eine in Zusammenarbeit mit einer Reihe von zivilen Oppositionellen wie Popitz, Beck, Goerdeler, Hassell, Planck und Schacht entworfene Denkschrift über das Risiko eines Krieges vorgelegt132. Die Warnungen Keitels stießen bei Hitler auf taube Ohren. Sie verstärkten nur noch sein Mißtrauen gegen die Generalität133. Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht schien jedenfalls daraufhin nicht weiter geneigt zu sein, sich bei Hitler zu exponieren. Den Vorschlag von Thomas, er möge Goerdeler oder Popitz zu einem Gespräch über Stimmung und Haltung des Auslandes empfangen, lehnte er ab, weil er sich nicht durch einen Kontakt mit diesen in Ungnade gefallenen Persönlichkeiten kompromittieren wollte134. Innerhalb des Oberkommandos der Wehrmacht bemühten sich damals führende Offiziere mit den Mitteln des Ressorts, der Kriegspolitik Hitlers entgegenzuarbeiten. Einige faßten den Plan, Hitler durch Vorlage von Statistiken „ohne irgendeinen direkten Hinweis auf seine Kriegspläne"135 klarzumachen, daß Deutschland sich gegenüber dem Potential der Westmächte in einer hoffnungslosen Unterlegenheit befinden würde. Keitel lehnte jedoch diesen Vorschlag ab. Daraufhin schlug das Wehrmachtführungsamt vor, man solle ein großangelegtes Wehrmachtkriegspiel durchführen, dessen Leitung Hitler selbst anzutragen sei. Dem Kriegspiel solle die damalige Weltlage, insbesondere die Möglichkeit eines Eingreifens der Westmächte zugrunde gelegt werden; dadurch könne Hitler im Verlauf des Spieles das „ganze Verhängnis seines Unterfangens vor Augen" geführt werden136. Wiederum scheint der Plan an Keitel gescheitert zu sein137. Unter diesen Umständen mußten die betreffenden Offiziere im Oberkommando der der

130

an

Krausnick, Vorgeschichte, S. 381 ff.; IMT XXI, S. 337, und IMT X, S. 579. Über ihn, insbesondere über seinen Kampf gegen den Krieg von der Ebene des

Ressorts her sowie seine seit Sommer 1939 in Kontakt mit Oster, Canaris, Beck und Schacht stattfindenden Demarchen vgl. Birkenfeld, S. 9 ff. 132 Vgl. Thomas, Gedanken und Ereignisse; Birkenfeld, S. 10 f.; Gisevius, S. 391, und Krausnick, Vorgeschichte, S. 382. Loßberg, S. 27, berichtet von einer aus den Reihen des OKW kommenden Anregung gegenüber Keitel, der daraufhin Hitler seine Befürchtungen wegen eines Eingreifens der Westmächte dargelegt hat. 133 So Keitel, S. 208. 184 Vgl. Gisevius, S. 393; vgl. auch Birkenfeld, S. 11. 131

135

136

Warlimont, S. 39. Warlimont, S. 39. So Warlimont, S. 39; Loßberg, S. 27, dagegen gibt

an, Keitel sei nicht abgeneigt gewesen, hätte Zustimmung gebeten, die dieser einerseits unter Hinweis auf Geheimhaltungsschwierigkeiten, andererseits mit der apodiktischen Behauptung, wegen Polen werde es zu keinem Krieg mit den Westmächten kommen, verweigerte. 137

Hitler

um

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409

Wehrmacht rasch einsehen, daß, zumal Keitel nicht mitzumachen gewillt war138, im Rahmen der vom Ressort her zur Verfügung stehenden Mittel ihre Einflußmöglichkeiten nur zu bald erschöpft waren139, eine Erfahrung, die Beck schon ein Jahr zuvor hatte machen müssen. Jene radikale Konsequenz, die daraufhin damals von Halder und einigen anderen Offizieren des Generalstabes des Heeres gezogen wurden, nun auch ihrerseits zu ziehen, war indessen diesen in mittleren Positionen im Oberkommando der Wehrmadit befindlichen Offizieren, die keinerlei Befehlsgewalt über Truppen besaßen, schwerlich möglich, auch wenn sie den Willen dazu besessen hätten. Dabei ist aber noch ein anderer Aspekt zu berücksichtigen. Die Einwirkungsversuche dieser Offiziere scheiterten bereits an der ersten Hürde, am Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Hätte sich aber vielleicht der eine oder der andere Plan realisieren lassen, wenn es dabei zu Fühlungnahmen, eventuell sogar zu einem Zusammenspiel zwischen Oberkommando der Wehrmacht, Heer und Marine gekommen wäre? Indessen, die Verhältnisse waren eben nicht normal. Hier erweist sich erneut an einem entscheidenden Punkt der Entwicklung an der Schwelle zum Kriege, wie folgenreich die interne Spaltung unter den obersten militärischen Führungsgremien war. Das heillos gestörte Verhältnis zwischen der Heeresführung und den Repräsentanten des Oberkommandos der Wehrmacht ließ es zu keiner Fühlungnahme, geschweige denn zu einem Zusammenspiel kommen. Dadurch entfiel beispielsweise die Möglichkeit, daß die Heeresführung im Einvernehmen mit den bei ihrem Chef nicht durchgedrungenen Offizieren des Oberkommandos der Wehrmacht den Kriegspiel-Plan aufgriff. Sollte die Erinnerung an den massiven Widerstand, der einst von seiten der Wehrmachtteile, insbesondere des Generalstabes gegen den Gedanken der Wehrmachtkriegspiele geleistet wurde, die Offiziere des Oberkommandos der Wehrmacht abgehalten haben, in dieser Frage mit dem Heer Fühlung aufzunehmen? Hier zeigte sich jedenfalls aufs neue die folgenschwere Spaltung innerhalb der obersten militärischen Führung und damit auch, wie weit die Ohnmacht und Schwäche der bewaffneten Macht bereits gediehen war. Besonders augenfällig wurde dies, als Hitler am 22. August 1939 die höheren Befehlshaber der Wehrmacht, ihre Stabschefs und die leitenden Offiziere des Oberkommandos der Wehrmacht auf dem Berghof bei Berchtesgaden versammelte140. Unmißverständlich und mit scharfen Worten führte er im Rahmen einer Übersicht über die politische Lage141 138 Obwohl, wie Loßberg, S. 32, berichtet, mindestens seit Anfang August auch ihm Zweifel an einem Stillhalten der Westmächte aufkamen. 139 Vgl. Warlimont, S. 39. 149 Vgl. dazu Krausnick, Vollmacht, S. 379-381. 141 Quellen zu dieser Rede aufgeführt bei Winfried Baumgart, Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 16 (1968), S. 120 ff. Vgl. auch Generaloberst Halder, Kriegstagebuch, Bd I, Vom Polenfeldzug bis zum Ende der Westoffensive, hrsg. vom Arbeitskreis für Wehrforschung, bearbeitet von Hans-Adolf Jacobsen in Verbindung mit Alfred Philippi, Stuttgart 1962 (fortan zit. Halder-Tagebuch), und Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtführungsstab) 1940-1945, geführt von Helmut Greiner und Percy Ernst Schramm, hrsg. von Percy Ernst Schramm, Bd I zusammen-

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410

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Kriegsausbruch

sei sein fester Entschluß zu handeln, denn das Verhältnis zu Polen sei untragbar geworden und die politische Lage für Deutschland sei jetzt günstiger als vielleicht in einigen Jahren. Entschlüsse zu fassen, bei denen Blut fließen muß, „sei gewiß schwer, aber für uns verhältnismäßig leicht, indem es... nur die Wahl gibt: Hindurch oder verlieren"142. Man müsse „mit rücksichtsloser Entschlossenheit das Wagnis" auf sich nehmen. „Wir haben nichts zu verlieren, nur zu gewinnen." Die wirtschaftliche Lage sei zudem so, „daß wir nur noch wenige Jahre durchhalten können"143. Daher müsse jetzt die Aufgabe, dem deutschen Volk den nötigen Lebensraum zu geben, mit „größter Härte" angepackt werden. Der Sinn der Weltordnung liege eben „im kämpferischen Durchsetzen der Besten"144. Kam in diesen Ausführungen Hitlers politischer Darwinismus zum Ausdruck, so sprach seine tiefe Verachtung politisch-moralischer Grundsätze aus den Worten: „Die GlaubAuslösung des Konfliktes wird durch eine geeignete Propaganda erfolgen ist dabei im das Recht145." würdigkeit gleichgültig, Sieg liegt Unmißverständlicher konnte er den militärischen Führern seinen Entschluß zum Eroberungskrieg nicht darlegen. Das Ziel sei „die Beseitigung und Zerschlagung der militärischen Kraft Polens, auch wenn Kämpfe im Westen entstehen"146. Aber nach seiner Ansicht sei „die Wahrscheinlichkeit eines Eingreifens der Westmächte in einen Konflikt. nicht groß". Gerade die Gründe für seine Haltung legte er besonders breit dar, da ihm daran lag, die Militärs insbesondere in dieser Hinsicht zu beruhigen. So verwandte er einen guten Teil der Rede darauf, die Grundlagen seiner Annahme, die Westmächte würden stillhalten, ausführlich aufzuzeigen. Es erscheine ihm so faßte er seine diesbezüglichen Überlegungen zusammen „ausgeschlossen, daß ein verantwortlicher englischer Staatsmann in dieser Lage das Risiko eines Krieges... übernimmt"147. Im übrigen biete „größte Schnelligkeit im Erfolg im Osten am besten die Aussicht auf eine Beschränkung des Konfliktes"148. Vor allem aber warf er als eindrucksvollstes Argument für eine Isolierung des Konfliktes die Tatsache des unmittelbar vor dem Abschluß stehenden Paktes mit der Sowjetunion in die Waagschale. Damit war Polen militärisch isoliert: „Nun ist Polen in der Lage, in der ich es haben wollte149." Dieser sensationelle diplomatische Erfolg hat stark dazu beigetragen, Hitlers ständig betonter Behauptung, der Westen würde nicht einaus,

es

...

.

.

-

-

..

.

gestellt und erläutert von Hans-Adolf Jacobsen, Frankfurt a. M. 1965 (fortan zit. KTB OKW). Zur Quellenkritik und historischen Problematik vgl. Andreas Hillgruber, Quellen und Quellenkritik zur Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges, in: WWR 14 (1964), S. 119 ff., und Ritter, Goerdeler, S. 488. Die Kritik von Seraphim, Nachkriegsprozesse und zeitgeschichtliche Forschung, S. 450 ff., wurde durch Baumgart, S. 120 ff., widerlegt. 142 143 144

145

IMTXLI, S. 18. IMT XXVI, S. 340 IMT XLI, S. 25. Ebd.

f., Dok. PS-798.

146 Ebd. Über weitergehende Interpretationen aufgrund lebendigen Kräfte Polens") vgl. Baumgart, S. 133 ff. 147 148 149

IMTXLI, S. 21. IMT XLI, S. 25. IMT XXVI, S. 343, Dok. PS-789.

einer anderen Version

(„Beseitigung

der

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411

bei manchen seiner Zuhörer größere Beweiskraft zu verleihen. Indessen vermochten Hitlers Ausführungen doch die tiefe Besorgnis mancher seiner Zuhörer nicht zu zerstreuen150. Sodenstern berichtet151, er und Witzleben seien trotz Hitlers Bemühungen, seine Zuhörer davon zu überzeugen, daß die Westmächte nicht marschieren würden, der Meinung gewesen, „daß Hitler sich irre". Auch Rundstedt sah keine großen Chancen mehr, den Frieden zu erhalten. Er äußerte zu seinem Generalstabschef: „Dieser Narr will Krieg152!" Selbst Reichenau meinte gegenüber einem Offizier des Oberkommandos der Wehrmacht: „Der Mann irrt sich gewaltig, wenn er glaubt, daß dieser Krieg in wenigen Wochen beendet sein wird. Das wird kein Krieg von sechs Wochen, das wird ein Krieg von sechs Jahren153." Die von nicht wenigen Teilnehmern dieser Veranstaltung geteilten Bedenken blieben indessen ohne Auswirkung. Weder zwischen Hitler und seinen Zuhörern noch unter den Militärs selbst wurde die Rede diskutiert. Einmal fehlte an diesem Tage die Zeit für eine Aussprache, zum anderen aber herrschte wie General v. Sodenstern berichtete154 eine „Atmosphäre des Argwohns", nach Generaloberst Halder eine „eisige Atmosphäre", die keine auf Vertrauen gegründete Aussprache aufkommen ließ. Das mag an der Ausweglosigkeit der Lage, die man angesichts der Entschlossenheit Hitlers und der zugespitzten Situation stärkstens empfand, gelegen haben. Es war aber wohl auch eine Folge der abschreckenden Erfahrungen, die Männer wie Beck und Adam mit ihrem Widerspruch gemacht hatten. Daß Brauchitsch eine betonte Zuversicht zur Schau trug, die manch einem in ihrer demonstrativen Art als unecht erschien155, trug ebenfalls nicht dazu bei, eine freimütige Aussprache anzuregen, geschweige denn zu erzwingen. Es gab so hat es den Anschein keine ausreichende Vertrauensbasis mehr unter den höchsten Führern der Armee. Unter derartigen Umständen hatte Hitler unbestritten die Initiative. Die Tagung war damit für ihn trotz der nicht ausgeräumten Bedenken seiner Zuhörer ein voller Erfolg. Drei Tage später gab er den Angriffsbefehl. Bei der Opposition aber schlug die Nachricht vom deutsch-sowjetischen Pakt wie eine Bombe ein; sie trug zweifellos tiefgehende Verwirrung in ihre Reihen. Für etliche, ins-

greifen,

-

-

-

-

159 ich hatte das Gefühl, daß zum minLiebmann-Aufzeichnungen, zit. bei Baumgart, S. 146: desten ein großer Teil der Generale des Heeres meine Bedenken teilte." 151 Zs. Nr. 149, zit. nach Krausnick, Vorgeschichte, S. 380. 152 Ebd. 153 Reichenau verstand demnach durchaus die politische Weltkonstellation und das Kräfteverhältnis abzuschätzen. Er hatte ja auch im Juli 1938 nicht Becks Lagebeurteilung widersprochen, sondern nur der Methode der von diesem in Konsequenz daraus zu beginnenden Opposition. Darin lag der große Unterschied zwischen ihm und Beck. Geyr v. Schweppenburg berichtet (MGFA/ DZ IIIHS-E-7, fol. 3-4), Reichenau habe ihn 1939 beschuldigt, er, Geyr, sei der Mann, der „...

Fritsch und Beck mit seinen Berichten die Auffassung, England werde sich schlagen, aufoktroyiert habe und daher die Schuld dafür trage, daß die „Armee sich heute gegenüber der Staatsführung in dieser Lage befinde". Das aber zeigt u. E. mehr das innenpolitisch-machttaktische Denken Reichenaus und sagt noch nichts über seine außenpolitischen Überlegungen aus. 154

155

Ebd. So Sodenstern (MGFA/DZ

Study B-499).

412

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besondere für die Opposition im Auswärtigen Amt, kam dieses Ereignis nicht ganz überraschend156. Aber die Aussichten auf eine Initiative von seiten der Generalität waren damit nahezu ganz geschwunden. Ihr Argument, die Warnung vor einem Zweifrontenkrieg, hatte fast vollständig an Gewicht eingebüßt. Dennoch scheint eine kleine Gruppe konspirierender Militärs noch einen Verzweiflungsschritt gewagt zu haben. Der bekannte amerikanische Journalist Louis P. Lochner übergab am 25. August dem britischen Botschaftsrat in Berlin, Ogilvie-Forbes, einen angeblichen Bericht über Hitlers Berchtesgadener Rede157. Lochner erhielt ihn nach seinen Angaben von dem später im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 hingerichteten ehemaligen Jugendführer Hermann Maas auf Veranlassung von Generaloberst Beck. Er stamme von einem ungenannten hohen Offizier, der heimlich Hitlers Rede mitgeschrieben habe158. Dieser Bericht150 gibt außer anderen, höchst unwahrscheinlichen Auslassungen in mindestens zwei Punkten Äußerungen Hitlers wieder, die dieser nach den drei anderen überlieferten Redeversionen und nach mündlicher Aussage von Anwesenden am 22. August nicht getan hat: einmal die Erklärung, er werde einfach „ein paar Kompanien in polnischen Uniformen in Oberschlesien oder im Protektorat angreifen" lassen160; sodann eine Bemerkung über die beabsichtigte Ausrottung des ganzen polnischen Volkes durch die Totenkopfeinheiten161. Dennoch muß der Verfasser dieses Berichtes ausgezeichnet informiert gewesen sein; das beweisen eine ganze Reihe von anderen zutreffenden Angaben. Dieser Tatbestand hat in der Literatur verschiedene voneinander abweichende

Erklärungsversuche gefunden162. Die einleuchtendste Erklärung ist die, daß in jenem Bericht tatsächlich am 22. August gefallene Äußerungen mit anderweitigen, dem Verfasser bekannten Absichten Hitlers sowie auch mit unzutreffenden, aber dem Regime doch zuzutrauenden Plänen kombiniert worden sind. Der Zweck solcher sensationeller und übertreibender Darlegung wäre es 156

Vgl. Gisevius, S. 399 f.; Ritter, Goerdeler, S. 228, und Hassell, S. 74 f., mit unklarer, wohl Datierung. DBFP, Bd VII, Nr. 314, S. 257-260. Vgl. dazu auch Strauch, S. 277 f.

irr-

tümlicher 157 isa

DBFP, Bd VII, Nr. 314, S. 257 ff., und Louis P. Lochner, What about Germany? New York

1942.

Ungedrucktes Nürnberger Dokument L 003, nicht als Dokument vom Gerichtshof zugelassen. Diese Absicht wurde von Hitler am 22. 8. 39 auch nicht geäußert, wohl aber ist Canaris damals aufgefordert worden, dem Reichssicherheitshauptamt Heydrichs polnische Uniformen zur Verfügung zu stellen. Vgl. Abshagen, S. 195 ff. Keitels Haltung dazu: Keitel, S. 209, Anm. 22. Vgl. auch Baumgart, S. 137 f. 161 Der Gedanke einer Ausrottungspolitik gegenüber Polen ist führenden Militärs gemäß BA/MA H 08-104/3 (Aufzeichnung vom 14. 9. 39 und Groscurth-Tagebuch vom 9. 9.1939) spätestens im September 1939 zu Ohren gekommen. Der Verfasser von L 003 hat aber offensichtlich schon von derartigen Absichten frühzeitig etwas erfahren oder aber richtig vorausgeahnt. Vgl. dazu auch Baumgart, S. 137 f. 162 Vgl. Ritter, Goerdeler, S. 487 f., Anm. 55, und Krausnick, Vorgeschichte, S. 383, Anm. 557, dem hier im allgemeinen gefolgt wird. Neuerdings hat Baumgart, S. 136 ff., Krausnicks These weiter untermauert und neue Gesichtspunkte dafür angeführt. 159

168

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dann gewesen, den Empfänger also die britische Regierung zu Schritten zu veranlassen, die Hitler von unwiderruflichen und folgenschweren Entschlüssen abschrecken könnten und die zugleich der Generalität Englands Entschlossenheit zum Eingreifen handgreiflich vor Augen führten. Das könnte dann vielleicht eine Aktion gegen Hitler in Gang setzen163. Für diese Theorie spricht im übrigen die Tatsache, daß damals auch andere ähnlich gezielte Bemühungen erfolgt sind164. Den oder die Verfasser des Dokumentes wird man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den Kreisen der Abwehr suchen dürfen. Darauf deutet einmal hin, daß die Konkretisierung der in der Rede vom 22. August erwähnten Absicht, den Krieg durch einen propagandistischen Coup auszulösen, der Abwehr infolge der Anforderung von polnischen Uniformen bekannt war; das könnte der Anstoß zu jener Hitler unterstellten Äußerung gewesen sein, er beabsichtige -

-

einen polnischen Angriff zu inszenieren. Zum anderen ist überliefert, daß Canaris Hitlers Rede

mitstenographiert, seinem TageAufzeichnungen Oster für dessen Dokumenta-

buch einverleibt und eine Abschrift dieser tion nationalsozialistischer Taten und Absichten überreicht habe165. Daß ein so aktivistischer und entschlossener Gegner des Regimes wie Oster von Canaris dessen Redestenogramm erhalten hatte, könnte die Vermutung nahelegen, daß dieser Offizier, der wie seine späteren Handlungen beweisen kaum Bedenken hatte, wenn es gegen das verhaßte System ging, den Lochner übergebenen Bericht mit einer Mischung von zutreffenden, halbwahren und vermuteten Angaben redigiert hat. Zudem sind Osters gute Beziehungen zu Beck häufig bezeugt, so daß nicht nur der von Lochner erwähnte Vermittlungsweg als glaubwürdig erscheint, sondern von da aus auch Osters Urheberschaft an Wahrscheinlichkeit gewinnt. Alles in allem zeigt gerade diese Episode mit eindringlicher Deutlichkeit, in welch auswegloser Lage sich die militärischen Oppositionskräfte sahen. Ihre aktiven Mitglieder griffen in Ermangelung sinnvoller Ansatzmöglichkeiten zu solch verzweifelten und problematischen Aktionen. Ähnlich irreal mutet ein anderer Initiativplan an, der teilweise von ziviler Seite konzipiert wurde. Schacht und Gisevius verabredeten mit Oster und Thomas, sie wollten im akuten Fall während jener kurzen Zeitspanne, die zwischen der Erteilung des Marschbefehls und dem konkreten Kriegsbeginn lag, ins Oberkommando des Heeres fahren, „auf die verfassungsmäßige Unrechtmäßigkeit einer Kriegserklärung ohne vorherige Anhörung des Reichskabinetts hinweisen"166 und den ObdH sowie den Generalstabschef auffordern, dem Reichsminister Schacht „zur Wahrung der Rechte der Reichsregierung"167 Truppen zur Verfügung zu stellen. Mit dem Hinweis, daß sie falls der ObdH sie wegen dieser Forderung verhaften sollte dann über alle Gespräche und kon-

-

-

-

163

164 185

So Krausnick, Vorgeschichte, S. 382, Anm. 557. DBFP, Bd IV, Nr. 277, und Bd VII, Nr. 546 und 551. Vgl. Gisevius, S. 397; dazu Baumgart, S. 136 ff., der nachweist, daß das Dok. L 003 auf der

beruht, Aufzeichnung 186 187

Ebd. S. 404. Ebd.

die Canaris sich

von

der Rede Hitlers

gemacht hatte.

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spirativen Kontakte, die sie mit ihm gehabt hatten, nicht mehr schweigen würden, wollten sie Brauchitsch unter Druck setzen und zum Handeln zwingen. Eine derart formaljuristisch konstruierte Argumentation war gewiß im Hinblick auf die damit beabsichtigte „geschichtlich beispiellose Meuterei"168 mehr als unangemessen. Diese Unangemessenheit, vor allem aber die einem einstigen Mitverschworenen gegenüber beabsichtigte Erpressung wird man als Symptom für die Ohnmacht und Aussichtslosigkeit nehmen dürfen, in der sich die Opposition in jenen Tagen befand. Welche Stimmungen und Lagebeurteilungen herrschten nun in jenen Tagen innerhalb des Oberkommandos des Heeres, jener Behörde, in deren Reihen nächst der Abwehr seit längerem Elemente der militärischen Opposition zu finden waren? Zunächst machte der Abschluß des deutsch-sowjetischen Paktes verständlicherweise großen Eindruck. Der Chef der 6. Abteilung des Generalstabes des Heeres, Oberst Wagner, sah diesen diplomatischen Coup Hitlers als „ganz große Sache" an, wie er seinem Tagebuch anvertraute169. Ein höherer Truppengeneralstabsoffizier, der am 22. August zur Einweisung in eine neue Verwendung ins Oberkommando des Heeres kam, fand sich in seiner Annahme, ein Krieg werde nicht stattfinden, durch die Nachricht vom Paktabschluß bestärkt und glaubte, der wieder nur ein großangelegter Bluff, ganze Mobilmachungs- und Aufmarschplan sei um den Druck auf Polen bei den Verhandlungen der Politiker zu verstärken". Er hatte das sichere „Gefühl: das Stichwort wird nicht gegeben werden"170. Sehr rasch wurde er jedoch eines besseren belehrt. Nach seiner Meldung bei Brauchitsch, Halder und Stülpnagel begriff er voller Bestürzung, „daß der Krieg unmittelbar bevorstand"171. Mit Befremden bemerkte dieser Neuankömmling im Oberkommando des Heeres „die völlig ungebräuchlichen kritischen Bemerkungen der Generale über Maßnahmen der höchsten Führung". Verblüfft konstatierte er: „Zustimmung fand ich bei keinem, bestenfalls Zweifel, meist schärfste Ablehnung dieses Abenteuers172." Den Eindruck dieses Offiziers, daß im Oberkommando des Heeres „nirgends Begeisteüberall nur drückende Sorge und Zweifel"173 vorherrschten, bestätigen Wagners rung, Aufzeichnungen174. Er stellte fest, die „Luft im Hause" sei „niederdrückend", es gebe überall viele Zaghafte und Zweifler. Die Erleichterung, daß Deutschland durch das Übereinkommen mit Sowjetrußland den Rücken freibekäme, wurde nachdem am 23. August der 26. August als erster Angriffstag festgelegt worden war mehr als aufgewogen durch die bedrückende Ungewißheit über die Haltung der Westmächte in diesem Konflikt. „...

...

-

-

Ritter, Goerdeler, S. 487, Anm. 55. S. 91, Eintrag vom 22. und vom 24. 8. 39 und Brief vom 23. 8. 39. Vgl. auch Nikolaus v. Vormann, Erinnerungen (unveröffentlicht): MGFA/DZ III H(A) 110, S. 4. 179 Vormann, S. 5. 188

So

169

Vgl. Wagner,

Ebd. S. 6. Ebd. S. 6: „Immer haben wir Unrecht behalten mit unseren Bedenken gegen all die Hasardspiele der letzten Jahre, gebe Gott, daß es auch diesmal der Fall ist." So sagten ihm die Offiziere in der Zentrale des Generalstabes. 173 Ebd. 174 Wagner, S. 91, Eintrag vom 21. und 22. 8. 39. 171

172

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Kriegsausbruch

415

Oberstleutnant i. G. v. Vormann, der als vorgesehener Verbindungsoffizier des Oberkommandos des Heeres bei Hitler sich beim Chef des Oberkommandos der Wehrmacht meldete, daß man schlimmstenfalls Polen allein vor die Klinge bekomme, aber selbst daran glaube er nicht. Polen werde klein beigeben, „wenn es sieht, daß wir Ernst machen"; Polens Verbündete seien nicht bereit, die letzten Konsequenzen zu ziehen. Vielleicht käme es zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen und zu einer Art Wirtschaftskrieg ähnlich wie im Abessinien-Konflikt. „Niemals glaube ich", so sagte der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, „an einen Waffenkrieg der beiden gegen uns. Sie werden drohen und sich dann doch wieder mit den vollendeten Tatsachen abfinden175." Im Oberkommando des Heeres jedoch festigte sich im Laufe des 24. August die Ansicht, daß die Westmächte einzugreifen willens waren. General Halder wies in einer Ansprache an die Generalstabsoffiziere des Oberkommandos des Heeres auf die drohende Möglichkeit eines Zweifrontenkrieges hin, betonte zwar, daß „der Führer" daran nicht glaube, ließ aber auch durchblicken, daß er anderer Meinung sei176. Seine Einschätzung der Lage wurde im Oberkommando des Heeres allgemein geteilt177. Wohl gab es durchaus Offiziere, die zwar auch meinten, alles stehe „auf des Messers Schneide". Sie warteten aber doch noch auf einen „Salto mortale", auf „den Deus ex machina", der wie einst in der Sudetenkrise schließlich eine Lösung der Krise bringen könne178; aber sie scheinen in der Minderheit gewesen zu sein179. Als vorherrschenden Eindruck konstatierte Nikolaus v. Vormann, daß Hitler das Oberkommando des Heeres von einem Stillhalten der Westmächte in diesem Konflikt nicht überzeugt zu haben schien180. Diese skeptisch-pessimistische Grundstimmung im Oberkommando des Heeres war jedoch keineswegs ein geeigneter Boden für oppositionelle Initiativen. Vielmehr war die zweiflerisch-kritische Gemütsverfassung im Führungsgremium des Heeres bei intensiver äußerer Aktivität entscheidend überlagert von einem alles bestimmenden Fatalismus. Das Bewußtsein, daß der Kriegsausbruch unmittelbar und unausweichlich bevorstehe, blockierte die Bereitschaft zu spontanen Entschlüssen. Das Gefühl der Ohnmacht und der AusweglosigKeitel meinte

175 176

zwar zum

Vormann, S. 7h-7i. Wagner, S. 93, Eintrag

vom

177

Ebd.

178

Wagner, S. 93 ff. Nach Aussagen von General

179

24. 8.

39, und S. 94, Eintrag vom 25. 8. 39.

a. D. Heusinger (Mitteilung an das MGFA vom 17.1. 1966) habe damals im OKH eine Reihe politisch interessierter höherer Offiziere gegeben, die bis zuletzt gehofft hatten, Hitler bluffe nur; sie waren dann, als die Westmächte doch den Krieg erklärten, zutiefst erschüttert und pessimistisch, da sie sieh bewußt waren, daß ein Krieg gegen es

England voraussichtlich mit einer Katastrophe enden würde. Diese Gruppe wurde dann, scherzhaft, auch der „Defaitistenclub" genannt. Interessanterweise schreibt der langjährige Warner vor einem britischen Kriegseintritt, Geyr v. Schweppenburg, in seinen unveröffentlichten Memoiren, S. 3: „Innerlich war ich nicht ganz sicher, daß es zum Kriege kommen würde, rechnete aber mit

Wahrscheinlichkeit darauf." 180

Vormann, S. 6.

IX. Von München bis

416

zum

Kriegsausbruch

jeglicher Bemühungen, gleichzeitig aber auch der Zwang der alle Kräfte beansprudienden, gewaltigen militärtechnischen Aufgaben ließ die Männer im Oberkommando des Heeres trotz aller besseren Einsicht, trotz Skepsis und Kritik zum Objekt der Entwicklung werden, zumal aus denselben Gründen von seiten der führenden Persönlichkeiten jene Impulse fehlten, ohne die der militärische Apparat nicht zu einer selbständigen Größe im Spiel der Kräfte werden konnte. So hatte der am frühen Nachmittag des 25. August eintreffende Befehl, der den Angriffsbeginn für den 26. August, 4 Uhr 30 festsetzte, auch keine andere Wirkung als die sofortige reibungslose Umgliederung des Führungsorganismus und die notwendige technische Umsetzung der gegebenen Weisung. Das Oberkommando des Heeres verlegte in das vorbereitete Kriegshauptquartier nach Zossen; die Befehle gingen an die untergeordneten Kommandobehörden hinaus. Alle Energien wurden von den naheliegenden Aufgaben vollständig absorbiert. Da geschah das kaum Glaubliche. Hitler widerrief im Laufe des Nachmittags seinen Angriffsbefehl181. Es waren Ereignisse eingetreten, die ihn noch einmal zögern ließen. Kurz nach Herausgabe des Angriffsbefehls wurde die unmittelbar bevorstehende Ratifizierung des britisch-polnischen Beistandspaktes bekannt; bald darauf überbrachte der italienische Botschafter Attolico die Mitteilung des Duce, Italien sei zu seinem größten Bedauern nicht kriegsbereit und könne daher nicht zu seinen Bündnisverpflichtungen stehen. Brauchitsch wurde eilends in die Reichskanzlei gerufen. Es gelang trotz aller technischen Schwierigkeiten tatsächlich, die in vollem Gang befindlichen Aufmarschbewegungen noch anzuhalten. Die unerwartete Wendung der Dinge rief naturgemäß vielfältige und recht

keit

unterschiedliche Reaktionen hervor182. Unter den Offizieren des Oberkommandos der Wehrmacht breitete sich Optimismus aus, da jetzt kaum einer noch an einen erneuten Befehl zum „Fall Weiß" glaubte183. Das Oberkommando des Heeres war völlig konsterniert184. Je nach Temperament und Einschätzung des „Führers" herrschte fassungsloses Kopfschütteln oder empörte Kritik. Wagner185 spricht von „einem Entschluß- und Befehlschaos" und notierte am nächsten Tag in seinem Tagebuch186: „Die gestern zu spät einsetzende Überprüfung der Westlage hat ergeben, daß die Voraussetzungen für den Entschluß X (= Mobilmachung gegen Polen und

Vgl. Keitel, S. 211; Warlimont, S. 42; Vormann, S. 12 ff., und Halder-Tagebuch, Bd I, S. 30 f. Als Reaktion eines höheren Truppenkommandeurs ist eine Aufzeichnung des späteten Generalfeldmarschalls von Weichs, der damals ein Armeekorps befehligte, interessant. Er schreibt in seinen Erinnerungen, S. 20-21, er sei froh über den Widerruf des Angriffsbefehls gewesen, denn sein Korps sei erst zu 50°/o einsatzbereit gewesen. Als der Gegenbefehl eintraf, habe er die Gefahr gebannt geglaubt und eine Parallele zur Episode von 1938 angenommen. Geyr v. Schweppenburg, Lebenserinnerungen (unveröffentlicht), S. 5, berichtet, die Truppe (3. PzDiv.) sei von dem Anhaltebefehl enttäuscht gewesen. 181

182

183

Loßberg, S. 35.

184

Wagner,

185

Ebd. S. 96, Ebd. S. 97.

188

S. 95,

Eintrag vom 25. 8. 39. Eintrag vom 25. 8. 39.

IX. Von München bis

zum

Kriegsausbruch

417

Grenzsicherung im Westen in Erwartung eines Stillhaltens der Westmächte) und Y ( Angriffstermin gegen Polen) falsch waren. Um so unerklärlicher ist es, daß man Maßnahmen die hat anlaufen lassen, ohne sich anscheinend gestern Nachmittag ganzen über die Auswirkungen klar geworden zu sein." Nach dieser kaum verhüllten Kritik an den staatsmännischen Fähigkeiten des Obersten Kriegsherrn machte er seinem Unwillen bloße =

...

...

mit den Worten Luft: „Man kann mit dem Instrument Heer nicht exerzieren wie mit kann mir sehr wohl die Stimmung der Truppe vorstellen einer Gruppe Soldaten ein schwerer Fehler! Vertrauen in die Führung!" Daß dieser Unwillen zu Psychologisch einem Gutteil der mißachteten Sachbezogenheit des militärischen Fachmannes entsprang und weniger der Erschütterung des politisch denkenden Offiziers über den Leichtsinn der Staatsführung, geht aus Wagners Tagebucheintragung vom 27. August 1939 hervor: wie es geht. Vor allem Sorge, daß doch irgendein Unglück passieren „Niemand weiß kann, falls bei den starken Entschlußschwankungen der obersten Führung Befehle nicht mehr durchzubringen sind. Man hätte besser die Aktion am 26. früh gestartet187." Brauchitsch und Halder sahen natürlich die Dinge von einem etwas übergeordneten Standpunkt. Der ObdH erkannte wohl, daß die Verschiebung des Angriffstermins führungsmäßig eine Ungeheuerlichkeit war und gegen die militärischen Erfordernisse verstieß. Er stimmte ihr jedoch nicht zuletzt in der Hoffnung zu, daß sich damit eine, wenn auch geringe Chance zu entspannenden Verhandlungen und zum Einlenken böte. Er hat nach dem Zeugnis Vormanns Hitler an jenem Abend in der Reichskanzlei erklärt: „Ich verpflichte mich, das bereits befohlene Antreten für den Angriff. noch vor der Grenze aufzuhalten. Sie gewinnen so Zeit für Ihr politisches Spiel188." Später soll er dann geäußert haben: Ich habe gegen meine militärische Überzeugung einer Verschiebung zugestimmt. Hauptsache ist, daß wir in den Verhandlungen weiter kommen und er (Hitler) beigezäumt wird189." Halder, der den Gegenbefehl anfangs so erstaunlich fand, daß er sich erst vergewisserte, ob er „auch richtig gehört" habe190, versuchte, nachdem sich sein Zorn über dieses kläglichleichtfertige Spiel mit dem Feuer etwas gelegt hatte191, ebenfalls von seinem Ressort her zur Entspannung beizutragen. Er wollte Hitler darauf hinweisen, daß man derartig große Truppenkonzentrationen an der Grenze unmöglich längere Zeit aufrechterhalten könne192. Andererseits konnten sich die beiden führenden Männer nicht darüber im unklaren sein, daß Hitler mit dem Gegenbefehl nur einen Aufschub des Angriffs beabsichtigte, nicht aber sein Vorhaben endgültig aufgeben wollte. Schließlich hatte Hitler doch ...

...

...,

..

„...

187

Ebd. S. 98

188

(Hervorhebung vom Verf.).

Vormann, S. 12 (Hervorhebung vom Verf.). 189 Zit. bei Krausnick, Vorgeschichte, S. 383, Anm. 561, vgl. auch Halder-Tagebuch, Bd I, S. 35. Dagegen vgl. Wagner, S. 98, Eintrag vom 27. 8. 39 über Brauchitschs Ausführungen: „Es ist alles noch offen. Die Verhandlungen mit England laufen, es besteht etwas Aussicht, daß doch noch an-

gegriffen werden kann." 190 191 192 27

Vormann, S. 13. Vgl. Wagner, S. 95, Eintrag

Vgl.

auch

vom

25. 8. 39:

„Halder tobt!"

Haider-Tagebuch, Bd I, S. 32: „Folgen: Keine Verheimlichung unserer Frontstärken."

IX. Von München bis

418

zum

Kriegsausbruch

Brauchitsch in der Reichskanzlei geäußert, er werde, wenn er die Lage besser übersehe, weitere Entscheidungen über den X-Tag, den Zeitpunkt des Angriffs, treffen103. Die Gefahr konnte also in den Augen der Heeresführung mit dem Widerruf des Angriffsbefehls noch nicht als gebannt gelten. Indessen lassen sich keinerlei wie auch immer geartete Versuche der Spitzen des Oberkommandos des Heeres erkennen, die mit Hitlers momentanem Zurückzucken gegebene neue Situation gleichsam nachstoßend auszunützen. Obwohl Brauchitsch äußerte194, Göring, der seinen schwedischen Bekannten Birger Dahlerus in geheimer Mission zur Erhaltung des Friedens nach London entsandt hatte, sei „in diesem Fall... ausnahmsweise mein Bundesgenosse", ist von etwaigen Versuchen des ObdH, mit Göring und anderen friedenswilligen Kräften Kontakt aufzunehmen, nichts weiter bekannt. Möglicherweise mag die geradezu verwirrende diplomatische Aktivität und die unklaren Nachrichten, die darüber nach Zossen drangen, die Spitzen des Oberkommandos des Heeres davon abgehalten haben. Halders Tagebucheintragungen vermitteln ein eindrucksvolles Bild von dem Hin und Her zwischen dem 26. und 31. August. Einerseits ging aus den Informationen, die den Generalstabschef erreichten, hervor, daß Hitler das Ziel, Polen mit Gewalt seinen Willen aufzuzwingen, nicht fallengelassen hatte195; andererseits teilte ihm Weizsäcker mit, daß er versuche, Rußland ins Spiel zu bringen106. Jodl berichtete als Gesamteindruck von den diplomatischen Verhandlungen, daß England „in bezug auf großen Krieg" weich sei197. Gleichzeitig jedoch trägt der Generalstabschef Hitlers taktischen „Terminplan" mit den Stichworten in sein Tagebuch: „30. 8.: Polen in Berlin. zu

31.8.:

Zerplatzen (der Verhandlungen)198.

1.9.:

Gewaltanwendung."

Die

optimistische

Aussicht des Auswärtigen Amtes, daß man daraus noch keine militärischen Schlußfolgerungen ziehen dürfe, versah Halder allerdings mit doppelten, seine Skepsis ausdrückenden Fragezeichen199. Am Abend des 30. August wurde ihm über den Adjutanten des ObdH mitgeteilt, das Heer möge seine Vorbereitungen treffen, daß am 1. September um 4 Uhr 30 angegriffen werden könne. Diese Nachricht war jedoch mit dem Hinweis verbunden, daß falls die Entwicklung der diplomatischen Verhandlungen eine Verschiebung über den 2. September hinaus notwendig machten dann nicht mehr angegriffen werden sollte200. Wagners Aufzeichnungen vermitteln ein noch plastischeres Bild von der im Oberkommando des Heeres herrschenden Unklarheit über die Lageentwicklung, die notwendigerweise die verantwortlichen Führer des Heeres von irgendwelchen übereilten Schritten zurückhalten mußte falls sie überhaupt derartiges erwogen haben. Der Chef -

-

-

Keitel, S. 212, vgl. auch Halder-Tagebuch, Bd I, S. 33, „Entscheidung der Grundfrage frühestens heute spät am Abend", und S. 34: „Besprechung mit ObdH: Ziel der Gewalt weiter ..." Vor allem aber S. 42. 193

...

194 195

196 197

Krausnick, Vorgeschichte,

S. 383, Anm. 56.

S. 34-26. 8. S. 41 28. 8. S. 43 29. 8. -

198

Zusatz

vom

199

S. 42

29. 8.

288

Halder-Tagebuch, Bd I, S. 46, Eintrag vom 30. 8. 39.

-

-

Verfasser.

IX. Von München bis

zum

Kriegsausbruch

419

der 6. Abteilung des Generalstabes notierte nach einer Lageerörterung mit Jodl: „Zwecklos eigentlich sich dauernd darüber Gedanken zu machen, wo der Führer doch alle in Unklarheit hält. Auch der Oberbefehlshaber weiß nicht viel, den letzten Entschluß faßt ,Er' doch allein201." Angesichts dieser Sachlage ist es nicht erstaunlich, daß bei der Heeresleitung das bisher nie ernstlich in Frage gestellte Dogma Becks von einem gleichsam automatischen Eingreifen der Westmächte bei einem deutsch-polnischen Waffenkonflikt nun doch wenigstens zeitweilig ins Wanken geriet. Wagner überliefert uns, daß nach Brauchitschs Ansicht am 27. August „alles noch offen" gewesen sei, da Verhandlungen mit England laufen und etwas Aussicht bestehe, daß Polen doch noch unter Isolierung des Konfliktes angegriffen werden könne202. Nach einem Lagegespräch mit Halder resümiert er: „England hat nicht abweisend geantwortet. Morgen treffen polnische Unterhändler ein, die 24 Stunden Zeit haben sollen. Falls Polen ablehnt, hofft Führer, England auf eine Klausel des englisch-polnischen Vertrags zu manövrieren, wonach Englands Bündnispflicht nur gegeben ist, wenn die Souveränität des (polnischen) Staates verletzt ist. Führer hofft, Polen doch noch hauen zu können. Daß er aber den Verhandlungsweg beschreitet, zeigt, daß er England nunmehr als ernsten Partner anerkennt. Wir glauben, daß Friedenstauben rauschen .203." Diese Zeugnisse zeigen, in welchem Maße die Führung des Heeres informationsmäßig im unklaren gehalten wurde, was offensichtlich von der politischen Führung auch beabsichtigt war. Sie offenbaren weiterhin, wie sehr dieses Hin und Her bei den führenden Männern des Heeres, trotz grundsätzlicher Einsicht in die Gefährlichkeit der Situation, die Illusion aufkeimen ließ, die Krise werde sich infolge der Zurückhaltung oder der Ausgleichsbemühungen Englands friedlich lösen lassen, schlimmstenfalls aber nur in einem isolierten deutsch-polnischen Konflikt von kurzer Dauer enden. Wohl sahen sie die Gefährlichkeit der Lage nicht weniger deutlich, aber sie glaubten, gleichzeitig auch schwache Lösungsmöglichkeiten erblicken zu können. Damit schienen sich im subjektiven Empfinden Alternativen abzuzeichnen, die dem extremen Zwangscharakter der Situation etwas an Schärfe nehmen mochten. Unter diesen Umständen erscheint es dem rückschauenden Betrachter nicht so erstaunlich, wenngleich doch nicht weniger folgenreich, daß sich die Heeresleitung nicht mehr aus dem Griff des Sachzwanges und dem Sog der Entwicklung zu lösen vermochte. Sie war zum Objekt geworden und geriet in einen Krieg, den sie im letzten nicht gewollt hatte, dessen Konsequenzen „sie dunkel ahnte den sie daher im Grunde fürchtete"204. Ganz anders, aber mit ähnlichen Konsequenzen, reagierte der kleine, sich um die Abwehrzentrale gruppierende Kreis der radikalen Oppositionellen auf die dramatische Entwicklung205. Als Gisevius am 25. August gegen 16 Uhr über seine Freunde in der Abwehr ..

..

.

.

.

soi

Wagner, S. 104, Eintrag vom 29. 8. 39. Wagner, S. 98, vgl. auch S. 102: „Generaloberst v. Brauchitsch war heute (28. 8.) beim Vortrag bester Stimmung." 293 Wagner, S. 104-105; Eintrag vom 29. 8. 39. Vgl. auch S. 103 den entsprechenden Passus im 202

Brief vom 29. 8. 39. 204 295

Krausnick, Vorgeschichte, S. 383.

Vgl.

dazu und

zum

folgenden

IMT XII, S. 247, und

Gisevius,

S. 404 ff.

IX. Von Mündien bis

420

zum

Kriegsausbruch

der Herausgabe des Angriffsbefehls erfuhr, begab er sich sogleich zu Schacht. Beide fuhren zu Thomas, der ihnen die Neuigkeit bestätigte. Die drei Männer hielten jetzt den Zeitpunkt für gekommen, zur Durchführung des von Schacht konzipierten Interventionsplanes an Halder heranzutreten. Sie begaben sich zur Abwehr, da Admirai Canaris die Unterredung mit Halder arrangieren sollte. Dort erfuhren sie durch Oster von dem inzwischen erfolgten Widerruf des Angriffsbefehls. Über die mutmaßlichen Konsequenzen dieses Ereignisses waren sie geteilter Ansicht. Während Gisevius jetzt den geeigneten Zeitpunkt gekommen glaubte, an dem Halder und Brauchitsch gegen diesen leichtfertig mit Krieg und Frieden spielenden „Führer" vorgehen müßten, waren Oster und Canaris voller Optimismus der Ansicht, dessen bedürfe es nun gar nicht mehr. „Ein oberster Kriegsherr, der einen so einschneidenden Befehl wie den über Krieg und Frieden binnen weniger Stunden widerruft, war ein erledigter Mann206." Hitler habe damit doch völlig ausgespielt. Ein Putsch sei deshalb gar nicht mehr nötig. Audi Canaris meinte: „Von diesem Schlag erholt er sich nie wieder. Der Friede ist für zwanzig Jahre gerettet207." Einer der engsten Mitarbeiter des Admirals, der spätere General Lahousen, bestätigt, daß selbst nicht zur Opposition gehörende Generalstabsoffiziere ähnlich dachten208. Die Logik der Argumentation von Gisevius ist jedoch schwer bestreitbar; jetzt hatte der Diktator jenen schweren Rückschlag erlitten, auf den man immer gewartet hatte, jetzt war doch die so oft herbeigesehnte günstige Situation da. Jetzt brauchte man nur noch von militärischer Seite unter gleichzeitiger Aufklärung der Öffentlichkeit nachzustoßen, um dem Regime den Garaus zu machen. Das war vom Standpunkt des zivilen „Putschisten" aus, der die Ereignisse allein unter dem Aspekt ihrer politischen Bedeutung betrachtete, bestimmt die einzige realistische Reaktion. Für ihn war die militärtechnische Ungeheuerlichkeit des Widerrufs und der darin zum Ausdruck kommende verbrecherische Leichtsinn des Spiels mit dem Feuer lediglich der geeignete psychologische Ansatzpunkt für einen Umsturz. Die oppositionellen Militärs dagegen dachten hier primär in militärisch-fachlichen Kategorien: so wie ein militärischer Führer, der sich derartiges leistete, völlig unmöglich wäre und sich keine Minute mehr länger würde halten können, so sei es nach ihrer Meinung auch mit einem politischen Führer. Für sie hatte sich damit das Problem Hitler gleichsam von selbst gelöst. Sie glaubten bereits einen Schritt über diese Frage hinaus zu sein. Hier zeigte sich einmal mehr, wie stark das unpolitische Denken selbst dieser Offiziere war, die, verglichen mit der Mehrzahl ihrer Kameraden, doch bisher eine ungewöhnliche politisch-moralische Sensibilität gezeigt hatten und die als Abwehrangehörige keineswegs Debütanten auf dem politischen Parkett waren. Es wird insbesondere an dieser Episode deutlich was auch in späteren Phasen oft erkennbar ist -, daß nämlich eine von

-

206 Gisevius, S. 406; Vormann, der Verbindungsoffizier des OKH bei Hitler, schrieb in seinen Aufzeichnungen, S. 14, über die Reaktion unter den in der Reichskanzlei am 25. 8. Anwesenden: „Es war allen klar, daß Hitler eine schwere diplomatische Niederlage erlitten hatte." Und S. 17: „Hitler litt schwer unter der politischen Niederlage des Vortages und war nicht gewillt, sie als endgültig hinzunehmen. Er fühlte sein Prestige bedroht."

287 288

Gisevius, S. 407. Zitiert bei Gisevius, S. 408.

hohe politische Moral ganz und gar nicht identisch ist mit realistischer, machtpolitischer Einsicht. Gewiß mag auch der überschäumende Optimismus, der sie angesichts der vermeintlichen Sicherung des Friedens für die nächsten zwanzig Jahre ergriffen hatte, bei ihnen die Einsicht in die Notwendigkeit verdunkelt haben, jetzt sofort zu handeln, um das sich selbst ad absurdum führende Regime möglichst reibungslos zu liquidieren. Der machtpolitisch denkende Aktivist Gisevius drängte zur Tat; seine militärischen Gesinnungsfreunde jedoch überließen sich ihrer Euphorie. Es kam daher zu keiner nennenswerten Einwirkung von ihrer Seite mehr auf die Heeresleitung. Zwar ließ Canaris dem Generalstabschef die Information zukommen, daß offenbar von Parteistellen die Lesart verbreitet würde, die Armee sei schuld an der Verschiebung des Angriffstermins, und daß Himmler im Gespräch sei als Kandidat für den Posten des Reichsinnenministers. Oster teilte Halder den von Popitz zugetragenen Ausspruch Hitlers mit: „Diejenigen, die mir wieder in den Rücken fallen wollen, sollen sich hüten209." Aber diese Episoden kann man höchstens als den Versuch einer Stimmungsbeeinflussung, nicht aber als sinnvoll zielgerichtete Interventionen auffassen. Gisevius stellt daher mit Recht selbstkritisch fest: „An der Haltung der deutschen Opposition gibt es für diese dramatischen Tage vor Kriegsausbuch nichts zu heroisieren Wir müssen uns mit der schlichten Tatsache begnügen, irgend etwas Entscheidendes, irgend etwas Mitreißendes wurde nicht getan210." Niemand von ihnen dachte mehr an Krieg; sie erwarteten einen wochenlangen diplomatischen Kuhhandel211, mindestens aber einen ganz neuen machtpolitischen Ansatz Hitlers, der auch ihnen eventuell taktisch günstige Aktionsmöglichkeiten bieten würde. Diese ihre falsche Lagebeurteilung verhinderte jegliche Aktivität. Darüber hinaus aber war letztlich entscheidend, daß von der Führung des Heeres aus bereits dargelegten Gründen keine -

.

-

..

weitergehenden oppositionellen Impulse ausgingen. Das war der Kernpunkt der Sache; denn ohne die Spitzen der bewaffneten Macht war die Opposition insgesamt zur Ohnmacht verurteilt. Bei dieser Sachlage traf sie ein um so heftigerer Schock, als dann am 31. August endgültig der Angriffsbefehl erteilt wurde. Gisevius fand seinen Freund Canaris völlig zusammengebrochen vor. Der Chef der Abwehr stieß zutiefst erschüttert noch die Worte hervor: „Das ist das Ende Deutschlands212!" Illusionäre Lagebeurteilung, irreale Hoffnungen und eine den machtpolitischen Erfordernissen unangemessene Geisteshaltung hatten in den entscheidenden Fragen die führenden Kräfte im Oberkommando des Heeres, aber auch die radikalsten Elemente der Opposition nur

gelähmt.

299 210 211

212

Vgl. Halder-Tagebuch, Bd I, S. 33

28. 8. 39; und S. 37 28. 8.39. Gisevius, S. 403-404. Gisevius, S. 409. Gisevius, S. 409-410, und IMT XX, S. 491 (Aussage Lahousen). -

-

X. HEERESFÜHRUNG UND NATIONALSOZIALISTISCHES REGIME IM ERSTEN KRIEGSHALBJAHR

Mit dem Beginn der offenen Feindseligkeiten am 1. September 1939 hatte sich die gesamte Lage für die Nation, die Wehrmacht, nicht zuletzt aber auch für die oppositionellen Kräfte innerhalb der bewaffneten Macht in vielfältiger Hinsicht grundlegend verändert. Die allgemeine Stimmung im Volk1, der Mangel an lodernder Kriegsbegeisterung, das eher dumpfe Gefühl des Ausgeliefertseins an ein unbegreifliches Fatum kontrastierte auffällig mit jener rauschhaften Aufwallung der Augusttage des Jahres 1914. Drückender Ernst und angesichts der sogleich mit dem Kriegseintritt der Westmächte erfolgenden Ausweitung des Konfliktes beklemmende Sorge vor der Zukunft waren die dominierenden Stimmungselemente. Dennoch fehlte es trotz überwiegender Apathie nicht an Bereitschaft zur Pflichterfüllung in der Bevölkerung und nicht am Willen zum soldatischen Einsatz in der ihrem Können vertrauenden Armee. Ihre strukturellen Mängel waren der Mehrheit des Offizierkorps dagegen noch gar nicht voll ins Bewußtsein gedrungen2. Bei vielen, insbesondere jüngeren Offizieren, verband sich zudem die Wirkung der ständigen militanten Propaganda des Regimes mit dem verständlichen Begehren, die große Bewährungsprobe ihres Berufes, den Krieg, zu bestehen3. Ähnliches zeigte sich auch in dem Schwung und Angriffsgeist der in Polen eindringenden Fronttruppen. Bei der obersten Führung des Heeres allerdings lagen die Dinge differenzierter, sehen wir einmal von jenen klar oppositionellen Offizieren ab, die die Tragweite und die Konsequenzen des Kriegsausbruches erfaßt hatten. Bei vielen ihrer Kameraden im Oberkommando des Heeres und in anderen Generalstabsstellen herrschte eine eigentümliche Mischung aus ernster Einsicht über die in ihren Folgen noch gar nicht zu übersehende Entwicklung der Lage einerseits und optimistischem Aktivismus des von den fadilichen Aufgaben geforderten Militärtechnikers andererseits. Mancher glaubte, eine Lösung aus den quälenden Sorgen in einem trotzigen „Dennoch" finden zu können, ganz abgesehen davon, daß die bald eintreffenden Erfolgsmeldungen stimmungsmäßig natürlich ihre Wirkung zeitigten. Wagners Briefe und Tagebuchaufzeichnungen spiegeln auch in dieser Hinsicht die psychologische Situation. Am 1. September trägt er nach Überlegungen über die Haltung der Westmächte in sein Tagebuch ein: „Mir schwindelt manchmal4!" und am nächsten Tag: „Der Nachmittag bringt starken Auftrieb Parole ist: Vorwärts, was wir haben, gehört uns.. .5" Aber schon am 3. September vertraut er seinem Tagebuch die Erwägung an: „Was soll man sagen, man erkennt den Ernst und die Schwere unserer ...

1 2

Vgl. Hassell,

3

Wagner,

4

Ebd. S. 117. Ebd. S. 121.

5

S. 85 ff.

Vormann, S. 32. S. 121 und

passim.

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

423

in vollem Umfang, vielleicht mehr als gut ist. Man darf sich dadurch nicht unterkriegen lassen, wenn's auch schwer fällt6." Diese Sätze mögen für die allgemeine Stimmungslage vieler Offiziere im Oberkommando des Heeres wohl typisch gewesen sein, wenngleich ihr jeweiliger individueller Ausdruck nach Persönlichkeit und Funktionsebene in Intensität und Niveau unterschiedlich gewesen sein wird. Indessen gab es auch Generalstäbler, bei denen aufkeimende Bedenken von unpolitischer Forschheit, naivem „Führerglauben" und der unbedenklichen Risikofreude des von seinen Fähigkeiten überzeugten militärischen Technokraten hinweggespült wurden. Der Chef des Generalstabes einer Armee schrieb am 1. September: „Wenn nun schon mal Krieg notwendig ist, dann man Augen zu und rein ins Ungewisse gesprungen! Es herrscht eine bewundernswerte Ruhe in allen. Auch unseren jungen Marschierern machte es gar keinen besonderen Eindruck, als sie heute früh vom Ernst der Lage erfuhren7." Die Eventualität eines Eingreifens der Westmächte schob er mit den Worten beiseite: „Wenn [die Westmächte] nicht [aus dem Konflikt] herausbleiben, müssen wir halt auf unseren guten Stern vertrauen. Er wird uns schon leiten." Am nächsten Tag notierte er etwas forciert: „Die Suppe muß ausgelöffelt werden, auch wenn sie uns nicht zum Besten schmeckt. Der Führer wird wissen, warum er das tut. Wir können nichts tun, als unsere Pflicht erfüllen8." Die psychische Situation der im aktiven Führungsdienst an hoher und höchster Stelle stehenden oppositionellen Offiziere mit dem Generalstabschef Halder an der Spitze war besonders spannungsgeladen und wirkte gewiß schwer belastend9. Ihnen allen gemeinsam war die Überzeugung, daß wenngleich sie diesen Krieg für vermeidbar hielten, sogar für verhängnisvoll ansahen und glaubten, er sei mit verbrecherischem Leichtsinn vom es nunmehr ihre in soldatischer Überlieferung wurzelnde Zaune gebrochen worden selbstverständliche Pflicht sei, die Truppe nach bestem Können so rasch wie möglich zum Siege zu führen. Der Sorge für die kämpfende Truppe und dem Streben nach dem Siege galt ihr primäres Bemühen. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die Resonanz der bald sich einstellenden Erfolge mag weiteren Schwung verliehen und bisweilen auch die Sorgen gemildert haben10. Die Entschlossensten unter ihnen aber waren getragen von der Erkenntnis, daß ein ent-

Lage

-..

-

-

6

Ebd. S. 121 f.

Demgegenüber berichtet General d. Inf. a. D. Helge Auleb, Kriegserinnerungen als Quartiermeister der 5. Armee und der Heeresgruppe A vom 1.9.1939-14.6.1940 (unveröffentlicht, BA/MA H 08-76/8, S. 10 a; fortan zit. Auleb, Kriegserinnerungen), daß jeder Offizier damals entschlossen gewesen sei, für die Verteidigung Deutschlands das letzte herzugeben, „aber ich kenne keinen, der den Krieg begrüßt hätte. Wir kannten den Krieg". 8 BA/MA H 08-67/3: Nachlaß General Felber, S. 1 f., Briefe vom 1. und 2. 9. 39. 9 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Kurt Sendtner, Die deutsche Militäropposition im ersten Kriegsjahr, in: Die Vollmacht des Gewissens, hrsg. von der Europäischen Publikation e. V., Bd I, Frankfurt a. M. 21960, S. 388 ff. 10 Vgl. hierzu die Äußerung von Canaris, der am 17. 9. 39 gegenüber Groscurth von dem „unberechtigten und frivolen Optimismus" in Zossen sprach: Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 17. 9. 39). 7

.

X.

424 artetes

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

Regime die Nation in ein verderbliches Abenteuer gestürzt habe. Ihnen war übergroß auch die ihnen erwachsenden Anforderungen sein moch-

deutlich bewußt, daß, wie

Verzagen und Passivität jedenfalls ihr Handeln nicht bestimmen dürften. Sie waren andererseits davon überzeugt, daß alles darangesetzt werden müsse, den weiteren Weg ins befürchtete Unheil zu vermeiden, daß konkret also eine tatsächliche Ausweitung des Krieges verhindert werden müsse. Bei jeder Betrachtung der diesbezüglichen Planungen, Überlegungen und Aktivitäten, aber auch der zeitweiligen Passivität wird mancherlei zu berücksichtigen sein. Neben der starken dienstlichen Belastung das Tagebuch Halders zeigt, welche Arbeitslast tagtäglich zu bewältigen war wird man vor allem die physische und psychische Belastung der Doppelaufgabe im Auge behalten müssen, die auf den Schultern jener Männer ruhte, die in Erkenntnis der verhängnisvollen Folgen des Krieges, der Schuld und Entartung des Regimes und dessen höchster Repräsentanten sich aufgerufen fühlten, einerseits ihre soldatische Aufgabe zu erfüllen, andererseits jedoch alles daran zu setzen, eben diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Das aber hieß nach Lage der Dinge, Hitler und sein Regime auszuschalten11, dabei jedoch die Armee, die Nation, das Reich nicht in Situationen zu bringen, die man nicht mehr bewältigen könnte. Hier galt es abzuwägen. Aber jedes Abwägen gelangte schließlich irgendwann immer an den Punkt, wo das unwägbare Risiko des Staatsstreiches auf den in Konsequenz die Dinge hinauslaufen mußten zusammentraf mit der Einsicht in das katastrophale Verhängnis, das man kommen sah, wenn man der Entwicklung ihren Lauf ließ. Je höher man den Sicherheitsfaktor für eine Umsturzaktion ansetzte, desto weniger fand man Raum und Möglichkeit zum Tatenschluß; je kühner und bedenkenloser man die Tat ins Auge faßte, desto größer wurde dabei auch das Risiko, nicht zuletzt auch für die Nation und ihre Zukunft. Dieses nahezu ausweglose Dilemma der Opposition im Kriege gilt es bei jeglicher Beurteilung stets zu berücksichtigen. Einige Wochen vor Kriegsausbruch hatte der auf Aktion drängende Bede seinem Nachfolger Halder warnend vor Augen gestellt, daß die Armee habe der Krieg erst einmal begonnen aus psychologischen Gründen sehr viel schwieriger ihr Gewicht zu einer ten,

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S. 33, berichtet, daß Hammerstein, der den Oberbefehl über eine Armeeabteider Westfront während des Polenfeldzuges erhielt, Hitler zu einer Besichtigung seines Verbandes einladen und dabei festnehmen wollte. Der Plan sei aber daran gescheitert, daß Hitler diesen Besuch abgesagt habe. In seinem Buch, The Secret War against Hitler, S. 105 f., erwähnt Schlabrendorff, er habe am Tage der britischen Kriegserklärung dem britischen Gesdiäftsträger, Ogilvie-Forbes, von dem Plan Hammersteins Mitteilung gemacht. Das war also am 3.9.39. Nach Wolfgang Keilig, Das Deutsche Heer 1939-1945, Bd III, Bad Nauheim 1956 usw., S. 118, hatte Hammerstein den Oberbefehl über die Armeeabteilung A vom 10.9.39 bis zum 21.9.39. Es ist sehr wahrscheinlich, daß es sich bei dieser Episode höchstens wohl um theoretische Erwägungen Hammersteins mit dem einen oder anderen Vertrauten über vielleicht sich aus seiner 11

Schlabrendorff,

lung

an

Kriegsverwendung ergebenden Möglichkeiten zum Putsch gehandelt hat, nicht aber um eine regelrechte und gründliche Putschplanung. Außer der Aussage Schlabrendorffs ist, wenn wir recht sehen, diese Episode auch nirgendwo sonst belegt. Die Angaben in der Literatur berufen sich alle

auf Schlabrendorff.

X.

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

425

Änderung der Lage in die Waagschale werfen könne. In Kriegszeiten gelten für die Truppe andere, irrationale, „patriotische" Gesetze als im Frieden gegenüber einem Tyrannen12. Indessen galt dies nicht nur für die Truppe, sondern vielleicht noch in höherem Maße

auch für eine Reihe von höheren Offizieren, die sich zwar seit geraumer Zeit zu der Einsicht durchgerungen hatten, daß man eine politische Änderung erzwingen müsse; sie sahen sidi aber mit Kriegsausbruch vor eine völlig neue Lage gestellt. So schreibt später der General v. Sodenstern, damals Chef des Stabes einer Heeresgruppe, über seine Lage: „Vor die mühsam errungene Gewissensfreiheit schob sich erneut die Bindung des Fahneneides, dessen Erfüllung vor dem Feind letztes Gesetz ist13." Aus diesem Grunde „wandte [er] sich angesichts der ihm zufallenden Kriegsaufgaben von jedem Gedanken an gewaltsame Auflehnung ab Nur die Frage, ob und auf welchem Wege im Rahmen der Legalität der drohenden Katastrophe entgegengewirkt werden könne, wurde immer wieder er.

..

wogen14." Intellektuelle Erwägungen nützen gegenüber derartiger Argumentation wenig. Daß ein Fahneneid relativ ist, daß er erst und nur durch die Bindung an das Allgemeinwohl seinen Sinn erhalte und daß das Gewissen von daher seine befreiende Normierung erhalte, daß ohne eine gewaltsame Auflehnung einem totalitären Regime gegenüber kein Erfolg möglich, die Wahrung der Legalität daher fruchtlos sei, all dies wird so wahr es der Theorie und dem Prinzip lach auch ist der aus den angeführten Zeilen sprechenden irrationalen Bindungen aii traditionelle soldatische Verhaltensnormen im Kriege nicht -

-

gerecht.

Wie Sodensterns

Auslassungen beweisen, war eben diese elementare, traditionelle Gebundenheit nun einmal bei vielen höheren Militärs unleugbar ein realer historischer Faktor. Die Militäropposition erlitt dadurch mit Ausbruch des Krieges fraglos einige Substanzeinbußen. Gewiß flössen ihr, vor allem infolge der neuerlidien Demaskierung des Regimes im besetzten Polen, alsbald wieder einige neue, insbesondere jüngere Kräfte zu; aber wertvolle andere gingen ihr, wenngleich oft nur für eine Zeit, verloren. Daß unter diesen Umständen das Bemühen, der Armee auf legale Weise noch irgendeinen Einfluß auf den Lauf der Dinge zu verschaffen, fruchtlos sein mußte, ist klar. Indessen hatte der ObdH nicht nur keinerlei derartige Absichten, vielmehr beeinträchtigte er in der ohnehin durch die geschilderten psychologischen Faktoren erschwerten Lage durch nachgiebiges, ausweichendes Verhalten gegenüber mancherlei gewichtigen Vorkommnissen die innere und äußere Position des Heeres in bedenklichem Maße. Der Generalstabschef aber scheint bewußt zu mancherlei innenpolitisdien Problemen, welche Rolle und Stellung der Armee betrafen, auf Distanz gegangen zu sein. Er hielt Ausschau, ob irgendwelche

Anzeichen zu erkennen waren, die auf die Möglichkeit einer gar einer umstürzenden Änderung hindeuten könnten. 12

13 14

Gisevius, S. 395. MGFA/DZ B-499, S. 38. Ebd. Hervorhebung vom Verf.

Beendigung des Krieges oder

426

X.

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

September 1939 erließ der ObdH einen Aufruf, in dem gesagt wurde, die Wehrmacht sehe in der polnischen Bevölkerung keineswegs ihren Feind und werde „alle völkerrechtlichen Bestimmungen beachten"; aktiver oder passiver Widerstand sowie Sabotageakte jeder Art würden jedoch „mit allen Mitteln" bekämpft werden15. Die der bewaffneten Macht obliegende vollziehende Gewalt im besetzten Gebiet sollte demnach zwar streng, aber im Rahmen der geltenden Bestimmungen des Völkerrechts ausgeübt werden16. Indessen machten die „Richtlinien für die Errichtung einer Militärverwaltung im besetzten Ostgebiet", die Hitler am 8. September 1939 dem ObdH erteilte, schon nach der ersten Woche des Polenfeldzuges deutlich, daß Hitler die Ausübung der vollziehenden Gewalt im rückwärtigen Frontgebiet nicht allein dem Ermessen der Heeresführung zu überlassen gedachte17. Die „Richtlinien" übertrugen zwar die vollziehende Gewalt einem Oberbefehlshaber Ost (Oberost) und den ihm nachgeordneten Militärbefehlshabern, schränkten aber deren Befugnisse insofern ein, als neben ihnen ein ziviler Verwaltungsstab eingerichtet werden sollte. Zu Chefs dieser Zivilverwaltung wurden linientreue, „bewährte" Parteifunktionäre ernannt, was darauf hindeutete, daß Hitler seine Politik von Anfang an auf zuverlässige Nationalsozialisten stützen wollte18, die ein energisches und hart zupackendes Regime gewährleisteten. Weiterhin waren die sogenannten „Einsatzgruppen" der Sicherheitspolizei, die der kämpfenden Truppe dichtauf folgten, zwar dem Heer unterstellt und der Wehrmachtgerichtsbarkeit unterworfen, aber „polizeilich-fachlich" vom Reichssicherheitshauptamt, letr'lich also vom Reichsführer SS, abhängig. Ihre Aufgabe war unter anderem die „Bekämpfung aller reichs- und deutschfeindlichen Elemente rückwärts der fechtenden Truppe ..." Bereits das gespaltene Unterstellungsverhältnis war denkbar unglücklich. Zu ärgsten Spannungen und scharfen Konflikten, die bereits während des Feldzuges einsetzten, kam es jedoch über die Tätigkeit dieser Organe. Während die militärischen Kommandobehörden streng auf die Disziplin ihrer Truppen achteten und unnachsichtig gegen individuelle Übergriffe von Seiten der Soldaten vorgingen19, „häuften sich Klagen, daß die hinter der Truppe eingesetzten SS- und Polizeieinheiten eine solche Disziplinierung meist nicht nur vermissen ließen", sondern daß sie „aufgrund irgendwelcher Ermunterungen oder Weisungen durch verfahrenslose Exekutionen von Polen und Juden, willkürliche Schikanen und wahllose VerAm 1.

für die besetzten Gebiete Polens, hrsg. vom ObdH, 1939, S. 1. Vgl. auch Schriftenreihe der Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, Stuttgart 1961, S. 27, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Nr. 2; allgemein vgl. auch Hans Roos, Polen in der Besatzungszeit, in: Osteuropa-Handbuch, Polen, hrsg. von Werner Markert, Köln-Graz 1959. 16 Allgemein hierzu Baum, Vollziehende Gewalt, S. 475 ff. 17 Broszat, S. 26. 15

Verordnungsblatt

Martin

18

=

Ebd.

Vgl. Anm. 62 dieses Kapitels sowie den Bericht bei Weichs, Erinnerungen, Bd III, S. 67 f.: Ein Offizier der Feldgendarmerie, der aus der SS stammte, hatte ohne Grund einen Juden erschossen. Weichs ließ ein Kriegsgericht zusammentreten, um ein Exempel zu statuieren. Auf höheren Befehl aber mußte dieser Fall dann an das Fleimatgericht abgegeben werden. Der zuständige Truppenbefehlshaber hörte nichts mehr von dem Fall. 19

X.

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

427

haftungen"20 die Ruhe und Ordnung im besetzten Gebiet störten. Beunruhigung und Empörung bei der Truppe, Sorge um geordnete Verhältnisse in den rückwärtigen Gebieten, und um negative Auswirkungen auf die Disziplin der eigenen Verbände bei den Kommandobehörden waren die Folge21. Diese Entwicklung, die sich bereits während des Feldzuges anbahnte, steigerte sich noch mit dem Tätigwerden der den Militärbefehlshabern beigegebenen Zivilverwaltungschefs, unter deren Befehl eine große Zahl von zwar formell den Militärbehörden unterstellten, „praktisch aber unter Berufung auf wirkliche oder angebliche Sonderaufträge"22 fungierenden Polizei-, Zivil- und Parteiorganen ein zunehmendes Schreckensregime ausübte. Polizeistandgerichte, die neben denen der Wehrmacht eingerichtet wurden, nahmen öffentlich Geiselerschießungen vor, kommissarische Landräte verhafteten wahllos polnische Intellektuelle, Einsatzgruppen exekutierten Juden und Polen23. Was die Front- und Militärbefehlshaber allerdings damals noch nicht wußten, war die Tatsache, daß zumindest die Einsatzgruppen eindeutige „polizeilich-fachliche" Spezialaufträge hatten, daß also ihr grausames Vorgehen gegen Juden, zunächst aber vor allem gegen Angehörige der polnischen Intelligenz und Führungsschicht auf Anordnung und mit Billigung des Reichsführers SS, letztlich sogar auf Veranlassung Hitlers selbst, geschah24. Den Spitzen von Oberkommando der Wehrmacht und Oberkommando des Heeres jedoch konnte die Billigung, wenn nicht sogar der Beschluß der Ausrottungspolitik, die in diesen

Maßnahmen sich ausdrückte, durch höchste und allerhöchste Stellen nicht unbekannt

geblieben sein. Bereits am 9. September hatte der Oberquartiermeister I, Generalleutnant Karl-Heinrich v. Stülpnagel, den Chef des Generalstabes des Heeres über Ausführungen orientiert, die der Chef der Sicherheitspolizei, Heydrich, gegenüber Canaris gemacht hatte. Heydrich hatte bei dem Admiral Klage darüber geführt, daß die Kriegsgerichte der Armee in Polen noch zu langsam arbeiteten. Er würde das abstellen. Die Leute müßten sofort ohne Verfahren „abgeschossen" oder gehängt werden. Daß es sich bei diesen von Heydrich erwähnten „Leuten" nicht um polnische Freischärler handelte, geht aus den weiteren Ausführungen des Chefs der Sicherheitspolizei hervor: „Die kleinen Leute wollen wir schonen, der Adel, die Popen und Juden müssen aber umgebracht werden." Er werde dafür sorgen, daß nach dem Fall Warschaus die Armee diese entsprechenden Bevölkerungsgruppen 20 21

„herausrücke". Halder,

von

verschiedenen Seiten schon informiert, auch

Broszat, S. 28.

So berichtete der Ic/AOK 14 einem Vertreter der Abwehr, daß wegen der zum Teil ungesetzlichen Maßnahmen der Einsatzgruppe des SS-Oberführers v. Woyrsch, die Massenerschießungen, vor allem von Juden, vorgenommen hätte, „große Unruhe im Armeebereich entstanden" sei. „Die Truppe sei vor allem darüber verärgert, daß junge Leute, statt an der Front zu kämpfen, ihren Mut an Wehrlosen erprobten." Zit. nach Broszat, S. 28. 22 Broszat, S. 29. 23 Vgl. Walter Henkys, Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, Stuttgart 1964, S. 74 ff. 24 Vgl. Broszat, S. 28, und Helmut Krausnick, Hitler und die Morde in Polen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 11 (1963), S. 196 ff. (fortan zit. Krausnick, Morde).

428

X.

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

ihm dienstlich-offiziell nichts bekannt geworden war, wußte indessen von den verbrecherischen Polenplänen der Staatsführung, denn er bemerkte zu seinem Oberquartiermeister I, daß es die „Absidit des Führers und Görings sei", das polnische Volk „zu vernichten und auszurotten. Das übrige kann auch nicht andeutungsweise schriftlich niedergelegt werden25!" Der Chef des Generalstabes des Heeres war sich wie seine Reaktion auf die Mitteilungen des Admirals über die Äußerungen Heydrichs zeigt recht genau über die Ausrottungsabsichten der politischen Führung im klaren26. Die nachgeordneten Kommandobehörden jedoch, die am Schauplatz der Ereignisse mit den Realitäten konfrontiert wurden, waren darüber nicht unterriditet worden. Im übrigen ist sehr wahrscheinlich bei den Verhandlungen, die zwischen Hitler und dem ObdH über die grundsätzliche Regelung der Militärverwaltung und die Einsetzung von Chefs der Zivilverwaltung neben dieser geführt worden sind, schon von der beabsichtigten Ausrottungspolitik gesprochen worden. Als nämlich Admiral Canaris am 12. September Generaloberst Keitel mitteilte, er habe Kenntnis, daß in Polen „umfangreiche Füsiliedaß insbesondere der Adel und die Geistlichkeit ausgerottet rungen geplant seien werden sollen" und daß „für diese Methoden die Welt schließlich doch auch die Wehrmacht verantwortlich machen [werde], unter deren Augen diese Dinge geschähen", antwortete der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, „daß diese Sache bereits vom Führer entschieden sei, der dem ObdH klar gemacht habe, daß, wenn die Wehrmacht hiermit nichts zu tun haben wolle, sie es auch hinnehmen müsse, daß SS und Gestapo neben ihr in Erscheinung treten. Es werden daher neben dem Militär- auch ein Zivilbefehlshaber eingesetzt werden. Letzterem würde eben die ,volkstümliche Ausrottung' zufallen27." Die Tatsache, daß der ObdH sich überhaupt derartig hatte festlegen lassen, daß er um dem Heer eine solche „Schmutzarbeit" zu ersparen die besagte Verwaltungsregelung in dem vollen Wissen von der damit verfolgten Absicht hingenommen hatte, wirft ein bedenkliches Licht auf die moralische Verstrickung des höchsten Offiziers des Heeres28. wenn

-

-

...,

...

...

-

-

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintragung vom 8. und 9.9.39 (Institut für Zeitgeschichte): demnächst veröffentlicht unter dem Titel: Helmut Groscurth, Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938-1940, mit weiteren Dokumenten herausgegeben von Harold Deutsdi und Helmut Krausnick unter Mitarbeit von Hildegard von Kotze, Stuttgart, = Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte; Verf. vorliegender Arbeit konnte durch das freundliche Entgegenkommen der Herausgeber das Manuskript dieser Edition einsehen, nach dem auch im folgenden zitiert wird. 26 Halder betonte, daß alle Dinge, die mit der vollziehenden Gewalt zu tun gehabt hätten, am Generalstabschef vorbei direkt zum ObdH gegangen wären (Mitteilung an das MGFA vom 25

10.11.1965).

27

Aktenvermerk von Admiral Canaris vom 14. 9. 39 über die Besprechung vom 12.9. 39 im in Illnau: Handakte Oberstleutnant i. G. Groscurth, Abteilungsleiter z.b.V. im Generalstab d. Heeres/OKH (BA/MA H 08-104/3). Zu der Unterredung Hitler-Brauchitsch vgl. Halder-Tagebuch, Bd I, S. 72. 28 Moralisch insofern, als der ObdH mit seinem Aufruf an die polnische Bevölkerung vom 1. September im Worte stand.

Führerzug

X.

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

429

abgesehen jedoch vom Standpunkt der politischen Moral, ein solches kommentarund protestloses Zurkenntnisnehmen band der Heeresleitung natürlich weitgehend die Hände bei einem Vorgehen gegen die untragbar gewordenen Zustände im besetzten Gebiet. Nachdem der ObdH einmal mit seiner Zustimmung zu der erwähnten Verwaltungsorganisation auch stillschweigend die damit implizierte Absicht akzeptiert hatte, war ihm die Möglichkeit eines grundsätzlichen Protestes oder gar eines Einschreitens aufgrund der Vollmachten, die ihm die vollziehende Gewalt geboten hätte, weitgehend versperrt. Von nun an blieb ihm nur der Verhandlungsweg in Einzelfällen, durch den aber seine indirekte Verstrickung und Selbstausschaltung nicht aufzuheben war29. Jeder grundsätzliche Ganz

unter Hinweis auf die einmal Canaris bei Keitel erlebte akzeptierte Regelung und die widerspruchslos hingenommene Information vom beabsichtigten Vorgehen eine Abfuhr erfahren. Daß bei dieser Sachlage dem ressortmäßig nicht befaßten Chef des Generalstabs des Heeres ebenfalls und zwar in weit stärkerem Maße die Hände gebunden waren, ist klar. Die Befehlshaber im besetzten Gebiet wurden über die Grundsatzentscheidung weiterhin in Unkenntnis gehalten. Ihre wiederholten was sie nicht Proteste und Demarchen beim Oberkommando des Heeres konnten an vom höchster Stelle und ObdH ahnten angesichts der gefällten akzeptierten Vorentscheidungen keinerlei durchgreifende Reaktionen mehr hervorrufen. So schrieb Heydrich im Rückblick auch mit einem gewissen Recht: lediglich über grundsätzliche Frain vielen Fällen bestand bei den höheren Befehlshabern der Staatsfeindbekämpfung gen des Heeres eine grundsätzlich andere Auffassung. Diese Auffassung, die zum größten Teil aus Unkenntnis der weltanschaulichen Gegnerlage heraus entstand, verursachte dann Reibungen und Gegenweisungen gegen die vom Reichsführer-SS nach den Weisungen des Führers sowie des Generalfeldmarschalls durchgeführte politische Tätigkeit30." Die Ahnungslosigkeit der Generäle in Polen über die von höchster Stelle geplanten Ausrottungsmaßnahmen hätte der ObdH zweifellos bei seinen Untergebenen beseitigen können, denn er wußte, was man beabsichtigte. Das aber hat er vermieden. Noch im Februar 1940 konnte daher der Befehlshaber im Grenzabschnitt Süd, General der Artillerie Ulex, annehmen, daß es sich bei den seit Monaten in seinem Gebiet vonstatten gehenden Gewalttaten von SS- und Polizeiverbänden um nicht autorisierte Übergriffe nachgeordneter Organe handelte. Dementsprechend forderte er zur Abstellung des „die Ehre des ganzen deutschen Volkes befleckenden" Zustandes, „daß die gesamten Polizeiverbände einschließlich ihrer sämtlichen höheren Führer und einschließlich aller bei den Generalgouvernementstellen befindlichen Führer, welche diesen Gewalttaten seit Monaten zu-

Protest mußte

wie

es

-

-

-

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„...

Vgl. aber Halders Aussage vor der Spruchkammer am 16. 9.1948: „Die Meldungen wurden gesammelt und Generaloberst Blaskowitz lieferte uns hierfür das Material. Mein Oberbefehlshaber 29

...

hat diese Meldungen aufgegriffen und zunächst schärfste Bestrafung der Schuldigen befohlen. Als die Kriegsgerichtsurteile unseren Erwartungen nicht entsprachen und wegen zu großer Milde aufgehoben wurden, wurde uns durch Himmler im Auftrag von Hitler die SS aus der Disziplinargewalt des Heeres herausgenommen." (BA/MA H 92-1/3, fol. 36). 30 Buchheim, Die SS Das Herrschaftsinstrument, S. 83, und Krausnick, Morde, S. 206 f. -

430

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Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

sehen, mit einem Schlage abgelöst und aufgelöst werden und daß intakte, ehrliebende Verbände an ihre Stelle treten"31. Das Oberkommando des Heeres hatte sich jedoch bereits jeder Möglichkeit begeben, in diesen Fragen grundsätzlich Änderung zu schaffen. Es versuchte lediglich in Einzelfällen, wenn eindeutige Überschreitungen oder Umgehungen der getroffenen Verabredungen erfolgt waren, seinen Standpunkt auf dem Verhandlungswege zur Geltung zu bringen. An der grundsätzlichen Entscheidung konnte und wollte es nichts mehr ändern. Aber sogar bei derartigen Kompetenzstreitigkeiten vermied es das Oberkommando des Heeres, die Befehlshaber genauer in Kenntnis zu setzen. Als der Reichsführer SS noch während des Feldzuges allen Polizeibefehlshabern im besetzten Gebiet unmittelbar die Weisung erteilt hatte, alle Angehörigen polnischer Insurgentenverbände sofort und ohne Standgeridit zu erschießen, da faßte ein Abteilungschef des Oberkommandos des Heeres die Reaktion der Heeresleitung mit den Worten zusammen: „OBs haben keine Kenntnis davon erhalten. Statt eines energischen Durchgreifens des ObdH wird verhandelt32." Dementsprechend hatte im Auftrag des ObdH der Oberst i. G. Wagner von der GeneralquartiermeisterAbteilung mit Heydrich zu verhandeln. In dieser Besprechung forderte das Oberkommando des Heeres33, daß die Aufträge des SD dem Heer bekanntgegeben werden müßten und zur Sicherstellung dieser Forderung Verbindungsoffiziere des Heeres zum Reichsführer SS abzustellen seien. Heydrich betonte offenbar noch einmal die Absicht der Obersten Führung, in Polen eine „Flurbereinigung: Judentum, Intelligenz, Geistlichkeit, Adel"34 durchzuführen. Wagner konnte diesbezüglich keinerlei grundsätzliche Einwendungen machen wiederum eine Konsequenz der zuvor erfolgten Festlegung; im Gegenteil, es mußte Heydrich nochmals ausdrücklich zugestanden werden, daß die „Einsatzgruppenleiter der Sicherheitspolizei wohl den Armeeoberkommandos unterstehen, aber unmittelbar Weisungen vom Chef der Sicherheitspolizei erhalten" sollten35; damit begab sich das Oberkommando des Heeres jeder Einwirkungsmöglichkeit auf die Aktionen der Einsatzgruppen. Es verlangte allerdings, daß diese „Bereinigung" erst „nach dem Herausziehen des Heeres und nach Übergabe an stabile Zivilverwaltung"36 erfolgen solle. Hier wird die Tendenz ganz offenkundig, das Heer aus diesen Dingen herauszuhalten, gegen die geplante Ausrottungspolitik jedoch nicht Front zu machen. Man wollte damit in keiner Weise zu tun haben, schaute einfach weg, mußte aber notgedrungen zur Wahrung eigener Interessen doch mit den betreffenden Dienststellen verhandeln. Wagner selbst hoffte allerdings noch, daß die geplante „stabile Zivilverwaltung" in Polen geregelt und einigermaßen ordnungsmäßig verfahren würde und so zumindest jene wilden Zustände, die zur -

31

Hans-Adolf Jacobsen, 1939-45. Der zweite stadt 51961, S. 607. 32

33

Weltkrieg

in Chronik und

Dokumenten,

Darm-

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 19. 9. 39. Halder-Tagebuch, Bd I, S. 79, Eintrag vom 19. 9. 39; an diesem Tage berichtete Wagner dem

Chef des Genst. d. H. von dieser Unterredung. 84 So die Formulierung im Halder-Tagebuch. 35 Amtschefbesprechung im RSHA vom 19.9.39 (BA 36 So im Haider-Tagebuch.

Reichssicherheitshauptamt

R 58/825, S.

17).

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

431

Zeit dort herrschten, ein Ende finden würden37. Daß damit die beabsichtigte „Flurbereinigung", statt ungeregelt, lediglich „wohlorganisiert", und damit vermutlich sogar wirksamer, vonstatten gehen würde, ahnte man gewiß im Oberkommando des Heeres noch nicht. Unter diesen Umständen aber war es nicht verwunderlich, daß Heydrich auf einer Amtschefbesprechung im Reichssicherheitshauptamt noch am selben Tage feststellen konnte, diese Besprechung müsse „als ein sehr günstiges Ergebnis in der Zusammenarbeit mit der Wehrmacht bezeichnet werden"38. Man muß dann im Oberkommando des Heeres allerdings bald die Problematik der getroffenen Regelung und damit des eigenen Verhaltens doch gespürt haben. Schließlich ließ sich ganz abgesehen von dem verbrecherischen Vorhaben der SS selbst nicht leugnen, daß Himmlers Erlaß an die Polizeikommandeure ein massiver Affront gegen das Heer war, denn er war immerhin unter Umgehung der den Polizeikommandeuren übergeordneten Heeresbefehlshaber herausgegeben worden. Brauchitsch schnitt daher am 20. September diesen ganzen Komplex während einer Unterredung mit Hitler an39. Dieser sicherte ihm zu, er werde alle seine Entscheidungen in Fragen der vollziehenden Gewalt dem ObdH zur Kenntnis bringen und dem Reichsführer SS sowie dem Chef der Sicherheitspolizei gleichfalls eine Orientierung der Heeresleitung zur Pflicht machen. Zugleich aber wurde nochmals festgelegt, daß die Zivilverwaltung für die „Maßnahmen volkspolitischer Art" zuständig sein sollte. Die Ausführung solcher Maßnahmen „im einzelnen" solle den Kommandeuren der Polizeieinsatzgruppen überlassen bleiben und liege wie Brauchitsch am 21. September den Oberbefehlshabern und Militärbefehlshabern mitteilte „außerhalb der Verantwortlichkeit" der Heeresbefehlshaber. Die Geheime Feldpolizei und die Feldgendarmerie als Einheiten des Heeres dürften für „polizeiliche Maßnahmen vorstehender Art" nicht herangezogen werden40. Der ObdH erreichte zudem, daß der diese Regelung anordnende Erlaß des Reichsführers SS dem Oberkommando des Heeres zur Mitprüfung zugestellt wurde. In der Unterredung vom 20. September mit Hitler wies zudem Brauchitsch nochmals eindringlich darauf hin, daß „nichts passieren [dürfe], was dem Ausland die Möglichkeit gibt, aufgrund dieser Vorkommnisse eine Greuelpropaganda durchzuführen"41. Der ObdH machte sidi also über den Charakter der geplanten „Maßnahmen" keinerlei Illusionen. In dem Bestreben, das Heer aus diesen Dingen herauszuhalten und dabei vielleicht durch Geltendmachen militärischer Belange Milderungen oder Verzögerungen dieser „volkspolitischen Maßnahmen" zu erreichen, mußte die Heeresführung indessen doch ständig mit den Initiatoren und Exekutoren Kontakt pflegen. Der Abgrenzung oder Abschwächung dienende Absprachen konnten damit unversehens in kompromittierende Kompromisse übergehen; denn die Gegenseite dachte nicht daran, sich durch derartige Rücksichtnahme auf das Heer von -

-

-

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37

38 89 49 41

Halder-Tagebuch,

Bd I, S. 79, Anm. 2.

Reichssicherheitshauptamt R 58/825. Halder-Tagebuch, Bd I, S. 81 f., Eintrag vom 20. 9. 39. BA

MGFA/DZ Akte Mil. Bef. Gen. Gouv. Nr. 75917/7 Teil 2

Halder-Tagebuch, Bd I, S. 81 f., Eintrag vom 20. 9. 39.

(vgl. Dok.-Anh. Nr. 45).

X. Heeresführung und nationalsozialistisches

432

Regime im ersten Kriegshalbjahr

ihren Plänen abbringen zu lassen. Das zeigt eine Anordnung, die Heydrich aufgrund der in der Unterredung zwischen Hitler und Brauchitsch getroffenen Regelungen am 21. September an die Chefs aller Einsatzgruppen sandte42. Er befahl darin, daß alle erforderlichen Maßnahmen stets in engstem Zusammenwirken mit den zuständigen Militärbehörden zu treffen seien, audi sei vor allem Rücksicht auf die Belange des Heeres zu nehmen. Gleichzeitig jedoch schärfte er seinen Kommandeuren ein, zur Erreidiung des gesteckten Zieles müßten alle Kräfte der Sicherheitspolizei restlos eingesetzt werden. Als „erste Vorausmaßnahme" für das „Endziel", das „streng geheim zu halten" sei, befahl er sodann die „Konzentrierung der Juden"43. Der Heeresführung gegenüber gab sich die SS zunächst betont kooperativ und respektvoll. Himmler sandte Heydrich am 22. September zu Brauchitsch „zur Entgegennahme von Wünschen des ObdH"44. Bei dieser Gelegenheit sagte Heydrich, wie schon am 19. September, erneut zu, daß dem Heer „alle Befehle der SS bekannt gegeben würden und daß örtliche Verbindungsaufnahme erfolgen solle"45. Wagner, mit dem Heydrich auch verhandelte, erreichte unter Hinweis auf Hitlers entsprechende Zusage an den ObdH, daß Himmler seinen Erlaß zur verfahrenslosen Erschießung von Insurgenten zurücknahm und Freischärler nicht mehr ohne Standgericht erschossen werden sollten. Von der Rücknahme dieses Erlasses war in dem Gespräch zwischen Heydrich und Wagner drei Tage zuvor noch nicht die Rede gewesen. Daher ist verständlich, daß Heydrich im Gegensatz zu seiner triumphierenden Befriedigung über das in der Besprechung vom 19. September Erreichte sich nunmehr einem Generalstabsoffizier des Oberkommandos des Heeres gegenüber „sehr unbefriedigt" über diese Unterredung zeigte46. In dem erwähnten Punkt hatte die SS zurückstecken müssen47, nachdem das Heer in dieser Frage Hitler auf seine Seite hatte ziehen können. Dafür legte Heydrich das Oberkommando des Heeres jedoch in einem anderen Punkt fest, in dem Brauchitsch am 20. September gegenüber Hitler schon eine bedenkliche Konzession gemacht hatte48. Sie entwertete jenes Zugeständnis des Reichsführers SS bezüglich der verfahrenslosen Erschießungen weitgehend wieder. Brauchitsch honorierte dieses Zugeständnis nämlich mit der Duldung von Polizeistandgerichten, die neben denen des Heeres tätig werden durften. Das Problematische daran war vor allem, daß die Urteile dieser Polizeistandgerichte nicht durch Heeresdienststellen also durch -

MGFA/DZ Akte Mil. Bef. Gen. Gouv. Nr. 75917/9 (Dok.-Anh. Nr. 46). Ebd. 44 Hierzu und zum folgenden: Aktennotiz des Chefs der Abt. z. b. V./OKH, Genst. d.H., Oberstleutnant i. G. Groscurth „Mündliche Orientierung am 22.9. durch Major Radke", in: BA/MA H 08-104/3, fol. 33 f. (Handakte Oberstleutnant i. G. Groscurth). Vgl. auch Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 22. 9. 39 sowie KTB, Abt. z. b. V. (BA/MA H 08-104/4, fol. 144). 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebenso Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 29.9.39: „Admiral...: Heydrich sprach sehr unbefriedigt über seine Unterredung mit v. Brauchitsch." 48 Vgl. Halder-Tagebuch, Bd I, S. 82, Eintrag vom 20.9.39: „Standgerichte der Polizei. Nachprüfung Reichsführer SS." 42 43

...

X.

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

433

die Inhaber der vollziehenden Gewalt -, sondern „auf dem polizeilichen Dienstwege"49 nachgeprüft werden sollten. Damit war jedem Mißbrauch wiederum eine Hintertür geöffnet. Heydrich benutzte sie auch sofort, indem er den Leitern der Einsatzgruppen in Polen die Weisung erteilte, die Heereskriegsgerichte „müßten mit Anträgen so eingedeckt werden, daß sie der Arbeit nicht mehr Herr werden" könnten50. Dahinter stand die Absicht, auf diese Weise die Heeresjustiz lahmzulegen und unter Hinweis auf deren Funktionsunfähigkeit die Dinge an sich zu ziehen51, also den Polizeistandgerichten freie Hand zu verschaffen. Hinsichtlich der „volkspolitischen Flurbereinigungen" machte der ObdH bei der Unterredung mit Heydrich nochmals einen schwachen Versuch, derartige Pläne zu verhindern. Er brachte das Argument vor, es würden durch die Beseitigung der polnischen Führungsschicht wichtige wirtschaftliche Belange der Armee im neubesetzten Gebiet berührt. Angesichts der jedoch bereits von höchster Stelle getroffenen Vorentscheidung vermochte er es nicht, sich in dieser Frage besonders starkzumachen. Als Heydrich unnachgiebig erklärte, „es könne keine Rücksicht genommen werden auf Adel, Geistlichkeit, Lehrer und Legionäre"52, beschränkte er sich lediglich darauf, ein „langsames Vorgehen" zu fordern53. In der Frage der Deportation der Juden vom Lande in städtische Ghettos verlangte der ObdH, „daß diese Bewegung von militärischer Seite gesteuert würde unter Ausschaltung der Zivilbehörden"54. Er wies ein „eigenmächtiges Vorgehen von Civilstellen" zurück. Sonst käme es zu Reibungen55. Auch dies könnte als ein Versuch der Heeresleitung angesehen werden, unter Berufung auf die Notwendigkeit einer reibungslosen und ordnungsgemäßen Durchführung eine Kontrolle von seiten des Heeres durchzusetzen und damit eventuell Schlimmeres zu verhüten. Am 22. September scheint Brauchitsch in dieser Frage noch kein Ergebnis erreicht zu haben. Wagner aber stieß in den nächsten Tagen nach und erreichte, daß Heydrich am 30. September den Chefs seiner Einsatzgruppen nochmals einschärfte56, auf die Belange des Heeres Rücksicht zu nehmen Ebd. Bereits einen Tag nach der Besprechung mit Hitler erließ der ObdH eine „Verordnung Ergänzung der Verordnung über Waffenbesitz", datiert unter dem 21.9.39, in der diese Regelung fixiert wurde; vgl. Verordnungsblatt für die besetzten Gebiete in Polen, Nr. 4 vom

49

zur

23. 9. 39.

Amtschef- und Einsatzgruppenleiterbesprechung vom 27.9.39, Stabskanzlei I 11/RF/Fh. (BA Reichssicherheitshauptamt R 58/825, S. 29). 51 Vgl. auch seine häufigen Klagen „über zu langsames Arbeiten der Kriegsgerichte" (BA/MA H 08-104/3, S. 33) gegenüber Brauchitsch am 22. 9. 39, ebenso gegenüber Canaris am 8. 9. 39, s. S. 427 dieses Kapitels. 52 Aufzeichnung „Mündliche Orientierung am 22.9. durch Major Radke"; Heydrich erklärte allerdings nur, „diese müßten sofort verhaftet werden und in die KZ verbracht werden", sagte also dabei nichts von Liquidierungen! 53 59

Ebd.

Ebd. Ebd. 58 MGFA/DZ Nr. 75917/9 Akte Militärbefehlshaber GenGouv (Schnellbrief, Der Chef der Sicherheitspolizei, B.-Nr. PP (II) 288/39 g vom 30. 9. 39). Vgl. Dok.-Anh. Nr. 47. Das OKH Genst. d. H., Gen. Qu. Qu. 2 Nr. 1650/39 geh., wies mit Fernschreiben HZPH Nr. 642 G vom 1.10.39 das AOK 8 auf diesen Schnellbrief hin: der frühere Heydrich-Befehl 54

55

-

28

-

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

434

und vorerst nur vorbereitende Maßnahmen zu treffen. Vor allem aber mußte er nunmehr befehlen, „Zeitpunkt und Intensität" der als Vorbereitung für das „Endziel" ins Auge gefaßten Konzentrierung der Juden sei „grundsätzlich davon abhängig zu machen, daß hierdurch die militärischen Bewegungen keinesfalls gestört"57 würden. Damit bestand die Gefahr, so ehrenwert auch Brauchitschs Absdiwädiungsbemühungen gemeint waren daß Heeresdienststellen ungewollt zu Komplizen des SD wurden, da ihnen nun die Bestimmung des Zeitpunktes für die Maßnahmen überlassen wurde. Das waren die Folgen davon, daß der ObdH weder am 20. September bei Hitler noch am 22. September gegen-

-

-

über Heydrich das grundsätzliche Problem der „Flurbereinigung" aufgeworfen hatte, sondern lediglich Kompetenzüberschreitungen sowie die Modalitäten der Verhaftung der polnischen Führungsschicht und der Judenaussiedlung diskutierte. Die ihm bekannten Ausrottungspläne, deren Durchführung sich bereits in gewissen vorbereitenden Maßnahmen sowie in den beginnenden Exekutionen der Einsatzgruppen andeutete, warf er nicht auf. Er mag gefühlt haben, daß er selbst nicht hart genug und die Position des Heeres nicht sicher genug mehr waren, um es zu einem Machtkampf kommen zu lassen, indem er sich weigerte, in einem vom Heer besetzten Lande, in dem er dazu noch die vollziehende Gewalt innehatte, überhaupt derartige Maßnahmen prinzipiell zu dulden. So war wie Keitel am 12. September Canaris erklärt hatte die grundsätzliche Entscheidung gefallen, der ObdH hatte sie hingenommen; die Weichenstellung war damit erfolgt. Alle Abschwädiungs- und Verzögerungsversuche der Heeresführung vermochten daran nichts mehr zu ändern. Sie brachten das Heer bloß in bedenkliche Nähe zu Himmler und Heydrich, sie führten schließlich sogar zu einer Vertrauenskrise im höheren Offizierkorps. Wenn Brauchitsch nach den Besprechungen vom 20. und 22. September geglaubt haben sollte, er habe durch die dabei erreichten formalen Regelungen und Kompromißlösungen sich irgendwelche Brems- oder Abschwächungsmöglidikeiten geschaffen, so sollte sich seine Annahme sehr schnell als Irrtum herausstellen. Die gesetzlosen Zustände, die Sonderaktionen und Übergriffe gingen im besetzten Gebiet in zunehmendem Maße weiter58. So erklärte das Oberkommando Ost in einem Erlaß vom 20. Oktober 1939 ausdrücklich, daß „gewisse sogenannte bevölkerungspolitische Maßnahmen, mit denen die Wehrmacht nichts zu tun hat"59, unter anderem die Ursache dafür seien, daß in den besetzten Gebieten noch keine Befriedung eingetreten sei. Ganz abgesehen von der politischen und moralischen Problematik dieser Entwicklung mußten diese Zustände wie das Oberkommando des Heeres alsbald mit Sorge feststellte auch unliebsame Auswirkungen auf die Disziplin der Truppe haben. Der Oberbefehlshaber Ost, Generaloberst v. Rundstedt, und General Blaskowitz, der Oberbefehlshaber der 8. Armee, sprachen sich in diesem Sinne Anfang Oktober „sehr ernst" mit Canaris darüber aus60. Am 5. Oktober 1939 -

-

-

-

vom

21.9.39 dürfe „vorerst

folgt erst

zu

einem

nur vorbereitende Maßnahmen auslösen"; seine „Durchführung erspäteren Zeitpunkt" (MGFA/DZ Manstein-Prozeßakten, Dokument WB-2752).

57

Ebd.

58

Vgl. hierzu und zum folgenden Broszat, S. 29 f.

59 60

Zit. bei Broszat, S. 29.

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 9. 10. 39.

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

435

trug Halder in sein Tagebuch die Worte ein: „Judenmorde Disziplin"61 und entsandte fünf Tage später einen General nach Polen, der den Auftrag hatte, die Disziplin der Truppen hinter der Front zu überwachen62. Diese Entwicklung ließ jedoch bei Brauchitsch nur die Bereitschaft, sich möglichst schnell der Verantwortung für die Verwaltung der besetzten Gebiete zu entledigen, immer stärker werden63, zumal gerade in jenen Tagen der Konflikt zwischen Heeresführung und Hitler über die Frage eines Angriffs im Westen seinem Höhepunkt entgegenging. Nachdem er auch während des Feldzuges schon bei der Andeutung der geplanten Polenpolitik nicht protestiert hatte, blieb ihm gar nicht viel anderes übrig, als nun resignierend zu versuchen, vor allem das Heer aus den „Unschönheiten" der von SS und Partei „praktizierten Juden- und Polen-Politik herauszuhalten"84. Das war eben das böse Dilemma, in dem das Heer sich befand. Hitler muß sich nun sehr rasch darüber klargeworden sein, daß unter diesen Umständen einem Abbau der obersten Gewalt der Wehrmacht in den besetzten Gebieten von seiten der Heeresführung kaum Widerstand geleistet würde. Als der Gauleiter Forster ihm am 5. Oktober über die Lage in Westpreußen berichtete und damit allem Anschein nach auch über das „mangelnde Verständnis" der Wehrmacht gegenüber den bevölkerungspolitischen Maßnahmen klagte66, traf er sogleich Anordnungen, die für dieses Gebiet die Beendigung der Militärverwaltung bedeuteten. Bald darauf faßte er nach kurzem Schwanken auch die Einrichtung einer Zivilverwaltung im polnischen Restgebiet, dem Generalgouvernement, ins Auge. Am Abend des 17. Oktober 1939 setzte Hitler Generaloberst Keitel davon in Kenntnis, daß er sich entschlossen habe, in diesen Gebieten die Militärverwaltung aufzuheben66. Er betonte ausdrücklich, die Wehrmacht solle es begrüßen, wenn sie sich von den Verwaltungsfragen in Polen absetzen könne67. In aller Offenheit sprach er nochmals von seinen politischen Plänen bezüglich Polen. Dabei ist offensichtlich sogar der Ausdruck „Teufelswerk" gefallen68. Das Protokoll dieser Besprechung, bei der auch Frank, Frick und Bormann anwesend waren, führte dazu noch aus: „Die Durchführung bedingt einen harten -

61

Ebd. S. 98;

vgl. auch KTB Abt. z. b. V. vom 9. 10. 39. Haider-Tagebuch, Bd I, S. 100, Eintrag vom 10.10. 39. Der ObdH erließ daher am 25.10. 39 auch einen Erlaß, in dem derartige Disziplinwidrigkeiten, die ein „Bild von Landsknechtsmanieren" böten, scharf gerügt wurden und in dem der ObdH sogar von Fällen sprach, in denen Truppe und Offizier geplündert hätten. Vgl. BA/MA H 08-104/3, fol. 83. General Geyr v. Schweppenburg, damals Kommandeur der 3. PzDiv, berichtet in seinen unveröffentlichten Memoiren, daß seine Truppe gegenüber Juden in Ostpolen Ansätze zu undiszipliniertem Verhalten (Neigung, bei Juden zu plündern) gezeigt hätte; durch Einsatz von Kriegsgerichten sei dies rasch unterbunden

62

worden. 63 Hierzu und 94 Ebd. 85

zum

folgenden vgl. Broszat, S. 29 f.

Broszat, S. 29. Vgl. IMT XXVI, Dok. PS-864, S. 378 ff., und Wagner, S. 143 ff., sowie Broszat, S. 30, und Krausnick, Morde, S. 203 ff. 87 IMT XXVI, Dok. PS-864, S. 378. 88 Ebd. S. 381; auch Halder-Tagebuch, Bd I, S. 107, Eintrag vom 18.10. 39. 88

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

436

Volkstumskampf,

der keine gesetzlichen Bindungen gestattet69." Spätestens nach Erhalt Protokolls dieses konnte es der Heeresführung nicht mehr fraglich sein, was es mit diesem sogenannten „Volkstumskampf" auf sich habe. Die Kenntnis von dem, was Hitler in Polen plante, sowie von seiner Absicht, die dortige Militärverwaltung zu beseitigen, hat Oberst Wagner bewogen, am Morgen desselben Tages nochmals einen letzten Versuch zu machen, die Militärverwaltung in Polen aufrechtzuerhalten. Er trug dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht gewisse Forderungen von seiten des Oberbefehlshabers des Heeres vor70, deren wichtigste besagten:

„l.Die Verantwortlichkeit des Oberbefehlshabers des Heeres darf durch keinerlei dritte Stellen

an

Sondervollmachten

gegebene beeinträchtigt werden. Berufung für die Zivilverwaltung erfolgt allein durch ObdH auf Vorschlag der Fachministerien und des Oberverwaltungschefs. 3. Die Umsiedlung erfolgt, wie bereits mit dem Reichsführer SS abgesprochen, nur mit

2. Die

Einvernehmen mit dem ObdH bzw. Ober-Ost und muß mit den militärischen Belangen in Einklang stehen. 4. Die Verwaltung und das Verfügungsrecht über Eisenbahnen, Wasserstraßen und Fernmeldewesen sowie Postverkehr obliegt allein den militärischen Dienststellen .71." ..

„vordergründig nur als ein Kampf um die Stellung des Heeres"72 erscheinenden Forderungen wurden von Wagner aus folgender Überlegung heraus erhoben: da Hitler am 17. Oktober dem ObdH auf dessen Rücktrittsangebot73 hin strikt befohlen hatte, er Diese

müsse

bleiben,

ein Rücktritt käme gar nicht in

Frage, wollte der Chef des Stabes des als Generalquartiermeisters gleichsam Bedingung mit jenen Forderungen von seiten des Oberkommandos des Heeres jetzt nachstoßen74. Keitel jedoch scheint, wie das erwähnte Ergebnis der abendlichen Besprechung mit Hitler beweist, keineswegs geneigt gewesen zu sein, dieses Spiel mitzuspielen. Nach Zossen wieder zurückgekehrt, erfuhr Wagner durch einen Anruf von der in der Reichskanzlei gerade stattfindenden entscheidenden Besprechung bei Hitler. Die Haltung Keitels wohl ahnend, versuchte er nochmals persönlich einzugreifen. Er traf jedoch erst nach Ende der Konferenz in Berlin ein75. Hitler hatte seine Entscheidung bereits gefällt. In einer langen Besprechung mit Keitel konnte Wagner nur noch davon Kenntnis nehmen. 69

Ebd. S. 379.

79

Wagner, S. 143 ff., und IMT XXV, S. 381 f.

71 72

Ebd.

S. 144. Unter anderem wegen des Konfliktes um die Westoffensive. 74 Vgl. IMT XXVI, S. 381 f., und Broszat, S. 30, sowie Wagner, S. 143 (Brief vom 18.10. 39). Sein Kampf gegen die Machenschaften der SS in Polen trug ihm den Haß des „Reichsführers SS" ein. Himmler sagte fünf Jahre später in seiner Posener Rede vom 3.8.44: „Dann gab es einen Generalquartiermeister Wagner. Er war ein mir von Anfang an unsympathischer ostischer Bumskopf, ein ewig falscher Mann, der niemals eine Zusage hielt. Das war alles undurchsichtig bis dorthinaus." (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 [1953], S. 379.) 75 Wagner, S. 143 und 146. 73

Wagner,

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im

ersten

Kriegshalbjahr

437

Es ist jedoch höchst zweifelhaft, ob Wagner auch wenn er damals rechtzeitig interveniert hätte irgendeinen Erfolg für das Heer in der betreffenden Frage hätte erringen können. Sein Oberbefehlshaber hatte nämlich bereits am Tage zuvor Keitel gegenüber seinen Willen kundgetan, daß er selbst die Militärverwaltung in Polen abgeben wolle76. Das Verhalten des ObdH zeigt, wie sehr er bestrebt war, sich den unangenehmen polnischen Komplex vom Halse zu schaffen. Er mag in diesem Bestreben um so mehr bestärkt worden sein, als gerade in jenen Tagen die Heeresleitung mit einer Frage konfrontiert wurde, die nahezu ihr ganzes Denken und Tun in höchstem Maße bestimmte77, Hitlers Entschluß, gegen die Westmächte offensiv vorzugehen. Gegen diesen Entschluß opponierte die Heeresleitung aus mehreren Gründen heftig78. Angesichts dieser Situation mag Brauchitsch der Meinung nachgegeben haben, „Ballast abzuwerfen". Dennoch kann keineswegs die Tragweite des stillschweigenden, nicht ohne eine Erleichterung vollzogenen Rückzuges79 in der Frage der vollziehenden Gewalt und der Militärverwaltung in Polen übersehen werden: Ganz abgesehen von der moralischen Komponente war dieses Zurückweichen einerseits ein Symptom des Machtschwundes, den das Heer erlitten hatte, andererseits erfuhr die Position des Heeres und seiner Führung dadurch eine erneute Einbuße. Brauchitschs Verzicht auf aktive Verfolgung einer bestimmten Politik hinsichtlich der Stellung der Armee im Staat zeitigte so seine Folgen. Das sollte sich alsbald in mancherlei Hinsicht nur zu deutlich zeigen. Sehr schnell kamen die Konsequenzen vor allem in Polen an den Tag, wo es in den folgenden Wochen und Monaten infolge des Vorgehens von SS und Polizei zu ständig heftigeren Konflikten mit den dort verbliebenen, nunmehr aber von der Verwaltung völlig ausgeschalteten Besatzungstruppen kam. Der Oberbefehlshaber Ost, nunmehr Generaloberst Blaskowitz, wurde Anfang November 1939 beim Oberkommando des Heeres mit einer für Hitler bestimmten Denkschrift vorstellig, in der er seiner größten Besorgnis wegen illegaler Erschießungen, Festnahmen und Beschlagnahmungen Ausdruck gab und auf die Gefahr für die Disziplin der Truppe hinwies, die diese Dinge aus nächster Nähe miterlebe. Vorstellungen bei örtlichen SD- und Gestapostellen seien nicht nur erfolglos geblieben, sondern unter Berufung auf Weisungen des Reichsführers SS zurückgewiesen worden. Er schloß mit der Bitte, gesetzmäßige Zu-

-

Vgl. Notiz Keitels für Wagner vom 17.10. 39 20.00 Uhr -: „1. ObdH will abgeben, zuletzt 16. 10." In: IMT XXVI, S. 381 ff., heißt es unter Wiedergabe einer Äußerung Hitlers: „1. Militär froh, wenn los! 14. ObdH hat um Enthebung gebeten!" 76

-

...

77

S.

Vgl. hierzu Kap. XI und die Bemerkung Wagners in seinem Brief 143), wo er nach Schilderung seines vergeblichen Eingreifens am

„Unterdessen ist hier auf dem 78

Vgl. Kap. XI dieser Arbeit.

vom 18.10.39 (Wagner, 17.10.39 dann schreibt:

militärisch-operativen Sektor wieder ganz was Neues los."

79 Nach der grundsätzlichen Entscheidung vom 17. 10. 39 forcierte Hitler deren Durchführung. Am 19. 10. 39 bestimmte ein Erlaß „über die Überleitung der Verwaltung im Generalgouvernement auf den Generalgouverneur" die Beendigung der Militärverwaltung für den 25. 10. 39. Am 21. 10. 39 erfolgte dann die offizielle Weisung an den ObdH, daß die „Befugnisse des Oberbefehlshabers des Heeres zur Ausübung vollziehender Gewalt in dem gesamten Ostgebiet" am 25. 10. 39 erlöschen werde. Vgl. Broszat, S. 30.

438

X. Heeresführung und nationalsozialistisches

Regime im ersten Kriegshalbjahr

stände wiederherstellen zu lassen, vor allem Exekutionen nur aufgrund rechtmäßiger Urteile zu gestatten. Von Hitlers Reaktion auf die Denkschrift des Oberbefehlshabers Ost berichtet eine Eintragung im Tagebuch des damaligen Heeresadjutanten, Hauptmann Engel, vom 18. November 1939: „... Lege am gleichen Nachmittag die Denkschrift, die vollkommen sachlich gehalten ¡st, Fführer] vor. Dieser nimmt sie zunächst ruhig zur Kenntnis, beginnt dann aber wieder mit schweren Vorwürfen gegen ,kindlidie Einstellungen' in der Führung des Heeres; mit Heilsarmee-Methoden führe man keinen Krieg. Auch bestätige sich eine langgehegte Aversion, er habe General Blfaskowitz] niemals das Vertrauen geschenkt, er sei auch gegen die Beauftragung mit der Führung einer Armee gewesen, halte es für richtig, Bl[askowitz] von diesem Posten, da ungeeignet, zu entfernen .80" Daß im übrigen nicht nur Polizei und SS, sondern auch Organe der Zivilverwaltung sich an den sogenannten „volkstumspolitischen Maßnahmen" beteiligten, beweist ein Schreiben des Oberost vom 16. November an den Generalgouverneur. Es wurde darin Klage geführt, daß „von zivilen Dienststellen ohne Wissen der für den betreffenden Bereich zuständigen Wehrmachtsdienststellen Geiseln festgesetzt. und Erschießungen vorgenommen" worden seien81. Solche Vorgänge ereigneten sich nicht nur im Generalgouvernement, sondern auch im Warthegau. Der Befehlshaber im Wehrkreis XXI (Posen) schrieb am 23. November in einem Bericht an den Befehlshaber des Ersatzheeres: „Die große Aufbauarbeit auf allen Gebieten wird nicht gefördert durch das Eingreifen von SS-Formationen, die mit ,volkspolitischen Sonderaufträgen' eingesetzt und darin dem Reichsstatthalter nicht unterstellt sind. Hier macht sich die Tendenz geltend, über den Rahmen dieser Aufgaben hinaus maßgebend in alle Gebiete der Verwaltung einzugreifen und einen ,Staat im Staate' zu bilden. Diese Erscheinung bleibt nicht ohne Rückwirkung auf die Truppe, die über die Formen der Aufgabendurchführung empört ist und dadurch verallgemeinernd ¡n einen Gegensatz zu Verwaltung und Partei gerät. Die Gefahr ernsthafter Auseinandersetzungen werde ich durch strenge Befehle ausschalten. Daß darin eine hohe Anforderung an die Disziplin der Truppe liegt, ist nicht von der Hand zu weisen82." ..

..

.

.

80

Zit. nach Broszat, S. 41, dort auch

Engel-Tagebuches).

Inhaltsangabe

.

der Denkschrift

(ebenfalls

auf Grund des

Zit. nach Stanislaw Piotrowski, Hans Franks Tagebuch, Warschau 1963, S. 59. MGFA/DZ H 24/12. In dem Bericht heißt es dann weiter: „Fast in allen größeren Orten fanden durch die erwähnten Organisationen öffentliche Erschießungen statt. Die Auswahl war dabei völlig verschieden und oft unverständlich, die Ausführung vielfach unwürdig. In manchen Kreisen sind sämtliche polnischen Gutsbesitzer verhaftet und mit ihren Familien interniert worden. Verhaftungen waren fast immer von Plünderungen begleitet... In mehreren Städten wurden Aktionen gegen Juden durchgeführt, die zu schwersten Übergriffen ausarteten. In Turek fuhren am 30. 10. 39 3 SS-Kraftwagen unter Leitung eines höheren SS-Führers durch die Straßen, wobei die Leute auf der Straße mit Ochsenziemern und langen Peitschen wahllos über die Köpfe geschlagen wurden. Auch Volksdeutsche waren unter den Betroffenen. Schließlich wurde eine Anzahl Juden in die Synagoge getrieben, mußten dort singend durch die Bänke kriechen, wobei sie ständig von den SS-Leuten mit Peitschen geschlagen wurden. Sie wurden dann gezwungen, die

81

82

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

439

Vier Tage später83 berichtete dann der Oberbefehlshaber Ost dem ObdH: „Als am 26. Oktober der Generalgouverneur die Zivilverwaltung übernahm, zeigte sich sofort, Der Generalgouverdaß ein Arbeitsschluß der bisherigen Verwaltung unmöglich war neur sah sich daher genötigt, die Militärverwaltung zu bitten, mit all ihren Organen im Amt zu bleiben Die Verbindung zu den Organen der Sicherheits- und Ordnungspolizei ist seit der Übernahme der Zivilverwaltung durch den Generalgouverneur ziemlich gestört. Dazu kommt, daß die Truppe es ablehnt, mit den Greuelhandlungen der Sicherheitspolizei identifiziert zu werden und mit diesen, fast ausschließlich als Exekutionskommandos arbeitenden Einsatzgruppen zusammen zu arbeiten. Die Polizei hat bisher noch keine sichtbaren Aufgaben der Ordnung geleistet, sondern nur Schrecken in der Bevölkerung verbreitet. Inwieweit sich die Polizei selbst damit abzufinden vermag, daß sie ihre Leute zwangsläufig dem Blutrausch ausliefert, kann von hier nicht beurteilt werden, sicher ist jedoch, daß es für die Wehrmacht eine unerträgliche Belastung darstellt, da dies ja alles im ,Feldgrauen Rock' geschieht84." Abschließend stellte General Blaskowitz dem ObdH gegenüber nachdrücklich fest, „daß die Verhältnisse im besetzten Gebiet dringend einer baldigen Neuordnung bedürfen. Der augenblickliche Zustand treibt einer Entwicklung entgegen, die einen militärischen Unruheherd herbeiführt und die Ausnützung des Landes zugunsten der Truppe und der Wehrwirtschaft unmöglich macht"85. Die Überlegung, daß die Zustände in Polen sich zu einer erheblichen Gefährdung militärischer und wehrwirtschaftlicher Interessen, letztlich also für die Kriegführung überhaupt auswüchsen und daher von seiten der bewaffneten Macht eingeschritten werden müsse, scheint einige Offiziere im Oberkommando des Heeres dazu bewogen zu haben, entsprechende Maßnahmen ins Auge zu fassen. So hat Oberst Wagner unter Berufung auf die Verschlechterung der Disziplin im Heer und die Gefährdung militärischer Interessen die Erklärung des Ausnahmezustandes für die besetzten Ostgebiete betrieben86. Ebenfalls notierte sich der Oberquartiermeister IV, General v. Tippelskirch, Ende Dezember für einen Vortrag beim Chef des Generalstabes des Heeres, in Polen herrschten unbeschreibliche Zustände, das Umbringen gehe weiter; er schlug daher ebenfalls, wie es scheint, vor, daß die vollziehende Gewalt wieder vom Heer übernommen werden müsse, und fügte hinzu: „Grund: im Osten [gehe es] drunter und drüber, jeder hat Angst, nicht nur Polen und Juden." Über die Truppe gelangten solche Nachrichten ins Volk, und die Auswirkungen seien unübersehbar87. Dem ObdH wurden weiterhin von der Abteilung z. b. V./ ...

...

Hosen herunterzulassen, um auf das nackte Gesäß geschlagen zu werden. Ein Jude, der sich vor Angst in die Hosen gemacht hatte, wurde gezwungen, den Kot den anderen Juden ins Gesicht zu 83

schmieren."

Vgl.

persönliches Tagebuch, Eintrag vom 27.

84

auch Groscurth, MGFA/DZ H 24/12.

85

Ebd.

86

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag

Oberst i. G. Wagner. 87 MGFA/DZ H III 36/1,

vom

11. 39.

14.11.39 auf Grund einer

Besprechung

Tippelskirch, Tagesnotizen, Bd I, fol. 42, Eintrag vom 22.12. 39.

mit

440

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

Generalstab des Heeres und dem Oberquartiermeister IV laufend Materialien über die Greuel in Polen vorgelegt88. Brauchitsch jedoch war in keiner Weise zu irgendwelchen Aktionen zu bewegen. Er vermied es sogar, dieserhalb bei Hitler selbst vorstellig zu werden, überließ es vielmehr der „Adjutantur des Führers", derartig „unerquickliche Dinge" vorzulegen. Das hat Keitel später zu der nicht ganz unberechtigten bitteren Bemerkung veranlaßt: „So umging man die... Pflicht, dem Führer selbst solche Dinge zu melden! Das wollte man vermeiden, weil man den Mut dazu nicht hatte, sein Gewissen wollte man aber scheinbar entlasten89." Brauchitsch griff die Möglichkeit, in Polen den Ausnahmezustand zu erklären, nicht auf; er verzichtete sogar darauf, seine Befehlshaber anzuweisen, in extremen Fällen einfach gegen die für verfahrenslose Exekutionen verantwortlichen SS- oder Polizeiführer kriegsgerichtlich vorzugehen. Das wäre immerhin unter Berufung auf die Gefährdung militärischer Interessen aufgrund der Absprache mit Heydrich und Himmler vom 19. und 22. September sowie in weiter Auslegung des Führererlasses vom 21. Oktober noch durchaus möglich gewesen. Vielmehr bemühte sich der ObdH, der am 5. November mit Hitler wegen der Frage der Westoffensive einen schweren Zusammenstoß gehabt hatte und seitdem nervlich schwer erschüttert war, jeder weiteren Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen und die aus den skandalösen Zuständen in Polen resultierenden Probleme in einem Maße herunterzuspielen, daß es fast schon an Bagatellisierung grenzte. Er suchte sie wie normale Routineangelegenheiten mit Himmler oder Heydrich auf dem Verhand-

lungswege zu bereinigen. Inzwischen waren allerdings Ereignisse eingetreten, die auf seiten des Heeres eine Zuspitzung des Polenproblems gebracht hatten und die Tendenz des ObdH zu lavieren gefährdeten. Zwar scheint Blaskowitz sich nach Absendung seines Lageberichtes vom 27. November bei Keitel bemüht zu haben, zu verhindern, daß Hitler diesen vorgelegt Vgl. ebd., Eintragungen vom 16.11., 8. und 10.12. 39, sowie BA/MA H 08-104/3, Seite 169 ff. Vgl. Keitel, S. 222, Anm. 167: Vermerk Keitels zu einem „Bericht der Adjutantur ObdH an die Adjutantur d. Wehrm. b. F., zu Hd. Hptm. Engel, Berlin, v. 10.11. 39" bezüglich Erschießung von Juden und Polen unter Leitung eines SS-Sturmbannführers auf dem Judenfriedhof von Schwetz. Hierzu ¡st allerdings zu bemerken, daß dieser Vermerk Keitels aus der Zeit des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses stammt, also nachträglich erfolgt ¡st und eîner gewissen Apologetik

88

89

nicht entbehrt. Wenn Keîtel weiterhin schreibt: „Warum nicht sofort Verfahren gegen den SSSturmbannführer und Meldung der Einleitung eines Kriegsgerichts gegen diesen?", dann ist demgegenüber zu bemerken, daß bereits seit dem 17.10. 39 die Sondergerichtsbarkeit für SS-Angehörige eingeführt worden war (vgl. Reichsgesetzblatt 1939, Teil I, S. 2107). Zum besagten Vorfall selbst: diese Exekutionen, bei denen sogar Frauen und Kinder erschossen wurden, waren von Soldaten der Krankentransportabteilung 581 beobachtet worden. Der Armeearzt AOK 4 hatte daraufhin unter Beifügung von Augenzeugenprotokollen eine dienstliche Meldung „An den Obersten Befehlshaber der Wehrmacht und Führer des Deutschen Volkes Adolf Hitler" auf dem militärischen Dienstweg vorgelegt, die zwar bis zur Wehrmachtsadjutantur gelangte, aber von dieser nicht weitergegeben wurde. Vgl. Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 10. 12. 39: „Am 20. November wird bekannt, daß Bericht über Erschießung polnischer Frauen dem Führer nicht vorgelegen hat." Die erwähnte Meldung ¡n: BA/MA H 08-104/3, S. 172 ff.

X.

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

441

erhielt90. Ein derartiges Verhalten des Oberost91 mag Brauchitschs Neigung, die Dinge nicht allzu sehr hochzuspielen, bestärkt haben. Dagegen aber hatten oppositionelle Offiziere des Oberkommandos des Heeres Berichte über die Zustände in Polen auf eigene Faust bei höheren Stäben außerhalb der Zentrale verbreitet. Oberstleutnant i. G. Groscurth war mit einem Mitarbeiter zwischen dem 18. und 22. Dezember an der Westfront bei den Heeresgruppenkommandos A, B und C sowie bei den Armeeoberkommandos 1 und 4 gewesen92 und hatte dort unter Vorlage des Berichtes von Blaskowitz „gründlich

aufgewiegelt"93. Bei der Heeresgruppe C stellte man offenbar sogar Abdrucke zur weiteren Verwendung davon her94, einige Chefs der Generalstäbe hatten auch „auszugsweise Abschrift genommen"95. Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B, Generaloberst v. Bock, soll, wie Tippelskirch notiert96, „sehr fassungslos" gewesen sein, als er von den ihm bisher mindestens in Einzelheiten unbekannten Vorgängen in Polen hörte97. Beim Stab der

Vgl. Tippelskirch, Tagesnotizen, Bd I, fol. 41, Eintrag vom 21.12. 39: „Blaskowitz über Keitel gegengebremst, Bericht nicht zum Führer zu bringen." Sowie fol. 52, Eintrag vom 10. 1. 40: „Blaskowitz spielt starken Mann und zieht nach oben zurück." Vgl. auch Hassell, S. 121 (Eintrag 99

...

26. 1.40): „Nachher besuchte mich ein Oberstleutnant vom Stabe Blaskowitz'. Er schüttete sein Herz über den ganzen Jammer und über die schändlichen Zustände in Polen aus. Blaskowitz sei weich; er habe die Denkschrift zwar gemacht, aber nachher die Weitergabe an Hitler abvom

gewendet."

Diesen „Rückzieher" Blaskowitz' muß man allerdings in der richtigen Relation sehen. Es steht außer Zweifel, daß er zu allen Zeiten ein entschiedener Gegner der nationalsozialistischen Gewalttaten gewesen ist. Seine erste Denkschrift und spätere Eingaben, auch sein Vortrag vor dem ObdH am 15. 2. 40 in Spala (siehe weiter unten S. 448 dieses Kapitels) beweisen das. Einer seiner engsten Mitarbeiter, Generalmajor a. D. Langhaeuser, damals Ic bei Oberost, schreibt als Erklärung für das geschilderte zeitweilige Zurückzucken seines Oberbefehlshabers (Mitteilung an das MGFA vom 4.12. 1964): Blaskowitz war bis Anfang Januar 40 der Überzeugung, daß der Generalgouverneur ein ehrlicher Partner sei. Bei mehrfachen gegenseitigen Besuchen brachte der OB-Ost dem Generalgouverneur gegenüber die Klagen über die Mißstände und die Befürchtungen über die Folgen klar zum Ausdruck. Frank versprach jedesmal umgehende Abhilfe, wobei er den verständnisvollen, im Sinne der Wehrmacht denkenden und auf das Wohl der Bevölkerung bedachten Verantwortungsträger darstellte. So mußte Blaskowitz glauben, daß eine Einschaltung Hitlers nur das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und dem Generalgouverneur stören würde, während seine eigene Autorität gegenüber dem Generalgouverneur ausreiche, die Dinge in vernünftige Bahnen zu lenken. Anfang Januar 1940 erkannte aber auch Blaskowitz, daß die Zusagen des Generalgouverneurs mit der tatsächlichen Handhabung der Zivilverwaltung nicht in Einklang 91

„...

zu

bringen waren."

92

Auf diese Reise wird weiter

93

So

unten noch zurückzukommen sein, vgl. Kap. XI. Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 19.12. 39; vgl. auch KTB Abt. z. b. V.; Generaloberst Hollidts Aussage (Krausnick, Morde, S. 205, Anm. 48), daß Blaskowitz seine Denkschriften an die West-Heeresgruppen gehen ließ, trifft nicht zu. 94 Tippelskirch, Tagesnotizen, Bd I, Eintrag vom 8.1.40, fol. 50: „Umdruck des Bl.-Berichtes durch Heeresgruppe C." 95 KTB Abt. z. b. V., Eintrag vom 5. 1. 40, fol. 197. 98 Ebd. fol. 41, Eintrag vom 22. 12. 39. 97 Vgl. auch Bock-Tagebuch, S. 25, Eintrag vom 20. 11. 39: „Nachts Fahrt nach Koblenz im Zuge

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

442

Heeresgruppe C rief die Vorlage des Berichtes „große Erregung" hervor08. Der Heeresgruppen-Oberbefehlshaber Ritter v. Leeb, der dem Vortrag Groscurths nicht beigewohnt hatte, fuhr, sobald er von seinem Stab orientiert worden war, zur Heeresgruppe A, um

sich mit Rundstedt darüber auszusprechen99. Bei den Spitzen des Oberkommandos des Heeres entstand wegen dieses Alleinganges Groscurths eine starke Verstimmung. Er wurde mit heftigen Vorwürfen überschüttet100. Zur Erregung im Oberkommando des Heeres trug noch bei, daß General Blaskowitz beim ObdH indigniert anfragte, warum sein Bericht im Westen bekanntgeworden sei101. Aber weder dieser „Bremsversuch" des Oberost noch Halders vorwurfsvolle Belehrung gegenüber Groscurth, das von diesem bezeigte Verhalten sei in höchstem Maße unzweckmäßig, denn „man dürfe die Front nicht mit unnötigen Sorgen belasten"102, konnten die nunmehr erfolgte Aufklärung höchster Kommandobehörden und Stäbe über die Zustände in Polen ungeschehen machen103. Die bisherige Tendenz des ObdH, die Dinge nicht in das höhere Offizierkorps dringen zu lassen, sondern stillschweigend zu erledigen, war unmöglich weiterzuverfolgen. Denn schon hatten die Oberbefehlshaber einiger Heeresgruppen Aufklärung verlangt, ob die Berichte zutreffend seien und ob und was daraufhin erfolgt sei104. des Oberbefehlshabers des Heeres. Ich höre hier Vorgänge aus der ,Kolonisierung' des Ostens, die mich tief erschrecken. Macht man dort weiter so, so werden diese Methoden sich einmal gegen uns kehren!", sowie Eintrag vom 21.12.39: „Ich erfahre von einem Vortrag des Oberost beim Oberbefehlshaber des Heeres über die ernste Lage im Osten auf innerpolitischem Gebiet." -

98

99

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 19.12. 39. Nach Weichs, Erinnerungen, S. 15, und Bock-Tagebuch, S. 40, Eintrag

General

v.

Kluge

die

Polenangelegenheit

mehrfach

unter

vom

5.1.40, hat auch

der höheren Generalität

zur

Diskussion

gebracht. 100 Vgl. Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 5. 1. 40: „Abends große Aufregung, da meine Tätigkeit auf Westreise bekannt geworden ist", und vom 8.1. 40. 161 KTB Abt. z.b.V., fol. 197, Eintrag vom 5.1.40; vgl. auch Hassell, S. 112 (vom 25.12.39), schreibt aufgrund eines Berichts des Legationsrates von Nostiz: „Blaskowitz hat eine Denkschrift gemacht, in der alles [d. h. die Zustände in Polen] offen dargelegt werde und in der ein Satz stehe, daß

befürchten sei, die SS werde nach Art ihres Verhaltens in Polen später sich in der stürzen." Demnach ist Blaskowitz' Denkschrift auch außerhalb des Heeres stehenden Kreisen teilweise bekannt geworden. zu

gleichen Weise auf das eigene Volk

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 13.1. 40. Der Gestapo-Beamte Huppenkothen behauptet, Blaskowitz' „Zusammenstellung" sei im OKW (!) „von Hand zu Hand" gereicht worden und habe unter der Bezeichnung „GestapoGreuel" dort Aufsehen erregt: Krausnick, Morde, S. 205, Anm. 48. Das bestätigt Generalmajor a. D. Ottomar Hansen, damals Adjutant bei Keitel (Mitteilung an das MGFA vom 1. 8.1966). 182

103

Vgl. Bock-Tagebuch, S. 40, Eintrag vom 5.1. 40: „Kluge bringt die Verhältnisse im Osten zur Sprache, von denen natürlich auch er gehört hat. Hier, an der Westfront, ist eine Vortragsnotiz des Oberbefehlshabers Ost für den Oberbefehlshaber des Heeres bekannt geworden, die haarsträubende Schilderungen der Verhältnisse im Osten enthält. Wüste Übergriffe von Polizei- usw. Organen gegen die Wehrmacht werden erwähnt, ohne daß es anscheinend gelungen ist, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Ich sage Kluge zu, daß ich versuchen würde, zu klären, was an dem Bericht sei und ob etwas darauf erfolgt ist." Aufschlußreich für Bocks Standpunkt sind die folgenden Zeilen, ebd.: „Im übrigen stelle ich mich auf folgenden Standpunkt, den ich den Armeeführern gegenüber klar zum Ausdruck bringe: 104

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

443

beruhigen, der Oberbefehlshaber Ost habe sich inzwischen mit seinem Zivilgouverneur ausgesprochen105 und erhoffe von dieser Aussprache eine Abstellung der Übergriffe oder wenigstens eine Besserung106, hat, wie es scheint, bei den aufgebrachten Befehlshabern keinen Erfolg gehabt. Ein

Versuch, die Befehlshaber im Westen mit dem Hinweis

zu

Dies um so weniger, als Blaskowitz in der ersten Januarhälfte erkannt hatte, daß auf die Zusagen des Generalgouverneurs kein Verlaß war107. Er entschloß sich daher um den 12. Januar herum zu einer persönlichen Intervention bei Brauchitsch und ließ zu diesem Zweck von seinem Stab erneut eine ausführliche Denkschrift vorbereiten. Diese Unterredung des Oberbefehlshabers Ost mit dem ObdH erfolgte am 17. Januar im Oberkommando des Heeres. Sie fiel sehr zur Enttäuschung des Generalobersten Blaskowitz aus108. Brauchitsch teilte ihm mit, er sähe sich nicht in der Lage, seine Vorlagen Hitler oder Keitel vorzutragen. Blaskowitz zweifelte wohl nicht an Brauchitschs persönlicher Integrität, da dieser selbst auch die Übergriffe von SS und Polizei in Polen scharf ablehnte, aber er war von der zu weichen Haltung des ObdH doch zutiefst enttäuscht. Seinem Ic gegenüber, der ihn ins Hauptquartier begleitet hatte, qualifizierte er Brauchitschs Haltung als „Schlappheit"109. Der Oberbefehlshaber Ost und sein Begleiter flogen daher sehr deprimiert von Zossen nach Spala zurück. Dies um so mehr, als auch der Chef des Generalstabes des Heeres, den der Ic/Oberost inzwischen aufgesucht hatte, wohl in sehr temperamentvollen Äußerungen seiner Empörung über die Gewaltmaßnahmen in Polen Ausdruck verlieh, aber angesichts der gegebenen personellen und realen Machtund Einflußverhältnisse den Besuchern von Oberost wenig Hoffnung auf einen Erfolg ihrer Bemühungen machen konnte110. Immerhin scheint Halder in den nächsten Tagen zur

„Sind die unverschämten Übergriffe irgendwelcher Organisationen der Wehrmacht gegenüber wirklich wahr, so sind die davon betroffenen Offiziere und Wehrmachtsdienststellen nicht von Schuld freizusprechen. Ich jedenfalls werde keinen Offizier in meinem Befehlsbereich dulden, der Beleidigungen der Wehrmacht oder seiner Person ungeahndet einsteckt! Und von den Vorgesetzten erwarte ich, daß sie jeden Untergebenen in der Wahrung der Ehre und des Ansehens der Wehrmacht decken und unterstützen!" 195 Vgl. Anm. 91 dieses Kapitels. 198 Bock-Tagebuch, Eintrag vom 6.1. 40, S. 42-43. 197 Hierzu und zum folgenden Mitteilung von Generalmajor a. D. Langhaeuser, dem damaligen Ic/Oberost vom 4. 12. 1965 an das MGFA. 198 Ebd. 199 Der ehemalige 1. Generalstabsoffizier des ObdH, Generalltn. a.D. Siewert, bemerkte erklärend vom Standpunkt des ObdH aus, daß Untergebene versuchten, Brauchitsch in eine Richtung zu drängen, wo er sich nicht hätte durchsetzen können, und daß der ObdH sich dagegen gesträubt hätte; daraus resultierten dann gefühlsgeladene Äußerungen seiner Gesprächspartner wie die zitierte Bemerkung von Blaskowitz (Mitteilung von Generalleutnant a. D. Siewert an das MGFA vom 110

19. 7.

1966).

Ebd. sowie

Halder-Tagebuch, Bd I, S. 159, Eintrag vom 17. 1. 40 und Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 17. 1. 40, der schreibt: Langhaeuser bei Halder, kommt wenig begeistert wieder .." General Langhaeuser schreibt dazu (Mitteilung an das MGFA vom 4. 12. 1965): „Die Reaktion des Generalobersten Halder auf Mitteilungen über die Mißbräuche und Gewaltmaßnahmen... war in allen Fällen die gleiche: schärfste Ablehnung und Empörung..." „...

.

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

444

Unterstützung des Oberost

erwogen

Eindruck gewonnen haben mochte,

zu er

haben, dessen Chef des Stabes, von dem er den resigniere bereits, durch einen energischeren und

gegenüber den Parteirepräsentanten stärker auftrumpfenden Offizier zu ersetzen111. Dazu ist es dann aber offensichtlich in diesem Stadium der Entwicklung nicht gekommen. Wenn Brauchitsch allerdings geglaubt haben sollte, die Probleme seien nunmehr dadurch gelöst worden, daß er seinem Oberbefehlshaber in Polen schlichtweg erklärte, er könne auch nichts ändern, so sollte er sich irren. Die Kunde über die Verhältnisse in Polen war schon zu vielen höheren Offizieren zu Ohren gekommen. Immer neue Nachrichten sickerten durch112. Anfragen aus den Reihen der höheren Generalität und Meldungen über Unruhe in Kreisen des Offizierkorps113 trugen allmählich dazu bei, daß Brauchitsch unter spürbaren Druck kam. Ein Ausweichen schien nun kaum mehr möglich. Am 23. Januar 1940 notierte der Oberquartiermeister IV, die Verhältnisse in Polen seien für „die Truppe unerträglich", es drohe eine „Vertrauenskrise gegenüber Oberster Stelle" zu entstehen; falls keine Änderung erfolge, könne der „ObdH keine Garantie übernehmen, daß es nicht zur Entladung" komme114. Auch der Chef des Generalstabes des Heeres hielt nunmehr ein Aufgreifen dieser Probleme von seiten der Heeresleitung für erforderlich, da deren „Ausweichen große Wellen geschlagen" habe115. Am selben Tage noch wurde von dem Die zitierte Notiz im Groscurth-Tagebuch erklärte sich wohl dadurch, „daß mir... Halder klarmachen mußte, wie wenig Hoffnung auf einen Erfolg der Bemühungen Oberost um Besserung der Zustände in Polen zu setzen seien. Die sehr temperamentvollen Äußerungen des Generalobersten Halder, die er in solchen Fällen innerer Erregung über das Schicksal unseres Volkes verwendete, erklären mir völlig, daß ich nicht gerade heiter sein Zimmer verließ." 111 Halder-Tagebuch, Bd I, S. 158, Eintrag vom 14.1.40: „Hollidt im Osten ablösen? Ersatz? (einen besonders harten Mann)" und S. 163, Eintrag vom 19.1.40: „Vertrauenskrise im Osten: Personalwechsel (Hansen für Hollidt)." Generalmajor a. D. Langhaeuser vermutet, daß die Eintragung vom 19. 1. sehr wahrscheinlich ein Ergebnis des Besuches des Oberbefehlshabers Ost vom 17.1.40 sei; er bezeugt aber auch, daß die Einstellung des damaligen Generalleutnants Hollidt wie die aller maßgeblichen Mitglieder des Stabes von Oberost gegenüber den Zuständen dort „einhellig auf das schärfste ablehnend" gewesen sei (Mitteilung vom 4. 12.1965 an das MGFA). Über Langhaeuser selbst vgl. den Vermerk im Haider-Tagebuch, Bd I, S. 138, Eintrag vom 8.12. 39: „Langhaeuser sehr stürmisch." 112 Generalmajor Langhaeuser (Mitteilung vom 4.12. 1965 an das MGFA) berichtet, er habe Anfang 1940 Admirai Canaris anläßlich dessen Besuches bei der Langhaeuser unterstellten Abwehrleitstelle Ost eine Dokumentation über die Zustände im Osten übergeben. Ebenso habe er ein Exemplar der Denkschrift, die Blaskowitz dem ObdH am 17. 1.40 vorlegte, und Kopien des bei Oberost gesammelten Materials dem Leiter der Abwehrstelle im Wehrkreis VII, München,

Bewahrung übergeben. Tagebuch Jodl, Eintrag vom 29.1. 40 (in: Welt als Geschichte 13 [1953], S. 70), findet sich die Bemerkung: „Führer äußert sich 28.1. sehr aufgebracht Chef OKW gegenüber über abfällige

zur 113

Im

Äußerungen

von höheren Offizieren über unser Vorgehen in Polen." Admirai Canaris dagegen hat laut Halder-Tagebuch, Bd I, S. 160-162, Eintrag vom 18. 1. 40 zum Chef des Genst. d. H. bemerkt: „Offiziere zu schlapp; kein menschliches Eintreten für unrecht Verfolgte." 114 Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 58, Eintrag vom 23.10. 40. 115 Ebd. Vgl. auch Weichs, Erinnerungen, Bd III, S. 15: „Die Kunde von all diesen Dingen verbreitete sich immer mehr unter der Truppe und drückte ausgesprochen auf die Stimmung."

X.

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

445

Oberbefehlshaber im Grenzabschnitt Süd, General Ulex, eine Stellungnahme angefordert116. Gleichzeitig erhielt Blaskowitz aber auch die Anweisung, alle noch nicht erledigten Fragen dieses Komplexes unmittelbar am Ort zu bereinigen und dem Oberbefehlshaber mitzuteilen, „wie sich [die] Dinge nach [der] Aussprache [mit dem Generalgouverneur] gestalten"117. Brauchitsch schien jetzt eine Aussprache mit Himmler persönlich ins Auge zu fassen. Er nahm dazu den 24. Januar in Aussicht. Der Reichsführer SS antwortete auch sehr konziliant, er „fühle sich außerordentlich glücklich darüber, daß er empfangen würde"118. Über diese Unterredung gibt es bisher keine direkten Unterlagen. Einige Eintragungen im Notizbuch des Oberquartiermeisters IV ergeben indessen gewisse Hinweise über die dabei eingenommene Haltung des Oberbefehlshabers des .

.

.

Oberquartiermeister IV erwähnte nämlich am 23. Januar 1940 gegenüber General Reinecke, daß der ObdH am 24. Januar mit Himmler über den Bericht des Generals Blaskowitz sprechen wolle und ihn fragen werde, „ob er auf Verfolgung der Angelegenheit Wert lege"120. Er, Brauchitsch, habe sie seinerseits nicht aufgegriffen, da Blaskowitz selbst mit dem Generalgouverneur „die Dinge durchgesprochen habe"121. Am 29. Januar 1940 notierte der Oberquartiermeister IV sodann: „ObdH muß Westen mitteilen, daß Angelegenheit Osten Ausspruche] Hi[mmler]-Br[auchitsch] hervorgerufen habe, Bisheriges [sei] nicht zu verfolgen, [in] Zukunft alles tun, um Weiteres zu verhindern122." Diese Eintragung zeigt einerseits, wie sehr der ObdH sich von den Oberbefehlshabern der Westfront unter Druck gesetzt fühlte, andererseits wird aber auch ganz deutlich, daß Brauchitsch eine Zuspitzung mit Himmler zu vermeiden trachtete, vielmehr Heeres119. Der

Sie ist wohl in der Blaskowitz-Meldung vom 6. 2. 40 enthalten. Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 58, Eintrag vom 23. 1. 40. 118 Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 59, Eintrag vom 23.1.40; interessant ist, daß Heydrich bei einer Besprechung, die offensichtlich der Vorbereitung des in Aussicht genommenen Treffens Himmlers mit Brauchitsch galt, sich bemühte, den Bericht Blaskowitz' zu erhalten, und erwähnte, Göring besäße einen Abdruck davon. Himmler habe sich auch mit der Bitte um Überlassung des Berichtes schriftlich an Blaskowitz gewandt: ebd. 119 Vgl. zu folgendem Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 59, Eintrag vom 23.1.40 und fol. 62, Eintrag vom 29. 1.40. In Halders Tagebuch findet sich kein Hinweis auf diese Besprechung. Unter dem 23.1.40, S. 170, findet sich lediglich der Eintrag „Groscurth OQ IV: Auseinandersetzung mit Himmler"; in Verbindung mit den Notizen Tippeiskirchs scheint dieser Eintrag wohl auf vorbereitende Erörterungen des Gespräches ObdH-Reichsführer SS zu gehen. Der erwähnte Eintrag bei Tippelskirch bestätigt jedoch, daß sie stattgefunden hat; ebenso Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 20. 1.40: „PA arbeitet wie ich an Besprechungsnotiz für v. Brauchitsch mit Himmler", und vom 23.1.40. An diesem Tag fanden von 8 bis 12.30 Uhr zwischen Groscurth, OQ IV, Halder und ObdH entsprechende vorbereitende Besprechungen statt. 129 118 117

-

Ebd.

Das bestätigt u. a. die oben zit. Eintragung im Bock-Tagebuch, vgl. S. 443 dieser Arbeit. Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 62, Eintrag vom 29.1.40; der letzte Teil der Eintragung ist nicht ganz klar. Er bedeutet aber wohl eher, daß Himmler versprach, alles zu tun, daß die inkriminierten Vorfälle unterblieben. Ein Versprechen des ObdH, er werde alles tun, um zu verhindern, daß der Oberost wieder vorstellig werde, ist wenig wahrscheinlich, zumal Tippelskirch, 121

122

fol. 77,

am

17. 2. 40

erwähnt,

es

kämen wieder „laufend Fälle

von

Oberost".

446

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

im Einvernehmen mit dem Reichsführer SS eine gütliche Regelung anstrebte nach dem Grundsatz: über das Geschehene soll nicht mehr geredet werden, wenn in Zukunft eine Änderung eintritt123. Von einem energischen Durchgreifen, wie Blaskowitz es verlangt hatte und für das Wagner mit seinen Vorbereitungen für die Erklärung des Ausnahmezustandes den Weg gewiesen hatte, war jedoch keine Rede. Soweit wir sehen können, hat Brauchitsch nicht einmal den Gesichtspunkt der Gefährdung militärischer Interessen nach-

drücklich

geltend gemacht.

Auf der anderen Seite muß er doch gespürt haben, daß die bei seiner Aussprache mit Himmler getroffene Regelung kaum geeignet war, die erregten Gemüter zu dämpfen. Jedenfalls wurde Ende Januar Major i. G. Kossmann von der Generalquartiermeisterabteilung mit dem Auftrag nach Polen entsandt, objektiv über die dort herrschenden Zustände zu berichten. Dieser Sonderauftrag ist eigenartig. Man hatte doch bereits eine Fülle von Material von den dortigen militärischen Dienststellen und Kommandobehörden erhalten. Glaubte man diesen Berichten und Beschwerden etwa nicht124? Am 30. Januar berichtete Kossmann dem Chef des Generalstabes des Heeres125, einen Tag später dem Oberquartiermeister IV126. Sein Bericht war „vernichtend"127. Vermutlich aufgrund dieses Berichtes sah sich der Oberbefehlshaber des Heeres dann gezwungen, bei einer neuerlichen, am 2. Februar 1940 stattfindenden Besprechung mit Himmler neben anderen Problemen auch den Komplex Polen wieder zur Sprache zu bringen128. Himmlers Erwiderung war nicht ungeschickt. Er wies auf die „Schwierigkeit" der Aufgabe hin, die der SS und Polizei dort gestellt sei. Sodann gab er zu, daß „Fehler"129 vorgekommen seien. Er habe jedoch diesbezüglich bereits schärfstens durchgegriffen. Es seien SS-Führer auch schon degradiert und sogar erschossen worden. Im übrigen bitte er um Meldung weiterer „Fälle"130. Er habe die „Absicht, [die] schwere Aufgabe so verständig wie möglich mit wenig Blutvergießen durchzuführen. Er [wolle] ein gutes Verhältnis zum Heere"181. Sodann aber ging er seinerseits zum Gegenangriff vor und behauptete, auch das Heer gebe in Polen Anlaß zur Kritik: Die Truppe verschaffe sich Verpflegungszuschüsse durch unerlaubte Schlachtungen; außerdem hätten Offiziere engen Kontakt zu polnischen Großgrundbesitzern, von denen sie sich zum Essen einladen ließen. Das Unangemessene dieser Aufrechnung Morde und Übergriffe mit Schwarzschlachtungen und gesellschaftlichem Verkehr mit Mitgliedern der polnischen Oberschicht -

Vgl. weiter unten die Unterredung Brauchitsch-Himmler vom 2. 2. 40. Vgl. Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 2.1.40: „Kossmann... sollte doch die Dinge objektiv untersuchen Man wollte nichts mehr glauben." 125 Vgl. Halder-Tagebuch, Bd I, S. 176. 128 Vgl. Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 64. 127 So Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 2. 1. 40. 128 Zu dieser Besprechung vgl.: 1) Halder-Tagebuch, Bd I, S. 183 f.; 2) Tippelskirch, Tagesnotizen, Eintrag vom 5.2. 40, fol. 65 f. 129 So im Halder-Tagebuch; bei Tippelskirch, ebd.: „unerhörte Dinge .." 130 So bei Tippelskirch, ebd. 131 So Wiedergabe im Halder-Tagebuch. 123 124

...

.

X. Heeresführung und nationalsozialistisches

Regime im ersten Kriegshalbjahr

447

auf eine Ebene zu stellen scheint den ObdH jedoch keineswegs zu einer entsprechenden Entgegnung veranlaßt zu haben. Im Gegenteil, er bat vielmehr um Mitteilung dieser Fälle und kündigte seinerseits an, der Bitte Himmlers um Nennung weiterer Vorfälle zu entsprechen. Es kann keine Rede davon sein, daß der ObdH den Interessenstandpunkt des Heeres nachdrücklich zur Geltung brachte, noch viel weniger aber von energischem Protest gegen die Maßnahmen in Polen. Seinem Stabe gab Brauchitsch danach lediglich die Weisung, nur die schwerwiegendsten Fälle dem Reichsführer SS mitzuteilen132. Seine „sachlichen" Aussprachen mit Himmler drängten den ObdH in gefährliche Nähe des Anscheines einer Komplizenschaft mit dem obersten SS-Repräsentanten. Voller Empörung vertraute daher Oberstleutnant i. G. Groscurth, einer der temperamentvollsten Befürworter einer durchgreifenden Reaktion gegenüber der SS, seinem Tagebuch an: „Und Herr v. Brauchitsch verhandelt mit Herrn Himmler beim Tee weiter; daß Major Kossmann, ein neutraler objektiver Abgesandter, vernichtend berichtet hat, daß ferner General Ulex die sofortige Ablösung aller Polizei- und SS-Verbände kategorisch gefordert hat, daß zahllose neue Berichte kommen und daß man in Dirschau einen Heereshandwerker aus der Kaserne holt und erschießt, das alles gilt nichts133." Eine Mischung von kühlreservierter, wenn auch formal korrekter Haltung einerseits, und der Scheu, das Problem grundsätzlich aufzugreifen, vielmehr nur auf Abstellung von „Auswüchsen" zu drängen andererseits, bestimmte weiterhin das Verhalten des ObdH. Am 8. Februar 1940 bat Generaloberst v. Bock um Weisung, wie er sich zu einem von Gauleiter Terboven gemachten Vorschlag verhalten solle, Himmler möge Gelegenheit gegeben werden, durch Vorträge beim Westheer bezüglich der Lage in Polen „aufklärend" zu wirken. Ihm wurde vom Oberkommando des Heeres geantwortet: Der ObdH werde die Heeresgruppen und Armeeoberbefehlshaber durch ein persönliches Schreiben über den Stand der Angelegenheit orientieren. Aus der Bemerkung, eine Einladung Himmlers sei unter diesen Umständen nicht mehr nötig, sie sei vielmehr „unerwünscht, um [dieses] Thema endlich ruhen zu lassen"134, spricht überdeutlich die Tendenz der Heeresführung. Aber der Wunsch des ObdH, diesen Unerquicklichkeiten durch stillschweigendes Übergehen zu entrinnen und das Heer herauszuhalten, ging nicht in Erfüllung. Das Verhältnis zwischen dem Generalgouverneur Frank und Generaloberst Blaskowitz wurde immer gespannter135. Vor allem -

Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 65-66, Eintrag vom 5. 2. 40. Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 2. und 14. 2. 40; der Hinweis auf den Vorfall in Dirschau zeigt, daß es nicht nur im Generalgouvernement zu Auseinandersetzungen kam, sondern auch in den beiden neuen „Reichsgauen". 134 Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 71, Eintrag vom 8. 2. 40. 135 Vgl. Broszat, S. 75-76. Generaloberst Blaskowitz hatte außerdem persönlich ein denkbar schlechtes Verhältnis zu Generalgouverneur Frank (vgl. Aufzeichnung des ehem. Militärbefehls132

133

habers im Generalgouvernement, General v. Gienanth, der hierzu bemerkte, Generaloberst Blaskowitz habe Frank verschiedentlich in schulmeisterlicher Art zu belehren und zurechtzuweisen versucht, was bei Franks hochfahrendem Naturell zu entsprechenden Gegenreaktionen geführt habe: Zs. Nr. 237). In diesem Zusammenhang ist auch das Schreiben des damaligen Chefs des Ergänzungsamtes der SS, SS-Brigadeführer Gottlob Berger, an Himmler vom 25.4.40 aufschlußreich, in dem Berger über eine gemeinsame Zusammenkunft mit Frank und Blaskowitz in

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

448

aber wurde der ObdH bei einem Besuch im Hauptquartier des Oberost am 15. Februar 1940 von Blaskowitz in überdeutlicher Weise nochmals mit den dortigen Verhältnissen konfrontiert136. Bereits am 2. Februar hatte General der Artillerie Ulex an Oberost gemeldet: „Die sich gerade in letzter Zeit anhäufenden Gewalttaten der polizeilichen Kräfte zeigen einen ganz unbegreiflichen Mangel menschlichen und sittlichen Empfindens, so daß man geradezu von Vertierung sprechen kann. Dabei glaube ich, daß meiner Dienststelle nur ein kleiner Bruchteil der geschehenen Gewaltakte zur Kenntnis kommt. Es hat den Anschein, daß die Vorgesetzten dieses Treiben im stillen billigen und nicht durchgreifen wollen137." Hierauf bezugnehmend legte daher Blaskowitz dem ObdH nunmehr unmißverständlich die Verhältnisse dar: „Die sich hiermit aufzeigende Gefahr zwingt, zur Frage der Behandlung des polnischen Volkes allgemein Stellung zu nehmen. Es ist abwegig, einige Tausend Juden und Polen, so wie es augenblicklich geschieht, abzuschlachten; denn damit werden angesichts der Masse der Bevölkerung weder die polnische Staatsidee totgesdilagen noch die Juden beseitigt. Im Gegenteil, die Art und Weise des Abschlachtens bringt größten Schaden mit sich." Der feindlichen Propaganda werde damit ein außerordentlich wirksames Material geliefert. Auch erregten die sich in aller Öffentlichkeit abspielenden Gewaltakte gegen Juden bei den Polen „nicht nur tiefsten Abscheu, sondern ebenso großes Mitleid mit der jüdischen Bevölkerung, der der Pole bisher mehr oder weniger feindlich gegenüberstand". In kürzester Zeit werden „unsere Erzfeinde im Ostraum der Pole und der Jude dazu noch besonders unterstützt von der katholischen Kirche sich in ihrem Haß gegen ihre Peiniger auf der ganzen Linie gegen Deutschland zusammenfinden". Vor allem aber erleide das Ansehen der Wehrbesonders bei macht, die gezwungen sei, „diesem Verbrechen tatenlos zuzuschauen der polnischen Bevölkerung eine nicht wiedergutzumachende Einbuße". „Der schlimmste Schaden jedoch" so fuhr Blaskowitz fort -, „der dem deutschen Volkskörper aus den augenblicklichen Zuständen erwachsen wird, ist die maßlose Verrohung und sittliche Verkommenheit, die sich in kürzester Zeit unter wertvollem deutschen Menschenmaterial wie eine Seuche ausbreiten wird. Wenn hohe Amtspersonen der SS und Polizei Gewalttaten und Brutalität verlangen und sie in der Öffentlichkeit belobigen, dann regiert in kürzester Zeit nur noch der Gewalttätige. Überraschend schnell finden sich Gleichgesinnte und charakterlich Angekränkelte zusammen, um, wie es in Polen der Fall ist, ihre tierischen und pathologischen Instinkte auszutoben." Die einzige Möglichkeit, sich dieser Seuche zu erwehren, bestehe darin, „die Schuldigen und ihren Anhang schleunigst der militärischen Führung und Gerichtsbarkeit zu unterstellen"138. Weiter sprach Blaskowitz wie seine Vortragsnotizen zeigen davon, daß sich Polizeioffiziere wie „in einem -

-

...

-

-

-

Krakau feststellte: Meiner Ansicht nach war zu ersehen, daß sich nach der Besprechung Generaloberst Blaskowitz durchaus als Herr der Lage fühlte, als der Mann, der in Wirklichkeit befiehlt" (Nürnberger Dokumente NO-1325). 136 Den Besuch des ObdH „in Spala Anfang Februar 1940" bezeugte der damalige Ic/Oberost, Generalmajor a. D. Langhaeuser (Mitteilung vom 4.12. 1965 an das MGFA). „...

137

138

Jacobsen, Der zweite Weltkrieg, Ebd.

S. 606-607.

X.

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

449

die EinBlutrausch" befunden hätten und daß aufgrund der „Roheiten dieser Bestien SS zu Polizei... zwischen Abscheu und Haß" schwanke139. der und stellung Truppe In das Oberkommando des Heeres zurückgekehrt, fand Brauchitsch bereits wieder neue Meldungen von Oberost vor140. Insbesondere fand er einen Brief des alten Generalfeldmarschalls v. Mackensen vor, der sich zum Sprecher der innerhalb wie außerhalb der Armee herrschenden Empörung über die Untaten in Polen machte. Diese Untaten machten ihm, so schrieb Mackensen, schwere Sorgen hinsichtlich des Geistes der Armee, unter ...

deren Augen sich diese „Plünderungen, Tötungen und andere Ausschreitungen" vollzögen, „von diesen aber nicht verhindert werden können". Der Feldmarschall schloß seinen Appell an den ObdH mit den Worten: „Das Ansehen und die Ehre derselben [d. i. der Armee] darf nicht von den in Rede stehenden Untaten gedungener Untermenschen und freigelassener Verbrecher befleckt werden. Dies zu verhindern ist der Anlaß der mir ausgesprochenen Sorgen und dieses Briefes141." Brauchitsch mußte nun einsehen, daß diese ganze Angelegenheit durch weiteres Stillschweigen nicht mehr zu erledigen war. Es machten sich vielmehr bereits Anzeichen bemerkbar, die auf eine Vertrauenskrise zwischen der höheren Generalität und dem ObdH hindeuteten142. Aber anstatt nun wenigstens zu diesem schon recht späten Zeitpunkt das ganze Problem doch noch grundsätzlich aufzurollen, ging er einen ganz anderen, für seine Haltung in dieser Angelegenheit aufschlußreichen Weg. Er entsandte am 20. Februar 1940 den Oberquartiermeister IV, General v. Tippelskirch, zu Himmler mit der Einladung, vor allen Heeresgruppen- und Armeeoberbefehlshabern zu sprechen, um diesen die „Möglichkeit zu geben, [die] Dinge auch von seiner Seite beleuchtet zu betrachten"143. Brauchitsch hatte also seine am 8. Februar 1940 Bock erteilte Ablehnung, Himmler vor höheren Befehlshabern sprechen zu lassen, revidiert; die bisherige Methode des Stillschweigens war ihm unmöglich gemacht worden. Zu einem energischen Geltendmachen der Interessen des Heeres jedoch konnte er sich nicht entschließen. Vielmehr ermöglichte er es Himmler, bei den höchsten Offizieren um Verständnis für jene grausige „Volkstumspolitik" zu werben. Keineswegs war es so, daß er sich eines Drucks Himmlers oder noch höherer politischer Stellen dabei nicht erwehren konnte und deshalb dem Reichsführer SS eine Plattform zur Darlegung seiner Ideen zu gewähren gezwungen war. Er wollte ganz im Gegenteil durch einen Vortrag Himmlers seine höheren Befehlshaber zum Stillhalten veranlassen, mindestens jedoch sie dadurch beeinflussen, daß sie die Dinge auf sich beruhen ließen. In diesem Sinne betonte Tippelskirch Himmler gegenüber weisungsgemäß, als dieser sich nun seinerseits widerstrebend zeigte und einwandte, er dächte nicht daran, sich vor einem so großen Kreis „zu entschuldigen", 139

Ebd.

149

Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 77, Eintrag vom

17. 2.40. Nachlaß Mackensen, BA/MA H 08-39/314: Brief Mackensens an Brauchitsch vom 14.2.1940 (vgl. Dok.-Anh. Nr. 50). 142 Das geht z. B. aus den vom Verf. demnächst zu veröffentlichenden Tagebuch-Aufzeichnungen des Generalfeldmarschalls Wilhelm Ritter v. Leeb hervor (fortan zit. Leeb, Aufzeichnungen). 143 Hierzu und zum folgenden vgl. Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 78 f., Eintrag vom 20. 2. 40 (Aufzeichnung über seine Unterredung mit Himmler). 141

m

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

450

das sei auch gar nicht beabsichtigt, der Reichsführer SS solle vielmehr „aufklären". Und als Himmler dann entgegnete, er ziehe es vor, vor „Männern, zu denen er Vertrauen habe" hier nannte er Bock, Reichenau, Kluge zu sprechen und unter diesen seine Gedanken zu verbreiten, antwortete der Abgesandte des ObdH, es gehe darum, „gerade andere, die skeptischer sind, auf [zu]klären". Damit aber gab er Himmler nun das Stichwort, um sich heftig über einige Befehlshaber zu beklagen. Er würde gewisse Heeresgruppen und Armeen nie besuchen. Leeb beispielsweise sei „ein hoffnungsloser Fall", er würde ihn nie verstehen; auch Küchler, der gesagt habe, die SS sei ein Schandfleck der Armee, wolle er nicht sehen; ebenso wolle er vor Blaskowitz und Ulex nicht sprechen; Ulex sei ein unbelehrbarer Vertreter der Bekenntnisfront. Er halte eben einen Ausgleich mit manchen Persönlichkeiten für ausgeschlossen. Der Oberquartiermeister IV widersprach dieser Bewertung höherer Offiziere scharf und erwiderte, Himmler urteile zu einseitig. Andererseits betonte er ausgleichend, es gebe gewiß Unterschiede in der Weltanschauung, „z. B. auf religiösem Gebiet", aber man müsse sich doch trotzdem verstehen. Ähnlich an der Sache vorbei argumentierte er, als das Gespräch auf die Vorgänge in Polen kam: „Nicht [die] Härte mißfalle uns, sondern [die] Gefahr der Verrohung." Gewiß konnte Tippelskirch als weisungsgebundener Beauftragter des ObdH bei dieser Gelegenheit schlecht die Dinge beim Namen nennen, auch wenn er persönlich vielleicht anders dachte. Aber Himmler hatte durchaus Brauchitschs Haltung richtig erkannt, denn er betonte abschließend, er „anerkenne durchaus [die] gute Absicht" des ObdH. Aber er lehnte es jetzt seinerseits ab, vor den Oberbefehlshabern zu sprechen. Er würde einen kleineren Kreis von ihm genehmen Offizieren und Parteirepräsentanten, wie z. B. Gauleiter Terboven, vorziehen. Damit hatte sich der „gutwillige" ObdH eine peinliche Abfuhr geholt. Das Dilemma, in dem er sich befand, war keineswegs gelöst. Die „Lösung" kam indessen alsbald von einer anderen Seite, weniger aufgrund von Protesten seitens des Heeres als vielmehr wegen immer stärker werdender Differenzen unter etlichen Parteirepräsentanten, die sich in den Ostgebieten über Kompetenz- und Richtungsfragen stritten144. Am 29. Februar 1940 berief Göring eine Sitzung ein, an der neben anderen Frank, Himmler, Schwerin-Krosigk und vier Gauleiter teilnahmen145. Göring verkündete Richtlinien über die Behandlung des Ostproblems und stellte als Grundregel heraus, oberstes Ziel aller im Osten zu treffenden Maßnahmen müsse die Stärkung des deutschen Kriegspotentials sein146. In der Folgezeit sollte daher in den Ostgebieten nach diesem Grundsatz verfahren werden147. Dementsprechend müßten sich auch die im be-

-

144

So Frank mit Himmler wegen der Abschiebung von Polen und Juden im Generalgouverneoder auch zwischen der Zivilverwaltung und SS-Stellen. Vgl. dazu Broszat und Piotrowski,

ment

passim. 145

Bericht über diese Sitzung: Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 86 f., Eintrag vom 20.2.40 nadi einer Mitteilung des Generals Reinecke; vgl. auch Piotrowski, S. 120, und Broszat, S. 143 f. 146 Vgl. Piotrowski, S. 120; bei Tippelskirch, Tagesnotizen, ebd. heißt es: „nicht totschlagen, sondern Stärkung [des] deutschen Kriegspotentials". 147 Vgl. die entsprechenden Ausführungen Franks auf einer Sitzung der Leitung des Generalgouvernements vom 8. 3. 40: „Ich habe zu diesem Zweck auf ausdrücklichen Befehl des Führers

X.

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

451

Gebiet rivalisierenden Kräfte bis zu einem gewissen Grade arrangieren und ihre bisherigen Streitigkeiten auf ein erträgliches Maß vermindern. Diese Gesamtentwicklung hat Himmler offensichtlich veranlaßt, ungeachtet seiner ablehnenden Haltung vom 2. Februar, nunmehr beim ObdH wiederum um die Gelegenheit zu bitten, seinen Vortrag vor höheren Militärs doch noch halten zu können. Er akzeptierte auch alle vom ObdH gewünschten Auflagen, insbesondere hinsichtlich der Zusammensetzung des Zuhörerkreises148. Brauchitsch ließ ihm am 2. März 1940 antworten149: „Der ObdH hält nach wie vor an seiner Absicht fest, dem Reichsführer SS die Möglichkeit zu geben, über die Aufgaben der deutschen Polizei und SS im Osten, ihre Durchführung und die dort für die Zukunft zu lösenden Probleme zu sprechen150." Der Vortrag Himmlers fand sodann am 13. März 1940 vor den höheren Befehlshabern des Heeres in Koblenz statt. Über den Inhalt seiner Ausführungen sind wir im einzelnen nicht genau unterrichtet151. Einer der Anwesenden, General Ulex, berichtet, Himmler habe unter anderem gesagt: „In diesem Gremium der höchsten Offiziere des Heeres kann ich es wohl offen aussprechen: Ich tue nichts, was der Führer nicht weiß152." Damit wollte der Reichsführer SS gewiß der ihm unbequemen Kritik der Heeresgeneralität und „dem damit verknüpften Verdacht eigenmächtiger Brutalität'"153 entgegenwirken. Brauchitsch mochte nun die Hoffnung haben, daß die ihm unbequemen Vorstellungen von Seiten einiger Generäle aufhörten oder wenigstens gemindert würden, nachdem Himmler ansetzten

auch die unmittelbaren Exekutionen von meiner vorherigen Genehmigung abhängig gemacht... Massenweise Exekutionen sollen hinfort unterbleiben." (Zit. nach Piotrowski, S. 61; vgl. auch die Ausführungen Franks am 30. 5. 40, in: IMT XXIX, S. 440 ff.) 148 Vortragsnotiz vom 3. 3. 40 für ObdH: vgl. Dok.-Anh. Nr. 49. 149 Vortragsnotiz für Besprechung Gruppenführer Wolff Major i. G. Radke am 2. 3. 40; vgl. Dok.-Anh. Nr. 48. Am gleichen Tag beantwortete Brauchitsch auch den Brief Mackensens vom 14.2.40 (siehe oben S. 449). Wortlaut des Antwortbriefes: Dok.-Anh. Nr. 51. Mackensen teilte diese Antwort dem Generalobersten Beck und dem Preußischen Finanzminister Popitz mit, die beide aktive Oppositionelle vermutlich zum Kreise derer gehörten, die den Feldmarschall auf die Zustände in Polen hingewiesen hatten. Becks Antwortbrief: Dok.-Anh. Nr. 52. 159 Aus dieser Vortragsnotiz geht u. a. auch hervor, wie stark der ObdH bemüht war, diese Fragen, denen er „eine derartige Bedeutung beifmißt]", einheitlich und zentral zu erörtern. Im übrigen findet sich auf diesem Dokument eine handschriftliche Randbemerkung mit dem ominösen Inhalt: „Da diese Fragen Probleme betreffen, deren Verwirklichung erst in der Zukunft möglich ist, ist es erforderlich, den Kreis der hierüber zu orientierenden Persönlichkeiten sehr eng zu halten." 151 Im Bock-Tagebuch, Eintrag vom 13. 3. 40 findet sich lediglich die Bemerkung: „Am Abend Vortrag des Reichsführers Himmler über das Ostproblem und die zu seiner Lösung beabsichtigten Maßnahmen." Im Halder-Tagebuch, Bd I, S. 229, Eintrag vom 13.3.40, steht: „Abends Vortrag Himmler. Dann Zusammensein im Kasino." Bei Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 93, Eintrag vom 13. bis 14.3.40: „Koblenz-Himmler Vortrag." Eine kurze Inhaltswiedergabe auch in BA/MA -

-

-

H 08-19/8 (Weichs, Erinnerungen, S. 15). 152 Zs. Nr. 626; Weichs, Erinnerungen, Bd

richten

aus

III, S. 15, bemerkt, Himmler habe versucht, die NachPolen auf Gerüchte zurückzuführen. Im übrigen habe er immer die Befehle des Führers

ausgeführt. So Krausnick, Morde,

153

S. 205.

X.

452

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

gedeutet hatte, daß der Oberste Kriegsherr selbst hinter den Maßnahmen stehe164. Indessen kam es keineswegs so, wie vielleicht der ObdH gehofft haben mag, nämlich daß man jetzt die Dinge auf sich beruhen ließ. Die Querelen zwischen Generalgouverneur, Zivilverwaltung, SS und Heer gingen weiter. Anfang April berichtete der Chef des Stabes von Oberost an das Oberkommando des Heeres über weitere Auseinandersetzungen zwischen Frank und Blaskowitz155, da der Generalgouverneur die Heeresdienststellen über seine Maßnahmen unzureichend orientiere. Oberost beabsichtige, dem ObdH demnächst entsprechendes Material zuzuleiten156. Gewiß gingen die Beanstandungen und Schwierigkeiten zunächst weniger als zuvor auf die verbrecherischen Tatbestände, sondern mehr auf Kompetenz-, Koordinierungs- und sachliche Verwaltungsprobleme zurück. Darin machten sich auch u. a. die neuen Weisungen, wie sie auf der erwähnten Besprechung bei Göring ausgesprochen worden waren, bemerkbar. Auf der anderen Seite jedoch steigerte, neben einigen Parteidienststellen, vor allem der Generalgouverneur seine Intrigen gegen die Repräsentanten des Heeres im besetzten Gebiet157. Es gelang ihm, bei Hitler im Mai Blaskowitz zu erreichen158 und zu verhindern, daß der als Parteifeind verschriene General Ulex dessen Nachfolger wurde159. Zudem zeigte sich die Führung des Heeres im Verlaufe der immer intensiveren Vorbereitungen für die Westoffensive und vollends nach Beginn des Angriffes im Westen (10. Mai 1940) noch desinteressierter als bisher an der Verantwortung für die in Polen betriebene Politik160. Diese Bindung der Heeresführung, die infolge des alle ihre Kräfte in Anspruch nehmenden Feldzuges im Westen eintrat, als auch die damit gegebene Ablenkung des öffentlichen 1940 die

Versetzung

von

Interesses an der polnischen Frage nutzten die Partei- und Verwaltungsdienststellen in Polen sogleich aus, um ihren „Volkstumskampf" mit um so größerer Intensität wieder aufzunehmen. Ab 16. Mai 1940 begann im Generalgouvernement eine großangelegte „Sicherheitsoperation", die wieder zu umfangreichen Verhaftungen und Erschießungen „potentieller Gegner"161 führte. Entsprechend erklärte Frank auf einer Sitzung am 30. Mai 154 Vgl. die Aussage von General Ulex, Zs. Nr. 626: „Daß couvrierte, hat mich allerdings stark gewundert."

er

[= Himmler] das

so

offen de-

Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 94, Eintrag vom 15. und 16. 3. 40. Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 101, Eintrag vom 3.4.40. 157 Vgl. für Februar 1940 die Eintragung des Heeresadjutanten Hitlers, Hauptmann Engel, in seinem Tagebuch: „Reichsminister Frank trägt über Lage im Generalgouvernement Polen vor... Übelste Hetze gegen Militärbefehlshaber, Feldkommandanten usw. Diese störten die ,Befriedung', Kommandeure seien instinktlos, hinderten ihn und seine Stellen häufig an Durchführung der übertragenen Aufgaben. Er bäte um weitestgehende Ausschaltung des Militärs, vor allem in politischen Dingen, da diese ausgesprochen parteifeindliche Einstellung hätten. F[ührer] bekam Wutausbruch, der auch in der Lagebesprechung anhielt" ; Abschr. im Institut für Zeitgeschichte, F. 50, 155 156

zit. nach

S. 76, Anm. 2. weiter oben S. 438 dieser Arbeit Hitlers Haltung Himmlers Beurteilung des Oberost oben S. 450 dieser Arbeit. 159 Vgl. oben S. 450 dieser Arbeit, no Vgl. hierzu auch Broszat, S. 76. 161 Die sogenannte AB-Aktion. 158

Vgl.

Broszat,

zu

Blaskowitz; vgl. auch bezüglich

X.

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

453

er habe mit Absicht diese Sitzung nach Beginn der Offen1940 ganz offen162: sive im Westen angesetzt, denn nun könne man alle Fragen polizeilicher Natur viel freier und in den geringsten Einzelheiten besprechen, weil im Augenblick des Beginns dieser Offensive das Interesse der Welt an den Ereignissen im Generalgouvernement erloschen sei... er könne die vom Führer vorgezeichnete Polenpolitik im Generalgouvernement nur mit der alten nationalsozialistischen Kämpfergarde der Polizei und SS machen, nicht mit der Wehrmacht, und überhaupt könne man auch nur im engsten Kreise über diese Dinge reden. Vor ihnen allen stünden äußerst schwere und verantwortliche Aufgaben." In diesem Augenblick, so erklärte Frank weiter, sei die „Greuelpropaganda in der Welt" vollkommen gleichgültig. Man müsse nun den Augenblick benutzen und ein außerordentliches Befriedungsprogramm durchführen, dessen Zweck es sei, „mit der Masse der in Händen der Polizei befindlichen aufrührerischen Widerstandspolitiker und sonst politisch verdächtigen Individuen in beschleunigtem Tempo Schluß zu machen...". Der Führer habe ihm gesagt, berichtete der Generalgouverneur: „Was wir jetzt an Führerschicht in Polen festgestellt haben, das ist zu liquidieren, was wieder nachwächst, ist von uns sicherzustellen und in einem entsprechenden Zeitraum wieder wegzuschaffen." In der Folgezeit kam das Desinteresse an den Verhältnissen in Polen immer deutlicher zum Ausdruck, zumal nach dem überwältigenden Erfolg im Westen auch eine für die Mehrzahl der Offiziere völlig veränderte psychologische Lage sich ergeben hatte. Entsprechende Klagen und Beschwerden örtlicher Befehlshaber fanden nicht nur keine Resonanz mehr, sie wurden vielmehr teilweise sogar schroff zurückgewiesen. So erhielt der Militärbefehlshaber im Generalgouvernement, General v. Gienanth, im Juli 1940 von Keitel auf seine mehrfachen Berichte über Exzesse von Polizei und SS gegen Juden und Polen „einen groben Brief" und wurde aufgefordert, „endlich aufzuhören, sich um Dinge zu kümmern, die ihn nichts angingen"163. Die Haltung achselzuckenden Wegschauens griff dadurch verständlicherweise stark um sich164. Wie die Probleme, die durch jene in den besetzten polnischen Gebieten herrschenden Verhältnisse entstanden, von seiten des Oberkommandos des Heeres, das heißt letztlich durch den ObdH, behandelt wurden, war symptomatisch für die damalige Position des „...

Heeres.

Hierzu und zum folgenden Piotrowski, S. 64 f.; dort auch die entsprechenden Zitate. Zs. Nr. 237; vgl. auch Broszat, S. 76, Anm. 4. 164 Ebd. Vgl. eine Instruktion des Oberbefehlshabers der 18. Armee, Generaloberst v. Küchler, an seine Offiziere vom 20.8.40 (Nürnberg Dok. NOKW 1531): „...Ich bitte ferner dahin zu wirken, daß sich jeder Soldat der Armee, besonders der Offizier, der Kritik an dem im Generalgouvernement durchgeführten Volkstumskampf, z. B. Behandlung der polnischen Minderheiten [sie!], der Juden und kirchlichen Dinge enthält. Der an der Ostgrenze seit Jahrhunderten tobende Volkstumskampf bedarf zur endgültigen völkischen Lösung einmaliger, scharf durchgeführter Maßnahmen. Bestimmte Verbände der Partei und des Staates sind mit der Durchführung dieses Volkstumskampfes im Osten beauftragt worden. Der Soldat hat sich daher aus diesen Aufgaben anderer Verbände herauszuhalten. Er darf sich auch nicht durch Kritik in diese Aufgaben einmischen ..." 162

163

-

454

X.

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

Diese wurde vor allem durch zwei Momente grundlegend bestimmt. Einmal zeigte sich mit ganzer Schärfe, daß ein staatliches Organ wie die bewaffnete Macht und noch viel mehr ein einzelner Wehrmachtsteil nicht in der Lage war, ohne Rückgriff auf eine übergeordnete politische Instanz oder auf irgendeine andere politische Kraft sich Entwicklungen zu widersetzen, die von der politischen Leitung in Gang gesetzt worden waren, selbst dann nicht, wenn die Armee entweder in unliebsame Ereignisse mithineingezogen oder mindestens stark betroffen wurde. Prinzipiell bestand für den ObdH 1939/40 keine derartige Möglichkeit mehr, da es weder einen von der Reichsführung getrennten Reichspräsidenten (als Obersten Befehlshaber) noch einen Kriegsminister gab, der politisch verantwortlich war. Eine Instanz, die auf der politischen Ebene zur Wahrung der Interessen des Heeres oder mehr noch des Staates gegenüber einer Staatsführung oder auch nur einer Staatspartei hätte angerufen werden können, bestand nicht mehr. Vielmehr stand die Heeresleitung allein einer Staatsführung gegenüber, deren Spitze sowohl die Funktionen des Reichspräsidenten, des Obersten Befehlshabers der Streitkräfte als auch des Kriegsministers und Wehrmachtsoberbefehlshabers als auch schließlich noch des Chefs der Staatspartei in sich vereinte. Sodann war dem ObdH bewußt, daß er weder vom Oberkommando der Wehrmacht noch von Seiten der beiden anderen Wehrmachtteile irgendwelche Unterstützung erwarten konnte. Keitels Reaktion auf den Protest von seiten des Admirais Canaris beweist die Richtigkeit dieser Einschätzung. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit den Oberkommandos der beiden anderen Wehrmachtteile, die weitgehend beziehungslos neben dem Heer existierten, bestand keine Chance, sie zu einem gemeinsamen Schritt bei Hitler zu bewegen. Hier zeigen sich die Folgen des Fehlens einer einheitlichen und sinnvoll durchgegliederten Führungsspitzenorganisation. Als dem ObdH daher Mitte September von Hitler die Absicht einer brutalen „Volkstumspolitik" mitgeteilt und die Weisung erteilt wurde, das Heer habe sich herauszuhalten, da stand er vor der Alternative, dies entweder zu akzeptieren oder aber Protest zu erheben mit der Konsequenz falls dies zu keinem Erfolg führte zurückzutreten. Ein Rücktritt jedoch war für einen der höchsten Offiziere mitten in einem Feldzug aufgrund traditioneller Bindungen und Auffassungen ein Schritt, dem vielfache Hemmungen im Wege standen. In diese Überlegung spielt bereits das zweite, mehr subjektiv gefärbte Moment hinein, das mit der Persönlichkeit des ObdH eng verbunden ist. Brauchitsch akzeptierte schließlich wenn auch mit Unbehagen und innerer Empörung die Willenskundgebung Hitlers über die beabsichtigte Polenpolitik. Anfangs mögen ihm vielleicht die Konsequenzen noch nicht ganz klar gewesen sein; sehr bald jedoch konnte Aber darüber keine Illusionen mehr gehabt haben. Die Gründe seines Verhaltens Vornicht aber frontales und und Verzögerungsversuche, grundsätzliches schwächungsgehen sind vielschichtig. Einmal resultierte es aus seiner Auffassung von der Gesamtlage. Er hielt das Heer kaum mehr für ein Machtinstrument165, auf das gestützt er notfalls auch dem Staatschef Paroli zu bieten in der Lage gewesen wäre. Hierin kommt der -

-

-

-

-

-

-

-

165

Nach Ansicht

(Mitteilung

vom

von

Generalleutnant a.D. Siewert, damals 1. Generalstabsoffizier beim ObdH an das MGFA).

19. 7. 66

X.

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

455

Verzicht des ObdH auf eine eigenständige Rolle der Armee als politischem Faktor zum Ausdruck, wie sie noch Reichenau, Fritsch und Beck vorgeschwebt hatte. Sodann stand hinter Brauchitschs Verhalten die Scheu, ganz allgemein wie insbesondere bei den im polnischen Bereich zur Diskussion stehenden Fragen gegen den Staatschef und Obersten Befehlshaber direkt anzugehen. Hier mögen persönliche Motive ebenso mitgesprochen haben wie Elemente traditioneller Loyalitätsempfindungen. In dem Bestreben, den Obersten Befehlshaber auf keinen Fall in den Konflikt hineinzuziehen, versuchte er abzubiegen, zu verhindern, zu mildern. Das zwang ihn zur Auseinandersetzung wie zur Zusammenarbeit mit Himmler und Heydrich; das konnte vor allem keinerlei endgültigen und durchschlagenden Erfolg versprechen. Im Verlauf der weiteren Entwicklung glaubte sich Brauchitsch schließlich auch nicht mehr in der Lage, in persönlicher Auseinandersetzung mit Hitler das Problem frontal anzupacken, vollends nicht seit jenem heftigen Zusammenstoß vom 5. November, der ihn nervlich tief erschüttert hatte. Man wird dabei ebenfalls zu bedenken haben, daß spätestens ab Oktober 1939 das Ringen um die Durchführung der Westoffensive den ObdH und den Chef des Generalstabes des Heeres in einem Maße beanspruchten, daß die Möglichkeit eines bewußten oder unbewußten Ausweichens gegenüber anderen Streitfragen mindestens mit in Rechnung zu stellen ist. Dies alles wird man voraussetzen und im Auge behalten müssen, wenn man das tatsächliche Verhalten des ObdH, insbesondere sein taktisches Vorgehen beurteilen will. Auf dieser Ebene sind zweifellos zahlreiche Ungeschicklichkeiten, methodische Fehler und Unterlassungen zu verzeichnen, durch die jener gewiß geringe Aktionspielraum der Heeresleitung noch mehr eingeschränkt worden ist. Anstatt des peinlichen Distanzierens, Wegsehens, stillschweigenden Übergehens, des halb-widerwillig, halb-erleichtert erfolgten Rückzuges aus diesen „Unerquicklichkeiten" hätten noch mancherlei Möglichkeiten genutzt werden können. Warum wurden vom Oberkommando des Heeres den nichtbetroffenen und daher ahnungslosen Heeresgruppen- und Armeeoberbefehlshabern, den höchsten Repräsentanten des Heeres, die Vorgänge in Polen nicht schonungslos mitgeteilt und wenigstens der Versuch eines Kollektivprotestes unternommen? Und warum nutzte der ObdH als sie schließlich durch Indiskretionen doch davon erfahren hatten und das Oberkommando des Heeres mit Anfragen bedrängten die entstandene Empörung nicht aus, um unter Hinweis auf eine sich abzeichnende Vertrauenskrise der Generalität gegenüber der politischen Führung wenigstens den auch moralisch gebotenen Versuch zu machen, die Verhältnisse zu ändern? Aufgrund seiner Auffassung von Rolle und Gewicht der Armee und wohl auch in Erkenntnis seiner eigenen mangelnden Durchschlags- und Überzeugungskraft meinte er, sich von untergebenen Befehlshabern und Beratern nicht auf Wege drängen lassen zu dürfen, auf denen er sich nicht durchzusetzen vermochte. Daher lavierte er, und schließlich kam es so weit, daß sich sogar eine Vertrauenskrise zwischen Truppenführung und Heeresleitung abzeichnete. Darum ging er auch nicht auf die Anregung des Chefs des Stabes der Generalquartiermeisterabteilung ein, unter Berufung auf die bedrohten militärischen Interessen Material dazu hatten die Oberbefehlshaber in Fülle eingereicht den militärischen Ausnahmezustand in Polen zu verkünden und so

prinzipielle

-

-

-

gleichsam legal

-

die

Möglichkeit

zu

schaffen, dort mit harter Hand die Ordnung wieder-

X. Heeresführung und nationalsozialistisches

456

Regime im ersten Kriegshalbjahr

herzustellen. Der darauf abzielende Vorwurf Keitels166 ist gewiß nidit ganz von der Hand zu weisen. Wahrscheinlich aber hätte nach Abschluß des Feldzuges ein derartiges Handeln zu einem Zusammenstoß mit Hitler geführt, und einen solchen meinte Brauchitsch wohl nicht aussitzen zu können; andererseits ist aber auch nicht ausgeschlossen, daß Himmler und Heydrich wenigstens vorläufig zurückgesteckt hätten; denn immerhin war das Heer nicht die einzige Seite, die an Polizei und SS Kritik übte. Außerdem lag der Heeresführung bereits gewichtiges Material vor, aus dem hervorging, daß die deutschen Maßnahmen in Polen nicht nur auf der Seite der Kriegsgegner, sondern vor allem auch bei neutralen Mächten Entrüstung und Empörung hervorgerufen hatten167. Eine Berufung auf die Wahrung deutschen Staatsinteresses hätte einem wie auch immer gearteten Vorgehen der Heeresleitung neben dem Argument der Wahrung militärischer Interessen noch zusätzliches Gewicht gegeben. Indessen weder dieses Moment noch das nahezu beständige Drängen verschiedener Mitarbeiter, unter denen zeitweilig auch der Chef des Generalstabes des Heeres war, vermochten Brauchitsch zu einer energischen Aktivität zu veranlassen. Im Gegenteil, auch bei anderen Fragenkomplexen bewies er gegenüber dem großen Gegenspieler des Heeres, der SS, eine Haltung, die ganz abgesehen von ihrer politisch-moralischen Relevanz das Gewicht und die Position der Armee zu schwächen -

-

geeignet war.

Zu einer Zeit, als in Polen die Auseinandersetzungen der dortigen Heeresdienststellen mit Polizei und SS sich immer mehr zuspitzten, erhielt das Oberkommando des Heeres Meldungen über einen nachdrücklichen Ausbau der bewaffneten SS-Verbände. Nachdem Hitler es bereits Mitte September Himmlers Polizei ermöglicht hatte, „trotz größten Widerstandes der Wehrmacht" 26 000 Wehrpflichtige unter Anrechnung ihrer Wehrdienstpflicht einzuberufen168, erfuhr das Oberkommando des Heeres in der zweiten Monatshälfte des Januar 1940 durch einen Zufall, daß Himmler anscheinend die Aufstellung von SS-Korpstruppen plante sowie sich bemühte, alle im Heer dienenden Mitglieder der SS herauszuziehen169. Das rief beim Generalstab des Heeres erhebliche Auf-

S. 222: „Dafür findet sich in den Handakten Nelte (Rußland-Greuel) eine AufFeldmarschalls des zu dem Dok. Ju K 38: „Bericht der Adjutantur ObdH an die Adzeichnung jutantur der Wehrm. b. F., z. Hd. Hauptmann Engel, Berlin, v. 10.11.1939" bezüglich Erschießungen von Juden und Polen unter Leitung eines SS-Sturmbannführers auf dem Judenfriedhof von Schwetz. Vgl. dazu Anm. 89 dieses Kapitels. 167 Vgl. Broszat, S. 157 ff., und den Bericht eines V-Mannes der Abwehr über seine Gespräche im Vatikan von Ende Oktober-Anfang November, in: BA/MA H 08-104/3 (Nachlaß Gros166

Vgl. Keitel,

curth). 168

Reichssicherheitshauptamt, Stabskanzlei I 11, Amtschefbesprechung am 12.9.39 (BA/MA vgl. hierzu auch Buchheim, Die SS Das Herrschaftsinstrument, S. 209, und Stein,

R 58/825); S. 33 ff.

-

Bd I, S. 70, Eintrag vom 22.1.40 und Tippelskirch, Tagesnotizen, Eintrag 22.1.40: „Starke Vermehrung SS, Korpstruppen, Nachr.Abt. Pi[oniere] 2000 MG bestellt ohne Wissen Heer ..." Vgl. auch Hans-Günther Seraphim, SS-Verfügungstruppe und Wehrmacht, Das Herrschaftsinstrument, S. 211, und in: WWR5 (1955), S. 583 ff. sowie Buchheim, die SS 189

Halder-Tagebuch,

vom

-

X.

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

457

Heeresgruppe B, aus deren Verbänden bereits SSAngehörige herausgezogen wurden, schon von der Bildung eines „4. Wehrmachtteiles" geregung

hervor, zumal der

Ic der

sprochen hatte170.

Der Oberquartiermeister IV, der beauftragt war, die Entwicklung zu notierte eine Woche später in seinem Tagebuch: „SS macht sich breit, politibeobachten, sche] Kampftruppe... was ist aus [der] SS geworden?!171" Das Oberkommando des Heeres richtete daher Ende Januar 1940 einen Brief an den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, in dem es entsprechendes Material vorlegte172. In dieser ganzen Angelegenheit schien jedoch wieder einmal die Zusammenarbeit zwischen Oberkommando der Wehrmacht und Oberkommando des Heeres sehr zum Schaden der bewaffneten Macht nicht zu funktionieren173. Es kam daher zu keiner gemeinsamen Abwehrfront gegenüber den Ambitionen der SS, obwohl Keitels Oberkommando der Wehrmacht bereits seit Ende des Polenfeldzuges hartnäckig deren Eindämmung betrieben hatte; es kam offensichtlich nicht einmal zu einem Informationsaustausch zwischen Oberkommando der Wehrmacht und Oberkommando des Heeres in diesen Fragen. So verfügte der ObdH bei einer Besprechung174 mit Himmler am 3. Februar 1940 nicht über ausreichende Nachrichten, um des Reichsführers Behauptung zu widerlegen, er habe keinerlei weitergehende Absichten, er wolle gar kein Heer neben dem Heer aufbauen, es sei ihm lediglich „darum zu tun, die in der Polizei-Division befindlichen Personaleinheiten des Heeres durch eigene zu ersetzen"175. Er sagte zu, sich stets mit dem ObdH über eventuelle Aufstellungsvorhaben ins Benehmen zu setzen176. Zwei Tage später jedoch notierte der Chef des Generalstabes des Heeres in seinem Tagebuch wiederum: „SS mustert angeblich in großem Umfang bis Jahrgang 23 (mehrere Jahrgänge vor uns). Partei gibt Werbezettel aus, in denen bei rechtzeitiger Anmeldung Befreiung vom Heeresdienst und Verwendung in Polen in Aussicht gestellt werden Weitzel spricht von 100 000 Mann Aushebung SS177." Bis in den März hinein jedoch tappte das Oberkommando des Heeres im großen und ganzen wegen der SS-Vermehrung im dunkeln178. Erst Ende März erfuhr der ObdH offiziell, daß wesentliche SS-Neuaufstellungen geplant seien. Anstatt nunmehr diesen offenkundigen Bruch des von Himmler am 5. Februar 1940 abgegebenen Versprechens zum Anlaß einer Demarche zu machen, schrieb Brauchitsch dem Reichsführer SS einen .

.

.

Es ging tatsächlich um die Vermehrung bzw. Ausgestaltung der SS-VerfügungsSS-Totenkopf-Divisionen. Tippelskirch, ebd. Ebd. Eintrag vom 29. 1. 40. Vgl. Halder-Tagebuch, Bd I, S. 176 f., Einträge vom 30. und 31.1. 40.

Stein, S. 50 ff. bzw. 170 171

172 173 174 175

Vgl. Stein, S. 41. Halder-Tagebuch, Bd I, S. 184, Eintrag vom 5. 2. 40; vgl. auch Stein, S. 31. Brief Brauchitschs

an

Himmler, Nr. 523/40 geh.

(BA NS 19/132). Besprechung 176

vom

30. 3.

1940, mit einem Resume der

o. a.

Ebd.

177 178

Haider-Tagebuch, Bd I, S. 186, Eintrag vom 7. 2. 40. Vgl. Halder-Tagebuch, Bd I, S. 224, Eintrag vom 8.3.40: „Eindruck

durch

UK-Anträge."

im Westen,

SS-Werbung

X.

458

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

schlug „im Interesse einer reibungslosen Zusammenarbeit"170 eine persönliche Aussprache vor. Das lag ganz im Rahmen der Ausgleichsbemühungen des ObdH gegenüber Himmler. Hatte Brauchitsch doch auch Mitte des Monats Himmler zu der höheren Generalität über das polnische Problem sprechen lassen. Bei der dann Anfang April stattfindenden Aussprache scheint Himmler sich nicht festgelegt, sondern versprochen höflichen Brief und

zu

haben, den ObdH brieflich genauer über seine Pläne zu orientieren. In einem Schreiben 17. April 1940180 teilte er sodann mit, daß er neben den bisher bestehenden SS-Ver-

vom

bänden keine „neuen Einheiten aufzustellen" beabsichtige181. Die bestehenden Verbände sollten jedoch personell wie materiell verbessert werden. Diese geplanten Verbesserungen umfaßten allerdings gerade jene Waffengattungen (Artillerie, Flak, Pioniere, Nachrichtentruppe, Aufklärungsabteilungen, rückwärtige Dienste), die später als Korpstruppen verwandt werden konnten oder wie die vorgesehene Verstärkung schwerer Infanteriewaffen und die Vergrößerung von Ersatzeinheiten den Grundstock zur Aufstellung neuer Verbände zu bilden geeignet waren. Er deutete weiterhin die Möglichkeit einer „Aufstellung neuer Einheiten" an, wenn „die germanischen Länder182 sich geeignet für die Gewinnung einer erheblichen Anzahl SS-fähiger und damit rassisch und politisch zuverlässiger Freiwilliger in der Zukunft erweisen" sollten. Diese aber würden „ja nicht durch allgemeine Wehrpflicht, sondern nur durch politische Beeinflussung gewonnen werden"183. Daraus könnte die Aufstellung neuer Einheiten „ohne jede Schädigung des Gesamtkontingentes der deutschen Wehrpflichtigen ermöglicht werden"184. Daß so auf einigen Umwegen ein erheblicher Ausbau der SS, mit der man seit Monaten wegen der Zustände in Polen Schwierigkeiten hatte, angestrebt wurde, hat den ObdH keineswegs zu energischem Widerstand dagegen veranlaßt. Er stimmte vielmehr sogar einer Abgabe des für die oben erwähnte materielle Verbesserung benötigten Heeresmaterials an die SS zu, wofür Himmler sich, nicht so zurückhaltend im Umgang mit Hitler wie Brauchitsch, unterdessen wenigstens teilweise einen „Führerbefehl" erwirkt hatte. Kaum eine Woche später konnte der Reidisführer SS sogar einen Befehl Hitlers zur Aufstellung eines SS-Regimentes „Nordland" vorweisen, für das das Heer wiederum die materielle Ausstattung zu -

-

vgl. auch den folgenden Passus: „Sie hatten mir außerdem zugesagt, sich in etwaige Aufstellungsvorhaben mit mir ins Benehmen setzen zu wollen. Aus einer mir vorgelegten Meldung habe ich ersehen, daß von der SS schon jetzt weitere Neuaufstellungen geplant sind, die den bisher festgelegten Rahmen nicht unwesentlich überschreiten. Ich wäre Ihnen, sehr verehrter Herr Reichsführer, dankbar gewesen, wenn Sie mich, wie seinerzeit vereinbart, über diese Ihre Absicht unterrichtet hätten. Da ich es im Interesse einer reibungslosen Zusammenarbeit für erforderlich halte, daß wir uns vor endgültigen Entscheidungen über diese Fragen aussprechen, schlage ich nun vor, daß wir uns am Sonnabend, den 6.4., hierzu um 10.00 Uhr im Oberkommando des Heeres, Tirpitz-Ufer 72/76 oder um 16.30 Uhr in meiner Wohnung, Berlin-Dahlem, Dohnenstieg 19/21, treffen." 188 BA NS 19/132: Der Reichsführer SS, RF/V Tgb. Nr. AR/314/11 vom 17. 4. 40. 181 179

BA NS 19/132;

Zukunft über

182 183 184

Ebd. Also das besetzte Norwegen und Dänemark. Ebd. Ebd.

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

459

liefern hatte185. Geschickte Vernebelungsmaßnahmen und taktische Winkelzüge Himmlers, ein absoluter Mangel an Zusammenarbeit zwischen Oberkommando der Wehrmacht und Oberkommando des Heeres eine Folge der langjährigen Rivalität -, aber vor allem eine angesichts der bisherigen Erfahrungen nahezu unverständliche Zurückhaltung des ObdH bei der Wahrung der Interessen des Heeres, ermöglichten der SS einen erheblichen Ausbau ihrer Machtposition auf Kosten des angeblich „einzigen Waffenträgers der Nation". Ein weiterer Vorgang aus demselben Zeitraum wirft ebenfalls ein bedenkliches Licht sowohl auf Brauchitschs Ausgleichsbemühungen um nahezu jeden Preis als auch auf seine Unfähigkeit, günstige Gelegenheiten zur Festigung der Position des Heeres bzw. zur Schwächung seiner nationalsozialistischen Widersacher auszunützen. Am 28. Oktober 1939 erließ der Reichsführer SS Himmler einen „SS-Befehl für die gesamte SS und Polizei"186, in der er unter Berufung auf die Tatsache, daß „jeder Krieg ein Aderlaß des besten Blutes" sei und nur der „ruhig. sterben" könne, „der weiß, daß seine Sippe, daß all das, was seine Ahnen und er selbst gewollt und erstrebt haben, in den Kindern seine Fortsetzung findet", die ihm unterstellten Männer aufforderte, möglichst viele Kinder zu zeugen: „Über die Grenzen vielleicht sonst notwendiger bürgerlicher Gesetze und Gewohnheiten hinaus wird es auch außerhalb der Ehe für deutsche Frauen und Mädel guten Blutes eine hohe Aufgabe sein können, nicht aus Leichtsinn, sondern in tiefstem sittlichen Ernst Mütter der Kinder ins Feld ziehender Soldaten zu werden, von denen das Schicksal allein weiß, ob sie heimkehren oder für Deutschland fallen. Auch für die Männer und Frauen, deren Platz durch Befehl des Staates die Heimat ist, gilt gerade in dieser Zeit die heilige Verpflichtung, wiederum Väter und Mütter von Kindern zu werden." Bedenken aus wirtschaftlichen oder sonstigen materiellen Gründen brauchten die SS-Männer nicht zu haben, der Reichsführer SS werde für die Mütter und Kinder ohne Unterschied ihres bürgerlichen Status, ob verheiratet oder nicht, beziehungsweise ob ehelich oder unehelich geboren, „in großzügiger Form" sorgen. Der Befehl schloß mit den Worten: „SS-Männer und Ihr Mütter dieser von Deutschland erhofften Kinder zeigt, daß Ihr im Glauben an den Führer und im Willen zum ewigen Leben unseres Blutes und Volkes ebenso tapfer, wie Ihr für Deutschland zu kämpfen und zu sterben versteht, das Leben für Deutschland weiter zu geben willens seid!" Dieser Befehl wurde alsbald Truppen und Kommandobehörden des Heeres bekannt und erregte Abscheu und Empörung187. Seit Ende November liefen über die Heeresgruppen entsprechende Proteste im Oberkommando des Heeres ein. Die Heeresgruppe A gab am 30. November dem ObdH Kenntnis von einem Schreiben des Oberbefehlshabers der 12. Armee, Generaloberst List, in dem es heißt, das Generalkommando XVIII. Armeekorps (General der Infanterie Beyer) habe bei Vorlage des SS-Befehls zum -

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185 BA NS 19/132: Der Reichsführer SS, Tgb. Nr. AR/314/11 vom 23.4.40 an den ObdH. Im März 1940 hatte Hitler schon die Aufstellung eines schweren Artillerie-Regiments (mot) für die Waffen-SS befohlen; weitere leichte Artillerieabteilungen folgten: Stein, S. 51. 189 Text in MGFA/DZ III H 300 und IMT XXXI, S. 181-182, Dok. PS-2825. 187 Vgl. Auleb, Kriegserinnerungen, S. 32.

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Ausdruck gebracht, „bei den Frontsoldaten [sei] die Besorgnis aus[ge]löst [worden], daß unreife Elemente hierin eine Aufforderung sehen könnten, die Frauen und Töchter von im Felde stehenden Soldaten in den Bereich ihrer Absichten zu ziehen"188. Das Armeeoberkommando 12 fügte hinzu: „Die Bedenken, die von Seiten der Truppe gegenüber diesem Befehl geäußert werden, erscheinen berechtigt. Es ist bestimmt nicht richtig, in dieser ernsten Zeit einen Einbruch in das größte Sittengesetz des Menschen vorzuschlaEs muß im Gegenteil dem Frontsoldaten die unbedingte Gewißheit gegeben wergen den, daß er keinerlei Sorge um seine Familie zu haben braucht und daß der nationalsozialistische Staat mit eiserner Strenge darüber wacht, daß die seit jeher für den deutschen Menschen heiligen Gesetze und Auffassungen Geltung behalten, während er draußen im Felde steht180." Ebenso schrieb der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B, Generaloberst v. Bock, am 5. Dezember 1939 dem ObdH, daß dieser Erlaß „stärksten Unwillen und größte Besorgnis erregt hat"190. Gleichzeitig gab er ein Schreiben des Generalkommandos V. Armeekorps (General der Infanterie Ruoff) weiter, in dem es heißt: „Wenn auch an einer Stelle des Befehls von tiefstem sittlichem Ernst die Rede ist, so kann doch der Befehl verschieden ausgelegt und mißverstanden werden. Jedenfalls faßt der im Felde stehende Soldat den Inhalt nüchtern dahin auf, daß die zu Hause befindlichen Organisationen der SS und der Polzei durch diesen Befehl ein Recht und einen Freibrief für geschlechtliche Betätigung in der Heimat ausgestellt bekommen. Daß dies der Soldat, welcher Schwester, Braut, Frau oder Töchter oder ,sein Mädel' zu Hause zurückgelassen hat, als eine verletzende und herausfordernde Anmaßung betrachtet, ist begreiflich. Der Frontsoldat erwartet, daß ein so einschneidender, aber dehnbarer und verschieden auslegbarer Befehl entweder zurückgezogen oder klar und unmißverständlich ergänzt wird191." Während die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen A und B die Proteste der ihnen unterstehenden Kommandobehörden mit kurzen befürwortenden Stellungnahmen an den ObdH weitergaben, griff der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe C, Generaloberst Ritter v. Leeb, selbst zur Feder und schrieb am 30. November: „Ich verurteile die Aufforderung an junge Männer zur Zeugung auch unehelicher Kinder nicht nur aus allgemein moralischen Gründen, sondern auch, weil ich darin eine Zerstörung der deutschen Familie, der Trägerin des Staates und der Wehrmacht, sehe. Wenn von den militärischen Führern die Erziehung der jungen Mannschaft zur Sittlichkeit, zur Selbstbeherrschung, zur Achtung vor der deutschen Frau und der Familie gepflegt wird, so muß der anliegende Befehl des Reichsführers SS in den jungen Leuten eine Verwirrung der Begriffe auslösen, die nur mit den Folgen der Zersetzung des Jahres 1918 vergleichbar ist. Es ist dabei noch zu bedenken, daß den jungen SS-Männern anscheinend überlassen bleibt, ob sie sich junge Mädchen oder gar verheiratete Frauen von Frontsoldaten als Partnerinnen wählen. Im letzteren ...

188 189 198 191

BA/MA H 08-104/3, S. 7. BA/MA H 08-104/3, S. 7. Ebd. S. 10. Ebd. S. 8.

X.

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Fall müßte das auf die Einsatzbereitschaft der Frontsoldaten einen schlechten Einfluß haben, insbesondere da die Aufforderung sich auch an die in der Heimat befindlichen SS-Männer richtet. Von der disziplinaren Seite aus ist es besonders zu verwerfen, wenn die jungen Männer als Soldaten bei Einquartierung im eigenen Land sich hemmungslos ihrem Geschlechtstrieb hingeben; solche Zustände erschüttern die Manneszucht von Grund auf." Leeb schloß mit den Worten: „Sollte dieser Befehl allgemein bekannt werden und sich in dem angedeuteten Sinne auswirken, was m. E. zu erwarten steht, so kann von einem Soldaten die in dem Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht geforderte Achtung vor der SS nicht verlangt werden." Der Generaloberst forderte sodann den ObdH auf, „die sofortige Zurückziehung des Befehls zu erwirken"192. Im Oberkommando des Heeres wurde die Abteilung zbV des Oberstleutnant i. G. Groscurth mit der Bearbeitung dieser Angelegenheit beauftragt. Dieser orientierte sich sogleich über die Einstellung bei Marine und Luftwaffe zu dem Himmler-Erlaß. Er erfuhr, daß, nachdem man beim Oberkommando der Luftwaffe den Erlaß anfangs für eine Fälschung gehalten habe193, Göring ihn mißbilligte. Er konnte aber nicht feststellen, ob dieser etwas zu veranlassen geneigt war. Beim Marine-Personalamt teilte man ihm mit, daß auch Großadmiral Raeder den Erlaß kenne und mißbillige, aber von sich aus nichts unternehmen wolle194. Daraufhin entschloß sich der ObdH allein zu einem Vorstoß bei dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht195, den er mit Recht primär in dieser die gesamten Streitkräfte und nicht bloß das Heer betreffenden Angelegenheit für zuständig ansah. Er schrieb Keitel am 21. Dezember einen energischen Brief, in dem es heißt: „Der Erlaß bedeutet einen Einbruch in das größte und bisher unangetastete Sittengesetz der Menschheit, das von der Masse des Volkes bejaht wird. Er steht im Widerspruch mit der Erziehung im Heere, die darauf abzielt, die junge Mannschaft zur Sittlichkeit, zur Selbstbeherrschung, zur Achtung vor der deutschen Frau und zur Familie zu erziehen196." Ob allerdings eine Zurücknahme des Erlasses durch den Reichsführer SS darin gefordert wurde, läßt sich nicht feststellen. Jedenfalls gab der ObdH Ende Dezember allen höheren Kommandostellen bis zur Division abwärts dieses Schreiben bekannt, um die Truppe zu beruhigen197. Damit war die Angelegenheit jedoch nicht aus der Welt geschafft. Von

Ebd.,

S. 15-16 (Hervorhebungen im Dokument). Vgl. auch Halder-Tagebuch Bd I, S. 136, Ein4. 12. 39. Nach Auleb, Kriegserinnerungen, S. 32, soll die Disziplin Anfang des Krieges „besonders bei den aus alten Leuten zusammengestellten rückwärtigen Diensten" nicht gut gewesen sein. Laut Theodor Groppe, Ein Kampf um Recht und Sitte. Erlebnisse um Wehrmacht, Partei, Gestapo, Trier 21959, S. 28, sollen lediglich bei zwei Armeen, der 7. Armee (Dollmann) und der 6. Armee (Reichenau) keine Reaktionen auf den Erlaß gemeldet worden sein. 193 Vgl. Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 32, Eintrag vom 12. 12. 39. 194 KTB Abt. z. b. V., Eintrag vom 14.12. 39. 195 Aussage des damaligen Adjutanten des Chefs OKW, Generalmajor a. D. Ottomar Hansen (Mitteilung vom 1. 8. 1966 an das MGFA). 198 Zit. nach Groppe, S. 24 f. 197 Vgl. KTB Abt. z. b. V., fol. 196, Eintrag vom 22.12. 39. 192

trag

vom

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seiten der SS erfuhr sie nämlich noch eine Zuspitzung. Im „Schwarzen Korps", dem offiziellen Organ der SS, erschien ein Kommentar zu dem Erlaß, in dem u. a. der Satz stand : „Ein Mädchen, das sich etwa dieser seiner höchsten Verpflichtung auf die eine oder andere Weise entziehen würde, ist genau so fahnenflüchtig wie ein Kriegsverweigerer198." Ein Divisionskommandeur der 1. Armee, Generalleutnant Groppe, las dies auf einer Kommandeurbesprechung vor und vermerkte: „Nach dem, was ich Ihnen soeben vorgelesen habe, will mir scheinen, daß es zu einer Entscheidung kommen muß zwischen Gott und dem Satan199." Und vor der Truppe äußerte er, „es sei eine Schweinerei, daß in einem christlichen Staat ein derartiger Befehl möglich sei"200. Derartige Auslassungen kamen natürlich auch der Partei zu Ohren, riefen aber auch im Oberkommando des Heeres Unbehagen hervor201. Inzwischen gingen beim Oberkommando des Heeres weitere Stellungnahmen von Truppenführern ein202. Der Chef des Generalstabes des Heeres wurde aufmerksam und verlangte vom Oberquartiermeister IV genaue Unterrichtung. Eine weitere Orientierung der Heeresgruppenkommandos über den Stand der Angelegenheit schien erforderlich203. Daraufhin teilte der Oberquartiermeister IV den Ic-Offizieren der höheren Kommandobehörden mit, die Sache habe die vollste Aufmerksamkeit des ObdH und gab ihnen den Auftrag, unauffällig weitere Unterlagen über den Erlaß zu beschaffen204. Da das Oberkommando der Wehrmacht bisher offensichtlich in dieser Angelegenheit noch nicht aktiv geworden war, drängte Brauchitsch erneut; jedenfalls wurde nun der Chef des Allgemeinen Wehrmachtamtes im Oberkommando der Wehrmacht, General Reinecke, zu Himmler entsandt, um eine Änderung des Erlasses zu erreichen. Angesichts der Verhärtung des SS-Standpunktes, wie sie in dem Artikel im „Schwarzen Korps" zum Ausdruck gekommen war, sowie der Klagen, die von seiten der SS und der Partei wegen der Äußerungen von Truppenkommandeuren vom Format des Generals Groppe laut geworden waren205, hatte das Oberkommando der Wehrmacht wohl nicht den Mut, die Zurückziehung zu fordern; es betrieb vielmehr nur eine Abänderung des Erlasses. Was Reinecke dem ObdH alsdann von seiner Unterredung mit Himmler berichtete, mag nicht dazu angetan gewesen sein, den ObdH seinerseits zu energischem Vorgehen zu veranlassen. Reinecke teilte nämlich mit, der Erlaß sei mit Genehmigung des Führers ergangen206. Immerhin so ließ Himmler wohlwollend be-

198 199

288

291 282 293 284

Groppe, S. 26. Ebd. Ebd. S. 27.

Vgl. Anm. 205. KTB Abt.

z. b. V., fol. 197, Eintrag vom 4.1. 40. Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 50, Eintrag vom 8.1. 40.

Ebd., fol. 52, Eintrag vom 10.1.40. Vgl. auch KTB Abt. z. b. V., fol. 198, Eintrag vom „Halder läßt sich Vortrag halten." Vgl. Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 22. 1.40: „General Groppe, Pour le mérite,

10. 1. 40: sos

hat selbständig gehandelt und Erlaß Himmlers in seiner Division kommentiert. Nicht aber mannhaft. Große Entrüstung." 288 KTB Abt. z. b. V., fol. 201, Eintrag vom 12.1. 40.

geschickt,

X.

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stellen überlege man sehr, ob man nicht doch einen Kommentar zum SS-Erlaß geben solle, obwohl der Führer es als nicht erforderlich bezeichnet habe207. Allerdings schien der Reichsführer SS noch etwas auf Zeit zu spielen, denn er bemerkte, es sei zu erwarten, daß Göring in dieser Angelegenheit einen Brief an den ObdH und dem ObdM schreibe208. Brauchitsch ordnete daher an, daß man abwarten solle, ob seitens des ObdL erneute Schritte unternommen würden209. Zu einem solchen Schreiben Görings scheint es allerdings dann doch nicht gekommen zu sein210. Offensichtlich hat Brauchitsch sich daraufhin zu einer Art Alleingang von seiten des Heeres entschlossen211, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil er weiterhin von den Truppenbefehlshabern in dieser Angelegenheit mit Protesten bestürmt wurde. Der Chef der Abteilung zbV im Oberkommando des Heeres/ Generalstab des Heeres erhielt daher den Auftrag, eine für die Truppe bestimmte Stellungnahme des ObdH zu dem Erlaß Himmlers zu entwerfen212. Groscurth legte daraufhin folgenden energischen Entwurf vor: „Die bisherigen Auffassungen über die Unantastbarkeit der Ehe behalten voll und ganz ihre Gültigkeit. Ein Verbrecher ist der, der in die Ehe eindringt und sie zerstört. Auf die Förderung und Erhaltung der Ehe und der Familie richten sich alle Bemühungen des Staates. Ich werde mich bei den zuständigen Stellen nachdrücklich dafür einsetzen, daß die Eheschließungen durch wirksame Maßnahmen erleichtert werden. Der Reichsführer SS teilt meine Anschauung und wird seinerseits entsprechende Anweisungen erlassen. Die Truppe ist von meiner Stellungnahme zu unterrichten213." Dieser Entwurf fand jedoch wie es scheint nicht die Billigung des ObdH, obgleich der Chef des Generalstabes des Heeres und auch der Oberquartiermeister IV keine Einwendungen dagegen erhoben hatten. Die Richtung, in die Brauchitschs Tendenz bei dieser Angelegenheit ging, spricht aus einer Notiz Tippelskirchs vom 23. Januar: „Es bleibt bei uns bei der alten Auffassung Falls die SS sich anders benehmen will, soll sie. Solche dürfen nicht Volk ins getragen werden, während die Nation Front nach außen geDinge -

-

.

-

.

.

Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 59, Eintrag vom 23.1.40. Nach KTB Abt. z.b.V., fol. 201, Eintrag vom 12. 1. 40 soll Himmler erklärt haben, „es erfolgt heute mit Genehmigung des Führers eine Erläuterung." 208 Nach Tippelskirch, Tagesnotizen, ebd., soll Himmler auch geäußert haben, den Artikel im „Schwarzen Korps" werde man wohl „zurückziehen". 297

299 210 211

z.b.V., fol. 201. Jedenfalls läßt sich in den Quellen darüber nichts feststellen. Mitteilung von Generalmajor a. D. Hansen, damals Adjutant KTB Abt.

vom 212

Vgl. Halder-Tagebuch,

d. Inf.

Busch,

trug

an

an

das MGFA

Bd I, S. 172, Eintrag vom 24.2.40: Der OB der 16. Armee, General diesem Tage dem Chef des Genst. d. H. seinen Standpunkt zu dem SS-Erlaß

vor. 213

Chef OKW,

1. 8.1966.

BA/MA H 08-104/3, S. 19.

X.

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hat214." Unterdessen hatte Brauchitsch, dem die scharf anti-nationalsozialistische Einstellung Groscurths wohl bekannt war, bereits die pro-nationalsozialistisch eingestellten Generäle Reinecke und Bodewin Keitel215 um die Ausarbeitung eines neuen Entwurfs gebeten216. Er schaltete also bei seinem geplanten Alleingang mit der Person Reineckes das Oberkommando der Wehrmacht mit ein; ob das zur Absicherung oder zur Beeinflussung des Oberkommandos der Wehrmacht geschah, ist nicht zu ersehen. Brauchitsch räumte allerdings dadurch dem Oberkommando der Wehrmacht einen maßgebenden Einfluß auf die Abfassung des Erlasses ein. Auf einer weiteren Besprechung Groscurths und Tippelskirchs beim ObdH am 26. 1. 1940 vermochte sich die Abteilung zbV daher mit neuen Vorschlägen nicht durchzusetzen. Bitter notierte Groscurth in seinem Tagebuch: „Unentwegt werden neue Vorschläge gemacht betreffs Erlaß des ObdH an die Truppe zur Erläuterung des SS-Erlasses. Es ist würdelos und ohne Direktion217." Von Reinecke und Keitel wurde nunmehr ein umgearbeiteter, im Grunde völlig neuer Entwurf vorgelegt, der aber offensichtlich ganz ins andere Extrem ging. Tippelskirch notierte nämlich darüber voller Empörung: „Die außereheliche Verbindung wird als sittlich unter gewissen Voraussetzungen anerkannt; auch die Bedeutung der völkischen Kraft... So stiftet es mehr Schaden als Nutzen." Etwa in diesem Stadium muß sich Brauchitsch dann entschlossen haben, die Angelegenheit in persönlichem Kontakt mit dem Reichsführer SS zu bereinigen218. Während jedoch noch im Oberkommando des Heeres das Hin und Her über eine Stellungnahme des ObdH weiterging, kam Himmler dem Heer am 30. Januar mit einem Aufruf „An alle Männer der SS und der Polizei"219 zuvor. Dieser Aufruf war alles andere als ein Widerruf oder gar eine Entschuldigung seines ersten anstößigen Erlasses220. Die Aggressivität der Formulierungen war vielmehr unüberhörbar. Himmler schrieb, seine Veröffentlichung sei „anständig gedacht" gewesen und habe „in die Zukunft vorausblickend" zu vorhandenen Problemen offen Stellung genommen. Bei manchen jedoch habe sie zu Nichtverstehen und Mißverstehen Anlaß gegeben. Daher sei eine Erläuterung notwendig. Man stoße sich „an der klar ausgesprochenen Tatsache, daß es uneheliche Kinder gibt und daß ein Teil der unverheirateten und alleinstehenden Frauen und Mädel zu allen Zeiten außerhalb einer ehelichen Verbindung Mütter solcher Kinder geworden sind, heute sind und auch in Zukunft sein werden". Darüber sei nicht zu diskutieren. Die beste Antnommen

214

Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 58, Eintrag

S. 25. 215 Der

vom

23.1.40.

Vgl.

auch BA/MA H 08-104/3,

jüngere Bruder des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht war damals Chef des Heerespersonalamtes. 216 Vgl. KTB Abt. z. b. V., fol. 202-203, und Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 62a. 217 Eintrag vom 26.1.40; vgl. auch KTB Abt. z. b. V., fol. 203, Eintrag vom 26.1.40: „Neue Vorschläge für ObdH betr. Erlaß an die Truppe bzgl. SS-Erlaß. Personalamt bearbeitet dieselbe Angelegenheit gleichzeitig." 218 So auch Generalmajor a. D. Hansen (Mitteilung an das MGFA vom 1. 8. 1966). 219 Text in: IMT XXXI, S. 182 ff., und MGFA/DZ H III 300, S. 2 ff. Wie z. B. Groppe, S. 30 ff., meint, der von einer „Entschuldigung" Himmlers spricht. Oder auch Kosthorst, S. 49: „Leeb... erreichte..., daß Himmler seine Weisung praktisch zurücknehmen mußte." 220

X.

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465

gebe ein Brief des Stellvertreters des Führers an eine uneheliche Mutter, den Himmler sodann zur Kenntnis gab. Er fuhr dann fort: „Die SS-Männer würden... so mißverstehen das manche aufgefordert, sich den Frauen der im Felde stehenden Soldaten zu nähern. So unverständlich für uns ein solcher Gedanke ist, so muß dazu Stellung wort

-

-

genommen werden.

als SS-Männer so klar und selbstverständlich wie für jeden anderen Deutschen, daß niemand der Frau eines im Felde stehenden Soldaten nahetritt. Dies ist einfachstes und selbstverständlichstes Anstands- und Kameradengesetz. b) Ich stelle außerdem fest,... daß die SS-Männer zum überwiegenden Teil selbst an der Front stehen und nicht in der Heimat... d) Weiterhin ist bei dieser Frage noch etwas zu erwähnen: Was glauben eigentlich die Menschen, die derartige Meinungen verbreiten oder nachsprechen, von den deutschen Frauen? Selbst wenn in einem 82-Millionen-Volk aus Niedertracht oder aus menschlicher Schwäche irgendein Mann sich einer verheirateten Frau nähern sollte, so gehören zur Verführung doch zwei Teile: einer, der verführen will, und einer, der sich verführen läßt. Wir sind... der Meinung, daß die deutsche Frau wohl insgesamt selbst die beste Hüterin ihrer Ehe ist. Andersgeartete Meinungen müßten von allen Männern einheitlich als Beleidigung der deutschen Frau zurückgewiesen werden. e) Weiterhin wird die Frage aufgeworfen, warum für die Frauen der SS und der Polizei, so wie es in dem Befehl vom 28. Oktober 1939 heißt, in besonderem Maße gesorgt wird und nicht ebenso für alle anderen. Die Antwort ist sehr einfach: Weil die SS aus ihrer Kameradschaft und aus ihrem Opferwillen heraus durch freiwillige Beiträge von Führern und Männern die übrigens seit Jahren an den Verein .Lebensborn' gezahlt werden die Mittel dafür aufbringt.

a)

Es ist für

uns

-

-

Damit dürfte jedes Mißverständnis aufgeklärt sein. An Euch, SS-Männer, aber liegt es, wie in allen Zeitabschnitten, in denen weltanschauliche Erkenntnisse vertreten werden müssen, das Verständnis_für diese heilige, über jede Leichtigkeit und jeden Spott erhabene Lebensfrage unseres Volkes zu gewinnen221." Als Brauchitsch sich am 2. Februar mit Himmler zu einer Unterredung traf, hatte er, wie es scheint, noch keine Kenntnis von dem neuen Aufruf des Reichsführers SS; denn dieser erklärte, er wolle selbst einen „Erlaß mit Erläuterungen"222 herausgeben. Brauchitsch, noch ahnungslos über den von Himmler bereits formulierten Affront, sprach mit dem Reichsführer SS vielmehr seinen eigenen Erlaß durch und erlangte dazu dessen Einverständnis223. Der ObdH-Erlaß an das Heer, der dann am 6. Februar 1940 herausgegeben 221

Vgl. Anm. 219.

Halder-Tagebuch, Bd I, S. 183-184, Eintrag vom 5. 2. 40. Vgl. Halder-Tagebuch, ebd., wo es heißt: „1. Erlaß über Kindernachwuchs: Einverständnis", und Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 65a, Eintrag vom 5.2.40: „Hi[mmler] mit Fassung SSErlaß klar." Daß sich dies auf den ObdH-Erlaß bezieht, geht daraus hervor, daß die Eintragung folgt: „Dazu SS-Erlaß und neuer Zusatz Himmlers und Heß-Brief." 222

223

30

So

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466

daher auch vergleichsweise sanft225. Er sprach von „Mißdeutungen", zu denen der Erlaß Himmlers vom 28. Oktober 1939 Anlaß gegeben hätte eine Formulierung, die jenen zuvor geschilderten Reaktionen der Truppe wie auch den eindeutigen Auslassungen Himmlers alles andere als angemessen war. Sodann führte er aus, er er-

wurde224,

war

-

Auffassung über die Grundprobleme des Lebens baldigst Allgemeingut des Heeres werde. Dieser Auffassung trete der Reichsführer SS, mit dem er diese Gedanken besprochen habe, voll bei. In fünf Punkten präzisierte der ObdH seine Stellung zu der Streitfrage: warte, daß seine

„1. Die Lebenskraft eines Volkes ruht in dem sicheren Wachstum seiner Kinder. Ein Volk, das nicht mehr den Willen zum Kinde hat, stirbt ab. Fallen durch die blutigen Verluste eines Krieges viele der im besten Mannesalter stehenden künftigen Väter aus, so bedeutet das nicht nur Einbuße an derzeitiger, sondern auch an zukünftiger völkischer Lebenskraft. 2. Die Ehe ist die Grundlage der Familie und damit der Lebenskraft des Volkes. Sie gesund zu erhalten und ihre Erfüllung durch die Geburt des Kindes zu sichern, ist ein natürliches Gesetz völkischer Ethik. Von jeher ist gerade im Deutschen das Grundgefühl verankert, daß die Ehe unantastbar ist und der bewußte Zerstörer einer Ehe als ehrlos gilt. 3. Die Notwendigkeit der Erhaltung der Art und der Rasse steht hoch über der Erhaltung des Einzelwesens. Darum ist das Problem des Kindes kein wirtschaftliches, sondern ein geistig-seelisches. Wer sich dieser Erkenntnis versagt und materielle Dinge über diese tiefste Verpflichtung stellt, wer im Kinde nicht das höchste Gut seines

Lebens sieht und schuldhaft oder fahrlässig sich dieser Erfüllung entzieht, bricht diese Verpflichtung und nimmt seiner Ehe den sittlichen Grund. Das Ziel erzieherischer Einwirkung muß sein, in kinderreicher Ehe die Erfüllung zu sehen und sich zuvor so zu halten, wie es die Achtung vor dem künftigen Ehegatten erfordert. 4. Die außereheliche Verbindung kann niemals eine Ehe ersetzen. Das außerehelich geborene Kind steht aber in seinem Wert für die Erhaltung von Art und Rasse hinter dem ehelich geborenen nicht zurück. Deshalb will der Staat das unehelich geborene Kind vor Nachteil bewahren. Mutter und Kind kann der Name des gefallenen außerehelichen Vaters verliehen werden. Der Staat will damit das uneheOberkommando des Heeres, Abt. z.b.V. OQu IV /PA, Nr. 327/40, in: MGFA/DZ H III 300, S. 4. 225 Groscurth distanzierte sich daher auch von diesem ObdH-Erlaß in einem Brief an den Ic der Heeresgruppe C, den Oberst Lange, und schreibt: „Leider ist es mir nicht gelungen, mich in meiner Stellung durchzusetzen. Ich glaube aber für midi als Entschuldigung anführen zu kön224

-

-

daß ich wenigstens den Versuch gemacht habe, die gerade von der Heeresgruppe C herangetragenen Anregungen bei den oberen Stellen durchzusetzen. Ich gebe in der Anlage noch meinen Entwurf betr. des SS-Erlasses zur persönlichen Kenntnis. Schön ist er nicht. Immerhin hatten ihn der Oberquartiermeister IV und der Chef des Generalstabes nicht beanstandet. Offensichtlich war aber dieser Entwurf der letzte Anlaß zu meinem „Sturz". Der endgültig erlassene Befehl stammt nicht von mir. Ich konnte nur wenige stilistische Änderungen noch anbringen." nen,

X.

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liehe Kind in die Familie stellen. Sie ist und bleibt die beste

wachsende

467

Pflegestätte für die heran-

Jugend.

des Krieges ist daher die Erhaltung besten deutschen Blutes. Es kann seiner Lösung befriedigend nur näher gebracht werden, wenn allen rassisch wertvollen und gesunden, verantwortungsbewußten Menschen soweit irgend möglich der Weg zur kinderreichen Ehe möglichst frühzeitig gangbar gemacht wird226."

5. Das letzte Problem

war angesichts der Himmlerschen Erlasse wie auch der Vorlagen seitens der militärischen Kommandobehörden eine Stellungnahme, die gewiß keine energische Haltung gegenüber der SS in einem Fall widerspiegelt, welcher Stimmung und Disziplin des Heeres in erheblichem Maße zu beeinträchtigen geeignet war. Das fortschreitende Zurückweichen des Generalobersten v. Brauchitsch vor dem Reichsführer SS in dieser Angelegenheit wird vor allem dann besonders deutlich, wenn man diesen Erlaß mit den Sätzen seines Briefes an den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht vom 21. Dezember vergleicht. Symptomatisch für das problematische Verhalten des obersten Repräsentanten des Heeres war ebenfalls die Behandlung einer im Zusammenhang mit dieser Angelegenheit stehenden Randepisode. Der Kommandeur der im Verbände der 1. Armee (Heeresgruppe C) stehenden 214. Infanteriedivision, Generalleutnant Groppe, war, wie erwähnt, vorgeprellt und hatte den Himmler-Erlaß nicht nur seinen Kommandeuren, sondern auch seinen Truppen mit starken Worten kommentiert227. Auf Grund des den Kommandobehörden bis zu den Divisionen hinunter bekanntgegebenen ObdH-Briefes an Keitel vom 21. Dezember konnte er der Überzeugung sein, daß er, wenn auch vielleicht nicht der Form, so doch der Sache nach durchaus der Einstellung der Heeresleitung entspreche. Gewisse Kreise im Oberkommando des Heeres, wo man was Groppe nicht wissen konnte inzwischen an einer für die Truppe bestimmten Stellungnahme des ObdH arbeitete, faßten jedoch sein Verhalten als unzulässige, zumindest aber als störende Eigenmächtigkeit auf und quittierten es mit einer gewissen Entrüstung228. Indessen wäre es wohl kaum zu besonderen Weiterungen gekommen, wenn nicht Himmler von Groppes Auslassungen erfahren hätte229 und das Oberkommando des Heeres wissen ließ, er beabsichtige, gegen den ihm als praktizierenden Katholiken und entschiedenen Gegner der Partei bekannten General aufgrund des Heimtückeparagraphen vorzugehen230. Groppe wurde daraufhin befohlen, sich am 21. Januar 1940 beim ObdH zu melden231. Vor der Reise nach Berlin hatte

Das

-

-

MGFA/DZ H III 300, S. 4. Hierzu und zum folgenden vgl. Groppe, S. 21 ff. 228 Anm. 205. 229 Nach Auleb, Kriegserinnerungen, S. 32, hat der Führer des Divisionsfeldgendarmeriezuges, der im Zivilberuf Polizeioffizier war, den General Groppe denunziert. 239 Über frühere Auseinandersetzungen Groppes mit Parteistellen vgl. Groppe, S. 7 ff. Er war bereits vor dem Kriege als „weltanschaulich ungeeignet" in den Ruhestand versetzt, dann mit wieder reaktiviert worden. Kriegsbeginn 231 Groppe, S.27. Nach Halder-Tagebuch, Bd I, S. 166, Eintrag vom 18.1.40, hielt der vom ObdH mit dem Fall beauftragte Chef des HPA dem Generalstabschef am 18.1. 40 darüber 228 227

Vortrag.

468

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

Groppe sich noch beim Heeresgruppenkommando zu melden, wo ihm der Chef des Generalstabes der Heeresgruppe, Generalmajor v. Sodenstern, eröffnete, sein Armeeoberbefehlshaber, Generaloberst v. Witzleben, habe dem Heeresgruppenoberbefehlshaber schriftlich dargelegt, daß er Groppes Verhalten durchaus billige und seinen Befehl niederlegen würde, wenn dieser gemaßregelt würde. Witzleben bat den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe, Groppe vor Himmler zu schützen. Generaloberst Ritter v. Leeb dankte Witzleben für dessen Eintreten und teilte mit, auch er billige Groppes Verhalten und werde gleichfalls sein Kommando niederlegen, falls man dem General den Prozeß wegen Heimtücke mache. Gleichzeitig ließ er Groppe ein Schreiben an den ObdH mitgeben, in dem es hieß: „Ich stelle mich mit meiner ganzen Person vor Generalleutnant Groppe, selbst dann, wenn er sich in berechtigter Empörung über den Befehl des Reichsführers der SS bei seiner Ansprache im Wortlaut vergriffen haben sollte232." Das Eintreten des in der Armee hochgeachteten Generalobersten Ritter v. Leeb für einen Untergebenen scheint Brauchitsch mit veranlaßt zu haben, bei seiner Unterredung mit Groppe verständnisvoll dessen Darlegungen über die „Wühlarbeit der Partei im Heer"233 anzuhören. Der Chef des Heerespersonalamtes, Generalmajor Bodewin Keitel, jedoch schien weniger wohlwollend zu sein. Groppe hatte bei einer Vorsprache im Heerespersonalamt den Eindruck, daß „er auf die Beschwerde Himmlers wieder einmal den Stab über mich gebrochen hatte, ohne mich vorher gehört zu haben"234. Inzwischen hatte sich auch Heydrich in den Fall eingeschaltet und beim Oberkommando der Wehrmacht gegen Groppe Stimmung gemacht, wobei er u. a. mißbilligend erwähnte, Groppe läge bei einem katholischen Pfarrer in Quartier235. Jedenfalls scheint von Gegnern des Generals auch das Argument benützt worden zu sein, durch dessen Verhalten sei überhaupt erst die Unruhe in die Armee hineingetragen worden; denn Halder verzeichnete mit deutlich mißbilligendem Ton in seinem Tagebuch: „Die Unruhe in der Armee über den Erlaß ist schon lange vor Groppe236." Auch scheint der Chef des Generalstabes des Heeres in diesem Sinne dem ObdH vorgetragen zu haben237. Indessen hatte das Heerespersonalamt bereits die Weisung erhalten, den Fall Groppe beschleunigt zu bereinigen238. Da für ein Disziplinarverfahren gegen den General das Material nicht ausreichte, wurde Groppe am 31. Januar 1940 seiner Stellung als Divisionskommandeur enthoben und zur OKH-Reserve versetzt239. Das war zweifellos eine mehr als problematische Kompromißlösung. Himmler drang mit seiner Forderung, ein Verfahren gegen Groppe einzuleiten, nicht durch, Groppe selbst aber kam auch nicht ungeschoren davon. Der SS gegenüber aber hatte der ObdH wenigstens ein Zeichen 232

233 234

Groppe, S. 27. Ebd. S. 28. Ebd.

Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 57, Eintrag vom 22.1.40. Halder-Tagebuch, Bd I, S. 177, Eintrag vom 31.1.40. 237 Ebd. Der erwähnte Eintrag steht nämlich unter der Rubrik „Vormerkungen", neben dann vermerkt ist „erlfedigt] 1.2.". 238 Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 62 a, Eintrag vom 29.1.40. 239 Groppe, S. 29. 235

239

dem

X. Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

„guten Willens"

gegeben.

Diese

469

Entscheidung führte indessen zu einer

Intervention des Generalobersten Ritter v. Leeb, der durch seinen Chef des Stabes dem Oberkommando des Heeres mitteilen ließ, er sei der Ansicht, daß Groppe Gelegenheit gegeben werden müsse, sich zu verteidigen. Eine Versetzung würde von ihm wie von der Truppe als Maßregelung eines verdienten Divisionskommandeurs angesehen. Vielsagend fügte Leeb hinzu, man habe das Gefühl, daß diese Entwicklung das Ansehen des Heeres schädige; er bitte auch im Namen der anderen nachgeordneten Vorgesetzten Groppes um Unterrichtung über den weiteren Gang der Angelegenheit240. Diese nochmalige Intervention hatte indessen keinen Erfolg. Im Gegenteil, Brauchitsch einigte sich am 2. Februar 1940 persönlich mit Himmler. Der Reichsführer SS legte nochmals nachdrücklich dar, daß er sich persönlich durch Groppe beleidigt fühle. Falls dieser nicht verabschiedet werde, verlange er zumindest dessen Strafversetzung. Gleichzeitig beschwerte er sich über Leebs Verhalten bei dieser Affäre241. Brauchitsch verbat sich indessen keineswegs diese Einmischung in eine disziplinare Angelegenheit des Heeres, er beschränkte sich' nicht einmal auf den naheliegenden Hinweis, daß Groppe bereits seines Postens enthoben sei, sondern er muß wohl dem Reichsführer SS noch in Aussicht gestellt haben, Groppe einen Verweis zu erteilen, denn am 6. Februar 1940 erhielt dieser ein Schreiben des ObdH, in dem es hieß, er habe dem Erlaß des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei eine Auslegung gegeben, „die man einer verantwortungsbewußten führenden Persönlichkeit des Deutschen Reiches nicht ohne weiteres unterstellen" dürfe: „Sie haben dadurch dem Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei einen schweren Vorwurf gemacht. Sie haben damit aber auch das bei der Behandlung derartiger Fragen von einem Divisionskommandeur zu fordernde militärische und politische Verständnis vermissen lassen242." Das klang nun ganz anders als jener Passus des ObdH-Schreibens vom 21. Dezember 1939 an Keitel, in dem Brauchitsch den Erlaß Himmlers als „einen Einbruch in das größte und bisher unangetastete Sittengesetz der Menschheit" und als „im Widerspruch mit der Erziehung im Heere" stehend qualifiziert hatte. Die Behandlung des Falles Groppe ebenso wie die der gesamten Angelegenheit des Himmler-Erlasses zeigt, in welchem Maße der ObdH gegenüber dem Reichsführer SS zunehmend zurückwich, statt im Gegenteil gerade diesen Erlaß, die darüber entstandene Unruhe bei den Truppen und die diesbezüglichen energischen Proteste hoher und höchster Befehlshaber taktisch in den zur selben Zeit akuten anderen Auseinandersetzungen mit der SS (über die Verhältnisse in Polen wie über die Vermehrung der bewaffneten SSVerbände) zur Wahrung der Interessen des Heeres auszunutzen. In dem Maße, in welchem die Entschlossenheit des ObdH im Verlaufe von Auseinandersetzungen wesenhaft politischer Natur fortlaufend schwächer wurde, zerbröckelte auch das Fundament der 240

Tippelskirch, Tagesnotizen,

211

Ebd. fol.

5. 2. 40. 242

Groppe,

fol. 65,

Eintrag

IV dem Generalstabschef vor. 65 a, Eintrag vom 5.2.40, und

quartiermeister

S. 29 f.

vom

1.2.40. An diesem

Halder-Tagebuch,

Tag

Bd I, S. 183

trug der Ober-

f., Eintrag

vom

470

X.

Heeresführung und nationalsozialistisches Regime im ersten Kriegshalbjahr

der längst nicht mehr unberührten inneren Geschlossenheit der Armee. Ebenfalls aber wird man auch jene innere Entwicklungslinie nicht übersehen dürfen, die von dem Bruch der Solidarität gegenüber den vom Arierparagraphen betroffenen Kameraden im Jahr 1934 und von der Weisung des Reichswehrministeriums aus dem Jahr 1934, politisch Verfolgten den Schutz zu versagen, über die Ereignisse vom Juni 1934 bis hin ins Jahr 1939/40 läuft, wo Männer wie Groppe dem Reichsführer SS geopfert wurden, wo das gegenüber der polnischen Bevölkerung verpfändete Wort des ObdH ungestraft mißachtet werden durfte, wo das Heer dem Mord und den Mißhandlungen an Unschuldigen und Wehrlosen hilf- und ratlos zusehen mußte. Auf dem Hintergrund dieser Entwicklung müssen die im folgenden zu behandelnden Ereignisse gesehen werden, in deren Mittelpunkt das Wiederaufleben einer von Militärs wie Zivilisten inspirierten und getragenen verschwörerischen Aktivität stand.

äußeren

Stellung und

XI. STAATSSTREICHPLÄNE IM WINTER 1939-1940

Im Oberkommando des Heeres wuchs seit Mitte September die Hoffnung auf einen Kompromiß zwischen dem Reich und den westlichen Alliierten nach Abschluß der Kämpfe

in Polen, zumal sich die deutsche Front an der Westgrenze laufend verstärkte, die Westmächte ihrerseits jedoch den günstigsten Zeitpunkt zu einer erfolgversprechenden Intervention verpaßt zu haben schienen. Die Möglichkeit einer deutschen Offensive im Westen1 wurde daher im OKH nicht sonderlich erwogen. So war es auch nicht weiter erstaunlich, daß der ObdH am 17. September 1939 eine „Weisung für die Umstellung des Heeres auf den Abwehrkrieg"2 herausgab, die vorsah, Stäbe und Truppen von allem für den Kampf nicht Notwendigen zu entlasten, zugleich jedoch auch die jederzeitige kurzfristige Wiederausstattung von zwei Drittel des Heeres für den Bewegungskrieg festlegte. Dahinter stand die Überlegung, daß ein diplomatisches Arrangement zur Beendigung des Krieges im Bereich des Möglichen läge3; zugleich aber hatte man damit doch Vorsorge getroffen, um bei einem Angriff des Gegners das deutsche Heer zu einer Gegenoperation zu befähigen4. Einige Tage darauf entwarf der Oberquartiermeister I, General der Infanterie Karl-Heinrich v. Stülpnagel, im Auftrage Halders eine Denkschrift5, die Hierzu vgl. die grundlegende Arbeit von Hans-Adolf Jacobsen, Fall Gelb, Der Kampf um den deutschen Operationsplan zur Westoffensive 1940, Wiesbaden 1957 Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte in Mainz Bd 16, und: Dokumente zur Vorgeschichte des Westfeldzuges 1939-1940, hrsg. von Hans-Adolf Jacobsen, Göttingen-Berlin-Frankfurt a. M. 1956 Studien und Dokumente zur Geschichte des zweiten Weltkrieges Bd 2 a (fortan zit. Jacobsen, Dokumente). Für dieses Kapitel konnte das erst nach Abschluß vorliegender Arbeit erschienene Buch von Harold C. Deutsch, The Conspiracy against Hitler in the Twilight War, London 1968, nicht mehr benutzt werden. Abgesehen von zahlreichen Befragungsergebnissen basiert es im Kern auf den auch von mir benutzten Groscurth-Materialien. 2 Fall XII, OKW-Prozeß gegen Leeb u. a. (fortan zit. Fall XII), Verteid. Dok. Bd III, 141. Vgl. Jacobsen, S. 7, und Kosthorst, S. 25 ff., Keitel, S. 222, schreibt dazu: „Seit dem Fall Warschaus liefen die Abtransporte des Heeres nach dem Westen unter voller Leistungsfähigkeit der Eisenerheblichen Märschen erreicht hatten. Das bahn, soweit die Truppen die Verladebahnhöfe in O.K.H. dachte aber an nichts weniger als einen Herbst- oder Winterfeldzug im Westen. So kam mir noch im ,Strandhotel' Zoppot etwa am 22. September ein Befehl des Generalstabes des Heeres in die Hand, durch den eine teilweise Demobilisierung beim Heer befohlen war. Ich habe damals General Halder angerufen und den Befehl für unmöglich erklärt, ohne daß der Führer eine solche Maßnahme gebilligt hätte; er wurde denn auch angehalten bzw. dahin abgeändert, daß die Erfahrungen des Polenkrieges UmOrganisationen für einen event[uellen] Westkrieg bedingten." 1

=

=

...

'

Warlimont, S. 50.

Vgl. dazu die differenzierenden Ausführungen bei Warlimont, S. 65, Anm. 10. Vgl. Aktennotiz des Chefs der Abt. L/WFA vom 25.9.39, abgedruckt in: KTB OKW, Bd I, S. 950 f. Demnach hat Stülpnagel die Denkschrift am 24. 9. 39 beendet und am folgenden Tag Warlimont gegenüber Angaben über ihren Inhalt gemacht. Vgl. auch Fall XII, Protokolle 1868, sowie Kosthorst, S. 26; Jacobsen, S. 10, und Greiner, S. 58.

4

s

XL

472

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

Ergebnis kam, daß das deutsche Heer gegenwärtig noch nicht einen Angriff auf die Maginotlinie zu wagen6. zu

dem

in der

Lage sei,

Das Oberkommando des Heeres erwog damals neben einer

politisch-diplomatischen Kompromißlösung zur Beendigung des Konfliktes auch die Möglichkeit, daß der Krieg sich in einem Abwehrkampf totlaufen und die Kontrahenten dabei Zeit und Gelegenheit zu einem politischen Arrangement finden könnten7. Hitler hatte dagegen bereits am 12. September dem Chefadjutanten der Wehrmacht, Oberst i. G. Sdimundt, vertraulich mitgeteilt8, er beabsichtige, in unmittelbarem Anschluß an den Polenfeldzug eine Offensive im Westen zu beginnen; ein Sieg über Frankreich würde die Briten dann bestimmt zum Einlenken bewegen. Der ObdH, den er am selben Tag empfangen hatte, war indessen von diesen Plänen nicht unterrichtet worden9. Am 20. September berichtete Keitel dem Chef der Abteilung Landesverteidigung/Wehrmaditführungsamt, Warlimont, „unter dem Siegel größter Verschwiegenheit", Hitler habe ihm gegenüber geäußert10, er wolle noch in diesem Jahr im Westen „angriffsweise" vorgehen. Fünf Tage später hatte Warlimont sich dazu durchgerungen, dem Oberkommando des Heeres trotz Keitels Schweigegebot diese Absicht Hitlers mitzuteilen11. Er orientierte am 25. September Stülpnagel, von dem er wußte, daß er an jener Denkschrift arbeitete, „in der die Auffassung des ObdH, im Westen noch auf Jahre hinaus den Krieg nur verteidigungsweise führen zu können, noch einmal mit allen erreichbaren Belegen begründet"12 wurde. Der Oberquartiermeister I informierte noch am selben Tage den Chef des Generalstabes des Heeres13. Warlimont begründet in seinen Memoiren14 diesen Schritt damit, er habe sich entschlossen, 6

Vgl.

7

mangelnden Kriegsbereitschaft die Eintragungen

im Halder-Tagebuch, Bd I, Eintra39; 4.10. 39; 8.10. 39; 9.10. 39. Vgl. Jacobsen, S. 6 f.; Weizsäcker, S. 266 ff.; Fall XII, Leeb Verteid. Dok. Bd III, S. 141.

gungen

zur

vom

29. 9.

Vgl. Jacobsen, S. 7. Nach einer Besprechung mit Hitler am 9. 9. 39 hatte Brauchitsch bereits an Vormann die Frage gerichtet, ob Hitler etwa im Westen angreifen wolle, und auf dessen verneinende Auskunft gesagt: „Sie wissen, daß das völlig unmöglich ist, da wir gegen die Maginotlinie nicht anrennen können. Ich muß sofort wissen, wenn auch nur gesprächsweise derartige Ideen auftauchen sollten." Vgl. Vormann, S. 7 f. 10 Vgl. Warlimont, S. 50 f.; Greiner, S. 56. Zur Darstellung bei Kosthorst, S. 27, vgl. die Korrekturen bei Jacobsen, S. 8 und S. 268, Anm. 42. Warlimont, S. 50, berichtet, Keitel habe gesagt, er habe es nicht von Hitler, sondern von dessen militärischem Adjutanten erfahren. 11 Haider-Tagebuch, Bd I, S. 84, Eintrag vom 25. 9. 39; Jacobsen, S. 8.

8

9

12

Warlimont, S. 51.

Vgl. Haider-Tagebuch, Bd I, S. 84, Eintrag vom 25. 9. 39; Vormann, S. 114, berichtet allerdings, daß Brauchitsch ihn, als er sich am 27.9.39 in Zossen abmeldete, bestürmt habe mit der Frage: „Hat der Führer irgendwelche Absichten über einen Angriff im Westen geäußert?" Vormann antwortete, daß darüber „auch gesprächsweise in den letzten Wochen niemals ein Wort gefallen sei". Der ObdH meinte darauf mit sichtlicher Erleichterung: „Gott sei Dank. Ich hoffe, daß es nie dazu kommen wird." 14 Warlimont, S. 51; nach seiner eigenen Darstellung habe Warlimont sich „bis zuletzt" gegen eine Westoffensive gestellt: S. 66. 13

XI.

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

473

im Verein mit dem Generalstab des Heeres den Kampf gegen diesen Entschluß Hitlers aufzunehmen. Nur der Weg über den Heeresgeneralstab schien ihm zunächst möglich, da sowohl der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht als auch Jodl sich wieder völlig unzugänglich zeigten. Zu diesem angestrebten zweckgerichteten Zusammenspiel zwischen Oberkommando des Heeres und Wehrmachtführungsamt ist es allerdings nicht gekommen15. Bezeichnend aber ist diese Episode sowohl für die Behandlung, die Hitler hinsichtlich seiner Planung den Spitzen der Armee angedeihen ließ, wie für die unzureichende und unglückliche Zusammenarbeit zwischen Oberkommando der Wehrmacht und Oberkommando des Heeres. Nicht zuletzt war das die Folge des vor dem Kriege nicht gelösten Problems der Spitzengliederung als auch ein Symptom der tiefgreifenden Spaltung innerhalb der höheren Generalität. Am 27. September, dem Tag der Bekanntgabe der Kapitulation Warschaus, rief Hitler die Oberbefehlshaber der drei Wehrmachtteile zu sich16 und teilte ihnen seinen Entschluß mit, noch in diesem Jahr die Initiative im Westen, unter Umständen sogar unter Verletzung der Neutralität Belgiens und Hollands zu ergreifen, da es untragbar sei, den Angriff des täglich stärker werdenden Gegners abzuwarten17. Er befahl sodann, seinen Absichten entsprechende Pläne vorzubereiten und die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Der „Führer", die prinzipielle Abneigung des Oberkommandos des Heeres gegenüber 15 Vgl. Keitel, S. 223: „Ich habe damals den gleichen Standpunkt vertreten wie das OKH." Vgl. hierzu auch Warlimont, S. 71: „Die Spannungen in dem Verhältnis des OKW zu den Oberkommandos der Wehrmachtteile oder auf ihr Kernproblem zurückgeführt zwischen dem Oberkommando der Wehrmacht und dem Oberkommando des Heeres, die sich seit Spätherbst 1938 nach außen hin kaum noch bemerkbar gemacht hatten, waren mit einem Schlage wieder aufgelebt, als Hitler am 27. September 1939 zur Offensive im Westen aufrief." Und S. 72-73: „Die Generale Keitel und Jodl hatten an dem Entschluß des Obersten Befehlshabers zu dem Vorgehen im Westen nicht mitgewirkt. Da sie sich aber auch in diesem Fall rückhaltlos hinter ihn stellten, gerieten sie und mit ihnen, wenn auch nicht in gleichem Maße, ihr Stab dem OKH gegenüber wieder in die gleiche Konfliktlage wie zur Zeit der Sudetenkrise. Keitel selbst, nicht ohne Beklemmungen angesichts des Tuns und Wollens Hitlers, suchte bei dieser Frage nach Kräften zu vermitteln, wenn auch nur in der einseitigen Form, die Spitzen des Heeres durch gutes Zureden und unhaltbare Versicherungen für die Forderungen des Diktators zu gewinnen. Jodl hingegen dürfte in dieser Entwicklung einen wesentlichen Fortschritt in Richtung auf die von ihm vertretene capitis diminutio des Heeresgeneralstabs gesehen haben. Er hat denn auch, ohne sich etwa noch mit neuen Versuchen zur Abgrenzung der Verantwortlichkeit aufzuhalten, keinen Augenblick gezögert, die von Hitler gebotene Plattform in ihrem ganzen Umfang auszunutzen und sich auch seinerseits nach aller Gelegenheit in die Führung des Heeres einzuschalten." 16 Vgl. Jacobsen, S. 8 ff., sowie (zur Berichtigung von Kosthorst, S. 27, und Greiner, S. 55) ebd. -

-

-

S. 269, Anm. 2. 17

Zusammenfassung von Hitlers Ausführungen: Halder-Tagebudi, Bd I, S. 86-90, Eintrag vom Vgl. auch Warlimont, S. 51: „...waren sie alle, auch Göring, offensichtlich stark be-

27.9.39.

troffen. Niemand von ihnen hatte nach allem Anschein den Satz in der soeben erschienenen OKWWeisung Nr. 4, daß ,die Möglichkeit einer jederzeitigen offensiven Führung des Krieges im Westen gewahrt sein' müsse, gelesen oder in seiner vollen Bedeutung erfaßt." Nach Hubatsch, Weisungen, S. 27, erging diese Weisung am 25. 9. 39. ...

474

XI.

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

einer Westoffensive wohl ahnend und in Kenntnis der Weisung des ObdH vom 17. September 1939, hatte somit ohne Konsultation der militärischen Spitzen und über deren Kopf hinweg „eine Absicht geäußert, die zwar noch nicht als sein letzter Entschluß in der Frage der Kriegführung im Westen anzusehen war, doch in ihrer ganzen möglichen Tragweite kaum abschätzbar schien"18. Aufgrund dieser „Befehlsausgabe" mußte.das Oberkommando des Heeres nunmehr die angelaufene Umstellung des Heeres abstoppen und die Voraussetzungen und Möglichkeiten der befohlenen Offensive, prüfen. Der ObdH erörterte daher am 28. und 29. September in eingehenden Beratungen mit den Spitzen des Oberkommandos des Heeres, vor allem mit Halder, die durch Hitlers Absichten entstandene kritische Lage19. Sie kamen zu der Ansicht, es müsse der Versuch gemacht werden, Hitler unter Hinweis auf die unzureichenden Angriffsmittel des Heeres und die großen wehrwirtschaftlichen Schwächen Deutschlands20 entweder von seinem Vorhaben ganz abzubringen oder aber wenigstens ein Aufschieben der Offensive zu erreichen, so daß Zeit für eine politische Verständigung blieb21. Sie aber würde vollends unmöglich, wenn Deutschland eine Offensive im Westen beginne und dabei noch Belgien und Holland gegenüber eine Verletzung der Neutralität begehe. Sie erinnerten sich nur zu gut, wie sehr von der Weltöffentlichkeit dem ganzen deutschen Volk der Einfall in Belgien 1914 nachgetragen worden war. Ihre ernstesten Bedenken haben Brauchitsch und Halder dann wie es scheint am 30. September vor-

getragen22.

-

September begann damit jene „spannungsreiche Periode"23 des Ringens um die Ausweitung des Krieges im Westen, das gleichsam zu einem Machtkampf zwischen OberEnde

kommando des Heeres und Hitler wurde. Es charakterisierten sie der tiefe Gewissenskonflikt bei den verantwortlichen Führern des Heeres, ein beständiges Bemühen seitens des Oberkommandos des Heeres, Hitler zu überzeugen und ihn von seinem Vorhaben abzubringen, sowie die zermürbenden Überlegungen in den Reihen hoher und höchster Offiziere des Heeres, wie man „das ihnen verhängnisvoll erscheinende Beginnen verhindern"24 könne. In der ersten Oktoberhälfte stieg die Ungewißheit über den weiteren Gang der Ereignisse ebenso wie die aus den unterschiedlichen Auffassungen resultierende Spannung bei allen .

.

.

Beteiligten. Jacobsen, S. 9. Jacobsen, S. 10, und Halder-Tagebuch, Bd I, S. 91 ff., Eintrag vom 28. und 29. 9. 39. 20 Halder-Tagebuch, Bd I, S. 93, Eintrag vom 29. 9. 39: An diesem Tage erklärte General Thomas, der Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsstabes, dem Chef des Generalstabes des Heeres, Deutschland sei wehrwirtschaftlich und militärisch nicht in der Lage, einen langen Krieg zu führen. 21 Halder hatte am 28. 9. 39 seinen Abteilungschefs die Weisung erteilt, „keine Engherzigkeit und Schüchternheit" walten zu lassen bei der Zusammenstellung von Unterlagen „für grundlegende Auseinandersetzung mit Führer..." Über die geringen Erfolgsmöglichkeiten einer Offensive vgl. Bd I, S. 92, Eintrag vom 28. 9. 39. Halder-Tagebuch, 22 Jacobsen, S. 10 f.; Halder-Tagebuch, Bd I, S. 95, Eintrag vom 30. 9. 39. 23 18 19

24

Ebd. Ebd.

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

475

Da nahezu alle militärischen Berater Hitlers die Offensivpläne, allerdings aus verschiedenen Motiven heraus, ablehnten, kam es, wie Halder am 4. Oktober 1939 seinem Tagebuch anvertraute, bei Hitler zu einer „Krise schlimmster Art". Er war erbost, daß ihm die Militärs nicht folgten, sondern immer nur widersprachen25. Selbst Göring hat sich damals anscheinend mit fachlichen Argumenten für eine Verschiebung des Angriffes aus-

gesprochen26. Generaloberst Ritter v. Leeb äußerte sich am 3. Oktober gegenüber Brauchitsch überaus kritisch zur politischen Lage27. Das deutsche Volk fühle, wie er sagte, das Unnötige dieses Krieges, die militärischen Spitzen wüßten zudem seit Hitlers Rede auf dem Obersalzberg (22. August 1939), daß „der Führer diesen Krieg gewollt" habe. Hitlers demnächst beabsichtigtes „Friedensangebot" werde seiner Ansicht nach für die Briten nicht annehmbar sein. Brauchitsch scheint ihm zugestimmt zu haben. Er bemerkte, daß Hitler schwer zu beeinflussen sei. Im übrigen stünde der ObdH immer allein. Weder Göring, der gewiß für den Frieden sei, noch Raeder unterstützten ihn bei Hitler28. Der Entschluß, anzugreifen oder nicht, sei eine Nervenprobe. Er hoffe nur, daß Hitler die Nerven behalte und den Alliierten das Odium des Angriffs und damit der Neutralitätsverletzung überlasse. So könne vielleicht ein nicht rückgängig zu machender Entschluß Hitlers wenigstens bis zum Frühjahr verhindert werden29. Am 6. Oktober machte Hitler dann im Verlauf einer Reichstagsrede sein sogenanntes „Friedensangebot", das indessen keinerlei substantielle Vorschläge enthielt, die zur Grundlage einer Verständigung hätten gemacht werden können30. Vielmehr postulierte er praktisch die Unantastbarkeit und Unwiderruflichkeit der gegenwärtig bestehenden politischen und territorialen Situation. Leeb schrieb damals: „Man hat den Eindruck, er hat ein schlechtes Gewissen31." Wieweit Hitler in illusionärer Einschätzung der Lage sein Angebot tatsächlich aufrichtig gemeint hat, ist schwer zu sagen32. Immerhin hat er, noch bevor überhaupt eine Antwort der Westmächte erfolgt war, dem ObdH und dem Chef des Generalstabes des Heeres am 7. Oktober dargelegt, Deutschland müsse einem alliierten Vorstoß durch Belgien mit einer entscheidungsuchenden Offensive zuvorkommen33. Zwei

Halder-Tagebuch, Bd I, S. 97 f., Eintrag vom 4. 10. 39, wo es in Wiedergabe von Jodls Ausführungen über Hitlers Stimmung heißt: „Mißtrauen. Erbittert darüber, daß Soldaten ihm nicht folgen." Vgl. Keitel, S. 223 f. 26 Vgl. Jacobsen, S. 12; Weizsäcker, S. 267; Warlimont, S. 51. 27 Leeb, Aufzeichnungen vom 3.10. 39. 28 Vgl. Warlimont, S. 75: „Marine und Luftwaffe haben in jenen Monaten, soweit es um den Westen ging, nicht erst den Anspruch erhoben, auf den Kriegsplan entscheidenden Einfluß zu nehmen. In Ansatz und Führung der Operationen wußten ihre Oberbefehlshaber auch weiterhin sich den Einflüssen und Eingriffen Hitlers zu entziehen oder... ihre eigene Ansicht durchzusetzen." Dementsprechend habe auch Jodl sich gegenüber dem ObdM und ObdL betont 25

...

...

zurückgehalten. Vgl. dazu Jacobsen, S. 30. 39 Archiv für Außenpolitik und Länderkunde, 1939-1940, 31

29

32 33

Leeb, Aufzeichnungen vom 6. 10. 39. Vgl. dazu Weizsäcker, S. 266 ff. Halder-Tagebuch, Bd I, S. 99, Eintrag vom 7. 10. 39.

S. 823 ff.

XL

476

Tage darauf

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

immer hatten die Westmächte noch nicht geantwortet meldete Oberst Warlimont dem Oberkommando des Heeres, Hitler habe den 25. November als vorläufigen Angriffstermin in Aussicht genommen34. Generaloberst Ritter v. Leeb schrieb daraufhin am 9. Oktober voller Empörung: „Alle Anordnungen des Oberkommando des Heeres deuten darauf hin, daß man diesen Wahnsinnsangriff unter Verletzung der Neutralität Hollands, Belgiens und Luxemburgs wirklich machen will. Die Rede Hitlers im Reichstag war also nur ein Belügen des deutschen Volkes35." Einen Tag darauf wirkte Hitler nochmals, wie schon am 7. Oktober, auf den ObdH und den Chef des Generalstabes des Heeres in seinem Sinne ein. In einer Denkschrift36, die eine „radikale Absage"37 an jene seinen Offensivplänen widerstrebenden Militärs darstellte, führte er aus, daß jeder weitere Monat, in dem die Offensive nicht stattfände, einen „Zeitverlust zuungunsten der deutschen Angriffskraft" bedeute. Daher sei unter allen Umständen der Angriff als kriegsentscheidendes Verfahren der Verteidigung vorzuziehen. Sein Beginn könne nicht früh genug erfolgen38. Die Zeit arbeite politisch wie militärisch gegen Deutschland. Andererseits sei die deutsche Waffenüberlegenheit zur Zeit so groß, daß sie eine militärische Initiative geradezu erfordere. Was den Zeitfaktor anging, so war Hitlers Analyse sicherlich zutreffend. Interessanterweise war auch Beck ungefähr um dieselbe Zeit in zwei Denkschriften, die er durch persönliche Kanäle dem Oberkommando des Heeres zukommen ließ, in dieser Hinsicht zu gleichartigen Ergebnissen gekommen30. Hitlers Einschätzung der militärischen Möglichkeiten Deutschlands dagegen war völlig irrig. Eine gründliche Analyse des deutschen Militärpotentials der damaligen Zeit kommt zu dem Ergebnis, daß der Herbst 1939, „vom militärischen Standpunkt aus gesehen, der ungünstigste Zeitpunkt für das deutsche Heer" zu einer Entscheidung suchenden Offensive gegen die Westmächte gewesen sei40. Hitler jedoch hatte in opportunistischer Argumentation41 seine Denkschrift ganz darauf abgestellt, die ihm immer deutlicher gewordene Abneigung seiner militärischen Berater gegen seine Offensivpläne zu überwinden und sie für seine Absichten zu gewinnen. Er -

-

34

Ebd.

35

Leeb, Aufzeichnungen

Eintrag vom 9.10. 39. vom

9. 10. 39.

Abgedruckt bei Jacobsen, Dokumente, Nr. 3, S. 4 ff. Vgl. auch Warlimont, S. 65 : „Ganz aus eigenem ist auch jene umfangreiche ,Denkschrift' Hitlers entstanden, in der er seine Pläne und Anordnungen für das Vorgehen im Westen gegen den ihm klar bewußten Widerstand des Heeres zu begründen suchte", sowie die Aussage Jodls, IMT XV, S. 412: „Diese Denkschrift ist Wort für Wort vom Führer selbst diktiert und in zwei Nächten gemacht worden." 37 Jacobsen, S. 15. 36

...

38

Ebd. S. 18.

Vgl. BA/MA H 08-104/2: Denkschrift Becks „Zur Kriegslage nach Abschluß des polnischen Feldzuges" (Oktober 1939) und „Das deutsche Friedensangebot vom 6. 10.1939 und der mögliche weitere Kriegsverlauf" (10. 10. 39). Vgl. aber diesbezüglich Hitlers Argumentation, Anm. 41 dieses Kapitels. 39

48 41

Jacobsen, S. 21. Vgl. Jacobsen, S. 21 f.: „Es ist bezeichnend, daß

er [Hitler] ...im Frühjahr 1940 vor dem gleichen Zuhörerkreis immer wieder von den Vorteilen der Ruhezeit [im Winter 1939/40] sprach. nachdem er im Herbst 1939 behauptet hatte, die Zeit arbeite gegen Deutschland." ..,

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

477

forderte daher zum Schluß, unter allen Umständen müsse der Angriff noch in diesem Herbst durchgeführt werden. Dementsprechend erließ das Oberkommando der Wehrmacht am 10. Oktober 1939 mit Datum vom Vortage die „Weisung Nr. 6 für die Kriegführung"42, in der nochmals Hitlers entschlossener Wille, „aktiv und offensiv zu handeln"43, ausgedrückt und als Kriegsziel die „Vernichtung unserer westlichen Gegner" hingestellt wurde. Dem Oberkommando des Heeres oblag nunmehr pflichtgemäß die Aufgabe, gemäß der Weisung einen ersten Operationsplan auszuarbeiten. Zu jener Zeit hatte auch außerhalb des Oberkommandos des Heeres die kritisch-ablehnende Einstellung der nachgeordneten höchsten Befehlshaber ihren Niederschlag gefunden. Am 10. Oktober erörterten die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen C und B in Frankfurt die Möglichkeiten einer Westoffensive. Leeb und sein Chef des Stabes, Generalleutnant v. Sodenstern, äußerten ihre schroffe Ablehnung gegenüber einem derartigen Unternehmen. Der Oberbefehlshaber der seit kurzem neugebildeten Heeresgruppe B, Generaloberst v. Bock, war von der Durchführbarkeit einer Offensive ebenfalls nicht sehr überzeugt44. Leeb richtete am 11. Oktober eine von ihm und seinem Chef des Stabes verfaßte „Denkschrift über Aussichten und Wirkungen eines Angriffs auf Frankreich und England unter Verletzung der Neutralität Hollands, Belgiens und Luxemburgs" an den ObdH45. In einem Begleitschreiben an Brauchitsch führte er aus: „Schwere Sorge um unsere weitere Zukunft veranlaßt mich zu einer weiteren Betrachtung unserer gegenwärtigen Lage... Über meinen Lagebericht vom 7. Oktober hinaus möchte ich mich nochmals in dieser ernsten Stunde, die vielleicht auf Jahrzehnte über das Schicksal unseres Volkes entscheidet, an Sie mit beiliegender Denkschrift wenden, die auch manches schon Gesagte zusammenfassend wiederholt. Ich teile meine Auffassung wohl mit vielen, die sich die Mühe machen, über diese Lage nachzudenken46." In der Denkschrift kam der Generaloberst nach Erörterung der militärischen, wirtschaftlichen und politischen Aspekte zu dem Schluß, daß die geplante Offensive nicht zu verantworten sei. Der Bruch der Neutralität Belgiens müsse Belgien in die Arme Frankreichs treiben. Frankreich und Belgien hätten dann einen gemeinsamen Feind, „Deutschland, das zum zweiten Mal innerhalb eines Vierteljahrhunderts über das neutrale Belgien herfällt". Ein Bruch der Neutralität Hollands, Belgiens und Luxemburgs durch Deutschland werde das Reich politisch und wirtschaftlich mehr und mehr isolieren. Insbesondere werde sich Nordamerika den Einflüssen Englands und Frankreichs geneigter zeigen. Im eigenen Volk werde der Angriff größte Enttäuschung auslösen. Schon die gewaltsame Lösung der polnischen Frage habe in der Masse des deutschen Volkes keinen Widerhall gefunden. Die Disziplin des deutschen Volkes und sein unzerstörtes Vertrauen zur Frie-

42

48

Hubatsch, Weisungen, S. 32 f.

Jacobsen, S. 25. Halder-Tagebuch, Bd I, S. 99 f., Eintrag vom Eintrag vom 10. 10. 39. Bock-Tagebuch, 45 Abgedruckt bei Jacobsen, Dokumente, S. 79 ff. 48 Ebd. Vgl. auch Kosthorst, S. 43. 44

9. 10.

39; Leeb, Aufzeichnungen

vom

10. 10. 39;

XI.

478

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

densliebe des Führers ließ es den polnischen Krieg jedoch willig ertragen. Nun aber herrsche eine tiefe Sehnsucht nach Frieden im Volk. Der Angriff auf Belgien oder durch Belgien auf Frankreich bedeute die Fortsetzung des Krieges. Er werde den Kampfwillen des Volkes nicht zusammenschweißen, sondern aufspalten. Bleibe dagegen wie bisher „das deutsche Heer... an der Westgrenze des Reiches mit Gewehr bei Fuß stehen, so ist es schwerste kosten und doch unsere würde dem Feind Opfer unangreifbar. Jeder Angriff Abwehrbereitschaft nicht zerschlagen können. Es kann keinen militärischen Sieg Englands und Frankreichs geben." Das deutsche Volk werde erkennen, „daß wir nur durch die unnachgiebige Haltung Englands gezwungen werden, im Kriegszustand zu verharren. Es wird die Zwangslage begreifen und seine seelischen Kräfte anspannen, die mit ihr verbundenen Entbehrungen zu ertragen. Es wird im Falle eines feindlichen Angriffs wissen, daß es um die Verteidigung der Heimat geht. Endlich, und das ist wohl das wesentlichste, behält die Führung des Reiches die Armee völlig intakt als größten Machtfaktor für jede weitere Verhandlung in der Hand. Sie kann zu keinen ungünstigen Friedensbedingungen gezwungen werden." Auch Generaloberst v. Bock legte dem ObdH eine Lagebeurteilung vor, in der er vor einer Verletzung der belgischen und holländischen Neutralität warnte. Seine Auffassung ging dahin, daß ein Angriff keine Aussicht auf kriegsentscheidenden Erfolg haben werde. Lieber solle man die Nervenprobe auf sich nehmen, „den Angriff und die damit verbundene Neutralitätsverletzung Hollands, Belgiens und Luxemburgs dem Feinde zu überlassen"47. Selbst unter günstigen Verhältnissen sei ein Erfolg der deutschen Offensive durchaus ungewiß. Die Bock unterstellten Oberbefehlshaber der 4. und 6. Armee äußerten sich teilweise sogar sehr scharf gegen eine baldige strategische Offensive48. Damit hatte sich eine gewichtige Zahl höchster Truppenbefehlshaber eindeutig gegen Hitlers Offensivabsichten, mindestens für das laufende Jahr, ausgesprochen. Für die verantwortlichen Spitzen des Oberkommandos des Heeres setzte nunmehr ein erster Höhepunkt in dieser durch Hitlers Willensäußerung begonnenen Periode starker Spannungen ein. Ihr fachliches Urteil zwang sie, gegen den Plan einer entscheidungsuchenden Offensive zu opponieren. Mehr noch, ihr Verantwortungsbewußtsein drängte sie in Opposition gegenüber einem Vorhaben, das nicht nur jede Aussicht auf eine Beendigung des Krieges durch eine kluge Politik zunichte machte, sondern das unvermeidlich eine Ausweitung des von ihnen verabscheuten Krieges mit allen unübersehbaren Konsequenzen nach sich ziehen mußte. Seit Warlimonts Ankündigung vom 9. Oktober, seit Hitlers neuester Willensäußerung vom Tag darauf und seit Eintreffen der Führerweisung Nr. 6 hatte sich die Entwicklung weiter zugespitzt. Indessen war bis zum 12. Oktober die Antwort der westlichen Alliier...

auf das „Friedensangebot" Hitlers noch nicht eingetroffen. So wenig substantiell dieses gewiß auch war, so sehr mochte man im Oberkommando des Heeres doch einer

ten

47

Jacobsen,

48

Ebd.

S. 26, und

Kosthorst, S. 46.

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

479

letzten Hoffnung nicht entraten. Hatte doch der Verbindungsmann des Auswärtigen Amtes zum Oberkommando des Heeres, Vortragender Legationsrat v. Etzdorf, dem Chef des Generalstabes noch am 4. Oktober die Ansicht vorgetragen, Frankreich sei unter gewissen Bedingungen vielleicht verhandlungsbereit49. So mag es nicht unwahrscheinlich sein, daß die Spitzen des Oberkommandos des Heeres trotz allem noch eine Chance erhofften, zumal Staatssekretär v. Weizsäcker ebenfalls der Ansicht war, man müsse auch die geringste Möglichkeit ausnützen50. Diese vagen Hoffnungen belebten sich sogar noch durch Daladiers am 10. Oktober erfolgende Antwort auf Hitlers Reichstagsrede. Sie fiel wie Weizsäcker feststellte „eher ermutigend trotz aller ablehnenden Töne dennoch aus"51. Die Antwort des britischen Premiers vom 12. Oktober war allerdings entschieden schärfer. Er lehnte Hitlers Avancen eindeutig und bestimmt ab. Weizsäcker schreibt dazu: „Der 12. Oktober war ein Unglückstag. Wie gesagt, ich will nicht behaupten, daß England wirklich bereit gewesen wäre, einzulenken. Unter keinen Umständen aber hätte die Antwort Chamberlains völlig negativ genommen werden dürfen. Man müßte versuchen, den Faden fortzuspinnen. Hierzu kam es nicht. Hitler gab noch am Abend die Parole aus, Chamberlain habe die dargebotene deutsche Friedenshand zurückgewiesen. Der Krieg geht also weiter. Wenn eine Gelegenheit zum Einlenken vorhanden gewesen war, so war -

-

.

.

sie jetzt verpaßt52." Am Tag darauf unterrichtete der Staatssekretär den Chef des Generalstabes von Chamberlains Antwort und Hitlers Willensäußerung53. Damit schwand im Oberkommando der

Wehrmacht die letzte vage Hoffnung. Die Mitteilung Weizsäckers von der britischen Ablehnung des deutschen „Angebotes" sowie vor allem von Hitlers Reaktion auf Chamberlains Rede veranlaßten den ObdH und den Chef des Generalstabes des Heeres am nächsten Tag54 zu einer eingehenden Erörterung der Lage. Halder notierte darüber in seinem Tagebuch: „Eingehende Besprechung mit ObdH über Gesamtlage. OB 3 Möglichkeiten: Angriff, Abwarten, grundlegende Veränderungen. Für keine dieser durchschlagenden Aussichtsmöglichkeiten, letz-

Halder-Tagebuch, Bd I, S. 97, Eintrag vom 4.10. 39. Vgl. Weizsäcker, S. 226 ff.: „Ich befürwortete also, es nicht bei Hitlers Rede... bewenden zu lassen." Am 12. 10. 39 legte Weizsäcker dem Reichsaußenminister ein Memorandum vor mit dem Vorschlag, von dem geplanten Angriff im Westen abzusehen. Ebd. S. 270. 51 49

59

52

Ebd. S. 268. Ebd.

Halder-Tagebuch, Bd I, S. 104, Eintrag vom 12.10. 39. Diese Unterredung war eindeutig eine Folge der Halder am Tage zuvor von Weizsäcker gemachten Meldung. Zuvor hatten weder Hitlers Ausführungen vom 10.10. 39 noch das Eintreffen der OKW-Weisung den ObdH und Halder zu einer Erörterung der Lage veranlaßt, denn bis 53

54

13. 10. 39 stand für sie Chamberlains Antwort noch aus. Von ihr und von Hitlers Reaktion auf sie erfuhren sie erst an diesem Tag. Jetzt war auch die geringste Hoffnung dahin. Jetzt war von Hitler eine Forcierung seiner Absichten zu erwarten. Damit hatte sich die Lage so zugespitzt, daß sie derart weitgehende Erwägungen für notwendig hielten. Anders läßt sich kaum der Zeitpunkt der Brauchitsch-Halder-Unterredung erklären. Daher ist auch Kosthorst, S. 38, nicht zum

überzeugend.

XL

480

Staatsstreichpläne im Winter

1939-1940

wenigsten, da im Grunde negativ und Schwächemomente sdiaffend. Unabhängig davon Pflicht, militärische Aussichten nüchtern klarzulegen und jede Friedensmöglichkeit zu propagieren65." Dieser Besprechung kommt im Ablauf der Entwicklung eine außerordentliche Bedeutung zu56. Erstmals seit Kriegsbeginn erörterten die beiden höchstverantwortlichen Repräsentanten des Oberkommandos des Heeres neben den Möglichkeiten einer Durchführung der Offensive (wie Hitler es wollte) und dem „Abwarten" (also einer Operation im Nachzug auf einen alliierten Angriff, wie sie im Oberkommando des Heeres befürwortet wurde) ganz offen eine „grundlegende Veränderung". Daß damit eine staatsstreichähnliche Initiative gemeint war, ist offenkundig. Darauf deutet die Qualifizierung „im Grunde negativ und Schwächemomente schaffend" hin; für negativ hielt Brauchitsch einen derartigen revolutionären Akt, weil er keine Ansätze zu einer nachrevolutionären Ordnung zu sehen glaubte, und die Formulierung „Schwächemomente schaffend" bezog sich auf die Ungewißheit, ob und wie die Alliierten im Fall innerdeutscher Auseinandersetzungen reagieren würden. Brauchitsch sah daher lediglich die Möglichkeit einer Opposition mit den Mitteln und in den Grenzen des Ressorts: militärische Argumente gegen Hitlers Offensivabsichten „militärische Aussichten nüchtern klarzulegen" und Hinweis auf jeden sich abzeichnenden diplomatischen oder politischen Ansatz zur Verhinderung einer Kriegsausweitung oder gar für ein Arrangement der kriegführenden Mächte. Halder stimmte seinem Oberbefehlshaber bezüglich der Einschätzung einer Offensive und der operativen Konzeption des Abwartens wohl zu; er war jedoch im Gegensatz zu Brauchitsch geneigt, nicht von vornherein die gegebenenfalls zwingende Notwendigkeit

teres am

-

-

eines aktiven Handelns gegen Hitler als indiskutabel abzutun. Vielmehr hatte er in der Unterredung das Gespräch überhaupt erst auf die Möglichkeit, „grundlegende Veränderungen" herbeizuführen, gebracht57, denn das, was er in seinen Notizen als Darlegungen des ObdH festgehalten hat, stellte nichts anderes dar als die Gegenäußerungen Brauchitschs auf Halders Bemerkungen und Meinungsäußerungen58. Er hatte auch dem ObdH neben den beiden anderen Alternativen jene dritte zur Erwägung unterbreitet. Bereits am Tage zuvor scheint er in dem Gespräch mit Weizsäcker den Gedanken erörtert zu haben, gegen Hitler im Augenblick des Angriffsbefehls aktiv zu werden59. So erklärt sich außerdem u. a. auch, wieso gerade am 14. Oktober diese gewichtige und bedeutungsvolle Unter55 56

Halder-Tagebuch, Bd I, S. 105, Eintrag vom 14.10. 39. Jacobsen, S. 26, und Kosthorst, S. 38 ff. und 54 ff.

57

Kosthorst,

58

Ebd.

S. 54.

Dazu Kosthorst, S. 76, Anm. 27; Weizsäcker, S. 270, schreibt, daß er „ihm [= Halder] zustimmte, als er im Oktober 1939_Anstalten traf, Hitler festzunehmen". Das wird man wohl auf die am 13. 10. 39 erfolgte Besprechung zwischen Weizsäcker und Halder beziehen dürfen, 69

mit den Erörterungen zwischen dem ObdH und dem Generalstabschef vom 14. 10. 39 in Zusammenhang sieht. Danach scheint Halder schon am 13. 10. 39 gegenüber Weizsäcker den Gedanken an „grundlegende Veränderungen" erwähnt und diesem zugestimmt zu haben. wenn man es

XL

redung

stattfand.

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

Spätestens

von

diesem

Tage

an

481

hatte sich in Halder der Gedanke

an

eine staatsstreichähnliche Aktion als eine neben anderen mögliche Initiative zur Verhinde-

Kriegsausweitung festgesetzt. Gewiß, das war noch kein fundierter Entschluß, allen Umständen so zu handeln Halder hat auch fortan stets jede Möglichkeit zur Opposition und Gegenwehr im Rahmen des Ressorts wahrgenommen aber der Gedanke an eine sich eventuell zwingend ergebende Notwendigkeit zur Aktion bestimmte von diesem Augenblick an für geraume Zeit stark seine Überlegungen, ohne daß er sofort in diesem Sinne zu handeln begann60. Vielmehr wartete er noch ab. Man würde sich die Dinge zu einfach und unrealistisch vorstellen, wollte man annehmen, daß bei traditionsgebundenen Militärs die theoretische Erörterung einer Aktion gegen die Staatsführung sogleich mit automatischer Konsequenz eine entsprechende Aktivität zur Realisierung vorerst nur erwogener Alternativen auslöste. Immerhin aber war die Unterredung vom 14. Oktober ein entscheidender Markstein im Ablauf des Geschehens. Brauchitsch jedoch tat zu diesem Zeitpunkt den Schritt, den Halder zu tun im Begriffe war, nicht einmal im Gedanklichen. Er fuhr fort, bis an die Grenze seines physischen und psychischen Vermögens von seiner offiziellen Position aus gegen Hitlers Absichten fachlich zu opponieren. Das war gewiß nicht wenig, und mit Recht schreibt Kosthorst dazu: „Die historische Gerechtigkeit gebietet, diesen Einsatz nicht zu unterschätzen61." Andererseits bleibt jedoch gleichfalls als historischer Befund bestehen, daß der Entschluß des ObdH, die engen Grenzen militärisch-traditioneller Korrektheit nicht zu überschreiten, auffallend zu seinem in den vorhergehenden Abschnitten geschilderten Verhalten gegenüber anderen relevanten Problemen politisch paßt. Darin wird das Bild einer Persönlichkeit transparent, die bei der Konfrontation mit politisch-moralischen Problemen nicht hart und kompromißlos zu reagieren vermochte. In Konsequenz des Entschlusses zur fachlichen Opposition bewog der ObdH den Oberbefehlshaber der 6. Armee, Generaloberst v. Reichenau, der bei Hitler immer noch ein offenes und geneigtes Ohr finden mochte, unverblümt seine Bedenken gegen die geplante Offensive vorzubringen. Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A, Generaloberst v. Rundstedt, auch er bei Hitler wohlgelitten, erhielt, wie es scheint, geradezu von Brauchitsch den Auftrag, dem „Führer" seine Absichten auszureden62. Der ObdH selbst hat sich in den nächsten Wochen und Monaten immer wieder Hitlers Planungen im Rahmen der Möglichkeiten seiner Position entgegengestellt63. Gleichzeitig wurden fortan alle, auch die geringsten Indizien für irgendwelche diplomatisch-politischen Chancen vom Oberkommando des Heeres aufmerksam beobachtet und rung der unter

-



geprüft64. Bezüglich des zeitlichen Ablaufes zwischen dieser Unterredung und Halders konkreten Putschplanungen (Auftrag an Groscurth, Oster und Stülpnagel) irren Sendtner, S. 395, und Kosthorst, 80

S. 58, Anm. 58 (trotz einschränkender Formulierungen, S. 54 f.) wie beweisen, die beide Autoren noch nicht kannten. 61 Kosthorst, S. 39. 62 Vgl. Haider-Tagebuch, Bd I, S. 106, Eintrag vom 15. 10. 39. 63 dazu Kosthorst, S. 40 f., und Warlimont, S. 73. Vgl. 84 Dafür bringen die Tagesnotizen Tippeiskirchs vielfache Belege. 31

die

Groscurth-Aufzeichnungen

XI.

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Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

Halder fuhr ebenfalls fort, sich auf der Grundlage seiner dienstlichen Kompetenzen gegen eine Offensive im Westen zu stellen. Er trug dem Chef des Wehrmachtführungsamtes, General Jodl, am 15. Oktober 1939 im Rahmen einer Orientierung über den Stand der Operationsplanung erneut seine sehr ernsten Bedenken gegen das Unternehmen vor65. Jodl aber schrieb darüber in sein Tagebuch: „Wir gewinnen diesen Krieg, und wenn er hundertmal einer Generalstabsdoktrin widerspricht, weil wir die besseren Truppen, die bessere Ausrüstung, die besseren Nerven und eine geschlossene, zielbewußte Führung haben*6." Deutlicher konnte die Spannung zwischen den führenden Männern des Oberkommandos der Wehrmacht und des Oberkommandos des Heeres nicht zum Ausdruck kommen; deutlicher konnte aber auch die Spaltung, die unter der höheren Generalität des Heeres in Denkweise und militärischem Ethos eingetreten war, schwerlich artikuliert werden. Die nächste wichtige Zäsur in der Vorgeschichte der Westoffensive lag am 16. Oktober. Am Abend dieses Tages erklärte Hitler dem ihm in der Reichskanzlei Vortrag haltenden ObdH, er habe nun endgültig jede Hoffnung aufgegeben, mit den Westmächten zu einer Verständigung zu kommen67. Sein Entschluß stehe daher fest: er werde die Westmächte militärisch besiegen, da vorher mit ihnen nicht zu verhandeln sei. Die Offensive, die so früh wie möglich beginnen müsse, sei für die Zeit zwischen dem 15. und 20. November in Aussicht zu nehmen. Damit hatte Hitler seinen „unabänderlichen Entschluß" zur Offensive klar bekundet; erstmalig hatte er auch, wenn auch vorläufig und mit Vorbehalten, einen in Aussicht genommenen Termin genannt68. Die Spitzen des Oberkommandos des Heeres, die wie die Vorgänge des 14. Oktober zeigten noch Erwägungen über den weiteren Gang der Dinge anstellten, wurden durch Hitlers Äußerungen sowohl widerstrebend vorangetrieben als auch zutiefst schockiert. Canaris fand Halder am 16. Oktober nervlich völlig zermürbt und Brauchitsch von tiefer Ratlosigkeit und Resignation ergriffen vor69. Der ObdH sagte dem Admiral, Hitler verlange den Angriff und verschließe sich jeder sachlichen Einwendung. In diesem Zusammenhang ist sogar das Wort „Blutrausch" gefallen. Dem Oberkommando des Heeres blieb demnach zunächst gar nichts anderes übrig als nach den „recht gedankenlos skizzierten Erwägungen" Hitlers eine erste Aufmarschanweisung gleichsam aus dem Handgelenk zu entwerfen, die am 19. Oktober dann herauskam70. Sie war „eine Art Provisorium nicht viel mehr als der Ausdruck einer aufgezwungenen, ideenarmen Improvisation"71. -

-

-...

Haider-Tagebuch, Bd I, S. 106, Eintrag vom 15.10. 39. Tagebuch Jodl, Eintrag vom 15.10. 39, und Jodls Aussage IMT XV, S. 420. 87 Tagebuch Jodl, Eintrag vom 16. 10. 39, und Halder-Tagebuch, Bd I, S. 107, Eintrag vom 17.10.39: „Ergebnis der Besprechung ObdH mit dem Führer: Hoffnungslos." Vgl. auch Greiner, S. 64. 88 Jacobsen, S. 27 f. 89 Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 16.10.39: „Admiral bei Halder: kommt sehr erschüttert zurück. Auch von Brauchitsch ist ratlos. Führer verlangt Angriff. Verschließt sich jeder sachlichen Einwendung. Nur noch Blutrausch. Man könne nichts mehr machen ..." Vgl. auch Bock-Tagebuch vom 17.10. 39. 70 Vgl. Jacobsen, S. 32; die Aufmarschanweisung in: Jacobsen, Dokumente, S. 41 ff. 71 So Jacobsen, S. 32, nach eingehender Analyse. 65

66

...

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

483

dem Zeitdruck, unter dem das Oberkommando des Heeres arbeiten mußte; man wird darin indessen auch ein Symptom des Widerstrebens zu sehen haben. Man legte einen improvisierten, unausgereiften Plan vor, um Zeit zu gewinnen. Gleichzeitig bewies das Oberkommando des Heeres demonstrativ seine Interesselosigkeit, indem es Keitel die Vorlage dieser Aufmarschanweisung bei Hitler überließ72. Hitler ließ sich jedoch die Initiative nicht aus der Hand nehmen. Er entsandte Keitel und Jodl am 22. Oktober zu Halder; sie sollten seine Einwendungen zu der Aufmarschanweisung des OKH und gewisse neue Überlegungen nachdrücklich darlegen73. Gleichzeitig drückte er seine Absicht aus, am 12. November anzugreifen. Damit hatte Hitler erstmals am 22. Oktober einen konkreten Angriffstermin ausdrücklich festgesetzt74. Das war zugleich ein erneuter direkter Druck in zeitlicher Hinsicht auf das Oberkommando des Heeres. Außerdem bestellte er zum 25. Oktober die Generalobersten v. Bock, v. Reichenau und v. Kluge nach Berlin, um die schleppende Operationsplanung des Oberkommandos des Heeres voranzutreiben und die hohe Generalität im Sinne seiner Absichten anzuspornen76. Bei dieser Gelegenheit tat er alle vorgebrachten Einwände der drei Oberbefehlshaber, die zu einer Verschiebung der Offensive rieten, kurzerhand ab. Zusätzlich versuchte er am gleichen Tag, nochmals auf Halder und Brauchitsch einzuwirken76. Gleichzeitig legte er seinerseits neue operative Anregungen vor77 und ließ am nächsten Tag durch Jodl dem Oberkommando des Heeres weitere Detailvorschläge übermitteln78. Einen Tag darauf, am 27. Oktober, wies er einen Versuch Brauchitschs, ihn nochmals zur Verschiebung der Offensive zu bewegen, nicht nur zurück, sondern betonte energisch, an dem von ihm vorgesehenen Termin, dem 12. November, sei unbedingt festzuhalten79. Am nächsten Tag fällte er die Entscheidung über den bisher noch ungeklärten neuen Ansatz der Panzer- und motorisierten Verbände und deren doppelten Schwerpunkt80. Das Oberkommando des Heeres sah sich am 29. Oktober daher gezwungen, eine neue Aufmarschanweisung herauszugeben, in der die Schwächen der ersten, nunmehr außer Kraft gesetzten Weisung beseitigt und hinsichtlich Tiefengliederung und Schwerpunktansatz Ver-

Das

lag gewiß

an

besserungen vorgesehen waren81. „Wenn man es... seitens des OKH... Keitel überließ, sogar die des Heeres für den Westen Hitler vorzutragen, so wurden damit zweifellos die Grenzen überschritten, die einer passiven Resistenz im Interesse des Heeres gesetzt bleiben mußten." 73 Halder-Tagebuch, Bd I, S. 111, Eintrag vom 22.10. 39, und Tagebuch Jodl vom 21.10. 39. 74 Halder-Tagebuch, Bd I, S. 111, Eintrag vom 22.10. 39. 75 Ebd. S. 113, Eintrag vom 25.10. 39, und Tagebuch Jodl vom 25.10. 39; vgl. auch Bock-Tagebuch, Eintrag vom 25.10. 39, und Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 31.10. 39, sowie Hassell, S. 94, wonach Reichenau am schärfsten gegen Hitlers Plan Stellung genommen habe. 78 Jacobsen, S. 39 ff. 77 Ebd. 78 Ebd. S. 40. 79 Ebd. S. 41. 89 Ebd. 81 Ebd. 72

Warlimont, S. 66 und

erste

71 :

.Aufmarschanweisung'

484

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Hitler beharrte also nicht nur auf seinem Entschluß anzugreifen; vielmehr trieb er zwischen dem 16. und 28. Oktober die Dinge energisch weiter voran, ging über alle sachlichen Einwände hinweg und zwang die widerstrebenden Führer des Heeres durch Terminfestlegungen und ständige, drängende Anregungen unter seinen Willen. Er bestimmte eindeutig das Tempo. Während der ObdH, erschreckt durch diese Dynamik, von nun an versuchte, seinen ressortgebundenen Kampf gegen den Offensivplan zu intensivieren, eine Phalanx der obersten Generalität gegen Hitlers Vorhaben zustande zu bringen und nochmals eine persönliche Intervention bei Hitler in Aussicht nahm82, hatte sich in Halders Überlegungen seit dem 16. Oktober der Gedanke an eine „grundlegende Veränderung", den er erstmals zwei Tage zuvor in die Diskussion gebracht hatte, immer stärker in den Vordergrund geschoben. Bock fand ihn am 16. oder 17. Oktober „sichtlich niedergeschlagen" vor83. Canaris will sogar wie Groscurth dramatisierend als Résumée eines am 16. Oktober 1939 Anzeichen eines „völligen Berichtes des Admirals notierte84 Nervenzusammenbruches" bei dem Chef des Generalstabes des Heeres bemerkt haben, also an dem Tage, an dem Hitler dem Oberkommando des Heeres gegenüber seinen „festen Entschluß" zum Angriff bekundete. Diese starke nervliche Erregung, die jene Offiziere bei Halder zu jener Zeit konstatierten, wird man als Zeichen dafür nehmen müssen, daß der Chef des Generalstabes des Heeres gerade in diesen Tagen sich immer unausweichlicher vor die quälende Frage gestellt sah, was man zu tun habe, um dem Verhängnis zuvorzukommen. Bock gegenüber äußerte er am 17. Oktober, er stehe „vor der Frage, was er und der ObdH machen sollen, wenn der Führer weiter auf völliger Ablehnung der militärischen Vorschläge beharrt"85. Im Grunde sah er klarer, mindestens aber eher als Brauchitsch88, daß noch so stichhaltige fachliche Einwände und Bedenken, mochten sie noch so energisch und von noch so vielen verantwortlichen Militärs vorgebracht werden, bei dem Diktator nicht fruchteten. Daher ließ ihn der immer stärker sich aufdrängende Gedanke an eine gewaltsame Lösung des Konfliktes nicht mehr los. Daß die wachsende Einsicht in die Ausweg- und Nutzlosigkeit ressortgebundener Opposition sowie, als Konsequenz daraus, die Erkenntnis, eine gegen Hitler gerichtete Aktion als ultima ratio ins Auge fassen zu müssen, den Generalstabschef des deutschen Heeres in schwere seelische Kämpfe stürzten und in ihm eine schier unerträgliche nervliche Spannung hervorriefen87, wird auch der verstehen, der niemals in ähnlicher Situation war. Wenn Halder gegen Ende Oktober der Realisierung des seit Monatsmitte erwogenen Gedankens -

-

82

Ebd.

83

Bock-Tagebuch, Eintrag vom 17.10. 39. Vgl. Anm. 70. Bock-Tagebuch, Eintrag vom 17.10. 39.

84 85

peinlich korrekte Art zeigt seine Bemerkung an Bock, er wisse, daß sich Reichenau Angriff ausgesprochen habe; er möchte aber nicht, daß der Eindruck entstünde, er „schöbe diesen vor, um seine Meinung zu verfechten". Bock-Tagebuch, Eintrag vom 17. 10. 39. 87 Halder-Tagebuch, Bd I, S. 115, Eintrag vom 27. 10. 39: „Besprechung mit ObdH: abends allein (abgespannt und niedergeschlagen)." Nach Kordt, S. 357, deutete Halder in jenen Tagen Weizsäcker gegenüber an, in welche Richtung seine Gedanken gingen. 88

Brauchitschs

gegen den

XL

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485

eine außergewöhnliche Aktion immer nähertrat, wenn er schließlich wie noch zu zeigen ist Ende Oktober/Anfang November in diesem Sinne die Initiative ergriff, dann hat unbeschadet der Tatsache, daß eine derartige Vorstellung in seinem eigenen Kopf erwachsen war dazu nicht unwesentlich beigetragen, daß auch andere Kräfte innerhalb und außerhalb des Oberkommandos des Heeres damals Erwägungen angestellt haben, die in die gleiche Richtung gingen. Gegen Ende Oktober war damit eine Konstellation entstanden, die einer entsprechenden konspirativen Aktivität einen Ansatz bot. Die dahin führende Entwicklung gilt es im folgenden zu betrachten. an

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Der schnelle und überwältigende Waffenerfolg des polnischen Feldzuges hatte die seit Kriegsausbruch in lockerer Verbindung stehenden zivilen Oppositionellen in tiefe Ratlosigkeit gestürzt88. Zwar waren sie überzeugt, daß noch so viele Siege am katastrophalen Ausgang des Krieges für Deutschland und Europa nichts ändern würden, zumal Hitlers Politik der Sowjetunion ein Vorrücken nach Westen ermöglicht hatte, aber angesichts der Triumphe des „Führers" sahen sie zur Zeit keinerlei Möglichkeiten, eine Änderung der Lage herbeizuführen. Das bedrückte sie um so mehr, als sie seit Anfang Oktober erfahren hatten, daß Hitler eine Offensive im Westen unter Bruch der Neutralität Hollands und Belgiens beabsichtigte89. Die Erörterungen, die der in seiner Aktivität nie erlahmende Goerdeler mit seinen Gesinnungsfreunden, vor allem mit Hassell, Beck und Popitz, pflegte, zeigen mit erschreckender Deutlichkeit die Ratlosigkeit und Ohnmacht dieser Kreise. Sie ergingen sich in abenteuerlichen Hirngespinsten, illusionären Lagebeurteilungen und utopisch-irrealen Plänen. Bei einer längeren Besprechung mit Hassell am 11. Oktober stimmte Goerdeler mit seinem Gesprächspartner darin überein, daß es hohe Zeit sei, „den hinabrollenden Wagen zu bremsen" und dem „verbrecherischen Leichtsinn"90 der Hitlerschen Kriegspolitik Einhalt zu gebieten; dann entwickelte er seine Vorstellungen von einem möglichen Vorgehen zu diesem Zweck und kam dabei auf seine schon früher geäußerte Idee zurück91, die Westmächte sollten in der Friedensfrage die Initiative an sich reißen und maßvolle Vorschläge machen92, in Deutschland aber müsse der Rechtsstaat wiederhergestellt sowie das Staatsleben durch „irgendein berufsständisch gegründetes Organ" kontrolliert werden93. In diesem Zusammenhang erörterten beide den Gedanken eines „Ubergangskabinetts Göring", ein Gedanke, zu dem sich angeblich auch Beck durchgerungen habe94. Sie knüpften hierbei offensichtlich an Görings bekannte Kriegsscheu an. Hierzu und zum folgenden vgl. Ritter, Goerdeler, S. 233 f. S. 86 ff. (11.10.39). 99 Ebd. S. 87. 91 Ebd. S. 89 und Ritter, Goerdeler, S. 234 f. 92 Ebd.: deutsche Teile Polens an uns, unabhängiger Reststaat, Neuordnung der Tschechei..." 93 Ebd. S. 89 f. Hassell warnt allerdings wohl eingedenk der Folgen der Forderungen des amerikanischen Präsidenten im Jahre 1918 „vor innerpolitischen Forderungen durch äußere Gegner". Dazu Ritter, Goerdeler, S. 235. 94 Ebd. S. 89; ob Goerdeler damit Becks Ansicht richtig wiedergegeben hat, ist zweifelhaft. Vgl. Hassell, S. 99, und Ritter, Goerdeler, S. 235. 88 89

Hassell,

„...

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486

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Goerdeler erwähnte, daß ihn entsprechende Avancen aus der Umgebung des Feldmarschalls erreicht hätten. Der Angelpunkt der Goerdelerschen Überlegungen war der Vorschlag, daß, wenn seitens der Westmächte ein derartiges Friedensangebot erginge und Hitler es annähme05, „die Entwicklung ihn fort- oder mitreißen" würde; im Falle einer Ablehnung jedoch „müsse man über ihn hinweggehen"96. Wie das geschehen sollte und mit Hilfe welcher Kräfte, das war auch ihm nicht klar. Das Vage, Utopische, ja Phantastische derartiger Gedanken wird auch Hassell nicht verborgen geblieben sein, denn er vermerkte dazu: „Die ganze Sache ist noch"ziemlich unausgegoren97." Ebenso mischten sich unterschiedslos Illusion und Realität, wenn Goerdeler annahm, daß „die meisten stellvertretenden kommandierenden Generäle in der Heimat mit ihren Stäben" im Sinne seiner Vorstellungen positiv ansprechbar wären, gleichzeitig aber erklärte, Halder und Canaris seien völlig mit den Nerven herunter und auf Brauchitsch dürfe man keine großen

Hoffnungen setzen08. Hassell faßte das ausweglose Dilemma dieser zivilen Oppositionskreise einige Tage später klarsichtig in seinem Tagebuch mit den Worten zusammen99: „Der Zustand, in dem sich mitten in einem großen Kriege Deutschlands die Mehrzahl der politisch klar denkenden, einigermaßen unterrichteten Leute befinden, die ihr Vaterland lieben und sowohl national wie sozial denken, ist geradezu tragisch. Sie können einen Sieg nicht wünschen und noch weniger eine schwere Niederlage, sie müssen einen langen Krieg fürchten, und sie sehen keinen wirklich realen Ausweg." Aus dieser Ohnmacht heraus schmiedeten sie weiterhin „wilde Pläne"100. Goerdeler wollte Göring, eventuell sogar Hitler anbieten, ihn ins feindliche Ausland zu entsenden, um „von dort den Frieden unter Bedingungen mitzubringen, die Hitler nicht schlucken könne, worüber dieser dann stürzen müsse"101. Als ob der Diktator eines totalitären Polizeistaates den Funktionsgesetzen einer von Parlament und öffentlicher Meinung abhängigen demokratischen Regierung unterworfen wäre102. Weniger phantastisch, aber letztlich auch nicht besonders realistisch war Schachts Versuch, über einen ihm bekannten amerikanischen Bankier dem Präsidenten der USA vorzuschlagen, als Vermittler aufzutreten; Schacht deutete in seinem Brief an den Amerikaner an, derartige Friedensgespräche könnten „für die Entwicklung gewisser Voraussetzungen" zum Erfolg förderlich sein103. Graf Welczeck, der frühere deutsche Botschafter in Paris, dagegen glaubte, mit Leuten aus der Umgebung der obersten SS-Führung weiterzukommen, die wie Hassell in -

95 98

Ritter, Goerdeler, S. 234.

Hassell, S. 90. Ebd. 98 Ebd. S. 89. 99 Ebd. S. 92. 180 So Ritter, Goerdeler, S. 235, nach Hassell, S. 93. 101 Hassell, S. 94; Goerdeler hatte inzwischen Hassells Ansicht akzeptiert, daß „innerpolitische Forderungen nicht offen von außen gestellt werden dürfen". Ebd. S. 93 (19. 10. 39). 182 Hassell, S. 94, zeigt, daß Hassell skeptisch blieb. 198 Vgl. Gisevius, Bd II, S. 128 ff., und IMT XLI, S. 256 ff., und XII, S. 249 ff., sowie Ritter, Goerdeler, S. 236 f. 97

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

487

der Gedanken des Botschafters notierte „im Grunde so dachten wie wir und besonders schon erwägen, ob man Ribbentrop der Gegenseite zum Fraß hinwerfen solle"104. Popitz andererseits verfolgte immer noch Pläne, in denen Göring eine Rolle spielte, da in dessen Umgebung „erstaunlich offen" Kritik an Hitler geübt werde. Göring habe „zitternde Angst vor der Gestapo, die Akten über ihn hat". Wenn man garantieren würde, daß man ihm diese Akten ungelesen überantworte, würde er ohne Besinnen handeln105. So gebar die Ohnmacht immer neue Utopien, und die erzwungene Tatenlosigkeit führte dazu, daß diese Patrioten ihre Kraft an höchst zweitrangige Dinge verschwendeten, wie beispielsweise an die Frage, welchen Prätendenten man „am Tage danach" bei einer Wiedereinführung der Monarchie in Aussicht nehmen könne106 Erörterungen, die infolge der momentanen Unmöglichkeit zu handeln psychologisch nur als Ausweichphänomene erklärbar sind, wenn man sie nicht auf die Blickbegrenzung ihrer deutschnationalen, steril-konservativen Vorstellungswelt zurückführen will107. Wohl hatte der nüchterne Weizsäcker schon am 17. Oktober seinem früheren Kollegen Hassell in realistischer Einschätzung vor Augen gestellt, daß bei der „Besessenheit" Hitlers und Ribbentrops der „einzige Ausweg" ein Eingreifen des Militärs sei108 der Staatssekretär folgte damit seiner damals stets vertretenen Ansicht109 -, und auch Popitz sah der handelnde General"110. gelegentlich klar und meinte, die „Hauptsache... [sei] Aber wo war ein solcher General? In der ersten Oktoberhälfte bestanden noch keinerlei Kontakte zu handlungsfähigen und handlungswilligen Militärs. Sie waren auch angesichts der relativen Abgeschlossenheit der Stabs- und Hauptquartiere, insbesondere des Oberkommandos des Heeres in Zossen, gewiß nicht ganz einfach herzustellen111, obwohl es bei einigem intensiven Bemühen keineswegs unmöglich gewesen wäre, wie spätere Vorgänge beweisen112. Vielmehr verhinderte ein psychologisches Handicap derartige Versuche. Indirekt machte es auch ein Herauskommen aus dem Teufelskreis unfruchtbaren Raisonnements und Pläneschmiedens unmöglich113. Hassells Tagebucheintragungen für die in Frage stehende Zeit zeigen nämlich, wie stark infolge bisheriger „Erfahrungen", die subjektiv als „Enttäuschungen" gewertet wurden, die Ressentiments gegenüber den an höchster Stelle befindlichen Heeresgenerälen in diesen Kreisen waren. Diese Voreingenommenheit wurde durch ebenso subjektive Urteile außer Dienst befindlicher Militärs114, zu denen sie

Wiedergabe

-

-

-

...

194

Hassell, S. 93 (16.10. 39).

Ebd. S. 97 (30.10. 39). 196 Ebd. S. 94 f. (19. 10. 39). 107 Vgl. dazu die scharfe Kritik bei Graml-Mommsen, in: Schmitthenner-Buchheim, S. 15 ff. und S. 73 ff. 188 Ebd. S. 94 vom 17.10. 39. 109 Vgl. Anm. 59 dieses Kapitels. 110 Hassell, S. 94, vom 19.10. 39. 111 Kosthorst, S. 66, überschätzt wohl die Schwierigkeiten in dieser Hinsicht. 1,2 Vgl. unten S. 536 und 547 dieser Arbeit. 113 Hätten bessere Kontakte bestanden, dann wäre auch ein größerer Gleichklang der Ansichten und Absichten sowie eine ausgewogene gegenseitige Einschätzung gefördert worden. 195

114

Vgl.

dazu

beispielsweise Hassell, S. 93-94.

488

XI.

Staatsstreidipläne im Winter

1939-1940

Kontakte hatten, noch genährt; denn für die oppositionellen Zivilisten besaßen deren Auskünfte naturgemäß das Gewicht besonderer Kompetenz. So treffend derartige Beurteilungen im Einzelfall auch gewesen sein mögen, so trugen sie in der damaligen psychologischen Situation der zivilen Opposition fraglos noch dazu bei, die Reserve gegenüber den aktiven Militärs zu verstärken. Beck, mit dem jene zivilen Oppositionellen in häufigem Kontakt und Gedankenaustausch standen, verfügte gegenwärtig auch über keinerlei nennenswerte direkte Beziehungen zu den führenden Militärs115. Hassell notierte Mitte Oktober nach einem Gespräch mit Beck, die Generalität scheine ihn ziemlich liegen zu lassen116. Diese Lage muß für den Generalobersten nicht leicht zu ertragen gewesen sein. Seine ehemaligen Generalskameraden, von denen er sich seit dem Sommer 1938 zutiefst enttäuscht sah, hatten das Heer, das ja auch in gewisser Weise mit seine Schöpfung war, in einem Blitzfeldzug zum Siege geführt; er aber saß in Berlin als Privatmann. Er erfuhr das innerlich nicht leicht zu bewältigende Los des Pensionärs, der sich abseits stehen sieht, während die Kameraden in voller Aktivität erfolgreich in seinem altvertrauten Milieu tätig waren. Oster berichtete am 24. September seinem Gesinnungsfreund Groscurth, daß Beck „tatenlos herumsitze und seiner Tochter... politische Exposés schreibe"117; für den Generalobersten war die Möglichkeit, seine Gedanken zur Lage niederzuschreiben, gewiß nicht nur ein Mittel zur gedanklichen Klärung, sondern sicherlich auch ein Versuch, die aus der erzwungenen Tatenlosigkeit sich ergebenden nervlichen Spannungen abzureagieren118. Wie sehr diese Lage ihn innerlich doch mitnahm, mag aus Goerdelers Bericht symptomatisch deutlich werden, nach dem Beck die Fassung verloren habe119, als sie beim Abhören eines englischen Senders die ritterlich lobenden Worte eines früheren englischen Generals über das alte deutsche Offizierkorps und über den Generalobersten v. Fritsch sowie das Lied vom guten Kameraden hörten. Diese eigentümliche psychologische Situation wird man nicht übersehen dürfen, will man Becks damalige Äußerungen und Reaktionen verstehen und gerecht beurteilen. Erschwerend kam hinzu, daß Beck sich seit den Ereignissen, die zu seinem Abgang geführt hatten, vom ObdH im Stich gelassen fühlte, daß er seit seinen letzten Einwirkungsversuchen in Er sandte zwar gelegentlich über Offiziere, mit denen er lockeren Kontakt hatte, politische und militärische Ausarbeitungen an Spitzenfunktionäre des Oberkommandos des Heeres, denen allerdings bisweilen die Person des Verfassers unbekannt blieb eine Tatsache, die gewiß die Aufnahme derartiger Ausarbeitungen beeinflußte. So schrieb beispielsweise der Oberquartiermeister IV, General v. Tippelskirch, unter ein Memorandum Becks von Anfang Oktober (BA/MA H 08-104/2, fol. 4-13): „Stammt der Aufsatz von einem Engländer oder einem Deutschen? In letzterem Falle ist er überreif für ein Konzentrationslager." 116 Ebd. S. 93 vom 16.10.39. Bezeichnenderweise zieht Hassell daraus die Schlußfolgerung „natürlich aus Angst". Offiziere wie Oster, Groscurth, auch Hoßbach und andere besuchten Beck 115

-

allerdings.

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 24. 9. 39. Diese Neigung Becks bestätigen Generaloberst a.D. Halder, Mitteilung Admirai a. D. von Puttkamer, Mitteilung vom 4. 1. 1966 an das MGFA. 119 Hassell, S. 88, vom 11.10. 39. 117

118

vom

15.10.1965, und

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

489

den Wochen vor Kriegsausbruch wegen des wie es ihm erscheinen mochte Versagens der führenden Männer des Oberkommandos des Heeres mit Groll und Verachtung erfüllt war, schließlich, daß er teilweise sich wohl auch bewußt von der Generalität fernhielt120. Vor allem war er seit dem Polenfeldzug in nüchterner Erkenntnis der Lage vom quälenden Gefühl tiefer Ohnmacht ergriffen, von dem Gefühl, daß nach Lage der Dinge dem triumphierenden Diktator vorerst kaum in den Arm gefallen werden könne, quälend auch deshalb, weil er bei manchem Irrtum im Detail doch klar erkannte, daß dieser Krieg trotz aller augenblicklichen Erfolge der deutschen Waffen kein gutes Ende nehmen könne. Das alles trug gewiß dazu bei, seinem Urteil über die aktive höhere Generalität eine vielleicht nicht ganz berechtigte Schärfe zu verleihen, um so mehr, als er in ihre inneren Schwierigkeiten und ihren internen Vielfrontenkampf, einschließlich des Kampfes mit sich selbst, keinen Einblick hatte. So mochte es zu den scharfen Urteilen kommen, die er noch Ende Oktober gegenüber Hassell äußerte und dabei „Brauchitsch und Genossen... als Sextaner in bezug auf ihre Urteilsfähigkeit über den engsten militärischen Zusammenhang hinaus" bezeichnete121. Auch von Halder, immerhin dem Mann, den er selbst als seinen Nachfolger designiert hatte, hielt er „als einer wirklichen Persönlichkeit nicht viel"122. Bei einer derartigen Seelenlage vermochte er natürlidi den zivilen Oppositionellen keine Hilfe zu sein bei dem Versuch, sich über Ansprechmöglichkeiten bezüglich der führenden Generalität klar zu werden oder gar Kontakte neu zu knüpfen. Andererseits aber trug Beck doch durch seine klaren Lagebeurteilungen und seinen nüchternen Sinn etwas dazu bei, die recht utopischen Erwägungen seiner oppositionellen Gesinnungsfreunde in Grenzen zu halten. Er setzte Goerdeler zeitweilig wegen dessen allzu sanguinischer Art kräftig zu und empfahl ihm sehr deutlich „größere Nüchternheit"123; er warnte auch vor den insbesondere von Goerdeler und Popitz gehegten Hoffnungen auf Göring. Im ganzen jedoch blieben bei den zivilen Oppositionellen noch bis zur letzten Oktoberwoche vage und illusionäre Erörterungen vorherrschend. Das änderte sich erst ungefähr ab 20. bis 25. Oktober; denn von diesem Zeitpunkt an kam Goerdeler in Verbindung mit einer Oppositionsgruppe, die sich aus jüngeren Offizieren des Oberkommandos des Heeres -

-

Halder meint, Beck fühlte sich als Märtyrer. Mit ihm habe er jede Verbindung vermieden, mit Brauchitsch natürlich erst recht. Sein Umgang sei Oster, eine Zeitlang auch noch Hoßbach, gewesen. Allmählich zog er audi seinen alten Freund Karl-Heinrich v. Stülpnagel näher heran. Über die führende Generalität sei er erbost gewesen. Mitteilung von Generaloberst a. D. Halder vom 15. 10. 1965 an das MGFA; neben Oster hat aber seit ungefähr Februar 1939 auch Groscurth zeitweilig recht intensive Kontakte mit Beck gehabt. Vgl. persönliches Tagebuch und BA/MA H 08-104/2, fol. 3. 129

v.

121

Hassell,

122

Ebd. Halder hatte seinerseits den

S. 99.

Eindruck, daß Beck, den er hoch achtete, zu dem er aber nach seinem eigenen Zeugnis persönlich nie ein engeres Verhältnis hatte, seit 1938 fortschreitend innerlich von ihm „weiter abgerückt ist". Das ging dann nach Halders Gefühl und nach Aussagen von Persönlichkeiten, die mit beiden Offizieren Berührung hatten, im Laufe des Winters 1939/40 bis zu schärfster Ablehnung Halders von seiten Becks (Mitteilung von Generaloberst a. D. Halder vom 15. 10. 1965 an das MGFA). 123 Hassell, S. 93 (vom 16. 10. 39) und S. 99 (vom 31. 10. 39). -

-

XL

490

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

und der Abwehr zusammensetzte und die etwa seit dem 16. bis 20. Oktober sehr aktiv zu werden begann124. Die unentwegten Aktivisten in der Abwehr, allen voran Oster, Dohnanyi und Groscurth125, rückten spätestens ab 16. Oktober wieder in dem Bestreben zusammen, irgendwie zur Verhinderung der drohenden Kriegsausweitung im Westen und im Zusammenhang damit eventuell sogar zu weitergehenden Aktionen die Initiative zu ergreifen. Daß Canaris dabei eine treibende Kraft war, wird man annehmen dürfen126. Die britisch-französische Antwort auf Hitlers „Friedensangebot", dessen bereits geschilderte Reaktion127 darauf, die weitere Entwicklung in der Frage der Westoffensive128 sowie nicht zuletzt ihre Empörung über die ihnen seit dem 18. 10. näher bekanntgewordenen Polenpläne Hitlers129 hat diese Gruppe nunmehr zu stärkerer Aktivität bewogen, wobei auffällt, daß dies zeitlich ungefähr mit der entsprechenden Gedankenbildung Halders (seit 14. Oktober) zusammenfällt, ohne daß diese Gruppe indessen davon irgend etwas ahnte eine Tatsache, die von erheblicher Bedeutung für die weitere Entwicklung sein sollte. Canaris berichtete Groscurth nach einem Besuch beim ObdH und bei Halder am 16. Oktober von deren nervöser Ratlosigkeit angesichts des Drängens Hitlers auf eine Offensive und dessen ständige Einmischung in die operative Planung130. Diese und andere Informationen werden nicht zuletzt dazu beigetragen haben, daß Groscurth Mitte Oktober daranging, mit einigen Gesinnungsfreunden eine Denkschrift auszuarbeiten131, in welcher die Notwendigkeit eines aktiven Handelns seitens der Spitzen der Heeresführung eindringlich aufgewiesen wurde. Dieses Memorandum, dessen endgültige Redaktion dann Vertreter der Oppositionskräfte um Weizsäcker vornahmen132, übergab Groscurth am 19. Oktober dem Oberquartiermeister I, General v. Stülpnagel, dessen Ablehnung eines Angriffs im Westen ihm bekannt gewesen sein mag. Auch Beck erhielt am selben Tag ein Exemplar der Groscurth-Denkschrift. Drei Tage später versuchte Groscurth, auf Oberst Wagner einzuwirken133. Bei ihm wird er gewiß ein offenes Ohr gefunden haben, denn Wagner stand gerade in jenen Tagen in -

Ygj Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 23. 10. 39 über eine fünfstündige Unterredung mit Goerdeler, den er zum ersten Mal traf. Vgl. dazu Hassell, S. 96 (30.10. 39), wo Goerdeler äußert, er habe Verbindung zu den Militärs. 125 Über Groscurth vgl. Etzdorfs Aussage bei Sendtner, S. 411. 126 Vgl. Groscurth, persönliches Tagebuch, Einträge vom 16. 10. 39 ff. 117 KTB, Abt. z.b.V. fol. 172, Eintrag vom 13.10.1939 12.00 isa Ygi_ Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 16.10. 1939. 129 Vgl. BA/MA H 08-104/3, fol. 70 (offenbar eine Vertragsnotiz Groscurths für Halder, datiert vom 18.10. 39, über Hitlers Polenpläne auf Grund von Informationen von seiten Osters). Vgl. auch Wagners Vortrag bei Halder zum selben Thema: Halder-Tagebuch, Bd I, S. 107, Eintrag 121

-.

-

vom 130 131

18. 10. 39.

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom Ebd.

Eintrag

vom

19. 10.39:

„Ausarbeitung

16. 10. 39.

einer Denkschrift.

nagel." 132 Vgl. unten S. 497 f. und 503 ff. dieser Arbeit. 133 Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 22. 10. 39.

Übergabe

an

Beck und

Stülp-

XI.

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

491

verzweifeltem Ringen um die Wahrung der Interessen des Heeres in den besetzten polnischen Gebieten und wußte nur zu gut, welche Pläne die politische Führung dort durchzuführen beabsichtige134. Wagner wurde daher für die Gedanken jener Aktivistengruppe gewonnen135. Von der Abwehr wurde der Korvettenkapitän Liedig, 1938 bereits in die

damaligen Aktionspläne eingeweiht, wieder in die Erörterungen einbezogen136. Vor allem gelang es zwischen dem 19. und dem 23. Oktober jenen aktivistischen oppositionellen Offizieren mittlerer Rangstufen, mit den erwähnten zivilen Oppositionskräften Kontakte herzustellen. Dabei scheint Beck eine Art Vermittlerrolle gespielt zu haben; denn Oster und Groscurth standen seit längerem in mehr oder weniger enger Verbindung mit ihm. Nach verschiedenen Besuchen Groscurths bei Beck kam es zu einem längeren Gespräch mit

Goerdeler. Er machte auf Groscurth den Eindruck eines „entschlossenen Mannes". Groscurth und Goerdeler waren sich darüber einig, daß „alles... darauf an[komme], Brauchitsch und Halder zu sofortigem Handeln zu bewegen"137. Dieser Satz ist in zweifacher Weise aufschlußreich. Er zeigt mindestens indirekt, daß die Aktionsgruppe der jüngeren Offiziere im Oberkommando des Heeres und in der Abwehr von Halders diesbezüglichen Erwägungen keine Kenntnis hatte. Das führte dann dazu, daß sie wie andere Kräfte kurz darauf ebenfalls in gewisser Weise bei Halder offene Türen einzurennen sich anschickte, was wiederum zu bösen Mißverständnissen führte. Wichtiger jedoch war ein zweites: Durch den Kontakt mit dieser Offiziersgruppe erhielten Goerdeler und durch ihn die anderen zivilen Gesinnungsfreunde bessere Informationen über den Stand der Entwicklung, über die Lage im Oberkommando des Heeres. Das brachte in Goerdelers Gedankengänge eine größere Nüchternheit. Dementsprechend erklärte er Hassell einige Tage später, er stehe jetzt „in ständigem Kontakt mit Leuten von der Wehrmachtzentrale"138. Politisch bleibe das Hauptziel die Erreichung des Friedens. Aber, so fuhr er fort, mit der gegenwärtigen politischen Führung sei dies jedoch nicht zu erreichen. Er hatte also unter dem Einfluß der aktivistischen Militärs für diesen Moment seinen abenteuerlichen Plan, durch ein Gespräch mit Göring oder sogar Hitler etwas zu erreichen, zu den Akten gelegt130. Ebenfalls zeigten seine weiteren Darlegungen größere Klarheit als zuvor. Er meinte, es müsse das primäre Ziel sein, die Militärs dazu zu bringen, die Ausführung des Offensivbefehls zu verweigern. Warte Hitler jedoch mit der Offensive, dann habe auch die Opposition noch eine Frist zur Vorbereitung weiterer Schritte gewonnen. Lasse sich jedoch vor Offensivbeginn nichts erreichen, dann müsse der wie Goerdeler in Übereinstimmung mit Beck, aber auch mit zahlreichen anderen ...

-

-

-

Siehe oben Kap. X, S. 430 ff., dieser Arbeit. Vgl. Kosthorst, S. 55, und Wagner, S. 148 f. Über Wagner vgl. Zs. Nr. 240, Bd I und V (Halder), und Zs. Nr. 322 (Etzdorf). 136 Ygl. Krausnick, Vorgeschichte, S. 347, und Kap. VIII dieser Arbeit. 134

135

137 138

139

Vgl. Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 23. 10. 39.

Hassell, S. 95 ff. (30.10. 39). Falls Hassells Angaben (S. 95 f.) die Ausführungen Goerdelers richtig wiedergeben, gab

allerdings unklare vom

27. 10. 39

an

und verzerrte Informationen über Hitlers Hassell weiter.

Ausführungen

und

er

Entscheidungen

XL

492

Staatsstreichpläne im Winter

1939-1940

notwendig erfolgende militärische Rückschlag abgewartet werden, gleichsam im Nachzug ermögliche. Er verhehlte sich nicht, daß dann die Friedenschancen zwar geringer wären, aber die „innere Reife", der psychologische Resonanzboden im Volk, für eine Aktion, größer140. Der sonst so sanguinische, zu Utopien neigende Goerdeler hatte damit eine im Gegensatz zu seinen sonstigen Überlegungen erheblich klarere Lagebeurteilung gegeben. Wenn er sodann bezüglich der konkreten Realisierungschancen meinte, Brauchitsch sei wohl kaum zum Handeln zu bewegen, aber even-

Militärs glaubte der ein Handeln

-

tuell sei er mit Hilfe Halders bei einer Aktion zum Stillhalten zu veranlassen, so fällt dabei der Unterschied seiner jetzigen Beurteilung Halders von der bisher in seinen Kreisen üblichen negativen Auffassung ins Auge. In all dem wird man ein Resultat der Kontakte mit Groscurth und dessen Kameraden sehen dürfen, denn im Gegensatz zu Goerdeler haben sowohl Hassell als auch Beck noch geraume Zeit an ihren Vorbehalten gegenüber dem Generalstabschef festgehalten141. Wenn Goerdeler abschließend gegenüber Hassell meinte, daß, zöge Halder mit, „alles übrige leicht zu machen" sei, daß bei einem Befehl bereit" von seiten des Oberkommandos des Heeres „genügend entschlossene Generäle einmal wieder allzu zu stünden142, dann ließ er seinem schwer bändigenden Optimismus sehr die Zügel schießen; im ganzen jedoch darf man feststellen, daß Goerdelers Kontakte zu der jüngeren Offiziersgruppe den Erörterungen der Zivilisten neue Impulse gegeben hatten. Diese wurden jetzt aus ihren unfruchtbaren Gedankenspielen herausgerissen; zwar blieb Hassell vorerst nodi skeptisch, zwar kam er mit Popitz von utopischen Erwägungen noch nicht ganz fort sie diskutierten noch bis Monatsende das „GöringProjekt", das Beck allerdings weiterhin strikt ablehnte -, zwar vermochte auch Beck seine pessimistischen Vorurteile gegenüber den Männern der Heeresleitung noch nicht völlig abzulegen143, immerhin aber waren seit dem 23. Oktober ständige Kontakte zwischen Zivilisten und gewissen Militärs wiederaufgelebt. Vor allem ist der positive Einfluß, den diese Offiziere auf die Gedankenbildung der zivilen Oppositionellen ausübten, jedenfalls nicht zu verkennen. Nachdem diese Offiziere, die am 22. Oktober zu Wagner und am 23. Oktober zu Goerdeler Kontakt gewonnen, am 24. Oktober dann Liedig erneut miteinbezogen hatten144, somit ihre Basis verbreitert und, unter Intensivierung ihrer alten Beziehungen zu Beck, Verbindungsdrähte auch zu zivilen Oppositionellen hergestellt hatten, verstärkten sie seit dem .

.

.

-

„...daß Goerdeler sehr stark nach dem Morgenstern-Wort nicht sein darf. Er... macht sich auch noch bezüglich der Generäle manche Illusionen. Ich brachte ihm Bedenken dieser Art zum Ausdruck und warnte ihn ferner vor der Annahme, daß es nach einem Einbruch in Belgien usw. noch möglich sein würde, einen anständigen Frieden zu bekommen." 141 Vgl. beispielsweise Hassell, S. 99, vom 31.10. 39. 142 Ebd. S. 96. 143 Ygj_ Hassell, S. 97 ff. Allerdings blieben Hassell und Popitz bei der weiteren Entwicklung auf ziviler Seite gleichsam Randfiguren, während sich alles auf Goerdeler, Beck und zum Teil auch Schacht zentrierte. 144 Vielleicht wurden auch noch andere Persönlichkeiten angesprochen, von denen die Quellen nichts sagen. 140

Vgl. aber Hasseils Skepsis,

handelt, daß ,nicht sein kann,

S. 97: was

XL

Staatsstreichpläne im Winter

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1939-1940

24. Oktober innerhalb des militärischen Sektors ihre Aktivität. Dazu wird sie nicht

zu-

letzt die neueste Entwicklung in der Frage der Westoffensive veranlaßt haben; denn am 22. Oktober wurde von Hitler bekanntlich ein erster vorläufiger Termin in Aussicht genommen, was ihnen nicht unbekannt geblieben sein mag. Drei Tage später übergab Oster seinem Freunde Groscurth Material über die Stimmung bei Truppe und Bevölkerung sowie einen vertraulichen Bericht über eine Rede Hitlers vor Gau- und Reichsleitern vom 21. Oktober, in der Hitler seinen Zuhörern zunächst von dem Besuch Sven Hedins145 bei ihm berichtet. Dieser habe ihm im Auftrage des Königs von Schweden mitgeteilt, daß Chamberlain mit seiner letzten Rede unter allen Umständen die Tür zu weiteren Verhandlungen habe offen lassen wollen. Er sei durchaus zu einer Friedenskonferenz bereit, wenn von Deutschland durch irgendeine Geste, ob in bezug auf Polen, die Tschechoslowakei oder sonstwo, ihm der Absprung ermöglicht werde. Hitler habe ihm geantwortet, „daß solche Dinge gar nicht in Frage kämen, er würde schon in kurzer Zeit den Engländern einen ,Kinnhaken' versetzen, von dem sie nicht wieder aufstehen würden". Die Unterredung sei dann ergebnislos abgebrochen worden. Für die Zukunft habe Hitler folgendes erklärt: In etwa 14 Tagen sei er so weit, daß er mit einem Großangriff im Westen beginnen könne. Gleichzeitig würde ein Großangriff gegen England stattfinden. Dabei werde er bekanntgeben, daß er keine verbotenen Kampfstoffe und Waffen gebrauche; tatsächlich aber denke er nicht daran, irgendwelche Rücksichten zu nehmen. Er werde auch offene Städte angreifen. Nach einem Sieg über England und Frankreich werde er sich erneut dem Osten zuwenden und dort klare Verhältnisse schaffen. Dann werde er ein Deutschland schaffen, wie es früher bestanden habe, indem er Belgien und die Schweiz einverleiben werde146. Während Groscurth dieses Material dem Generalstabschef vorlegte147, wurden Canaris und Oster nacheinander beim Oberquartiermeister I, General v. Stülpnagel, vorstellig, um ihn im Sinne einer Aktion zu bedrängen148. Sie fanden jedoch bei Stülpnagel kein Gehör; mehr noch, der General machte Oster und Groscurth „Vorwürfe wegen zu starkem Drängen"140. Nachdem dieser erste massive Vorstoß der militärischen Oppositionsgruppe bei den führenden Männern des Oberkommandos des Heeres, die sie für ansprechbar hielten, vorerst gescheitert war, ergriff sie vorübergehend starke Niedergeschlagenheit150. Die Nachricht von dem vorläufigen Fehlschlag könnte, da sie gewiß erst mit einem gewissen zeitlichen Verzug zu den zivilen Oppositionellen durchgedrungen sein wird, die negative Einschät.

.

.

Hierzu vgl. Sven Hedin, Ohne Auftrag in Berlin, Stuttgart-Salzburg 31953, S. 49 ff. (dort Schilderung dieser Unterredung). 146 BA/MA H 08-104/2, fol. 79 ff., sowie KTB Abt. z.b.V., fol. 177, Eintrag vom 25.10. 39. 143

147

148

BA/MA H 08-104/2, fol. 81. KTB Abt. z.b.V., fol. 177, Eintrag

vom

25.10. 39.

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 25.10.39: „Oberst Oster bei OQu I. Ablehnung! Nachmittags Canaris bei OQu I. Auch ergebnislos. Vorwürfe gegen Oster und mich wegen 149

zu 150

starken Drängens." Vgl. ebd.: „Alles Wahnsinn. Starke

Niedergeschlagenheit bei uns."

XL

494

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

wie sie Hassells

Tagebucheintragungen der nächsten Tage widerspiegeln, zu ihr beigetragen haben. Auf jeden Fall aber hat hervorgerufen, 25. am Oktober gegenüber seinen Gesprächspartnern noch nichts von Halders Stülpnagel eigenen Erwägungen durchblicken lassen, die mehr und mehr um die Möglichkeit kreisten, „grundlegende Veränderungen" herbeizuführen. Auch wußten sie nicht, daß Stülpnagel, beeindruckt von dem heftigen Drängen der Aktivisten, Halder seinerseits bedrängt hatte, von diesem aber wieder zu nüchterner Einschätzung der Lage veranlaßt worden war. Halder berichtet nämlich, daß damals der sonst so gemessene und ruhig-überlegene Stülpnagel außergewöhnlich erregt bei ihm erschienen sei151 und gefordert habe, er Halder müsse jetzt handeln und notfalls den ObdH einfach einsperren, wobei er bemerkte: „Du machst dich unnötig abhängig von diesem Brauchitsch." Halder aber wies

zung

wenn

Halders, nicht

so

doch

-

-

seinen Freund und Vertrauten nachdrücklich auf das in dem gegenwärtigen Stadium der Entwicklung durchaus Unangemessene dieser Forderung hin, die insbesondere Halders ausgeprägtes Gefühl für Loyalität gerade gegenüber einem persönlich ehrenwerten und seelisch so fragilen Manne wie Brauchitsch besonders getroffen haben mußte152. Im Verlauf dieses Gesprächs kam Stülpnagel dann auch wieder zu einer ruhigeren Betrachtung der Dinge. Halder hielt den Zeitpunkt für eine Gewaltaktion noch nicht gekommen; war er mit sich selbst etwa noch nicht im reinen? Wollte er vor allem sich nicht von irgendwelchen aktivistischen Stürmern und Drängern abhängig machen, sondern die Fäden eventueller konspirativer Aktionen fest in der Hand behalten? Stülpnagel hat jedenfalls daraufhin Oster und Canaris gegenüber dämpfend gewirkt153. Dafür spricht auch, daß nach Groscurths Aufzeichnungen der Oberquartiermeister I nicht das Anliegen, das hinter deren Vorstoß vom 25. Oktober stand, grundsätzlich abwies, sondern nur ein „zu starkes Drängen" tadelte. Immerhin werden derartige feine Unterscheidungen bei angeregten Aussprachen gerade von Gesprächspartnern, die von der Notwendigkeit raschen Handelns überzeugt und von starkem Elan erfüllt waren, kaum realisiert worden sein. So mag der fehlgeschlagene Vorstoß vom 25. Oktober schwerlich eine positive Einschätzung des Generalstabschefs in den Augen der Aktivisten zur Folge gehabt haben. Vielmehr wird in jenen Tagen sogar ihr Vertrauen in die Ansprechbarkeit des Oberquartiermeisters I, der meist noch viel radikaler als Halder gedacht hat154, zeitweilig ins Wanken geraten sein. Auf jeden Fall ist der jüngeren Aktivistengruppe damals die Tatsache, daß Halders und Stülpnagels Gedankenbildung gleichfalls auf eine eventuell notwendige Aktion ging, völlig verborgen geblieben. Immerhin fuhren sie fort, nach Mitteln und Wegen zur Beeinflussung der führenden Männer des Oberkommandos des Heeres zu suchen. So hielt Groscurth dem Generalstabschef am 27. Oktober Vortrag über gewisse Versuche Görings, mit England Fühlung aufzunehmen, um zu Ausgleichsgesprächen zu gelangen155. Die Aktivistengruppe mag gehofft haben, mit der 151 152 153 154 155

Mitteilung von Generaloberst a. D. Halder an das MGFA vom 10.11.1965. Ygj (jazu auch Sendtner, S. 405. So Halders Auskunft, vgl. Anm. 151. Vgl. Sendtner, S. 405, und Kosthorst, S. 55 ff. BA/MA H 08-104/2, fol. 86 ff. Vgl. auch Tippelskirch, Tagesnotizen, S. 1,

vom

30.10.39:

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

495

dieses Berichtes bei Halder stimmungsmäßig den Boden für weitere Entschlüsse vorzubereiten. Das aber war unnötig, denn der Generalstabschef hatte seit langem alle derartigen Informationen mit gespannter Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen. Andererseits war das Fazit des nunmehr vorgelegten Berichtes seltsam zwiespältig und kaum geeignet, irgendeine andere Reaktion als Abwarten hervorzurufen. Zwar ging daraus hervor, daß Göring wohl „einen ehrlichen Frieden noch herbeiführen" wolle, sich aber widerspruchslos unterordnen werde, wenn „der Führer diesen Weg nicht billige"156. Immerhin sei der Vermittler, ein Schwede, nochmals bereit, zu versuchen, Verhandlungen mit der englischen Seite in Gang zu bringen. Allerdings habe sich seine Zuversicht, einen Erfolg zu erlangen, wesentlich verringert157. Die seit dem 27. Oktober eintretenden Ereignisse stürzten sodann die Aktivistengruppe in große Aufregung. An diesem Tag präzisierte Hitler nochmals seine Angriffsabsichten und stellte für den 5. November eine Entscheidung über den Offensivtermin in Aussicht; am Tag darauf fiel die Entscheidung über den bisher umstrittenen Ansatz der Panzerkräfte, und am 29. Oktober erging die 2. OKH-Aufmarsdianweisung „Gelb". Gisevius, der in diesen Tagen von Oster und Schacht aus Zürich nach Berlin gerufen worden war, berichtet, daß die Aktivisten am 30. Oktober von den am 27. Oktober getroffenen Terminierungsentscheidungen erfuhren: „Wir fühlten, worum es ging. Alles wollten wir einsetzen, was in unserer Kraft lag, um das drohende Unheil zu verhüten158." Was aber konnten sie tun? Ihr Trachten ging dahin, auf Halder im Sinne einer Aktion einzuwirken. Aber nach ihrem Scheitern am 25. Oktober und der Rüge Stülpnagels rechneten sie kaum noch damit, ein offenes Ohr zu finden. Selbst der zunächst optimistische Oster wurde skeptisch159. Indessen lag für sie bei Halder die einzige Ansatzmöglichkeit, da Brauchitsch bei ihnen noch negativer eingeschätzt wurde, und andere vielleicht „brauchbare" Generäle an den verschiedensten Abschnitten der Front verstreut saßen. Wie sollten sie zudem an den Generalstabschef herankommen? Zu Oster war er auf Distanz gegangen. Beck saß pensioniert abseits, und Canaris schien in diesen Tagen wieder einmal eine seiner nicht seltenen Perioden der Resignation zu haben. Oster, Dohnanyi und Gisevius fuhren daher zu

routinemäßigen Vorlage

...

„Schwedischer Verm[ittlungs]-Versuch ist ohne Erfolg geblieben." Es ist im übrigen auffallend, daß, wie die Notizen des OQu IV zeigen, im OKH allen möglichen Sondierungsversuchen bzw. Gesprächsansätzen und Vermittlungsmöglichkeiten, auch Gerüchten, große Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Generaloberst a.D. Halder (Mitteilung an das MGFA vom 10. 11.1965) bemerkt dazu, daß das OKH diesen Dingen stets lebhaftes Interesse entgegengebracht habe, ohne indessen

sich aus entsprechende Initiativen zu ergreifen. General v. Tippelskirch hatte die Weisung, viele politische Informationen wie möglich zu sammeln, damit die Heeresleitung nicht allein von den offiziell an sie gelangenden Nachrichten oder gar von Hitlers oft tendenziös bzw. taktisch fixierten Orientierungen abhängig war. Vgl. allgemein dazu: Bernard S. Viault, Les Démarches Août 1940), in: Revue d'Histoire de la pour le rétablissement de la paix (Septembre 1939 Deuxième Guerre Mondiale, 17 (1967), Nr. 67, S. 13-30. 158 BA/MA H 08-104/2, fol. 87. 167 Ebd. von so

-

158

Gisevius, S. 413.

159

Ebd. S. 414.

XL

496

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

General Thomas. Dieser, der die dienstliche Möglichkeit hatte, zu Halder vorzudringen, erklärte sich bereit160, dem Generalstabschef eine Botschaft zu bringen, in der nochmals alle politischen Gründe gegen eine Offensive zusammengefaßt waren. Die Aktivistengruppe unter Federführung von Gisevius und Dohnanyi arbeitete daher vom 31. Oktober bis zum 1. November ein Memorandum aus, in dem sie darlegte, daß mit einer Offensive im Westen politisch nicht mehr rückgängig zu machende Tatsachen geschaffen würden und daß eine Neutralitätsverletzung den Kredit der Generäle für alle Zukunft ruinieren würde. Dabei konnten sie schon erste Informationen verwerten, die Dr. Josef Müller, ein Vertrauensmann der Abwehr, aufgrund seiner über den Vatikan begonnenen Kontakte161 hinsichtlich gewisser Gesprächsmöglichkeiten mit den Westmächten gemeldet hatte. Damit sollte dem vermuteten Einwand zuvorgekommen werden, es gäbe auf der Gegenseite keine Friedensansätze mehr. In der Einschätzung der Resonanzaussichten einer solchen Denkschrift war die Aktivistengruppe gespalten. Dohnanyi war voller Optimismus162. Gisevius dagegen war von Anfang an voller pessimistischer Ressentiments und sah wenig Hoffnung, vor Beginn der Offensive eingreifen zu können163. Beck wiederholte einige Tage zuvor164 sein schneidend negatives Urteil über Brauchitsch und Halder. Immerhin, sie waren bereit, einen erneuten Kontaktversuch zu wagen. Außerdem stellten sie weitere personelle Verbindungen wieder her, beispielsweise zum Berliner Polizeipräsidenten Graf Helldorf165. Im ganzen bietet diese Gruppe um die Monatswende ein Bild angespannter Aktivität, zugleich aber auch zwiespältiger Stimmung. Ihre Vorbehalte und ihre Skepsis gegenüber Halder, auf dessen Person sie nunmehr ihr Vorgehen konzentrierte, sollten eine starke Belastung des notwendigen Zuwie die folgenden Ereignisse zeigen sammenspiels aller oppositionellen Kräfte bedeuten. Vor allem aber und das war entscheidend wußten sie, als sie mit der Ausarbeitung der Denkschrift ihren massiven Einwirkungsversuch auf den Generalstabschef starteten, noch ganz und gar nichts davon, daß es dessen überhaupt nicht mehr bedurfte; denn Halder war nun unter dem Eindruck der geschilderten Entwicklung in der Frage der Westoffensive ebenfalls dem Gedanken an eine Aktion nähergetreten. Nicht zuletzt war dies aufgrund des Eindruckes erfolgt, daß sich die oppositionelle Basis verbreitert hatte. Inzwischen war nämlich auch der Oppositionskreis um Staatssekretär v. Weizsäcker wieder aktiv geworden. Ihn gilt es zunächst zu betrachten. Weizsäcker und seine Gesinnungsfreunde wurden über Oster, vor allem aber über Hasso v. Etzdorf, der seit seinem Amtsantritt als Verbindungsmann zum Oberkommando des Heeres rasch das Vertrauen Halders und gute Beziehungen zu Oster und Groscurth166 gewonnen hatte, von -

-

-

-

Hierzu und zum folgenden Gisevius, S. 414-415. Zu den sogenannten „römischen Gesprächen", insbesondere zur Datierung des Gesprächsbeginns vgl. Kosthorst, S. 93 und S. 127 ff., sowie Sendtner, S. 442 f. 182 Gisevius, S. 415. 163 Hassell, S. 100(2.11.39). 184 Ebd. S. 99 (31.10.39). 165 Ebd. S. 98 (31.10. 39) und S. 100 (2.11. 39). 166 Vgl. Zs. Nr. 322 (Etzdorf) und Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 5. 10. 39: „Vortragender Legationsrat v. Etzdorf meldet sich. Sehr ordentlicher Mann unserer Linie." 189 161

XI.

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

497

der Entwicklung auf militärischem Gebiet laufend orientiert167. Ebenso erhielten sie auf diesem Wege Informationen über die Lageeinschätzung im Auswärtigen Amt. Sie wußten, daß die Heeresführung keine Offensive wünschte, da bei der gegenwärtigen Lage keine Erfolgsaussichten gegeben seien und sie außerdem die letzten Chancen einer Verständigung zwischen den kriegführenden Parteien zerstöre. Sie wußten auch, daß Hitler entschlossen war, trotz aller Gegenvorstellungen der Militärs eine Entscheidung im Westen zu erzwingen. Ebenso war der Weizsäcker-Gruppe bekannt, daß gewisse Kreise im Oberkommando des Heeres mit dem Gedanken spielten, zur Verhinderung einer Offensive über die bisher erfolglos praktizierte fachliche Opposition unter Umständen hinauszugehen. Weizsäcker hatte diese Tendenz insofern unterstützt, als er wiederholt insbesondere gegenüber Halder die Ansicht geäußert hatte, nur ein Staatsstreich könne grundlegend Abhilfe schaffen168. Jedoch war dem Oppositionskreis im Auswärtigen Amt auch klar, daß diesbezüglich erhebliche Hemmungen bei der Generalität bestanden. Neueste Informationen, die sie nach Mitte Oktober erhielten, deuteten allerdings darauf hin, daß sich hierin eine Änderung anzubahnen schien. In dieser Hinsicht sind nun gewisse Ausführungen in Erich Kordts169 Buch interessant. Er schreibt170: „Endlich schien man sich beim Generalstab in Zossen ernsthaft mit der Vorbereitung eines Staatsstreichs zu beschäftigen. Er sollte ausgelöst werden, sobald Hitler den Befehl zur Herbstoffensive im Westen gab. Mitte Oktober berichtete Etzdorf, daß auf geheimen Befehl Halders ein Stab, dem unter anderem der spätere Generalquartiermeister Wagner und einige jüngere Generalstabsoffiziere angehörten, zusammengesetzt worden war, der den Ablauf eines militärischen Vorgehens gegen Hitler im einzelnen ausarbeiten sollte. Etzdorf hatte vor allem auf die Notwendigkeit einer genauen Planung, der Vorbereitung von Befehlen und Aufrufen sowie den Sofortmaßnahmen, die zu treffen waren, hingewiesen und schien dieses Mal nicht auf taube Ohren gestoßen zu sein. Der Plan begann nun zum ersten Mal nach Kriegsausbruch wirkliche Form anzunehmen ..." In diesem Zusammenhang sei von der „Aktionsgruppe" in Zossen begonnen worden171, -

-

197

Vgl.

Zs. Nr. 322

(Etzdorf) und

Nr. 240, Bd I

(Halder).

Auf Weizsäckers

Vorschlag

sei Etz-

dorf, damals Rittmeister der Res., zum Verbindungsmann des Ausw. Amtes beim OKH ernannt worden, damit über die Routinetätigkeit eines Verbindungsmannes hinaus auch Kontaktmöglich-

keiten zwischen den oppositionellen Kräften im Ausw. Amt und denen des OKH bzw. Halder bestehen. Weizsäcker habe Etzdorf voll vertraut. 168

Weizsäcker,

169

Kordt

170

Kordt,

S. 270.

seit 1938 aktiver Oppositioneller. S. 365 ff. 171 Ebd. S. 358. Vgl. auch Hassell, S. 96 (30. 10. 39), und Zs. Nr. 322 (Etzdorf) sowie Zs. Nr. 240, Bd I (Halder). Letzterer schreibt ebd. dazu: „Aus seiner Feder entstand damals (Oktober 1939) eine umfangreiche Denkschrift, in der er nicht nur überzeugend und mitreißend die Gründe darstellte, warum Hitler so frühzeitig wie möglich zu beseitigen sei nötigenfalls durch Gewalt -, sondern auch im einzelnen genaue und sorgfältig durchdachte Vorschläge machte bezüglich der Ausschaltung von SS und Gestapo, Besetzung der Rundfunksender, Maßnahmen gegen die nationalsozialistische Presse, programmatischer Verkündigung der provisorischen Regierung, lokaler Säuberungsmaßnahmen durch die örtlichen Militärbefehlshaber des Heimatgebietes usw. In einer war

spätestens

-

32

XL

498

Staatsstreichpläne im Winter

1939-1940

eine Denkschrift auszuarbeiten: „Etzdorf, der täglich von Zossen nach Berlin kam, bat mich, bei der Überarbeitung behilflich zu sein. Ein von uns in Eile gefertigtes Memorandum172, das dem Oberbefehlshaber des Heeres, dem Generalstabschef sowie General v. Stülpnagel und anderen führenden Militärs in Zossen Ende Oktober vorgelegt wurde, war in einer Sprache abgefaßt, die auf den einzigen Kreis, der damals über Machtmittel verfügte, wirken sollte. Wir hatten versudit, schlagwortartig die Lage und die Folgerungen, die sich daraus ergaben, darzulegen." Es sei bewußt eine Sprache gewählt worden, durch die „auf einen größeren K.r,eis der militärischen Führer Eindruck gemacht werden konnte Wir hatten in der Denkschrift das Hauptgewicht darauf gelegt, die damals in weiten Kreisen des deutschen Volkes vorhandene Illusion zu zerstören, Hitler habe mit seiner Politik echte außen- und innenpolitische Erfolge erzielt... Es kam uns ferner darauf an, die verschiedenartigen außen- und innenpolitischen Bedenken gegen einen Staatsstreich zu beseitigen und als erreichbares Ziel einen auch vom Militär als ehrenvoll anzusehenden Frieden aufzuzeigen173." Der Bericht Erich Kordts wirft ein Problem auf, dessen Klärung zur Erhellung wie zur Beurteilung des Tatbestandes von großer Wichtigkeit erscheint. Es handelt sich um die Zeitangabe. Kordt schreibt, daß „Mitte Oktober" die Weizsäcker-Gruppe über Etzdorf von Staatsstreichvorbereitungen einer Aktionsgruppe in Zossen erfahren habe, deren Initiator und Leiter der Generalstabschef gewesen sei. Bezeichnenderweise ist dem Datierungsproblem in der Literatur bisher nur geringe Aufmerksamkeit gewidmet worden. Das hat nicht zuletzt dazu geführt, daß gewichtige Einzelheiten im unklaren blieben174. Kosthorst hält den 14. Oktober175, den Tag, an dem Halder in einer ausführlichen Erörterung der Gesamtsituation mit dem ObdH zum ersten Mal seit Kriegsbeginn „grundlegende Veränderungen" ins Auge faßte, „für ein entscheidendes Datum im Ablauf des Widerstandsgeschehens 1939/40"176. Er datiert von diesem Tage an den Beginn der generalstabsmäßigen Staatsstreichvorbereitungen im Oberkommando des Heeres, mit denen Halder den Major i. G. Groscurth177 beauftragt habe178. Querverbindungen hätten zu Oster und Dohnanyi geführt. Bei dieser Terminfixierung ...

...

Besprechung

zwischen Generaloberst Beck und mir im Januar 1940 wurde diese Denkschrift erörtert und in ihrem Wert anerkannt..." Kosthorst, S. 71, Anm. 15, schreibt: „Halder (nach persönlicher Mitteilung) erinnert sich nicht an eine ihm in solch geschlossener Form vorgelegte Denkschrift." Vgl. auch weiter unten S. 505, Anm. 218, dieser Arbeit. 172 Text abgedruckt bei Kordt, S. 359 ff., sowie eine Abschrift in BA/MA H 08-104/2; Auszüge bei Kosthorst, S. 71 f. 173 Kordt, S. 359. Das führte dazu, daß der chronologische Ablauf und damit oft auch die Beurteilung ordnung mancher Fakten teilweise oder völlig unzutreffend dargestellt wurde. 174

175 178

und Ein-

Kosthorst, S. 54.

Ebd. 177 Groscurth wurde am 31. 10. 39 Oberstleutnant. 178 Ebd. S. 54: „Als sich in der Unterredung am H.Oktober zeigte, daß dabei nicht sicher auf Brauchitsch gerechnet werden könne, entschloß sich Halder, selbständig und auf eigene Verantwortung Vorbereitungen für einen Staatsstreich zu treffen."

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

499

vermag Kosthorst jedoch nicht die Frage zu beantworten, wieso bei einem solchen Tatbestand konkrete PutschVorbereitungen unter Halders Leitung bereits seit dem 14. Oktober gewisse Verschwörerkreise, nämlich einmal Groscurth, Kordt und Etzdorf, sodann Oster, Dohnanyi und Gisevius, es noch Ende Oktober und Anfang November für notwendig erachteten, Denkschriften zu entwerfen mit der Absicht, den Generalstabschef und andere führende Generäle zum Staatsstreich anzuregen. Er versucht, dieses Problem dadurch zu lösen, daß er annimmt179, Stülpnagel sei Ende Oktober von einer Frontreise im Westen mit dem für ein Staatsstreichvorhaben negativen Eindrudc bezüglich der Haltung der Heeresgruppen- und Armee-Oberbefehlshaber nach Zossen zurückgekehrt; das habe Halder veranlaßt, die Voraussetzungen für eine Aktion vorerst nicht als gegeben anzusehen180. Schon Ritter hat indessen Zweifel angemeldet, daß Ende Oktober eine Frontreise des Oberquartiermeister I bereits ein derartiges Ergebnis gebracht habe181. Sendtner ist bei der Datierungsfrage vorsichtiger. Er setzt Halders Auftrag an Groscurth „zur generalstabsmäßigen Staatsstreichvorbereitung" etwas unverbindlich nach dem 14. Oktober an182, läßt also im Grunde eine genaue Antwort offen. Einerseits übernimmt er dann Kosthorsts Datierung der Stülpnagel-Reise, stellt andererseits aber im Zusammenhang mit der Bemerkung, daß der 4. November „wohl den Höhepunkt in der Entschlossenheit Halders zum aktiven Handeln"183 bedeute, doch die Frage, „ob er [Halder] an diesem 4. November von dem negativen Ergebnis der Frontreise Stülpnagels bereits Kenntnis haben konnte oder haben mußte"184. Ebenso umgeht er daher in gewisser Weise die Frage nach Sinn und Zweck der Groscurth-Kordt-Etzdorf-Denkschrift und des OsterDohnanyi-Memorandums im Zusammenhang mit dem Datierungsproblem185. Ritter dagegen setzt die beginnende Aktivität der Oster-Gruppe sowie die an diese gelangende Nachricht aus Zossen, daß Halder allen Ernstes wieder an Gewaltstreichpläne denke, auf „Ende Oktober" an186, zieht daher folgerichtig auch Kosthorsts Datierung der Stülpnagel-Reise und deren Ergebnis in Zweifel und vertritt, um die Oster-DohnanyiDenkschrift zu erklären, die These, daß die Aktionsvorbereitungen im Oberkommando des Heeres unabhängig von und zunächst ohne Wissen der Oster-Beck-Gisevius-Gruppe erfolgt seien187. Die Oppositionellen im Auswärtigen Amt dagegen hätten davon durch Etzdorf Kenntnis gehabt. Deren Denkschrift habe daher nur den Zweck gehabt, die Ver-

-

-

-

Ebd. S. 58, insbesondere Anm. 97. Ebd.: daß ihr negatives Ergebnis den folgenden Ablauf der Dinge entscheidend beeinflußt hat... So hat die Stülpnagel-Reise den Charakter eines Drehpunktes." (Hervorhebung vom

178 180

„.

.

.

Verf.)

Ritter, Goerdeler, S. 494, Anm. 38. Die Eintragungen im persönlichen Tagebuch Groscurths widersprechen ebenfalls der These Kosthorsts. Über dessen Methode zur Lösung der Datierungsfrage vgl. Kosthorst, S. 94. 182 181

Sendtner,

183 184

185

S. 395 und S. 426.

Ebd. S. 414. Ebd. Ebd. S. 416.

186

Ritter, Goerdeler, S. 239 f.

187

Ebd. S. 490, Anm. 13.

XL

500

Staatsstreichpläne im Winter

1939-1940

schwörer im Oberkommando des Heeres zur Eile anzutreiben188. Einerseits kann er sidi in dieser Hinsicht auf gewissen Angaben im Bericht Kordts stützen189; andererseits aber läßt er mit dem Ansatz des Beginns der Zossener Putschvorbereitungen auf Ende Oktober die entsprechende Zeitangabe Kordts „Mitte Oktober" stillschweigend als unzutreffend fallen, ohne zu erklären, wieso Kordt zu einer solchen Datierung gelangt ist, ob er sich -

-

hier

geirrt habe nachzugehen.

und wie eventuell dieser Irrtum

zu

erklären ist. Diesem Problem

gilt es

Immerhin ist es auffallend, daß die beiden bisher bekannten zeitgenössischen Originalquellen Hassells Tagebuchnotizen und die auf stichwortartigen Aufzeichnungen beruhende Tag-für-Tag-Darstellung von Gisevius190 dies nicht bestätigen oder eine andere Terminangabe geben. Hassell191 erfuhr am 30. Oktober von Goerdeler102 lediglich, daß von gewissen militärischen Kreisen im Oberkommando des Heeres Aktionspläne ventiliert würden; dabei betonte Goerdeler aber ausdrücklich, daß Brauchitsch kaum zum Handeln zu bewegen wäre und daß es bezüglich Halder was in unserem Zusammenhang aufschlußreich ist „allenfalls möglich sei..., den ObdH mit Hilfe des Generalstabschefs zum ,Dulden' zu veranlassen"193. Also: am 30. Oktober wußte Goerdeler von einer Aktionsgruppe in Zossen, an deren Spitze jedoch Halder nicht stand; lediglich unter gewissen Umständen wurde auf Halders mögliche Mithilfe gerechnet. Weiterhin: Aus Gisevius' Bericht194 geht hervor, daß die Aktivistengruppe in Zossen oder bei der Abwehr energisch auf eine Aktion hinarbeitete, daß jedoch Halder sich noch keineswegs beteiligt hatte; vielmehr war diese Gruppe bezüglich Halders eventuellem „Mitmachen" geteilter Meinung; sie hatte sich am 31. Oktober und 1. November an die Ausarbeitung einer Denkschrift gemacht, mit der gerade die Absicht verfolgt wurde, Halder für eine Aktion zu gewinnen. Gisevius' Aufzeichnungen vom Nachmittag des 1. November besagen weiterhin, daß erst zu diesem Zeitpunkt von den Zossener Mitgliedern der Aktivistengruppe an die in Berlin befindlichen Abwehrangehörigen dieser Gruppe die „gute Kunde [kam] daß sich dort große Dinge tun Vielleicht sind unsere Einwirkungsbemühungen auf Halder überflüssig, weil er sowieso zum Handeln entschlossen ist"195. Und unter dem 3. November notierte er, an diesem Tage habe ihm Groscurth mitgeteilt, daß Halder das Startsignal für konkrete Staatsstreichvorbereitungen gegeben habe196. -

-

-

-

...

188 189

...

Ebd. S. 240 f. Ebd. S. 491, Anm. 15,

teilweise bestätigt durch Kordt 356." wo Ritter vorsichtig schreibt: quellenkritischen Beurteilung der Gisevius-Notizen vgl. seine eigenen Angaben ebd. S. 413.

199

Zur

191

Hassell, S. 96 (30.10. 39). Goerdeler hatte, wie erwähnt, seit spätestens

192

...

bindung.

„...

23. 10.39 mit der

Oster-Groscurth-Gruppe

Ver-

193 Ebd. Vgl. Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 23. 10. 39, wo es im Zusammenhang mit Goerdelers Besuch heißt: „Alles kommt darauf an, von Brauchitsch und Halder zu sofortigem Handeln zu bewegen." (Hervorhebung vom Verf.) 194 Gisevius, S. 413-414. 195 Ebd. S. 415. (Hervorhebung vom Verf.) 198 Ebd. S. 415-416.

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

501

bekanntgewordene neue Quelle das bereits erwähnte persönliche Tagebuch des Oberstleutnant i. G. Groscurth bestätigt nun fast bis in die Einzelheiten197 hinein die Darstellung, die Gisevius gibt. Am 19. Oktober erwähnt Groscurth, daß eine Denkschrift der Aktivisten dem General v. Stülpnagel übergeben worden sei. Damit begann eine mehrere Tage währende Periode von intensiven Einwirkungsversuchen auf die Spitzen des Oberkommandos des Heeres. Am 23. Oktober notierte Groscurth, daß alles darauf ankomme, Brauchitsch und Halder „zu sofortigem Handeln zu bewegen"108. Zwei Tage später scheiterte die Aktionsgruppe aber mit ihrem bereits erwähnten Vorstoß bei Stülpnagel. Bis zu diesem Zeitpunkt war also noch ganz und gar keine Rede davon, daß sich Halder in den Augen der Aktionsgruppe irgendwie engagiert hatte, daß er sich an deren Spitze gestellt oder gar selbst das Zeichen zum Handeln gegeben habe. Vielmehr konnte diese Gruppe nach der Ablehnung durch Stülpnagel durchaus der Ansicht sein, daß sowohl Halder als auch der Oberquartiermeister I im Sinne einer Aktion Eine

erst

seit kurzem

-

-

noch nicht „reif" seien und daher erneut „bearbeitet" werden müßten. Es ergibt sich damit folgendes Bild: ab Mitte Oktober bildete sich aus einigen Mitarbeitern109 des Oberkommandos des Heeres in Zossen nahezu alle im Range von Stabsoffizieren eine militärische Aktivistengruppe, eben die sogenannte „Zossener Aktionsgruppe". Diese hatte Verbindung zu Beck, nahm Kontakt mit oppositionellen Zivilisten wie Goerdeler (und wohl auch Schacht)200 auf und bekam über Etzdorf einen „Draht" zu den Oppositionskräften um Weizsäcker. Etzdorf, der Zossener Vertreter des WeizsäckerKreises, begann nun nicht nur mit jener militärischen Aktivistengruppe unter Hinzuziehung seines Kollegen Kordt eng zusammenzuarbeiten; er hatte auch ein vertrautes Verhältnis zu Halder. Weizsäcker hatte ihn nicht zuletzt deswegen zum Oberkommando des Heeres nach Zossen delegiert. Halder hatte wie Etzdorf berichtet bei dessen Antrittsmeldung Anfang Oktober radikal offen mit ihm gesprochen, hatte aus seiner Einstellung zu Hitler gar kein Hehl gemacht er nannte ihn einen amoralischen Menschen -, vor allem hatte er geäußert, die Eröffnung einer Offensive im Westen, die unwiderrufliches Unheil bringen würde, müsse mit allen Mitteln verhindert werden201. Bei den fortan häufigen Vorträgen Etzdorfs und den sich meist daran anschließenden Aussprachen mit Halder gewann der Verbindungsmann Weizsäckers alsbald immer mehr den Eindruck, daß Halder zunehmend entschlossener sei, tatsächlich „mit allen Mitteln" gegen die von Hitler beabsichtigte Kriegsausweitung anzugehen. Um diese Zeit lernte Etzdorf jene oppositionellen Aktivisten im Oberkommando des Heeres kennen Kordt hat zur selben Zeit auch seine Beziehungen zu Oster wieder aktiviert -, so daß bei den oppositionellen Diplomaten durchaus der Eindruck entstehen konnte, es handele sich hierbei um -



-

-

-

-

197

Von unbedeutenden zeitlichen

Verschiebungen abgesehen,

klären, daß die Informationsübermittlung

Zossen,

die sich wahrscheinlich daraus

Groscurth sich befand, nach wo die Dienststelle der Abwehr und Gisevius waren, eben eine gewisse Zeit brauchte. 198 Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 23. 10. 39. 199 Darunter der von der Abwehr zum OKH abkommandierte Groscurth. 200 Gisevius, S. 413. 281 Zs. Nr. 322. von

wo

er-

Berlin,

XL

502

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

geschlossene militärische Aktionsgruppe mit dem Generalstabschef an der Spitze, die nun zur Tat drängte. In Wirklichkeit jedoch bestanden zwei oppositionelle Kraftfelder202 im Oberkommando des Heeres, die im Laufe des Oktober noch keineswegs zusammengefunden hatten: einmal jene sehr aktive Gruppe aus Offizieren des Oberkommandos des eine

Abwehr, die seit Mitte Oktober tätig wurde; zum anderen der Generalstabschef selbst und sein engster Mitarbeiter und Freund, General v. Stülpnagel. Halder war seit dem 14. Oktober dem Gedanken an eine Gewaltlösung nähergetreten und seit dem 27. Oktober immer stärker zu der Überzeugung gelangt, daß eine solche Lösung unausweichlich notwendig würde203. Sein Vertreter, der Oberquartiermeister, mochte in dieser Hinsicht vielleicht sogar um einen Grad entschlossener gewesen sein als Halder, immerhin hatte er dem Drängen der Aktivistengruppe am 25. Oktober die erwähnte Abfuhr erteilt, ist also nicht dieser Gruppe zuzurechnen; er teilte vielmehr weitgehend die überlegte Ansicht Halders204. Das Bestehen von zwei oppositionellen Kreisen mag Etzdorf, dem Angehörigen eines anderen Ressorts, damals entgangen sein, dies um so mehr, als sie ja Anfang November bis zu einem gewissen Grade zusammenflössen. Daher konnte bei den oppositionellen Diplomaten Mitte Oktober der unzutreffende Eindruck entstehen, daß es sich bereits zu dieser Zeit um eine einzige konspirative Gruppe im Oberkommando des Heeres handelte. Da die Leute um Weizsäcker aber die Zweigleisigkeit der eine Aktion erwägenden oder auf eine Aktion drängenden militärischen Opposition nicht erkannt hatten, sondern eine einzige Gruppe in Zossen am Werke glaubten, erklärt sich die in Kordts Bericht wiedergegebene Ansicht, daß „Mitte Oktober" bereits unter den Heeres und der

Dieser Ausdruck ersdieint zutreffender den Tatbestand zu umreißen, als wenn man von zu unklar und zu allgemein der oder einer „militärischen Opposition" spricht oder als wenn man zu eng von einer „Aktionsgruppe" spricht; denn einmal war sogar dieser verkürzend als „Aktionsgruppe" bezeichnete Personenkreis in seinen Ansichten nicht homogen, wie die Skepsis von Gisevius oder die Attentatsabneigung von Thomas zeigt. Im Sachlichen war diese Gruppe, was die Details anging, auch nicht einheitlich. Ihr verbindendes Moment war der unbedingte Aktionsdrang, nicht das Ziel der Aktivität. Zum andern waren sie alle, einschließlich Halder und Stülpnagel, zu ausgeprägte Persönlichkeiten mit stark individualistischen Zügen, um eine völlig einheitliche Willensgemeinschaft zu bilden. So spricht Etzdorf (Zs. Nr. 322) davon, daß Oberst Wagner gleichsam ein weiteres „centrum gravitationis" der Opposition im OKH gebildet habe. Man darf daher also rechtens bei diesem sehr heterogenen Personenkreis mit seinen sehr verschieden abgestuften persönlichen Beziehungen, die teils indirekter, teils recht spannungsreicher Art waren, höchstens von oppositionellen Kraftfeldern reden. 293 Halder sagte dazu: „Ich habe mit meinem Oberbefehlshaber in mancher ernsten Stunde darüber gesprochen, daß Bremsen, Entgegenstemmen, Verzögern und Aufhalten letzten Endes nur Ausdruck einer negativen Haltung ist." Zitiert nach Sendtner, S. 404. Er war sich also darüber klargeworden, daß mit ressortgebundener Opposition nichts Entscheidendes erreicht würde. 294 Wenn Sendtner, S. 405, schreibt, Stülpnagel sei „die stärkste motorische Kraft in diesem Arbeitskreis um Halder gewesen", so stimmt das ganz abgesehen von der bereits aufgezeichnur mit Einschränkungen; denn trotz stärksten neten Problematik des Begriffs „Arbeitskreis" Tatwillens unterschied sich der Oberquartiermeister I wie seine Zurückweisung des Drängens von Oster und Groscurth zeigt von den Aktivisten doch durch eine trotz aller unleugbaren Dynamik offenkundig realistischere Betrachtungsweise. 192

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XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

503

Staatsstreichvorbereitungen205 angelaufen seien. Zutreffend daran war, daß die Aktivistengruppe von diesem Zeitpunkt ab stark auf eine Initiative drängte, wobei auch schon konkrete Erwägungen angestellt wurden, und daß in diesem Stadium Kordt und Etzdorf mit ihnen Kontakt bekamen. Hier lag der reale Ansatz für das im einzelnen jedoch ungenaue Lagebild, das der Kreis um Weizsäcker aufgrund der Meldungen gewann, Militärs

die Etzdorf ihnen überbrachte. Nicht zutreffend war ihr Eindruck, daß bereits zu diesem Zeitpunkt Halder mit im Spiel war. Wie ist dann aber die in Kordts Bericht erwähnte Denkschrift zu erklären und einzuordnen? Zunächst ist hierzu festzustellen, daß in der Literatur zum Teil recht undifferenziert von einer „Denkschrift Etzdorfs und Kordts"206 oder von einer „Denkschrift Etzdorfs die in Zusammenarbeit mit Erich Kordt verfaßt worden ist"207 gesprochen wird. Im Hassell-Tagebuch immerhin einer zeitgenössischen Quelle erwähnt Goerdeler jedoch dieses Memorandum als „eine von militärischer und Auswärtigem-Amt-Seite (Etzdorf) ausgearbeitete Denkschrift"208. Das klingt schon etwas anders: hier wird eine Mitautorschaft einer militärischen Gruppe behauptet, mit der in diesem Zusammenhang nur die von der Halder-Stülpnagel-Gruppe zu unterscheidende OKH-Abwehr-Fronde gemeint ist. Aus Groscurths Aufzeichnungen wissen wir jetzt209, daß kurz vor dem 19. Oktober eine Denkschrift ausgearbeitet und an diesem Tage von ihm an Stülpnagel übergeben worden ist. Die sogenannte Kordt-Etzdorf-Denkschrift muß mit diesem bei Groscurth genannten Memorandum identisch sein210. Daß die beiden Diplomaten weder Initiatoren noch alleinige Autoren dieses Dokumentes waren, findet nämlich bestätigt, wer Kordts Bericht aufmerksam liest. Kordt schreibt211, der „Kern des Aufrufs" sei „von der Aktionsgruppe entworfen [wordenf. Etzdorf, der täglich von Zossen nach Berlin kam, bat mich, .

..,

-

-

Wenn Kordt, S. 356 ff., schon von einem geheimen Befehl Halders für die Bildung eines Aktionsstabes spricht, so ist das eindeutig eine Erinnerungsverschiebung: das geschah erst um die Monatswende. 298 Kosthorst, S. 71. 207 Sendtner, S. 416. Vgl. Ritter, Goerdeler, S. 240-241: „eine... von der Aktionsgruppe des Auswärtigen Amtes entworfene Denkschrift ..." Ritter deutet aber an, daß der Anstoß zu dieser Denkschrift auch von der Oster-Groscurth-Gruppe kam. 208 Hassell, S. 96 (Hervorhebung vom Verf.). 289 Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 19.10. 39. 218 Vgl. Anm. 758 der noch unveröffentlichten Edition „Tagebücher eines Abwehroffiziers": dort zur Identität der bei Kordt und bei Groscurth erwähnten Denkschriften sowie zur Datierung der Vorlage der Kordt-Denkschrift bei Stülpnagel. Der bei Kordt, S. 357, angegebene Termin (Ende Oktober) ist demnach zu berücksichtigen; es war tatsächlich der 19.10. 39. Damit stimmt Kordts Angabe auch gut überein, „Mitte Oktober" habe er von den Putschüberlegungen in Zossen gehört also von den Bestrebungen der militärischen Aktivistengruppe und dann sei „in Eile" (nach seinen späteren Aussagen „in ein bis zwei Tagen") die Denkschrift fertiggestellt worden. Die Identität der genannten Denkschriften wird zudem noch bestätigt durch gewisse gleichartige Angaben und Formulierungen im Groscurth-Tagebuch wie in der Kordt-Wiedergabe; Groscurth hatte sie mitveranlaßt, militärische Informationen beigesteuert, sie war in seiner Abteilung, zu der Etzdorf gehörte, angefertigt und geschrieben worden. 211 Kordt, S. 357 f. 205

-

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Überarbeitung behilflich zu sein212." Aufgrund dieses Wortlautes sowie der zitierAngaben im Hassell-Tagebuch kommt man zu folgender Feststellung: Die militärische Aktivistengruppe im Oberkommando des Heeres bzw. der Abwehr, insbesondere Groscurth, bemühte sich, eine Art „Aufruf" oder „Denkschrift" zu erarbeiten, mit der unter Hinweis auf eine tatsächliche oder angenommene Bedrohung der Armeespitze diese beschleunigt zum Handeln veranlaßt werden sollte. Die Federführung hatte Groscurth, von dem wohl auch die Initiative ausging213. Von einem gewissen, nicht mehr näher zu bestimmenden Zeitpunkt an wurden Etzdorf und durch diesen auch Erich Kordt in die Mitarbeit einbezogen. Die beiden Diplomaten scheinen dann die endgültige Überarbeitung übernommen zu haben214; sie entwarfen in großer Eile den Text, in dem dann der ursprüngliche von Kordt zitierte Leitgedanke zugunsten einer etwas anders akzentuierten Argumentation abgewandelt wurde. Gewiß sollte auch jetzt mit der Denkschrift ein Handeln von seiten der Heeresführung beschleunigt in Gang gebracht werden. Aber die Gedankenführung veränderte sich insofern, als die Verfasser bemüht waren, nicht allein das rasche Handeln als solches, sondern die zwingende Notwendigkeit eines Staatsstreiches überhaupt zu beweisen, eventuelle, dem entgegenstehende Argumente schlüssig zu widerlegen, konkrete Vorschläge für die Durchführung und für politische Maßnahmen nach erfolgtem Putsch zu machen sowie etwaige Besorgnisse hinsichtlich bestehender Friedensmöglichkeiten auszuräumen. Damit aber hatte sich zugleich auch die Absicht, aus der heraus diese Denkschrift entworfen wurde, geändert. Die militärische Aktivistengruppe, von der anfangs die Initiative ausging, hatte mit einem solchen Memorandum bezwecken wollen, die Armeeführung überhaupt erst beschleunigt zum Putsch zu veranlassen. Denn sie glaubte zu wissen, daß die Spitzen des Oberkommandos des Heeres einem solchen Gedanken noch fernstanden. Die endgültigen Verfasser, vor allem Etzdorf, waren indessen bei der

ten

der Ansicht215, die Denkschrift solle Halder und anderen, die nach ihren Informationen längst dem Gedanken an eine Aktion nicht mehr fernstanden, Argumente und Material in die Hand geben, um ein entsprechendes Handeln vor anderen, noch zögernden Militärs zu rechtfertigen bzw. diesen die Augen für die Notwendigkeit einer derartigen Aktion zu öffnen. So schreibt Kordt denn auch, daß das Memorandum zwar den führenden Militärs in Zossen, nämlich dem ObdH, dem Chef des Generalstabs des Heeres und dem Oberquartiermeister I, übergeben worden sei, daß es aber durch seine Argumente und seine Diktion „auf einen größeren Kreis militärischer Führer Eindruck" machen sollte216. Damit löst sich auch jenes scheinbare Paradox, daß die Diplomaten ein Memorandum zur Befürwortung eines Staatsstreiches an Militärs gaben, von denen man zu wissen glaubte, daß sie dazu im Grunde doch bereit waren. Für unsere Annahme 112 213 114 215 216

Hervorhebung vom Verf. Vgl. Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 19. 10. 39. Vgl. die Edition „Tagebücher eines Abwehroffiziers". Vgl. Kordt, S. 356.

Ebd. S. 358; Dieser Hinweis wurde bisher seiner Bedeutung erkannt.

wenn -

wir recht sehen

in der Literatur nicht in -

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als die oppositionellen Diplomaten Ende Oktober von Halder militärischen Führer billigten die Gedankengänge der Denkschrift218, da die erfuhren217, sie über waren nicht unbedingt diesen „Bekehrungserfolg" so begeistert, wie man es hätte erwarten können, wenn das Memorandum gleichsam zur Überzeugung noch aktionsunwilliger Militärs geschrieben worden wäre. Vielmehr konstatierten sie lediglich befriedigt eine Übereinstimmung der Ansichten219Der ganze Komplex dieser sogenannten Etzdorf-Kordt-Denkschrift offenbart indessen schon ein Moment, das für die gesamte Entwicklung der Verschwörung im Winter 1939/40 bezeichnend ist: Der Mangel an zutreffender gegenseitiger Information über die Lage bei den einzelnen konspirierenden Gruppen und Personenkreisen, dem wiederum eine allgemein unzulängliche Koordination zugrunde lag. Eine derartige Erscheinung ist allerdings bei der starken inneren und äußeren Heterogenität der beteiligten Kreise und Persönlichkeiten, bei dem durch die militärische Hierarchie gegebenen Gefälle sowie infolge der erforderlichen konspirativen Technik, die persönliche Kontakte begrenzte oder erschwerte, bis zu einem gewissen Grade als unvermeidlich anzusehen. Sie war vollends unter den Bedingungen des nationalsozialistischen Regimes ein ständiges Handicap. Allerdings haben bisweilen auch persönliche Spannungen sowie Mißtrauen und Fehleinschätzungen derartige Erscheinungen in erheblichem Maße verstärkt. In jenen Tagen220 hatte Erich Kordt von seinem Bruder aus Bern, der dort in Anknüpfung an frühere Kontakte im Auftrage Weizsäckers221 mit dem britischen Diplomaten Conwell-Evans verhandelt hatte, gewisse Mitteilungen über die Stellungnahme der britischen Regierung für den Fall eines Umsturzes in Deutschland erhalten. Die verwickelte Problematik, die eine Interpretation dieser Conwell-Evans-Mitteilung bietet, soll hier nicht behandelt werden222; fest steht jedenfalls, daß „eine klare und eindeutige Zusicherung

spricht noch ein weiteres:

217

Die Reaktion

aus

haben, daß tatsächlich bestanden habe. 218 Goerdeler teilte

dem OKH mag bei den Verfassern der Denkschrift den Eindruck verstärkt zu diesem Zeitpunkt schon eine einheitliche Aktionsgemeinschaft im OKH

am 30.10. 39 Hassell (ebd. S. 96) mit, die Denkschrift sei dem ObdH vorgetragen worden. Goerdeler war am 23. 10. 39 bei Groscurth gewesen, wo er dies erfahren haben mag; Kordt, S. 357 ff., bemerkt, sie sei dem ObdH und Halder und Stülpnagel vorgelegt worden.

Groscurth erwähnt lediglich die Übergabe an Stülpnagel (persönliches Tagebuch, Eintrag vom 19. 10. 39); nach Kosthorst, S. 71, Anm. 15, kann sich Halder nicht an eine solche Denkschrift erinnern. Vgl. aber seine Erklärung vom 8. 3. 1952, zit. in Anm. 171 dieses Kapitels. 219 Kordt, S. 367, schreibt dazu nur ganz knapp: „Seitens der militärischen Führer ist Etzdorf Ende Oktober mitgeteilt worden, daß sie die Gedankengänge der Denkschrift billigten." 220 Kordt, S. 367 ff., verlegt die Verhandlungen mit Conwell-Evans auf Ende Oktober, mündlich bemerkte er jedoch gegenüber Krausnick (vgl. Anm. 100-101 der Edition der Groscurth-Materialien „Tagebücher eines Abwehroffiziers"), daß seine Erinnerung hinsichtlich der Datierung unsicher sei; die Conwell-Evans-Episode könne auch vor der Abfassung der Denkschrift gelegen haben. 221 Vom 2.-8. 10. 39 war Theo Kordt in Berlin gewesen er sprach damals auch mit Oster und war von Weizsäcker angewiesen worden, sofort einen neuen Versuch zu machen, mit den Briten in Kontakt zu treten. Vgl. Kordt, S. 367, und Kosthorst, S. 78 ff. -

-

222

Vgl.

dazu

Kosthorst, S. 78 ff., und Ritter, Goerdeler,

S. 236.

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der britischen Regierung über ein .Gewehr bei Fuß' im Falle einer Aktion gegen Hitler..." weder mit der schriftlichen Erklärung noch mit dem mündlichen Kommentar223, den Kordt von Evans erhielt, gegeben war; fest steht aber ebenso, daß die Gebrüder Kordt den Wert dieser Mitteilungen damals wie später stark überschätzt haben. In unserem Zusammenhang ist ein anderes Moment dieser Episode interessant. Als Theo Kordt von Conwell-Evans die erwähnte Mitteilung und dessen mündlichen Kommentar erhielt und daraus schloß, daß die britische Regierung mit einer vertrauenswürdigen deutschen Regierung zu verhandeln bereit sei, eröffnete er seinem Gesprächspartner, daß die deutsche Opposition dabei sei, einen Staatsstreich vorzubereiten und voraussichtlich im November zur Aktion schreiten werde. Diese Mitteilung machte Theo Kordt dem britischen Diplomaten gegenüber durchaus bona fide, denn er war davon „inzwischen von militärischer Seite vermutlich durch Oster unterrichtet worden"224. Trifft dies zu, dann haben Oster oder die militärischen Verschwörer ihren Gesinnungsfreunden im Auswärtigen Amt zum mindesten den Entwicklungsstand der Dinge unverhältnismäßig positiver dargestellt, als es bei nüchterner Betrachtung erlaubt gewesen wäre. Daraus läßt sich ersehen, wie die Dynamik der Verschwörer entweder der Versuchung erliegen kann, nach der Methode, „ein Keil soll den anderen treiben", zu handeln, oder einem Wunschdenken anheimzufallen in Gefahr ist wie anders ließe sich eine derartige unzutreffende Orientierung Kordts durch die Aktivistengruppe erklären, die, stellte sie sich als solche heraus, bei dem britischen Gesprächspartner jegliches Vertrauen untergraben hätte. Wie immer man das Zustandekommen der erwähnten unzutreffenden Information über den Stand der Putschvorbereitungen erklären mag, in der Tatsache dieser Fehlinformation selbst zeigt sich, wie ungenau die Gruppe im Auswärtigen Amt über die Entwicklung auf militärischer Seite unterrichtet war. Die Tatsache, daß die von den Gebrüdern Kordt offensichtlich hoch bewertete Mitteilung der Briten keine besondere Resonanz225 im OKH fand, mag eventuell daran gelegen haben, daß sie lediglich in der vagen Behauptung der Denkschrift ihren Niederschlag gefunden hat, es seien noch Ausgleichsmöglichkeiten mit dem Gegner vorhanden. Oster brachte Kordt zu Beck, der von der Mitteilung, die Kordt von Conwell-Evans erhalten hatte, sichtlich beeindruckt war und meinte226: „Jetzt müßte es doch weitergehen. Wir Es sollte aber bald gehandelt werden, denn stehen vor einer großen Entscheidung nach einer neuerlichen Neutralitätsverletzung wird man auch mit uns keinen ,Frieden ohne Rache' mehr schließen wollen, wie es in Ihrem Papier steht." Daß Oster dieses Papier Beck vorlegte, ist nicht weiter erstaunlich, denn der Generaloberst war für ihn und seine Freunde mehr und mehr zum Mittelpunkt der Verschwörung ge-

-

-

...

Dazu Kosthorst, S. 78 ff., und Ritter, Goerdeler, S. 241. So Kosthorst, S. 81, aufgrund der Aussagen Theo Kordts im Wilhelmstraßenprozeß, Fall XI, Protokolle 12, S. 156 f. 225 Ritter, Goerdeler, S. 241, Anm. 17, meint aufgrund Halders Mitteilung, daß diese Information wohl gar nicht zu Halder und Stülpnagel gedrungen sei. 226 Kordt, S. 369. Das muß wohl nach dem 31. 10. 39 gewesen sein, denn an diesem Tag war Beck laut Hassell, S. 99, im ganzen noch sehr skeptisch.

223

224

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worden. Audi mag bei Oster dabei die Überlegung mitgesprochen haben, Becks reserviertpessimistische Ansichten über die Realisierungsmöglichkeiten durch diese tatsächlich oder vermeintlich positive britische Mitteilung korrigieren zu können. Das Ergebnis der Verhandlungen mit Conwell-Evans ist offensichtlich Halder kaum in angemessener Form und wenn überhaupt dann kaum rechtzeitig zur Kenntnis gebracht worden. Das ist um so erstaunlicher, als sich gerade in diesen Tagen die Gruppe um Oster daran machte, nunmehr auch ihrerseits eine Denkschrift für die Armeeführung zu entwerfen, in der sie unter anderem durch Einbau der ersten Nachrichten über die im Vatikan angeknüpften Kontakte nachzuweisen versuchte, daß noch Gesprächsmöglichkeiten mit der Gegenseite bestünden227. Hätte es da nicht nahegelegen228, auch die Conwell-Evans-Mitteilung zu erwähnen? -

-

Bis Ende Oktober/Anfang November waren somit zahlreiche Verbindungen zwischen Teilen der zivilen Opposition229 und der seit Monatsmitte sich regenden militärischen Aktivistengruppe sowie zwischen dieser und dem Kreis um Weizsäcker geknüpft worden. Allerdings war es allen diesen mehr oder weniger zusammenwirkenden Gruppen bis zum 1. November nicht gelungen, bei der einzigen Stelle, die sinnvoll und aussichtsreich eine Aktion starten konnte, bei der Armeeführung, insbesondere beim Chef des Generalstabs des Heeres, Gehör zu finden. Daher versuchte die aktivistische Offiziersgruppe mit einigen zivilen Oppositionellen, vor allem Gisevius und Dohnanyi230, am 31. Oktober und 1. November nochmals eine für Halder und Brauchitsch bestimmte Denkschrift auszuarbeiten, die als erneuter Anstoß zum Handeln gedacht war; allerdings hielten sich bezüglich der zu erwartenden Resonanz Optimismus und Pessimismus bei deren Initiatoren die Waage. Indessen bedurfte es eines solchen geplanten Vorstoßes gar nicht mehr. General Halder, der sich seit Mitte Oktober mit der Möglichkeit einer Aktion innerlich auseinandergesetzt hatte und seit dem 27. Oktober deren Notwendigkeit immer stärker einsah, hatte spätestens am 1. November seinerseits den Entschluß gefaßt, vom Stadium der Erwägung zur konkreten Planung überzugehen. Für den Generalstabschef hatten sich inzwischen die Gesamtlage und damit auch die Voraussetzungen für einen derartigen Schritt entscheidend gewandelt. Er glaubte den Zeitpunkt gekommen, an dem man zu bestimmten Aktionsvorbereitungen übergehen könne231. Spätestens seit dem 27. Oktober war ganz klar geworden, daß Hitler nicht KTB Abt. z.b.V., fol. 176, Eintrag vom 20.10. 39. Außerdem gab es doch zu Halder noch den „Draht" über Etzdorf! Oster allerdings wurde von Halder bewußt auf Distanz gehalten. 229 Einige zivile Oppositionelle wie Hassell und Popitz blieben vorerst am Rande des Geschehens. 238 Goerdeler reiste am 31.10.39 nach Schweden; er kehrte erst zum 5. 11. 39 zurück: Ritter, Goerdeler, S. 493. Helldorf wurde von Oster und Gisevius spätestens am 31. 10. 39 herangezogen: 227

228

Hassell, S. 98. Vgl. Sendtner,

231

ihnen „allmählich

S. 404, der Halders

Aussage zitiert, er habe mit v. Brauchitsch gehofft, daß die Mittel in die Hand geben würden, die uns zum Bewegungen politische

XL

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fundierte Argumente von seiner Angriffsabsicht abzubringen war. Ausschlaggebend aber war für Halder vor allem, daß sich die Anzeichen mehrten, die auf das Vorhandensein einer tragfähigen Aktionsbasis hindeuteten. Zwar hatte das sogenannte Kordt-Etzdorf-Memorandum, was die Erkenntnis der Lage und den Aktionswillen als solchen anging, bei ihm offene Türen eingerannt232; denn die darin ausgesprochenen Gedanken waren ihm selbst längst vertraut und Objekte seiner ernsten Erwägungen gewesen. Für ihn war es insofern aber von Wert, als es ihm bewies, daß er bei einer eventuellen Aktion nicht allein stand. Ebenfalls gab es ihm erneut wertvolle Argumente gegenüber seinem Oberbefehlshaber, dem die Denkschrift auch vorgelegt wurde, in die Hand. Daher erhielten die Autoren der Denkschrift eine zustimmende Antwort aus dem Oberkommando des Heeres. Weiterhin wußte er von Stülpnagel, daß im Oberkommando des Heeres wie bei der Abwehr tatbereite Offiziere vorhanden waren, deren bisweilen heftiges Drängen es zwar zu zügeln galt, die auf jeden Fall aber, richtig eingesetzt und gelenkt, für eine Aktion das notwendige Reservoir bildeten. Halder hatte inzwischen auch selbst Fühler ausgestreckt, um sich über die Voraussetzungen für eine Aktion klarzuwerden. In den letzten Oktobertagen entsandte er Stülpnagel zu den Oberbefehlshabern der Heeresgruppe A, B und C, den Generalobersten v. Rundstedt, v. Bock und Ritter v. Leeb233. Generaloberst v. Rundstedt hatte bereits mit einer in seinem Auftrag vom Chef des Generalstabs der Heeresgruppe A ausgearbeiteten Denkschrift dem Oberkommando des Heeres Argumente gegen eine Offensive an die Hand gegeben, verzichtete dabei aber ausdrücklich auf politische Gedankenführung als nicht zur Aufgabe eines Militärs gehörig234. Dementsprechend notierte Halder am 1. November in seinem Tagebuch, daß in Rundstedts Memorandum „die positive Seite"235 fehle, es also außer einer negativen Stellungnahme gegen eine Offensive nichts weiter aussagte. Bei Leeb dagegen stießen die Sondierungen Stülpnagels Ende Oktober auf eine ganz andere Haltung. Der Oberquartiermeister berichtete dem Oberbefehlshaber der Heeresgruppe C236, daß Brauchitsch bei Hitler überhaupt nicht mehr zu Worte käme und vor dem „Führer zusammenklappe"237. Göring teile zwar die Ansicht, daß Hitlers Offensivabsichten keinen Erfolg haben würden, ginge aber nicht dagegen an, da er für seine Stelmehr durch noch

Handeln

so

befähigt hätten", diese

wären damals aber „noch nicht genügend reif" gewesen. Im Sendtner scheint mir der Ausdruck „politische Bewegung" nicht so sehr auf eine tragfähige politische Opposition als vielmehr auf die große politische Gesamtlage zu gehen. Halder erwartete damals allgemein eine „konspirative und politische Reife" der Dinge, nicht aber mehr auf eine politische Gruppe, denn er wußte ab Ende Oktober sowohl von der WeizsäckerKordt-Gruppe als auch von der Bereitschaft der Aktivisten. 232 So auch Kosthorst, S. 66 f.

Gegensatz

233 234

zu

Vgl. Jacobsen, S. 45. Vgl. Jacobsen, Dokumente,

S. 19 ff., und Kosthorst, S. 46. Bd und Anm. 2. S. 117, I, Halder-Tagebuch, 236 Leeb, Aufzeichnungen vom 31. 10. 39 und 1. 11. 39. 237 Vielleicht hat Stülpnagel diese Äußerung der Kritik an Brauchitsch im ausdrücklichen Auftrag Halders getan. 235

aus

sich heraus und nicht

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lung fürchte238; Keitel aber sei „lediglich eine Art Ordonnanzoffizier, ohne jeden Einfluß auf den Führer". Leeb nahm die Ausführungen Stülpnagels mit ernster Besorgnis zur Kenntnis und erklärte, er stelle sich voll und ganz hinter den ObdH und sei jederzeit bereit, auch die Folgerungen daraus zu ziehen239. Er bat den Oberquartiermeister, dies

auch Bock und Rundstedt mitzuteilen. Nicht genug damit, er schrieb selbst einen persönlichen Brief an den ObdH, aus dem sein mannhaftes Einstehen für das einmal als richtig Erkannte und sein waches Verantwortungsbewußtsein für das Gesamtwohl sprach240. Er führte darin unter anderem aus: „Es drängt mich in dieser schicksalsschweren Zeit, Ihnen nochmals zu sagen, wie sehr ich Ihnen die Verantwortung nachfühle, die auf Ihnen lastet. Vielleicht hängt das Schicksal des gesamten deutschen Volkes in den nächsten Tagen von Ihnen ab. Denn in der gegebenen Lage ist wohl der Oberbefehlshaber des Heeres an erster Stelle berufen, seine Auffassung, hinter der der gesamte Generalstab und alle denkenden Teile des Heeres stehen, in aller Form zur Geltung zu bringen Das gesamte Volk ist von einer tiefen Friedenssehnsucht erfüllt. Es will den drohenden Krieg nicht und steht ihm ohne jede innere Anteilnahme gegenüber. Wenn die Parteistellen etwas anderes berichten, dann halten sie mit der Wahrheit zurück. Das Volk erwartet sich jetzt den Frieden von der Politik seines Führers, weil es wohl ganz instinktiv fühlt, daß eine Vernichtung Englands und Frankreichs nicht möglich ist und weiterreichende Pläne daher zurückgestellt werden müssen. Als Soldat muß man das gleiche sagen. Wenn der Führer jetzt unter einigermaßen annehmbaren Bedingungen dem gegenwärtigen Zustande ein Ende bereiten würde, wird dies kein Mensch als Zeichen der Schwäche oder des Zurückweidiens auslegen, sondern als Erkennen der wahren Machtlage. Das Zugeständnis einer Autonomie für die Tschechei und das Bestehenbleiben eines Reststaates Polen würde wohl auf volles Verständnis beim ganzen deutschen Volk stoßen. Der Führer würde dann nicht nur vom ganzen deutschen Volke, sondern gewiß auch von weiten Teilen der Welt als Friedensfürst gefeiert werden." Er schloß mit den Worten: „Ich bin bereit, in den kommenden Tagen mit meiner Person voll hinter ihnen zu stehen und jede gewünschte und notwendig werdende Folgerung zu ziehen241." Damit wollte er dem ObdH den Rücken stärken, wollte ihn von dem er durch Stülpnagel wußte, wie wenig er zu hartem Ringen mit Hitler sich geeignet fühlte wohl auch bestimmen, weitergehend und mutiger zu handeln als bisher mit einer strikt ressortgebundenen Opposition. Halder hatte jedoch nach seinen Aussagen den Oberquartiermeister I über das hinaus, was Leeb in seinem Tagebuch notiert hat, noch beauftragt, die Ansichten des Oberbefehlshabers der Heeresgruppe C über weitergehende vom Chef des Generalstabes des Heeres zu unternehmende Aktionen zu erkunden, die eine Kriegs...

-

-

-

Ygl. die erwähnte Orientierung Halders mittlungsversuch, oben S. 495 dieser Arbeit.

238

239 240 241

Jacobsen, S. 45. Jacobsen, Dokumente, S. 85 f. Zit. nach Kosthorst, S. 44 f.

durch Groscurth über

-

Görings schwedischen

Ver-

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ist Stülpnagel gegenüber Leeb indessen wohl kaum ins Detail gegangen, aber immerhin wird sein Gesprächspartner verstanden haben, daß es sich um außergewöhnliche Entschlüsse und Aktionen handelte, die nicht mehr im Rahmen der ressortgebundenen Opposition liegen würden243. Er ließ jedenfalls den Generalstabschef dem Sinne nach antworten: „Sie sind dienstjünger als ich, aber dennoch, ich gehe dorthin, wo auch Sie hingehen. Ich folge Ihnen244!" Bei Rundstedt muß Stülpnagel wenn er es nicht auch schon bei Leeb getan hatte etwas deutlicher geworden sein, denn der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A habe mit der ganzen ihm eigenen Lässigkeit geantwortet: „Ihr könnt meinetwegen so was befehlen; aber mein Machtinstrument würde mir, wenn ich es in diesem Sinne benutzen wollte, in der Hand zerbrechen245." Das war gewiß eine klare Absage, die auch der absolut unpolitischen Denkweise dieses dienstältesten Offiziers des Heeres entsprechen würde. Sie zeigt indessen, daß Stülpnagel auch in diesem Falle recht unmißverständlich vorgefühlt haben muß246. Immerhin, Stülpnagel konnte Halder melden, daß er sich wenigstens auf Leeb verlassen könne. Um die Monatswende war in Halder also die Bereitschaft herangereift, eine Gewaltaktion zur Verhinderung von Kriegsausweitung vorzubereiten. Nicht zuletzt hatte ihn zu diesem Entschluß die Tatsache bewogen, daß mit dem Zusammenrücken verschiedenster oppositioneller Kräfte eine Basis für ein derartiges Unterfangen sich abzuzeichnen schien. Dagegen war Hitler weniger denn je geneigt, seine Ansichten zu ändern; vielmehr hatten Groscurths Berichte gezeigt, daß auch Göring kaum bereit und in der Lage war, Hitler von seinem Vorhaben abzubringen. Zudem war es Halder nicht verborgen geblieben, daß

ausweitung verhindern sollten242. Dabei

-

-

-

10. 11.1965 an das MGFA. OKW-Prozeß erst von Halders damaligen Staatsstreichplänen im Kriege der das sei ein Beweis für die bei einer Konspiration notS. Kosthorst, meint, 49, gehört. Vgl. wendigen gestuften und begrenzten Einweihung. Dagegen wandte sich Sendtner, S. 407 f., der kritisiert, daß demnach Leeb in den entscheidenden Wochen trotz klar ausgedrückter Disposition für eine Aktion sich selbst überlassen worden sei. Beide Ansichten scheinen uns in dieser Form nicht ganz haltbar zu sein. Einmal zeigte Leebs Antwort doch, daß es ihm klar war, daß es sich um außergewöhnliche Vorhaben handelte. Daß Details indessen nicht erörtert wurden, ist ebenfalls sicher und auch verständlich (wenigstens zu diesem Zeitpunkt). Das verbot einerseits die konspirative Technik, andererseits waren die Details auch noch nicht ausgearbeitet. Es ging Halder zunächst einmal um eine grundsätzliche Sondierung. Im übrigen scheint Leeb bei dieser Sondierung mehr an eine Art Kollektivrücktritt gedacht zu haben; denn dies schlug er einige Tage später bei einem Treffen mit Bock und Rundstedt vor (Aussage Leeb, Fall XII, Protokolle 2288). Der Vorwurf Sendtners, es habe Leeb an der notwendigen Ermunterung gefehlt, ist unverständlich. Leeb wurde immer angesprochen. Wozu hätte man ihn denn sonst noch „ermuntern" sollen? Etwa, daß er von sich aus marschierte? Abgesehen, daß dies schlecht vorstellbar wäre, war es doch gerade so, daß eine Aktion von oben, d. h. vom OKH bzw. von Halder, geführt werden sollte. Daß es dazu nicht kam, hatte andere, noch zu erörternde Gründe, lag aber nicht daran, daß Leeb nicht ermuntert wurde. 244 Mitteilung Generaloberst a.D. Halder vom 10. 11. 1965 an das MGFA. Vgl. auch Kosthorst, S. 45 f. 245 Mitteilung Generaloberst a.D. Halder vom 10.11.1965 an das MGFA (zitierter Wortlaut der Antwort Rundstedts dem Sinne nach). 246 Ebd.: Bock habe damals auf eine entsprechende Sondierung ausweichend geantwortet.

242

243

Mitteilung Generaloberst a. D. Halder v.

-

Leeb hat nach dem

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Hitlers Unwillen über den Widerstand des Oberkommandos des Heeres gegenüber seinen Plänen sich zum Zorn auf den „Geist von Zossen" gesteigert hatte und daß, unberechenbar wie Hitler war, ein plötzlicher Schlag gegen die Armeeführung nicht unmöglich wäre, zumal anscheinend von Luftwaffenseite böse Gerüchte über den „Defaitismus" des Oberkommandos des Heeres ins Führerhauptquartier gedrungen waren und dort offene Ohren gefunden hatten247. So schien in den Augen des Generalstabschefs die Situation sich einerseits gefährlich zuzuspitzen, andererseits jedoch auch einen gewissen Grad von „konspirativer Reife" erreicht zu haben. Halder war bereit, das Startzeichen zur Vorbereitung eines Staatsstreiches zu geben. Während in Berlin Oster, Dohnanyi und Gisevius zusammensaßen und an der für Halder bestimmten Denkschrift feilten, hatte sich dieser bereits innerlich zur Aktionsfreiheit durchgerungen. Während Gisevius den Mitverfassern der Denkschrift nochmals seine Skepsis hinsichtlich Halders betonte, platzte in diesen Verschwörerzirkel die überraschende Nachricht hinein, daß sich in Zossen „große Dinge tun"248. Gisevius mußte wohl oder übel zugeben, daß der geplante Einwirkungsversuch auf Halder vielleicht überflüssig sei, da dieser sowieso zum Handeln entschlossen sei. Was war geschehen? Halder hatte am Abend des 31. Oktober Groscurth zu einem einstündigen Gespräch zu sich gerufen249. Dieser notierte darüber in seinem persönlichen

Tagebuch: „Einstündige Unterredung mit Halder. Will Leute verunglücken lassen: 1. Ribb[entrop] 2. Gö[ring]. Ich warne, rate zu geordnetem Unternehmen. Es sei kein Mann da. Ich nenne Beck und Goerdeler. Auftrag: Goerdeler sicherzustellen. Außerdem Absicht, General v.

Mit Tränen sagt Halder, er sei seit Wochen mit der Pistole in Emil gegangen, um ihn eventuell über den Haufen zu schießen250."

Geyr kommen zu lassen.

der Tasche 247 248

zu

Vgl. die Angaben bei Kordt, S. 357. So Gisevius, S. 415.

Nach Groscurths persönlichem Tagebuch, Eintrag vom 1.11.39, soll Halder sich auch zuvor Tippelskirch über Groscurths und Canaris' „Zuverlässigkeit" erkundigt haben. Das erscheint seltsam, denn mindestens über die Einstellung von Canaris wußte Halder seit langem Bescheid. Vielleicht war diese Frage Halders an Tippelskirch indirekt mehr ein Test gegenüber dem OQu IV. Die Vermutung, Halders Anfrage an Tippelskirch habe sich wohl eher auf die Durchführung der Aktion in Anbetracht der besonderen Natur der von ihm beabsichtigten Eröffnung gegenüber Groscurth bezogen (so Anm. 578 der Edition „Tagebücher eines Abwehroffiziers"), setzt immerhin die wenig wahrscheinliche Annahme voraus, daß Halder den OQu IV schon in höchstem Maße eingeweiht hatte. 258 Das KTB Abt. z. b. V., fol. 180, datiert diese Unterredung auf den 31.10.39, 18 Uhr: „Besprechung des Abteilungschefs mit Genst. über innerpolitische Lage." Dieses Datum bestätigt ein Feldpostbrief Groscurths vom 2. 11. 39: Halder habe ihn „vorgestern" also am 31. 10. 39 249

bei

gerufen (freundliche Mitteilung von Herrn Prof. Krausnick). Demnach bringt das persönliche Tagebuch, das die im Text geschilderte Episode unter dem 1.11.39 berichtet, eine Art Zusammenfassung der Ereignisse des Vorabends. Da Groscurth dann nach der Unterhaltung mit Halder sofort in der Nacht noch nach Berlin fuhr (KTB Abt. z. b. V., fol. 181), kam er eben erst am nächsten Tag dazu, die Ereignisse des Vorabends seinem Tagebuch anzuvertrauen. Mit dieser Datierung werden die Angaben bei Kosthorst, S. 55, und Sendtner, S. 395 ff., hinfällig. zu

sich

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Diese Eintragung Groscurths, dessen Tagebuchnotizen oft stark subjektiven und emotionalen Charakter tragen, bedarf gewisser Erläuterungen. Es handelte sich bei diesem Gespräch ganz offensichtlich um eine klärende und orientierende Kontaktaufnahme, um eine Art „Fühlungnahme-Unterredung" seitens des Generalstabschefs mit einem seiner Abteilungsleiter, von dem er wußte, daß er zu den radikalen Oppositionellen gehörte. Das legt unter anderem Groscurths Wiedergabe der Unterredung insofern nahe, als darin stark der Charakter eines Zwiegesprächs und noch nicht einer klaren Auftragserteilung zum Ausdruck kommt. Halder äußerte zuerst gleichsam zur „Einstimmung" und geradezu das Terrain sondierend, man müßte gewisse Leute verunglücken lassen. Er vermied also zunächst den direkten Hinweis auf die „Spitze", deutete dabei aber sehr massive Attentatserwägungen an251. Dagegen rät Groscurth „zu geordnetem Unternehmen". Was sollte das heißen? Einerseits wandte sich Groscurth gewiß gegen den Gedanken, irgendwelche Maßnahmen als „Unfälle" zu kaschieren und es dabei bewenden zu lassen. Was hätte das auch nützen sollen? Andererseits läßt diese Eintragung doch erkennen, daß der Abteilungsleiter z. b. V. mit seinem Hinweis auf eine gewisse einzuhaltende „Ordnung" bei einem Unternehmen dafür plädierte, daß die „Spitze" miteinbezogen werden müßte; denn die Ausschaltung einiger Figuren zweiter Ordnung gewährleistete keineswegs die Erreichung des angestrebten Zieles. Diese Auffassung legt auch Halders Einwand nahe, der meinte, „es sei kein Mann da"252, also keine Persönlichkeit, die das Steuer des Staatsschiffes in die Hand nehmen könne. Dieser Einwand ist nur sinnvoll und verständlich, wenn man voraussetzt oder annimmt, daß Halder unter der Bemerkung Groscurths bezüglich der Notwendigkeit eines „geordneten Vorgehens" eben auch den Hinweis auf den Stoß gegen Hitler selbst verstanden hat. Diese Bemerkung Halders zeigt zudem, daß es dem Generalstabschef nicht bloß um einen Militärputsch zur Verhinderung der Westoffensive, sondern um einen Staatsstreich gegen das nationalsozialistische Regime überhaupt zu tun war253. Deshalb gab er ihm schließlich den Auftrag, Verbindung mit Goerdeler herzustellen; aus diesem Grunde erwähnte er auch, daß er selbst schon häufig mit der Pistole in der Tasche zu Hitler gegangen sei254. Auffallend ist, daß der Generalstabschef auf Groscurths PersoAuch General Thomas gegenüber soll Halder am 4.11. 39 laut Gisevius, S. 416, auf die Möglichkeit eines Attentates durch ein fingiertes Unglück zu sprechen gekommen sein. Groscurth muß Halders Worte vom 31. 10. 39 ebenfalls im Sinne einer Attentatserwägung aufgefaßt haben, denn unter dem 14.2.40 schrieb er erstens in sein persönliches Tagebuch: „Dabei hat er [= Halder] mich doch zum Mord aufgefordert." Zweitens nahm Groscurth nach dem Gespräch mit Halder Verbindung zu Hauptmann Marguerre auf, dem Sprengstoffexperten der Abwehr. Vgl. auch unten S. 526 ff. (Halders angebliche Attentatsaufforderung an Canaris). Zur Frage der Stellung Halders zum Attentat vgl. S. 518, Anm. 288 dieses Kapitels. 252 Das kann nicht heißen, kein Mann, der ein Attentat begehen könne, sondern, wie die Nennung der Namen Beck und Goerdeler zeigt, eine politische Führerpersönlichkeit, die Hitler zu ersetzen in der Lage sei. 253 Halder machte sich stets sorgenvolle Gedanken um die politische Fundierung eines Staatsstreiches: vgl. weiter unten S. 541 dieses Kapitels. 254 Von Gen.Oberst a.D. Halder am 10. 11. 1965 durch Mitteilung an das MGFA bestätigt. Hinsichtlich des Attentats vgl. Halders Stellung unten S. 518 sowie vor allem S. 528 ff. dieses Kapitels. 251

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nalvorschläge hin Beck und Goerdeler -, letzteren heranzuziehen, die Weisung gibt, also einen ihm allerdings bekannten Zivilisten, nicht jedoch Beck, seinen einstigen Vorgesetzten und Vorgänger. Hierin kommen wohl die Vorbehalte, die Halder bei aller Anerkennung der lauteren Persönlichkeit Becks doch seinem Vorgänger gegenüber hegte sowie die seit 1938 entstandene Entfremdung zum Ausdruck. Im übrigen zeigt sich bei dieser Personenauswahl wieder die mangelnde Information innerhalb der Aktivistengruppe. Groscurth schien zu diesem Zeitpunkt im Gegensatz zu Oster und Gisevius nicht zu wissen, daß Goerdeler am Vortage gerade für einige Tage nach Schweden gefahren war, damit also gar nicht zur Verfügung stand255. Alles in allem: an jenem 31. Oktober ließ Halder gegenüber einem Mitglied der militärischen Aktivistengruppe erstmals seine bis dahin sorgsam gehüteten Aktionserwägungen durchblicken, deutete Einzelheiten an er habe die Absicht, den als Gegner des Regimes bekannten Kommandeur der 3. Panzerdivision, General Geyr v. Schweppenburg, kommen zu lassen256 erging sich sogar in indirekten Attentatserwägungen und gab damit der Aktivistengruppe seinerseits ein einigermaßen verpflichtendes Zeichen seiner Bereitschaft. Diese Tatsache gelangte sogleich nach Berlin, wo die anderen Verschwörer erstaunt auf-

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horchten. Groscurth weihte noch in der Nacht seinen Mitarbeiter, Hauptmann Fiedler, ein und orientierte Etzdorf, so daß damit die Oppositionsgruppe im Auswärtigen Amt ebenfalls alarmiert war257. Am Morgen des 2. November Halder und der ObdH waren am Abend zuvor für zwei Tage an die Westfront zu den Heeresgruppen und Armeeoberkommandos gefahren258 ließ Stülpnagel259 Groscurth kommen und beauftragte ihn, -

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Nach seinem persönlichen Tagebuch, Eintrag vom 2.11.39 erfuhr Groscurth davon erst an diesem Tage. Vgl. Hassell, S. 95, und Ritter, Goerdeler, S. 504. Nach Gisevius, Bd II, S. 161, war Goerdeler am 5. 11. 39 wieder in Berlin. 256 Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 1. 11.39; vgl. dazu auch Gisevius, S. 416, der allerdings von dem Kommandierenden General eines Panzerkorps spricht. General von Geyr teilt in einer Zuschrift vom 16. 1. 1966 an das MGFA mit, Stülpnagel hätte ihn bei einem Besuch Geyrs in Zossen gefragt, ob man auf seine Division redinen könne, was er verneint habe, da diese in der Stellung zum Regime gespalten gewesen wäre. Vgl. auch Institut für Zeitgeschichte ED 91. 257 Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 1. und 2. 11. 39. Vgl. die Anm. 581 der Edition „Tagebücher eines Abwehroffiziers". Vom 31.10. 39 zum 1.11.39 war Groscurth demnach in Berlin bei seinem Mitarbeiter Fiedler; in dieser Nacht wird wohl auch Etzdorf unterrichtet worden sein. 258 Haider-Tagebuch, Bd I, S. 117 f. Vgl. auch Ritter, Goerdeler, S. 493, Anm. 26, über den Datierungsirrtum von Gisevius, Bd II, S. 156, den dieser in seiner Neuausgabe, S. 415, inzwischen berichtigt hat. Vgl. auch Kosthorst, S. 91. 259 Im KTB Abt. z. b. V., fol. 181, findet sich über diese Besprechung unter dem 2. 11. 39 kein Eintrag, wohl aber sind im persönlichen Tagebuch unter dem 2. 11. 39 zwei Besprechungen mit Stülpnagel erwähnt. Im KTB Abt. z. b. V., fol. 181, finden sich dagegen unter dem 3.11.39 um 11.00 Uhr und um 19.00 Uhr je eine Besprechung mit dem Oberquartiermeister I. Entweder fanden also, folgt man dem persönlichen Tagebuch, zwei Besprechungen am 2. 11. 39 statt oder aber, zieht man das KTB vor, beide am 3. 11. 39, oder aber an beiden Tagen fanden Besprechungen statt, die jeweils nur in einem der beiden Tagebücher ihren Niederschlag fanden. Wir ziehen letztere Hypothese vor, denn im persönlichen Tagebuch sind nach Schilderung der Besprechung vom 2. 11. 39 auch am 3. und 4. 11. 39 „weitere Vorbereitungen" eingetragen; außerdem wäre der 255

."3

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nunmehr die „Vorbereitungen anlaufen zu lassen". Groscurth fuhr am selben Tage erneut nach Berlin260, wo er vermutlich mit den dortigen Verschwörern verhandelte oder vielleicht auch Absprachen wegen der in Aussicht genommenen „Aktion" traf. An diesem oder folgenden Tag261 rief Stülpnagel ihn wiederum mehrere Male zu sich und gab ihm verschiedene zusätzliche Anweisungen und Anregungen für diese Planungen. Unter anderem gab er ihm Einblick in die Truppenverteilung, aus der zu ersehen war, auf welche Verbände auf Grund ihrer Dislozierung man sich stützen könne262. Noch in der Nacht machte Groscurth sich mit Fiedler an die Ausarbeitung der notwendigen Vorbereitungen, die ihn auch noch am folgenden Tag beschäftigten. So sprach er auch mit dem Sprengstoffexperten der Abwehr, Hauptmann Marguerre263. Vom 2. bis 4. November waren er und seine Gesinnungsfreunde, unterstützt durch Weisungen und Anregungen Stülpnagels, eifrig mit Vorbereitungen zu einem Staatsstreich beschäftigt. Seinem Tagebuch vertraute er an, er habe den Eindruck, daß gehandelt werden solle264. Diesen Eindruck hatten auch seine Gesinnungsfreunde265, als Groscurth selbst nach Berlin kam und sie über die Lage orientierte266: Endlich sei es soweit. Halder habe die Erlaubnis gegeben, Beck und Goerdeler zu alarmieren. Vom 5. an sollten sie sich für alle Fälle bereithalten. Die Zossener Vorbereitungen seien nahezu abgeschlossen267. Gisevius und seine Freunde entfalteten daraufhin eine hektische Aktivität: „Hochbetrieb. Es jagen sich die Unterredungen." Beck, Schacht, Helldorf und Nebe wurden orientiert268. Mit seinem Auftrag an Oberstleutnant Groscurth, die Vorbereitungen anlaufen zu lassen, wird Stülpnagel einer Weisung des abwesenden Generalstabschefs nachgekommen sein. Die Annahme, daß Stülpnagel in Einzelheiten über Halders sicherlich knapp gehaltene Anweisungen hinausging, ist allerdings nicht ganz unberechtigt. Denn Gisevius erwähnt, Groscurth habe mitgeteilt, er solle Beck und Goerdeler alarmieren. Halder aber hatte lediglich Goerdeler heranzuziehen befohlen. Da jedoch Stülpnagel enge Beziehungen zu Beck hatte, ist nicht ausgeschlossen, daß er Groscurths Auftrag entsprechend erweitert hat. Was Gisevius über den Stand der Vorbereitungen in Zossen berichtet, mag zwar in Anzeitliche Sprung vom 31. 10. 39 (Halders Auftrag) zum 3. 11. 39 erklären. 280 KTB Abt. z. b. V., fol. 181, Eintrag vom 2. 11. 39. 281 Vgl. auch Anm. 259.

(Stülpnagels erste Weisung) schwer

zu

262 263 264

285

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 2. 11. 39.

Ebd. Ebd.

Gisevius, S. 415.

KTB Abt. z. b. V, fol. 181, Eintrag vom 2. 11. 39. Nach Anm. 581 der Edition „Tagebücher eines Abwehroffiziers" war Groscurth auch in der Nacht zum 1.11. 39 in Berlin. Gisevius, S. 415, setzt Groscurths Besuch in Berlin auf den 3.11. 39 an. Das wird jedoch durch KTB Abt. z. b. V., fol. 181, widerlegt. Dazu paßt auch, daß Groscurth laut persönlichem Tagebuch, Eintrag vom 2.11.39, an diesem Tag Goerdelers Abwesenheit erfuhr, und zwar wohl in Berlin durch Oster. Im übrigen wird die hektische Aktivität von Gisevius am 2.11.39 durch Groscurths Besuch an diesem Tag ausgelöst worden sein. 267 Gisevius, S. 415 f. 268 Gisevius nennt auch noch Goerdeler. Vgl. dazu Anm. 266 dieses Kapitels. 288

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betracht der kurzen Frist auch wenn Groscurth und Fiedler die ganze Nacht durchgearbeitet hätten etwas zu optimistisch erscheinen, aber das ist in diesem Zusammenhang wenig von Belang. Groscurth jedenfalls setzte am 3. und 4. November seine Vorarbeiten fort, konferierte mehrfach mit Wagner260, besprach sich häufig mit Stülpnagel, zog Kapitän Liedig von der Abwehr hinzu, besuchte Hauptmann Marguerre, erörterte mit Stülpnagel eventuell notwendige Sicherungsmaßnahmen des OKH-Hauptquartiers, kurzum: in Zossen wurde im Auftrage Halders von einer Art konspirativer Arbeitsgruppe270 unter Leitung Stülpnagels die Planung mit Hochdruck vorangetrieben. Der ObdH und Halder waren am 4. November von ihrer Westfront-Reise nach Zossen zurückgekehrt. Da Hitler am 22. Oktober als vorläufigen Termin der Offensive den 12. November in Aussicht genommen und dies am 27. Oktober nochmals bekräftigt hatte, mußte unter Anrechnung der notwendigen Vorwarn-Frist die endgültige Entscheidung am 5. November fallen. Brauchitsch hatte bereits am 31. Oktober dem Oberkommando der Wehrmacht gegenüber durchblicken lassen271, daß er Hitler nochmals am 4. und 5. November aufsuchen wolle, um ein letztes Mal nachdrücklich den Standpunkt des Heeres darzulegen und zu versuchen, eine Änderung der Grundsatzentscheidung herbeizuführen. Die letzte Frontreise hatte dem ObdH erneut das notwendige Material für diese entscheidende Intervention in die Hand gegeben272. Die höchsten Befehlshaber waren einhellig, wenn auch mit individuellen Nuancen, gegen das Offensivunternehmen eingestellt. Bezüglich der Einzelinformationen, die diese Reise für den ObdH brachte, finden sich im Tagebuch Halders als „bemerkenswert" gekennzeichnete, detaillierte Eintragungen273, aus denen hervorgeht, daß ein Angriff mit weitgestecktem Ziel z. Z. noch nicht geführt werden könne, weil das Heer personell, ausbildungsmäßig und materiell noch nicht dazu in der Lage sei; weiterhin werde „der vom OKW befohlene Angriff von keiner hohen Kommandostelle als erfolgversprechend angesehen". Ein für die Landkriegführung entscheidender Erfolg könne nicht erwartet werden. Der ObdH bereitete sich aufgrund dieser Ergebnisse auf die entscheidende Aussprache mit Hitler vor274. Halder dagegen, der bereits am 1. und 2. November die Vorbereitungen für eine eventuelle Aktion hatte anlaufen lassen, sah im Gegensatz zu seinem Oberbefehlshaber bereits die Notwendigkeit eines Gewaltstreichs herannahen. Kaum in Zossen wiedereingetroffen, empfing er am 4. November um 15.30 Uhr den um eine Unterredung nachsuchenden Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes, General Thomas275. Als dieser die Denkschrift der Berliner Oppositionsgruppe vorlegte, stieß er zu seiner -

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...

269

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 2., 3. und z. b. V., fol. 181 f., Eintragungen vom 2. bis 4.11. 39. Vgl. Anm. 202 über deren Heterogenität. Jacobsen, S. 44.

4.11.39

sowie, ausführlich, KTB

Abt. 270 271

272 Nach Gisevius, S. 423, soll Brauchitsch während der Reise an der Westfront dem Generalobersten v. Witzleben anvertraut haben, er fühle sich nicht mehr sicher, Heydrich sei hinter ihm her. 273 Haider-Tagebuch, Bd I, S. 117 f. 274 Tagebuch Jodl vom 31.10. 39 (Welt als Geschichte 1952, S. 274 ff.). 275 Halder-Tagebuch, Bd I, S. 119, und Kosthorst, S. 94; auch Gisevius, S. 416.

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er war offensichtlich über die inzwischen erfolgte Entwicklung nicht auf orientiert völlige Aufgeschlossenheit des Generalstabschefs276. Er schied mit dem Eindruck, daß Halder zum Handeln entschlossen sei. Am Nachmittag dieses Tages wurde auch Oster nach Zossen gerufen. Man eröffnete ihm dort277, er möge die konspirativen Vorarbeiten vom Vorjahr rekonstruieren und notfalls ergänzen. Ob diese Anweisung von Halder erfolgte, ob Oster mit Halder überhaupt gesprochen hat oder nur mit Stülpnagel, ist nicht genau zu klären. Auf jeden Fall aber hat ihn der Oberquartiermeister I an diesem Tag über Einzelheiten278 der bisherigen Planung in Zossen unterrichtet, so daß eine Koordinierung gewährleistet schien. Zugleich erhielt Oster den Auftrag, Schacht den Besuch Wagners anzukündigen; dieser erschien daraufhin bei Schacht unter dem Vorwand, Währungsprobleme zu besprechen, und erklärte im Auftrag von Halder, er möge sich bereithalten279. Über die Detailplanungen der Zossener Gruppe wie der Oster-Gruppe läßt sich Sicheres nicht mehr ausmachen. Gisevius berichtet280 ganz allgemein von bis in Einzelheiten durchgearbeiteten „Aufmarschplänen" und von einem Studium der Baupläne der Reichskanzlei, das man in Zossen durchgeführt habe. Über später von der Gestapo in einem Zossener Panzerschrank aufgefundene Akten sagte nach dem Krieg der damalige Sachbearbeiter dieses Materials im Reichssicherheitshauptamt, Huppenkothen, vor einem Schwurgericht aus281: es sei geplant gewesen, Hitler, Göring, Ribbentrop, Himmler und Heydrich auszuschalten. Hitler sollte unter Umständen für geisteskrank erklärt werden ein Gedanke, der schon 1938 einmal aufgetaucht war. Es sei erwogen worden, mit einer Proklamation die Fiktion zu erwecken, die Armee sei dem geplanten Putsch einer verbrecherischen Parteiclique im letzten Moment zuvorgekommen; Belastungsmaterial über die Machenschaften der nationalsozialistischen Führerschicht sollte veröffentlicht werden. Durchgeführt werden sollte die Aktion mit einer schlagartigen Zernierung des Regierungsviertels sowie mit Besetzung von Schlüsselpositionen wie Post, Rundfunk, Flugplätzen, SS- und Polizeidienststellen durch Heeresverbände282. Führende Parteifunktionäre wären zu ver-

Überraschung

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Zu der Frage, ob Halder die Möglichkeit oder die Notwendigkeit eines Attentates dabei erörtert hat, wie Gisevius, S. 416, behauptet, vgl. Ritter, Gcerdeler, S. 491, Anm. 21. 277 Gisevius, S. 417, behauptet, Oster sei auch von Halder empfangen worden; nach Ritter, Goerdeler, S. 491, Anm. 21, scheint, wie Ritter unter Heranziehung einer Aussage Halders meint, Oster damals nur von Stülpnagel empfangen worden zu sein. Halder habe nach seinen eigenen Aussagen es stets vermieden, Oster zu empfangen, da er ihn für unvorsichtig hielt und auch keine dienstlichen Verbindungen mit ihm hatte. So auch Zs. Nr. 240, Bd V (Halder). Nach HalderTagebuch, Bd I, Eintrag vom 16. und 28. 8. 39 war Oster bei Halder. 278 Ritter, Goerdeler, S. 492, Anm. 24, vermutet, daß man in Zossen Detailplanungen hinsichtlich der in Berlin zu ergreifenden Maßnahmen dieses Mal selbst in die Hand genommen habe, da Witzlebens Vorbereitungen von 1939 unzulänglich gewesen seien. Vgl. auch Kap. VIII dieser Arbeit. 279 Vgl. Kosthorst, S. 95. 289 Gisevius, S. 416. 281 Dazu Ritter, Goerdeler, S. 492, Anm. 23. 282 Es soll dabei an das Infanterieregiment 9 in Potsdam und an das Panzerregiment 15 in Sagan 276

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zu errichten. Beck sollte an die Spitze eines Reichsdirektoriums und den Oberbefehl über das Heer übernehmen. Baldige Reichstagswahlen hätten verkündet und Waffenstillstandsverhandlungen mit dem Ziel schnellen Friedensschlusses begonnen werden sollen. Auf die Mithilfe von Militärs wie Witzleben, Hoepner, eventuell auch Geyr v. Schweppenburg, Reichenau und Falkenhausen wurde gerechnet283. Wieweit diese Angaben die damalige Planung korrekt widerspiegeln, ist nicht festzustellen. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß bereits bei den von der Gestapo 1944 aufgefundenen Akten oder aber in der Erinnerung Huppenkothens Einzelheiten früherer oder späterer Planungen ineinander übergegangen sind284. Im November 1939 war beispielsweise Witzleben in Gegensatz zu 1938 mit seiner Armee weit von Berlin entfernt an der Westfront; und General v. Geyr lag damals krank im Sanatorium285. Der Gedanke, Hitler für geisteskrank zu erklären ist ebenso wie die Idee, mit der Fiktion eines Parteiputsches zu operieren, auch späterhin noch mehrfach erwogen worden. Ob der Plan, Beck an die Spitze eines Reichsdirektoriums286 zu stellen, bei dem kühlen Verhältnis zwischen Beck und Halder von diesem als dem leitenden Kopf des Komplottes in Zossen akzeptiert worden sein mag, ist ebenfalls zweifelhaft. Allerdings könnte Stülpnagel, der ständig gute Beziehungen zu Beck hatte, diesem Gedanken nicht unbedingt ferngestanden haben. An einen Einsatz der Panzerdivision des General Geyr v. Schweppenburg hat jedenfalls Halder zeitweilig gedacht287. Wie problematisch die Aussagen Huppenkothens sowohl im Detail als auch in ihrer zeit-

haften, Standgerichte treten

gedacht worden sein. Aber bei diesen Angaben könnte allerdings eine Verwechslung mit den 1938 vorgesehenen Verbänden nicht ausgeschlossen sein. Im Panzerregiment 15 war Graf Yorck von Wartenburg Reserveofffizier (vgl. KTB Abt. z. b. V. vom 15. 10. 39). Nach der auf Halders Mitteilungen beruhenden Darstellung Kosthorsts, S. 55 und S. 60, habe Halder „zur Durchfühzwei bis drei Panzerdivisionen hinter der Elbe (d. h. ostwärts der Elbe) zurung des Planes rückbehalten unter dem Vorwand des Umbaus der Panzerausstattung". Ergänzend und berichtigend teilt Generaloberst a. D. Halder am 15.10.1965 dem MGFA mit: „Verbindliche Nummern kann ich nicht mehr angeben Tatsache ist, daß ich die Notwendigkeit, die mot. Verbände auf Truppenübungsplätzen aufzufrischen, benutzt habe, mir immer einige Verbände möglichst weit ostwärts zur Verfügung zu halten. Sie haben gewechselt; es waren nicht nur Panzerdivisionen." 283 Über Geyr v. Schweppenburg und Hoepner vgl. S. 544 dieser Arbeit. 284 Hierzu vgl. auch die Ausführungen Ritters, Goerdeler, S. 492. Ob diese Angaben als „Planungen des Oster-Kreises" (Ritter, ebd.) bezeichnet werden können, mag dahingestellt bleiben. Immerhin gehörte Oster und Dohnanyi zum OKW/Abwehr mit Dienstsitz in Berlin, die Akten, von denen Huppenkothen spricht, sollen aber in Zossen, dem damaligen Sitz des OKH gefunden .

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worden sein. 285 Was na¿h Groscurth, in Erwägung zu ziehen.

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persönliches Tagebuch, Eintrag

vom

1. 11.

39, Halder nicht hinderte, ihn

286 Laut Ritter, Goerdeler, S. 492, soll aber beispielsweise Dohnanyi zeitweilig eine Art „Kerenski-Lösung" mit einer Regierung Göring-Reichenau erwogen haben das zeigt zumindest, daß damals Vorstellungen über konkrete politische Maßnahmen noch nicht bis zu einem Konsensus gediehen waren. 287 Vgl. Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 1.11.39; Auskunft General a.D. Geyr v. Schweppenburg an das MGFA vom 16. 1. 1966, vgl. S. 544 f. dieser Arbeit. -

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liehen Fixierung und Bezogenheit sein mögen, im Umriß haben die von ihm geschilderten Einzelheiten jedenfalls eine gewisse innere Wahrscheinlichkeit. Unklar bleibt, ob ein Attentat gegen Hitler beabsichtigt war oder nicht. Groscurth hat gewisse Andeutungen Halders jedenfalls dahingehend verstanden, daß sich der Generalstabschef mit einer solchen Möglichkeit gedanklich befaßte. Halder selbst hat nach dem Krieg mehrfach nachdrücklich seine Ablehnung eines politischen Mordes aus moralisch-religiösen und auch aus politisch-ethischen Gründen betont288. Er hat aber auch nicht geleugnet289, daß in jenen spannungsreichen Tagen, als die nervenaufreibenden Auseinandersetzungen mit Hitler immer heftiger und das Unheil einer katastrophalen Kriegsausweitung immer bedrohlicher und unabwendbarer zu werden schien, von ihm wie von anderen oppositionellen Offizieren in Zossen gelegentlich von „beseitigen" oder gar „umbringen" geredet worden sei. Sollte Halder nicht vielleicht doch, ungeachtet all seiner späteren Aussagen, bisweilen mit dem Gedanken gespielt haben, durch einen Tyrannenmord dem schrecklichen Dilemma der andernfalls aussichtslosen Situation entrinnen zu können? Eine klare Antwort läßt sich hier nicht finden. Groscurths diesbezügliche Tagebuch-Eintragungen kann man nicht einfach außer acht lassen. Daß Halder schwerste Bedenken hatte hinsichtlich eines Attentates, ist ebenfalls gewiß. Auch General Thomas290 und mindestens damals noch auch Beck lehnten ein Attentat grundsätzlich ab. Sie wollten eine Erhebung nicht mit einem Mord belasten, auch nicht an einem verbrecherischen Staatsoberhaupt. Andere Verschwörer dachten hierin allerdings radikaler. Zwischen dem 1. und 4. November wurden somit in Zossen wie in Berlin von den Verschwörern fieberhaft die notwendigen Vorbereitungen getroffen. Man wird allerdings den inneren Zusammenhalt dieses Aktionskreises nicht als allzu gefestigt ansehen dürfen. Vielmehr bestand zwischen den Absichten der Aktivisten und denen Halders ein grundlegender Unterschied, aus dem die späteren Zerwürfnisse zu einem guten Teil resultierten. Die Aktivisten und die anderen in Kenntnis gesetzten Persönlichkeiten glaubten aufgrund der Initiative Halders und Stülpnagels, daß damit auch die Entscheidung über die Durch-

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Vgl. dazu seine Aussagen (zit. nach Sendtner, S. 401): „Im Denken des deutschen Offiziers bestehen tiefe und ernste Hemmungen gegen den Gedanken, einen Wehrlosen niederzuschießen. Ich habe mit Stauffenberg, Tresckow und anderen stundenlang über diese Frage gesprochen, und ich weiß, diese Männer haben nur zu diesem Gedanken gegriffen, in der letzten Verzweiflung unter Überwindung alles dessen, was sich in ihrem Denken dagegen aufbäumte Revolutionäre vom Fach sind wir nicht. Dagegen spricht die konservative Grundeinstellung, in der wir aufgewachsen sind. Meine Kritiker.. frage ich: Was hätte ich tun sollen, d. h. was hätte ich hindern müssen? Einen aussichtslosen Putsch starten, für den die Zeit nicht reif war, oder zum Meuchelmörder werden, als deutscher Offizier, als Spitzenvertreter des deutschen Generalstabes...? Das spreche ich ehrlich aus, dazu habe ich mich nicht geeignet, das habe ich nicht gelernt. Die Idee, 288

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worum es ging, war mir klar. Sie in den ersten Stadien mit dem politischen Mord zu belasten, dazu war ich als deutscher Offizier nicht fähig." 289 Hierzu vgl. Kosthorst, S. 97, aufgrund einer persönlichen Mitteilung Halders sowie unten Anm. 346 und den Kommentar zu dem Eintrag vom 1.11.39 im persönlichen Tagebuch Groscurths: Anm. 815 der Edition „Tagebücher eines Abwehroffiziers". 299 Vgl. dazu Ritter, Goerdeler, S. 244, und Birkenfeld, S. 20.

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des Staatsstreiches bereits gefallen sei, daß die Aktion also nach Abschluß der vorbereitenden Maßnahmen auf jeden Fall erfolgen werde. Halder ließ Vorbereitungen für einen Staatsstreich treffen, da dieser in allernächster Zeit vielleicht, das heißt als ultima ratio nach Versagen aller anderen Mittel und in auswegloser Lage erforderlich sein könnte. Halder schrieb später darüber, vielleicht etwas allzu abschwächend, aber im Kern zutreffend291: „Als der Zeitpunkt für Vorbereitungen gekommen erschien, ließ ich diese anlaufen. Damit waren für die spätere Auslösung günstigere Zeitverhältnisse292 gegeben." Für ihn war der rechte, der notwendige Moment für die Vorbereitungen gekommen; diese sollten nicht zu früh beginnen, daher hatte er am 25. Oktober noch das Drängen der Aktivisten abwehren lassen; aber sie durften auch nicht zu spät einsetzen, sonst stünde er in dem Augenblick hilflos da, in dem der Staatsstreich unausweichlich notwendig würde293. Den Zeitpunkt zum Beginn der Vorbereitungen glaubte er nunmehr gekommen; der Zeitpunkt der Auslösung konnte zwar, wie er die Lage ansah, jederzeit eintreten dann brauchte er die abgeschlossenen generalstabsmäßig geplanten Vorbereitungen294 nur anlaufen zu lassen -, aber ein automatisches Übergehen von den Vorbereitungen zur Durchführung hatte er nicht beabsichtigt. Die Differenz der Auffassungen bestand kurz gesagt also darin295: die Aktivisten sahen mit Halders Initiative schon den Zeitpunkt der Aktion für gekommen an, Halder und Stülpnagel dagegen sahen den Zeitpunkt für die Vorbereitungen für gegeben, den Moment der Auslösung jedoch für wahrscheinlich nahe bevorstehend, aber im Augenblick noch nicht für zwingend gekommen an.

führung

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291

Auskunft

an

das MGFA vom 15. 10.1965.

„Günstigere Zeitverhältnisse" meint hier die optimale Zeitrelation zwischen Vorbereitung und Auslösung. Man durfte aus Gründen der konspirativen Abschirmung mit den Vorbereitungen nicht zu früh beginnen; andererseits aber durften sie auch nicht zu spät anlaufen, da man sonst, wenn plötzlich der Zeitpunkt zum Losschlagen gekommen war und das hing von vielen nicht zu beeinflussenden Faktoren ab -, unfertig oder gar unvorbereitet vor der „Situation" gestanden 292

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hätte. 293 Es wird hier in der Motivation Halders wohl ein ganzes Bündel determinierender Faktoren vorhanden gewesen sein; vielleicht war er innerlich noch nicht ganz entschlossen; aber eine solche risikoreiche Planung legte die Beteiligten doch in hohem Maße innerlich fest; sodann mag er gehofft haben, daß der ObdH bei weiterer Unbelehrbarkeit Hitlers doch noch mitziehen würde. 294 Vgl. dazu Kosthorst, S. 54: „...daß damit noch keineswegs die Entscheidung für einen Staatsstreich selbst gefallen war; zunächst wurde lediglich ein Aufmarsch' und ,generalstabsmäßiger Operationsplan' vorbereitet... so gab es eine Zäsur zwischen Staatsstreichvorbereitungen und dem Entschluß zur Auslösung des Staatsstreiches selbst." Das schematisiert vielleicht die Dinge etwas zu sehr, denn derartige Komplottvorbereitungen haben im Gegensatz zu militärischen Generalstabsoperationsstudien, die oft unverbindliche Planungen bleiben ihre eigene Dynamik und einen hohen Grad der Verbindlichkeit. Konspirative Putschvorbereitungen beginnt man erst, wenn die Situation eine gewisse „Reife" zeigt. Richtig ist aber einmal, daß ein gewisser Sprung zwischen Beginn der Vorbereitungen und der Auslösung der Aktion besteht, und zweitens, daß infolge der Abhängigkeit von zahlreichen oft nicht beeinflußbaren Faktoren, das „Ob" der Durchführung bis zuletzt offenbleibt, daß also kein Automatismus gegeben ist. 295 Kosthorst, S. 92, formuliert: „Das ist der Staatsstreich!, glaubten die benachrichtigten Widerstandsgruppen. Das ist vielleicht der Staatsstreich, wußte Halder ..." (Hervorhebung vom Verf.) ...

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einleuchtend, daß ein derartiger Auffassungsunterschied, der damals wohl infolge unzureichender Abstimmung entstanden ist, an einem bestimmten Punkt der Entwicklung zu einer außerordentlichen Belastung werden mußte. Dies um so mehr, als trotz des nicht mehr zu leugnenden Aktionswillens Halders bei einigen radikalen Verschwörern eine geradezu in Mißtrauen übergehende Skepsis dem Generalstabschef gegenüber fortbestand. Gisevius hegte immer noch starke Vorbehalte, die allerdings auf Gegenseitigkeit beruhten; er diskutierte darüber sogar mit Goerdeler, der ihn aber energisch zurückwies. Auch Schacht blieb mindestens zeitweilig skeptisch296. Solche Vorbehalte konnten bei einer kritischen Zuspitzung plötzlich zu gefährlichen, desintegrierenden Faktoren werden. Das sollte nur allzu rasch Wirklichkeit werden. Es ist

Faktisch spitzte sich die Lage auf den 5. November zu. An diesem Tag wollte der ObdH nochmals den Versuch machen, Hitler von der Westoffensive abzubringen. Für die Frage, ob und wann das Signal zum Handeln für die Verschwörer erteilt werde, war das Ergebnis dieser Unterredung von höchster Bedeutung. Einmal mußte, wie die Verschwörer hofften, das Ergebnis der Aussprache darüber entscheiden, ob Brauchitsch bei einem Putsch mitgerissen werden konnte. Zum anderen aber war ihnen klar, daß als Rechtfertigung einer Aktion in den Augen von Volk und Wehrmacht ein eindeutiger Beweis für Hitlers Unzugänglichkeit gegenüber wohlbegründeten Interventionen der zuständigen militärischen Fachleute sowie für seinen verantwortungslosen Willen zur Kriegsausweitung notwendig war. Insofern war der 5. November ein wichtiges Datum im Rahmen der konspirativen Entwicklung. Indessen ist hier kein Automatismus im Sinne einer Gleichung, daß ein negatives Ergebnis der Unterredung das Signal zum Losschlagen bedeutet hätte, anzunehmen. Ein solches, nach den bisherigen Erfahrungen zu erwartendes, negatives Ergebnis war zwar eine gewichtige und den Gang der Konspiration gewiß beschleunigende Voraussetzung, mußte aber nicht unvermeidlicher Anlaß zum sofortigen Losschlagen sein. Es wäre durchaus noch ein, sicherlich kurzer Zeitsprung zwischen dem negativen Ausgang und dem Beginn der Aktion möglich gewesen, etwa um letzte Vorbereitungen abzuschließen; vor allem war bis dahin die Frage, welche Truppe man einsetzen könnte, konkret noch nicht geklärt. Ausschließlich im Zusammenhang mit all diesen Voraussetzungen mußte die Nachricht verstanden werden297, die Halder den zivilen Oppositionspolitikern wie Schacht, Goerdeler und auch Beck hatte zukommen lassen, sie sollten sich vom 5. November an bereithalten. Es scheint aber bei ihnen und den militärischen Radikalen der Eindruck entstanden zu sein298, daß sie sich am 5. November und nicht von diesem Tage ab bereitzuhalten hätten. Dieser Nuancenunterschied sollte folgenreich werden. S. 417. Vgl. auch Hassell, S. 99 f., vom 2. 11. 39. Es ist zudem hierbei zu berücksichtigen, daß Halder erst am 31. 10. bzw. 2. 11. das Startzeichen für die Vorbereitungen gegeben hat. Schon die kurze Zeitspanne zwischen dem 2. 11., an dem energisch mit den Vorbereitungen begonnen wurde, und dem 5. 11. macht es höchst unwahrscheinlich, daß für den 5. 11. bereits der Putsch geplant war. Wohl rechnete Halder allerdings damit, daß vom 5. 11. ab die Dinge sich krisenhaft zuspitzen würden, daher ließ er die Zivilisten sidi von diesem Tag an bereithalten. 298 Im Verlauf der Übermittlung erfolgte Sinnverschiebungen könnten dazu beigetragen haben. 298

297

Gisevius,

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

521

Gegen Mittag dieses Tages begab sich Brauchitsch mit Halder in die Reichskanzlei. Während Halder im Vorzimmer zurückblieb, begann die Aussprache290 zunächst unter vier Augen, nach etwa einer halben Stunde wurde dann Keitel hinzugezogen. Im Verlaufe dieser Unterredung kam es zu einem Zusammenstoß zwischen Hitler und dem ObdH, als letzterer zur Begründung der ablehnenden Haltung der Heeresführung gegenüber einer Westoffensive unter anderem bemerkte, die Infanterie habe in Polen im Angriff moralisch wie technisch mancherlei Schwächen gezeigt, auch habe die Disziplin sich bei Offizier und Truppe teilweise sehr gelockert. Diese Darlegungen erregten Hitlers größten Zorn. Er überschüttete den ObdH mit heftigsten Vorwürfen und verlangte sofortige Vorlage von Beweismaterial für die Behauptungen Brauchitschs. Die Argumentation des ObdH hatte Hitler damit die Möglichkeit gegeben, vom Kern des Problems abzulenken und eine Kontroverse über die vorgebrachten Behauptungen zu beginnen, die es ihm ermöglichte, zum Angriff auf das Oberkommando des Heeres überzugehen und Brauchitsch gleichsam zu überrollen. Keitel berichtet300, Hitler habe schließlich türenknallend den Raum verlassen und ließ uns allein stehen. Brauchitsch und ich trennten uns in dieser Situation, wortlos ging jeder seiner Wege. Ich war mir bewußt, daß dieser Vorgang einen Vertrauen war endgültig erinneren Bruch mit v. Br[auchitsch] bedeutete das. schüttert." Der letzte Versuch des ObdH, Hitler zur Anerkennung des Standpunktes der Heeresführung zu bringen, war gescheitert. Während der gemeinsamen Heimfahrt berichtete der schwer erschütterte ObdH dem Generalstabschef von diesem Ergebnis und fügte hinzu301, Hitler habe noch vor Ende der Unterredung die Drohung ausgestoßen, er kenne den „Geist von Zossen" und werde ihn vernichten302. Im Gegensatz zu Brauchitsch, der in Unkenntnis der Staatsstreichvorbereitungen dieser Drohung keinen realen Hintergrund geben konnte, wurde Halder durch die Mitteilung auf das höchste alarmiert. Hinzu kam, daß er, während er im Vorzimmer auf Brauchitsch gewartet hatte, eine merkwürdige kühle Zurückhaltung bei dem nationalsozialistisch eingestellten Wehrmachtadjutanten Sdimundt festzustellen geglaubt hatte. Außerdem war wohl zu ihm auch durchgesickert, daß Hitler auf Berichte von Offizieren der Luftwaffe hin über die in Zossen herrschende Oppositionsstimmung erklärt habe, er werde „im richtigen Augenblick brutal zugreifen und ein für alle Mal die Schädlinge in der Armee ausmerzen"303. Ebenso hatte um diese Zeit der mit Halder befreundete Chef des Wehrmacht„..

.

..

.

.

.

Vgl. zu dieser Aussprache: KTB OKW, Bd I, S. 951 f. (Aktennotiz über Keitels Bericht von Aussprache vom 8. 11. 39); IMT XX, S. 628; Halder-Tagebuch, Bd I, S. 120, Eintrag vom 5.11.39; Greiner, S. 66 f., und Keitel, S. 225 f. Die Unterlagen weichen teilweise hinsichtlich des Verlaufs der Aussprache im Detail voneinander ab. 299

dieser

300

381

Keitel, S. 225 f. Kosthorst, S. 96, nach

einem Bericht Halders.

Vgl. auch Halders

Bericht

vor

der

Spruchkam-

16. 9. 1948 (BA/MA H 92 1/3, fol. 42). 302 Gisevius, S. 418, gibt eine andere Version; danach soll Hitler den ObdH fixiert und mit der Frage überfallen haben: „Was haben Sie vor?" Der Bericht Halders ist als die unmittelbare Aus-

mer am

sage dieser Version vorzuziehen. Zudem

Brauchitsch gar nicht durch diese angebliche Frage sich getroffen fühlen. 303 Kordt, S. 357; vgl. dazu auch Kosthorst, S. 96, Anm. 18. war

-

eingeweiht,

konnte also kaum

XL

522

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

nachrichtenwesens, General Fellgiebel, der sein volles Vertrauen genoß und häufig zu politischen Erkundungszwecken benutzt wurde, den Generalstabschef

von

ihm

zur

Vor-

sicht gemahnt, Hitler sei mißtrauisch und ahne irgendwas Unbestimmtes304. Der Bericht Brauchitschs erfüllte daher Halder mit höchster Besorgnis. Er vermutete, daß die Staatsstreichpläne verraten worden seien, mindestens aber, daß Hitler einen bestimmten Verdacht geschöpft habe. Er gab daher nach der Rückkehr in Zossen die Anweisung305, sofort alle Unterlagen für den Staatsstreich zu vernichten306. Diese Reaktion Halders versetzte fraglos „dem Gedanken des Staatsstreiches... einen schweren Stoß"307. Bei ihrer Beurteilung ist zu berücksichtigen, daß sich der Generalstabschef damals in einem Zustand höchster Nervenanspannung wie alle Beteiligten befand. Fraglos war diese Reaktion unter diesen Umständen verständlich. Theoretisch wäre allerdings auch die gegenteilige Reaktion, nämlich sofortige Auslösung der Aktion, um der vermeintlichen oder gar tatsächlichen Bedrohung zuvorzukommen, denkbar und damit ebenso verständlich gewesen. Halder entschied sich jedoch anders. Diese Entscheidung des Generalstabschefs mußte für die Sache der Konspiration unvermeidlich negative Folgen haben. Immerhin wird zu dieser Reaktion und damit zum Verzicht auf eine sofortige präventive Aktion beigetragen haben, daß kurz nach Halders Rückkehr nach Zossen aus dem Oberkommando der Wehrmacht das Stichwort für den Angriff am 12. November eintraf. Das war in der durch Brauchitschs Bericht hervorgerufenen Panikstimmung noch ein zusätzliches Moment der Lähmung. Halder teilte daher den Abteilungsleitern des Oberkommandos des Heeres um 15.00 Uhr mit, daß der Angriffsbefehl erteilt sei und keine Möglichkeit bestehe, sich dem Befehl entgegenzustellen. Der Angriff werde durchgeführt308. Zur angemessenen Beurteilung muß man sich die Situation ganz nüchtern und konkret vor Augen führen: Dem Generalstabschef blieb nach dem Schock, den Brauchitschs Bericht in ihm ausgelöst hatte, wenig Zeit zu ruhiger Überlegung und zu klarem Abwägen der Lage309. Die Meldung vom Angriffsbefehl wirkte gleichsam als ein gutgezielter Nachstoß. Es handelte sich doch nur um wenige Stunden310, in der eine Entscheidung über ein Han-

-

Kosthorst, S. 97, und Generaloberst a. D. Halder, Mitteilung vom 10. 11. 1965 an das MGFA. Gisevius, S. 418. Groscurth, persönliches Tagebuch vom 5.11.39 sagt nichts über eine solche Anweisung. Sie wird aber bestätigt von Generaloberst a. D. Halder, Mitteilung an das MGFA 304 395

15. 10. 1965: „Meine Weisung erging unmittelbar nach Rückkehr aus dem Führerhauptquartier den OQu I." 306 j)¡e Vernichtung wurde wie es scheint nicht restlos durchgeführt; 1944 fand die Gestapo in einem Zossener Panzerschrank noch Unterlagen. Vgl. Ritter, Goerdeler, S. 492, Anm. 23, und Kosthorst, S. 96, Anm. 17. 397 Kosthorst, S. 96. 308 KTB Abt. z.b.V., fol. 182, Eintrag vom 5. 11. 39. 309 So schreibt Gisevius, allerdings kein Augenzeuge, S. 417: „In Zossen ist eine allgemeine Nervenkrise zu verzeichnen panikartige Verwirrung ." 319 Gemäß KTB Abt. z. b. V., fol. 182, Eintrag vom 5.11.39 fand die Unterredung mit Hitler ab 12.00 Uhr in Berlin statt; vor 15.00 Uhr muß dann schon der Angriffsbefehl eingetroffen sein (um 15.00 Uhr setzte Halder die Abteilungsleiter davon in Kenntnis); rechnet man je eine halbe vom an

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-

...

..

.

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Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

523

dein getroffen werden mußte, welches das Schicksal von Nation, Volk und Armee in unvorstellbarem Ausmaß bestimmen würde. Diese Zwangslage ist in der Literatur nie recht berücksichtigt worden. Zudem wäre es praktisch schwerlich möglich gewesen, mindestens aber hätte es größte Schwierigkeiten bereitet, die für die Durchführung einer Aktion notwendige Truppenbewegungen in Gang zu setzen. Auch wenn man der Ansicht ist, die Entscheidung für die Aktion wäre in dieser Lage objektiv richtiger gewesen als die Reaktion Halders, wird man einfach an den zwingenden Gegebenheiten nicht vorübergehen können. Betrachtet man die Dinge realistisch und unter Ausschaltung jeden Wunschdenkens, dann wird man zugeben müssen, daß ein spontanes Handeln gleichsam im Sinne eines rechtzeitigen Gegenstoßes unter diesen Umständen praktisch nicht möglich war oder aber den Charakter eines in höchstem Grade verzweifelten Vabanque-Spiels besessen hätte. Dazu war Halder seiner ganzen Persönlichkeit nach nicht der Mann. Hinzu kam noch ein weiteres ebenfalls noch nicht klar genug erkanntes Moment. Halder verfügte als Generalstabschef weder selbst über Truppen311, noch war er aus sich heraus zur selbständigen Befehlsgebung berechtigt. Er bedurfte für eine Aktion der Mitwirkung, mindestens der Duldung des ObdH312. Brauchitsch aber war nach der „entsetzlichen Szene"313 mit Hitler „völlig zusammengebrochen"314. Er war, durch den „orkanartigen Ausbruch Hitlers niedergeworfen und in eine Art seelisches Niemandsland verschlagen"315, einen Moment sogar entschlossen, seinen Abschied zu nehmen316. Den mindestens für einige, allerdings entscheidende Stunden währenden seelischen Zusammenbruch in dieser Frist hatte Halder die Entscheidung zu treffen wird man ebenfalls als einen Faktor bei der Reaktion des Generalstabschefs nicht übersehen dürfen. Hatte er doch gehofft, bei einer Aktion seinen Oberbefehlshaber „mitziehen" zu können. Er wußte, daß Brauchitsch nie selbst Staatsstreichvorbereitungen begonnen hätte, da er ein solches Unternehmen als „im Grunde negativ"317 ansah; aber er hoffte doch, in Kenntnis der zur Anpassung neigenden -

-

Stunde für die Unterredung mit Hitler und die Rückkehr nach Zossen, dann blieben noch nicht einmal zwei Stunden Zeit zur Entschlußfassung vor Eintreffen des Angriffsbefehls. Vgl. auch Jacobsen, S. 46 ff. 811 Hierzu vgl. Sendtner, S. 425 f.: „Woher sollte Halder die Truppen nehmen, die zu einem Staatsstreich nötig waren? Man setzt bei der Würdigung der Militäropposition immer voraus, daß die im aktiven Truppendienst stehenden Männer, an ihrer Spitze Halder, kraft Amtes auch die zum Handeln Befähigten und daher Berufenen gewesen sind. Aber ist diese .Aktionslegitimation' nicht eine Irrealität?" 312 Vgl. Hassell, S. 97, Eintrag vom 29. 10. 39: „Die Hauptsache aber fehlt immer noch: Der Befehlsgewalthabende und befehlende Soldat. Halder genügt dafür weder als Kaliber noch in seiner Position." Vgl. ebd. S. 96: „Goerdeler glaubt nicht, daß Brauchitsch zum Handeln zu bewegen sei. Allenfalls möglich sei aber, daß es gelingt, mit Hilfe Halders ihn zum ,Dulden' zu veranlassen." 313 Keitel, S. 226. 314

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 5.11. 39. Zeller, S. 315 f. 318 So Keitel, S. 226, nach einem Bericht des Wehrmachtadjutanten, Oberstleutnant d. G. Sdimundt. Der Heeresadjutant, Hauptmann Engel, berichtet hingegen, Hitler sei drauf und dran gewesen, 815

Brauchitsch zu entlassen. 317 Siehe oben S. 418 dieses

Kapitels.

XL

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Persönlichkeit seines Oberbefehlshabers, daß dieser, vor gewisse unwiderrufliche Tatsachen gestellt, sich nicht sperren würde. Diese Hoffnung schien jetzt geschwunden zu sein. Weiterhin wußte Halder, daß für einen Staatsstreich die Voraussetzungen wenigstens teilweise nicht sehr günstig waren. Wohl hatten sich nahezu alle höheren Führer des Heeres gegen eine Offensive ausgesprochen, aber nur wenige hatten eine Bereitschaft zu jeder Konsequenz angedeutet. Nicht zuletzt war in hohem Maße unklar, ob Offizierkorps und Truppe einem Befehl gegen das Regime oder gar gegen Hitler folgen würden. In der Situation vom 5. November jedoch war Halder innerlich nicht in der Lage, sich über diese Faktoren hinwegzusetzen. Er ließ daher Oberstleutnant Groscurth zu sich kommen und erklärte318, alle militärischen Mittel seien erschöpft319, die Offensive müsse durchgeführt werden. „Niemand sei da, die Sache zu übernehmen." Das konnte einerseits heißen, es fehle an einem mitreißenden politischen Führer, der einen Staatsstreich tragen könnte, andererseits könnte er damit lediglich angedeutet haben, daß Brauchitsch ausfiele. Da Halder der Haltung des ObdH bei einer Aktion größte Bedeutung beimaß, ist letznicht geschlosteres wohl zu vermuten. Dies sowie der Hinweis, daß „Volk und Armee sen" seien, waren wie Groscurth es wiedergibt320 die Gründe, die Halder ihm für einen Verzicht auf eine Aktion im gegenwärtigen Zeitpunkt angab. Er bat ihn sodann, die alarmierten Verschwörer außerhalb des Oberkommandos des Heeres entsprechend zu orientieren: „Damit sind die Kräfte, die auf uns rechnen, nicht mehr gebunden. Sie verstehen, was ich meine321." Halder sah im Augenblick unter den vorliegenden Gegebenheiten keine Möglichkeiten für eine Aktion. Indessen wirkte dieser im Augenblick getroffene Entschluß nachhaltig weiter. Er mußte für die nächste Zeit eine Wiederaufnahme des Staatsstreichvorhabens hemmen. Mag damit vielleicht auch kein grundsätzliches Aufgeben eines jeden Gedankens an einen Staatsstreich verbunden gewesen sein, so war es für die Sache der Verschwörung gewiß ein Tiefpunkt. Allerdings wird sein prinzipieller Wille zum Widerstand wohl in dieser Situation nicht mehr allzu deutlich zum Ausdruck gekommen sein. Daher ist die Annahme nicht abwegig, daß Halder noch ganz unter der Wirkung des schockierenden Berichts des ObdH in dem Gespräch mit Groscurth seinen ...



-

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 5.11. 39. Im KTB Abt. z.b.V., fol. 182, Eintrag vom 5.11.39 steht, „daß... keine Möglichkeit besteht, sich dem Befehl entgegenzustellen". Das ist allgemeiner als die im obigen Text zitierte

318

319

Formulierung des persönlichen Tagebuch Groscurths und damit der Beweis, daß es Halder darum ging, die Unmöglichkeit eines Putsches festzustellen. 320 Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 5. 11. 39. 321 Ebd. sind die Kräfte nicht mehr gebunden", ¡st mißverständlich: Die Formulierung: sind sie nicht mehr gebunden im Sinne einer Erwartung des Staatsstreiches, brauchen sich also ...

„...

nicht mehr abrufbereit zu halten, oder: sie sind in ihren eigenen konspirativen Plänen nicht mehr an das Aktionsbündnis mit der Heeresführung gebunden, haben damit ihre Aktionsfreiheit wieder, können also handeln, wenn sie wollen und können. Groscurth scheint diese Worte mehr im letztgenannten Sinn verstanden zu haben vielleicht irritiert auch durch das geheimnisvolle „Sie verstehen, was ich meine". Er versuchte nämlich (s. weiter unten) mit Oster zusammen, verschiedene Persönlichkeiten außerhalb der Heeresführung zum Handeln zu bewegen. -

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Entschluß zur vorläufigen Aufgabe der Aktion so akzentuiert hat, daß dieser weniger den vorläufigen Charakter der Entscheidung, sondern ausschließlich den Entschluß Halders zum Nichthandeln heraushörte. Jedenfalls legt die empörte Reaktion, die Halders Eröffnung bei den Aktivisten hervorrief, diese Annahme nahe. Immerhin scheinen sich im Laufe des Tages die führenden Persönlichkeiten des Oberkommandos des Heeres wieder etwas gefangen zu haben. Gisevius berichtet, es habe sich nachmittags eine gewisse Entspannung der Lage abgezeichnet322. Brauchitsch habe sich soweit gefangen, daß er zugebe, er habe sich von Hitler überrumpeln lassen. Er bleibe der Ansicht, die Offensive müsse mit allen Mitteln verhindert werden. „Aber wie? Vielsagend hat Brauchitsch bei dieser Frage Halders die Achsel gezuckt: ,Ich tue nichts, aber ich werde mich auch nicht dagegen wehren, wenn es ein anderer tut'. .323." Nach Abklingen des ersten Schocks setzte sich wieder eine ruhigere Stimmung durch, zumal sich der Eindruck verstärkte, daß Hitler seine Drohungen wohl ohne realen Hintergrund, nur infolge der ihn erregenden beständigen Opposition der Heeresführung herausgeschleudert hatte. Daß Halder lediglich für den Augenblick, aber nicht grundsätzlich seine Aktionspläne zurückgestellt hatte, läßt sich auch aus seinen späteren Überlegungen und Absichten schließen. Einige Tage danach immerhin kam es zu erneuten Sondierungen bei höheren Truppenführern und damit zum Versuch einer Art Neuansatzes der Planung, die indessen bald ein negatives Ergebnis brachte. Am prinzipiellen Willen zur Aktion wird es ihm jedenfalls auch weiterhin nicht gemangelt haben; selbst nach dem siegreichen Frankreichfeldzug, als weite Kreise vom Triumphgefühl sich mitreißen ließen, blieb er in seinen Überzeugungen fest324, schwankte nie in der Beurteilung der Persönlichkeit Hitlers, in dem er oft erregt und zornig dies gegenüber Vertrauten aussprechend den Verderber des Vaterlandes, die Verkörperung des Bösen schlechthin sah; das aber schließt nicht aus, daß er bezüglich des akuten Willens zur Tat Perioden der Stärke und der Schwäche gehabt hat325 eine Erscheinung, die damit zusammenhängt, daß eine gewisse psychologische Hochspannung, die zur Tatbereitschaft notwendig ist, nicht beliebig lange durchgehalten werden kann326. Das muß bei einer gerechten Beurteilung dieser Phänomene fraglos berücksichtigt werden. ..

.

.

-

-

-

Gisevius, S. 418. Dazu vgl. auch Kosthorst, S. 97, in Verbindung mit S. 93, Anm. 7, sowie Ritter, Goerdeler, S. 243, und Sendtner, S. 415. Halder berichtete am 10.11.1965 dem MGFA: 322

„Am grundsätzlichen Aktionswillen änderte auch die Vernichtung der konkreten und akuten nichts. Man darf das nicht als Erlöschen des Aktionswillens auffassen." Immerhin sondierte noch Anfang Dezember 1939 Stülpnagel im Auftrag Halders bei dem inzwischen genesenden General Geyr v. Schweppenburg (Mitteilung von General d. PzTr. a. D. Geyr v. Schweppenburg vom 16. 1. 1966 an das MGFA; vgl. auch Institut für Zeitgeschichte

Planungsunterlagen

ED

91).

323

Bis hierher scheint Gisevius' Bericht korrekt die Tatsachen Ausführungen vgl. S. 527 dieser Arbeit. 324 Vgl. Anm. 322 dieses Kapitels und Zs. Nr. 322 (Etzdorf). 325 Zs. Nr. 322 (Etzdorf) und Sendtner, S. 426.

Auch die radikalen Oppositionellen Vgl. S. 548 dieses Kapitels.

326

waren

diesem

wiederzugeben.

Zu seinen weiteren

psychologischen Phänomen

unterworfen.

XL

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ist es nicht zu leugnen, daß auch ein nur vorübergehender Abbruch des Vorhabens ein bedeutsames Eigengewicht, gleichsam eine negative Dynamik entwickelt, die real wie psychologisch einen neuen Ansatz nachhaltig erschwert327. Das sollte die Entwicklung in der nächsten Zeit nur zu deutlich zeigen. Es begann im ganzen mit dem 5. November eine folgenreiche Desintegration der Verschwörung, bei der alle ihre strukturellen Schwächemomente sich in verstärktem Maße auswirkten. Das zeigte sich bereits an jenem bedeutungsvollen 5. November. Die Darstellung von Gisevius spiegelt aufschlußreich, wie jene Berliner Verschwörer, die von Anfang an voller Skepsis Halder gegenübergestanden hatten, sich jetzt in ihrem den führenden Generälen entgegengebrachten Mißtrauen bestätigt fühlten328. In Zossen dagegen versuchte Groscurth, nach dem Gespräch mit Halder noch zu retten, was zu retten war329. Stark deprimiert, besprach er die Lage mit Wagner. In einem nochmaligen Anlauf versuchte er, Halder zum Handeln zu drängen, und schlug vor, Beck, Goerdeler und Schacht heranzuziehen. Mit diesem Versuch scheiterte er jedoch. Der Generalstabschef ging auf diese Vorschläge nicht ein; er trug Groscurth lediglich auf, er solle Admiral Canaris orientieren330. Bei diesem Gespräch zwischen Halder und Groscurth scheint es zu einem folgenschweren Mißverständnis gekommen zu sein. Gisevius berichtet331, Groscurth sei nach dieser Unterredung überstürzt nach Berlin zu Canaris gefahren und habe dem Admiral in seiner Gisevius' und Osters Gegenwart „im Auftrage des Generalstabschefs das dringende Ersuchen überbracht, dieser möge Hitler durch ein Attentat beseitigen. Unter dieser Bedingung sei er, Halder, zum ,Handeln' entschlossen ..." Canaris jedoch lehnte voller Entrüstung ab. Weiter berichtet Gisevius: „Die Szene ist zu grotesk und die Entrüstung von Canaris zu echt, als daß für Oster oder mich eine Intervention möglich wäre332. Wir bedauern es, aber wir können Canaris bei seiner Weigerung nicht unrecht geben. Der Admiral läßt dem Generalstabschef ausrichten, wenn er derart hochpolitische Dinge zu besprechen habe, möge er sich gefälligst selbst an ihn wenden. Im übrigen verlange er, daß Halder klipp und klar die Verantwortung übernehme und daß zunächst einmal alle Möglichkeiten eines offenen Militärputsches ausgeschöpft würden." Durch den Bericht aus der Feder von Gisevius ist jene Episode in die Literatur eingegangen und hat zu allerlei Schlußfolgerungen, Spekulationen und Urteilen geführt333. Sie wird nunmehr jedoch durch Groscurths Aufzeichnungen bestätigt. Er schreibt in seinem persönlichen Tagebuch: „Ich soll Canaris orientieren und ihm sagen, er

Demgegenüber

-

..

327

828 829

.

-

.

..

Sendtner, S. 415 f. Gisevius, S. 418 f.

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 5. und 6.11.39; vgl. auch KTB Abt. z. b. V., Eintrag vom 5.11.39: um 16.00 Uhr war Groscurth bei Wagner, um 17.00 Uhr bei

fol. 182,

Halder, 339 331

um

20.00 Uhr in Berlin bei Oster und Canaris.

Ebd.

Gisevius, S. 418 f. Dieses Argument klingt wenig überzeugend. Es war doch vielmehr so, daß Gisevius und Oster von vornherein wußten, daß Canaris prinzipiell gegen ein Attentat war. 333 Vgl. Sendtner, S. 402; Kosthorst, S. 97; Ritter, Goerdeler, S. 493, Anm. 29. 332

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527

solle handeln. In Berlin Rücksprache mit Canaris... Canaris lehnt sehr erregt ab334." Daß mit diesem „Handeln" in den Augen Groscurths ein Attentat gemeint war, beweisen andere Tagebucheintragungen Groscurths335. Halder selbst hat nach dem Krieg zu der Darstellung von Gisevius dementierend erläutert336, Groscurth habe ihn unter Hinweis auf die Haltung des Kreises um Oster mit Attentatsvorschlägen bedrängt, worauf er „in einem Ausbruch von Ärger wohl einmal geäußert habe: wenn man denn in der ,Abwehr' durchaus ein Attentat haben wolle, so möge der Admiral doch selbst dafür sorgen"337! Das könnte sodann von dem aktivistischen Draufgänger Groscurth in der von Gisevius wiedergegebenen Form an Canaris, der selbst ein Attentatsgegner war, überbracht worden sein. An dieser Deutung es sei eine ärgerliche Äußerung auf das Drängen aus dem Kreise von Canaris gewesen, nicht jedoch „ein dringendes Ersuchen" hat Halder auch weiterhin festgehalten338. Dabei fügte er noch den Hinweis hinzu, man müsse stets in Rechnung stellen, daß Aussagen einer exponierten Persönlichkeit erfahrungsgemäß bei der Weitergabe Veränderungen und Um-

-

akzentuierungen ausgesetzt seien339. Das könnte von einem skeptischen Betrachter immerhin als ein apologetischer Erklärungsversuch interpretiert werden. Dem widersprechen jedoch gewisse Tatbestände. Nimmt man nämlich die Berichte von Gisevius und Groscurth als zutreffend an, dann ergibt sich bei Berücksichtigung anderer Ereignisse des 5. November ein schwer lösbarer Widerspruch. Wenn Halder wirklich Canaris zum „Handeln" oder gar ausdrücklich zum Attentat aufgefordert haben sollte, dann ist nicht zu verstehen, wieso er zuvor selbst sämtliche Vorbereitungen zum Staatsstreich abgebrochen und obendrein Groscurth gebeten hatte, den anderen Verschwörern zu sagen, sie könnten nicht mehr mit ihm rechnen340. Alle seine Abstopp-Maßnahmen sind unverständlich, wenn er Canaris anschließend zu einer befreienden Tat anzustiften sich bemühte. Sie hätten doch eine darauf mit Notwendigkeit folgende Aktion stärkstens behindert. Immerhin mag in der Erregung und der Bedrängnis jener Stunde unlogisches, sprunghaftes Reagieren möglich gewesen sein. Wichtig ist jedoch, daß eine genaue Interpretation der betreffenden Groscurth-Aufzeich334

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag

vom 5. 11. 39 in Verbindung mit dem Eintrag vom KTB Abt. z. b. V, fol. 182, Eintrag vom 5.11.39: „17.00 Uhr nochmaliger Vortrag bei General Halder. Befehl Admirai Canaris zu orientieren." 335 Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 14.2.39: „Er [Halder] hat mich doch zum Mord aufgefordert." 338 Ritter, Goerdeler, S. 493, Anm. 29. 337 Ebd. Zu bemerken wäre allerdings, daß bisher nirgends überliefert ist, daß Groscurth oder sonst ein Abwehrangehöriger den Generalstabschef mit der Forderung nach einem Attentat bedrängt habe. Von Canaris ¡st das ganz gewiß nicht geschehen. Halders dementierende Erläuterung zeigt indessen, daß der Gedanke an ein Attentat jedoch in der Luft gelegen haben muß, also in Verschwörerkreisen erörtert worden ist. 338 Mitteilung von Generaloberst a. D. Halder vom 15. 10. 1965 an das MGFA. 339 Mitteilung von Generaloberst a. D. Halder vom 10. 11. 1965 an das MGFA. 340 Vgl. aber die in Anm. 321 dieses Kapitels angedeutete Problematik.

14.2.40.

Vgl. auch

XL

528

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nahelegt, Halders Dementi gegenüber dem Gisevius-Bericht stelle den Tatbestand mindestens subjektiv richtig dar. Daß Halder in der ersten Unterredung mit Groscurth scheinbar eine Aktion im gegenwärtigen Moment für unmöglich erklärt und Groscurth eine entsprechende Mitteilung an die anderen Verschwörer aufgetragen hat, mag vielleicht noch nicht viel sagen. Abgesehen von der Möglichkeit, daß Groscurth Halders etwas verklausulierten Worte anders internung die Annahme341

pretiert haben mag, könnte er schließlich auch zwischen dieser und der späteren Unterredung einen anderen Entschluß gefaßt haben342 allerdings eine etwas unwahrscheinliche Annahme. Ausschlaggebend erscheint vielmehr die Angabe, daß Halder den in dem zweiten Gespräch von Groscurth gemachten Vorschlag, Beck, Goerdeler und Schacht heranzuholen, abgelehnt hat343. Es wäre demnach völlig unverständlich, ja sinnlos, wenn Halder einerseits diese Persönlichkeiten, denen er wie alle anderen Verschwörer bei und nach einem Staatsstreich eine bedeutende Rolle zugedacht hatte, fernzuhalten beabsichtigte, und zwar eben in dem Augenblick, in dem er angeblich Canaris bestellen ließ, dieser solle für ein Attentat sorgen, dann werde er, Halder, den Putsch durchführen. Diese Überlegung erweist es unseres Erachtens als unwahrscheinlich, daß der General-

stabschef damals im Ernst die ihm

von Gisevius behauptete und von Groscurths Bericht anscheinend bestätigte Attentatsaufforderung in dem geschilderten Sinne und mit der ihm unterstellten Absicht hat ergehen lassen. Hinzu kommt noch ein anderes: Halder hat wohl stets das Recht zum Widerstand anerkannt und für sich in Anspruch genommen; er

hat jedoch mindestens prinzipiell den auch persönlich gegen ein Attentat, zu dem -

politischen

-

er

Mord

abgelehnt344.

Er

war

daher

sich nicht fähig fühlte345. Das schließt jedoch

Da Aussage gegen Aussage in diesem Fall steht und keine weiteren klärenden Quellenzeugnisse bisher vorhanden sind, lassen sich nur Hypothesen aufstellen. 342 Gegen eine solche Vermutung spricht schon die Kürze der Zeit. Die Unterredung zwischen Hitler und dem ObdH fand lt. KTB Abt. z. b. V., fol. 182, Eintrag vom 5.11. 39 um 12.00 Uhr in Berlin statt. Spätestens um 15.00 Uhr war Halder wieder in Zossen, wo er um diese Zeit die Abteilungschefs des Genst. d. H. zu sich rief (KTB Abt. z. b. V., ebd.). Danach fand das erste Gespräch zwischen ihm und Groscurth statt. Die zweite Unterredung erfolgte (KTB Abt. z. b. V., ebd.) um 17.00 Uhr. Es bleiben also für den vermuteten bzw. möglichen Meinungsumschwung Halders nicht einmal zwei Stunden Zeit also u. E. eine rechte Unmöglichkeit. Brauchitsch allerdings hatte sich seelisch im Laufe des Nachmittags wieder etwas gefangen. Aber das war etwas anderes als ein grundlegender Wandel im Entschluß zur Tat oder ihrer Ablehnung. 343 Vgl. Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 5.11.39: „Nochmals bei Halder. Versuch Beck, Goerdeler und Schacht heranzuziehen, scheitert. Ich soll Admirai Canaris orientieren und ihm sagen, er solle handeln." 344 Vgl. Sendtner, S. 401. Gleiche Aussage Halders in seiner Mitteilung an das MGFA vom 341

-

10.11.1965.

Zu dem Eintrag vom 1.11. 39 bei Groscurth, persönliches Tagebuch, er sei seit Wochen mit der Pistole in der Tasche zu Hitler gegangen, um ihn eventuell über den Haufen zu schießen, bemerkte Generaloberst a.D. Halder (Mitteilung vom 10.11.1965 an das MGFA), er sei damals oft mit entsicherter Pistole zu Hitler gegangen, „für alle Fälle", falls dieser bei seinen Zornesausbrüchen auf ihn oder den ObdH mit den Fäusten losgegangen wäre. Auch später während des Rußlandfeldzuges im Führerhauptquartier in Winniza stand Hitler bisweilen bei Wutanfällen mit geballten Fäusten vor Halder. 345

XL

529

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

nicht aus, daß Halder im Rahmen der vielfältigen Erörterungen darüber, wie man aus dem Teufelskreis ausbrechen könne, auch in verschiedenartigster Stimmungslage den Gedanken, Hitler in irgendeiner Form zu beseitigen, bisweilen doch ausgesprochen haben

mag346.

Bei der durch Erregung und Niedergeschlagenheit kritisch zugespitzten Stimmung Groscurths könnte dieser daher aus den Worten Halders anderes und mehr herausgehört haben, als der Generalstabschef auszudrücken beabsichtigte, so sehr die ausweglose Situation bei Halder auch die Grenzlinie zwischen prinzipieller Haltung und verzweifeltem Suchen nach einem Ausweg verwischt haben mag. Groscurth aber hätte dann bona fide etwas an Canaris weitergeleitet, was nicht im letzten Halders Absicht widerspiegelte. Wichtiger als diese hinsichtlich der Motivstruktur schwer zu klärende Episode waren jedoch deren Konsequenzen. In diesem Zusammenhang war folgendes entscheidend: Als Groscurth die angebliche Aufforderung Halders an Canaris überbrachte, war außer Gisevius auch Oster anwesend. Daß letzterer nicht versucht hat, den Admiral zu einem Angreifen und zur Annahme dieses angeblichen Angebots zu veranlassen, ist verständlich, da er Canaris' Einstellung zu einem Attentat kannte347. Daß er jedoch nicht sofort versuchte, zu Halder vorzudringen und ihm zu sagen, daß ein Mann bereit sei, sein Leben zur Beseitigung Hitlers aufs Spiel zu setzen, ist unverständlich. Oster war nämlich am I. November von Erich Kordt aufgesucht worden348, der ihm mitteilte, er sei bereit, bei einem seiner nächsten Besuche in der Reichskanzlei er hatte als Kabinettschef Ribbenden Tyrannen durch trops jederzeit ungehinderten Zutritt zum Vorzimmer Hitlers Bombenwurf zu töten, auch wenn er dabei sein Leben verlieren werde349. Er bat Oster, den benötigten Sprengstoff zu besorgen. Dieser sicherte ihm zu, den Sprengstoff für den II. November bereitzustellen; vorher war es ihm nicht möglich. An jenem 5. November also hätte Oster dem Generalstabschef einen zum Tyrannenmord entschlossenen Mann vorstellen können. Daß er es nicht tat, daß er überhaupt auch vor diesem Zeitpunkt dem Generalstabschef von dieser Chance nichts hatte mitgeteilt oder mitteilen lassen, wirft ein bezeichnendes Licht auf das prekäre Vertrauensverhältnis und auf die mangelnde Koordinierung unter den Verschwörergruppen, zeigt zugleich aber auch, welche widerstrebenden Tendenzen sich offensichtlich innerhalb des Komplotts regten350. -

-

Im übrigen sei so teilte Generaloberst a.D. Halder am 10. 11. 1965 dem MGFA mit in Kreisen der oppositionellen Offiziere bisweilen im Zorn von „Umbringen", „Abknallen" usw. gesprochen worden. So bezeugt es auch Etzdorf, Zs. Nr. 322. Vgl. dazu ähnlich Friedrich Wilhelm Heinz bei Sendtner, S. 402. Vgl. auch Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 1. 11. 39: Halder wolle Göring und Ribbentrop „verunglücken" lassen. Vgl. auch Kosthorst, S. 97. 347 Vgl. Ritter, Goerdeler, S. 493, Anm. 29, und S. 244. 348 Hierzu und zum folgenden vgl. Kordt, S. 370 ff., sowie Ritter, S. 245. Zur Datierung: Kost346

-

horst,

-

S. 84.

waren lt. Kosthorst, S. 84, noch Etzdorf, Albrecht v. Kessel und Kordts Kusine Susanne Simonis. In Zs. Nr. 322 bestätigt Etzdorf voll Kordts Angaben. 358 Hatte Oster letztlich doch kein Vertrauen zu Kordt, oder zweifelte er daran, daß einem Attentat Kordts auch ein Putsch Halders folgte? Dann hätte er allerdings Kordt gar nicht erst den Sprengstoff versprechen dürfen. Ritters Erklärung (Goerdeler, S. 244) überzeugt nicht. 349

34

Eingeweiht

530

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

an der Feststellung vorbeigehen können, daß Oster mit seinem Wissen dem Attentatsplan Kordts unter Umständen ein Mittel, mindestens eine Möglichkeit besaß, den offenkundig wankenden Widerstandswillen Halders und Stülpnagels351 wieder zu aktivieren. Aber Oster spielte diesen Trumpf aus uns unbekannten Erwägungen heraus nicht aus, auch dann nicht, als am 6. November Gisevius ihn veranlaßte „einen letzten Anlauf in Zossen [zu] unternehmen"352; in Zossen sprach er mit Groscurth, Wagner und Stülpnagel353. Aber auch jetzt sagte er nichts von dem Kordt-Plan354, sondern stellte den von Gisevius schon früher vorgebrachten Plan zur Diskussion, durch die Fiktion

Man wird nicht

von

Göring-Himmler-Gestapo-Putsches ein Eingreifen der Armee in Gang zu setzen. Bei einigen Vertrauten stieß er auf Interesse. Sie entwarfen schon entsprechende Aufrufe. Aber Oster erreichte damit in Zossen keine Änderung der Lage. Gisevius schreibt daher auch sehr vorsichtig: „Ihr Grundgedanke wird sofort gebilligt355." Bei Groscurth dagegen klingt es noch gedämpfter: „Neuer Vorschlag: Besetzung der Geheimen Staatspolizei. Aber alles ist zu spät und völlig verfahren356." Eine belebende, mitreißende Wirkung hatte also der Gisevius-Plan nicht. Daß er psychologisch-propagandistisch seine Vorteile hatte, ist ebenso klar, wie die Tatsache, daß er keineswegs wie sein Urheber meinte jetzt „leichter durchführbar war denn je". Zum mindesten enthielt er unleugbar erhebliche Unsicherheitsfaktoren, war auf keinen Fall jedoch geeignet, als Ideallösung miteines

-

-

reißend

zu wirken. Oster muß dies auch gespürt haben; denn er scheint in Zossen nicht weiter insistiert zu haben. Vielmehr griff er eine ihm zugetragene angebliche Bemerkung Halders auf, der gesagt habe, er wolle schon, nur ohne Witzleben sei er machtlos357. Ob Halder sich genau in diesem Sinne ausgesprochen hat oder nicht, mag dahingestellt bleiben. Sicher ist jedoch wie auch die Entwicklung der nächsten Zeit zeigen sollte daß Halders Überlegungen358 in jenen Tagen von zwei Faktoren bestimmt wurden: einmal von dem Glauben, daß man vom ObdH in dessen jetzigem Zustand kaum ein Mitmachen mehr erwarten konnte; zum anderen von der Unklarheit über die Reaktion der Truppe und deren Kommandeure auf einen Putschbefehl von seiten des OKH, ein Problem, das auch vor dem 5. November noch nicht schlüssig geklärt war. Halder mußte Klarheit darüber bekommen, ob es noch möglich sei, höchste Truppenbefehlshaber zu finden, die sowohl glaubten, einiger ihrer Verbände sicher zu sein, als auch geneigt waren, im Verein mit ihm auf den ObdH nach-

-

Die Quellen sagen nichts darüber, daß Stülpnagel gegen Halders Entscheidung protestiert hat oder sie für falsch hielt. Er gab dann ja auch ohne Vorbehalt Halders Vernichtungsanweisung weiter. 352 Gisevius, S. 420. f. 353 Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 6.11.39, sowie KTB Abt. z.b.V., fol. 182, Eintrag vom 6. 11. 39 (auch Etzdorf konferierte an diesem Tage mit Halder). 354 Wahrscheinlich nicht einmal gegenüber Groscurth, in dessen Tagebuch sich darüber kein 351

Hinweis findet. Gisevius, S. 421.

855

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 6. 11. 39. Gisevius, S. 421. 358 Ähnlich, wenn auch vielleicht einige Grad optimistischer, wird Stülpnagel im Prinzip gedacht haben; denn die Quellen sagen nichts über etwaige Differenzen zwischen ihm und Halder aus. 356

357

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

531

drücklich im Sinne einer Aktion einzuwirken. Der Ruf nach Witzleben in dem erwähnten Stoßseufzer Halders falls dieser wirklich gefallen sein sollte hätte also demnach die Hoffnung zum Inhalt gehabt, dieser Armeeoberbefehlshaber könnte ein solcher Mann sein. Sollte dies der reale Gehalt gewesen sein, der in der von Oster aufgegriffenen Bemerkung Halders stedcte359? Dann bestätigte diese Bemerkung, daß Halders Widerstandswille, mag er auch nicht mehr deutlich erkennbar gewesen sein, keineswegs mit dem 5. November erloschen war, wie es einige der Radikalen annahmen360. Oster, der von Halders „Unentschlossenheit und Weichheit" überzeugt war, entschloß sich daher, nachdem er von der angeblichen Bemerkung gehört hatte, unverzüglich zu Witzleben zu fahren, um ihn zu einer persönlichen Demarche in Zossen zu veranlassen361. Um Oster eine Reise zu Witzleben zu ermöglichen Canaris war, wie Gisevius362 schreibt, „viel zu resigniert als daß er diese ,Dienstreise' ohne weiteres bewilligen würde"363 -, rief Groscurth bei Witzlebens AOK 1 an und bat den Generaloberst, Oster bei Canaris zur Rüdesprache anzufordern364. Zugleich erklärte sich auch Thomas, von Oster und Gisevius angeregt, bereit, die drei Heeresgruppen-Oberbefehlshaber im Westen aufzusuchen, damit diese in Zossen vorstellig würden, um Halder und Brauchitsch „den Rücken zu steifen"365. Fehlendes Vertrauen sowie mangelhafte Koordinierung zwischen den verschiedenen Verschwörerkreisen wurden nun mehr und mehr zu bestimmten Faktoren der Entwicklung. Halder und sein Freund Stülpnagel erwogen offensichtlich zur gleichen Zeit ebenfalls eine Sondierung vermeintlich ansprechbarer Frontbefehlshaber. Beide hatten begriffen, daß die Krise vom 5. November wegen des Fehlens sofort einsetzbarer Truppen und infolge des inneren Zusammenbruchs des ObdH nicht hatte aufgefangen werden können. Um die beiden negativen Faktoren nach Möglichkeit auszugleichen und im Wiederholungsfall -

-

-

Da Oster nicht selbst Halder gesprochen hat, wird man die Möglichkeit von Umdeutungen der Worte Halders bei der Weitergabe nicht ausschließen können. KTB Abt. z. b. V., fol. 182, Eintrag vom 6. 11. 39, bemerkt, daß Etzdorf an diesem Tag bei Halder war, Oster dagegen Wagner und Stülpnagel besucht hat. Dagegen vgl. aber Kosthorst, S. 94 f. 380 mir klarzumachen .., daß von Halder, diesem heroiGisevius, S. 421 : „Helldorf [sucht] schen Spießer', nichts mehr zu erwarten sei." 361 Gisevius, S. 421; Groscurth persönliches Tagebuch, Eintrag vom 6.11.39: „Oster fährt zu Witzleben, der nach Gießen kommen soll zur Aussprache mit Halder. Sonst sind alle Mittel erschöpft." Groscurth scheint also auch nichts vom Kordt-Plan gewußt zu haben! (Laut Halder Tagebuch, Bd I, S. 121, sollte das Hauptquartier bis 7.11.39 nachmittags nach Gießen verlegt 359

...

.

werden.)

362

Gisevius, S. 421. KTB Abt. z. b. V., fol. 182, Eintrag

vom 6.11. 39. Der Zorn der Aktivisten gegen Halder war daher ungerecht, denn Canaris war genauso resigniert, Halder plante immerhin für einen späteren Zeitpunkt weiter; vgl. Gisevius, S. 422: hat Witzleben Canaris erreicht. Der ist zwar mißtrauisch. Er bohrt und bohrt, was jetzt schon wieder ausgeheckt werden soll." Vgl. auch Hassell, S. 107: „Canaris gibt jede Hoffnung es habe keinen Zweck mehr ." auf Widerstand der Generale auf 384 Laut Gisevius, S. 422, forderte Witzleben am 7. 11. „in den frühen Morgenstunden" Oster bei Canaris an. KTB Abt. z. b. V., fol. 182, Eintrag v. 6. 11. 1939, legt den Anruf auf den 6. 11. 1939. Diese Angabe einer Primärquelle ist vorzuziehen. 365 Gisevius, ebd. 363

„...

.

...

..

.

.

532

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

sein, suchten sie Mittel und Wege, sich über die diesbezüglich wendigen Voraussetzungen ein klares Bild zu verschaffen. besser gewappnet

zu

not-

Die Differenz der Sondierungspläne des Chefs des Generalstabes und des OQu I einerseits und Oster andererseits lag in der unterschiedlichen Intention. Dieser wollte dadurch Interventionen bei Halder in Gang setzen, jene wollten sich Klarheit über die notwendigen Aktionsvoraussetzungen verschaffen. Unabhängig davon hatte am 6. November anscheinend auch Beck die Initiative ergriffen, wobei er wohl Oster und Gisevius am Tage danach orientierte, aber sich nicht mit deren Aktivität abstimmte. Er soll Stülpnagel eine Mitteilung für Brauchitsch und Halder andavon ausgehend, daß der ObdH nach eigener Erklärung vertraut haben, in der er einen Putsch für seine Person ablehnte, gegen das Handeln anderer jedoch keinen Einspruch erheben wollte den Vorschlag machte, er sei, unter der Voraussetzung, daß die Heeresgruppen-Oberbefehlshaber sich nicht widersetzten, bereit, den Oberbefehl über das Heer zu übernehmen, um eine einheitliche Aktion von oben auszulösen366. Ein solcher Vorschlag war psychologisch und faktisch völlig verfehlt. Konnte Beck im Ernst annehmen, ein solches Angebot würde bei Brauchitsch, mit dem er seit dem Sommer 1938 restlos zerfallen war, ein offenes Ohr finden? Aber auch sachlich war dieser Vorschlag reichlich illusorisch; denn außer den höheren Kommandeuren und der Masse der Generalstabsoffiziere konnte dem Kriegsheer Name und Persönlichkeit des einstigen Generalstabschefs schwerlich ein Begriff sein. Hier hat Beck wohl sein Prestige und auch die Manipulierbarkeit des militärischen Apparates überschätzt. Es war auch nicht verwunderlich, daß Stülpnagel nach einigen Tagen Beck mitteilte, Brauchitsch habe dessen Mitteilung anzunehmen sich geweigert367. Im ganzen wird man seine Initiative als Symptom für das Dilemma nehmen müssen, indem sich die außerhalb der militärischen Führungsspitze stehenden Oppositionellen damals befanden. Am 7. November368 sprachen Oster und Gisevius in Bad Kreuznach bei Witzleben369 vor. Das Ergebnis dieses Besuches ist höchst aufschlußreich. Die beiden Verschwörer wurden nämlich von Witzleben recht eindeutig mit den Realitäten konfrontiert. Der Generaloberst teilte zwar ihre negative Einschätzung Halders und Brauchitschs370, lehnte es aber glattweg ab, nach Giessen zu fahren, da er pflichtgemäß seinen Gefechtsstand ohne Unterrichtung seines vorgesetzten Heeresgruppen-Oberbefehlshabers nicht einfach eigenmächtig verlassen dürfe eine ziemlich massive Belehrung der beiden Emissäre über die begrenzten Möglichkeiten eines in der militärischen Hierarchie an dritter oder vierter Stelle stehenden Generals. Sodann aber wies Witzleben auf das Kernproblem hin: „Die jungen Offiziere sind von Hitler ,besoffen' und es läßt sich schwer abschätzen, wer auf den einfachen Soldaten größeren Einfluß haben wird, der putschistische General oder ein -

-

-

368

ter, 367 368

369 370

So berichtet

Gisevius, S. 422; vgl. auch Hassell, S. 107 (30. 11. 39). Halder hat allerdings (RitGoerdeler, S. 248 f.) nichts von diesem Schritt Becks erfahren. Gisevius, S. 429. Zur Datierung vgl. Kosthorst, S. 103, Anm. 40. Vgl. Gisevius, S. 422 ff. w¡e Gisevius berichtet.

XI.

Staatsstreichpläne im Winter

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1939-1940

Nazischlagworte nachplappernder Truppenoffizier371." Die beiden Verschwörer wurden also von Witzleben auf dasselbe Problem hingewiesen, das zu dieser Zeit auch Halder und Stülpnagel so viel Kopfzerbrechen machte. Mehr noch, sie mußten feststellen, daß der Generaloberst im Grunde ziemlich deprimiert war; er glaubte nicht mehr daran, daß die Offensive aufgehalten werden könne. Diese Eröffnungen müssen auf die beiden Putschisten wie eine kalte Dusche gewirkt haben. Sie, die voll Zorn und Verachtung auf den ihrer Meinung nach so unentschlossenen, voller Hemmungen und Bedenken einer Aktion gegenüberstehenden Halder waren, mußten jetzt erfahren, daß jener Witzleben, den sie für so temperamentvoll entschlossen hielten, genau die Vorbehalte

und Bedenken vorbrachte, die sie bei dem Generalstabschef so hart kritisierten. So erfuhren sie ganz persönlich, welch ein Unterschied zwischen der Sichtweise der verantwortlich in offizieller Führungsposition stehenden oppositionellen Generäle und derjenigen der aus untergeordneter Stellung beständig auf eine Aktion drängenden Aktivisten bestand, mochten deren Motive noch so ehrenvoll und deren Lageeinschätzung im großen noch so richtig sein372. So bedurfte es erst längeren Zuredens373 von Oster und Gisevius, bis Witzleben seine Bedenken zurückstellte und sich bereit erklärte, Halder aufzusuchen, allerdings nur unter der Bedingung, daß sein Oberbefehlshaber, Generaloberst Ritter v. Leeb, dem zustimmte. Er betonte, daß er die einzige Möglichkeit nur in einer kollektiven Weigerung der drei Heeresgruppen-Oberbefehlshaber sehe, den Angriffsbefehl weiterzugeben, so daß auf diese Weise „der Stein ins Rollen" gebracht werde. Dazu gab er Oster den Auftrag, auf dem Rückweg in Frankfurt a. M., wo das Heeresgruppen-Hauptquartier lag, diesbezüglich den Boden vorzubereiten, wohl auch Leebs Genehmigung für seinen Besuch bei Halder zu erwirken. Er sollte dort mit dem Ia der Heeresgruppe, Oberst i. G. Vincenz Müller374, einem Vertrauten Witzlebens bei seinen konspirativen Planungen von 1938/39, Kontakt aufnehmen. Im ganzen also muß dieser Besuch für Oster und Gisevius eine arge Enttäuschung gewesen sein. Gisevius schreibt, sie seien nach der Unterredung mit Witzleben „reichlich niedergeschlagen nach Frankfurt" zum Heeresgruppen-Oberkommando gefahren375. Dort suchte Oster allein den Oberst Müller auf, dem er inzwischen von Witzleben angekündigt worden war, und legte ihm nach Müllers Bericht folgendes dar376: Noch vor dem An-

371

-

Gisevius, S. 423.

Sendtners Einschätzung Witzlebens (S. 410) ist demnach zu undifferenziert. Ebd. 374 In der ersten Auflage seines Buches Bd II, S. 141 spricht Gisevius von „Leebs Stabschef" Das war damals Generalmajor v. Sodenstern. Diesen Irrtum berichtigte Gisevius später. In der Sonderausgabe seines Buches schreibt er auf S. 423 nur von einem „Oberst im Gruppenkommando". 375 So Gisevius, S. 423. 376 Vgl. V. Müller, S. 369 ff. Gisevius schreibt, er und Oster hätten erst nach dem Besuch bei Witzleben Müller aufgesucht; Müller jedoch meint, Oster habe ihn vor dem Treffen mit Witzleben gesprochen. Nach Kosthorst, S. 103, Anm. 40, müßte Gisevius' Version richtig sein, zumal auch Müller erwähnt, Witzleben habe Osters Besuch zuvor angekündigt. Aus den widersprüdilichen Quellen heraus, ist diese Prioritätsfrage nicht zu klären (vgl. auch Anm. 594 der Edition 372

873

-

-

-

XL

534

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im Westen müsse das Heer handeln, also Hitler beseitigen, Marine und Luftwaffe kämen dafür nicht in Frage. Dabei könne man die Empörung und Mißstimmung, die die Greueltaten in Polen in der Armee hervorgerufen hätten, propagandistisch ausnutzen. Eine Auseinandersetzung mit der SS müsse man unter Umständen in Kauf nehmen; diese sei noch nicht sehr stark, obwohl sie sich bemühe, ihre bewaffneten Verbände auszubauen. Bei einer solchen Aktion könne man zunächst mit Brauchitsch noch nicht rechnen, aber Erfolgsaussichten seien durchaus vorhanden, wenn das Heer fest in der Hand seiner Generäle sei. Eingeweiht in diese Pläne seien unter anderem Stülpnagel, Tresckow und Groscurth. Canaris halte sich zwar zurück, helfe aber mit Ratschlägen. Im Verlaufe dieser Unterredung zeigte Oster seinem Gesprächspartner die Durchschläge zweier vorbereiteter Aufrufe an die Wehrmacht und das deutsche Volk377. In ihnen wurde auf die Blutopfer im Polenfeldzug, auf die Gefahr eines lange dauernden Krieges, auf die noch schwierigeren Aufgaben und noch größeren Opfer sowie auf das gesunkene moralische Ansehen Deutschlands hingewiesen. Um den Krieg rechtzeitig zu beenden, wurde die Notwendigkeit betont, Hitler und Göring zu beseitigen. Die Geschlossenheit der Wehrmacht sei im Interesse des ganzen deutschen Volkes notwendig. Nach der Ernüchterung, welche die Aussprache bei Witzleben in ihm hervorgerufen hatte, traf Oster in Vincenz Müller auf einen Gesprächspartner, dessen kühler Realismus seinem bereits angeschlagenen Enthusiasmus einen weiteren Dämpfer versetzte. Müller bemerkte kurz und kritisch, die Vorbereitungen erschienen ihm in Anbetracht der vielleicht knapp bemessenen Zeit doch recht wenig fortgeschritten. Zu den offenherzigen Namensnennungen, von Oster wohl aus taktischen Gründen, um Eindruck zu machen, vorgebracht, meinte er, es sei unbedingt nötig, den Kreis der Mitwisser so klein wie nur möglich zu halten, allerdings genug Leute zu kennen, auf deren Mitmachen man sich im rechten Augenblick verlassen könne. Er machte Oster ernste Vorhaltungen, so gefährliche Papiere wie die Aufrufe mit sich auf Reisen herumzutragen, kritisierte überhaupt jede unnötige schriftliche Festlegung und veranlaßte Oster, die Entwürfe sofort bei ihm zu verbrennen378. Als Müller in Aussicht stellte, er wolle aufgrund der Ausführungen Osters selbst noch mit Witzleben sprechen mit dessen Empfehlungen dieser zu dem Ia gekommen war -, stimmte der Berliner Emissär zu379. Dennoch scheint Oster von der Unterredung sehr enttäuscht gewesen zu sein, da er bei Müller Ablehnung, mindestens aber ein Ausweichen feststellen zu müssen glaubte. Daß der Ia der Heeresgruppe im Grunde keineswegs abtreten

-

der „Tagebücher eines Abwehroffiziers", wo die Herausgeber sich für die Zeitangabe Müllers entscheiden). Bedeutungsvoll ist im übrigen auch lediglich das Ergebnis der Reise, nicht so sehr ihr

zeitlicher Ablauf.

Vgl. Gisevius, S. 421 ; vgl. auch oben S. 530 dieses Kapitels. Ygl_ ¿ie anders akzentuierte Version bei Gisevius, S. 423 f.: wohl nach Osters Bericht, der Gisevius die Affäre mit den Aufrufen verschwieg: „Sobald dieser [= V. Müller] von unseren Absichten hörte, hat er einen mordsmäßigen Schreck bekommen und sich erst dann wieder beruhigt, als Oster sein Anliegen durch Ausflüchte bagatellisierte." Müllers Darstellung klingt glaubwürdiger. Weiterhin vgl. auch Anm. 605 der Edition „Tagebücher eines Abwehroffiziers". 379 377 378

V.

Müller,

S. 372.

XL

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535

war, sondern durch ruhiges Anhören Osters und durch klärende Fragen, durch technische Anregungen sogar zu erkennen gab, daß er dessen Grundanliegen zustimmte, scheint Oster entgangen zu sein. Offensichtlich waren die beiden Männer zu verschieden, als daß ein vertrauensvoller, persönlicher Kontakt entstehen konnte. Die nüchterne, kühle Art Müllers, vollends seine kritischen Fragen und Bemerkungen müssen Oster, den Witzlebens Haltung bereits einigermaßen erschüttert hatte, erheblich irritiert haben. In der Meinung, keine Resonanz bei Müller gefunden zu haben, kehrte er niedergeschlagen zu Gisevius zurück. Ihre Reise so meinten die beiden Verschwörer habe keinen durch-

lehnend

schlagenden Erfolg gebracht380.

-

-

Indessen traf ihre Initiative mit den Intentionen Halders und

Stülpnagels zusammen; sie ins diesen Vorstöße. Davon aber konnten Auge gefaßte beschleunigte sogar gewisse Sie die beiden nichts wissen. waren vielmehr zutiefst deprimiert. Ihre Ratlosigkeit und das Gefühl scheinbar ergebnisloser Bemühungen muß man berücksichtigen, wenn man die abenteuerlichen Pläne und das von hektischer Betriebsamkeit, dann zeitweilig von verachtungsvoller Resignation bestimmte Schwanken unter den radikalen Verschwörern verstehen will. Auf ihrer Rückreise erfuhren Oster und Gisevius vom Attentat auf Hitler im Bürgerbräukeller381. Der vielgewandte Gisevius entwickelte sofort während der Fahrt nach Berlin den phantasievollen Plan382, Himmler als angeblichen Täter durch das Heer zu verhaften. Dadurch konnten die Militärs unter der Fiktion, die SS habe einen Putsch unternommen, zum Handeln veranlaßt werden. Das schien ihm um so wichtiger, als er annahm, daß dieses Attentat nach dem Präzedenzfall des Reichstagsbrandes inszeniert worden sei, um einen Schlag gegen oppositionelle Kräfte zu rechtfertigen. In Berlin konnte er feststellen, daß auch bei der Abwehr über Hintergründe und Täter dieses Anschlags völlige Unklarheit herrschte. Admiral Canaris war von großer Besorgnis ergriffen und mahnte seine Freunde zur Vorsicht. Gisevius verfaßte383 nun im Einvernehmen mit Oster eine Denkschrift für Halder. Ausgehend von gewissen nachdenklich stimmenden Tatsachen384 legte er dar, daß die bisher von

So Gisevius, S. 423 f. Allerdings steht bei Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom „Oster war bei Witzleben und V.Müller. Befriedigt." Dennoch ist entweder die Darstellung von Gisevius unzutreffend, oder Oster hat Groscurth das negative Ergebnis der Reise verschwiegen, um dessen konspirativen Elan nicht zu lähmen, oder bei ruhiger Überlegung nach Rückkehr nach Berlin hat Oster das Reiseergebnis doch optimistischer eingeschätzt als am Tage zuvor. Letztere Hypothese ist nicht unwahrscheinlich; denn immerhin war Witzleben ja bereit, zu Halder zu fahren, auch wollte Müller nochmals mit Witzleben sprechen. Schließlich schien sich durch das Bürgerbräu-Attentat und die zur Ausnutzung dieser Affäre von Gisevius entwickelten Pläne die allgemeine Lage und damit die Aktionsaussichten wieder etwas positiv entwickelt zu haben. 381 Zum folgenden vgl. Gisevius, S. 424 ff., und auch Ritter, Goerdeler, S. 244; Kosthorst, S. 101 f., sowie KTB Abt. z. b. V., fol. 183-184, Eintrag vom 8.-9. 11. 39. 382 Gisevius, S. 424. 388 Laut Gisevius, S. 425, am 10.11. 39. 384 Ebd. „Erstens haben Himmler und Göring in der fraglichen Versammlung gefehlt. Zweitens 380

9. 11.39:

536

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verbreiteten offiziellen Nachrichten unglaubwürdig seien. Das Ausbleiben einer sofortigen Reaktion seitens der Gestapo sei verdächtig. Die Armee könne daher unter dem Vorwand, die SS sei unfähig, die Sicherheit Hitlers zu garantieren, nunmehr zum „Schütze ihres obersten Kriegsherrn" eine Aktion unternehmen. Mit einem persönlich gehaltenen Begleitbrief wurde die Denkschrift über Groscurth nach Zossen gesandt385. Halder nahm sie an, allerdings mit einigen ärgerlichen Worten über das hektische Treiben von Gisevius, und gab sie sogar an den ObdH weiter386. Inzwischen steigerte sich die Nervosität bei den Berliner Verschwörern, zumal die Nachricht eintraf, die Offensive sei wieder verschoben worden387. Das erregte bei Gisevius und seinen Freunden sofort den seltsamen Argwohn, Hitler wolle vielleicht, statt eine Offensive zu beginnen, erst zum Schlag gegen die Opposition ausholen. Zudem wurde auch Canaris nervös und warnte vor zu häufigem Kontakt mit Gisevius, der seinerseits nahezu pausenlos mit Beck, Schacht, Helldorf und Goerdeler konferierte. Als Gisevius davon hörte, daß Halder bei der Übergabe der Denkschrift und des Briefes recht unliebenswürdig reagiert habe388 und vor zu unvorsichtiger Aktivität warnen ließ, da trat er bei seinen Gesinnungsfreunden entschieden dafür ein, man müsse sich nunmehr endgültig von diesen hoffnungslosen Generälen zurückziehen und nicht mehr für sie „die Köpfe hinhalten". Halder ließ Oster zudem wegen seiner Unvorsichtigkeit eine Rüge389 erteilen. Canaris verbot ihm sogar nachdrücklich jede weitere Aktivität390. Damit fiel der radikale Verschwörerkreis einer gewissen Resignation anheim; es kam muß von vorneherein etwas nicht gestimmt haben. Alle Ohrenzeugen der Radioübertragung stimmten darin überein, Hitler habe abrupt die Rede abgebrochen, und zwar in der ersten Phase seiner weitschweifenden Rhetorik. Die dritte Überlegung ist die schwerwiegendste. So viel haben wir mittlerweile über ein Attentat nachgedacht, daß wir wissen, wie schwer es ist, eine Bombe richtig zu placieren Augenscheinlich war aber die Münchner Bombe hervorragend eingebaut. Der Zeitzünder tickte in der Säule direkt hinter dem Rednerpodium. Und eine solche Installierung sollte unter den Augen der wachsamen Gestapo vonstatten gegangen sein?" 385 Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 11. und 12.11. 39: Groscurth las sie am 11.11. und legte sie am nächsten Tag dem Generalstabschef vor. 386 Vgl. ebd.: „Halder schließt sich Gedankengängen der Denkschrift Gisevius an, hat sie v. Brauchitsch gegeben, der zustimmt." Vgl. dagegen Gisevius, S. 427 und 429. 387 KTB Abt. z.b.V., fol. 184, Eintrag vom 9.11.39, 20.00 Uhr. Über die verschiedenen Verschiebungen des Angriffstermins vgl. Jacobsen, S. 141. 388 Vgl. Anm. 385 und 386 dieses Kapitels. 389 Der dramatisierende Bericht von Gisevius, S. 428, über Osters Reaktion auf Halders Rüge ist gewiß unzutreffend. Vorzuziehen ist Groscurth, persönliches Tagebuch vom 11.11.39: „Nachmittags bei Oster... Oster zur Vorsicht ermahnt. Nahm Warnung Halders in Ruhe hin. Die Schärfe Halders über seine schon mehrfach bewiesene Unbeherrschtheit habe ich ihm vorenthalten. Von einer mir anheim gestellten Meldung an Canaris sehe ich ab." Groscurth teilte also die Kritik Halders, milderte aber die warnende Rüge des Generalstabchefs. Dies sowie die Tatsache, daß Halder Oster über Groscurth verwarnte und diesen nicht bei dessen Vorgesetzten Canaris anschwärzte, zeigt, daß der Generalstabschef ihm im Grunde wohlwollte. Vgl. auch Zs. Nr. 240 ...

(Halder).

399

Gisevius, S. 428.

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einem Bruch mit den im OKH an führender Stelle stehenden MitverschwoRatlosigkeit und Ohnmacht der Berliner Verschwörer zeigte sich auch darin, daß Schacht „unentwegt nach neuen Kräften Ausschau" hielt, aber trotz aller Ungeduld keinen neuen Ansatzpunkt fand. So waren die Aktivisten in Berlin bis zum 12./ 13. November in eine verhängnisvolle innere Krise hineingeraten391. Dieser krisenhafte Stimmungsumschwung in den Berliner Verschwörerkreisen erklärt sich weitgehend daraus, daß sie keinerlei oder doch nur unzureichende, obendrein meist verzerrte Informationen über das hatten, was zur selben Zeit in Zossen wie auch bei den höheren Führern an der Westfront vor sich gegangen war. In Zossen war bei den Spitzen des OKH etwa seit dem 7. November wenigstens teilweise eine Beruhigung eingetreten. Man hatte jetzt den Eindruck, daß Hitlers Drohungen keinen konkreten Hintergrund gehabt hatten, sondern mehr allgemein gemeint gewesen waren. Damit war zwar die seit dem 5. November jäh aufgebrochene Sorge vor einer Aufdeckung der konspirativen Aktivität grundsätzlich nicht geschwunden; aber man glaubte, daß doch eine gewisse Frist392 bestehe, die zu ruhigerem Überdenken der Situation genutzt werden könne393. Am 7. November war nämlich der bis dahin auf den 12. November angesetzte Angriffstag verschoben worden und aus dem OKW die Mitteilung eingetroffen, daß eine neue Entscheidung nicht vor dem 9. November zu erwarten sei, was bedeutete, daß der Angriff kaum vor dem 14.-16. November beginnen würde. Zudem ließ das ebenfalls am 7. November ergangene Vermittlungsangebot der Monarchen Belgiens und der Niederlande394 kurzfristig Hoffnung Wiederaufleben, hier sei vielleicht ein Ansatz zu einem diplomatisch-politischen Arrangement gegeben. Dieses holländisch-belgische Angebot der guten Dienste blieb zwar Episode395, es trug aber im Augenblick fraglos mit dazu bei, daß Halder und Stülpnagel die Dinge ruhiger betrachteten. Hinzu kam noch, daß Tippelskirch, der am 7. November von einer Konferenz der Ic-Offiziere der Westfront aus Düsseldorf zurückkam, dem Generalstabschef und dem Oberquartiermeister I über die Stimmung von Offizierkorps und Truppe einen Bericht vorlegte, der bezüglich des vermutlichen Verhaltens der Armee bei einer eventuellen Aktion seitens des OKH je nach Temperament unterschiedlich beurteilt werden konnte. Er besagte396, daß die Truppe moralisch zwar zum Einsatz bereit sei. Eine Verletzung der belgischen und holländischen Neutralität würde indessen eine so große Überraschung bedeuten, daß die Kommandeure sich besorgt fragten, wie sie ihren Leuten einen derartigen völkerrechtswidrigen sogar fast renen.

391

zu

Die

Vgl. auch Gisevius, S. 428, der schreibt, er habe „Stunden und Stunden" bei Hoffnung, Oster werde mit einer guten Nachricht hereinkommen.

Beck gesessen,

in der

Gisevius, S. 422 ff. Kosthorst, S. 102. 394 Vgl. ADAP, Bd VIII, S. 300 ff., und Halder-Tagebuch, Bd I, S. 122 f., sowie Pierre Van Zuylen, Les Mains Libres. Politique extérieure de la Belgique 1914-1940, Brüssel 1950, S. 501, und Jacques Davignon, Berlin 1936-1940. Souvenirs d'une mission, Paris-Brüssel 1951, S. 153 ff. 395 Zur Ablehnung des Angebotes vgl. ADAP, Bd VIII, S. 312, 320 f., sowie Halder-Tagebuch, Bd I, S. 122 (Etzdorf über Hitlers Anweisung zur Behandlung der Demarche). 396 Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 7a, Eintrag vom 6. 11. 39. 392

393

538

XI.

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

Akt erklären sollten. Das Offizierkorps sei im ganzen recht fatalistisch eingestellt, es herrsche aber, vor allem bei den jüngeren Offizieren, das Gefühl, daß, wenn ein Angriff erfolge, wohl kein anderer Ausweg möglich sei. Überall jedoch sei das Empfinden weit verbreitet, daß ein Neutralitätsbruch gegen die Ehre der Armee gehe. Insbesondere das höhere Offizierkorps befände sich in einem Dilemma zwischen Pflicht und Gewissen, zumal starke Bedenken hinsichtlich der Einsatzqualitäten der Truppe bestünden. Insgesamt, so schloß der Bericht des Oberquartiermeisters IV, sei der „Glaube an den Führer" noch „das letzte Kapitel", das aber bei einem politischen oder militärischen Mißerfolg stärkstens erschüttert werden würde. Vor allem würde eine „erschreckend groß[e] Abdes wirtschaftlichen und des zivilen, lehnung" politischen Führungspersonals Regimes397 bestehen. Der Bericht Tippeiskirchs ist gewiß noch aus dem Eindruck der Stimmung des 31. Oktober heraus verfaßt worden, als sich im OKH alles auf eine Entscheidung zuzuspitzen schien. .

.

.

Oberquartiermeister IV war jedenfalls noch vor der katastrophalen Wendung des 5. November zu der Ic-Tagung abgereist. Als er dann am 7. November398, nach Zossen zurückgekehrt, von der schlimmen Wende der Verschwörung erfuhr, war er „völlig erschlagen über das", was Groscurth ihm in dieser Hinsicht mitteilte399. In seiner Enttäuschung und Empörung machte er sich mit dem bei ruhiger Überlegung gewiß nicht ernsthaft erwogenen, aber für die Stimmung unter den oppositionellen Offizieren des Hauptquartiers doch bezeichnenden Vorschlag Luft, gegen Brauchitsch und Halder vorzugehen, „Widerstand" zu leisten, sie also gleichsam zum Handeln zu zwingen oder gar sie zu überspielen400. In diesem Moment war Tippelskirch sicher auf dem Höhepunkt Der

seiner Bereitschaft zum Widerstand. Immerhin scheint sein erwähnter Bericht auf die Verantwortlichen im OKH einen gewissen Eindruck gemacht zu haben. Stülpnagel war geneigt, ihn im Sinne einer positiven Klärung der Voraussetzungen für eine eventuelle Aktion optimistisch zu interpretieren401. Halder mag ihn etwas gedämpfter beurteilt haben. Aber er nahm ihn doch zum Anlaß, erneut auf Brauchitsch einzuwirken. Er beauftragte Oberst Wagner, den ObdH zu informieren und dabei darauf hinzuweisen, daß man entsprechende Folgerungen ziehen müsse: eine Offensive sei bei diesem inneren Zustand der Armee „unverantwortlich"402. Derartige Einwir-

Vgl. auch Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 7. 11. 39. Datierung der Reise nach KTB Abt. z. b. V., fol. 182, Eintrag vom persönliches Tagebuch, Eintrag vom 7. 11. 39. 399 Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 7. 11. 39. 499 397

398

4.

11.39, und Groscurth,

Ebd.

401

Vgl. unten S. 544 mit Anm. 433 dieses Kapitels. Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 9a, Eintrag vom 8.11.39. Ebenso sagte Halder dem Oberquartiermeister IV, der Angriff sei ein politisches und militärisches Verbrechen: ebd., Eintrag vom 7. 11. 39, fol. 8a. Daß Halder dennoch auf lange Sicht seine Widerstandsabsichten nicht aufgegeben hatte, zeigt dieses Bemühen um den ObdH, eine der Schlüsselfiguren jeder Aktion. So drückte er noch am 16. 1. 40 (Groscurth, persönliches Tagebuch) gegenüber Groscurth seine Absicht aus, den ObdH zu „energischer Haltung" zu beeinflussen. Vgl. auch Halders Aussage vor 402

XL

Staatsstreichpläne im Winter

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539

waren um so notwendiger, als Brauchitsch resignierte und gegen einen Angriffsbefehl nicht mehr Front machen wollte. Vor allem aber war der Bericht des Oberquartiermeisters IV, eben weil er eine eindeutige Interpretation nicht zuließ, ein weiterer Anstoß für Halder, sich vordringlich über Stimmung und Eignung von Truppe und Offizierkorps für eine Aktion klarzuwerden. Er wies am 9. November Groscurths Abteilung an, der Truppe laufend und planmäßig „den Puls [zu] fühlen". Dabei bemerkte er ausdrücklich und das zeigt die konspirative Absicht -, es dürfe kein Schriftwechsel darüber stattfinden; derartige Sondierungen hätten ausschließlich telefonisch oder in persönlicher

kungen

-

Fühlungnahme zu erfolgen403. Die Verschwörer im OKH also Halder, Stülpnagel und Wagner404 hatten sich also nach den Ereignissen des 5. November wieder etwas gefangen. Halders oppositionelle Einsatzbereitschaft war bei vielleicht unterschiedlicher Intensität im Vergleich zu den anderen in die Verschwörung eingeweihten Generalstabsoffizieren im OKH offensichtlich keineswegs erloschen. Allerdings konzentrierte er, ausgehend von den Erkenntnissen des 5. November, seine Bemühungen jetzt vornehmlich darauf, die Voraussetzungen jeden Handelns, nämlich die Eignung und Einsatzfähigkeit von bestimmten Truppenteilen für eine Aktion genauestens zu prüfen. An diesem Punkt trafen Halders Absichten mit einer Entwicklung zusammen, die durch Osters Reise an die Westfront in Gang gesetzt worden, aber ohne dessen Mitwirken dann vonstatten gegangen war: Nach der Unterredung mit Oster hatte Müller405 seinen Oberbefehlshaber, Generaloberst Ritter v. Leeb, und dessen Stabschef, Generalleutnant v. Sodenstern406, unterrichtet. Leeb nahm den Bericht des Ia „ohne besondere Stellungnahme"407 hin und beauftragte ihn, mit Witzleben Fühlung aufzunehmen. Witzleben billigte Müllers Verhandlungen mit Oster, und damit auch wohl dessen nüchternere Betrachtungsweise. Am 9. November kam er selbst zum Heeresgruppen-Oberkommando. Er konferierte zuerst mit Leeb und wies dann, offensichtlich im Einverständnis mit dem Oberbefehlshaber der Heeresgruppe, Müller an, zu Halder und Stülpnagel zu fahren und ihnen folgendes mitzuteilen408: Leeb sei dabei, für den ObdH eine Denkschrift zur militä-

-

-

-

der uns

Spruchkammer vom 16.9.1949: „Ich hab v. Stülpnagel und andere herüberzuziehen." (BA/MA H 92-1/3, fol. 41.)

gebeten, Brauchitsch

zu

Ebd., S. 10a, vom 9.11.39. Stülpnagel scheint, ohne daß man ihn mit den radikalen Aktivisten der Abwehr gleichsetzen kann, etwas optimistisch-dynamischer als Halder gewesen zu sein. In der Sache aber stand er loyal zu dem Generalstabschef. Wagners Position ist nicht ganz klar zu erkennen; Etzdorf, Zs. Nr. 322, spricht davon, dieser habe einen eigenen Oppositionsschwerpunkt dargestellt. Groscurth neigte stärker zu den Berliner Aktivisten, ohne jedoch stets und in allem durch deren Hektik

493 494

sich beeinflussen zu lassen. V. Müller, S. 372.

485

406

Sodenstern

war

487

V.

488

Ebd.

Müller,

bekanntlich schon in die konspirative Kap. IX dieser Arbeit.

S. oben S. 372 f.

geweiht gewesen.

Planung

Witzlebens

von

1939 ein-

540

XL

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rischen Lage und gegen einen Angriff im Westen auszuarbeiten. Müller solle Halder fragen, ob er sich von einer derartigen Denkschrift etwas im Sinne einer Einflußnahme auf Hitler verspreche. Leeb war also, wie es scheint, bei der vorhergehenden Unterredung mit Witzleben schwerlich dem Gedanken an eine radikale Aktion nahegetreten, sondern verfolgte das muß zunächst noch mehr die man aus der Idee, eine neue Denkschrift zu verfassen, schließen Linie einer Opposition vom Ressort her. Das aber wird dem energischen Witzleben kaum die rechte Methode erschienen sein. Deshalb beauftragte er wohl Müller, Halder zu fragen, ob er sich von einer Denkschrift etwas verspreche. Aller Wahrscheinlichkeit nach wollte der Oberbefehlshaber der 1. Armee eine negative Antwort des Generalstabschefs damit provozieren, um Leeb die Aussichtslosigkeit eines solchen Unterfangens vor Augen zu führen. Allenfalls sah er darin noch eine Möglichkeit, Brauchitsch wieder den Rücken gegenüber Hitler zu stärken; denn er trug Müller ebenfalls auf, Halder darauf anzusprechen. Vor allem aber, und damit wird die grundsätzliche Intention Witzlebens deutlich, drängte er darauf, Halder klar zu sagen, es müsse „zunächst. auf alle Fälle verhindert werden, daß im Westen womöglich Hals über Kopf angetreten werde"409. Ihm ging es also um Zeitgewinn. Wozu aber Zeit gewinnen? Das verraten die weiteren Aufträge, die der Generaloberst dem Ia der Heeresgruppen ans Herz legte410: „Fragen Sie Halder: Was kann und muß gemacht werden, damit die Sache vorankommt. Es darf nicht sein, daß sich eine günstige Gelegenheit bietet, und wir sind nicht fertig411. Welche Panzerdivisionen sind nach der Besetzung der früheren Stellen und nach ihrem derzeitigen Stationierungsraum mit besonders geeignet, sich auf sie zu stützen?... Vielleicht müssen wir uns fürs erste einer begnügen. Welche Divisionen sind besonders unzuverlässig nach unseren Gesichtspunkten, inwieweit kann man sie als Ablösung in die Front einschieben412?" Witzleben hatte also, trotz seiner relativ pessimistischen Sicht, wie sie in dem Gespräch mit Oster und Gisevius zum Ausdruck kam, den Gedanken an eine Aktion grundsätzlich nicht fallenlassen. Er war jedoch nicht wie Oster und Gisevius unbesonnen für ein „Handeln" unter allen Umständen413; er wollte vielmehr genaueste Vorbereitungen und damit -

-

.

.

...

.

409

Ebd. Ebd. Nach Gisevius, S. 422 f.,

.

.

glaubte Witzleben nicht mehr an eine Möglichkeit, die Offensive zu verhindern. Dieser Eindruck Osters und Gisevius' entstand wohl daraus, daß der Generaloberst die beiden putschistischen Heißsporne offensichtlich vor allzu abenteuerlichen Plänen abzuhalten trachtete. 411 Wie es am 5.11. der Fall gewesen war. 412 Das zeigt, daß Witzleben von Halders Vorbereitungen vor dem 5.11. nichts gewußt hat. 413 Witzleben legte Vincenz Müller ans Herz, Halder möge Oster mehr unterstützen, dem er unbedingt vertraue; andererseits aber solle er Halder nachdrücklich darauf hinweisen, man müsse „mehr auf Geheimhaltung achtgeben. Nicht schreiben. Wenn schon einzelne schriftliche Unterlagen erforderlich sind, nicht in amtlichen Panzerschränken oder Wohnungen von Beteiligten, sondern ganz unverfänglich aufbewahren." (V. Müller, S. 373.) Er stimmte also Müllers Ansichten zu, der ihm wahrscheinlich von Osters Leichtsinn berichtet hatte; aber er wandte sich irrtümlicherweise bei Halder gerade an die falsche Adresse, denn diesem war Osters impulsiv-unvorsichtige Art seit längerem ein Dorn im Auge. 410

XL

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eben auch sorgfältige Prüfung der notwendigen Voraussetzungen gesichert wissen. Darin traf er sich mit Halders Absichten414. Am 10. November traf Müller in Zossen ein, wurde von Halder empfangen und trug dem Generalstabschef auftragsgemäß vor. Wie kaum anders zu erwarten, versprach sich Halder von einer Denkschrift Leebs keinen Erfolg. Es sei „fraglich, ob Brauchitsch überhaupt wage, sie weiterzugeben. Schon wenn er in laufenden Fragen bei Hitler zum Vortrag sei, komme er ihm oft vor wie ein kleiner Kadett vor seinem Kommandeur415." Zu den Anregungen Witzlebens meinte der Generalstabschef, er verstehe durchaus dessen Drängen, wies jedoch auf seine begrenzten Möglichkeiten hin, wenn Brauchitsch nicht mitmache. Gerade weil dieser bei Hitler nicht mehr ankomme, sei er jetzt besonders auf seine Stellung im OKH bedacht. Er wolle aber versuchen, bei Brauchitsch doch noch einige Vorkehrungen in der von Witzleben gewünschten Art durchzusetzen. Hier sprach Halder ein für ihn schwieriges Problem an; weder war der ObdH seit dem 5. November bezüglich einer Aktion ansprechbar, noch bestand bei seiner augenblicklichen Haltung begründete Aussicht, ihn nach einer eventuell eigenmächtigen „Initialzündung" mitzureißen; damit waren aber konkrete Vorbereitungen, insbesondere die notwendigen Truppenverschiebungen, äußerst erschwert. Aufschlußreich war weiterhin die Bemerkung Flalders, er mache sich über das „Nachher" des Putsches, besonders was die zivile Seite angehe, große Sorgen, also über die politische Fundierung. Schließlich beunruhigte ihn das Problem der Geheimhaltung. Hier drückt sich ein Reflex des immer gespannteren Verhältnisses zwischen ihm und den Berliner Verschwörern aus; es zeigt auch, wie sehr man sich gegenseitig behinderte. Das bisherige, schon ziemlich problematische Nebeneinander, das immer nur punktuell und zeitweilig, nie aber endgültig zur Zusammenarbeit überging, hatte sich fast zu einem Gegeneinander entwickelt. Das wurde einige Tage später offenkundig. Dazu hatte nicht zuletzt die Leichtfertigkeit Osters mit seinen Aufrufen beigetragen, von der der Generalstabschef erfuhr. Diese Gefährdung des Ganzen erboste Halder um so mehr, als gerade am Tage zuvor sich eine ähnliche Affäre ereignet hatte, die seine seit dem 5. November akute Besorgnis noch gesteigert hatte. Ihm war gemeldet worden416, die Gestapo habe in Berlin einen Hauptmann verhaftet, der geäußert habe, die Offensive im Westen fände gewiß nicht statt, es gebe eher einen Militärputsch. Ebenfalls soll wie das OKH auch am selben Tag erfuhr -

-

Daher auch die Enttäuschung von Oster und Gisevius. Die von uns herausgearbeitete individuelle Differenzierung zeigt, wie sinnlos und unangemessen es ist, wenn man die Beteiligten lediglich in „Aktivisten" und „Zauderer" einteilt, wie z. B. Hassell und Gisevius es tun deren Maßstäbe sehr weitgehend auch in die Literatur eingeflossen sind Die Differenzierungen waren sehr viel stärker. Daher darf man auch nicht die Haltung der radikalen Aktivisten zum Maßstab der Beurteilung der anderen beteiligten Persönlichkeiten nehmen. In diesem Sinne ist auch die vorzügliche Arbeit von Sendtner teilweise zu korrigieren. 415 Ebd., S. 373; vgl. auch Halder-Tagebuch, Bd I, S. 125, Eintrag vom 10.11.39: „Müller Ia AOK 1 Leeb: Bereitschaft. Leeb-Witzleben OQu I." Hierzu vgl. auch Jacobsen, S. 50. 416 Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 9. 11. 39; KTB Abt. z. b. V., fol. 184, Eintrag vom 9. 11. 39 und Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 11, Eintrag vom 9. und 10. 11. 39. 414

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-.

XL

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in einer Pension am Kurfürstendamm „von OffiAusländern über ein Attentat gegen den Führer gesprochen" Parteiführern und zieren, worden sei. Die Gestapo war daraufhin eingeschaltet worden. So ist Halders entsprechende Besorgnis durchaus zu verstehen. Er erließ unverzüglich im OKH die Weisung, man solle bei Telefongesprächen und „kritische[n] Äußerungen" Vorsicht walten lassen418. Als er nun noch von Osters Leichtsinn erfuhr, ließ er Oster durch Groscurth, der in diesem Punkte Halders Standpunkt durchaus zu teilen schien419, jene warnende Rüge zukommen. Abgesehen von allen anderen auftauchenden Schwierigkeiten trug im OKH die Furcht, daß Einzelheiten der konspirativen Tätigkeit durch Verrat oder Nachlässigkeit vorzeitig bekannt werden könnten, dazu bei, daß nun die Dinge sehr behutsam betrieben wurden. Es bleibt als Ergebnis der Mission des Obersten Müller, daß sie nicht nur für Halder keine neuen Faktoren brachte, sondern auch für beide Verschwörer-Gruppen an der Westfront wie im Oberkommando des Heeres teilweise eine Entmutigung bedeutete. Der Generalstabschef verzeichnete zwar in seinem Tagebuch mit Befriedigung die allgemeine Bereitschaft420 Witzlebens und Leebs, aber sie war ihm schon zuvor längst bekannt gewesen. Hinsichtlich der Frage, wie die Truppen auf einen Aktionsbefehl reagieren würden, gewann er keine neuen positiven Gesichtspunkte. Halder und Stülpnagel erörterten nach Müllers Abreise nochmals die Lage421. Der Oberquartiermeister, der stets der dynamischere Typ wohl gewesen ist, war optimistischer als der Chef des Generalstabes des Heeres422. Um sich endlich Klarheit über die Haltung von Offizierkorps und Truppe zu verschaffen, kamen sie überein, Stülpnagel solle in den nächsten Tagen an die Westfront fahren, um entsprechende Sondierungen vorzunehmen423. Dort waren inzwischen seit Müllers Rückkehr aus Zossen im Grunde schon bestimmende Entscheidungen gefallen, was in Zossen, wo Stülpnagel sich zur Abreise bereit machte, noch nicht bekannt war. Während Müller noch im OKH verhandelte, hatte Leeb, anscheinend ohne Unterrichtung Witzlebens424, ein Treffen der Heeresgruppen-Oberbefehlshaber in Koblenz herbeigeführt in der Absicht, eine gemeinsame Front der drei Oberbefehlshaber herzustellen425. Es ergab sich dabei, daß wohl die Lage von den drei Generalobersten einheitlich beurteilt wurde, daß aber keine Übereinstimmung in den Ansichten über die daraus zu ziehenden Konsequenzen zu erreichen war. Leebs Vorschlag eines gemeinsamen Vorgehens der Ober-

Göring gemeldet worden sein417, daß

417 418

419 429

KTB Abt.

b. V., fol. 184,

Eintrag vom 9. 11. 39. Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 13, Eintrag vom 10. 11. 39. z.

Siehe oben S. 537.

Halder-Tagebuch, Bd I, S. 125, Eintrag vom

421

Ebd.

422

V.

Müller,

10.11. 39.

S. 374.

Ebd. V. Müller hatte Stülpnagel eine Einladung Witzlebens, ihn einmal zu besuchen, überbracht. 424 V. Müllers Bericht läßt vermuten, daß Witzleben von dem Treffen der H. Gr. OB wohl nicht unterrichtet war. 425 Vgl. Jacobsen, S. 50, und Kosthorst, S. 47 f. 423

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543

befehlshaber der drei Heeresgruppen, die geschlossen Brauchitsch zu einer entscheidenden Aussprache mit Hitler bewegen sollten und, wenn auf diese Weise die Offensive nicht vereitelt werden könne, zusammen zurücktreten müßten, stieß jedoch auf Ablehnung. Bock soll geäußert haben, „das ginge doch etwas zu weit"426. Er und Rundstedt waren lediglich bereit, mit allen legalen Mitteln auf eine Verschiebung des Angriffstermins hinzuarbeiten. Rundstedt erklärte kurz darauf den ihm unterstehenden Oberbefehlshabern, Kommandierenden Generälen und Divisionskommandeuren: „Die Zeit der Erwägungen und Bedenken ist nun abgeschlossen. Dem Heer ist seine Aufgabe gestellt und es wird sie erfüllen! Was uns noch fehlt, werden wir zu ersetzen haben durch um so größere Kühnheit der Führung

..

.427."

Generaloberst Ritter v. Leeb war angesichts der Erfolglosigkeit seiner Initiative zunächst sogar geneigt, den Oberbefehl über die Heeresgruppe niederzulegen, glaubte dann aber, bestärkt von seinem Stabschef Sodenstern, in Erkenntnis der Nutzlosigkeit eines solchen Schritts sowie gebunden durch das Gefühl soldatischer Verpflichtung, von einem derartigen Vorhaben noch absehen zu müssen428. Nach seinem eigenen Zeugnis429 nach dem Kriege hat er von diesem Zeitpunkt an den Kampf gegen Hitler aufgegeben. Damit war, noch bevor Müller aus Zossen zurückgekommen und Stülpnagel zur Westfront abgereist war, eine für die weitere Entwicklung der Konspiration gewichtige Entscheidung bereits gefallen: Von seiten der Oberbefehlshaber der Heeresgruppen war fortan überhaupt keine Initiative, weder in Form einer Einwirkung auf den ObdH, noch eines Kollektivrücktrittes, mehr zu erwarten. Im Grunde war dieses Ergebnis allerdings schon seit den Sondierungen Halders von Ende Oktober zu erwarten gewesen. Als neues „negatives" Moment kam jetzt noch hinzu, daß auch Leeb resigniert hatte. Witzleben hatte von dieser Entwicklung wahrscheinlich noch keine Kenntnis, als Müller am 11. November ihm von seinen Besprechungen in Zossen Bericht erstattete. Er entschied, man sollte erst Stülpnagels Besuch abwarten430. Inzwischen wollte er unter Einschaltung des Ia der Heeresgruppe A, Oberstleutnant v. Tresckow, versuchen, auf Bock, der Tresckows Onkel war, einzuwirken und eine Einheitsfront der Heeresgruppen-Oberbefehlshaber herzustellen, ein Versuch, der schon einige Tage später scheiterte431. Vom 12. bis 13. November kam Stülpnagel dann selbst zur Westfront432. Das war wahrscheinlich jene Reise, über deren Datierung in der Literatur so viel gerätselt und die zeitlich stets unzutreffend angesetzt worden ist, was bei der Darstellung der Fakten, nicht zuletzt auch bei 426

427 428 429

Kosthorst, ebd. Kosthorst, S. 102 f.; vgl. aber auch ebd., S. 48. Vgl. MGFA/DZ B-449, S. 38 ff. (Sodenstern-Ausarbeitung). Zit. bei Kosthorst, S. 48.

y. Müller, S. 374. Ebd., S. 375; vgl. Bock-Tagebuch, Eintrag vom 12.11.39; Kosthorst, S. 47 f., und Jacobsen, S. 50. 432 Nach V. Müller, S. 374 f., war Stülpnagel am 13. 11. 39 bei der Heeresgruppe C. Nach Groscurth, persönliches Tagebuch, war Stülpnagel am 13. 11. wieder in Zossen. Die Datierung bei Kosthorst (3. Aufl.), S. 61 und Sendtner, S. 129 ff. ist angesichts dieser Quellen kaum zutreffend. 430

481

XL

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Beurteilung der handelnden Persönlichkeiten zu erheblichen Fehlern und falschen Akzentsetzungen geführt hat. Am 13. November war Stülpnagel in Frankfurt, wo er noch einigermaßen optimistisch war und Müller sagte, es dürfe nicht mehr viel Zeit verlorengehen; wenn erst die Offensive begonnen habe, sei alles viel schwieriger. In der folgenden Unterredung mit Witzleben wird er von dem Generaloberst, der inzwischen wohl Kenntnis von dem Ergebnis der Besprechung des Heeresgruppen-Oberbefehlshaber bekommen hatte, über die negative Lageentwicklung unterrichtet worden sein; denn danach schlug er Müller sichtlich gedämpfter vor433, man solle doch versuchen, „mit Vorsicht Divisions- und Regimentskommandeure festzustellen, auf die man sich verlassen"

der

könne434. Ihm wurde demnach allmählich klar, daß eine Initiative von seiten der HeeresgruppenOberbefehlshaber kaum mehr zu erwarten war. Daher ging er nun gleichsam ein bis zwei Ebenen tiefer und regte an, zuverlässige Verbände und deren Kommandeure festzustellen. Aber auch dabei ergab sich ein negativer Befund. General Geyr v. Schweppenburg, an den Halder bereits am 1. November gedacht hatte, erklärte435, als Stülpnagel ihn bald darauf befragte, daß seine Division genauso wie der Stab des ihm vorgesetzten XII. A. K. in der Einstellung zum Nationalsozialismus gespalten sei436. Er sei ihrer nicht sicher und könne seinerseits für eine Aktion keine Erfolgsaussichten konstatieren. Der Kommandierende General des XVI. A. K., General Hoepner, der Geyr schon zuvor brieflich mitgeteilt hatte, man könne ihn, Geyr, bei den Auseinandersetzungen über die Westoffensive nicht entbehren, hatte bei einer vorsichtigen Sondierung seiner Kommandeure in Düsseldorf aus deren Zögern ebenfalls eine Uneinheitlichkeit der Einstellungen ersehen und daher das Gespräch abgebrochen437. Das alles ließ auch den optimistischen Stülpnagel resignieren. Nunmehr mußte er Halder gestehen: „Du siehst richtig, es geht nicht! Die Kommandeure und die Truppen würden Deinem Ruf nicht folgen438!" Damit war ein Neuansatz zur Konspiration praktisch gescheitert: Brauchitsch, die entscheidende Persönlichkeit, war nicht zu einer Aktion zu bewegen; es bestand nicht einmal in jenen Tagen Aussicht, ihn nach einer eventuell eigenmächtig vom Generalstabschef eingeleiteten „Initialzündung" mitzureißen; äußerte er doch Aus unserer Darstellung dieser Sondierungen an der Westfront geht die Unhaltbarkeit der Ansicht Sendtners, S. 410 f., hervor, man sei damals bei den Frontbefehlshabern nicht genügend nachdrücklich vorstellig geworden. Davon kann keine Rede sein. Zudem war Stülpnagel, wie Müllers Bericht zeigt, anfangs sehr optimistisch; sein negatives Ergebnis wiegt um so schwerer. 433

Müller,

434

V.

435

Mitteilungen General

S. 375.

d. Pz.Tr.

D. Frhr.

v. Schweppenburg an das MGFA vom das Gespräch auf Anfang Dezember an. 438 Ebd. General v. Geyr hat nach dem Krieg eine Reihe von seinen einstigen Kommandeuren befragt. Bis auf einen haben alle geantwortet, sie hätten damals einen Putschbefehl nicht befolgt. Zur Datierung: General v. Geyr meint, das Gespräch mit Stülpnagel, den er in Zossen besucht habe, sei seiner Erinnerung nach Anfang Dezember 1939 erfolgt. 437 Ebd. Diese Besprechung habe nach Geyr „mit Sicherheit" ebenfalls Anfang Dezember statt-

16. 1.

1966,

gefunden. 438

vom

25. 1. 1966 und 1. 2.

Zit. nach Sendtner, S. 406.

a.

1966; Geyr

Geyr

setzt

XL

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zwei Tage nach Stülpnagels Rückkehr ins OKH zum General v. Tippelskirch, es ginge in diesem jetzigen Kampf darum, Deutschlands „Lebensraum endgültig [zu] sichern"430. Jede Aussicht, den ObdH durch einen demonstrativen Schritt der Heeresgruppen-Oberbefehlshaber zu einer anderen Einstellung und dann zur Initiative zu bewegen, nachdem Halder sich dazu außerstande sah, war ebenfalls geschwunden, seit Bock und Rundstedt sich versagt hatten, und Leeb daraufhin resignierte. Auch für eigenmächtiges Handeln von Seiten Halders fehlten jegliche Voraussetzungen, seit klar geworden war, daß selbst eindeutig oppositionelle Truppenführer wie Witzleben, Hoepner und Geyr ihrer Offiziere und Soldaten nicht sicher waren. Angesichts dieses Befundes resignierten auch Halder und Stülpnagel. Sie sahen von ihrer Seite aus im Augenblick keine Möglichkeit mehr, über ressortgebundene Opposition hinaus noch irgend etwas zur Verhinderung der Offensive und damit der Kriegsausweitung zu tun. Staatssekretär v. Weizsäcker fand daher den Generalstabschef am 15. November440 „gottergeben" gegenüber dem Lauf der Dinge vor441. Halder sah die Lage als völlig aussichtslos an442. Es galt jetzt nur noch, die Berliner Verschwörerkreise über die Ausweglosigkeit der Situation zu unterrichten. Der OQu I teilte daher Groscurth am 13. November sofort nach Rückkehr von der Westfront mit, von Widerstand könne keine Rede mehr sein; trotz ihrer Aussichtslosigkeit würde der Befehl zur Offensive wenn er erfolge ausgeführt443. Am nächsten Tag bat er Oster zu sich, der voll Groll und Zorn sich anfangs weigerte444, überhaupt noch ins OKH zu fahren. Stülpnagel teilte ihm, ganz im Sinne des Ergebnisses seiner Reise mit445, die Generäle, -

-

Tippelskirch, Tagesnotizen, fol. 14a, Eintrag vom 15.11.39. Vgl. Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 10.12., nach dem Halder zu Thomas am 27.11. geäußert haben soll, es sei unerträglich, daß England „uns wie ein Helotenvolk behandelt". Vgl. Eintrag vom 13.1.40 betr. Halder: „Er bejaht den notwendigen Kampf gegen England, der uns aufgezwungen und einmal doch unvermeidlich sei." Während Halder Kosthorst, S. 107 f., zufolge am 27.11. Thomas gegenüber mehr die Ansichten des ObdH wiedergab, entspricht der Eintrag vom 13. 1.40 wohl seiner damaligen Ansicht. Vgl. Generaloberst a.D. Halder, Mitteilung vom 15. 10. 1965 an das MGFA: „Daß England der eigentliche Treiber im Kampf der Westmächte gegen Deutschland war, habe ich nie bezweifelt. Diese schon in der traditionellen Festlandspolitik Englands wurzelnde Tatsache habe ich in meinen Gesprächen mit den Botschaftern Englands und Frankreichs in Berlin mehrfach bestätigt gefunden. Es ist durchaus möglich, daß ich diese Einstellung gelegentlich in Gesprächen zum Ausdruck gebracht habe, z. B. mit dem Gedanken, daß England nicht tatenlos zuschauen würde, wenn wir uns in einem Bürgerkrieg zerfleischen (diese Auffassung ist mir übrigens später in England bestätigt worden). Solche Äußerungen meinerseits bedeuteten aber keinesfalls eine Absage gegen den von mir selbst gewollten Umsturz. Höchstens eine Begründung für sorgfältige Wahl des Zeitpunktes, der nicht allein von der Ungeduld der Aktivisten 439

-

bestimmt werden durfte." 440 KTB Abt z.b.V., fol. 190, trag vom 15.11.39. 441

Eintrag

vom

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag

15.11.39, und vom

442

Ebd.

443

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag

Eintrag vom

444

445

33

Halder-Tagebuch,

Bd I, S. 128, Ein-

17. 11. 39.

vom

13. 11. 39. S. 429.

Gisevius, Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag

-

vom

13.11.39, und KTB Abt. z. b. V., fol. 185, 14.11.39:

„Stülpnagel

ließ Oster kommen:

546

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

einschließlich Witzleben, seien der Ansicht, daß sie nichts unternehmen könnten, da die Truppe zu einer Aktion nicht geschlossen hinter ihnen stünde446. Im übrigen, so fügte der Oberquartiermeister I als alter Vertrauter Becks hinzu, möge Generaloberst Beck nicht soviel schreiben, um sich nicht zu gefährden. Auch Oberst Wagner, mit dem Groscurth am selben Tag noch die Lage besprach447, schien die Aussichtslosigkeit einer Aktion eingesehen zu haben. Er konzentrierte vielmehr alle seine Kräfte jetzt darauf, in Polen den Kampf gegen die SS mit aller Kraft wieder aufzunehmen448. Mit der Orientierung Groscurths und Osters hatte die Gruppe um Halder die Berliner Verschwörer von der Lage der Dinge in Kenntnis gesetzt449. Damit war für die Spitzenfunktionäre der Opposition im OKH ein vorläufiger Schlußstrich unter die Episode der Verschwörung der letzten beiden Monate gezogen. Die Entwicklung von Mitte November 1939 bis ungefähr April 1940 wird durch den weiteren unaufhaltsamen Zerfall der Verschwörung gekennzeichnet. Subjektiv verständliche Empörung, phantastische, nur aus Ratlosigkeit und Ohnmacht heraus erklärbare Pläne, tiefe Resignation und sinnlose gegenseitige Vorwürfe, die nicht einmal den Versuch aufkommen ließen, den jeweils eingenommenen Standpunkt zu verstehen, charakterisierten den inneren Zustand der Opposition. Als die Ansicht der Verschwörer des OKH in Berlin bei den Oppositionellen der Abwehr bekannt wurde, entstand dort stärkste Empörung450. Der unermüdliche Groscurth versuchte zwar am 15. November nochmals mit dem Hinweis auf den Generalstabschef einzuwirken, man sei bei der Abwehr über die Entscheidung Halders und Stülpnagels ungehalten, auch in weiten Kreisen der Bevölkerung herrsche Kritik über die „Schlappheit der Generale", Ribbentrop mache angeblich die Wehrmacht für eine eventuelle Offensive verantwortlich, die er angeblich gar nicht wolle, Halifax habe Kordt mitteilen lassen, ein Friede sei noch möglich auf der Grundlage der ethnographischen Grenzen451, und schließlich überwiege im Panzerregiment 15 eine im Sinne der Konspiration „einheitliche Stim-

1. Generale einschließlich Witzleben der

Ansicht, daß sie nichts unternehmen könnten, da Truppe einer Aktion nicht geschlossen hinter ihnen stünde. 2. Generaloberst Beck solle nicht so viel schreiben und sich nicht gefährden .." Gisevius schreibt, S. 429: „Stülpnagel habe ihm [= Oster] lediglich im Auftrage Halders mitteilen sollen, jene neuerliche Bestellung Becks an Brauchitsch sei von diesem nicht angenommen worden. Oster möge darum seine Papiere verbrennen." 446 Das bestätigt nochmals, daß es sich um das Ergebnis jener Stülpnagel-Reise handelt, über deren Datierung in der Literatur so viel gerätselt worden ist und deren Fehldatierung die ganzen bisher in der Literatur dargestellten chronologischen Abläufe der Ereignisse ebenfalls fehlerhaft bzw. unkorrekt gemacht hat. 447 Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 14. 11. 39. 448 Siehe oben Kap. X dieser Arbeit. 449 Gisevius, S. 431, in Verbindung mit den Einträgen vom 15. 11. und 17. 11. 39 im persönlichen Tagebuch Groscurths. 459 Gisevius, S. 429 f., und Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 15.11.39: „In Berlin bei Abwehr: Wut über Untätigkeit der Generale." 431 KTB Abt. z. b. V, fol. 188, Eintrag vom 15.11. 39. zu

.

-

XI.

Staatsstreichpläne im Winter

1939-1940

547

mung"452. Aber die positive Auskunft über ein Regiment konnte natürlich die Fülle der

Sondierungsergebnisse, die jetzt im OKH vorlagen, nicht unbedingt daher audi keine Revision der gefällten Entscheidung herbeiführen. Auch war der Hinweis auf die empörte Stimmung bei der Abwehr und in der Bevölkerung ganz und gar kein geeignetes Mittel, um den Generalstabschef zu einem Meinungswechsel zu veranlassen. Auch General v. Tippelskirch, den Groscurth noch anzusprechen versuchte, meinte, es sei ihm unmöglich, den ObdH „zu einer Handlung zu bewegen. Er sei wohl zu und könne keine Revolution machen". Selbst von jüngeren Offipreußisch erzogen zieren sei eine Revolte nicht zu erwarten. Vielleicht könne man noch versuchen, Halder zu veranlassen, mit Göring Verbindung aufzunehmen; doch auch diese Idee verwarf Tippelskirch, in Kenntnis der Einstellung Halders gegenüber Göring, sogleich und meinte resignierend: „Wir müssen durch dieses tiefe Tal wohl hindurch463." Besser konnte die augenblicklich bei der Opposition im OKH herrsdiende Stimmung nicht gekennzeichnet werden. Die Berliner Verschwörer wurden zwischen Zorn und Resignation hin- und hergerissen. Canaris versank in Pessimismus und meinte, es sei nichts mehr zu machen, die Offensive würde mit einer sicheren Katastrophe enden454. Über Helldorf erfuhren die Berliner Verschwörer, daß alles gegen die Möglichkeit einer Initiative von seiten Görings spreche. Damit wurden auch in dieser Hinsicht etliche vage Hoffnungen zerstört455. Als dann kolportiert wurde456, Brauchitsch sei innerlich völlig gebrochen und habe in einem Gespräch mit Hugo Stinnes457 geäußert, er sei mit Hitler völlig zerfallen, er könne jederzeit verhaftet werden und sei selbst seiner Generäle nicht mehr sicher, erwog Gisevius einen phantastischen, nur aus der ausweglosen Lage heraus verständlichen Plan. Er ging von der für das Verhältnis unter den verschiedenen Verschwörergruppen bezeichnenden Unterstellung aus, Halder habe in Sachen der Konspiration den ObdH vielleicht gar nicht unterrichtet. Man müsse daher versuchen, einige Zivilisten, etwa Goerdeler, Popitz oder Hassell, an Brauchitsch heranzubringen, dessen Nervenkrise ausnützen und dem ObdH „unter die Arme" greifen. Vielleicht wäre Beck dazu am besten geeignet. Aber dieser wollte sich nicht noch einmal einer Zurückweisung aussetzen, sah wohl auch das Utopische eines solchen Unternehmens und hatte vor allem den ObdH innerlich schon abgeschrieben; er äußerte, ein Pferd, das bereits zweimal die Hürde verweigert habe, werde auch beim dritten Anlauf nicht springen458. Nun griff unter den Berliner Verschwörern tiefe Resignation um sich. Gisevius schreibt darüber: „So sind wir am Ende unseres Lateins. Immerhin wird uns dieses Fazit durch einen Ausspruch Halders erleichtert. ganz anders gearteten

aufwiegen und

.

452

.

Ebd. und Groscurth,

.

persönliches Tagebuch, Eintrag vom 15. 11. 39. Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 16. 11. 39. 454 Vgl. Gisevius, S. 430, und Hassell, S. 107. 455 Ebd., vgl. aber auch Hassell, S. 116, dagegen. 456 Gisevius, S. 431, und Hassell, S. 103 (23. 11. 39). 457 Gisevius, S. 431, und Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 15. 11.39: „Bericht von Hugo Stinnes über Gespräch mit Brauchitsch. Dieser sei völlig fertig, vereinsamt. Hat Rücktritt angeboten, ist abgelehnt." Vgl. auch Hassell, S. 109. 453

458

Gisevius, S. 431.

54S

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

Der Generalstabschef hat gestern eine längere Aussprache hörbar aufatmend beendet, er sei froh, endlich einen klaren Entschluß gefaßt zu haben: Er werde nichts tun. Kommentar

überflüssig459."

-

Immerhin hatte Witzleben die Absicht, nochmals mit Halder zu sprechen460, obgleich er einsah, daß dessen Stellungnahme angesichts der Haltung der Heeresgruppen-Oberbefehlshaber sich kaum ändern würde; dieses Gespräch war anläßlich einer Tagung vorgesehen, zu der Hitler die höchsten Führer der drei Wehrmachtteile, hohe Truppenführer sowie Generalstäbler des Heeres für den 23. November nach Berlin bestellt hatte. Diese Veranstaltung benützte der „Führer", um der obersten militärischen Führungsschicht mit aggressiver Deutlichkeit seine „Auffassung von der Lage"461 darzulegen und sie von der „Notwendigkeit der Offensive" im Westen zu überzeugen; sodann wollte er den höheren Truppenführern des Heeres seine operativen Absichten skizzieren und ebenfalls in sehr massiver Form ihre

„Angriffsfreudigkeit" heben462. Insbesondere beabsichtigte er jegliche Opposition gegenüber seinen Angriffsabsichten, vor allem beim ObdH, dem Generalstab und den höchsten Führern des Heeres, zu zerschlagen463. Er hielt der Generalität vor, sie möge sich darüber klar sein, daß der gesamte Aufbau der Wehrmacht ohne den Aufstieg der Partei nicht denkbar gewesen sei. Im übrigen habe er niemals gezögert, für seine Ziele

notfalls „brutale Entschlüsse" zu fassen. Er ließe sich nie beirren; denn stets sei die „Zahl der Zweifler" größer gewesen als die der „Gläubigen". Zum Kampf im Westen betonte er im Rahmen einer Darstellung der Lage, wie er sie sah, alles spreche dafür, daß „jetzt der Moment günstig sei" und daß der Krieg daher durch die Vernichtung des Gegners beendet werden müsse. „Jeder, der anders denkt, ist unverantwortlich." Im übrigen sei er und damit ging er zur direkten Replik gegen den ObdH über aufs tiefste gekränkt gewesen, als er die Meinung gehört habe, die deutsche Armee genüge wertmäßig nicht den gestellten Anforderungen. Scharf und unverblümt wandte er sich an die Heeresführung, indem er ausführte, alles liege in der Hand der militärischen Führung, mit dem deutschen Soldaten könne man alles machen, wenn er nur gut geführt werde. Man solle sich an der Marine ein Beispiel nehmen, der sei es gelungen, die Nordsee von den Briten „frei zu —

-

Ebd., vgl. auch Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 10. 12.39: „Der Nervenkrieg macht sich übelst bemerkbar. Alles ¡st gereizt. Einer kämpft gegen den anderen. ObdH kümmert sich um jeden Dreck. Aber ein Entschluß zum Handeln wird nicht gefaßt. Man ¡st Soldat, an seinen Eid gebunden, dem Führer treu usw., vor allem aber klebt man an seiner Stellung ..." 499 V. Müller, S. 375. Vgl. Halder-Tagebuch, Bd I, S. 126, Eintrag vom 14. 11. 39: Witzleben will mich sprechen ..." 481 Halder-Tagebuch, Bd I, S. 131, Eintrag vom 23.11. 39. 462 Ebd. 463 Zum folgenden vgl. die ausgezeichnete Erschließung und Darstellung der Ausführungen Hitlers bei Jacobsen, S. 59 ff. Zur Überlieferung vgl.: IMT XXVI, S. 327-336, Doc. PS-789 (ungesicherter Text; auch im MGFA/DZ Sammlung Raeder 31/PG 31762a); OKW-482 (General Hansen); OKW-2717 (Generaloberst Hoth). Weiterhin: Guderian, S. 76; Röhricht, S. 149 f.: Aussage General Hermann v. Witzleben vor dem Arbeitskreis „Europäische Publikation" und Generaloberst a. D. Halders Aussage vor der Spruchkammer (beide abgedruckt bei Sendtner, S. 418 ff.) sowie Halder-Tagebuch, Bd I, S. 131-132; ferner Kosthorst, S. 105 ff. 439

„...

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

549

fegen"; auch müsse er die Verdienste der Luftwaffe rühmen464. Ohne Angriff sei der Krieg nicht zu beenden. Man müsse sich endlich jeden Gedanken an einen Kompromiß aus dem Kopf schlagen. Die Führung müsse ein Beispiel „fanatischer Entschlossenheit" geben; was solle man vom einfachen Musketier verlangen, „wenn wie 1914 Oberbefehlshaber schon Nervenzusammenbrüche" bekämen? Rücksichtslos müsse entschlossener Angriffsgeist auf die Truppe übertragen werden. Er schloß mit der nahezu unverhüllten Drohung, er werde „gegen jeden Miesmacher" schärfstem vorgehen und auch nicht davor zurückschrecken, „jeden zu vernichten, der gegen ihn" sei. Das Edio, das diese Philippika unter den Anwesenden hervorrief, war höchst unterschiedlich465. Während die Zuhörer von der Marine und Luftwaffe, menschlich durchaus verständlich, das ihnen gespendete Lob größtenteils recht befriedigt genossen, einige sogar überlegen lächelnd ihre Kameraden vom Heer „bedauerten"466, war deren Reaktion zwiespältig. Es herrschte ebensoviel Empörung wie nahezu begeisterte Zustimmung487, womit sich die Spaltung des Offizierkorps wieder deutlich erwies. Halder468 und Manstein sprachen sofort den ObdH an; die Generalität dürfe sich derartige Äußerungen nicht gefallenlassen: Brauchitsch schien jedoch keine Neigung zu zeigen, irgend etwas zu unternehmen. Reichenau war zwar empört, lehnte aber, wie zuvor auch Rundstedt, Guderians469 Ansinnen, bei Hitler vorstellig zu werden, mit dem Hinweis ab, er sei momentan bei Hitler persona non grata, und riet dem Panzergeneral, selbst zu Hitler zu gehen. Guderian wurde daher einige Tage später bei Hitler vorstellig und hielt ihm wie er selbst berichtet vor, daß die Generalität sein Mißtrauen unwillig und erstaunt zur Kenntnis genommen habe: „Sie sollen später nicht sagen können, ich habe die Generalität meines Mißtrauens versidiert, und sie haben sich das gefallen lassen. Keiner hat dagegen protestiert470." Hitler soll dann offen zugegeben haben, daß sich sein Mißtrauen gegen Brauchitsch richte; er verlangte von Guderian, ihm Namen für einen Nachfolger zu nennen. Da er alle ihm genannten Persönlichkeiten ablehnte, endete die Aus-

-

sprache ergebnislos471. Hitler aber beließ es nicht bei diesen zwei Aussprachen. Noch am selben Abend zitierte er Brauchitsch und Halder wiederum zu sich und machte ihnen in der schärfsten Form Vorhaltungen. Halder notierte in seinem Tagebuch knapp: „ObdH und ich Geist von -

Vgl. Guderian, S. 76: „In den Vorträgen... wiederholte sich etwa folgender Gedankengang: Die Generale der Luftwaffe sind unter der zielbewußten Leitung des Parteigenossen Göring politisch absolut zuverlässig; auch die Admirale werden im Sinne Hitlers sicher geführt; aber zu den Generalen des Heeres besteht seitens der Partei kein unbedingtes Vertrauen." 465 Vgl. dazu auch Hassell, S. 106. 466 So der Bericht des Heeresgenerals Röhricht, S. 150. 407 Aussage General a.D. Hermann v. Witzleben, zit. bei Sendtner, S. 419; V. Müller, S. 375, berichtet, Witzleben habe ihm gesagt, die Generale seien von Hitlers Ausführungen „stark beeindruckt" gewesen. Vgl. auch Kosthorst, S. 36 f. 468 Röhricht, S. 150. 469 Guderian, S. 76. 478 Ebd. S. 77. 471 Jacobsen, S. 64. 464

XL

550

Staatsstreichpläne im Winter

1939-1940

dieser Vertrauenskrise seinen Rücktritt bedeutete Hitler ihn brüsk ab und wies ihm, er habe jetzt wieder seine Pflicht anbot473, zu erfüllen. Generaloberst v. Bock schrieb damals: „Es hat eine sehr ernste Auseinandersetzung zwischen dem Führer und Brauchitsch gegeben, letzterer ist trotzdem geblieben, ist jetzt also anscheinend gewillt, die Verantwortung für die beabsichtigte Operation zu tragen474." Der ObdH hatte damit in unbegreiflicher Weise die geradezu pöbelhaften Anwürfe Hitlers ohne angemessene Reaktion hingenommen. Halder selbst scheint jedoch, obwohl er für den Augenblick nach den vorhergehenden Sondierungsergebnissen wenig oder gar keinen Ansatz für eine Aktion mehr sah, am selben Abend475 nochmals mit dem Befehlshaber des Ersatzheeres, General der Artillerie Fromm, Kontakt aufgenommen zu haben, ohne jedoch Gehör bei diesem zu finden. Trotzdem hat er unter dem Eindruck eines erneuten dringenden Appells, den am 27. November General Thomas im Auftrage476 von Goerdeler, Beck, Popitz und Sdiacht an ihn richtete, den Versuch gemacht, unter Ausnutzung der tiefen Depression Brauchitschs, dem ObdH vor Augen zu stellen, daß ohne aktives Eingreifen keine Wendung zu erwarten sei. Brauchitsch aber war nicht zum Handeln zu bewegen. Er soll u. a. geltend gemacht haben, daß die Arbeiterschaft wie überhaupt weite Teile des Volkes nicht mitgehen würden; man dürfe aber keine „Gewaltherrschaft der Bajonette" errichten477. Halder teilte Thomas die Gründe mit, die den ObdH zu seiner ablehnenden Haltung veranlaßten. Die Reaktion darauf bei den Berliner Oppositionellen kann man treffend aus dem Bericht Goerdelers und den Hassellschen Kommentaren dazu entnehmen. Hassell schreibt478: „Goerdeler erzählte, daß Halder folgende Gründe angeführt habe: 1. Ludendorff habe 1918 auch eine Verzweiflungsaktion gemacht, ohne daß das sein Bild in der Geschichte getrübt habe. Man Zossen

472

(Krisentag)472." Als Brauchitsch angesichts

Vgl. Haider-Tagebuch, Bd I, S. 132, und Aussage Generaloberst am 16. 9. 1948 (zit. bei Sendtner, S. 421).

kammer 473

Röhricht,

a.

D. Halder

vor

der

Spruch-

S. 154.

Bock-Tagebuch, Eintrag vom 23.11. 39. Vgl. auch Jacobsen, S. 64. Vgl. Röhricht, S. 153 f., und Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 10.12. 39 und Sendtner, S. 423 ff., mit unklarer Datierung. Danach soll Fromm, wie sein Chef des Stabes, Haseloff, berichtet, diese „hochverräterischen" Absichten Halders aktenkundig gemacht und dem ObdH gemeldet haben, der jedoch nichts unternommen habe. Brauchitsch hat auch Halder gegenüber nie etwas davon erwähnt. Haseloff ist im Haider-Tagebuch, Bd I, S. 116, auch am 31.10. 39 als Besucher eingetragen, also an dem Tage, an dem Halder das entscheidende konspirative Gespräch mit Groscurth hatte. Das war vermutlich die erste Fühlungnahme zwischen Halder und 474

475

dem Befehlshaber des Ersatzhecres in dieser Hinsicht. Halder-Tagebuch, Bd I, S. 133, Eintrag vom 27. 11.39: „Popitz, Sdiadit-Thomas." Kosthorst, S. 107 f.; Sendtner, S. 422. Nach KTB Abt. z.b.V., fol. 191, Eintrag vom 21.11.39, war Groscurth bei Thomas, ein Besuch, der wohl in die Vorgeschichte der Intervention von Thomas bei

476

am 27. 11. 39 gehört. Zu dieser Episode vgl. Birkenfeld, S. 14 f. GenOberst a. D. Halder vom 16. 9. 1948, zit. bei Sendtner, S. 422 f. Spruchkammeraussage 478 Hassell, S. 105 f. Vgl. dazu die Analyse bei Kosthorst, S. 108 f. Zu der Frage, inwieweit Halder im Gespräch mit Thomas seine eigenen Ansichten oder die des ObdH wiedergab vgl. die Eintragungen im persönlichen Tagebuch Groscurths vom 10. 12. 39 und vom 13. 1. 40 sowie Anm. 439 dieses Kapitels.

Halder

477

XL

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551

seinen Ohren nicht. Was schert uns das Bild eines Generals in der Geschichte! Außerdem ist es getrübt worden, und vor allem: die Sache ist schief gegangen! 2. Es sei kein großer Mann da. Solch ein Mann kann sich erst durch die Tat zeigen, und fehlt er, so hilft es auch nichts, deswegen kann man nicht ein Verbrechen geschehen lassen, das Deutschland ins Unglück stürzt. Denn selbst wenn wir siegen, so muß es ein Pyrrhussieg werden, abgesehen von der inneren Zerstörung und Demoralisation, der endlich ein Ziel gesetzt werden muß, und von den maßlosen Schweinereien in Polen, die den deutschen Namen mit Schande bedecken und für die die Armee mit verantwortlich bleibt. Keitel glaubt allerdings, gerade wenn wir in Belgien und Holland einmarschierten, würde Italien mit uns gehen; Ich bin anderer Ansicht. Ganz besonders, nachdem die Russen jetzt unter unserer Billigung Finnland, das wir einst von ihnen befreien halfen, überfallen haben (29. 11. 1939). Vor der Welt stehen wir jetzt in dieser Bruderschaft als Räuberbanden en gros da. 3. Man müßte Hitler doch diese letzte (sie!) Chance lassen, das deutsche Volk aus der Helotenknechtschaft des englischen Kapitalismus zu erlösen. Man sieht, wie die Propaganda auf die ahnungslosen Deutschen gewirkt hat. Sie wollen jetzt Realpolitiker' sein, weil sie zu sehr ,Gefühlspolitiker' waren. Genau wie der Offizier, der 1918 ausschied, Kaufmann wurde, und nun glaubte, er müsse betrügen, nachdem er vorher keine Stecknadel entwendet hat; so meinen wir jetzt, Realpolitik bedeute, sich über alle Bindungen und Grundsätze hinwegsetzen und merken nicht, daß wir uns selbst unsere eigenen Grundlagen zerstören. 4. Wenn man die Nase am Feind habe, könne man nicht rebellieren. Aber nicht die Armee steht im Zeitalter des totalen Krieges am Feinde, sondern das ganze Volk, und es handelt sich darum, ob dieses zugrunde gehen soll oder nicht. 5. Die Stimmung sei noch nicht reif. (Übrigens interessant, daß die Führer des Heeres immer so argumentieren.) Darin ist etwas Wahres. Aber kann man darauf warten, wenn es um das Ganze geht? Natürlich wäre es theoretisch besser, noch etwas zu warten, aber praktisch kann man das nicht. 6. Man sei der jungen Offiziere nicht sicher. Das mag zum Teil zutreffen. Aber, wenn die Generale einig sind und mit der richtigen Parole operieren, so gehorchen Heer und Volk." Die Kommentare Hassells machen die Divergenzen der Anschauungen zwischen den verantwortlichen Männern in Zossen und den Berliner Verschwörern deutlich. Der ObdH hat zwar auch fortan nach Maßgabe der ihm seiner dienstlichen Möglichkeiten und in den Grenzen, die ihm seine Natur setzte, sich „ehrlich mit dem OKW und Hitler herumgeschlagen", ist aber nie über die Ebene des Ressorts hinausgegangen479. Es war wie einst im Falle Fritsch: der entscheidende Repräsentant des Heeres, der Mann, der allein die legale Verfügungsgewalt über das Instrument des Heeres hatte, vermochte nicht den entscheidenden Schritt zu tun. Halder aber, dem Mann im zweiten oder gar dritten Glied, „links rückwärts gestaffelt ohne eigene Befehlsbefugnis"480 ging es angesichts des hoffnungslosen Falles, den Brauchitsch darstellte, jetzt so, wie es Beck im Jahr 1938 gegangen war. Er konnte jedenfalls für den Augenblick kaum damit rechnen, den ObdH mitzureißen. Angesichts traut

...

-

479

489

Vgl. Sendtner, S. 423. Röhricht, S. 154.

552

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dessen sowie auch wegen der Ergebnisse der durchgeführten Sondierungen stellte sich der Generalstabschef auf den Standpunkt, vorerst seien die Dinge nicht mehr oder nodi nicht wieder reif für eine Aktion. So kam auch Witzleben, der Halder bei der Tagung vom 23. November gesprochen hatte, zu dem Schluß, daß „die Aussichten für die Aktion ganz

ungünstig geworden seien.

Die

Vorbereitungen müßten aber dennoch weitergehen"481. Das

lief auf ein Abwarten und Bereitsein für den rechten Augenblick hinaus, jedenfalls auf einen Verzicht zum Handeln im gegenwärtigen Zeitpunkt. Das war audi genau Halders Standpunkt. Es kennzeichnet das Mißtrauen und die Gespaltenheit der Oppositionsgruppen, daß die zur Tat drängenden Verschwörer, insbesondere die Berliner Gruppe, Halder jedoch diesen Standpunkt verübelten, daß Witzleben dagegen von einem solchen Verdikt ausgenommen wurde, obwohl sein Standpunkt zu dieser Zeit um keinen Deut anders war482. Hier wurde offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen. Indessen mag die Parteilichkeit in den Schriften von Gisevius und Hassell noch verständlich sein; man kann sich allerdings oft bei Lektüre verschiedener späterer Veröffentlichungen483 nicht des Eindruckes erwehren, daß sie noch mehr oder weniger den Standpunkt der radikalen Verschwörerkreise zum Maßstab und Kriterium der Beurteilung des Generalstabschefs, aber auch anderer konspirierender Offiziere machen. Der Historiker wird dagegen in all den unterschiedlichen, oft sogar antagonistischen Verhaltensweisen der verschiedenen, der Konspiration zugehörigen Persönlichkeiten nichts anderes sehen dürfen als Symptome einer nahezu unerträglichen Belastungsprobe, der Offiziere wie oppositionelle Politiker in einer totalitären Diktatur unterworfen waren. Eine mitreißende Persönlichkeit, der es gegeben war, die Fesseln traditioneller Bindung zu sprengen, und auch Bedenken, die aus verantwortungsbewußtem Planen und Vorsorgen erwuchsen, hintanzustellen, also ein Revolutionär, war selbst unter den radikalen Verschwörern nicht zu finden; das mag man bedauern, aber es war so. Es war gerade das Typische, daß jene Widerstandsimpulse im letzten einem wachen Verantwortungsgefühl entsprangen; gerade daraus ergab sich ihre revolutionäre Unzulänglichkeit. Das galt unterschiedslos für alle Beteiligten: Halder wie Stülpnagel, die es ablehnten, den zögernd-resignierenden ObdH zu verhaften; Oster, Groscurth, Gisevius, Goerdeler, die auf eine tatsächlich für ein „Handeln" aussichtslose Lage mit illusionär-phantastischen Plänen oder mit ungerechtfertigten Vorwürfen gegenüber anderen Verschwörern reagierten; Witzleben, der trotz aller schroffen Energie die Lage militärisch nüchtern prüfte und danach grollend, aber konsequent sein Verhalten einrichtete; Canaris, der teils antrieb, teils in resignierenden Pessimismus verfiel; ebenso aber auch Beck, der trotz klarsichtiger politischer und militärisch-politischer Analysen oft praktisch und psychologisch fehlging, sich bisweilen auch in persönliche Ressentiments verstrickte. Sie alle, sooft sie einander fanden oder sich zerstritten, litten unter begrenzenden und hemmenden Belastungen, die bei aller individuellen Ausprägung letztlich gleichartige, typische Ursachen hatten. V. Müller, S. 375. Gisevius, S. 423, schildert zwar Witzlebens negative Ansicht hinsichtlich einer Aktion, er kritisiert sie aber nicht, sondern läßt sogar durchblicken, daß der Generaloberst im Grunde recht hatte. «83 Ygl. z. B. Zeller, Hoßbach und auch Sendtner. 481

482

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geschilderten Entwicklung trat in der konspirativen Entwicklung vorerst eine etwa vierwöchige Pause ein. Canaris gab, wie er Hassell sagte, jede Hoffnung auf einen Widerstand der Generäle auf484. Beck nutzte die Periode der Inaktivität, um weitere Denkschriften zu verfassen, die er dem OKH zugehen ließ. In einem Memorandum von Ende November kam er nach eingehender Analyse zu dem Schluß, „daß, auch ohne große Kampfhandlungen im Westen, sich in den ersten drei Kriegsmonaten eine weitgehende Wandlung im bisherigen Kriege vollzogen hat und zwar ausschließlich zuungunsten Deutschlands. Es ist eine Lage eingetreten, die bei nüchterner Prüfung aller ihrer politischen und militärischen Grundlagen nur noch gebieterischer als bisher zu der Forderung führt, den von vornherein aussichtslosen Weltkrieg je eher je besser zu liquidieren485." Anknüpfend an seine bekannte Rede zur 125-Jahrfeier der Kriegsakademie, „die den besonderen Beifall des Führers gefunden hat", schloß er mit einem Appell an die Verantwortungspflicht der Generalität: „Die Grenzen ihrer Verantwortung, vor allem der obersten militärischen Führer, werden aber in höchsten Krisentagen allein bestimmt durch das eigene Gewissen, durch ihre Mitverantwortung für Heer und Volk und durch das zu erwartende Urteil der Geschichte486." Bei den führenden Männern im OKH rannte er damit offene Türen ein; aber das Kernproblem, die Frage, ob für ein „Handeln" auch die Voraussetzungen gegeben seien, konnte mit militärpolitischen Analysen, deren Richtigkeit von ihren Empfängern vermutlich gar nicht bestritten wurde, nicht beantwortet werden. Es war dagegen menschlich, wenn die Adressaten dieser Memoranden auf gute Ratschläge, derer sie nicht bedurften und die nicht weiterhalfen, wenig erfreut reagierten. Hassell mußte487 sich von dem Industriellen Reusch, der gute Verbindungen zu Halder hatte, sagen lassen, „die Generale seien die ewige Einwirkung von allen Seiten satt"488. Im Grunde sah auch Hassell ein, daß die Stimmung noch nicht reif sei, da „man sich der Offiziere vom Major abwärts nicht sicher" sei489. Zwar Auf Grund der

484 485

Hassell, S. 107 (30.11. 39). BA/MA H 08-104/2, fol. 43; Hassell, S.

107 (30. 11. 39) schreibt, Beck habe ihm erzählt, er habe „seine Ansicht dem Oberquartiermeister schriftlich und mündlich immer wieder zugehen lassen". Gemeint ist damit sicherlich Stülpnagel, der Oberquartiermeister I, also damit Halders Stellvertreter war. Tippelskirch, der auch Denkschriften Becks zur Kenntnis erhielt, schrieb unter die Denkschrift vom Ende Dezember „Die russische Frage für Deutschland, eine Skizze" (BA/MA H 08-104/2, fol. 45 ff.): „Die Gedankengänge sind folgerichtig. Die Gefahr [= daß Deutsdiland zwischen Ost und West unter Drude gerät] ist gering, solange Deutschland mit Rußland wie früher Preußen-Rußland [ihre Interessen] in Einklang bringen und Rußland im ganzen potentiell schwach bleibt und das wird noch lange dauern. Das cauchemar eines Zweifrontenkrieges wird Deutschland als dem Land der Mitte nie abgenommen werden können." (Hervorhebung im -

-

-

Original.)

488

Ebd. fol. 43 f.

487

Hassell hatte am 2. 12. 39 noch versucht, den einstigen Reichswehrminister Geßler zu veranlassen, zu Halder zu fahren: Hassell, S. 107. 488 Hassell, S. 108 f. (18.12. 39). 489 Ebd., vgl. auch ebd. S. 111 (23.12.39): „General Vogl, der in seinem Haus in Irschenhausen auf Urlaub ist, besuchte midi. Er ist in schwerer Sorge wegen einer etwaigen Offensive Richtung

Belgien-Holland,

wegen der

politischen Folgen,

wegen

der voraussichtlich großen Verluste und

XL

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erkannte er wie Halder auch die Gefahr, daß, „wenn man auf völlige ,Reife' warte, der Moment sehr leicht verpaßt werden könne sowohl für einen anständigen Frieden wie hinsichtlich der Intaktheit der Armee". Aber auch Hassell kam zu dem Schluß, „daß zunächst einmal bis Mitte Januar Ruhe eintreten müsse"490. Damit hatten sich die gemäßigten zivilen Oppositionellen in nüchterner Einschätzung der Lage praktisch dem Standpunkt Halders angeglichen. Die radikalen Verschwörer aber gaben sich damit nicht zufrieden. Sie wurden zwischen ohnmächtiger Resignation und empörter Aufwallung hin und her gerissen, ohne jedoch irgend etwas anderes tun zu können, als nutzlos anzutreiben oder empört zu räsonieren. So schrieb Anfang Dezember der mit Groscurth und Oster befreundete Kapitän Liedig in einer an die OKH-Opposition gerichteten Denkschrift401: „Adolf Hitler, der Verderber Deutschlands, damit der Zerstörer Europas, sieht und verfolgt mit der Dynamik des geborenen Anardiisten in der Richtung auf den scheinbar geringsten Widerstand das Ziel einer ideenlosen Weltherrschaft: der aufgabenlosen Gewalt- und Raubverfügung über Räume und Rohstoffe, deren man sich mit den brutalsten Mitteln bemächtigt. Eine revolutionäre Dynamik der Zersetzung aller geschichtlichen Bindungen und aller kulturellen Gebundenheiten, die einst die Würde und den Ruhm Europas ausgemacht haben, ist das einzige und ganze Geheimnis seiner Staatskunst. Er findet sich auf diesem Weg in dynamischer Lebensgemeinschaft' mit dem bolschewistischen Rußland und bei solcher Bindung doppelt gedrängt, von der ersten zur zweiten, von der nationalsozialistischen zur bolschewistischen Revolution in Bälde fortzuschreiten. Trotz allem führt dieser Weg nicht, wie es der derzeitige Führer Deutschlands sich erträumt, zu den Erfolgen der ,Goldenen Horde' des Dschingis Khan, sondern bloß zur deutschen Satrapie der russischen Weltrevolution; nicht zum endlichen Sieg also der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, sondern zum endlichen Untergang Deutschlands, als das ehemalige Herzvolk Europas... Entscheidet sich Deutschland jetzt, ohne Verzug, zum Frieden mit England zur europäischen Gemeinschaft; vollzieht es zugleich den klaren Bruch mit dem russischen Bolschewismus, stellt es eine mobile bewaffnete Macht dem bedrohten Finnland, damit dem ganzen stammverwandten Norden, damit letzthin Europa selbst zur Verfügung; verhindert es damit auf einen Schlag die russischen NordwestPläne, so kann Deutschland dafür die phrasenlose Bereitschaft Englands zu einem wahrhaft billigen, in weitesten Ausmaßen gerechten Frieden, zu einer dauerhaften, weil ehrlichen und freundschaftlichen Bereinigung aller seit Versailles schwärenden Probleme ver-

-

wegen des zweifelhaften militärischen

Ergebnisses. Waffenmäßig und technisch hält er uns zwar überlegen, aber nach Lage der Sache die Aussichten eines wirklich durchschlagenden Erfolges gering. Die vier Monate Ruhe, das heißt Ausbildungszeit, wären der Truppe bitter nötig gewesen. Die hohen Offiziere dächten überwiegend so wie er, das heißt, seien voll größter Sorge und schwerster politischer Bedenken; anders die jüngeren, für die Hitler nicht die anderen Parteihäuptlinge immer noch tabu sei. Die Wirkung eines offenen Widerstandes der Generäle gegen einen Befehl sei bei ihnen daher sehr problematisch." 498 für für

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491

Ebd. S. 109. BA/MA H 08-142/2, fol. 56.

XL

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555

langen und erwarten. England wird für diese Wendung Deutschlands zurück nach Europa und zur europäischen Völkergemeinschaft einen guten Preis zahlen. Englands verdoppelte und seine Bereitschaft zu einem europäischen Freiheitsfrieden dürfte kaum zweifelhaft sein. England wird sich einem neu-alten Deutschland gegenüber, das mit ihm zusammen die bolschewistische Weltgefahr einzudämmen bereit ist, auch bereit finden lassen, Deutschland die Stellung als kontinentaler Vormacht einzuräumen, die ihm gebührt, und Deutschland in seinem deutschstämmigen und deutschsprachigen Raum im vollen gegenwärtigen Ausmaß zu bestätigen." Dieses seltsame Gemisch von antikommunistischen, völkisch-imperialistischen und weltpolitisch-visionären Vorstellungen492 zeichnete sich hinsichtlich des vermuteten Endergebnisses des Krieges dem Vordringen des bolschewistischen Rußland nach Mitteleuropa fraglos durch eine gewisse Klarsichtigkeit aus; irgendeine realisierbare Möglichkeit zur Verhinderung eines solchen Resultats dagegen vermochten die Ausführungen Liedigs nicht

Versöhnungsbereitschaft

-

zu

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bieten.

Gegen Ende Dezember erst lassen sich wieder einige oppositionelle Impulse erkennen. Inzwischen waren außenpolitische Entwicklungen eingetreten, deren wichtigste der Ausbruch des sowjetisch-finnischen Winterkrieges sowie eine spürbare Abkühlung des deutschitalienischen Verhältnisses493 waren, die nach Ansicht der deutschen Opposition gewisse psychologische Ansatzmöglichkeiten bieten konnten. Als weiteren Faktor wird man die Empörung über die allmählich bekannt werdenden Greueltaten der SS in Polen und jenen erwähnten anstoßerregenden Erlaß Himmlers ansehen dürfen. In dem Bemühen, durch Verbreitung entsprechender Informationen stimmungsgemäß den Boden zu bereiten, engagierte sich Groscurth derart, daß Brauchitsch ihn schließlich Mitte Februar aus dem OKH entfernte494. Nicht nur verlor die Berliner Aktivistengruppe damit ihre beste „Ansprechstelle" im OKH, sondern eine der dynamischsten Persönlichkeiten der Opposition in Zossen fiel aus495. Immerhin, Ende Dezember glaubte die Berliner Gruppe, wieder eine Aktionsmöglichkeit zu sehen. Oster und Goerdeler, im Verein mit Popitz, Beck, Hassell und wohl auch Schacht, faßten den Plan, man müsse einige Divisionen „auf dem Wege vom Westen nach Osten" in Berlin ausladen, Witzleben solle dann dort aktiv werden und die SS ausheben. Beck werde auf Grund dieser Aktion nach Zossen fahren und aus Brauchitschs Hand den Oberbefehl übernehmen. Hitler solle durch ärztliche Gutachten 492

Zur Kritik dieser Vorstellungen vgl. Graml in: Schmitthenner-Buchheim, S. 19 ff. und S. 30 ff. Vgl. Kosthorst, S. 113; Kordt, S. 377 f.; Hassell, S. 111 f. 494 Ob Groscurths Entfernung aus dem OKH deswegen und wegen seiner Differenzen mit dem ObdH wegen des Gegenentwurfes zu Himmlers Zeugungserlaß erfolgt ist (Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintragungen vom Januar und Februar 1940 sowie BA/MA H 08-104/2, fol. 123, Brief Groscurth an Graf Schwerin vom 17. 2. 40) oder ob diese Dinge wohl Anlaß waren, die tiefere Ursache jedoch in dem Bestreben Halders lag, sich eines unbequemen „Drängers" zu entledigen, läßt sich schwer entscheiden. Es wird wohl beides mitgespielt haben. Allerdings deutet Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 1. 1.40, an, daß Brauchitsch die treibende Kraft bei der Entfernung G.s gewesen sei. 495 Vgl. Sendtner, S. 417, mit vielleicht etwas zu einseitiger Wertung. 493

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für regierungsunfähig erklärt und verwahrt werden. In einem Aufruf an das Volk müsse die Parole ausgegeben werden: Vereitelung weiterer Greuel der SS, Wiederherstellung von Anstand und christlicher Sittlichkeit, Fortführung des Krieges, aber Friedensbereitschaft auf vernünftiger Basis. Ob Göring einbezogen werden könne, sei erst nadi erfolgter Aktion zu entscheiden496. Dieser Plan war ebenso phantastisch497 wie undurchführbar. Witzleben498, der um die Jahreswende nach Zossen kam, mußte sich überzeugen, daß Halder in einer Lage, wo täglich der Angriffsbefehl zu erwarten war, keine Möglichkeit hatte, derartig Divisionen hin und her zu schieben, zumal diejenigen Verbände, die einige Wochen zuvor wohl ostwärts der Elbe gestanden hatten, nicht mehr verfügbar waren499. Obwohl Witzleben die Undurchführbarkeit dieses Planes einsah und auch Sondierungen Goerdelers bei Reichenau fehlgeschlagen waren, wollte Beck doch nicht so einfach wieder aufgeben. Er faßte den nach allem Vorgefallenen für ihn gewiß nicht leichten Entschluß, eine persönliche Aussprache mit Halder herbeizuführen. Sie kam durch Vermittlung Karl-Heinridi v. Stülpnagels am 16. Januar 1940 auf den damals wegen der klirrenden Kälte menschenleeren Straßen von Dahlem zustande500. Beck legte seine Ansicht von der Lage dar, wies darauf hin, daß die Westoffensive mit einer Katastrophe enden und das deutsche Heer dabei verbluten würde. Sodann skizzierte er seinen Plan für eine Aktion in Berlin. Halder warf dagegen ein, es sei fraglich, ob zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Situation real wie psychologisch wirklich reif sei. Beck, stark gereizt, erwiderte recht heftig, ohne dieses Problem zu diskutieren, Halder sei doch alter Reiter und wisse, daß man bei schwierigen Hindernissen zuerst sein Herz über die Hürde werfen müsse. Das war wie Kosthorst richtig schreibt501 indirekt „ein Vorwurf mangelnden Wagemuts". Halder entgegnete darauf entsprechend: er sei von Anbeginn an ein so entschiedener Gegner Hitlers und des Regimes gewesen502, daß er sich einen solchen Vorwurf nicht zuzuziehen brauche. Im übrigen lehnte er als derjenige, der von seiner Stellung her letztlich die gesamte Verantwortung für eine Aktion zu tragen habe, es ab, die Armee gleichsam zum „Hausknecht" ziviler Widerstandsgruppen zu machen, die nur Befehle erteilten, selbst aber sich über die politischen Konsequenzen ihres Handelns gar nicht oder nur unzulänglich klar seien. Er sei mit seinen Gesinnungsfreunden im Generalstab nach wie vor bereit, in die Front des Hitler-Regimes eine Bresche zu schlagen, aber nur, wenn er sicher sei, daß ihm eine breite Basis von politischen Kräften zur Verfügung stünde, die in der Lage seien, -

-

Hassell, S. 113. Ritter, Goerdeler, S. 493, Anm. 33. 498 Nach Hassell, S. 113, waren Oster und Goerdeler zuvor bei Witzleben gewesen. 499 Hassell, S. 119; Kosthorst, S. 114; Vgl. aber auch Anm. 282 dieses Kapitels. 500 Kosthorst, S. 115 (nach Halders Mitteilung). Die Datierung bei Kosthorst ist nach HalderTagebuch, Bd I, S. 159 zu berichtigen. Inhaltlich wird Kosthorsts Darstellung nochmals durch 496

497

a. D. Halders Mitteilung vom 10. 11. 1965 an das MGFA bestätigt. S. 116. 502 Es mußte Beck gewiß auch persönlich etwas treffen, daß Halder damit daran erinnerte, daß er, Halder, eher und gründlicher als Beck selbst das Regime durchsdiaut hatte.

Generaloberst

501

Kosthorst,

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557

Erfolg auszunutzen. Dafür fehle aber bisher alles. Sie zu schaffen, sei die der nicht im aktiven Dienst stehenden Verschwörer, nicht aber, der Armee Aufgabe Weisungen zu erteilen. Zu einem neuen Kapp-Putsch gebe er sich nicht her. Das Gespräch endete mit einer tiefen Verstimmung503 zwischen diesen Männern, die sich beide an patriotischem Verantwortungsgefühl wie an überzeugter Gegnerschaft zum nationalsozialistischen Regime in nichts nachstanden. Der Gegensatz zwischen ihnen lag jedoch sachlich darin, daß Halder die Voraussetzungen, insbesondere die psychologische „Reife" für eine Aktion nicht als gegeben ansah, während Beck, wie auch die Mehrzahl anderer Berliner Aktivisten, gedrängt von der Furcht, es werde bald zu spät sein, den Staatsstreich auch gegen widrige Umstände wagen wollte. Das waren zwei Standpunkte, die beide mit gleichem Gewicht vertreten werden konnten. Gewiß hätte das Gespräch nicht mit einem so schrillen Mißklang geendet, wären beide Männer bereit und in der Lage gewesen, ruhig und sachlich eine detaillierte Bestandsaufnahme der Lage zu machen. Halder hätte vielleicht seinen Vorgänger unter Hinweis auf die Ergebnisse der Sondierungen bei Leeb, Witzleben, Hoepner und Geyr, auf die Schwierigkeit, die notwendigen Truppen heranzuholen, auf die Haltung der jüngeren Offiziere, die auch von Witzleben skeptisch beurteilt wurde, und auf die Ablehnung Fromms davon überzeugen können, daß sein Standpunkt nicht in mangelndem Wagemut, sondern auf dem Ergebnis generalstabsmäßigen Kalküls beruhte. Vielleicht hätte Beck der einst für den Generalstäbler „systematisches Denken" postuliert und vor „sprunghaften, nicht zu Ende gedachten Eingebungen" und „Wunschgedanken, mögen sie noch so heiß gehegt werden", gewarnt hatte504 den Mann, der nun auf seinem Stuhl saß, besser verstanden, ihm wenigstens nicht mangelnden Mut vorgeworfen. Aber die bereits seit längerem zwischen den beiden Generälen bestehenden Spannungen verhinderten ein ruhiges Gespräch und führten dazu, daß persönliche Ressentiments und Emotionen aufbrachen, die der Sache nichts nützten, die vielmehr einen schroffen Bruch herbeiführten. So konnte bei Halder der Eindruck entstehen, Beck und dessen Freunde sähen in ihm nur den Befehlsempfänger der zivilen Opposition, ein Eindruck, der auch durch die ständigen Memoranden und Ratschläge Becks an seinen Nachfolger gefördert wurde. So konnte bei Beck die Meinung sich verhärten, Halder wiche aus und habe nicht den nötigen Wagemut505. Der Versuch eines erneuten Anlaufs zum Handeln um die Jahreswende war somit bereits in seinen Anfängen steckengeblieben. Nahezu alle Beteiligten sahen daher vorerst keine konkreten Möglichkeiten mehr. Die zivilen Oppositionellen, einschließlich Beck, nutzten die infolge der Verschiebungen der Offensive sich ergebende Pause, um politische Vorstellungen und Pläne506 für den „Tag danach" zu erarbeiten, wobei sie sich über „den akademischen Charakter ganz klar"507 waren. Gleichzeitig unternahmen einige von den

ersten

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-

..

503

504 895 598 597

.

Ritter, Goerdeler, S. 261; Buchheit, Beck, S. 229. Foerster, S. 44.

Kosthorst, S. 116. Hierzu vgl. Kosthorst, S. 120 ff.; Graml und Mommsen in: Schmitthenner-Buchheim, a.a.O. Hassell, S. 120 (24. 1. 40).

XI.

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ihnen, teilweise unabhängig voneinander, oft sogar unkoordiniert, versdiiedene Sondierungsversudie im Ausland, um nach Möglichkeit von der gegnerischen Seite klare Zusicherungen für den Fall eines Umsturzes zu erhalten. Wenn es gelingen würde, so meinten sie, bindende Zusicherung vom Gegner über ein Stillhalten bei einem inneren Umsturz in Deutschland sowie über die Verhandlungsbereitschaft Englands und Frankreichs gegenüber einer neuen Regierung zu bekommen, dann bestünde die Aussicht, wieder aus der Sackgasse herauszukommen und die oppositionelle Generalität unter Hinweis auf diese Perspektiven zum Handeln zu veranlassen. Es sollen hier nicht im einzelnen die verschiedenen geheimen außenpolitischen Sondierungen508 dargestellt werden. Wir beschränken uns lediglich auf die Erörterung des einen Komplexes, der für die Militäropposition besonders belangvoll war: Die sogenannten „Römischen Gespräche", ihr Ergebnis und ihre Folgen509. Mindestens schon seit Mitte Oktober 1939510 waren Bemühungen im Gange, über den Vatikan mit den Briten direkt in geheimen diplomatischen Kontakt zu kommen. Beck und seine Freunde waren darum besonders bemüht, da nur so „aus der Sphäre unverbindlicher Gespräche mangelhaft autorisierter Zwischenträger"511 herauszukommen und zu ernsthaften Abmachungen zu

gelangen war. Dr. Josef Müller, ein Münchener Rechtsanwalt, der das Vertrauen hoher kirchlicher Kreise genoß, war von Oster im Auftrage Bedcs, getarnt mit einem offiziellen Auftrag der Abwehr, nach

Rom entsandt worden. Er hatte dort unter Ausnutzung seiner aus der Vorstammenden Beziehungen zur Kurie mancherlei Fühlungen aufnehmen können. kriegszeit Die Verhandlungen zogen sich vom Oktober 1939 bis Anfang Februar 1940 hin512, nachdem Müller, mit Billigung Becks, den Auftrag bekommen hatte, den Papst selbst über dessen in ständigem Kontakt mit Müller stehenden persönlichen Mitarbeiter, den deutschen Jesuiten-Pater Leiber um Ermittlungen zu bitten, ob die britische Regierung bereit sei, mit einer deutschen Oppositionsregierung nach dem Sturz Hitlers Frieden zu schließen. Papst Pius XII. willfahrte dieser Bitte513 mit großem Verständnis. Über seine Vermittlung -

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Darüber vgl. die ausführlichen Darstellungen bei Ritter, S. 251 f., Kosthorst, S. 123 f., und Krausnick-Graml, S. 496 ff. 509 Neben Kosthorst, S. 127 f., bis jetzt noch eingehendste Untersuchung bei Sendtner, S. 442 ff. Vgl. aber auch Anm. 1 dieses Kapitels. 518 Huppenkothen sagte in dem gegen ihn geführten Schwurgerichtsverfahren am 5.2. 1951 aus, in dem von der Gestapo nach dem 20. 7. 44 in Zossen gefundenen Aktenmaterial sei eine Aktennotiz vom 18. 10.39 gewesen, aus der hervorging, daß aus der Umgebung von Pius XII. dem Emissär der Opposition mitgeteilt worden sei, es gebe eine Aussicht für einen Deutschland günstigen Frieden, wenn eine verhandlungsfähige Regierung an die Macht käme und ein Angriff im Westen unterbliebe. Als verhandlungsfähige Regierung werde jede Regierung ohne Hitler angesehen. (Aussage Huppenkothen, Inst. f. Zeitgeschichte, Mikrofilm des stenographischen Protokolls, vgl. auch Ritter, Goerdeler, S. 502 ff.). Vgl. auch KTB Abt. z.b.V., fol. 176, Eintrag vom 20. 10. 39, 16.00 Uhr, sowie Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag vom 20. 10. 39. 598

511

512 513

Ritter, S. 257. Vgl. Sendtner, S. 44, Anm. 66, und S. 448 ff. Kosthorst, S. 129; Ritter, Goerdeler, S. 257; Sendtner, S. 452.

XL

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kam es zu indirekten halbamtlichen diplomatischen Verhandlungen, in deren Verlauf sich Lord Halifax und der britische Botschafter am Vatikan, Sir Francis D'Arcy Osborne, am Ende514 auf förmliche, freilich niemals in schriftlicher Form festgelegte Erklärungen515 einließen. Es war gleichsam eine Art Gentlemen's Agreement516. Von beiden Seiten wurden von Anfang an zwei Voraussetzungen anerkannt517: einmal müßte Hitler gestürzt und ein Systemwechsel durchgeführt werden. Alle Abmachungen galten nur für diesen Fall; sie sollten auch keine Geltung haben, wenn vor einem Umsturz im Westen eine Offensive erfolge. Ebenfalls galten sie nur für ein „demokratisches Deutschland", nicht aber für eine auf Dauer etablierte Militärdiktatur. Sodann: im Falle einer Regimeänderung sollten zwischen den kriegführenden Mächten Verhandlungen aufgenommen werden „auf einer vernünftigen Grundlage", d. h. Deutschland sollte in den Grenzen von 1937 erhalten bleiben, über die Aufrechterhaltung des Anschlusses Österreichs sollte durch eine Volksabstimmung entsdiieden werden. Dieses Ergebnis kann im Prinzip als gesichert gelten518. Alle weiteren Aussagen über Details sind jedoch bisher widersprüchlich geblieben und nicht zu klären gewesen. Kompliziert wird der ganze Sachverhalt durch folgendes: Nach Müllers Aussagen wurde nach Abschluß der Verhandlungen Ende Januar ein endgültiger Bericht aufgrund verschiedener Notizen und Unterlagen von ihm und Dohnanyi ausgearbeitet, den er Frau v. Dohnanyi dann diktierte und unmittelbar vor seiner Rückkehr nach Rom noch einmal flüchtig durchlas519. Müller sieht sich jedoch heute nicht in der Lage zu bestätigen, ob dieser Bericht in der von ihm mitverfaßten und gebilligten Form auch unverändert und ohne Zusätze an Beck und schließlich an Halder gelangt ist520. Beck wurde der Bericht spätestens am 16. März 1940 bekannt521. Halder hat ihn durch General Thomas, dem der Inhalt des von ihm überbrachten Papiers zu diesem Zeitpunkt unbekannt war, am 4. April 1940 erhalten522. Halder und Thomas haben über den Inhalt des Abschlußberichts, des sogenannten XBerichtes, Angaben gemacht, die in einigen wesentlichen Punkten dem heute als gesichert anzusprechenden tatsächlichen Kern des Verhandlungsergebnisses widersprechen. Thomas Nach Sendtner, S. 460, waren die Verhandlungen Ende Januar 1940 abgeschlossen. Ritter, Goerdeler, S. 258. 516 Quellen darüber sind außer einem Zwischenbericht über die Gespräche Müllers zwischen dem 6.-12.11.39 (BA/MA H 08-104/3, fol. 89-109) bisher nicht zu finden gewesen. Aussagen überlebender Beteiligter, die indirekt von vatikanischer Seite bestätigt wurden, lassen die Grundzüge 514

515

der 517 518 519

damaligen Verhandlungen

im Kern als gesichert erscheinen. S. 460 f.

Kosthorst, S. 132 f., und Sendtner, Sendtner, S. 462. Ebd. S. 464.

Ebd. S. 465 : „Müller selbst hält eine .Ausweitung' des Berichtes sei es durch Dohnanyi, sei es durch Oster für ausgeschlossen, mindestens soweit der endgültige Bericht ,Zutaten' enthalten haben könnte, die nicht durch das Ergebnis der Römischen Gespräche gerechtfertigt gewesen wären. Die Möglichkeit solcher ,Unterschiebungen'. ist aber nicht völlig von der Hand zu weisen." 521 Hassell, S. 138 f. 522 Ygj unten s. 565 dieser Arbeit. 520

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XL

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ist bei seinen Gestapovernehmungen ein wohl aus dem Zossener Aktenfund stammendes Dokument vorgelegt worden523, aus dem folgendes hervorgegangen sei: in dem ihm von Oster übergebenen und von ihm an Halder Anfang April 1940 weitergereichten Bericht über die Römischen Gespräche habe gestanden, daß der Vatikan bereit sei, eine Verständigung mit England zu vermitteln unter der Bedingung, daß Hitler und Ribbentrop beseitigt würden, eine neue Regierung gebildet werde, in der Göring unter Umständen tragbar sei, daß keine Westoffensive stattfände und daß die gesamte Ostfrage zugunsten Deutschlands geregelt würde524. Es steht jedoch fest, daß bei den römischen Verhandlungen niemals auch nur andeutungsweise von der Möglichkeit gesprochen worden ist, der Papst oder die Briten würden einen Vermittlungsfrieden mit einer deutschen Regierung, in der Göring sitzen würde, überhaupt erwägen. Zudem ist, auch wenn man unterstellt (was sehr unwahrscheinlich ist), daß die Frage einer Ostregelung andeutungsweise in den Verhandlungen erwähnt worden sein mag, völlig ausgeschlossen, daß die Briten global eine „Regelung der Ostfrage zugunsten Deutschlands" zugestanden haben. War diese im September 1939 doch gerade der casus belli gewesen! Müller wie auch vatikanische Äußerungen bestätigen, daß diese beiden Elemente niemals Bestandteil der Abmachung waren. Man könnte die obendrein summarisdien Angaben von Thomas als Mißverständnis oder Erinnerungstäuschung abtun, wenn nicht Halder in seinen Aussagen eine ähnliche Version gebracht hätte. Kosthorst schreibt525 aufgrund der Mitteilung Halders, daß dieser sich „noch ganz deutlich erinnere", in den ihm von Thomas überbrachten Papieren sei als grundlegende Voraussetzung eines Vermittlungsfriedens u. a. „die Entmachtung Hitlers und, wenn möglich, auch des nationalsozialistischen Regimes"526 gefordert worden. Vor der Spruchkammer sagte Halder am 16. September 1948 aus, im X-Bericht, so wie er ihm im April übergeben und später als Belastungsmaterial in der Gestapohaft vorgelegt worden sei, habe unter anderem gestanden: Volksabstimmung in Österreich, Verbleiben der Sudetenlande beim Reich, Aufgabe des Protektorats, allerdings mit der Möglichkeit einer engen Anlehnung der Tschechei an das Reich, Herausgabe aller Faustpfänder; sodann Wiederherstellung der deutschen Ostgrenze von 1914; vor allem aber sei eine Wiederherstellung der deutsch-französischen Grenze von 1914 erwähnt worden ein Punkt, der, wie Halder betont, ihn damals sofort stutzig gemacht habe527. Es kann indessen weder davon die Rede sein, daß die Briten eine modifizierte nationalsozialistische Regierung als verhandlungsfähigen Partner528 akzeptiert hätten, noch daß -

Erst zu diesem Zeitpunkt erfuhr Thomas vom Inhalt der Papiere, die er am 4. 4. 40 Halder überbracht hatte. 524 Zit. bei Sendtner, S. 465 f. 525 Kosthorst, S. 133 f. 526 Ebd. S. 135 (Hervorhebung vom Verf.). 527 Zit. bei Sendtner, S.467; spätere Aussagen Halders sind im Detail abweichend (Kosthorst, 523

S.133). Vgl. aber

528

unten

S. 562 dieser Arbeit.

XL

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561

sie bereit gewesen wären, die Ostfrage pauschal zugunsten Deutschlands zu regeln529 oder gar die Wiederherstellung der deutschen Ostgrenze von 1914 zu erwägen. Geradezu grotesk530 jedoch ist die Angabe, es sei eine Wiederherstellung der deutsch-französischen Grenze von 1914 erwähnt worden. Indessen sind diese Widersprüche nicht leicht abzutun; denn Halder und Thomas haben unabhängig voneinander bezeugt, daß zwei dieser seltsamen Punkte die Zusammensetin den ihnen zu Augen zung der neuen Regierung und die Grenzregelung im Osten Halder behauptet sogar, sich daran gekommenen Dokumenten enthalten gewesen seien; ganz genau zu erinnern. Deswegen, wie auch angesichts der Tatsache, daß beide Offiziere unabhängig voneinander diese Angaben gemacht haben, ist die Annahme einer Erinnerungstäuschung kaum wahrscheinlich. Die Vermutung, daß hier eine Verwechslung mit anderen Aufzeichnungen vorliegt beide Zeugen sahen außer dem eigentlichen X-Bericht auch noch Vor- oder Teilberichte sowie Anlagen ist ebenfalls unwahrscheinlich, da von derartigen Konzessionen bei den Verhandlungen in Rom konkret nie gesprochen worden ist. Sollten sie sich jedoch tatsächlich in etwaigen „Nebenaufzeichnungen" befunden haben, so hätten die redigierenden Personen sie in den X-Bericht hineininterpretiert, ohne daß eine solche Interpretation eine Stütze in den Erklärungen der britischen Regierung531 finden konnte. Noch unerklärlicher ist der dritte Punkt: Westgrenze von 1914, den zwar nur Halder allein, aber mit allem Nachdruck bezeugt hat. Müller dagegen erklärte eindeutig532, daß davon in dem von ihm mitverfaßten Schlußbericht keine Rede war; und Gisevius hat ebenfalls bezeugt, daß im endgültigen X-Bericht über Elsaß-Lothringen nichts geschrieben stand. Hassell, dem am 19. März 1940 ein Exemplar (oder gar das einzige) des X-Berichtes vorgelegt worden war er sollte ihn ursprünglich an Halder weitergeben schreibt ebenfalls in seiner kurzen Inhaltsangabe nichts von Westgrenzen533. Solange nicht das Dokument selbst aufgefunden wird, kann der Widerspruch nicht überzeugend gelöst werden. Es sind lediglich Vermutungen möglich. So wurden folgende -

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-

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Hypothesen geäußert534: Entwederwaren Elsaß-Lothringen, wie eine günstige Ostlösung, wie eine eventuelle Regierungsbeteiligung Görings und eine mögliche geänderte Regierung ohne Hitler zwar nicht im X-Bericht, aber doch in einem Vorbericht oder einem anderen mitgegebenen Dokument erwähnt worden und die Zeugen verwechselten dies. Dem stehen sowohl Halders Beteuerung, er erinnere sich sehr genau dieses Passus im X-Bericht, wie auch Müllers Dementi bezüglich des Inhalts der Vorverhandlungen entgegen. Oder der X-Bericht war in diesen Punkten mißverständlich abgefaßt und daher von Halder auch prompt mißverstanden worden. In diesem Fall ginge eine derart mißver528

530 531

ygj

aber unten s. 563 dieser Arbeit.

Kosthorst, S. 134; vgl. auch Sendtner, S. 468. Sendtner, S. 468. So

532

Ebd. S. 469.

533

Hassell, S.

534

Sendtner,

:>6

138 f. (16. 3. S. 468 f.

40).

XI.

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ständliche Formulierung in solch entscheidenden, überaus delikaten diplomatischen Fragen Lasten der redigierenden Persönlichkeiten, die sich mangelnder Sorgfalt hätten schuldig

zu

gemacht. bei hypothetischen Erwägungen muß auch eine derartige Möglichkeit ins werden die Zeugenaussagen sind bewußt oder unbewußt falsch. Das aber Auge gefaßt läßt sich nie beweisen. Schließlich könnte der Bericht auch in irgendeinem Stadium zwischen der ersten Formulierung (Ende Januar/Anfang Februar durch Müller und Dohnanyi) und der Übergabe an Halder (4. April) „frisiert" worden sein in der Absicht, eine besondere Wirkung auf den Generalstabschef zu gewährleisten. So ehrenwert das der Intention nach gemeint gewesen wäre, so sehr es aus dem Bemühen, den circulus vitiosus irgendwie zu durchbrechen, verständlich erscheinen könnte, so sehr wäre eine solche Handlungsweise doch als unverantwortlich zu tadeln: einmal weil dadurch (bei bester Absicht) eine gefährliche Unaufrichtigkeit gegenüber Mitverschworenen begangen worden wäre, zum anderen, weil eine solch zweckbestimmte Fälschung, stellte sie sich heraus, genau den gegenteiligen Effekt haben könnte; schließlich müßte eine derartige ungeschickte Fälschung bei einem aufmerksamen Betrachter fast zwangsläufig Mißtrauen hervorrufen. Die drei erstgenannten Hypothesen sind bloße Vermutungen, für die keinerlei Indizien angeführt werden können. Für die letztgenannte, vierte Hypothese hingegen die Annahme einer „Frisierung" des Berichtes aufgrund von allgemein gehaltenen Formulierungen in Vorberichten gibt es allerdings gewisse Anhaltspunkte, die zwar nicht ausreichen, um sie mit überzeugender Beweiskraft auszustatten, die aber den Verdacht, daß sie faktisch zutrifft, wenn nicht erhärtet, so doch mindestens als nicht auszuschließen nahelegt. Einmal ist überliefert535, daß Dohnanyi, der Hauptredaktor des Berichtes, zeitweilig eine Einbeziehung von Göring und Reichenau erwogen haben soll. Auch Goerdeler und Popitz so geht aus Hassells Tagebuch hervor haben zeitweilig eine Beteiligung Görings nicht ausgeschlossen536. Das könnte ein Einfließen derartiger Gedanken in den Bericht erklären, obwohl diese in den Verhandlungen mit den Briten nie erwogen worden sind. Sodann gibt es ein weiteres, sehr gewichtiges Indiz. Man vergegenwärtige sich den zeitlichen Ablauf: Ende Januar-Anfang Februar stellte Müller in Berlin aufgrund seiner stenographischen Notizen und der Vorberichte in Zusammenarbeit mit Dohnanyi unmittelbar vor seiner Rückreise nach Rom einen Abschlußbericht her537. Dieser wurde von Oster und Dohnanyi danach Beck vorgelegt, am 19. März Hassell gezeigt538; Thomas brachte ihn am 4. April539 zu Halder. Zwischen der ersten Formulierung durch Müller und Dohnanyi bis zur Übergabe an Halder liegen also über 8 Wochen. Müller selbst Oder aber

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Ritter, Goerdeler, S. 492, Anm. 23 (aufgrund der Erklärung Huppenkothens). Vgl. dazu auch Hassell, S. 91, 94, 96 ff. und 116. Die Erklärung Dr. Josef Müllers bei Sendtner, S. 466, bezieht sich wohl nur auf die Erörterungen in Rom. 537 Sendtner, S. 464.

835

538

838

Hassell, S. 138 f.

589

Halder-Tagebuch, Bd I, S. 247, Eintrag vom 5. 4. 40.

XL

563

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betonte540, er könne nicht dafür einstehen, daß die von ihm mitverfaßte und gebilligte Fassung auch wirklich unverändert an Beck gelangt sei. Wenngleich er persönlich eine „Ausweitung" des Berichtes auch für ausgeschlossen hält, so ist doch die Möglichkeit

gewisser „Unterschiebungen" nicht völlig von der Hand zu weisen541. Vor allem aber gewinnt eine solche Möglichkeit an Wahrscheinlichkeit, wenn man eine Formulierung von Gisevius542 genauer betrachtet. Gisevius sdireibt nämlich543: „Auf Becks Veranlassung544 wurde ein umfangreicher Schlußbericht angefertigt, um durch eine Schilderung der einzelnen Stadien der Verhandlungen etwaige Einwendungen zu entkräftigen." In diesem Zusammenhang spricht er von einer „stilistischen Meisterleistung Dohnanyis"545. Daraus geht zumindest folgendes hervor: Erstens wurde nach Müllers erster Redigierung und vor der Übergabe an Halder die erste von Müller und Dohnanyi hergestellte Fassung nodimals überarbeitet. Zweitens geschah diese Überarbeitung in der Absicht546, etwaige Einwendungen des Empfängers von Anfang an auszuschalten. Sie war also zweckbestimmt. Eine stilistische Überarbeitung in zweckgerichteter Absicht547 muß nicht unbedingt einen den sachlichen Gehalt verändernden Charakter haben, wenngleich die Grenzlinien zwischen Stiländerungen und sachlichen Veränderungen erfahrungsgemäß leicht verwischt werden können. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist nun folgendes: in dem Bericht, den Dr. Müller über seine ersten eingehenden Verhandlungen548 in Rom zwischen dem 6. und 11. November549 verfaßt hat, finden sich Formulierungen, die zwar eine derart weitgehende, im Grunde verfälschende redaktionelle Ausweitung, wie wir sie vermuten, keineswegs gestatten, die aber geeignet gewesen sein könnten, den Anstoß zu solchen unstatthaften Veränderungen zu geben. So steht in diesem Bericht550, Prälat Kaas habe im vatikanischen Staatssekretariat festgestellt, „daß bei [einem] Regierungswechsel in Deutschland [eine] wohlwollende Behandlung auch des Polenproblems in deutschem Sinne von franzöischen und englischen Regierungskreisen zugesichert wird ..." und eine andere hochgestellte Persönlichkeit habe mitgeteilt, Ententediplomaten hätten „erklärt, 549 541

Sendtner, S. 465. Ebd. sowie Kosthorst, S.

(1958/59), S. 98.

134 f., und Robert

Leiber, Pius XII., in:

Stimmen der

Zeit, Bd

163

542 Die in der einbändigen Sonderausgabe seines Buches, die wir vornehmlich zugrunde legen, nicht enthalten ist. 543 Vgl. Gisevius, Bd II, S. 201. 544 Die Anordnung Becks muß demnach nach Dr. Müllers Abreise nadi Rom Ende Januar erfolgt sein. 545 Zit. nach Sendtner, S. 465. 546 Die Absicht geht aus dem finalen Nebensatz der Formulierung von Gisevius hervor. 547 Vgl. beispielsweise die Angaben bei Gisevius, S. 415, wo von einer zweckhaften Ausarbeitung und Bearbeitung einer anderen Denkschrift um den 1.11. 39 herum die Rede ist. 548 Nach Sendtner, S. 448, kam der Papst erst aus Castel Gandolfo am 31. 10. 39 nach Rom zurück. Vor diesem Datum sei ein offizieller Kontakt zwisdien Dr. Müller und den Briten nicht vom Heiligen Stuhl vermittelt worden. 549 Bei Sendtner, S. 448, ist der genaue Termin noch ungeklärt, jetzt auf Grund des wiedergefundenen Vorberichtes (BA/MA H 08-104/3) gesichert. 559 Ebd. fol. 94.

XL

564

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1939-1940

Deutschland könne alles behalten jedoch nicht die Tschechei und die polnischen Teile Polens... Er habe auch schon gerade aus diesen Kreisen gehört, daß man den Krieg gegen Deutschland, wenn die rußlandfreundliche Regierung Hitler beseitigt sei, als sinnlos ansehe, weil unsere natürliche Expansion nach dem Osten gehe und dort seien die Interessen ...

gemeinsam"551. In diese Ausführungen ein Zugeständnis der Ostgrenzen von 1914 hineinzuinterpretieren, ist objektiv gesehen ein allzu weitgehender Schluß. Zudem ist zu berücksichtigen, daß es sich hierbei um Wiedergabe allgemeiner Äußerungen handelt, die nicht identisch sind mit den offiziellen über den Papst weitergegebenen späteren Geheimerklärungen der britischen Regierung. Aber hier könnte der Ausgangspunkt für eine unzulässige Ausweitung durch die Redakteure des X-Berichtes liegen. Demgegenüber stand aber in Müllers erstem Bericht ganz eindeutig, daß die Briten „den Begriff Systemwechsel eng auslegen würden. Es gehe ihnen um das Vertrauen zur Unterschrift, weil sie einen Dauerfrieden anstreben .552." Allerdings war auch das nicht eine jener mit der päpstlichen Autorität weitergegebenen offiziellen britischen Mitteilungen. Die Vermutung, daß in der Zeit zwischen der Formulierung des Abschlußberichtes durch Müller und der Übergabe an Halder „manches ,ad usum Delphini' beleuchtet oder gar frisiert worden ist", daß also „eine mehr oder minder weitgehende Schönfärberei... im Spiele war"553, ist im ganzen daher doch nicht unwahrscheinlich. Die ehrenwerte Intention Halders Aktivierung ist, wenngleich ziemlich töricht, so doch ebenso verständlich wie verhängnisvoll, da die Schönfärberei genau den gegenteiligen Effekt hatte. Halder wurde nämlich nicht zuletzt deswegen skeptisch. Die redaktionelle „Bearbeitung" hatte bei einem solchen Verfahren die ganze Aktion um ihre Wirkung gebracht. Dabei war es im Grunde völlig unnötig; es erklärt sich nur aus dem schon mehrfach festgestellten Argwohn, der zwischen den verschiedenen Verschwörerkreisen herrschte. Es war unnötig, denn schon „ohne alle Zutaten und ohne jede Ausschmückung" war das Ergebnis der Römischen Gespräche so positiv554, daß es einem inneren Umsturz eine weitgehende Sicherung nach außen und einer neuen Regierung gewisse vernünftige Friedenschancen geboten hätte. Mit Recht kann man daher feststellen, daß die Römischen Gespräche eine weitgehende Erfüllung der außenpolitischen Wünsche der Opposition gebracht haben555. Wie immer man auch die Beweiskraft obiger Indizien für die Annahme einer Verfälschung oder „Frisierung" des Verhandlungsergebnisses beurteilen will, in Anbetracht der Reaktion Halders auf den ihm am 4. April vorgelegten Bericht hat dieses Problem nur relative Bedeutung. Am 4. April 1940556 übergab Thomas dem Generalstabschef jenen „Stoß .

.

..

-

-

Ebd. fol. 103-104 (Hervorhebung vom Verf.). Ebd. fol. 104; zudem wird auch ebd. fol. 103 klar gesagt, daß „Voraussetzungen für Verhandlungen ein Regimewechsel in Deutschland sei.. ." Hervorhebung im Textzitat vom Verf.

551

552

553

Sendtner,

554

Ebd.

555

Vgl. auch die Wertung bei Ritter, Goerdeler, S. 259, und Krausnick-Graml, S. 489 f. Datierung jetzt gesichert: vgl. Sendtner, S. 474 ff.; Kosthorst, S. 133, und Halder-Tagebuch,

558

Bd I, S. 245.

S. 455.

XL

Staatsstreichpläne im Winter

1939-1940

565

Papiere"657 mit der Bitte um Durchsicht und Stellungnahme. Dabei deutete er an, daß für etwa gewünschte weitere Auskünfte Botschafter v. Hassell zur Verfügung stünde. Halder las nach Fortgang von Thomas das Material durch und bradite es in den späten Abendstunden dem ObdH. Halder sagte dazu, er habe den ObdH gebeten, das Schriftstück in aller Ruhe durchzulesen, um am nächsten Morgen darüber zu sprechen. Er habe am nächsten Morgen den Oberbefehlshaber ungewöhnlich ernst vorgefunden. Brauchitsch gab Halder das Papier zurück und sagte: „Sie hätten mir das nicht vorlegen sollen. Was hier geschieht, ist glatter Landesverrat. Das kommt für uns unter gar keinen Umständen in Krieg; daß man im Frieden mit einer ausländischen Macht Verdarüber läßt sich reden. Im Krieg ist das für einen Soldaten unmögbindungen anknüpft, lich. Es handelt sich hier übrigens nicht um einen Kampf der Regierungen, sondern um die Austragung von Weltanschauungen. Die Beseitigung Hitlers würde also nichts nützen." Sodann habe der ObdH die Forderung gestellt, den Mann, der dieses Papier überbracht habe, verhaften zu lassen und das Dokument auf dem Dienstweg dahin zu geben, wo es hingehöre. Halder habe ihm damals geantwortet: „Wenn einer verhaftet werden soll, dann bitte verhaften Sie mich558!" Brauchitsch also ging nicht nur sachlich auf den X-Bericht ein, er reagierte vielmehr recht scharf darauf, ohne indessen seinen starken Worten auch Taten folgen zu lassen, als ihm sein Generalstabschef mannhaft entgegnete. Zu diesem Zeitpunkt einige Wochen zuvor hat der ObdH geradezu mit Himmler paktiert, um die ihm leidige Empörung über die SS-Untaten in Polen innerhalb des Heeres zu dämpfen war Brauchitsch im Sinne der Frage. Wir stehen

im

-

Konspiration offenkundig ein „hoffnungsloser Fall"559.

-

Und der Generalstabschef? In Halder selbst waren wie er später aussagte erhebliche Vorbehalte bei der Lektüre aufgekeimt. Das Dokument trug keine Unterschrift, seine Herkunft war nicht festzustellen, Thomas konnte darüber ebenfalls keine Auskunft geben. Vor allem machten einige sachliche Punkte den Generalstabschef skeptisch. „Die Skepsis" so schreibt Kosthorst560 „steigerte sich zu hellem Mißtrauen bei der Formulierung: Entmachtung Hitlers ,und wenn möglich auch des nationalsozialistischen Regimes'." Sodann so gab Halder in seiner Aussage zu bedenken konnte man wirklich darauf rechnen, daß bei einem eventuellen britischen Kabinettswechsel sich eine neue britische Regierung an die Abmachung gebunden fühle? Die Verpflichtungen seien doch äußerlich kaum bindend: „Ich will damit nicht sagen, daß ich nicht in diesem Augenblick alles getan hätte, um Brauchitsch mitzureißen. Aber ich verstehe heute,... daß mein Oberbefehlshaber sich nicht stürmisch auf diesen nicht voll tragfähigen Boden gestellt hat561." Diese Aussage ist auch wenn sie im Rahmen eines Spruchkammerverfahrens erfolgt -

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-

-

-

-

557

Zit. nach Sendtner, S. 476.

558

Aussage vor der Spruchkammer Sendtner, S. 480. Kosthorst, S. 135. Sendtner, S. 480.

559 589 581

am

20. 9.

1948, vgl. Sendtner, S. 479 f.

XL

566

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

nicht bloß eine Erwägung, die lange Zeit nach den Ereignissen erfolgt ist. ist Halder hätte gewiß, wenn Brauchitsch auch nur eine leise Andeutung von Aktionserwägungen seinerseits angedeutet hätte, sofort eingehakt und den ObdH mitzureißen versucht. Das war mehrfach nach dem 5. November, sogar noch im Januar, seine Absicht gewesen562. Im ganzen aber ist wohl nicht zu leugnen, daß er zumal bei Brauchitsch keinerlei diesbezügliche Symptome zu entdecken waren sich zu dem Zeitpunkt, als er den X-Bericht erhielt, inzwischen offenbar „innerlich von dem Gedanken an eine Aktion... ein ganzes Stück abgesetzt"563 hatte. Bevor Halder den Bericht überbracht bekam, hatte Goerdeler in drei Gesprächen zwischen dem 17. März und dem 3. April564 und einem abschließenden Briefwechsel versucht, den Generalstabschef zu einem Staatsstreich zu bewegen. Die Initiative Goerdelers, der offenbar vom Abschlußergebnis der Römischen Gespräche zu dieser Zeit noch nichts wußte, erfolgte zunächst ohne Orientierung anderer Verschwörer565; die Beziehungen unter den Verschwörern hatten sich anscheinend recht gelodtert. Die Hoffnungen, die Goerdeler sich anfangs bezüglich Halders gemacht hatte566, wurden allerdings bald durch Halders abschließenden Brief zunichte -

-

-

gemacht. Beide Männer stimmten in der Beurteilung der Situation überein, nicht jedoch in den daraus resultierenden Konsequenzen und den vorhandenen Möglichkeiten. Halder betonte, er habe jetzt weniger denn je die erforderlichen Mittel in der Hand und auch nicht genügend Rückhalt womit er sowohl auf die mangelnde Geschlossenheit der politischen Opposition wie auch auf die für einen Putsch ungeeignete Stimmungslage im Heer anspielte. Goerdeler hielt dem entgegen567, der Staatsstreich müsse auf jeden Fall gemacht werden, wie er im einzelnen durchgeführt werde, sei Sache Halders und gehöre zu dessen geschichtlicher Verantwortung. Das war nun weniger ein Zusammenprall zwischen den gegensätzlichen Forderungen des Politikers und der Militärs568, sondern das war die Auseinandersetzung zwischen einem militärischen Realisten und einem illusionsgebundenen Oppositionellen, der angesichts der ausweglosen Lage, angesichts des scheinbaren oder tatsächlichen Mangels an Tatbereitschaft seines Gesprächspartners gar nicht mehr bereit war, die ihm entgegengehaltenen Realitäten zu diskutieren, sondern der einfach in den luftleeren Raum hinein Forderungen an seinen Partner richtete. Aufgrund dessen ist es mensdilich verständlich, daß Plaider daraufhin in seinem Brief an Goerdeler ganz hart -

502

Ygl. oben Anm. 322 und

402 dieses

Kapitels.

Kosthorst, S. 138. 564 Zur Datierung vgl. Kosthorst, S. 138. 505 Vgl. Kosthorst, S. 138: „Es ist schwer verständlich, daß in den Tagen, da Oster und Dohnanyi sich bemühten, den X-Bericht durch eine Persönlichkeit von Gewicht an Halder heranzubringen, 563

Goerdeler mehrfach bei Halder war ohne den X-Bericht." Die Verbindung zwischen den außerhalb von Zossen befindlichen Verschwörern scheint demnach in dieser Zeit sehr locker gewesen zu sein. 585 Hassell, S. 140 f. (18.-19. 3. 40). 667 Kosthorst, S. 139. ses \y;e Kosthorst, S. 139, meint. -

XL

Staatsstreichpläne im Winter 1939-1940

567

argumentierte und „bewußt einen Abschluß setzen" wollte569. Mitte Januar, einige Tage vor jenem dramatischen Gespräch mit Beck, hatte Halder zudem in einer Unterredung mit Groscurth570 über die innenpolitische Lage bereits in „sehr vornehme[r], lautere[r] Gesinnung" wie ihm sein durchaus kritischer Gesprächspartner zugestand die Gründe „für sein jetziges Nichthandeln" dargelegt. Er bejahe so berichtet Groscurth den notwendigen uns aufgezwungenen Kampf gegen England571, der doch einmal unvermeidlich sei. Militärisch sähe er jetzt durchaus große Erfolgsmöglichkeiten. Und nach einem Waffenerfolg der Armee sei diese dann so stark, daß sie sich im Inneren durchsetzen könne572. Jetzt aber glaube die Truppe noch an den Führer. Halder „schimpft auf alle Leute, die an Putsch dächten, sich aber nicht einig wären, sich sogar bekämpften, auch meist nur -

-

-

-

reaktionär wären und das Rad der Geschichte zurückdrehen wollten. Die Friedensversicherungen Englands seien alle Bluff, keine sei ernsthaft573." Hier sind klar und zutreffend Lagebeurteilung und Verhaltensabsicht des Generalstabschefs zusammengefaßt: im gegenwärtigen Moment will er nicht handeln. Primäre Gründe für diese augenblickliche konspirative Abstinenz waren einmal die fehlende politische Reife der Truppe und zweitens die mangelnde Geschlossenheit, mehr noch, die inneren Spannungen und Divergenzen der politischen Opposition, die keinerlei zukunftweisendes Konzept zu entwickeln vermocht habe. Hinsichtlich dieser Momente ist die Stichhaltigkeit der Halderschen Argumentation schwerlich in Frage zu stellen574. Das weitere Argument, Englands Unzuverlässigkeit und der britische Kriegswille, ist wohl mehr als zusätzlicher Grund von Halder angeführt worden, entsprach aber durchaus seiner tatsächlichen Meinung575, war aber in seiner Simplizität kaum überzeugend. Schließlich geht aus Halders Darlegungen gegenüber Groscurth hervor, wie der Generalstabschef fortan seine oppositionellen Vorstellungen auffaßte. Er sah die augenblickliche Unmöglichkeit zu handeln ein, gab aber grundsätzlich seine Oppositionshaltung nicht auf576. Er sah für die Zukunft eine andere Möglichkeit sich abzeichnen. Die ausbildungs-, 569

Ebd. S. 140.

579

Groscurth, persönliches Tagebuch, Eintrag

vom

13. 1. 40.

Vgl. Halders Mitteilung vom 15. 10. 1965 an das MGFA in Anm. 439 dieses Kapitels. 572 Groscurth schreibt dazu in seinem Tagebuch, ebd.: „was aber bei einem Festlaufen geschieht, Ja, warum madit man das denn jetzt nicht vor dem Kampf, um im sagt er nicht deutlich Rücken gesichert zu sein?" (Hervorhebung vom Verf.) 573 Groscurth, ebd.: Halder sagte noch, er habe „Witzleben... besdiworen, sich nicht auszu-

571

...

setzen".

Yg]_ dazu Graml und Mommsens Kritik in: Schmitthenner-Buchheim, passim. Auch hier befand er sich im Gegensatz zu Beck, den er als „anglophil" bezeichnete, während er noch in der in gewissen Kreisen des deutschen Bürgertums nicht seltenen wie es scheint Anglophobie befangen war.

574

575

-

-

In diesem Sinne legte er Groscurth (vgl. Tagebuch, Eintrag vom 13. 1. 40) ans Herz, er „solle in seinem Gedankengang" in dessen Kreis wirken. Und durch Tippelskirch ließ er Groscurth er solle sich nicht gefährden, aber „die Fühlung zu den betreffenden Kreisen halten". sagen (ebd.), Groscurth notierte dazu (ebd.): „Also doch!" Gleichzeitig mobilisierte Halder weiterhin alle möglichen Persönlichkeiten, die den ObdH „zu energischer Haltung beeinflussen" sollten (ebd. Eintrag vom 16. 1. 40). Vgl. dazu auch KTB Abt. z.b.V., fol. 200 f., Eintrag vom 16. 1. 40. 578

.

..

XL

568

Staatsstreichpläne im Winter

stimmungs-577 und rüstungsmäßige Verbesserung

der

1939-1940

Streitkräfte, die inzwischen erfolgt

ließ ihn die Aussichten einer Westoffensive überaus optimistisch betrachten. Könnte argumentiert er ein großartiger Waffensieg nicht das Ansehen und das Selbstbewußtsein der Armee so sehr steigern, daß die Truppe dadurch innerlich für eine Aktion gegen das Regime „reifer", also geeigneter wäre? Aber konnte so muß man auch fragen nicht genau der gegenteilige Effekt eintreten, nämlich, daß damit Hitlers Prestige unendlich größer würde? Würde sich der Kriegsgegner, falls er sich durch einen deutschen Waffenerfolg nicht zum Frieden bereit fände, dann nicht gegenüber einer Opposition vielleicht verhärten? Jedoch auch das Gegenteil wäre denkbar. Indessen welche anderen Hoffnungen blieben noch, nachdem ihm klar erwiesen schien, daß jetzt die Lage nicht reif sei? Es blieb nur noch die Hoffnung auf eine im Sinne der Opposition sich zum Positiven wandelnde Situation nach gewonnenem Westfeldzug. Für den Augenblick jedenfalls wollte Halder nicht handeln. Für ihn war die Entscheidung über einen Putsch im Grunde spätestens Ende November gefallen; jetzt hatte er es ganz klar ausgesprochen. Nach diesen Vorentscheidungen ist es klar, daß der X-Bericht am 4. April keine günstige Aufnahme bei Halder fand. Die gutgemeinte Schönfärberei oder Ausschmückung mag seine skeptische Reserve noch verstärkt haben. So hat der Generalstabschef die im Kern doch sehr weitgehenden britischen Zusicherungen nicht zum Anlaß einer nachdrücklichen Intervention beim ObdH genommen. Immerhin hat er trotz seiner Bedenken dieses „hochexplosive" Dokument Brauchitsdi jedenfalls vorgelegt578; aber dessen Reaktion wird ihn in seiner Auffassung von der mangelnden „konspirativen Reife" des ObdH mehr als bestätigt haben. Die Übergabe des X-Berichtes setzte daher keinen neuen Anfang für die Konspiration, sie bewirkte vielmehr einen vorläufig endgültigen Abschluß. Halder, nunmehr der einzige prominente Verschwörer im OKH Stülpnagel war im Winter infolge einer schweren Erkrankung ausgefallen -, war im April nicht mehr zu konspirativen Erwägungen bereit. Für ihn hatte sich die Lage im Hinblick auf eine Aktion noch mehr verschlechtert. Hitlers Prestige in Volk und Armee war infolge der Operation gegen Dänemark und Norwegen gestiegen, der Pessimismus der obersten militärischen Kommandobehörden hinsichtlich der Erfolgschancen im Westen war ins Gegenteil umgeschlagen. Die außerhalb des aktiven Dienstes stehende Opposition aber hatte bisher keinen Beweis größerer Klarheit und Geschlossenheit zu bringen vermocht. Sie selbst war in ihrem Glauben an eine Aktion seit dem Scheitern der Anläufe vom November innerlich gelähmt: Canaris hatte schon seit Novembermitte resigniert; er hielt auch von den Römischen Gesprächen nicht viel579. Gisevius vertrat580 die Ansicht, man müsse erst einen militäwar,

-

so

-

-

-

-

Vgl. KTB Abt. z.b.V., fol. 201 f., Eintrag vom 19.1.40: „Unterhaltung mit Abwehroffizieren ergeben, daß Truppe nicht angriffslustig ist und sich über ein baldiges Festrennen klar ist, daß 577

aber Truppe aus der Untätigkeit heraus will und Disziplin unvergleichlich besser als im Oktober."

daher einen

Angriff

in

gewissem

Grade

begrüßt.

w/je Halder auch in den Wochen zuvor immer wieder direkt oder indirekt versucht hat, Brauchitsch den Rücken zu stärken. Vgl. Anm. 576 dieses Kapitels. 578

579

580

Vgl. Buchheit, Rebellion, S. 254. Gisevius, S. 430.

XL

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569

rischen Rückschlag abwarten. Die Wochen, die man zwischen Abfassung und Übergabe des X-Berichtes verstreichen ließ, zeigen, daß auch bei den radikalen Verschwörern die Dynamik abhanden gekommen war. Es fehlte an Führung, Koordinierung581 und letztlich auch, gewiß teilweise uneingestanden und unreflektiert, der Glaube an einen Erfolg. Es war daher nicht ausschlaggebend, daß Halder im April bewußt einen Schlußstrich setzen wollte582. Ausschlaggebend war primär auch nicht, daß die verschiedenen Kräfte in verhängnisvollem Kreislauf sich gegenseitig behinderten, nicht mehr aneinander glaubten. Entscheidend war vielmehr, daß sich, unterschiedlich akzentuiert und individuell zum Ausdruck kommend, das Gefühl breit machte, daß im Augenblick die Umstände ein Handeln nicht erlaubten, daß die Entwicklung für einen Staatsstreich noch nicht oder schon nicht mehr „reif" sei. War doch diese Frage immer wieder eines der Momente gewesen, an denen sich zwischen den Beteiligten die Debatten, die Auseinandersetzungen, die quälenden Erörterungen und Grübeleien entzündeten. Hier waren oft die Meinungen aufeinandergeprallt: sollte man dennoch handeln? Sollte man abwarten? Oder sollte man gar die „Reife" irgendwie herbeizuführen versuchen? Das mag einer der Ausgangspunkte für Oberst Oster gewesen sein bei dem Versuch, gleichsam durch einen Gewaltakt jenen bösartigen Kreislauf der Ausweglosigkeit zu brechen. Er schritt zu einer Tat, die „wie keine andere der deutschen Widerstandsalle Schranken bewegung patriotischen Herkommens durchbrach ..." und ihr nachträglich unendlich viel empörte Kritik zugezogen hat und bis heute die Erinnerung an ihren sittlichen Heroismus zu trüben droht..."583: Oster hat wiederholt zwischen November 1939 und Mai 1940 über den ihm langjährig befreundeten niederländischen Militärattache, Oberst J. G. Sas, den bekanntlich oft geänderten Angriffstermin584 den Niederländern mitgeteilt; dadurch wurden auch die Belgier und die Alliierten orientiert. Noch am späten Abend des 9. Mai 1940 konnte Sas aufgrund der Mitteilung Osters seiner Regierung telephonisch in kaum getarnter Form melden, daß am nächsten Morgen der Angriff im Westen beginnen werde585. Die fortlaufende Mitteilung des Angriffstermins durch Oster wirft zwei miteinander eng verknüpfte Probleme auf: einmal die Frage, wie diese Handlungsweise zu beurteilen sei, sodann die Frage nach den Motiven Osters. Die bisherigen Beurteilungsversuche offenbaren eine gewisse Zwiespältigkeit. Formal erfüllt die Handlungsweise Osters den Tatbestand des vorsätzlichen und wiederholten Landesverrates in Kriegszeiten. Materiell .

„.

.

.

.

.

...

Vgl. Hassell, S. 150: Beck, so schreibt Hassell am 22. oder 23.4.40, habe schon seit vierzehn Tagen „keine rechte Verbindung mit unseren Leuten" gehabt; es seien daher wohl die Möglich581

keiten verbaut. 582 583

Sendtner, S. 485 f. Ritter, Goerdeler, S. 263. Auf diesem Wege war auch

584 der Termin für das Unternehmen gegen Norwegen und Dänemark in Kopenhagen und Oslo bekannt geworden. Daß Holland angegriffen werden sollte, sagte Oster dem Militärattache bereits Mitte Oktober, den ersten konkreten Termin (12. 11.39) teilte er ihm am 7. 11. 39 mit. Hierzu und zum folgenden vgl. Graml, Der Fall Oster, S. 26 ff. 585 Am 3. 4. 40 hatte Oster auch über Sas die dänische und norwegische Regierung vor dem für den 9. 4. 40 vorgesehenen deutschen Angriff warnen lassen.

XL

570

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gesehen, so hat man eingewandt586, sei allerdings offenkundig, daß bei Oster die Absicht gefehlt habe, dem Reich zu schaden, vielmehr habe er unter höherem Gesichtspunkt gerade beabsichtigt, das Unheil, das seiner Meinung nach eine Kriegsausweitung für Deutschland bedeutete, zu verhindern. Das wirft dann allerdings die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel auf, insbesondere angesichts der Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, die Wirkung seiner Tat unter Kontrolle halten zu können587. Diese ganze, stark unter politisch motivierten, unseres Erachtens historisch aber unnötigen Rcditfertigungsbemühungen stehende juristisch-legálistisdie Betrachtungsweise offenbart einen Fehlansatz durch das krampfhafte Bemühen, eine unkonventionelle Tat mit konventionellen Maßstäben zu messen und rechtfertigend zu beurteilen. Zu einer historischen Beurteilung wird man dagegen nur kommen, wenn man zuvor die Motive zu verstehen versucht. Dafür allerdings fehlen primäre Quellen überhaupt, man bleibt auf Vermutungen angewiesen, denen allerdings ein hoher Wahrscheinlichkeitsgehalt innewohnt. Osters Verteidiger sehen seine Tat letzlich geboren aus abgrundtiefem Haß gegen Hitlers Kriegspläne, gegen seine Vergewaltigungsabsichten gegenüber unterlegenen neutralen Ländern und Völkern. So schreibt Gerhard Ritter dazu: „Den unschuldig Bedrohten, den ungerecht Überfalienen soweit als möglich zu Hilfe zu kommen, sich selbst und seine Freunde weit abzusetzen von dem ,Blutsäufer' und ,Tyrannen' das war ganz einfach der moralisch-politische Antrieb, der ihn alle Schranken formaler Gesetzlichkeit überspringen und in den Augen des offiziellen Deutschlands zum todeswürdigen Verbrecher werden ließ. Um die ganze Tiefe des Widerwillens zu verstehen, der ihn gegen Hitlers Kriegsmethoden erfüllte, wird man wohl auch bedenken müssen, was er alles aus nächster Nähe, als Mitglied der „Abwehr", an Vorbereitungen der widerwärtigsten Art für den Hollandfeldzug miterlebte588." Die haßerfüllte Ablehnung des Regimes und die tiefe sittliche Empörung über den offenkundig verbrecherischen Überfall auf Unschuldige führte bei Oster konsequent zu einer radikalen Änderung der Wertmaßstäbe; gerade um die Jahreswende 1939/40 hat sich so bezeugt einer seiner damaligen Vertrauten Oster intensiv mit dem Problem befaßt, ob es für den Kampf gegen Hitler eine Grenze gebe, vor allem eine Grenze zwischen Hoch- und Landesverrat589. Angesichts der Amoralität des an der Spitze des Vaterlandes stehenden Verbrechers wurde für ihn ein Handeln aus Sittlichkeit und Moral ein höheres Postulat als ein Handeln nach einer vom nationalstaatlichen Denken geprägten Wertordnung. Im Kampf um Sitte, Recht und Anstand konnte die Nation, wiewohl ein hoher Wert, nicht mehr absoluter Wert sein. Oster hatte mit diesem Handeln im Grunde auch nur konsequenter, allerdings radikal konsequenter, gehandelt als die anderen Mitverschwörer; es lag prinzipiell gesehen lediglich ein gradueller Unterschied vor. -

-

-

-

586

Sendtner,

587

Ebd. S. 513:

588

S. 511.

„Rechnung mit Ungewissen Größen." Ritter, Goerdeler, S. 263. Neuerdings gibt Graml, Der Fall Oster, eine differenzierte Auf-

schlüsselung der verschiedenen

589

-

So

Graml,

Der Fall

Motive Osters.

Oster, S. 37.

XL

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571

Auch Weizsäcker und Canaris haben hier und da der Gegenseite oder neutralen Staatsführungen diesen oder jenen Wink gegeben, um böse Pläne und Absichten des Diktators zu durchkreuzen. Und lagen etwa die Attentatserwägungen, denen sich sogar Halder, der persönlich zwar ein Attentat ablehnte, zeitweilig nicht verschlossen hat, nicht auch völlig außerhalb traditioneller Normen? Die Kritik, die sogar von wohlmeinenden Betrachtern gegen Osters Handlungsweise vorgebracht wurde und wird, geht vor allem davon aus, daß diese Tat womöglich Tausenden von deutschen Soldaten den Tod gebracht hätte. Prinzipiell wäre dem entgegenzuhalten, daß denkt man ganz konsequent jede befreiende Tat gegen die totalitäre Tyrannis immer auch in irgendeinem Maße Teile der Nation, die ja, gewollt oder ungewollt, gleichsam das Vehikel des Regimes darstellte, betroffen hätte, daß die Wehrmacht, die Truppe wie immer sie auch innerlich zum System stand gleichzeitig Opfer wie Instrument der Tyrannen war und daher in irgendeinem Maße auch durch einen Gewaltakt mit betroffen werden mußte. Es sei indessen zugegeben, daß das menschliche Gefühl, welches sich nicht, oder doch nicht ausschließlich, von rational-kühlen Prinzipien und Erwägungen leiten läßt, hier Hemmungen bietet, die letztlich nur individuell zu akzeptieren oder zu überwinden sind, meist eben auch nur teilweise bewältigt werden. Dabei tritt als entscheidender Faktor einmal die Persönlichkeitsstruktur dessen ins Spiel, der in extremen Situationen mit derartigen Problemen konfrontiert wird. Nach allem, was wir über Oster wissen, ist es wohl so gewesen, daß auf dieser Ebene die unterhalb der prinzipiellen liegt Oster eben eine leichtere Wesensart besaß, die wohl nicht durch jene vielfältigen Bedenken gehemmt wurde wie bei anderen unter seinen Gesinnungsfreunden. Doch war es wiederum kein leichtfertiges oder gar böswilliges Handeln. Es lag dem doch auch eine höhere, sich über traditionelle Maßstäbe erhebende Moral zugrunde. Letztlich war es ein ganz individueller, persönlicher Gewissensentscheid, den man nur als einen solchen nehmen und feststellen kann590. Im Gewissen begründete und zu begründende Grenzentscheidungen fallen aber nie losgelöst von der jeweiligen konkreten Situation. Sie sind immer eingebunden in eine bestimmte historisch fixierte Lage. So gibt es auch im Fall Oster gewisse Momente, die dem, der die Dinge historisch betrachtet, zur Konkretisierung verhelfen. Da war einmal als ein politisches Moment die Überlegung, zur Rettung der moralischen Vertrauenswürdigkeit der deutschen Opposition in den Augen der alliierten Gesprächspartner beizutragen, denen man, vielleicht zu voreilig und zu bestimmt, über den Vatikan eine Aktion zur inneren Befreiung in Aussicht gestellt hatte591. Auch Josef Müller hat im Auftrag Becks Ende April 1940 seine römische Mission damit abgeschlossen, daß er, gleichsam als Geste der Loyalität gegenüber dem Papst, der sein moralisdies Ansehen für sie verwandt hatte, wie gegenüber dem gegnerischen Gesprächspartner mitteilte, daß ein Umsturz nicht mehr vor der Offensive im Westen durchgeführt werden könne und daß bei diesem unmittelbar bevorstehenden Angriff auch mit einer Neutralitätsverletzung zu rechnen sei592. Mit -

-

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599

591 592

Sendtner, S. 515 f. S. 493. Sendtner, Vgl. So auch

Was dort

längst bekannt war.

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XL

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diesem Hinweis wollte sich die Opposition gleichzeitig nachdrücklich von einem solchen Völkerrechtsbruch distanzieren593. Audi im Zusammenhang mit solchen Überlegungen wird man Osters Handeln sehen müssen. Sodann gibt es noch ein weiteres Moment, das Oster innerlich zu seiner Tat disponiert haben mag. Schon sehr frühzeitig ist in Kreisen der Opposition immer wieder der Gedanke geäußert worden, man müsse, da offensichtlich die psychologische Lage für einen Putsch nicht reif sei, abwarten, bis ein Rückschlag eintreten würde; dann wäre Hitlers Prestige derart angeschlagen und die Stimmungslage in Volk und Armee so strukturiert, daß der geeignete Moment zum Losschlagen gegeben sei. Hassells Tagebücher bieten eine Fülle von Belegen für diese Erwägungen, und je auswegloser die Situation wurde, desto häufiger kam man in jenen Kreisen auf diese „Rückschlagtheorie" zurück. Ihr Ausgangspunkt lag in der übereinstimmenden Prognose nahezu aller militärischen Fachkenner, die von der Aussichtslosigkeit der Offensive zutiefst überzeugt waren504. Zunächst beabsichtigte Oster daher mit seiner Preisgabe der Offensivtermine wohl, daß die gefährdeten Nationen infolge seiner Warnungen Präventiv-Maßnahmen ergriffen, die Hitler von einem Angriff, dem jedes Überraschungsmoment genommen wäre, abhielten. Schließlich aber, als Hitler auf seiner Absicht beharrte und jede Aussicht auf einen Militärputsch schwand, trat die „Rückschlagtheorie" als gewichtiges Motivationselement stärker hervor. Daß damals derartige Gedanken in den Verschwörerkreisen häufig erwogen wurden, ist bekannt. Goerdeler meinte schon am 30. Oktober 1939 zu Hassell, daß man, falls die Militärs vor Offensivbeginn nicht aktiv würden, den „Film zuerst abrollen" lassen und dann den ersten Rückschlag zum Handeln benutzen müsse595. Am 23. Dezember 1939 berichtet Hassell, daß ein dem Regime zwar kritisch, aber nicht der Verschwörung zubrauchten gerade nach gehöriger General die Ansicht geäußert habe, die Generäle dem leichten polnischen Feldzug erst eine wirklich schwere Kriegserfahrung, um zur Erkenntnis zu kommen"506. Gisevius gab wie er am 2. November schon Hassell gegenüber äußerte die Hoffnung auf ein Eingreifen der Generäle vor der Offensive auf, nachher sei es eher möglich597. Wenn die Offensive sowieso am Ende scheitern würde, vor allem wenn die oppositionelle Generalität wie man meinte erst zum Staatsstreich bereit wäre, nachdem Hitlers Prestige in Volk und Armee durch einen militärischen Rückschlag zerstört oder nachhaltig beeinträchtigt worden wäre, dann lag die Erwägung nahe, einen derartigen Rückschlag herbeizuführen zu versuchen. Damit schuf man nicht nur die für einen Umsturz geeignete Ausgangslage, sondern man ersparte der Armee ungeachtet der durch den Verrat verursachten Anfangsverluste jene viel größeren Blutopfer, die ein langes, am Ende erfolg„...

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698 597

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Vgl. Sendtner, S. 493. Vgl. Kordt, S. 369 (Becks Ansicht); Sendtner, Hassell, S. 96. Ebd. S. 111. Ebd. S. 100;

vom

19. 1.40.

vgl. auch Gisevius,

S. 427 f.

S. 389 ff.

(Brauchitsch und Halder).

(11.11. 39) sowie KTB Abt. z.b.V., fol.201 f., Eintrag

XL

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1939-1940

573

Ringen mit sich bringen würde. Das war gewiß eine waghalsige und mit vielerlei Unwägbarkeiten behaftete Überlegung. Immerhin, Oster war schließlich zu derart loses

risikohaftem Handeln bereit, das ihn obendrein mit dem Odium des Landesverräters belasten würde. Er selbst erklärte es mit den Worten: „Man kann nun sagen, daß ich ein Landesverräter bin, aber das bin ich in Wirklichkeit nicht, ich halte mich für einen besseren Deutschen als alle die, die hinter Hitler herlaufen. Mein Plan und meine Pflicht ist es, Deutschland und damit die Welt von dieser Pest zu befreien598." Indessen konnten Oster und seine Freunde den Gang der Dinge nicht wenden; nicht einmal der Versuch einer rettenden Tat war ihnen möglich. Mit der deutschen Offensive im Westen, die am 10. Mai begann, weitete sich der Krieg aus. Der unerwartet rasche und glänzende Sieg der Wehrmacht im Westfeldzug erwarb Hitler „in der deutschen Bevölkerung das Ansehen eines genialen Strategen"599. Die Mahnungen und Befürchtungen der Armeeführung hatten sich als gegenstandslos erwiesen. Das mußte sich nachhaltig auf ihre Position auswirken, zumal auch die nationalsozialistische Propaganda mit ihrer Herausstellung Hitlers als des „größten Feldherrn aller Zeiten" noch das ihre tat, um die führenden Militärs durch den Sieg nicht allzuviel an Prestige gewinnen zu lassen. Die psychologische Lage der Armeeführung wie der Militäropposition war angesichts dieser Situation verheerend. Die Ausweglosigkeit und den Zwiespalt faßte Hassell damals in die Worte: „Niemand kann die Größe des von Hitler erreichten Erfolges bestreiten. Aber das ändert nichts am inneren Charakter seiner Taten und an den grauenhaften Gefahren, denen nun Man könnte verzweifeln unter der Last der Tragik, alle höheren Werte ausgesetzt sind sich an den Erfolgen nicht freuen zu können600." ...

598 599 699

Zit. nach Graml, Der Fall Oster, S. 39. Frido v. Senger und Etterlin, Krieg in Europa, Köln-Berlin 1960, S. 42. Hassell, S. 140 (Eintrag vom 27. 6. 40).

SCHLUSSBETRACHTUNG

Es soll abschließend versucht werden, einige wesentliche Entwicklungslinien nachzuzeichnen. Sie könnten vielleicht die im Vorstehenden dargelegten Einzelheiten, Ereignisse und Entwicklungen so ordnen, daß eine Antwort auf die Frage möglich wird, was in den Jahren von 1933 bis 1940 im Verhältnis des Heeres zum nationalsozialistischen Regime geschehen ist und warum es geschehen ist. Ausgangspunkt war der kurz geschilderte Tatbestand, daß das Offizierkorps mit dem Verschwinden der Monarchie gewissermaßen in ein existenzielles Niemandsland geraten war. Alle Versuche zwischen 1918 und 1933, ihm eine neue Grundlage zu geben, waren entweder zum Scheitern verurteilt oder blieben, im besten Fall, Übergangslösungen. Indessen war das Offizierkorps innerlich weitgehend nicht in der Lage, sich voll mit der parlamentarischen Republik zu identifizieren. Es hing einem abstrakten Staatsideal an, dem es sich über den realen, gegenwärtigen Staat hinaus verpflichtet fühlte. Das hatte unter anderem zur Folge, daß die Armee in diesem Staatswesen ein, allerdings recht labiles, Element von bestimmter politischer Bedeutung wurde. Konkret zeigte sich das in

der Tendenz, durch Abschirmung und Einflußnahme ein Eigengewicht zu bewahren und es nach Möglichkeit und gegebenenfalls auch zur Geltung zu bringen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß die Armee letzten Endes stets von der gesamtpolitischen Kräftelage abhängig geblieben ist. Die These, die Reichswehrführung habe während der gesamten Periode der Weimarer Republik folgerichtig und ohne prinzipielle Wandlungen eine zielbewußte Interessenpolitik verfolgt, ist in dieser Form gewiß nicht zu beweisen. Immerhin ist aber die Frage nach einer etwaigen Kontinuität der politischen Ansichten und Zielvorstellungen der Armee und ihrer vornehmsten Repräsentanten nicht einfach beiseite zu schieben. Allein die Tatsache, daß die Armee, zielbewußt und straff geführt, in diesem instabilen Staatswesen von Weimar nach Anspruch und Wirklichkeit ein Faktor von bestimmtem politischem Gewicht war und sich auch bemühte, dies stets zu bleiben, stellt bereits ein Element der Kontinuität dar. Gerade die innere Situation des Offizierkorps, in die es nach dem Sturz der Monarchie geraten war, z;wang es paradoxerweise dazu. Denn die Alternative wäre gewesen, sich ohne Vorbehalte in die ungeliebte, als wesensfremd aufgefaßte parlamentarische Republik einzuordnen. Das aber hätte die Zumutung bedeutet, mit der ganzen geschichtlichen Vergangenheit zu brechen und sich mit einem Staatswesen zu identifizieren, dessen geistige Wurzeln und Traditionen dem Offizierkorps fremd waren. So deckte sich für die Masse des Offizierkorps der Staat von Weimar nicht mit dem eigenen Vaterlands- und Staatsbegriff. Seine Idealvorstellung ging außenpolitisch in Richtung auf eine nationalstaatliche Großmachtstellung des Reiches, innenpolitisch auf eine autoritäre und, wenn schon republikanische, so doch keinesfalls parlamentarische Struktur. In einem Staat dieser Art wäre der Armee und damit dem Offizierkorps eine besondere Position zugefallen. Die Identifikation der Armee mit dem jeweiligen konkreten

Schlußbetrachtung

575

jedoch bestimmte sich daher von dessen Nähe oder Entfernung zu jenen Zielvorstellungen. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich für unser Thema aufs neue die Frage nach der Staatswesen

Kontinuität über den 30. Januar 1933 hinaus. Haben die verantwortlichen Führer der Reichswehr und des Reichsheeres auch nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung", auch im „Dritten Reich", sich von derartigen Zielvorstellungen bestimmen lassen? Wie weit und in welchem Maße veränderte sich der Grad der Identifizierung gegenüber dem neuen Staate Hitlers? Vor allem, förderte oder beeinträchtigte die veränderte Identifikationsmöglichkeit ein Festhalten an den zentralen Elementen jener Zielvorstellungen, zum Beispiel an dem Bemühen, das besondere Gewicht und die Bedeutung der Armee innerhalb des Staates zu bewahren? Und trifft dies zu, wie lange war ein derartiges Bemühen durchzuhalten in einem totalitären Regime? Die Quellen sprechen in dieser Hinsicht unseres Erachtens eine deutliche Sprache: den verantwortlichen Männern der Reichswehr und des Reichsheeres schien nach 1933 wenigstens im Ansatz eine größere Ubereinstimmungsmöglichkeit mit dem neuen Staat sich abzuzeichnen, so daß damit auch die Möglichkeit näher zu rücken schien, die Armee organischer in diesen Staat hineinwachsen zu lassen. Dieser Staat entsprach innenpolitisch weit mehr den Idealvorstellungen des obrigkeitsstaatlichen Systems, dem das Offizierkorps in hohem Maß hierin breiten Schichten des Volkes gleich noch anhing und dem der parlamentarische Staat von Weimar sehr fern, das „Dritte Reich" dagegen um so näher zu stehen schien. Vor allem schien dieses neue Regime die Voraussetzungen für die Verwirklichung auch der außenpolitischen Zielvorstellungen zu gewährleisten, nämlich die „nationale" Aktivierung und Einigung des ganzen Volkes, und zwar unter Einbeziehung der Masse der Arbeiterschaft. Die pluralistische Vielfalt, auch die innere Zerrissenheit eines von weiten Kreisen nicht akzeptierten Staatswesens, war oder schien nunmehr zugunsten einer kraftvollen „nationalen" Integration beseitigt. Das war gewiß ein Grund, warum auch konservativ gesonnene Offiziere jene vom neuen Regime verkündete „nationale Revolution" bejahen konnten oder doch nicht von vornherein abzulehnen geneigt waren. Auch außenpolitisch versprach Hitlers Regime einem nationalstaatlichen Großmachtdenken genüge zu tun, das zu jener Zeit auch in anderen Teilen Europas noch in Blüte stand und das durch den Ausgang des Ersten Weltkrieges in Deutschland eher noch gesteigert als geschwächt worden war. Zumal die Vertreter der Armee empfanden es als für das Reich allein angemessen; hatten sie doch ihre prägenden politischen Eindrücke in der Zeit des wilhelminischen Kaiserreiches erhalten. Was nun die Stellung und die Rolle der Armee in dem neuen Staat anging, so hatten wie es schien die programmatischen Ausführungen des Kanzlers es doch bewiesen, daß er die Armee geradezu als die neben der Partei wichtigste Säule des wiedererstarkten Reiches betrachtete. Ist es daher verwunderlich, daß die Führung der Streitkräfte nunmehr die Möglichkeit als gegeben ansah, nicht nur der Armee ein gewisses Eigengewicht zu verleihen, sondern sogar auch dadurch, daß sie den neuen Staat mittragen konnten, Mitentscheidung und Teilhabe an der Macht zu gewinnen? Das ist wohlgemerkt nicht in der Art einer „militaristischen Machtgier" zu sehen, als viel-

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Schlußbetrachtung

576

daß sich nunmehr erstmals nach 1918 wieder der Weg zu einer inneren Übereinstimmung zwischen Offizierkorps und Staat zu öffnen schien. In der Zwischenzeit mußte die Armee ihre Vorstellungen und Ideale gegen das herrschende Regime bewahren oder gar durchsetzen; nunmehr konnte sie sie in Übereinstimmung mit dem Staatswesen, dem sie diente, pflegen und verwirklichen; so schien es. In diesem Sinne wurde, was Anspruch und Idealvorstellungen anbetraf, die Kontinuität durchaus nicht unterbrochen, sie wurde vielmehr noch intensiver und profilierter fortgesetzt jedenfalls der Intention nach. Allerdings ergaben sich alsbald beträchtliche Differenzen innerhalb der maßgeblichen Führungsschicht der Streitkräfte. Sie betrafen Art und Weise, wie der Armee eine derartige Stellung im Rahmen des neuen Regimes zu gestalten und zu gewährleisten sein. Der Minister und Oberbefehlshaber sowie vor allem der politisch führende Kopf im Ministerium, der Chef des Ministeramtes v. Reichenau, versuchten, jenes Konzept der Reichswehr unter Ausklammerung der Partei in engster Anlehnung an den „Führer" selbst durchzusetzen. Das verlangte nicht bloß ein bedeutendes Maß an innerer Öffnung gegenüber nationalsozialistischem Gedankengut, zumal es bald galt, mit den Parteirepräsentanten um Einfluß bei Hitler zu konkurrieren. Beide Offiziere waren vielmehr auch davon überzeugt, daß sie, wollten sie ihr Konzept durchsetzen, den Schritt in die Modernität mitmachen mußten, den die Nation in ihren Augen unter der Führung Hitlers zu tun sich anschickte. Das erforderte nicht zuletzt den Verzicht auf mancherlei Traditionsgut und allerlei durch Tradition geheiligte Auffassungen. Ein derartiger Verzicht wurde jedoch, so glaubte man, durch einen Zuwachs an Einfluß aufgewogen. Dieser Art von Politik stellte sich die Heeresleitung unter General v. Fritsch alsbald schroff und unnachgiebig entgegen. Der Oberbefehlshaber des Heeres und sein Chef des Generalstabes billigten im Prinzip durchaus die Grundzüge jenes Konzeptes. Auch sie wollten, daß der Armee ein einflußreicher Platz im neuen Staat gesichert werde. Auch sie wollten diesen Staat als ein autoritäres Gebilde errichtet sehen. Auch sie wünschten, daß das Reich wieder ein bestimmender Faktor im Konzert der Mächte werde. In der Sache stimmten sie insofern mit der Reichswehrführung grundsätzlich überein. Hinsichtlich der Methode, der Art und Weise der Realisierung dieses Konzeptes jedoch vertraten sie alsbald eine weitgehend gegenteilige Auffassung. Bei prinzipieller Anerkennung der nationalsozialistischen Struktur des neuen Staates durch die Armee das war wohl der Sinn des Fritsch-Wortes, die Grundlage der Armee müsse nationalsozialistisch sein war die Heeresleitung der Ansicht, daß die Armee im Rahmen des Regimes ihr Eigenleben führen, eine autonome Sphäre sich erhalten müsse. Nur so könne sie durch Bewahrung und Tradierung überkommener Werte und Grundkräfte auch ihre Eigenschaft als tragendes Element des nationalsozialistischen Staates erhalten. Es war dies im Gegensatz zur mehr dynamischen Methode Reichenaus eine statische, primär abschirmende. mehr

so,

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Diese Diskrepanz in der Methodenfrage, die im übrigen zugleich eine Stilfrage war, darf indessen nicht den Blick vor der Tatsache versperren, daß Heeresleitung wie Ministerium hinsichtlich ihrer Zielvorstellungen von der Rolle der Armee im neuen Staat, im Grunde übereinstimmten. Und diese Zielvorstellungen waren letzten Endes keineswegs neu. In diesem Sinne ist durchaus eine über den 30. Januar 1933 hinaus fortdauernde Kontinuität

Schlußbetrachtung

577

feststellbar. Die Modifikationen entsprachen der neuen Situation, betrafen aber nicht das Grundsätzliche. Die spannungsreiche Diskrepanz der Standpunkte von Reichswehrführung und Heeresleitung lag im taktischen und methodischen Bereich, nicht im Grundsätzlichen. Es wird alsdann die Frage zu stellen sein, wie diese Kontinuität fortgedauert hat. Das Scheitern dieses Konzepts ist im Grunde eines der zentralen Themen dieses Buches; daher erübrigt sich eine Wiederholung im Sinne einer Ablaufskizze. Nur soviel sei gesagt: dieses Scheitern war das Ergebnis eines sieh über mehrere Jahre erstreckenden Prozesses, der nicht immer ganz einfach zu erkennen ist. Teil-, Schein- und Pyrrhus-Siege der Armee, auch zeitweiliges Zurückweichen vorgeprellter nationalsozialistischer Antagonisten, sodann Phasen eines prekären modus vivendi, nicht zuletzt auch eine gelegentliche harmonische Zusammenarbeit verzerrten das Bild. So schien beispielsweise der 30. Juni 1934 für die Reichswehrführung, die Heeresleitung und die Masse des Offizierkorps offensichtlich die große Stunde des Triumphes zu sein. An diesem Tag aber beschritt auch die hewaffnete SS einen Weg, auf dem sie sich zum gefährlichsten Konkurrenten der Streitkräfte entwickelte. Das Endstadium dieses Prozesses, die Phase also, in der das Scheitern des erwähnten politischen Konzeptes offenkundig geworden war, ist allerdings klar zu erkennen: nicht 1933 brach die Kontinuität ab, sondern 1938. Die Versetzung Reichenaus von der Schlüsselstellung im Ministerium weg zu höheren Truppenkommandos außerhalb von Berlin seit 1935 sowie sein allmählich schwindender Einfluß waren bereits Symptome einer in diesem Sinne negativen Entwicklung. Der Sturz Blombergs, die Beseitigung Fritschs, schließlich der Rücktritt Becks im Jahr 1938 bezeichneten das Ende, den Bruch der Kontinuität. Bis zum Abgang dieser Männer, die so verschieden in ihrer ganzen Art waren, war jedenfalls dem Anspruch und der Intention nach jene Vorstellung von der Rolle der Armee im Staat trotz allem tatsächlichen Machtverlust noch aufrechterhalten und vertreten worden. Zuletzt war es allein Beck, der einsam und konsequent, in seinen Denkschriften vom Sommer 1938 vor allem, nochmals die exklusive und mitverantwortliche Beratung und Mitwirkung der berufenen Führer der Armee bei den Entscheidungen über die außenpolitische Linie des Reiches forderte. Daß hinter diesem Konzept der Teilhabe an den Entscheidungen und damit, indirekt, an der staatlichen Macht ein besonderes Ethos und nicht bloß rein egoistische Macht- und Interessenpolitik des Militärs stand, zeigte sich dann, als Beck angesichts einer bedenkenlosen Staatsführung und deren Risikopolitik schließlich in Ausweitung jenes Konzeptes sogar eine Art verantwortlicher Wächterrolle der militärischen Spitze in Extremlagen proklamierte und sich für ein Eingreifen gegen jene Kräfte der Staatspartei einsetzte, die der Position der Armee in diesem Staate Abbruch zu tun trachteten. Blombergs Nachfolge trat Hitler selbst an, Keitel wurde sein Erfüllungsgehilfe. Damit war die selbständige Wehrmachtspitze beseitigt. Fritschs Nachfolger an der Spitze des Heeres, Brauchitsch, verzichtete von vornherein auf jedes eigenständige Konzept. Er trachtete lediglich danach, und zwar am Ende vergeblich, sein Ressort von fachfremden und parteimäßigen Einflüssen freizuhalten. Für ihn war das Äußerste, was er sich gegenüber der Staatsführung zugestand, fachlich begrenzte und begründete Opposition im Rahmen seines Ressorts. .'17

Schlußbetrachtung

578

Becks Nachfolger, Halder, der schon früh aufgrund seiner Einsicht in das Wesen des HitlerRegimes die Haltung der Reichswehrführung skeptisch betrachtete und die Heeresleitung nach Kräften aufzuklären trachtete, zog die Konsequenzen. Er öffnete sich dem Gedanken an einen Staatsstreich. Spätestens vom Sommer 1938 an war damit die Kontinuität einer

„Politik der Armee" im Sinne der Erringung und Erhaltung einer eigenständigen Position

von

Gewicht auf der Basis einer

weitgehenden Übereinstimmung mit den Grundlagen des

Brauchitsch und Halder den Vorwurf macht, sie hätten die Sache der Armee gegenüber Hitler und dem Regime nicht genügend verteidigt, so trifft das für Halder gewiß nicht zu. Man darf nicht allein die Mißerfolge und die Fehler der neuen Heeresführung hervorheben, man muß bei einem gerechten Urteil auch die Ausgangsbasis berücksichtigen, von der aus diese Führung handeln mußte. Man mag Brauchitsch vorwerfen, daß er nie über die Grenze seines Ressorts hinausgegriffen habe, daß er sogar Eingriffe in seinen Bereich nicht verhindert habe, daß er bisweilen verhängnisvolle Schwäche zeigte und manchen Verstrickungen nicht entging, keinesfalls ist jedoch zu übersehen, daß die Ausgangsposition, von der aus der neue ObdH handeln mußte, für die Durchsetzung eines wie auch immer gearteten eigenständigen Konzeptes denkbar ungünstig war. Es ist die Frage berechtigt, ob überhaupt 1938 noch eine Basis dafür gegeben war. Verneint man sie, so ist diese Tatsache nicht allein dem neuen ObdH anzulasten. Vielmehr war der Macht- und Substanzverlust auch eine Folge jener Politik der alten Wehrmachtsund Heeresführung. Die Reichswehrführung, insbesondere Reichenau mit seiner Devise „Hinein in den neuen Staat", hatte auf vielen Gebieten und in vielerlei Hinsicht gerade mit der von ihr praktizierten Methode die eigene Basis gründlich unterhöhlt: ideologische Einbrüche in Erziehungs- und Bildungsfragen, dazu entsprechende personalpolitische Konsequenzen wie z.B. die Einführung des Arierparagraphen; weiterhin Konzessionen dort, wo Unnachgiebigkeit am Platze gewesen wäre, so in der Frage bewaffneter SS-Verbände; politische Abstinenz dort, wo sie unangebracht war, wie im Kirchenkampf; moralisch bedenklicher Opportunismus, wo die eigenen Interessen ein Einschreiten, mindestens aber eine grundsätzliche Abwehr erfordert hätten, beispielsweise gegenüber der Aktivität des SD und der politischen Polizei. Alle diese Vorgänge und Verhaltensweisen haben fraglos zu einer hochgradigen Reduzierung des Gewichtes der Armee beigetragen, obwohl mit dieser machiavellistischen Risiko-Politik gerade das Gegenteil, nämlich die feste Fundierung der Armee im neuen Staat, hatte erreicht werden sollen. Von bewußter Duldung und ungewollter Beihilfe zu terroristischen Maßnahmen, von dem Eindringenlassen rassistischer Ideen und Vorschriften in den Raum der Armee während der ersten Jahre führte eine direkte Entwicklungslinie zu dem Dilemma, vor das sich dann 1939/40 der ObdH angesichts der Greueltaten von SD und SS in den besetzten polnischen Gebieten gestellt sah. Staates

abgebrochen.

Wenn

man

aus Sorge um die von der SA in Frage gestellte Machtposition eingegangene zeitweilige Aktionsgemeinschaft mit der SS führte dazu, daß einem gefährlichen Rivalen das

Die

Feld eröffnet wurde, auf dem dann eine Konzession nach der anderen zu machen war, die alle auf Kosten der eigenen Stellung gingen. Das OKH von 1938/39 hatte demgegenüber nur noch sehr geringen Manövrierraum.

Schlußbetraditung

579

Die Taktik der Heeresleitung unter Fritsch dagegen, ihre Abschließungs- und Autonomiebemühungen, ließen sich auf die Dauer nicht durchhalten, da sie gleichzeitig auch die aufrichtige prinzipielle Anerkennung des nationalsozialistischen Staates und seiner Struktur sowie teilweise wenigstens auch der nationalsozialistischen Ideologie implizierten. Dem lag der im konservativen Raum nicht seltene Irrtum zugrunde, den Nationalsozialismus als nationalistische, gegenrevolutionäre Kraft anzusehen und den nationalsozialistischen Staat als autoritäres Gebilde zu begreifen. Die Folge war eben die Unmöglichkeit, die eigenen Reihen geschlossen zu halten und damit die Kraft der geistigen und strukturellen Homogenität zu wahren, zumal diese Homogenität sich in wesentlichen Elementen bereits aufzulösen begonnen hatte. Es ist fraglich, ob eine konsequente radikale Abkapselungstaktik das Heer vor innerer Aushöhlung und Machtverlust bewahrt hätte; sicher ist allerdings, wie die Entwicklung zeigte, daß die Bewahrung einer inneren Eigenständigkeit der Armee bei gleichzeitiger Anerkennung der nationalsozialistischen Struktur ein vergebliches Unterfangen war. Das Eindringen der nationalsozialistischen Ideologie als „Parteidoktrin" verhindern zu wollen, gleichzeitig jedoch den Nationalsozialismus als Grundlage des Staates und damit auch der eigenen Institution anzuerkennen, das bedeutete, die Quadratur des Kreises zu versuchen. Wie läßt sich all das erklären und verstehen? Gewiß nicht, indem dieser oder jener Persönlichkeit die Schuld zugeschoben oder eine verhängnisvolle Konstellation von Umständen als letzte Wirkursache herausgestellt wird. Gerade an dem Schnittpunkt von Ideologie und Realpolitik wird das Problem faßbar. Ralf Dahrendorf und David Schoenbaum haben darauf hingewiesen1, daß der Nationalsozialismus zwar unbeabsichtigt, aber folgerichtig und notwendig eine soziale Revolution bewirkt habe. Konkret bedeutete dies die Zerstörung der überkommenen Klassenstruktur, was sich etwa in dem Begriff des „Volksgenossen" ausdrückte. Der Nationalsozialismus bemühte sich, überkommene Bindungen und Loyalitäten, gebundene, traditionelle Strukturen und Schichtungen aufzulösen, weil sie Hemmnisse bei der Durchsetzung einer totalitären Herrschaft waren. Damit aber öffnete er gleichzeitig das Tor zur modernen industriellen Leistungsgesellschaft, zur egalitären Gesellschaft. Das Dilemma und das Verhängnis gewisser autoritärer und konservativer Gruppen lag nun gerade darin, daß sie diese Sozialrevolutionäre Komponente des Nationalsozialismus nicht erkannten, ihn vielmehr als nationalistische, gegenrevolutionäre Kraft mißverstanden wozu die gegen die „marxistische Revolution" gerichtete nationalsozialistische Propaganda nicht wenig beitrug. Die konservativ-autoritäre Abschließungstendenz der Heeresleitung bei gleichzeitiger Bejahung des „Dritten Reiches" mußte geradezu zwangsläufig die Heeresleitung in die Rolle des unmodernen, ja antimodernen und damit reaktionären Elementes verweisen. Das Dilemma war um so größer, als auch die Verantwortlichen im OKH teilweise die -

Notwendigkeit einer Öffnung in die Zukunft nicht übersehen konnten. 1

Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in

Deutschland, München 1967,

S. 431 ff.

(Ka-

pitel: Das nationalsozialistische Deutschland und die soziale Revolution) und Schoenbaum, Hitler's social revolution, a. a. O.

580

Schlußbetrachtung

Wenn Fritsch seine Erlasse zur Offizierserziehung ungeachtet aller sozialen Wandlungen im Prinzip an einem feudalistischen Offiziersleitbild ausrichtete, wenn er beim Offiziersnachwuchs nicht das Kriterium der modernen Leistungsgesellschaft, die Bildungsqualifikation, sondern innere Einstellung und Herkunft höher zu bewerten neigte, dann zeigt das die Antimodernität seiner autoritären Grundeinstellung. Blomberg dagegen dachte mit seiner Propagierung des „Volksgemeinschafts"-Ideals auf dem Gebiet der Offizierserziehung viel moderner, zugleich allerdings auch nationalsozialistisch doktrinär. Die ganze Hilflosigkeit konservativ-autoritärer Einstellungen angesichts der komplexen Problematik moderner Sozialstrukturen zeigt sich in der Faszination, mit der Fritsch Hitlers vermeintlichen oder tatsächlichen Erfolg bei der Arbeiterklasse betrachtete. Daß es dem Nationalsozialismus augenscheinlich gelungen war, was man sich selbst nicht mehr zutraute, nämlich gerade in den breiten Kreisen der Nation, insbesondere der Arbeiterschaft, „Wehrfreudigkeit" und sogenannte „nationale Gesinnung" zu wecken, bewunderte nicht nur der höchste Offizier des Heeres; auch Reichenau war davon beeindruckt. Aber er wie auch sein Minister versuchten, in dieser Hinsicht die Armee mitzuziehen, und zwar ebenso sehr aus Einsicht in die Notwendigkeit eines Durchbruches zur Modernität wie aus taktischen Überlegungen. Männer wie Fritsch, Beck und Weichs blieben im ganzen unbeweglich-defensiv dem Überkommenen verhaftet. Für sie stellte es individuell noch lebendige Wirkkräfte dar. Diese trachteten sie für das Offizierkorps zu bewahren. Augenscheinlich aber hatten sie hinsichtlich der Allgemeingültigkeit und der aktuellen Wirkmöglichkeit der überkommenen Wertvorstellungen bereits ihre Zweifel. Lag darin vielleicht die Faszination begründet, die Hitlers psychologisch-politische Erfolge im Volk bei ihnen hervorrief? Die innere Schwäche des Offizierkorps wilhelminischer Provenienz wird an dieser Problematik offenkundig. Die Defensivmethode der Heeresführung wie auch der Versuch Blombergs und Reichenaus, durch kontrollierte Anpassung und Öffnung das politische Konzept der Armee durchzusetzen, die Partei gleichsam zu „überhitlern", waren unter diesem Aspekt Symptome einer Anpassungskrise. Sie ergab sich nahezu unvermeidlich für eine noch mit wesentlichen Strukturelementen in der monarchischen Zeit wurzelnden Armee bei dem Übergang in die Moderne. Diese Krise erfuhr dadurch eine besondere Verschärfung, daß sie gleichzeitig im Rahmen einer Konfrontation mit einem totalitären Regime erfolgte. Nicht von ungefähr machten sich die ersten Regungen eines grundsätzlichen Widerstandes im Räume des Heeres gerade in der Phase des offensichtlichen Scheiterns jenes erwähnten Konzeptes bemerkbar. Ein derartiger Widerstand kann angesichts der allmählich deutlichen Reduzierung des Eigengewichtes der Armee unter anderem auch als spezielle Reaktionsweise auf diesen Prozeß angesehen werden. Es war aber auch eine Reaktion, die ihre Dynamik und Konsequenz aus der nunmehr aufkeimenden Erkenntnis des wahren Wesens dieses Regimes erhielt. Dies trifft für Männer wie Halder, Oster, Witzleben, auch Stülpnagel und Canaris offensichtlich zu. Sie hatten jenes konservative Mißverständnis des Nationalsozialismus überwunden. Andere Verhaltensweisen und Reaktionen auf die Lage der Armee im „Dritten Reich" waren Brauchitschs zäher Kampf um fachliche Ressortautonomie, Jodls gläubige Gefolgstreue gegenüber dem „Führer", auch der resignierende Rückzug vieler auf die Pflichterfüllung im eigenen begrenzten Bereich.

Schlußbetrachtung

581

Krausnick2 hat bereits auf das eigentümliche Phänomen hingewiesen, daß im militärischen Raum erst dann Widerstandsregungen aufkeimten, als durch die Risiko- und Kriegspolitik Hitlers das Reich in eine außenpolitische Katastrophe hineingesteuert zu werden drohte. Die innenpolitischen Zustände, die Rechtlosigkeit, der Polizeiterror, der unbarmherzige Kampf gegen politische und weltanschauliche Gegner, die Rassenpolitik, all das hat wohl Kritik, herbe Kritik auch, und starken Unwillen hervorgerufen, nicht aber den Willen zu energischem Einschreiten. Daß dies so war, habe tief in der Entwicklung der deutschen Militärtradition gelegen. Das trifft gewiß insofern zu, als die deutsche Armee, nach Halders Worten, keine putschgewohnte Balkanarmee war. Es stimmt aber nicht, wenn man meint, der Soldat habe seinen Blick stets nach außen, gegen den potentiellen Gegner gerichtet, sich dagegen an innenpolitischen Problemen desinteressiert. Selbst zur Zeit der Monarchie, als sich das Offizierkorps auch in innenpolitischer Hinsicht durch die Krone garantiert wußte, war das nicht durchgehend der Fall. Nach der Katastrophe von 1918 indessen wurde jenes quasi-politische Konzept der Armee gleichsam zu einem Instrument innenpolitischer Selbstbehauptung innerhalb einer staatlichen Ordnung, mit der eine Identifikation kaum möglich zu sein schien. Nach 1933 wurde dieses Konzept nicht grundlegend geändert, sondern lediglich den neuen Verhältnissen angepaßt. Die allerdings bedeutsame Modifikation lag nun darin, daß das neue Regime aufgrund seines anscheinend „nationaleren" und damit auch „wehrfreudigeren" Charakters offensichtlich ein höheres Maß an Identifikation zu erlauben schien als das vergangene System. Die „ZweiSäulen-Theorie", nach der die Armee eine der beiden tragenden Pfeiler des HitlerRegimes sein sollte, war Hitlers taktisch raffiniert formulierte Antwort auf diese gewiß illusionäre Einschätzung des Regimes. Gerade in der Verkennung des Wesens des nationalsozialistischen Staates, in der Fehlinterpretation des totalitären Einparteiensystems als eines Regimes dynamischer Großmachtpolitik lag es nicht zuletzt begründet, daß ein Widerstand gegen das Regime aus den Reihen der Armee am Ende erst so spät und dann primär aufgrund von außen- und nicht von innenpolitischen Anstößen erfolgt ist. Gerade deshalb nahm man auf dem innenpolitischen Felde so lange vieles als Schönheitsfehler, als ärgerniserregende Fehlhaltungen und verabscheuungswürdige Ausschreitungen eines an sich als positiv aufgefaßten Systems hin. Man erkannte von wenigen Ausnahmen abgesehen und der Mehrheit des Volkes darin ähnlich nicht, daß gerade in dem, was man als bedauerliche Exzesse ansah, sich das Wesen jenes Regimes ausdrückte. Daher wurde zwar die Abstellung vermeintlicher Mißstände gewünscht wobei allerdings die Neigung, problematische Methoden bei der Ausschaltung von innenpolitischen Gegnern der „nationalen Wiedergeburt" unter Umständen zu tolerieren oder gar zu billigen, nicht gering war. Daher war das Offizierkorps auch in Fällen, wo Vertreter oder Organisationen des Regimes sich Übergriffe in die eigene Sphäre erlaubten, zu recht massiven Abwehrreaktionen bereit; daher erwogen führende Köpfe der Armee für den äußersten Fall gar die Möglichkeiten einer Säuberung und damit vermeintlichen Verbesserung des Regimes; aber die Axt an die Wurzel zu legen, gegen das System als solches anzugehen, dieser -

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2

Krausnick, Vorgeschichte,

S. 319 f.

Schlußbetrachtung

582

Gedanke war den meisten lange Zeit nicht nachvollziehbar. Er lag zudem weitgehend außerhalb des Denk- und Vorstellungsbereiches einer deutschen Armee. In den innenpolitischen Herrschaftsmethoden erkannte man nicht das Zerstörerische des Regimes. Erst im außenpolitischen Hasardspiel enthüllte es sich einigen führenden Soldaten. Nicht von ungefähr kam ein Mann wie Beck gerade zunächst durch die Empörung über die Methode und nicht primär über die Prinzipien der außenpolitischen Entschlüsse Hitlers zu einer allmählich immer entschlosseneren Abkehr vom Regime, die dann schließlich auch prinzipiellen Charakter gewann. Die Prinzipien eines nationalen Machtstaatdenkens, dem die Vertreter jener deutschen Militärtradition in zeitgemäßer Abwandlung Revision von der deutschen aller Kräfte im Versailles, Verbesserung Machtstellung, Zusammenfassung Raum sich verpflichtet wußten, vermeinten sie, nicht völlig zu Unrecht innenpolitischen übrigens, lange Zeit auch in Hitlers Politik zu erkennen. So war der Weg zum Widerstand, beschwerlich an sich schon für die in Befehl und Gehorsam, Loyalität und Eidesbindung verhafteten konservativen Militärs, sehr weit, für manche allzu weit. Vielfältig waren die inneren Schwierigkeiten der Militäropposition. Sie trugen in hohem Maße zu ihrer Ineffektivität bei, die ebenfalls tiefere Gründe hatte als unglückliche Zufälle oder ungünstige Konstellationen, die sich etwa gerade immer dann einstellten, wenn zur Tat geschritten werden sollte. Die Heterogenität des militärisch-bürgerlichen Widerstandes konservativer Herkunft, die sich nicht nur in einer vielschichtigen Zusammensetzung, sondern vor allem in dem extremen Auseinanderklaffen von Zielen und Methoden ausdrückte, war gewiß ein gewichtiger Faktor für das ständige Scheitern der Konspiration. Sie gründete schließlich auch in der unterschiedlichen Entschlossenheit, die den Widerstand der verschiedenen oppositionellen Gruppen und Einzelpersönlichkeiten kennzeichnete. Diese -

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wiederum weitgehend bestimmt sowohl von der jeweiligen Einschätzung des Regimes als auch von den jeweiligen eigenen politischen Ordnungsvorstellungen, genauer gesagt von dem Maße ihrer Distanz zur nationalsozialistischen Gedankenwelt und dem Willen, überkommene politische Strukturvorstellungen in Frage zu stellen. Da beides jedoch auch symptomatisch ist für einen umfassenden Wandlungsprozeß der deutschen Gesellschaft, wird man füglich als Kriterium der historischen Beurteilung dieser Phänomene nicht die eine oder andere der Widerstandsgruppierungen, etwa die behutsamsten oder die radikalaktivistischen Persönlichkeiten, zum Maßstab nehmen dürfen. In ihrer überwiegenden Mehrzahl waren sie alle noch, wenn auch in unterschiedlichem Maße, geprägt durch nationalstaatliche und konservative Wertvorstellungen. Wohl waren die jeweiligen Bindungen des einzelnen an sie von unterschiedlicher Intensität. Einige wenige Männer waren sogar im Zuge ihrer individuellen Entwicklung, die nicht zuletzt durch die Konfrontation mit dem totalitären Regime grundlegend beeinflußt worden ist, an einen Punkt gekommen, von dem an sie sich aus den herkömmlichen Bindungen zu lösen begannen. Sie waren dabei, zu ganz neuen Wertvorstellungen durchzustoßen, innerhalb derer die Nation, der Nationalstaat im Sinne des nationalen Machtstaates keine höchsten Werte mehr waren. Sie fanden neue Loyalitätsbindungen, sahen sich gezwungen, bisherige Loyalitätsbinwar

dungen aufzugeben. Eidesverpflichtung und Bindung an den Obersten Kriegsherrn wurden relativiert. In diesem Prozeß mußten sie durch Konfliktskonstellationen

hindurchgehen,

Schlußbetrachtung

583

die zuvor kaum vorstellbar waren. Manche blieben dabei auf dem Wege stehen, anderen blieb nur noch der Rückgriff auf die Instanz des eigenen Gewissens als einziger Ausweg. Das alles war typisch für eine Entwicklung, die ebenso in den Rahmen der Krise des Nationalstaates hineinzustellen ist wie in den des Mächtigwerdens der Ideologien. Um die ganze Vielfalt der Verhaltensweisen und Entwicklungsmomente erkennen und verstehen zu können, wird ein einseitiger oder zu enger Maßstab kaum nützlich sein. Keine monokausale Erklärung wird der verschlungenen und komplizierten Entwicklung des Verhältnisses von Armee und nationalsozialistischem Regime gerecht werden können. Die Berücksichtigung persönlichkeitsgebundener Faktoren der Handelnden der nüchterne Realismus eines Halder, und die draufgängerische, phantasievolle Dynamik Osters, der politische Machiavellismus Reichenaus und die unpolitisch-reaktionäre Starrheit Fritschs, Becks hohe, historisch geprägte Geistigkeit und Jodls irrationale Gläubigkeit -, dazu die Einsicht in die Begrenztheit und Anfälligkeit der traditionsbedingten, das Handeln und Reagieren in erheblichem Maße determinierenden politischen Wert- und Zielvorstellungen des Offizierkorps und seiner Repräsentanten, nicht zuletzt auch die Erkenntnis zahlloser Schwierigkeiten und Probleme, die aus der spezifischen Struktur eines militärischen Organismus herrühren, alle diese Faktoren müssen in Ansatz gebracht werden, um jene Entwicklung historisch einigermaßen erfassen zu können. Sie wiederum ist zu verstehen als Teil des umfassenden Wandlungsprozesses von Staat und Gesellschaft in Deutschland während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. -

DOKUMENTENANHANG

Übersicht 1. Brief des Majors i. G. Beck vom 28. November 1918 an seine Schwägerin 2. Richtlinien des Reichswehrministeriums für die Wehrpropaganda vom 21. November 1933 3. Erlaß des Reichswehrministers vom 28. Februar 1934 über die Anwendung des § 3 (Arier-

paragraphen) des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" auf die Soldaten der Reichswehr 4. Denkschrift des Chefs des Generalstabes des Wehrkreiskommandos III (3. Division), Oberst i. G. von Manstein, über die nachträgliche Anwendung des Arierparagraphens auf die Wehrmacht nebst Anschreiben an den Chef des Truppenamtes vom 21. April 1934 5. Endgültige Zusammenstellung der Zahl der durch die Einführung des Arierparagraphens betroffenen Soldaten der Reichswehr 6. Brief des Reichswehrministers an den Stabschef der SA vom 18. Januar 1934 7. Vorschlag für die Zusammenarbeit mit der SA vom 27. Februar 1934 nebst Anschreiben des Chefs des Truppenamtes vom 18. Mai 1934 8. Schreiben des Wehrkreiskommandos (Bayer.) VII vom 21. April 1934 zur Weitergabe der Anordnung des Chefs der Heeresleitung über die Durchführung des „Vorschlages" durch die SA 9. Anordnung des Reichswehrministers vom 21. April 1934 über Intensivierung und Akzentuierung der Wehrmachtspropaganda 10. Brief des Chefs des Generalstabes des Gruppenkommandos 2, Generalleutnant Geyer, an den Chef des Ministeramtes, Generalmajor von Reichenau, vom 3. April 1934 über das Verhältnis des Offizierkorps zu Repräsentanten der Partei 11. Bericht des Reichswehr-Meldeamtes Weiden an die Kommandantur Regensburg vom 16. Mai 1934 über eine Besprechung mit der SA-Standarte 6 12. Anordnung des Reichswehrministers vom 2. April 1935 über die Behandlung der Ermordung der Generäle von Schleicher und von Bredow 13. Bericht des Wehrkreiskommandos (Bayer.) VII vom 11. Juli 1935 an den Oberbefehlshaber des Heeres über die Besichtigung bewaffneter SS-Einheiten 14. Bericht des Artillerie-Führers (Bayer.) VII, Generalmajor Halder, vom 22. Dezember 1934 über die innerpolitische Lage an den Befehlshaber im Wehrkreis (Bayer.) VII, Generalleutnant Adam 15. Schreiben des Reichskriegsministers vom 12. Oktober 1935 an den „Stellvertreter des Führers", Reichsminister Heß 16. Bericht des Artillerie-Führers (Bayer.) VII, Generalmajor Halder, an das Wehrkreiskommando (Bayer.) VII vom 28. November 1934 über das Verhältnis zu SS 17. Schreiben des Chefs der Heeresleitung vom 13. Mai 1935 mit Weitergabe eines Rundschreibens des „Stellvertreters des Führers", Reichsminister Heß, zur Unterrichtung der Truppe 18. Schreiben des Chefs des Wehrmachtamtes, Generalleutnant W. Keitel, vom 3. Dezember 1937 an die Wehrkreiskommandos mit Weitergabe einer Anordnung des „Stellvertreters des Führers", Reichsminister Heß 19. Schreiben des Chefs des Wehrmachtamtes, Generalleutnant W. Keitel, vom 4. November 1937 an die Wehrkreiskommandos mit der Weitergabe einer Anordnung des „Stellvertreters des Führers", Reichsminister Heß, an die Dienststellen der NSDAP über die Behandlung von Zwischenfällen zwischen Wehrmacht und Partei 20. Schreiben des Kommandeurs des Infanterie-Regiments 19, Oberst Himer, vom 12. Juni 1937 an den Kommandeur der 7. Division über das Abhören von Ferngesprächen durch die Politische Polizei

Dokumentenanhang/Übersicht

586

21. Erlaß des Reichskriegsministers vom 30. Januar 1936 über politische Erziehung und Unterrichtung in der Wehrmacht 22. Anordnung des Kommandierenden Generals des VII. Armee-Korps, General der Artillerie von Reichenau, vom 30. Juni 1937 über nationalpolitisdie Erziehung 23. Geheimerlaß Hitlers vom 13. Mai 1936 über „Rassenpflege" in der Wehrmacht 24. Vortragsnotiz des Majors i. G. Rössing, T 3/Attaché-Gruppe, vom 22. März 1934 über ein Gespräch mit einem chinesischen Diplomaten 25. Schreiben des Chefs der Organisationsabteilung des Truppenamts, Oberstleutnant i. G. von Sodenstern, vom 7. Dezember 1933 und Entwurf einer Regelung der „Befugnisse der obersten politischen und militärischen Führung im Krieg und Frieden" 26. Stellungnahme des Chefs der Ausbildungsabteilung im Truppenamt, Oberstleutnant Reinhardt, vom 16. Dezember 1933 über den Entwurf der Organisationsabteilung zur Regelung der

Organisation der obersten politischen und militärischen Führung Truppenamtes, Generalleutnant Beck, der obersten Führung Organisation

27. Denkschrift des Chefs des

vom

15.

Januar

1934 über die

Generalstabes des Heeres, General der Artillerie Beck, vom 12. Mai 1936 den Präsidenten der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres, Professor Wolfgang

28. Brief des Chefs des an

Foerster 29. Schreiben des deutschen Militär-Attaches in

Paris, General von Kühlenthal, vom 10. März 1967 den Chef des Generalstabs des Heeres, General der Artillerie Beck, mit der Anregung eines Besuches des Generalstabschefs in Paris 30. Schreiben des Chefs des Generalstabs des Heeres, General der Artillerie Beck, vom 31. März 1937 an den deutschen Militär-Attache in Paris, General von Kühlenthal, über eine Parisreise 31. Aufzeichnung von einer Kommandeurbesprechung bei der 10. Division am 7. Februar 1938 über die mit dem Ausscheiden des Reichskriegsministers und des Oberbefehlshabers des Heeres an

gegebene Lage

32. Schreiben des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen

Polizei, Himmler,

vom

29.

Juli

1942

Reichsmarschall Göring über die Exekution des Belastungszeugen gegen den Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Freiherr von Fritsch, nebst einem ärztlichen Gutachten als an

Anlage

Orientierung der dem Generalkommando VII. Armee-Korps unterstellten Dienst- und Kommandostellen über eine Stellungnahme des OKW vom 10. Februar 1938 zur Resonanz des Revirements vom 4. Februar 1938 in der Presse 34. Niederschrift: Stellungnahme zum Fall des Generaloberst Freiherrn von Fritsch 35. Erlaß des Chefs des OKW, General der Artillerie W. Keitel, vom 7. Februar 1938 über die Organisation des Oberkommandos der Wehrmacht 36. Niederschrift eines Vortrages des Chefs der Amtsgruppe Ausland/Abwehr, Konteradmiral Canaris, anläßlich einer Ic-Besprechung im OKW am 3. März 1938 37. Orientierung über die Ic-Tagung vom 3. März 1938 im OKW durch das Generalkommando 33.

Armeekorps vom 7. März 1938 1. und 2. Nationalpolitischen Lehrganges 1938/39 an der Kriegsakademie 39. Bericht des Chefs des Amtes für Angelegenheiten der Reichsverteidigung im Persönlichen Stab des Reichsführers SS, SS-Oberführer Petri, vom 22. März über Unterstützung der Wehrmacht bei der Ausrüstung der SS-Verfügungstruppe VII.

38.

Programme des

40. Denkschrift des Chefs

des Generalstabes des Heeres, General der Artillerie Beck,

Kriegsvorbereitungen gegen die Tschechoslowakei 41. Aufzeichnung aus den Akten des Chefs des Generalstabes des Heeres, Beck, vom 29. Juli 1938

vom

3.

Juni

1938 über

General der Artillerie

42. Brief des Kommandeurs der 18. Division (Liegnitz), Generalleutnant von Manstein, 21. Juli 1938 an den Chef des Generalstabes des Heeres, General der Artillerie Beck

vom

Dokumentenanhang/Übersicht

587

43. Brief des Chefs des Generalstabs des Heeres, General der Artillerie Beck, an den Kommandeur der 18. Division, Generalleutnant von Manstein 44. Befehl des Oberbefehlshabers des Heeres vom 20. Juni 1939 über die Zusammenarbeit des Heeres mit der SS-Verfügungstruppe 45. Schreiben des Oberbefehlshabers des Heeres vom 21. September 1939 an die Heeresgruppen-

und Armee-Oberbefehlshaber und Militärbefehlshaber in den besetzten Ostgebieten über Tätigkeit und Aufgaben der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei 46. Schnellbrief des Chefs der Sicherheitspolizei, SS-Obergruppenführer Heydrich, vom 21. September 1939 an die Leiter der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei 47. Schnellbrief des Chefs der Sicherheitspolizei, SS-Obergruppenführer Heydrich, vom 30. September 1939 48. Vortragsnotiz für eine Besprechung am 2. März 1940 zwischen dem Leiter des Persönlichen Stabes des Reichsführers SS, SS-Gruppenführer Wolff, und des Majors i. G. Radke vom Stab des Oberbefehlshabers des Fleeres 49. Vortragsnotiz von Major i. G. Radke, Stab des Oberbefehlshabers des Heeres, vom 3. März 1940 über einen Anruf des Leiters des Persönlichen Stabes des Reichsführers SS, SS-Gruppenführer Wolff 50. Schreiben des Generalfeldmarschalls von Mackensen vom 14. Februar 1940 an den Oberbefehlshaber des Heeres über nationalsozialistische Greueltaten in den besetzten Ostgebieten 51. Antwortschreiben des Oberbefehlshabers des Heeres vom 2. März 1940 an Generalfeldmarschall von

Mackensen

52. Antwortschreiben des Generaloberst von

Mackensen.

z.

V. Beck

vom

24. Februar 1940

an

Generalfeldmarschall

DOKUMENTE

Bemerkung: Im Original durch Unterstreichungen, Sperrungen etc. herausgehobene Worte in den Dokumenten werden in Kursivschrift wiedergegeben. Orthographische Fehler und offensichtliche Irrtümer wurden ohne besondere Kennzeichnung

berichtigt.

I Brief des

Majors i. G. Ludwig Beck vom 28. November

Bundesarchiv/Militärardiiv: H 08-28/6 Abschrift, Schreibmaschinenschrift.

1918

an

seine

Schwägerin

(Nachlaß Beck)

uns nun zweimal telefonisch gesprochen haben, möchte ich doch vor Verlassen Königswinter noch einige Zeilen einfügen. Vieles kann ich natürlich einem Briefe nicht anvertrauen, es würde abgesehen von anderen Gründen stets nur eine einseitige Darstellung ergeben, die ohne mündliche Erläuterung am Ende falsche Bilder schafft. Was wir alle, ohne Ausnahme in den letzten Wochen erlebt, ist so ungeheuerlich, daß man oft noch glaubt, zu träumen. Im schwersten Augenblick des Krieges ist uns die wie ich jetzt auch keinen Moment mehr zweifle von langer Hand her vorbereitete Revolution in den Rücken gefallen. Es geschah in einem Augenblick, wo das Heer, die Führung Alles, auch das Äußerste anspannen mußte, um den Durchbruch zu verhindern und damit die Gefahr einer Lage zu beschwören, die zu einer unerhörten militar. Katastrophe geführt hätte. Wir waren also völlig wehrlos nach hinten, völlig! Damit ist das Vorgehen der Revolutionäre zunächst gekennzeichnet. Ich kenne keine Revolution in der Geschichte, die so feige unternommen wurde, und die, und das ist noch viel schlimmer, mit absoluter Notwendigkeit die schwere Not, in der wir schon längst stecken, noch vervielfacht hat, vielleicht zu völligem Untergang führt. Es ist ein Wahnsinn, einen Staat, der nur noch mit höchster Anspannung aller Kraft und bei völliger Erhaltung seines komplizierten Organismus aus der Niederlage in einen erträglichen Frieden und eine gesunde Friedenswirtschaft hinüberzuleiten war, nebenher noch zu revolutionieren. Es ist, wie hier, sehr richtig die Kölner Zeitung schrieb, als ob man an einem schwer Lungenleidenden gleichzeitig noch eine Blinddarmoperation vornehmen wollte. Das verträgt auch der beste Organismus nicht. Gewiß sind tausendfache Ursachen für den Stimmungsumschwung, die Ratlosigkeit und Verzweiflung vorhanden. Man muß darin milde denken und kann es einem schwergeprüften Volk nach vier Jahren Leid und Entbehrung nicht übelnehmen, wenn es vorübergehend die Haltung verliert. Aber daß diese Reaktion diese Erscheinungen zeitigen würde, haben wir nicht geahnt. Ich halte auch diese Erscheinungen nicht für die unmittelbare Folge des Zusammenbruchs, sondern für das Inkrafttreten längst gefaßter Entschlüsse, die nur auf den günstigsten Zeitpunkt ihrer Verwirklichung gewartet haben. Gewiß sind schwere Fehler gemacht worden. Mein Urteil über den möglichen Ausgang des Krieges hat sich, seitdem ich erst vor fast zwei Jahren näheren Einblick in die großen Zusammenhänge gewann, immer mehr bestärkt, es war mit geringen Schwankungen das, daß wir auf eine Verständigung hinaus mußten. Das ist auch die Ansicht des Chefs des Stabes und des Kronprinzen gewesen. Äußerungen der beiden letzten Persönlichkeiten hierüber kann ich zu Hunderten anführen, manche liegen aktenmäßig fest und werden auch noch mal an das Licht kommen. Aber gegen den „Diktator" Ludendorff, und das war ...

Nachdem wir

von

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590

kluge und energische Mann, gab es kein Aufkommen. Er konnte nur über sich selbst stürzen. Wer ihn vorzeitig zu stürzen gewagt hätte, und wenn es der Kaiser gewesen wäre der wäre dann vom Volk als Urheber der Niederlage, die kaum mehr aufzuhalten war, bezeichnet und gesteinigt worden. Zu tief saß gerade das Vertrauen zu Ludendorff im Volk und in der Truppe. Nur wenige sahen mit furchtbarer Sorge in die Zukunft und sahen das Unheil kommen. Aber trotzdem war L. einer der größten Leute aller Zeit, ich habe ihn nur zu oft in gewöhnlichem Verkehr kennen und bewundern gelernt, er ist einer der tragischsten Gestalten der Geschichte. Wenn Du Dir den Artikel „Ludendorff" in der Frankfurter Zeitung soweit ich mich erinnere etwa vom 20. Oktober mal verschaffen kannst, lies ihn. Es ist mit das Beste, was über L. s. Zt. geschrieben werden konnte. Alles das, und es sind natürlich noch viel mehr Gründe, rechtfertigen aber nicht unsere jetzige Lage. Unser Heer ist in der Heimat seit Monaten systematisch revolutionär bearbeitet worden, daraus erklärt sich ein großer Teil unserer Mißerfolge seit dem 15. 7. Die Truppe hat einfach nicht gehalten, weil sie nicht wollte, nicht, weil sie nicht gekonnt hätte. Da half auch der teilweise unvergleichliche Widerstand anderer braver Truppen nicht, der Gesamtorganismus war nicht mehr gesund, es waren zu viel Bazillenträger durch den Nadiersatz hereingekommen. Aber eines hätten wir noch gekonnt, bei voller Mitarbeit der Heimat, uns auf einer kürzeren Linie, sei es Antwerpen-Metz oder Lüttich-Metz, erneut zum entscheidenden Widerstand stellen und erneut unseren Gegner vor die Wahl stellen, ob er gleich Frieden machen wollte oder den Krieg noch bis 1919 verlängern. Auch der Gegner war am Ende. Es ist eine Sage, wenn das Gegenteil behauptet wird und bei aller Hochachtung für das französ. Heer, ein großer Führer war Foch nicht. Wäre er das gewesen, dann hätte er uns ganz andere entscheidende Niederlagen beibringen müssen, als er tatsächlich es fertiggebracht hat. Die Geschichte wird es einst lehren, daß wir wochenlang auf ungeheuren Fronten ohne ein Batl. Reserve gefochten, nur noch ein Spinnwebennetz von Kämpfern hatten und trotzdem der Ententefeldherr nicht durchbrach. Unsere Truppen, unsere Offiziere und unsere Führung haben bis zuletzt Übermenschliches geleistet. Alle zusammen, jeder an seiner Stelle. Und daher ist es so vergiftend, wenn jetzt die Leute hinten, die meist keinen Schuß gehört, die gar nicht wissen, was dieser Krieg an furchtbarer Anstrengung, Entsagung u. a. m. von jedem an der Front unterschiedslos gefordert hat, wenn diese Leute einen Gegensatz zwischen Offizier und Mann konstruieren. Und es ist das Schlimmste, was sie tun können, die Autorität des Offiziers untergraben, es führt absolut zur Anarchie. Die Leute, die diesen Frevel unternommen haben, sollten nach der französ. Armee hinsehen, die jahrelang mindestens so Schweres durchgemacht hat, wo mit viel eisernerer Faust wie bei uns und am meisten von Clemenceau selbst durchgegriffen, wo die Todesstrafe wegen Meuterei häufig war. Heute ist die französische Armee die bestdisziplinierte der Welt. Für einen Offizier wie mich und viele tausende, die das erleben, ist gerade dieser Niedergang unseres Heeres etwas Furchtbares. Geht es so weiter, werden wir die Konsequenzen ziehen. Doch nun noch mal zu den Ursachen. Ich sage, keine rechtfertigt die heutige Revolution. Ein Kaiserreich, wo der Kaiser und König seine Macht an ein verantwortliches Staatsministerium abgegeben hätte, er nur noch als Träger der Krone Repräsentant der höchsten Staatsgewalt wäre, dieser Gedanke ist hier schon früh vertreten worden. Diese Entwicklung mußte mitgemacht werden im eigensten Interesse des Kaisers. Und er selbst hätte sich dem nicht verschlossen, der Kronprinz ganz und gar nicht. Es ist anders gekommen. Man hat den Kaiser abgesetzt er hat nie verzichtet auf seine Rechte, man hat den Kronprinz abgesetzt! Auch dieser hat nie verzichtet und sofort protestiert, aber unsere Öffentlichkeit ist ja ganz falsch dank der „Zensurfreiheit" (!) unterrichtet. Über das Kapitel „Kaiser und Kronprinz" kann ich im übr. nur mündlich berichten. Ich bin in meinem Leben noch nicht so erschüttert gewesen wie über das, was ich am 9. und 10. 11. teilweise persönlich miterlebt habe. Ein solcher Abgrund von Gemeinheit, Feigheit und Charakterlosigkeit, den hatte ich bis dahin für unmöglich gehalten. In wenigen Stunden ist eine 500jährige Geschichte zerschlagen worden, wie einen Dieb hat man den Kaiser nachts auf holländisches Gebiet abgeschoben, es konnte gar nicht schnell genug geschehen, dieser durch und durch edle, vornehme der eminent tüchtige,

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und sittlich hochstehende Mann. Und ich sehe schwarz, was noch für ihn kommen mag, ich fürchte, die Entente besteht auf seiner Auslieferung. Denn die, wenigstens die Franzosen kennen nur eines: Rache, Rache und abermals Rache, und ein Narr, wer von ihnen etwas anderes erwartet. Daher sehe ich auch ganz trübe für uns, gelingt uns nicht bald, eine verhandlungsmäßige Regierung zu schaffen, was nur auf dem Weg einer sofort zu berufenden Nationalversammlung möglich ist, so wird m. E. die Entente weiter marschieren, vielleicht alle großen deutschen Städte besetzen. Ein furchtbarer Gedanke, aber zwischen der Spartakuslösung einerseits und dieser andererseits vielleicht noch die annehmbarere. Nur darf man nicht glauben, daß Frankreich uneigennützig bei uns hier Ordnung stiften will. Frankreich will Deutschland zertrümmern, das ist meine feste Überzeugung auf Grund meiner langen Kenntnis des französischen Volkscharakters. Also wer weiß, was die nächste Zeit und die nächste Zukunft noch bringt. Ich sehe vorläufig keinen Weg, der aus diesem Chaos führt, und inzwischen opfern die neuen Leute Millionen und Abermillionen für ihre Zwecke, lassen durch laienhafte und teilweise geradezu verbrecherische Eingriffe ungezählte Werte des Frontheeres und der Heimat verloren gehen, unsere Industrie wird lahmgelegt, der Handel bleibt es, kurz, unsere Schuldenlast wächst in einem erschreckenden Maße. Wo soll das alles noch hinführen? Die Antwort werden uns wohl die Ereignisse bald lehren, denn eins ist sicher, bei der Entente ist Ordnung und sie wird nicht lange mit sich fackeln lassen. Alles dies, was ich hier niederschrieb, sind nur lose Gedanken, in aller Eile nebeneinandergereiht, für Dich und W. Ich bitte sie mit Diskretion zu behandeln, hoffe vor allem, daß sie richtig in Deine Hände kommen. Vieles muß später mündlicher Ergänzung vorbehalten bleiben. Ob ich später als Offizier, wenn ich es bis dahin noch bin, in den besetzten Brückenkopf kommen kann, weiß ich nicht, daher wird sich ein Wiedersehen u. U. noch lange hinausschieben. Mein erster Weg wird, wenn ich frei bin, nach Bremen sein. Hoffentlich kommt W. noch rechtzeitig zu Euch. M. E. steht dem, mit dem Augenblick wo er am Rhein anlangt, das wird in einigen Tagen in der Gegend von Rheinbrohl sein, nichts mehr im Wege. Und nun viele herzliche Grüße an Dich, W. und die Kinder. Die französische Besetzung wird leicht zu ertragen sein, schwerer wiegt die Sorge für die Zukunft dessen, was man heute noch Deutschland nennt. Aber auch da wollen wir den Glauben und die Hoffnung nicht aufgeben! -

-

Getreu

L[udwig]

2 Richtlinien des Reichswehrministeriums für die

Wehrpropaganda vom 21. November

1933

MGFA/DZ: H 24/6

Vervielfältigtes Exemplar mit Unterschrift Reichenaus Oben links handschriftlich in Tinte: „1 Exempl. vernichtet." Oben rechts Eingangsstempel „Der Chef der Heeresleitung Nr. 117/33 p Chef HL" und neben verschiedenen anderen die Paraphe des Generaloberst Frhr. von Hammerstein vom 29. 11. 1933.

Der Reichswehrminister Nr. 638/33, W III geh.

Betr.: Richtlinien für

Wehrpropaganda

Berlin, den

21. November 1933

Geheim

l.Nach dem Höhepunkt der Volksabstimmung am 12./11. setzt naturgemäß eine Abschwädiung der Sicherheits- und Gleichberechtigungspropaganda im Inland ein. Diese Abschwädiung ist durchaus erwünscht. In der derzeitigen politischen Lage ist es besser, zu schweigen, als durch laute Forderungen zu stören. Das schließt nicht aus, daß bei gegebener Gelegenheit, besonders bei Erwiderungen, die deutsche Forderung nach Sicherheit und Gleichberechtigung nach den bisherigen Methoden herausgestellt wird.

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In der Auslandspropaganda für deutsche Sicherheit und Gleichberechtigung tritt keine Änderung ein. Neue Wirkungsmöglichkeiten sind, bevor sie ausgenutzt werden, dem Reichswehrministerium (W) zu melden, das die notwendigen Maßnahmen trifft. 2. Im Vordergrund der Wehrpropaganda soll in den nächsten Wochen die deutsche Wehrmacht

stehen.

Hier sind besonders

folgende Gebiete in Presse, Bild und Rundfunk zu behandeln: mit nationalsozialistischem Gedankengut; Wehrmacht gegen den Kommunismus vor 10 Jahren (Sachsen, Thüringen,

a) die Durchdringung der Wehrmacht

b) der Kampf der Hamburg) ; c) Wehrmacht und Bevölkerung (Winterhilfe, Kinderspeisungen, Weihnachtsfeiern; auch in Rückblicken auf die vergangenen Jahre) ; d) Fürsorgemaßnahmen und Wohlfahrtseinrichtungen innerhalb des Heeres und der Marine. Die Friedensarbeit der Reichsmarine (z. B. Fischereischutz, Vermessung, Verbindung zwischen Auslandsdeutschtum und Heimat). I.A.

v.

Reichenau

3 Erlaß des Reichswehrministers vom 28. Februar 1934 über die Anwendung des § 3 (Arierparagraphen) des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" auf die Soldaten der Reichswehr MGFA/DZ: W 01-5/173 Gedrucktes Exemplar, Dienstdruck des Reichswehrministeriums Nr. 741.2.1934. Der Reichswehrminister Az. B 21 Heer: Nr. 330. 34. PA (2) Marine: B Nr. A Va 952

Berlin, den 28. Februar

1934

Bestimmungen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 § 3 (arische Abstammung) sind auch auf Offiziere, Deckoffiziere, Unteroffiziere und Mannschaften Die

sinngemäß anzuwenden. Nachprüfung der arischen Abstammung ist durchzuführen: a) bei Offizieren des Heeres durch Regiments-, selbständige Bataillons-

Die

b)

usw. Kommandeure, bei den Offizieren der Marine durch die Vorgesetzten mit mindestens der Strafgewalt gemäß § 22 M.D.St.O. und durch die Halbflottillenchefs. Bei den vorstehend genannten und bei höheren Vorgesetzten durch deren unmittelbare Vorgesetzte; bei Deckoffizieren, Unteroffizieren und Mannschaften (einschl. Offizierersatz) durch die nächsten

Disziplinarvorgesetzten.

Fällen, in denen die arische Abstammung infolge der Unmöglichkeit, die erforderlichen Urbeizubringen, nicht vollständig nachgewiesen werden kann, entscheidet bei Offizieren der Reichswehrminister, bei Unteroffizieren und Mannschaften des Heeres der nächsthöhere Disziplinarvorgesetzte; bei Deckoffizieren, Unteroffizieren und Mannschaften der Marine der Kommandeur der Schiffsstammdivision (IL A. d. O.), bei ihrem Offiziernachwuchs die Inspektion des BildungsIn

kunden

arische Abstammung nach den vorhandenen Unterlagen anerkannt werden Nachprüfung ist beschleunigt vorzunehmen.

wesens, ob die

Die

kann.

Offiziere, Deckoffiziere, Unteroffiziere und Mannschaften, die den Bestimmungen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums § 3 nicht entsprechen, können nicht in der Wehrmacht

belassen werden.

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Die Entlassung solcher Offiziere und Deckoffiziere erfolgt nach § 26 a bzw. b des Wehrgesetzes. Die Verabschiedung ist gemäß Offz. Entl. Best, auf dem Dienstweg zu beantragen. Unteroffizieren und Mannschaften ist nach § 21, lb des Wehrgesetzes zu kündigen (§24d.H.E.B. und M. E. B., Ziff. 49 Offz. Erg. Best, und Ziff. 35 Seeoffz. Erg. Best., für die Festsetzung des Entlassungstages siehe § 26, 2 H. E. B. bzw. M. E. B.). Bei Kündigungen nach § 21, 1 b W. G. auf Grund dieser Verfügung ist das Vorliegen eines Bedürfnisses zu einer Versorgung § 3 W. V. G. anzuerkennen. Ist bei Soldaten die nichtarische Abstammung bereits erwiesen und findet bei ihnen der § 3 (2) des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums keine Anwendung, so sind Maßnahmen zur Herbeiführung der Entlassung unverzüglich einzuleiten. Bis 31. Mai 1934 sind von den Divisionen usw. und Stationskommandos die beendete Durchführung der Nachprüfung und zahlenmäßig die auf Grund dieses Erlasses Entlassenen bzw. zu Entlassenden getrennt nach Dienstgrad und Dienstalter dem Reichswehrministerium zu melden. Zwischenmeldung über die voraussichtliche Anzahl bis zum 1. April 1934 an das Reichswehrministerium. -

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4 Denkschrift des Chefs des Generalstabes des Wehrkreiskommandos III (3. Division), Oberst i. G. von Manstein, über die nachträgliche Anwendung des Arierparagraphen auf die Wehrmacht nebst Anschreiben an den Chef des Truppenamtes, Generalleutnant Beck, vom 21. April 1934 MGFA/DZ: II H 1008/1

Original, Schreibmaschinenschrift, handschriftlich unterschrieben. Im Anschreiben oben rechts Paraphe des Chefs des Truppenamtes, Generalleutnant Beck, vom 21. 4. 1934 und Paraphe des Chefs der Heeresleitung, General der Artillerie Frhr. von Fritsch, vom

28. 4. 1934.

Der Chef des Stabes des Wehrkreiskommandos III

Berlin W 62, den 21. IV. 1934

(3. Division) Hochzuverehrender Herr General! Obwohl ich weiß, wie sehr Zeit und Arbeitskraft von Herrn General in Anspruch genommen sind, bitte ich doch Herrn General eine Angelegenheit vortragen zu dürfen, die mir besonders am Herzen

liegt.

einigen Tagen erhielt ich die Nachricht, daß ein Offizier des Kolberger Jägerbataillons zur Verabschiedung auf Grund des Arier-Paragraphen eingegeben werden soll. Es handelt sich um einen jungen Leutnant, den ich seinem Charakter, seiner Gesinnung und seinen Leistungen nach Vor

besonders hoch schätze. In seinen Charakter können Herr General vielleicht einen kleinen Einblick durch folgendes gewinnen: In dem Brief, den der betreffende Offizier mir über sein Schicksal geschrieben hat und in dem er, obwohl doch seine ganze Zukunft vernichtet ist, nicht den leisesten Vorwurf erhebt, schreibt er über seine Auffassung folgendes (wobei ich hinzufügen muß, daß mit ihm auch sein jüngerer Bruder, ein Fahnenjunker, in gleicher Weise betroffen ist und beide völlig mittellos sind). „Ich wollte es Herrn Oberst damals gleich schreiben, es war aber alles so wirr in mir. Daß wir Deutschland nicht mehr dienen dürfen, empfinden wir am wehesten. Und obgleich das Leben nun nicht mehr wertvoll erscheint, nachdem man uns diese Berechtigung nahm, sind wir zu jung, zu sehr Offiziere und zu stolz, um zu zerbrechen. Vielleicht braucht uns Deutschland später doch einmal, dann sind wir da." Ich weiß, daß Herr General Verständnis dafür haben, daß mich als ehe38

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Kommandeur das tragische Schicksal dieses jungen Offiziers außerordentlich bewegt und ich midi verpflichtet fühle, alles zu tun, um ihm zu helfen. Der Fall hat mich veranlaßt, über die Frage der nachträglichen Anwendung des Arier-Paragraphen auf das Heer, gründlicher nadizudenken, als man es in der heutigen Zeit mit ihrer Hast und ihrer dienstlichen Beanspruchung sonst tun würde. Das Ergebnis habe ich in der Anlage niedergelegt. Ich bitte Herrn General, die darin zum Ausdruck gebrachten Gedanken nicht als Kritik oder gar Vorwurf gegen unsere militärische Leitung anzusehen. So sind sie nicht gemeint, denn jeder von uns weiß, daß der Herr Reichswehrminister und seine Berater sicherlich ebenso die Tragik, die in der ganzen Sache liegt, empfinden und sich schweren Herzens zur Anwendung des Arier-Paragraphen entschlossen haben, unter dem Gesichtspunkt, dadurch der Armee, in erster Linie dem Offizierkorps zu dienen. Diese Gedanken sollen vielmehr ein Versuch sein darzustellen, wie das Offizierkorps in dieser Frage empfindet. Ich glaube, daß die Gedanken tatsächlich auch denen der Masse des Offizierkorps entsprechen, eine Ansicht, die auch der Herr Befehlshaber, der sie gebilligt hat, teilt. Ich glaube, daß wir die ganze Frage nicht nur von dem Standpunkt der Betroffenen ansehen dürfen, sondern vielmehr in erster Linie von dem Gesichtspunkt aus, ob es mit der Ehre der Armee vereinbar ist, Kameraden nicht die Treue zu halten, um politischen Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen. Ich glaube, daß wir ein Recht darauf haben, den Soldaten anders zu beurteilen als den Beamten, daß unsere Vergangenheit uns das Recht gibt, allein über Ehre und Ansehen des Heeres zu entscheiden, daß wir es nidit nötig haben, uns dem Spruch Außenstehender zu beugen. Man kann m. E. die ganze Frage nur vom Ehrenstandpunkt aus betrachten. Von diesem Standpunkt aus hat das Offizierkorps nach alter Überlieferung ein Recht mitzusprechen, sowohl zum Schutz der Ehre der Betroffenen wie vor allem zum Schutz seiner eigenen Ehre. Daß wir alle Nationalsozialismus und Rassegedanken restlos bejahen, steht außer Zweifel. Wir dürfen aber daneben m. E. nicht die Soldatenehre vergessen, die uns bisher unlöslich aneinander gekettet hat. Darf ich Herrn General gehorsamst bitten, in diesem Sinne die heiligenden Gedanken durchzusehen und zu überlegen, ob wir nicht, ehe wir uns von unseren bisherigen Kameraden trennen, die Offizierkorps als Hüter der soldatischen Ehre zur Prüfung des Einzelfalls heranziehen sollten. Ich glaube allerdings auch, daß diese Prüfung sich erstrecken müßte auch auf die Offiziere, die nichtarischer Herkunft sind, aber den Krieg mitgemacht haben. Wenn wir auf der einen Seite dem Soldaten ein Sonderrecht zubilligen, das ihn über andere hinaushebt, so müssen wir uns auf der anderen Seite selbst um so schärfer prüfen. Dann werden wir auch den politischen Zweck erreichen, den wir durch Nachgiebigkeit in einer Ehrenfrage doch nicht erkaufen können. Mit der Versicherung vorzüglichster Hochachtung habe ich die Ehre zu sein Herrn Generals

maliger

gehorsamster v.

Gedanken

zur

Manstein

nachträglichen Anwendung des Arier-Paragraphen auf die Wehrmacht.

Vorausgeschickt sei, daß die Forderung reinarischer Abstammung und Heirat in der Wehrmacht seit dem 30.1. 33 für die Zukunft eine absolute Selbstverständlichkeit ist. Die nadistehenden Äußerungen beziehen sich einzig und allein auf die nachträgliche Anwendung des Arier-Paragraphen auf schon seit längerem dienende Soldaten. 1. Sachlich notwendig? Niemand bestreitet, daß die Berufe der Richter, Anwälte, Ärzte von Juden und Halbjuden überschwemmt waren, daß sie in Presse, Theater, Kunst den Ton angaben, daß fast alle wichtigen Beamtenposten von Parteibuchleuten besetzt waren. Es ist kein Zweifel, daß hier eine rigorose Säuberung am Platze war. Liegt eine sachliche Notwendigkeit vor, diese Aktion auf die Armee auszudehnen? Ist in ihr irgendein nennenswerter Einschlag jüdischen Geistes festzustellen? Gibt es in ihr einen einzigen Parteibuch-Offizier? Nein! Man kann wohl sagen, daß

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Juden gibt und daß die Zahl derer, die mit einer nichtarischen Großbelastet sind, so verschwindend gering ist, daß eine „Säuberung", wie andere Berufe sie brauchen, beim Heer gar nicht in Frage kommen kann. 2. Rechtlich vertretbar? Die Frage der Rechtlichkeit oder Rechtmäßigkeit einer nachträglichen Anwendung des Arier-Paragraphen soll hier nicht formal-juristisch, sondern vom Standpunkt soldatischen Rechtsempfindens betrachtet werden. Von diesem Standpunkt aus ist zu sagen: Der Soldat ist der einzige, der, seinem Eid entsprechend, sein ganzes Sein dem deutschen Reiche verschreibt einschl. der Bereitschaft, zu jeder Stunde sein Leben für Deutschland zu opfern. Diese Verpflichtung, diese restlose Hingabe an Reich und Volk schließt kein anderer Beruf in sich. Der Soldat ist daher mit keinem anderen Beruf in Vergleich zu setzen. Man kann einem Soldaten, der durch seinen Eid sein ganzes Leben dem Vaterland geweiht hat, der diese Bereitschaft, zu jeder Stunde sein Leben für das Reich herzugeben, durch Jahre erfüllt hat, dessen Verhalten keinerlei Anlaß gibt, daran zu zweifeln, daß diese Bereitschaft bei ihm voll weiterbesteht, ganz unmöglich nicht als vollwertigen Deutschen gelten lassen. Wenn das Reich Jahre hindurch bereit war, von einem Soldaten stündlich das Opfer seines Lebens zu fordern, kann es rechtlicherweise nicht nun auf einmal sagen, „du bist kein richtiger Deutscher mehr". Wer freiwillig Soldat geworden ist, wer damit zu jeder Stunde bereit war, sein Leben für das deutsche Volk hinzugeben, der ist durch diese Bereitschaft eben Deutscher geworden. Er hat arische Gesinnung bewiesen, gleichviel ob seine Großmutter arisch war oder nidit. Der Soldat ist rechtlich anders zu beurteilen, als jeder andere, da er allein dem Reich und Volk nicht nur seine Arbeitskraft, sondern sein Leben versprochen hat, weil er nicht nur wie andere für Deutschland zu arbeiten, sondern auch zu kämpfen und zu sterben bereit war. 3. Politisch notwendig? Die nachträgliche Anwendung des Arier-Paragraphen wird für politisch unausweichlich es

in der Armee keinen

mutter

-

-

gehalten.

Man kann der Ansicht sein, daß die Wehrmacht in der Arierfrage hätte vorangehen müssen Nachdem sie aber ein Jahr hindurch die Anwendung des Arier-Paragraphen abgelehnt hat, ist heute seine Anwendung nicht mehr Einführung eines neuen, in einer Revolution geborenen Prinzips, sondern nichts anderes als ein Nachgeben vor einer Hetze, die von ganz bestimmten Elementen betrieben wird, mit dem Ziel, das heutige Offizierkorps zu zerstören, um sich selbst an seine Stelle zu setzen. Wir geben jetzt nicht sachlich berechtigten, moralisch notwendigen Forderungen ernster Leute nach, die wir nicht von unserem Standpunkt überzeugen könnten. Nein, wir kapitulieren vor den Schreiern, die, armeefeindlich eingestellt, gegen die Armee hetzen und dabei den bewußt falschen Vorwurf erheben, die Armee bzw. das Offizierkorps seien verjudet. Die Zahl derer, die unter den Arier-Paragraphen fallen, ist so minimal, ihre arische, deutsche Gesinnung so

zweifelsfrei, daß

es gelingen müßte, alle die zu überzeugen, die guten Willens sind, die Dinge betrachten. 4. Politisch nützlich? Wird, wenn die Armee heute dem Geschrei der Hetzer nachgibt, irgendein Erfolg erreicht? Nein! Wenn wir heute die jungen Nachkriegssoldaten opfern, wird die Hetze auch nicht einen Tag nachlassen. Es wird dann heißen: „Ein paar kleine Leute haben sie herausgetan, aber oben, unter den Maßgebenden, da sitzen weiterhin die Niditarier." Und wenn wir dann auch diese opfern, so werden die nächsten die „Reaktionäre" sein. Und so fort, bis die Elemente sich an unsere Stelle gesetzt haben, die heute die Nichtarier-Hetze gegen die Armee betreiben, weil sie glauben, damit einen Angriffspunkt zu haben. Geben wir heute einen kleinen Teil der Unseren preis, so werden die Leute morgen die Köpfe anderer fordern!

ernst zu

Einen

politischen Erfolg wird unser Opfer nicht haben!

5. Militärisch

Angeblich

nötig?

wollen die Deutschen nicht mehr

unter

Niditariern dienen. Zweifellos wäre

es

sehr

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wenn dieses Gefühl des Rassenstolzes schon von jeher in den Deutschen gelebt hätte! Das ist aber leider nicht der Fall. Und auch heute wird der einfache Mann nicht von sich aus den Stammbaum seines Leutnants durchsuchen, wenn letzterer ein wirklicher Soldat ist und wenn ersterer nicht künstlich aufgehetzt würde. Nicht um der Rassereinheit willen, sondern weil die Hetzer das heutige Offizierkorps an sich beseitigen, sich an seine Stelle setzen möchten, behaupten sie, der einfache Mann stieße sich an der Tatsache, daß vielleicht einige Leute mit nichtarischen Großmüttern in der Armee sind. Zusammenfassend muß man sagen: Sachlich ist eine Säuberung der Armee, wie sie anderen Berufen dringend nötig war, nicht not-

erwünscht,

wendig.

Dem Rechtsempfinden kann es nicht entsprechen, wenn man Leute, die jahrelang die Bereitschaft bewiesen haben, nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch ihr Leben für das deutsche Volk zu opfern, auf einmal nicht mehr als Deutsche ansehen will. Sie haben ihre arische Gesinnung unter Beweis gestellt, was viele andere trotz arischer Großmutter nicht getan haben. Daß sie keine Gelegenheit hatten, ihr Leben tatsächlich zu opfern, ist nicht ihre Schuld. Eine politische Notwendigkeit, die im vorigen Jahre anerkanntermaßen nicht vorlag, kann heute nicht bestehen, nachdem sich sachlich nichts geändert hat, es sei denn, daß man das Geschrei der Straße als Sachlichkeit bewerten will. Einen politischen oder militärischen Nutzen kann es nicht haben, wenn wir etwa 5 Offiziere, 1 Fahnenjunker und einige 30 Mann preisgeben, während alle Älteren auf Grund ihrer Kriegsteilnehmerschaft im Heere verbleiben, auch wenn sie nicht reinarisch sind. Die Hetze wird weitergehen und sich eben andere Objekte suchen. Man mag über die vorstehenden Anschauungen im politischen Interesse hinweggehen. Man wird aber eins noch berücksichtigen müssen, nämlich das ethische Moment der ganzen Frage. Ein Verstoß auf dem Gebiet des Ethischen muß sich in jedem Fall einmal rächen. Ich glaube nicht, daß es vom Standpunkt der soldatischen Ehre angängig ist, daß wir, um politischen Schwierigkeiten zu begegnen, ein paar junge Offiziere und Soldaten, die nichts verschuldet, aber dem Reich in Treue gedient haben, opfern, daß wir sie, die bisher zu der Ehrengemeinschaft des Heeres gehörten, aus ihr ausstoßen, ohne daß sie einen Grund dazu gegeben hätten. Der Herr Reichspräsident hat das Wort geprägt „Die Treue ist das Mark der Ehre". Ein Treueverhältnis kann aber nie einseitig sein! Der Soldat, der dem Reiche die Treue schwört, der diese Treue seinen Führern hält, hat den unverbrüchlichen Anspruch darauf, daß Reich und Führer ihm auch die Treue halten. Man kann nicht von jemandem die Treue bis zum Tode fordern, wenn man nicht bereit ist, sie auch selbst zu halten. Wenn das Reich durch Jahre hindurch die Treue dieser Soldaten in Anspruch genommen hat, wenn es sich darauf verlassen hat, daß sie diese Treue nötigenfalls mit ihrem Blute bezahlen würden, so kann es nicht seinerseits auf einmal die Treuepflicht ablehnen. Wenn die Führer sich bisher auf ihre Untergebenen verlassen haben, wenn sie es als selbstverständlich ansahen, daß im Notfall auch diese Soldaten auf ihren Befehl ohne zu fragen in den Tod gehen würden, so haben diese Führer jetzt auch die Pflicht, diese Soldatentreue von sich aus zu halten. Es kann sich nicht mit der Ehre des Offizierkorps vertragen, daß das Offizierkorps von ein paar jungen Offizieren das Opfer ihres Berufs, vor allem ihrer Ehre, ihrer Zukunft annimmt, um Schwierigkeiten in politischer Hinsicht zu entgehen. Wir können uns nicht hinter 5 Leutnants und 1 Fahnenjunker verkriechen. Man muß auch einmal solche Dinge auf das primitive soldatische Denken zurückführen. Wenn wir jetzt diese jungen Offiziere preisgeben, so ist das etwa dasselbe, als wenn wir im Kriege unsere Leute dem Gegner als Scheibe hingelegt hätten, um uns selbst im sicheren Unterstand zu verkriechen. Wir können es m. E. nicht anerkennen, daß diese jungen Offiziere (ebenso wie die Soldaten) gesinnungsmäßig nicht mehr zu uns gehören, während wir das bei allen Älteren, nur weil sie im Kriege waren, ohne weiteres annehmen. Die Ehre dieser 5 Leutnants ist unsere Ehre! Wir reden immer von der Kameradschaft, man kann es aber kaum als das Halten dieser Kamerad-

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schaff bezeichnen, wenn wir bereit sind, einige von uns zu opfern, damit die Angriffe gegen die Gesamtheit aufhören. Wir haben die Offiziere und Soldaten, die jetzt ausscheiden sollen, selbst in unsere Reihen gewählt. Wir sind der Ansicht, daß sie gesinnungsmäßig zu uns gehören, sonst hätten wir sie schon längst entfernen müssen. Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo es darauf ankommt zu zeigen, ob wir im Heere über Kameradschaft nur reden, oder ob wir sie auch wahr machen können! Jeder ehrliebende Offizier und Soldat muß es in seinem Innern als Schmach empfinden, daß er Kameraden preisgeben soll, von denen er weiß, daß sie genau wie er ihre Pflicht getan haben, daß sie in Gesinnung und Deutschtum voll zu uns gehören. Er muß es als Ungerechtigkeit ansehen, daß wir Soldaten, die ihre Gesinnung unter Beweis gestellt haben, ausstoßen, obwohl sie beim besten Willen nichts dafür können, daß ihre Großeltern kein Rassegefühl hatten, während wir Kriegsteilnehmer behalten können, die durch nichtarische Heirat selbst den Mangel an Rassengefühl bewiesen haben. Ich bin überzeugt, daß das ganze Offizierkorps und jeder nachdenkende Soldat der Ansicht ist, daß die Ehre dieser jungen Nachkriegssoldaten unser aller Ehre ist! Sie haben nicht durch ihre Schuld ihre Gesinnung noch nicht im Kriege erhärten können. Sie haben aber dadurch, daß sie in einer Zeit materialistischer Einstellung den Weg zum Soldatentum fanden, gezeigt, daß sie Deutsche sind und daß sie in ihrer Einstellung zu uns gehören. So sicher es ist, daß das ganze Heer den Rassegedanken bejaht und in Zukunft niemand bei sich dulden wird, der ihm nicht entspricht oder ihm zuwiderhandelt, so sicher ist es, daß die Gefühle der Ehre, der Treue, der Kameradschaft des Heeres es fordern, daß wir lieber einen Kampf gegen ein Vorurteil durchkämpfen als unsere Kameraden opfern. Es mag sein, daß das Preisgeben dieser wenigen jungen Offiziere und Soldaten vielleicht momentan Schwierigkeiten beseitigen wird. Es bleibt aber stets eine moralische Sdiuld, die wie jede Schuld einmal bezahlt werden wird! Es kann der erste Schritt auf einem Wege sein, der das Vertrauen in die Führung des Heeres, in den ehrlichen Zusammenhalt innerhalb der Armee erschüttert und das Ehr- und Treuegefühl zerstört. Am Ende dieses Weges kann der Augenblick stehen, wo es heißt: „Rette sich, wer kann" und wo das mühsam aufgebaute Heer auseinanderläuft, weil es in seinen ethischen Grundlagen erschüttert worden ist. Der Befehl, daß der Arier-Paragraph auch auf die Wehrmacht anzuwenden ist, ist gegeben und kann naturgemäß nicht zurückgenommen werden. Er hat bei der Masse des Volkes bereits die erwünschte Wirkung gehabt. Daß auch seine restlose Durchführung übel wollenden Hetzern nicht den Mund stopfen wird, solange die Kriegsteilnehmer nicht betroffen werden, ist sicher. Bei der Ausführung wird jedoch ein Weg zu finden sein, daß die Wehrmacht sich schützend vor vorwurfsfreie Soldaten stellt, wie es in der Partei, SA und anscheinend auch in der Luftwaffe ebenfalls -

-

-

-

geschieht. Die vorläufige Feststellung der Niditarier hat ein erfreulich geringes Resultat gehabt. Daß ihr tatsächliches Ausscheiden in irgendwelcher Weise für die Struktur der Armee von Belang sein könnte, wird niemand behaupten. Ein Wege muß gefunden werden, diesen unseren Kameraden Ehre und Zukunft zu erhalten und uns vor der Schande zu bewahren, ehrlichen und anständigen Soldaten nicht die Treue gehalten zu haben. Von jeher hat das Offizierkorps das Recht gehabt, seine Mitglieder zu wählen, über die Ehre des einzelnen wie der Gesamtheit zu wachen. Wenn auch das Urteil über militärische Eignung allein

den Vorgesetzten, in letzter Instanz dem Reichswehrminister zusteht, so ist doch bisher in allen Fragen, die die Ehre angehen, das Offizierkorps des Betreffenden gehört worden. Das Ausscheiden auf Grund des Arierparagraphen bedeutet für einen Soldaten eine Entehrung schlimmster Art. Das Offizierkorps hat ein Recht zu prüfen, ob seine bisherigen Kameraden diese Diffamierung verdienen und ob seine eigene Ehre das Preisgeben dieser Kameraden zuläßt. Wenn ein Offizierkorps bei eingehender Prüfung zu der Ansicht kommt, daß der betreffende Offizier seine arische Gesinnung so unter Beweis gestellt hat, daß er trotz nicht rein deutscher Blutzusammensetzung

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doch als vollwertiger deutscher Soldat angesehen werden kann, so sollte niemand im deutschen Reiche es mehr wagen dürfen, diesen Offizier als Nichtarier anzugreifen. Dem Offizierkorps sollten über jeden unter den Arierparagraphen fallenden Offizier folgende

Fragen vorgelegt werden: 1. Hat der Offizier in Gesinnung und Verhalten sich jederzeit als vollwertiger deutscher Soldat erwiesen?

Offizierkorps Gewißheit, daß der betreffende Offizier in seinem Charakter keine Züge fremder Rasse auf Grund eines Bruchteils fremden Blutes hat, die seine arische Grundeinstellung im fremdrassigen Sinne beeinflussen könnten? 3. Hält das Offizierkorps den betreffenden Offizier weiterhin [für] geeignet, als vollwertiger

2. Besteht im

deutscher Offizier im Heere zu bleiben? Werden diese Fragen einstimmig bejaht, so wäre ein Gesuch an den Herrn Reichswehrminister auf Belassung des Offiziers im Heere einzureichen, die etwa fehlende Geburtsurkunde einer Großmutter durch die Ehrenerklärung eines deutschen Offizierkorps zu ersetzen. Diese Prüfung wäre auch auf die Kriegsteilnehmer auszudehnen, da es wohl möglich erscheint, daß ein Kriegsteilnehmer durch Heirat in eine jüdische Familie viel weniger Anspruch auf Deckung durch das Offizierkorps hat wie ein Nachkriegsoffizier, der an seiner Abstammung schuldlos ist. In entsprechendem Sinne wäre gegenüber den Unteroffizieren und Mannschaften durch eine vom Kommandeur zu berufende Prüfungskommission zu verfahren. Die Armee hat Anspruch darauf, daß es dem deutschen Volke genügt, wenn sie einen Kameraden auf Grund eingehender Prüfung mit ihrer Ehre deckt. Wem das nicht genügt, der greift die Ehre des deutschen Soldaten an. v. Manstein

5 Endgültige Zusammenstellung der Zahl der durch die Einführung des Arierparagraphen betroffenen Soldaten der Reichswehr MGFA/DZ: W 01-5/173

Original, Schreibmaschinenschrift, Paraphe von Major i. G. Foertsch vom 21. 6. 34. Darunter diesem mit Bleistift handschriftlich: „Keine neue Veröffentlichung! F. 23. 6." Oben rechts Rotstift-Paraphe von Generalmajor von Reichenau. J

Az 23 g 11

J

Ia

Den

Endgültiges Ergebnis der Durchführung des Arierparagraphen. Heer: 7 Offiziere 8 Offizieranwärter 13 Unteroffiziere 28 Mann

(5)* (3)

Marine: 3 Offiziere, 1 fragl. 4 Offizieranwärter 3 Unteroffiziere 4 Mann *

Die

(2) (4) (5)

eingeklammerten Zahlen sind die vorläufigen Ergebnisse.

...

Juni

von

1934

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6 Brief des Reichswehrministers MGFA/DZ: W 01-5/107

an

den Stabschef der SA, Ernst

Röhm, vom

(OKW 879)

Schreibmaschinendurchschlag mit Generaloberst von Blomberg.

handschriftlichem Vermerk „ab

am

18.

Januar

1934

18.1.34", abgezeichnet

von

Lieber Stabschef! Die Anlage gibt die Meldung über einen Zusammenstoß zwischen Angehörigen der Wehrmacht und der SA. Was der wirkliche Anlaß war, wird wohl die Untersuchung ergeben. Ich dachte, Sie würden bei Ihrer Führertagung wie ich bei meiner bevorstehenden Befehlshaberbesprechung einige mahnende Worte sagen zur Verträglichkeit, gegen Unduldsamkeit und zur Feststellung der gleichlaufenden Willensrichtung der SA und der Wehrmacht. Alle Spannungen können und müssen beseitigt werden. Mit bestem Gruß und Heil Hitler! -

-

BIfomberg]

7 Vorschlag für die Zusammenarbeit mit der SA vom 27. Februar Truppenamtes, Generalleutnant Beck, vom 18. Mai 1934

1934 nebst Anschreiben des Chefs

des

MGFA/DZ: W 01-5/112

(OKW 863)

Vervielfältigtes Exemplar,

Anschreiben

Schreibmaschinen-Druckschrift, handschriftlich vollzogen.

Geheime Kommandosache Der Reichsverteidigungsminister T. A. Nr. 9/34 g.Kdos. T 2 IV

Berlin, den

18. 5. 34

Ausfertigungen Ausfertigung Die aus Tarnungsgründen mit „Vorschlag" 35 2.

bezeichnete Anlage regelt die Zusammenarbeit zwischen den obersten Behördenstellen der Wehrmacht und der Obersten SA-Führung. Die Anlage ist getrennt vom Anschreiben aufzubewahren. I.A. Beck 1

Anlage.

A. Grundsätzliches

Vorschlag für Zusammenarbeit mit SA 1. Reichsverteidigungsminister trägt allein Verantwortung für Vorbereitung der Reichsverteidigung. 2. Aufgabe der Wehrmacht: Militärische Vorbereitung der Reichsverteidi3.

gung, Mobilmachung, Führung im Kriege. Aufgabe der SA: a) Vormilitärische Ausbildung im Anschluß an Jugendertüchtigung, b) Ausbildung der nicht zum Dienst in der Wehrmacht erfaßten Wehrfähigen,

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c) Erhaltung der Feldbrauchbarkeit ehemaliger Soldaten und im SASport ausgebildeter Ungedienter. Reichsverteidigungsminister erläßt zu a) bis c) Richtlinien und hat Besichtigungsredit. Wehrkreis- und Wehrgaubefehlshaber sowie Grenzschutz-Abschnittskommandeure überzeugen sich im Benehmen mit den entsprechenden Dienststellen der SA (siehe Ziff. 17) vom Stande der militärischen Ausbildung. d) Unterstützung der Maßnahmen für besonderen Grenzschutz. e) Beteiligung an Mobilmachungsvorbereitungen. Zu d) und e) Verpflichtung der SA, Weisungen des Reichsverteidigungsministers und der örtlichen zuständigen Wehrkreis- und Wehrgaubefehlshaber sowie Grenzschutz-Abschnittskommandeure Folge zu leisten. B.

Erziehung und Ertüchtigung der männlichen Deutschen außerhalb der Wehrmacht

4. Vormilitärische Ausbildung (SA-Sport): Jugendliche im Alter von 18 bis 20 Jahren. Vereinfachte Rekrutenausbildung mit Gewehr 98, Einzel-

ausbildung im Rahmen der Gruppe. Außerhalb der SA-Lager Kleinkaliberschießen.

nur

Erfolgreiche Ableistung der vormilitärischen Ausbildung im allgemeinen Vorbedingung für Eintritt in die Wehrmacht. Verpflichtung der SA, ihre Angehörigen für den Dienst in der Wehrmacht freizugeben. Werbung innerhalb SA-Einheiten durch Heeresdienststellen erfolgt unter Vermittlung der SA-Dienststellen gemäß Ziff. 17.

5.

6.

Ausbildung nicht zum Dienst in der Wehrmacht eingezogener Wehrfähiger der Jahrgänge vom 21. bis 26. Lebensjahr erfolgt gemäß Ziffer 4. Ausbildung an Kollektiv-Waffen verboten.

Betreuung der aus Wehrmacht Ausscheidenden bzw. der im SA-Sport ausgebildeten Ungedienten: Leibesübungen, Märsche, Kleinkaliberschießen usw.

Wiederholungsübungen sind in Wehrmacht abzuleisten. Verbandsübungen der SA mit der Waffe sind verboten. 7. Theoretische, militärische Vorschulung von SA-Führern, die am 1.4.34 das 24. Lebensjahr überschritten haben, für Führer- und Unterführerstellen in der Kriegswehrmacht in besonderen SA-Lehrgängen als Vorbereitung für entsprechende Ausbildung in der Wehrmacht. 8. Gliederung der Grenzschutz-Einheiten aus den SA-Einheiten. Weisungen durch Wehrgaubefehlshaber. Einzuteilen sind die im Grenzgebiet wohnenden feldbrauchbaren Männer (ehemalige Soldaten, kurzfristig im Heere und im SA-Sport Ausgebildete). Zugehörigkeit zur SA ¡st für Verwendung im Grenzschutz nicht Vorbedingung. 9. Militärische Ausbildung für den Grenzschutz erfolgt: a) im Rahmen der SA-Sportausbildung durch SA gemäß Ziffer 5 in Militärische

C.

Mitwirkung im

besonderen Grenzschutz

b) D.

Beteiligung

an

Mob.Vorbereitungen

Lagern; durch das Heer

gemäß Ausbildungsbestimmungen. Mobilmachung des gesamten Kriegsheeres wird einheitlich durch das Reichswehrministerium angeordnet und geleitet. Listliche Erfassung, Aushebung und Musterung, Kontrolle und Kriegsbeorderung aller Verpflichtungen sowie Bereitstellung und Erfassung

10. Die

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Ergänzungsgeräts für die Kriegswehrmacht erfolgt durch die Ersatzorganisation der Wehrmacht. 11. Aufgaben der SA im Rahmen der Mobilmachung: a) Die Wehrfähigen innerhalb der SA-Einheiten stehen als Ersatz für die Kriegswehrmacht, sonstige Formationen militärischen Charakters (z. B. Landespolizei, verst. Grenzaufsichtsdienst, Post- und Bahnschutz, Reichsbahnbetriebe, Reichsbahnkolonnen) und für die Rüstungsindustrie zur Verfügung. Anforderungen der Wehrmacht ist zu entsprechen. b) Führung von Aufteilungskalendern für die SA-Einheiten, die in des

enger Zusammenarbeit mit den Erfassungsstellen der Wehrmacht auf dem Laufenden zu halten sind. c) Unterstützung der materiellen Mob.Vorbereitungen der Wehrmacht. Nutzbarmachung aller Vorräte an Waffen, Munition und Kriegsgerät für SA für A-Fall. Tätigung von Beschaffungen kriegsbrauchbaren Materials nach Angabe des Rw.Min. 12. Vorbereitung der Mobilmachung derart, daß die Männer einer bestimmten Einheit der SA möglichst in einen Kriegsverband der Wehrmacht übernommen werden. Militärische Eignung ist Voraussetzung. Militärische Belange entscheiden. 13. Führerstellenbesetzung für A-Fall erfolgt entsprechend militärischer Eignung. SA kann Vorschläge machen. Entscheidung liegt bei Wehrmacht. Im Grenzschutz können Stellen von Grenzschutz-Regimentskommandeuren mit SA-Führern bereits friedensmäßig besetzt werden, soweit diese hierzu militärisch voll geeignet sind und in das L-Offizierkorps übertreten. E. Sicherstellung der 14. Die Inspekteure der SA überwachen als Beauftragte der O.S.A.F. die einheitliche Durchführung der der SA obliegenden Aufgaben und verZusammenarbeit mitteln reibungslose Zusammenarbeit. 15. Die Zusammenarbeit erfolgt auf territorialer Grundlage. Die Wehrmachtsbelange haben in jeder Beziehung den Vorrang. 16. Es entsprechen im allgemeinen in ihrer territorialen Gliederung:

den Obergruppenbezirken, den Gruppenbezirken, die Wehrgaue einem Brigade- oder mehreren die Erfassungsgebiete Standartenbereichen. der Bez.Kdos. die ist Im Grenzgebiet Abschnittsemteilung bis zu den Grenzschutzverbänden maßgebend für die Gliederung der SA bis zu den Standarten einschl. 17. Dementsprechend sind auf Zusammenarbeit gemäß Ziffer 3 Schlußabsatz angewiesen entsprechend der beiderseitigen Bezirke: die Befehlshaber der Wehrkreise mit den Führern der Obergruppen, Die Wehrkreise

die Befehlshaber der

Standarten,

Wehrgaue

mit den Führern der

Brigaden

bzw.

die Grenzschutz-Abschnittskommandeure sowie die Leiter der Heeresdienststellen Dortmund, Gießen und Stuttgart mit den entsprechenden SA-Führern nach Bestimmung durch die Oberste SA-Führung.

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F. NSKK

und SS

Ohne Einverständnis der auf Zusammenarbeit angewiesenen Stellen führt das unmittelbare Herantreten an untergeordnete Stellen des anderen Befehlsbereichs zu Mißverständnissen und ist verboten. 18. Die Zusammenarbeit der Bezirkskommandos mit den entsprechenden SA-Bezirken wird durch Abstellung von Verbindungsorganen seitens der SA zu den Bez.Kdos. gefördert. 19. NSKK und SS sind Gliederungen der SA und damit den gleichen Bedingungen unterworfen.

8 Schreiben des Wehrkreiskommandos (Bayer.) VII vom 21. April 1934 an den Infanterieführer VII, den Artillerieführer VII und die Kommandantur Regensburg zur Weitergabe der Anordnung des Chefs der Heeresleitung über die Durchführung des „Vorschlages" durch die SA MGFA/DZ: WK VII/1295

Schreibmaschinen-Durchschlag mit Unterschrift des Oberstleutnant i. G. Kubier. Rechts am Rand handschriftliche Marginalie „Betr. Vorschlag für Zus.Arb. mit SA. Art. Fü VII 312/34 gK." Unten links Eingangsstempel des Artillerie-Führers VII vom 23. 4. 34 mit handschriftlichem Vermerk: „1. Unterlagen bei Besprechung der Kdre. am 23. 4. einholen. 2. desgl. bei Besprechg. der Artl. bei Art. Fü VII A am 24. 4. 14.00 Uhr", mit Paraphe von Mai. G.

jor

Rupp.

Wehrkreiskommando VII Ib Nr. 1296/34 g.K./E.

München 1, den 21. 4. 1934 Brieffach

Geheime Kommandosache An

Inf.-Führer VII Art.-Führer VII Kdtr. Regensburg Mit Ch. H. L. T A Nr. 544/34 g. K. T 2 III A v. 17. 4. 34 erging anher: „Zur Gewinnung eines Überblickes über die auf Grund des Vorschlages" (Chef H. L. T. A. Nr. 274/34 g. K. A 2 III T v. 27. 2. 34) geschaffene Lage werden W.Kdos. ersucht, bis zum 28. 4. 34 über folgende Fragen zu berichten: l.Sind die gemäß Ziffer 17 auf Zusammenarbeit mit der Wehrmacht angewiesenen SA-Führer über den Inhalt des „Vorschlages" unterrichtet? 2. Sind bei Verhandlungen über die Durchführung der im „Vorschlag" getroffenen Anordnungen seitens der SA Schwierigkeiten gemacht und Auffassungen vertreten worden, die den Vereinbarungen entgegenstehen? Worin bestehen die Widerstände? 3. Fügen sich SS und NSKK den getroffenen Abmachungen? Zu 2. und 3. Die abweichenden Auffassungen und Anordnungen zu den Vereinbarungen für die Zusammenarbeit sind im einzelnen mit Beweismaterial zu belegen. gez. Frhr. von Fritsch" W. Kdo VII bittet um Bericht bis spätestens 26. 4. 1934. Der Chef des Stabes Kubier

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9 Anordnung des Reichswehrministers vom 21. April Wehrmachtspropaganda

der

1934 über

Intensivierung und Akzentuierung

MGFA/DZ: H 24/6 Abschrift für die Heeresleitung, oben links Paraphe des Generals der Artillerie Frhr. von Fritsch vom 28. 4. 34, oben rechts Eingangsstempel des Chefs der Heeresleitung vom 23. 4. Nr. 73/74 geh. und handschriftlicher Vermerk „Abschrift zur Knts." Der Reichswehrminister Nr. 341/34 J IV a geh. Betr.

Berlin, den

21.

April

1934

Wehrmachtspropaganda

Die heutige Zeit macht eine verstärkte Propaganda für die Wehrmacht in der deutschen Öffentlichkeit zum dringenden Gebot. Die Wehrmacht muß im öffentlichen Leben mehr als bisher in Erscheinung treten als alleiniger Waffenträger der Nation, als im Sinne der Regierung Hitler absolut zuverlässig, als im nationalsozialistischen Denken planmäßig erzogen. Ich ersuche die Herren Befehlshaber und Stationschefs, dieser Frage in den nächsten Monaten besondere Aufmerksamkeit zu schenken und alle sich bietenden Gelegenheiten für eine Verstärkung der Wehrmachtspropaganda auszunutzen. Richtlinien und praktische Hinweise für diese Arbeit werden in Zukunft regelmäßig den Dienststellen durch das Wehrmachtsamt (Abt. Inland) zugehen.

(gez.)

v.

Blomberg

10 Brief des Chefs des Generalstabes des Gruppenkommandos 2 (Kassel), Generalleutnant Geyer, an den Chef des Ministeramtes, Generalmajor von Reichenau, vom 3. April 1934 über das Verhältnis des Offizierkorps zu Repräsentanten der Partei MGFA/DZ: W 01-5/107 (OKW 879) Original, Schreibmaschinenschrift, handschriftliche Unterschrift.

Gruppenkommando 2

Chef des Stabes

Kassel, den

3.

April

1934

Lieber Reichenau! In dem S. A. V. Blatt v. 15. III. 34 stehen zwei Angelegenheiten, die uns mittelbar nicht unerheblich berühren. Sie sind nicht voll dienstlich, ich bringe sie daher auf dem privaten Wege zur Sprache, obwohl anzunehmen ist, daß auch in Ihrem Amt das S. A. V. Blatt gelesen wird und diese Dinge Ihnen nicht entgangen sind. I. Nr. 5 behandelt Zugehörigkeit von SA zu geselligen Vereinigungen jeder Art, die damit sämtlich dem Diktat der SA-Gruppenführer unterstellt werden. Ein gewaltiger Eingriff! Da unsere Verkehrskreise immer mehr durchweg der SA angehören, bedeutet das, daß auch unsere gesellschaftliche Bewegungsfreiheit dem Diktat der SA-Gruppenführer unterstellt wird, sobald der Verkehr den reinen Privatverkehr überschreitet.

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Angelegenheit. Immerhin bestand bisher Wunsch führend und tonangebend war. So beteiligten sich die Offz.-Korps mehr oder weniger offiziell an „Harmonien", „Kasinogesellschaften" und dergl. Nun aber kann der Fall eintreten, daß z. B. hier in Kassel die zivile Kasinogesellschaft mit einigen 500 Mitgliedern (meist Beamte und Offz. a. D., aber auch andere) Knall und Fall vom SA-Gruppenführer gesprengt wird. Die Gesellschaft besteht seit 130 Jahren und wurde stets vom Standort gestützt. Seutter und Kühlenthal versuchten ihr sehr lebhaft zu helfen. Das Offz. Korps Kassel gehört ihr heute noch an und verkehrt viel dort übrigens

Gesellschaftliches ist nicht in und Sitte, daß der Offizier

erster

Linie

unsere

gesellschaftlich

-

in Räumen, die

uns

gehören.

-

bei dem

glaube nicht, daß die Sache hier aktuell werden wird, falls wir rechtzeitig ständigen großen Mann „bitten" gehen. Ich weiß aber nicht, ob ein solcher „Bittgang"

Ich

zu-

unserer

Stellung, wie sie war und sein soll, entspricht und fürchte, daß an vielen Orten sdiwierigere Verhältnisse sind. Ich stelle daher die Frage: 1. Wie denkt Rw. Min. über diese Dinge? 2. Sollen wir die Stellung halten oder sollen wir uns rechtzeitig zurückziehen? und anderen! schriftlich Bescheid geben oder sollen wir selbständig 3. Werden Sie uns schwimmen? Für ev. vorläufige, persönliche, sehr baldige Anwort wäre ich sehr dankbar, da voraussichtlich schon am 7. 4. bei uns im Vorstand, dem Chef und Adjutant hier dienstlich angehören, zu der Sache Stellung zu nehmen ist. II. Nr. 9 bringt ein Ehrenzeichen, u. a. auch für ehemalige Reichswehrangehörige, die von der damaligen Führung wegen Ungehorsam, Eidbruch, Torheit oder Schwäche für unwürdig oder ungeeignet gehalten wurden, der Reichswehr anzugehören. Es wäre für uns von Interesse zu erfahren, ob wir diese mittelbare Ohrfeige einstecken müssen. Hält man es für zweckmäßig, richtig oder möglich, für die damalige Führung einzustehen? Oder ist man der Ansicht, daß es sich nur um eine so unbedeutende Angelegenheit handelt, daß Kampf nicht lohnt? In diesem Zusammenhang möchte ich die Frage wiederholen, die ich Vietinghoff vor einigen Monaten gestellt habe: Wie helfen wir den zwischen 1920 und jetzt, sowie den in Zukunft ehrenvoll ausgeschiedenen Soldaten, daß sie, falls sie SA werden wollen was sie ja praktisch müssen! vor Mißgunst und schlechter Behandlung von Dorfkönigen sicher sind? Wie wird die 12-14jährige auch Rw. Dienstzeit angerechnet und nach von nat. soz. Standpunkt aus besonders ehrenvolle außen und innen sichtbar gemacht? Diese und ähnliche! Dinge sind für uns als Soldaten gewiß nur Peripheriefragen. Sie sind aber sehr wesentlich für das Verständnis der Rolle, die wir und andere! dem Soldaten in Volk und Staat zuweisen wollen. Mit bestem Gruß Ihr Geyer -

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605

II Bericht des Reichswehr-Meldeamtes Weiden an die Kommandantur 16. Mai 1934 über eine Besprechung mit der SA-Standarte 6

Regensburg vom

MGFA/DZ: WK XIII/696

Original, Schreibmaschinenschrift, unleserliche Unterschrift. M. A. Weiden Nr. 360

Weiden,

16. Mai 1934

Betrifft: Besprechung bei Standarte 6 An

Kommandantur

Regsbg. (W) Der Führer der Standarte 6 Amberg ist z. Zt. damit beschäftigt, die SA von anscheinend zahlreich vorhandenen, unzuverlässigen und teilweise staatsfeindlich eingestellten Personen („Kommunisten", „Schwarzen" und „Reaktionären") zu säubern und erblickt seine derzeitige dringendste Aufgabe darin, die SA im nationalsozialistischen Geiste derart zu schulen, daß sie eine jederzeit verlässige, politische Truppe unseres Führers ist. Neben Durchführung dieser, von ihm als seine Hauptaufgabe bezeichneten Tätigkeit, ist er bereit, das Meldeamt zu unterstützen und hat die Übersendung der schon mehrmals angemahnten Listen für die ersten Tage nach Pfingsten in Aussicht gestellt. Bezüglich Einteilung der Führer bei den aufzustellenden Formationen wurde vom Standartenführer erklärt, daß er jede Persönlichkeit, die nicht Mitglied der SA sei, als Führer für die von ihm abzustellenden Stürme unweigerlich ablehne. Hierunter fallen z. B. auch die vom M. A. eingeteilten und militärisch bewährten Führer der Kp. 5/704 (Herr Deglmann) und des Batís. 1/704 (Frh. v. Hirschberg), letzterer, weil als „schwarz eingestellt" bekannt. Auch ehemalige RW-Angehörige könne er nur dann als Führer anerkennen, wenn sie Mitglieder der SA seien. Bei Besprechung der Gesichtspunkte für die Führerstellenbesetzung hat sich ergeben, daß die unlängst zwischen der obersten SA-Führung und der RW getroffenen Vereinbarungen bei der Standarte nicht bekannt sind; auch sei nach Angabe des Standartenführers erst unlängst der Standarte vom Obergruppenführer, Herrn Oberst a. D. Hofmann, zum Vorwurf gemacht worden, daß sie es bis jetzt noch nicht durdigesetzt habe, daß die Führerstellen ausschließlich von Angehörigen der SA besetzt seien. Bezüglich Einteilung der Mannschaften bestehe die Standarte darauf, daß die einzelnen Stürme geschlossen bei den einzelnen Formationen eingeteilt werden oder, soweit dies in Ausnahmefällen nicht durchführbar sei, zum mindesten in größeren, geschlossenen Trupps. Gegen die geplante Ergänzung der fehlenden Mannschaften aus den Gend. Listen etc. wurde kein Einwand erhoben. Bei der Besprechung der Frage „Teilnahme an den Ausbildungskursen" wurde vom Standartenführer erklärt, daß er sämtliche unterstellten Stürme anläßlich einer Führerbesprechung in Nabburg von der geplanten Abhaltung der Führerausbildungskurse verständigt habe; im Widerspruch

hiezu ist nach den bisher von den Stürmen erhaltenen Nachrichten dort jedoch hievon nichts bekannt. Im übrigen erklärte der Standartenführer, er müsse in erster Linie dafür sorgen, daß er die von ihm geforderten Abstellungen zu den Ausbildungskursen der SA-Sportschulen aufbringe. Wenn ein Teilnehmer an einem solchen Ausbildungskurs später auch noch den von der RW eingerichteten Führerkursen beitreten wolle, habe die Standarte hiegegen nichts einzuwenden. Es geht hieraus deutlich hervor, daß die Standarte 6 die Beschickung der Führerkurse den Kursen der SA-Sportschulen hintansetzt.

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606

Schließlich wurde im Verlaufe der Besprechung auch noch die Feststellung gemacht, daß die Standarte 6 der Ansicht ist, daß sie die vom M. A. Weiden bereits erstellten Anweisungen für die seinerzeitige Durchführung des „Sportwettkampfes Ostmark", auf Grund der ihr vorliegenden Befehle, selbst zu bearbeiten habe.

12 Anordnung des Reichswehrministers vom 2. April der Generäle

von

Schleicher und

von

1935 über die

Bredow

Behandlung der Ermordung

MGFA/DZ: WK IX/134

Vervielfältigtes Exemplar einer Abschrift, die unter „Chef der Heeresleitung vom

8. 4. 1935 den

wurde.

Nr. 1639/35 PA

höheren Kommandobehörden und Dienststellen des Heeres

Abschrift

(2)"

bekanntgegeben

Geheim

Der Reichswehrminister Nr. 1669 J (Ch).

Berlin, den

2.

April

1935

An

den Herrn Chef der

Heeresleitung Ich bitte anzuordnen, daß folgende Mitteilung sämtlichen Offizieren der Wehrmacht sofort im Wortlaut bekanntgegeben wird: Die interne Behandlung der Frage, ob man die verstorbenen Mitglieder des Vereins ehem. Generalstabsoffiziere (Schlieffen-Verein), die General von Schleicher und von Bredow, von der Mitgliederliste des Vereins streichen sollte und ein nichtvorgesehener persönlicher Zusatz des Vorsitzenden des Schlieffen-Vereins, Generalfeldmarschalls von Mackensen, haben vielfach den Eindruck erweckt, als ob eine Rehabilitierung der beiden Generale beabsichtigt und durchgeführt sei. Dies ist ein Mißverständnis. Lediglich für Vereinszwecke war dem Schlieffen-Verein die Bekanntgabe folgenden Wortlauts gestattet: „Was den Tod der genannten Generale

betrifft,

ist festgestellt, daß bei den rein politischen persönliche Ehre der genannten Offiziere nicht berührt worden ist, daß sie aber Wege beschritten, die als regierungsfeindlich angesehen worden sind und daher zu den verhängnisvollen Folgen führten. Eine Diskussion über diese Frage kann ich nicht zulassen, da die Reichsregierung durch einen gesetzgebenden Akt erklärt hat, daß der Tod der am 30. Juni und 1. Juli Gebliebenen als im Interesse des Staates erfolgt zu betrachten sei. Durch weitere Durchforschung der Materie würden wir uns auf das politische Gebiet begeben, das nadi unseren Satzungen der Vereinigung Graf

Machtkämpfen, um die es sich damals handelte,

so

die

Schlieffen verschlossen ist." Irgendeine Änderung des Standpunktes der Regierung und des bisherigen Offizierkorps in dieser Frage hat nicht stattgefunden und ist auch nicht möglich.

Standpunktes gez.

von

des

Blomberg

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607

13 Bericht des Wehrkreiskommandos (Bayer.) VII vom 11. Juli 1935 des Heeres über die Besichtigung bewaffneter SS-Einheiten

an

den Oberbefehlshaber

MGFA/DZ: WK VII/1295

Durchschlag, Schreibmaschinenschrift, oben rechts handschriftliche Bemerkung „Arfü", neben Bezugsvermerk handschriftlicher Registratur-Vermerk. Wehrkreiskommando VII Nr. 2649/35 g. K. Ib/E.

München, den

dem

11.7. 1935

Geheime Kommandosache

SS.-Verfügungstruppe Bezug: T. A. Nr. 1510/35 g. K. T 2 Betr.:

IIIA

vom

12.6.1935

6 Ausfertigungen 2. Ausfertigung

An den

Oberbefehlshaber des Heeres Zu berichten ist über I./u. II./SS 1 und 13. (M. W. K.)/und 14. (Kradsch.)/SS 1. Zu 1: La) I./SS 1 besteht seit 2.1.34. Sämtliche Unterführer wurden 6 Monate bei der L. P. ausgebildet und anschließend 3 Monate auf einem Truppenübungsplatz. Seit 1. 7. 34 ist das Btl.

b)

aufgefüllt.

II./SS 1 wurde Januar 35 aufgestellt. Die Unterführer wurden im wesentlichen dem I.SS 1 Das Btl. besteht in der Hauptsache aus Österreichern. Die Offiziere sind bis auf einen Komp.-Chef (ehem. österr. Offz.) Reichsdeutsche. 13. u. 14. Kp./SSl wurden im Januar 35 aufgestellt. Sämtliche Einheiten sind voll nach St. N. (RH). entnommen.

c) 2.

Offizierstellenbesetzung: I./SSl:Btls.Kdr.:

Hptm. d. L. P.

Kp.Chefs:

2 Kp.Chefs ehem. Offz. d. a. H. 1 Kp.Chef ehem. RH-Feldw. 1 Kp.Chef SS-Führer

Zugführer:

8 mit 12jähriger Dienstzeit im RH, 6 SS-Fähnriche aus den Schulen Tölz und

II./SS1: Btls.Kdr.:

Komp.Chefs: Zugführer: 13.

akt.

ehem. Hptm. d. L. P. 1 Offizier d. a. H. 1 ehem. österr. Offz. 2 ehem. RH-Feldw. 2 ehem. RH-Feldw.

(Frühjahr

35

Braunschweig ausgeschieden)

Rest: SS-Führer und SS-Fähnriche.

Kp. (M.W.K.):

Komp.Chefs: Zugführer:

char. RH-Hptm. (1928 2 ehem. RH-Feldw. 3 SS-Fähnriche

ausgeschieden)

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608 14. Kp.

3.

(Kradsch.): Komp.Chef: Zugführer:

akt. L.P. Hauptm. 2 SS-Führer, die in Kursen in Döberitz erhalten haben. 1 SS-Fähnrich.

Qualifikation

zum

Zugführer

Ausbildung: Eine Besichtigung der Ausbildung hat bisher nur beim I./SS 1 stattgefunden. Beim II./SS 1, das sich hauptsächlich aus Österreichern zusammensetzt, habe ich nur einen Besuch abgestattet. 13. u. 14. Kp. verfügen noch nicht über die geforderten Sonder-Geräteausstattungen (vgl. zu 2.).

Der Ausbildungsstand des II./SS 1 ist nach Auffassung der SS erheblich hinter dem I. Btl. zurück. Die Exerzierausbildung beim I./SS 1 kann äußerlich als abgeschlossen gelten. Die Gefechtsausbildung bei diesem Batl. ist in der Ausbildung der Einheitsgruppe im wesentlichen abgeschlossen; sie soll im Sommer im Zug und in der Komp. erfolgen, soweit dies bei der unter a) bezeichneten Vorbildung und Erfahrung der Offiziere und der Unterführer möglich ist. Im Gesamten ist festzustellen, daß ein gewisses strammes äußeres Bild (gesteigert durch sehr guten Ersatz von ausgesuchten Größenmaßen und gute Bekleidung) nicht täuschen darf über Mangel an Gründlichkeit und Erfahrung. Es ist ausgeschlossen, mit dem verfügbaren Führer- und Unterführerpersonal zu improvisieren, was im RH durch langjährige, mühsame Arbeit und aufbauend auf alte Überlieferung geleistet wurde.

Zu 2.: Materielle Ausstattung: 1. Die Anlieferung der fehlenden Ausstattung an Waffen und Gerät ist gerade im Gange und soll angeblich in kurzer Zeit abgeschlossen sein. Bisher fehlte vollständig: Gasschutzgerät, M.W.Gerät, M. G. Gerät für die 14. Kp., Lkw. und Feldfahrzeuge. 2. Das M. G. Gerät bei I./u. II./SS 1 war bisher zahlenmäßig zwar vollständig, jedoch zum großen Teil nicht kriegsverwendungsfähig. Die Handwaffen (Gewehre und Karabiner) sind bei sämtlichen Einheiten zahlenmäßig vollständig, jedoch beim II./SS 1 nur beschränkt kriegsverwendungsfähig (162 Gewehre nur mit

SS-Visier, die übrigen alt). verfügt jedes Btl. über eine Reserve

3. An Munition

von 350 000 Schuß SS-Mun., die als 1. Ausbetrachten ist. Diese Munition wurde zurückgelegt aus einer ohne nähere Zweckbestimmung erfolgten Überweisung der Muna Ingolstadt. 4. Bekleidung (erdgraue Uniform) und Ausrüstung als Feldgarnitur ist vollständig. 5. Pferde: Zahlenmäßig vollständig gem. St. N. (RH). 6. Pkw.: Je 3 in jedem Btl. und in 14. Kp.

stattung

zu

Zu 3.: Ein Befehl, eine Mob. vorzubereiten, ist an die genannten Teile der SS-Verfügungstruppe bisher nicht ergangen. Der augenblickliche Stand der Ausrüstung gestattet eine mobile Verwendung überhaupt noch nicht. Nach Vervollständigung der Ausrüstung erscheint volle Verwendungsfähigkeit für den Grenz-

schutz gegeben. Vorbehaltlich der Vervollständigung der Geräteausstattung ist die Mob. Verwendungsbereitschaft zu beurteilen wie für die aktive Truppe, wenn diese SS-Truppenteile für die Vorbereitung der Mobilmachung dem W. K. unterstellt werden.

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609

Da die Maßnahmen für den Grzsdi. Süd erst im Anlaufen begriffen sind, erneuert das W. K. den Antrag, für die Salzach-Innfront I.,/IL, III. SS 1 und die 13. und 14. Kp/SS 1 jetzt schon zur Ver-

fügung zu stellen und diese Verbände und Einheiten bis zur Vervollständigung ihrer planmäßigen

Ausstattung behelfsmäßig dafür auszustatten. Die Möglichkeit, das II./SS 1 (österr.) in seiner jetzigen Zusammensetzung an der Salzach-Innfront zu verwenden, ist jedoch nicht gegeben. Es ist erforderlich, die Österreicher in andere SS-Verbände zu versetzen.

Für die militärische

Bewertung der gesamten Einheiten der SS-Verfügungstruppe ist zu berücksie eine auf innerpolitischer Grundlage entstandene Truppe ist. Gelegentlich der Maiunruhen in München haben sich z. Tl. noch bedenkliche Erscheinungen hinsichtlich der Disziplin gezeigt. Es ist zu erwarten, daß mit Fortschreiten der Festigung der militärischen Erziehung und Ausbildung derartige Mängel disziplinärer Art allmählich behoben werden. Der Kdrd. General des VII. A.K. u. Befehlshaber im Wehrkreis VII:

sichtigen, daß

gez.

Adam,

General d. Infanterie

H Bericht des Artillerie-Führers (Bayer.) VII, Generalmajor Halder, vom 22. Dezember 1934 über die innerpolitische Lage an den Befehlshaber im Wehrkreis (Bayer.) VII, Generalleutnant Adam MGFA/DZ: WK VII/1295

Durchschlag, Schreibmaschinenschrift, handschriftliche Überschrift „Zweitschrift", eigenhändig vollzogen. Am Ende unter der Klassifizierung „Geheime Kommandosache" der handschriftliche Vermerk des Ia des Artillerieführers: „Urschriftliche] R[üdkgabe] ohne Anlagen -", und dem Weitergabevermerk „mit der Bitte um Kenntnisnahme" an die Regimentskommandeure der 7. Division unter dem Zusatz: „Der vorstehende Bericht enthält die Auffassung des Herrn Art.-Führers über die innerpolitische Lage auf Grund persönlicher Rücksprachen mit verschiedenen Stellen und auf Grund eingelaufener Meldungen. Eine weitere Bekanntgabe ist nicht notwendig; soweit die Herren Rgts.Kdeure. es für notwendig erachten, können sie diejenigen Kommandeure, die zugleich Standortälteste sind, über die Auffassung der Lage durch den Herrn Art.-Führer unterrichten. I. A. Rupp, Major. Weitergabe von Hand zu Hand -" ; darunter der Vermerk von fremder -

Hand: „Drittschrift

-

am

7. 6. vernichtet,

v.

Thadden."

Der Artillerie-Führer VII

München, den

22.12. 1934

Geheime Kommandosache! Dem Herrn Befehlshaber im Wehrkreis VII

Lagenbericht 6 Anlagen In Zusammenfassung und Ergänzung meines mündlichen Vortrages am 17.12. berichte ich: Die Lage ist gekennzeichnet durch eine unheimliche Spannung, die weite Kreise der Bevölkerung beherrscht. Man erwartet, sobald die nahe bevorstehende Saarabstimmung befriedigend verlaufen ist, die Auslösung innerpolitischer Spannungen, deren Austrag mit Rücksicht auf mögliche Rückwirkungen auf die Saar-Abstimmung bewußt aufgeschoben wurde. Diese Spannungen sind teils rein politischer Art, teils kirchlicher Art. Die innerpolitischen Spannungen sind einerseits gegeben durch Gegensätzlichkeiten innerhalb der Bewegung, und zwar sowohl zwischen den einzelnen Gliederungen, wie SA, SS, Partei usw. als auch vor allem zwischen radikalen und gemäßigten Strömungen innerhalb dieser Gliederungen, Betr.:

::n

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610

zwischen der Bewegung und den außerhalb der bevorstehenden großen Ereignissen gesprochen. Die öffentlichen Andeutungen des Reichspropaganda-Ministers haben diese Erwartung gesteigert. Was aber zu erwarten ist, weiß niemand. Jeder kombiniert aus seinem Gedankenkreis heraus. Innerhalb der SA erhoffen die Gemäßigten eine Säuberung der SA und der Partei von den immer noch zahlreichen, unzulänglichen Vertretern. Ein hoher SA-Führer sagte vor kurzem zu mir: „Wir brauchen noch mehrere 30. 6. und die beginnen nach der Saarabstimmung." Die Radikalen sprechen von Vernichtungskampf gegen die Reaktion. Andeutungen über „schwarze Listen", „Nacht der langen Messer" usw. laufen um. Innerhalb der Obersten SA-Führung ist zwar ein Referat für zahlenmäßigen Abbau der SA geschaffen worden, es fehlen ihm aber die Unterlagen für praktische Arbeit. Die Ziele der SA werden zwar gelegentlich in der Presse theoretisch erörtert, für die praktische Arbeit der Außenstellen sind sie nach wie vor völlig unklar. Unsicherheit und flaue Stimmung sind die Folgen. Zwischen SA und Heer besteht wenig Verbindung. In kleinen Standorten ist die Verbindung naturgemäß enger, beschränkt sich aber im wesentlichen auf das Gesellschaftliche. Die SS strebt nach Geltung als staatliches Machtmittel. Sie hält sich äußerlich zurück. Offenbar befindet sie sich in einem latenten Bereitschaftszustand. Gegenüber der SA ist sie kühl, gegenüber dem Heer zurückhaltend, fast mißtrauisch. Die SS fühlt sich anscheinend als Träger künftiger innerpolitischer Aktionen und als Vollzugsorgan der geheimen Staatspolizei. Indiskretionen junger SS-Leute lassen annehmen, daß für den Fall von Attentaten gegen leitende Männer der Bewegung automatisch Vergeltungsaktionen vorbereitet sind, deren Opfer es wird von „Tausenden" gesprochen bereits namentlich bestimmt sind und deren Träger die SS ist. In der Bevölkerung ist Sorge um die künftige wirtschaftliche Entwicklung mit deutlichem Mißtrauen gegen die Machtexponenten der Bewegung, vor allem gegen die geheime Staatspolizei, gepaart. Denunziationen und Gerüchtebildung blühen. Die Angst vor den nach der Saar-Abstimmung angekündigten innerpolitischen Kämpfen läßt den Ruf nach vorbeugend zu verhängendem militärischen Ausnahmezustand immer häufiger laut werden. Die Stimmung auf dem Lande, wo die Unzulänglichkeit der Vertreter der Bewegung teilweise besonders scharf hervortritt, ist fast noch gespannter wie in den Städten. Hier wie dort bleibt aber die Person des Führers und Kanzlers allgemein von der Kritik ausgenommen. Die Spannungen zwischen Kirche und Bewegung sind bei beiden Konfessionen gleich scharf. Die Hinneigung leitender Persönlichkeiten, insbesondere des Reichsjugendführers, zu Rosenbergschen Gedankengängen und der immer wieder gemachte Versuch, Rosenbergsche Gedanken Nationalsozialismus zu setzen, gibt der Auffassung, daß die Bewegung die Grundlagen der christlichen Weltanschauung bedroht, immer wieder neue Nahrung. So entsteht in unserer fast durchweg positiv christlich und kirchlich eingestellten Bevölkerung eine Bewegung, die notgedrungen zu einer ernsten Gegensätzlichkeit weiter Kreise gegen die Bewegung führen muß. Sie findet aus dem umfassenden Nachrichten-Apparat der Kirchen immer wieder Anlaß zu Sorge und Befürchtungen. Die unverhüllten Voransagen rücksichtsloser Gewaltanwendung gegen die Geistlichkeit nach Mitte Januar (Saar!), die aus evangelischen und katholischen Gegenden gemeldet werden, sind nicht geeignet, diese Befürchtungen zu bannen. In den Auseinandersetzungen innerhalb der evangelischen Kirche ist zu befürchten, daß der kirchliche Konflikt durch politische Gewaltanwendung beseitigt werden soll. Landesbischof Dr. Meiser hat Meldungen in Händen, nach denen ab Mitte Januar gegen die evangelische Opposition mit Gewaltmitteln seitens der Partei vorgegangen werden soll; er kann auch den Beweis erbringen, daß Parteimittel der Gaupropaganda-Leitung Franken gegen die evangelische Opposition eingesetzt wurden. Die Gewaltanwendung gegen die evang. Bekenntniskirche wird planmäßig vorbereitet durch die Version, die oppositionellen Bischöfe hätten die außerpolitische Zwangslage der Reichsregierung benützt, um dem Kanzler ihre Wiedereinsetzung abzuringen und damit Hochverrat geübt. Auch hier scheint eine schwarze Liste zu bestehen mit den Namen derjenigen, gegen welche

andererseits durch zunehmende

Bewegung stehenden

Gegensätzlichkeit

Kreisen. Überall wird

von

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-

=

Dokumente

611

Gewaltanwendung vorbereitet ist. Diese Liste ist beim Völkerbund in Genf bekannt. Sie wurde 10 Tagen einem in Böblingen landenden Schweizer abgenommen. Nach ihr sollen am 14. 1. 35 früh festgenommen werden Pastor von Bodelschwingh die

vor etwa

Landesbischof Wurm und

andere,

ab 14. 1. 35 unter verschärfte Polizeiaufsicht Landesbisdiof Dr. Meiser Dekan Langenfass (München) Landger. Dir. Dörfler (Augsburg) Bürgermeister Gesswein (Augsburg)

gestellt werden

und andere, darunter mehrere Münchner.

listenmäßige Vorbereitung gewaltsamer Eingriffe in den Kirchenkonflikt ist nach den mir aus Augsburg gewordenen Meldungen in weiteren Kreisen bekannt und erregt erhebliche sucht nach Wegen, den Führer und Kanzler über die Vorhaben, die er sicherlich Man Aufregung. nicht billigen würde, zu verständigen, und nach Mitteln, die Bedrohten zu schützen. So kommen die Dinge an die Standortältesten, auf die man letzte Hoffnung setzt. Wenn auch darüber keinerlei Zweifel besteht, daß das Heer sich aus dem Kirchenkonflikt herauszuhalten hat, so kann doch die Entwicklung der Dinge rasch an die Grenze führen, wo statt innerkirchlicher Fragen die Staatsautorität auf dem Spiele steht und damit der Pflichtenkreis der militärischen Befehlshaber (z. B. Standortältesten) berührt wird. Diese Möglichkeit muß bei Heeresleitung und nachgeordneten Kommandostellen in Rechnung gestellt werden. Gewaltmaßnahmen in kirchlichen Dingen werden in weitesten Kreisen als Angriff gegen die christliche Weltanschauung aufgefaßt werden. Eigene Beobachtungen und mehrfache Gespräche mit verantwortlichen Beamten in Stadt und Land lassen mir wahrscheinlich erscheinen, daß der jungen nationalsozialistischen Bewegung aus einer wenn auch irrtümlichen Parole: „hier Bewegung, hier Christentum" in dem von mir zu überblickenden Bereich eine Gegnerschaft erwachsen wird, die eine ernste Gefährdung des bisher Erreichten bedeutet. Vorbeugende Maßnahmen erscheinen dringend geboten. Eine an mich ergangene Anfrage über vorbereitende Schutzmaßnahmen für bedrohte Kirchenführer habe ich mit dem Hinweis darauf beantwortet, daß dies abgesehen vom milit. Ausnahmezustand außerhalb des Aufgabenkreises des Heeres liegt und geraten, sich an den Herrn Reichsstatthalter zu wenden. Ob von dieser Stelle aus vorbeugende Maßnahmen getroffen werden, Diese

München und

-

-

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entzieht sich meiner Kenntnis. Die Truppe ist von den politischen Spannungen unberührt. Das Vertrauen der besorgten Kreise der Bevölkerung auf das Heer ist unbegrenzt. Das Bekenntnis des Heeres zum Christentum, das in Erlassen des Rw. Min. und in der Heeres-Seelsorge zum Ausdruck kommt, findet allgemeine

Beachtung.

Halder

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612

15 Schreiben des Reichskriegsministers Reichsminister Heß

vom

12. Oktober 1935

an

den

„Stellvertreter des Führers",

MGFA/DZ: W 01-5/110

Durchschlag, Schreibmaschinenschrift, oben rechts Abgangsvermerk

schrift Blombergs

vom

Paraphe.

12. Oktober

1935, Unter-

Entwurf 12.10. 1935

Der Reichskriegsminister und Oberbefehlshaber der Wehrmacht Nr. 1819/35 geh. J I a

Geheim

1. An den

Stellvertreter des Führers Herrn Reichsminister Heß Berlin W 8 Wilhelmstraße 64

meiner Kenntnis gekommen, daß Angehörige der Ersatzreserve nach Abschluß ihrer Auseinem Kreisleiter zum Bericht über ihre Erfahrungen aufgefordert worden sind. Insbildung besondere sollte darüber berichtet werden, ob Angehörige der SS oder SA besonders geschliffen würden. Ich bin überzeugt, daß es sich um einen Einzelfall handelt, halte es aber nicht für unmöglich, daß derartige Vorkommnisse sich nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wiederholen. Im Interesse des gegenseitigen Vertrauens wäre ich aber dankbar, wenn Maßnahmen zur Unterbindung einer derartigen „Kontrolle" getroffen würden. Es ist

zu

von

Big

2.

Über Ob. d. H. An das Generalkommando II. Armeekorps Abschrift I.A.

zur

Kenntnis

I6 Bericht des Artillerie-Führers (Bayer.) VII, Generalmajor Halder, (Bayer.) VII vom 28. November 1934 über das Verhältnis zur SS MGFA/DZ: WK VII/399

Durchschlag, Schreibmaschinenschrift, geh."

Vermerk „4 1B I

a

Nr. 5321/34

geh.

an

das Wehrkreiskommando

handschriftliche Unterschrift, oben rechts handschriftlicher Geheim 28.11.1934

An

Wehrkreiskommando VII Der im Bericht des Kf. A. München genannte SS-Sturmmann Alfons Brückl ist am gleichen Tage auch mit einem Angehörigen des Nachrichtenzuges, I. R. München in Händel geraten. Meldung des I. R. München liegt an.

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613

An sich steht das deutsche Offizierkorps zu hoch und ist seine Leistung in den Zeiten der marxistischen Revolution so allgemein und auch im heutigen Staate anerkannt, daß es ein unter Alkohol stehender SS-Mann gar nicht beleidigen kann. Es kehren aber in beachtlicher Regelmäßigkeit Fälle wieder, die eine Mißachtung des Offizierkorps in den unteren Kreisen der Wehrverbände deutlich erkennen lassen und den Schluß rechtfertigen, daß diese Stimmungsmache von Seiten der Oberen Führung der Wehrverbände nicht mit dem erforderlichen Nachdruck bekämpft wird. Abhilfe kann versucht werden: Entweder durch Klagestellung in jedem einzelnen Falle, soweit die Rechtslage Aussicht auf Erfolg bietet, oder durch Weitergabe der einzelnen Fälle an die höheren Dienststellen der Wehrverbände zur disziplinaren Erledigung. Der letzte Weg entspricht zwar den Weisungen des Herrn Reichswehrministers, wonach Austragen von Zwistigkeiten zwischen Reichsheer und Wehrverbänden vor der Öffentlichkeit möglichst zu vermeiden ist; es hat aber erfahrungsgemäß gegenüber der häufig angewendeten Verschleppungstaktik keinen oder nur unzureichenden Erfolg. Ich schlage deshalb vor, den von der Kf. A. München gemeldeten Vorfall zum Anlaß einer Forderung an die SS-Führung Bayerns zu nehmen, daß sie ihren Einfluß gegen die Stimmungsmache gegen das Offizierkorps nachdrücklich geltend macht. Falls Bedenken bestehen, die für ganz Bayern zuständige SS-Dienststelle in Anspruch zu nehmen, könnte der Fall in der vorgeschlagenen Weise zwischen Artillerieführer VII und der territorial zuständigen SS-Stelle behandelt werden. Bleiben Schritte dieser Art ohne Erfolg, dann wird in künftigen Fällen der Rechtsweg in Anspruch zu nehmen sein. In diesem Fall bitte ich um Entscheidung, ob alle Fälle der Klagestellung ex officio wie bislang dem Wehrkreiskommando vorbehalten bleiben sollen oder von den nunmehr mit gerichtsherrlichen Befugnissen ausgestatteten nachgeordneten Dienststellen für den Bereich ihrer gerichtsherrlichen Befugnisse zu übernehmen sind. Halder

17 Schreiben des Chefs der Heeresleitung vom 13. Mai 1935 mit Weitergabe eines Rundschreibens des „Stellvertreters des Führers", Reichsminister Heß, zur Unterrichtung der Truppe MGFA/DZ: WK VII/1507

Vervielfältigtes Exemplar.

Der Chef der Heeresleitung Nr. 235/35 geh.

Berlin, den

13. 5. 35

Geheim Der Stellvertreter des Führers hat anliegendes Rundschreiben an die maßgeblichen Parteidienststellen ergehen lassen. Es wird zur Kenntnisnahme und zur Unterrichtung der Truppe übersandt. Eine Weitergabe oder Veröffentlichung hat zu unterbleiben. Frhr. v. Fritsch Abschrift von Abschrift Der Stellvertreter des Führers.

Das

vom

Führer in der NSDAP

spiellosen opferreichen Kampfe schuf damit die Voraussetzung

Gesetz

vom

16. März 1935.

organisierte politische Soldatentum zertrümmerte in einem beidas pazifistisdie wehrfeindliche System der Nachkriegszeit und für die Wiederherstellung der deutschen Wehrhoheit durch das

Nach dem Willen des Führers sind die Partei und das neu erstandene Reichsheer in dem weiteren Ringen um die Neugestaltung des deutschen Lebens und um die Sicherung der Zukunft des deut-

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sehen Volkes die beiden entscheidenden Faktoren, von deren Arbeit und verständnisvollem Zusammenwirken das Schicksal der deutschen Nation abhängt. Politische und militärische Führung gehen beide von der gleichen soldatischen Grundlage aus. Beide sind nicht Selbstzweck, sondern dienen dem deutschen Volke. Während die NSDAP der alleinige politische Willensträger des deutschen Volkes ¡st, ist das Heer ihr alleiniger Waffenträger. Getrennt marschierend, aber sich in ihrer Arbeit gegenseitig ergänzend, arbeiten sie gemeinsam an der Schaffung der Grundlagen für ein soldatisches, nationalsozialistisches Deutschland. Diese notwendige enge Zusammenarbeit darf niemals durch kleinere oder größere Schönheitsfehler auf der einen oder auf der anderen Seite, die in Zeiten eines schnellen Aufbaues unvermeidlich sind, gestört werden. Die Partei hat nach der Machtübernahme eine Unzahl gerade ihrer besten Kräfte an den Staat, die Gemeinden, an Wirtschaft und an Verbände abgeben müssen, obwohl sie in Anbetracht des ungeheuren Anwachsens der Parteiorganisationen und ihrer Gliederungen und in Anbetracht vieler neuer Aufgaben selbst ein bedeutend größeres Führerkorps benötigte. Ein Teil der neuen Führer wurde den gestellten Aufgaben nicht gerecht, ein Teil der alten Führer bewährte sich ebenfalls nicht, wurde bereits ersetzt oder muß noch ersetzt werden. So absurd es nun wäre, der Partei insgesamt das Versagen und die Fehler einzelner zur Last zu legen und den einzelnen Fall als Beispiel zu werten, so falsch wäre es, die Wehrmacht insgesamt nach dem etwa von uns nicht zu billigenden Verhalten einzelner Unterführer zu beurteilen, zumal sich fast alle mir übermittelten Klagen gegen das Verhalten reaktivierter Offiziere, meist früherer Stahlhelmer, deren Zahl und Bedeutung im Führerkorps der Reichswehr keine Rolle spielt, richteten. Ich erwarte daher von allen Parteidienststellen, daß sie stets und überall um Verständnis für die Aufgaben und Notwendigkeiten der Wehrmacht werben, ihre Dienststellen in jeder Beziehung unterstützen und mit ihnen gut zusammenarbeiten. Bei Unverständnis unterer Dienststellen der Wehrmacht den Aufgaben der Partei gegenüber ¡st aufklärend zu wirken. Bei entstehenden Spannungen und Reibungen ist unbedingt gütliche Regelung anzustreben, nötigenfalls an mich zu berichten. Ich erwarte von der politischen Einsicht aller Leiter und Unterführer der Partei, besonders aber der Hoheitsträger, daß sie trotz auftretender kleiner Mißverständnisse alles daransetzen, das gegenseitige Verständnis immer mehr zu vertiefen und die Verbindung zwischen Partei und Wehrmacht immer enger und inniger zu gestalten. Um dieses Ziel schneller zu erreichen, bitte ich, zu allen großen Veranstaltungen und Führertagungen der Partei die örtlich oder gebietlich zuständigen Stellen der Wehrmacht, also des Heeres, der Marine und der Luftfahrt, einzuladen und umgekehrt ihren Einladungen Folge zu leisten. Je größer das gegenseitige Verständnis ist, desto leichter ist die Zusammenarbeit für das eine große Ziel:

Deutschland.

München, den

12. 4. 35

gez: R.Heß

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615

18 Schreiben des Chefs des Wehrmachtamtes, Generalleutnant W. Keitel, vom 3. Dezember 1937 an die Wehrkreis-Kommandos zur Weitergabe einer Anordnung des Reichsministers Heß MGFA/DZ: WK XIII/459

Vervielfältigtes Exemplar. Berlin, den

Reichskriegsministerium } (la)

Az.Bln 56.11 g Nr. 2960/37 geh.

3. Dezember 37

Gehe¡m

Anordnung des Stellvertreters des Führers Der Stellvertreter des Führers hat folgende Anordnung erlassen: „Die Partei sieht eine ihrer Hauptaufgaben darin, alle der Wehrhaftmachung des Volkes, der Aufrüstung des Reiches und der Pflege des Wehrgeistes dienenden Maßnahmen zu unterstützen. Die Auswirkung der Wehrgesetzgebung, die Einstellung jedes einzelnen zu den von ihm während des Aufbaues unserer Wehrkraft verlangten Opfern, die Dienstbereitschaft des zur Ableistung der Wehrpflicht einrückenden Mannes und das Nachklingen des Diensterlebnisses im ausscheidenden Soldaten, sie alle werden von der Bewegung empfunden, in ihrer Entwicklung verspürt und geleitet. Die Wehrmachtsführung weiß, daß der Führer durch seine Bewegung erst die Voraussetzungen für die Wehrhaftmachung des Reiches geschaffen hat. Sie weiß ferner, daß die Partei ihre ganze Organisation für die militärische, wirtschaftliche und geistige Aufrüstung einsetzt und in alle Zukunft einsetzen wird. Deshalb weiß sie auch die Arbeit der Partei an der Wehrerziehung des deutschen Volkes richtig einzuschätzen. Aufgebaut ist diese Arbeit allein auf der Grundlage des gegenseitigen Vertrauens. Die Bewegung bekümmert sich um die Entwicklung der Wehrmacht, nicht um kritisieren, sondern um helfen zu können. So notwendig und so erwünscht die Registrierung der Wehrfreudigkeit des Volkes durch das Instrument der Partei ist, so falsch wäre es, sich dabei solcher Mittel zu bedienen, die geeignet sein könnten, die Manneszucht der Truppe oder aber die Grundlage des Vertrauens zwischen Partei und Wehrmacht zu gefährden. Es wäre z. B. mit der soldatischen Disziplin unvereinbar, wenn Männer der Bewegung während ihrer Dienstzeit aufgefordert würden, Berichte über militärische Vorgesetzte oder über ihre Erfahrungen bei der Truppe einzusenden. Abgesehen davon, daß der Einzelne durch einen derartigen Auftrag in Zwiespalt zwischen seinen Pflichten als Soldat und der Parteidisziplin geraten könnte, bestünde die

Betr.:

Gefahr, daß die Wehrmacht in solchen Berichten eine beargwöhnende Schnüffelei sähe. Die Partei kann und wird darauf verzichten, mißverständliche Wege zu beschreiten, da sie ja der Wehrmacht bei der Lösung der ihr übertragenen Aufgabe helfen will. Sie wird schon deshalb auf die Anforderung von Stimmungsberichten verzichten, um nicht die vertrauenzerstörende Auffassung bei unseren Wehrmachtstellen aufkommen zu lassen, als sei in jedem seiner Wehrpflicht genügenden Angehörigen der Bewegung ein ,Parteispion' zu vermuten. Ich erwarte, daß dieser Hinweis genügen wird, um die Möglichkeit einer solchen irrigen Auslegung des Verhaltens einzelner Dienststellen oder einzelner Männer der Bewegung zukünftig auszuschließen. Wir sind stolz auf unsere junge Wehrmacht. Wir vertrauen ihrer Führung und werden ihr unsere Verbundenheit dadurch immer wieder am besten beweisen, daß ein jeder von uns ein diensteifriger, gehorsamer Soldat und ein vorbildlicher Kamerad ist." Vorstehende Anordnung des Stellvertreters des Führers ist bis zu den Bataillonskommandeuren

usw.

einschl.

bekanntzugeben.

jm Auftrage

Keitel

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19 Schreiben des Chefs des Wehrmachtamts, Generalleutnant W. Keitel, vom 4. November 1937 an die Wehrkreiskommandos mit der Weitergabe einer Anordnung des „Stellvertreters des Führers", Reichsminister Heß, an die Dienststellen der NSDAP über die Behandlung von Zwischenfällen zwischen Wehrmacht und Partei MGFA/DZ: WK VII/1652

Vervielfältigtes Exemplar. Abschrift Der

Reichskriegsminister

Berlin,

und Oberbefehlshaber der Wehrmacht Nr. 2710

den 4. November 1937

geh. Jla Geheim

Betr.: Zwischenfälle zwischen Wehrmacht und Partei Der Stellvertreter des Führers hat im Sinne des bei der Wehrmacht bereits geübten Verfahrens in einer Anordnung an die unterstellten Parteidienststellen folgendes bestimmt: Die Bereinigung aller Wehrmachtangehörige betreffenden Einzelfälle soll durch vertrauensvolle persönliche Aussprache zwischen dem Kreisleiter und dem Kommandeur erfolgen. Falls dabei keine zufriedenstellende Lösung erreicht wird, soll der Gauleiter mit der entsprechenden militärischen Stelle verhandeln. Erst wenn es hierbei zu keinem endgültigen Ergebnis kommt, wird die

Angelegenheit zwischen dem Stellvertreter des Führers und dem Reichskriegsministerium geregelt. Bei wesentlichen Vorgängen und Fragen grundsätzlicher Art wird der Gauleiter davon unterrichtet, bevor die Fühlungnahme mit der Truppe erfolgt. Bei besonders schwierigen Einzelfällen und bei Vorgängen, die über den Gaubereich hinaus Bedeutung haben, sowie bei allen Fragen und Erfahrungen, die für die Gestaltung des Gesamtverhältnisses zwischen Partei und Wehrmacht wesentlich

sind, wird

stets an

den Stellvertreter des Führers berichtet ohne Rücksicht darauf, ob eine

Regelung durch örtliche Besprechungen bereits eingeleitet oder erreicht ist. Den Stabschef der SA, den Reichsführer der SS, den Reichsjugendführer und den Korpsführer NSKK sowie die Leiter der angeschlossenen Verbände hat der Stellvertreter des Führers aufgefordert, ihre nachgeordneten Stellen entsprechend anzuweisen. Diese Anordnung ist bis zu den Batl.-Kommandeuren einschließlich bekanntzugeben. Im Auftrage Keitel

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20 Schreiben des Kommandeurs des Infanterie-Regiments 19, Oberst Himer, vom 12. Juni 1937 an den Kommandeur der 7. Division über das Abhören von Ferngesprächen durch die Politische Polizei MGFA/DZ: WK VII/1652

Original, Schreibmaschinenschrift,

am unteren

Rand

13. 6.1937.

Infanterieregiment geheim

Paraphe

von

Oberstleutnant i. G.

Rupp

vom

Tr. Üb. PL Grafenwöhr, den 12. 6. 37

19

Nr. 302

Geheim

An den Herrn Kommandeur der 7. Division

Am 19. 5. 1937 hat der Feldwebel der Reserve Schunke, der zu dieser Zeit bei der 12./J. R. 19 seine II. Res. Übung ableistete, seinem damaligen Kompanie-Führer Leutnant Schmidt mitgeteilt, daß ein Ferngespräch zwischen Hauptmann Haertl, dem Chef der 12./J. R. 19 in Freising und Hauptmann Pfisterer, dem Chef der 8./J. R. 19 in München von der Polizei abgehört werden sollte. Er sei davon durch die Polizei verständigt worden. Das Gespräch sei aber nicht zustande gekommen, da Hauptmann Pfisterer in München nicht zu erreichen gewesen sei. Schunke ist im Zivilberuf Adjutant des Polizeipräsidenten von München. Tatsächlich ist festgestellt worden, daß Hptm. Haertl in Freising am 15.5. um 10.35 Uhr ein dienstliches Ferngespräch mit Hptm. Pfisterer in München führen wollte. Das Gespräch ist jedoch nicht zustande gekommen, da Hptm. Pfisterer nicht zu erreichen war. Es wurde von Hptm. Haertl angemeldet, weil er mit Hptm. Pfisterer über den Feldwebel d. Res. Schunke, der damals in seiner Kompanie die II. Res. Übung ableistete und vorher die I. Res. Übung in der Kompanie des Hauptmann Pfisterer, 8./J. R. 19 abgeleistet hatte, Rücksprache nehmen wollte. Der Feldwebel d. Res. Schunke, der zur Zeit beim II./J. R. 19 seine III. Res. Übung ableistet, hat, in dieser Angelegenheit vernommen, die Äußerung gegenüber dem Ltn. Schmidt, wonach er von der Polizei über das Abhören eines Ferngespräches zwischen Hptm. Haertl und Hptm. Pfisterer unterrichtet worden sei, bestritten. Ltn. Schmidt hält jedoch mit aller Bestimmtheit aufrecht, daß sich Feldwebel d. Res. Schunke ihm gegenüber in der behaupteten Weise geäußert habe. Es drängt sich demnach die Vermutung auf, daß dienstliche Ferngespräche der Truppenteile bzw. von Offizieren, durch die Politische Polizei (Feldwebel d. Res. Schunke ist SS-Obersturmführer und zugleich Adjutant des Polizeipräsidenten von München) überwacht werden. Wenn dies tatsächlich der Fall ist, so muß es als empörend und beleidigend für die Wehrmacht betrachtet werden. Die Wehrmacht und die Partei mit allen ihren Gliederungen sollen doch gerade aufs engste im Sinne des Führers und Obersten Befehlshabers der Wehrmacht am Aufbau Deutschlands mitwirken. Die erste Grundlage hierzu ist gegenseitiges Vertrauen. Ein Abhören dienstlicher Ferngespräche durch die Polizei muß jedoch als Zeichen des Mißtrauens gewertet werden und ist beleidigend für die Wehrmacht. Ich bringe deshalb diesen Vorfall zur Kenntnis meiner vorgesetzten Dienststelle. Himer

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618

21 Erlaß des Reichskriegsministers in der Wehrmacht

vom

30.

Januar

1936 über

politische Erziehung und Unterrichtung

MGFA/DZ: W 01-5/185

Durchschlag, Sdireibmasdiinensdirift; neben den Adressatenzeilen des ObdH und ObdM die handschriftlichen Vermerke „Gegen Quittung", neben der Adressatenzeile des ObdL und RLM der Vermerk „Einschreiben". Auf einem weiteren Durchschlagexemplar die handschriftliche Überschrift „Entwurf" sowie die Paraphen Blomberg« und Keitels vom 1. 2. und der Vermerk „3 X ab. 3.

Febr. 1936".

Der Reichskriegsminister und Oberbefehlshaber der Wehrmacht Nr. 5848735 J IV b Betr.: Politische

Berlin W 35, den 30. Januar 1936

Erziehung und Unterrichtung der Wehrmacht

An

den Herrn Oberbefehlshaber des Heeres, den Herrn Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, den Herrn Reichsminister der Luftfahrt und Oberbefehlshaber der Luftwaffe

Offizierkorps der Wehrmacht kann

seine Führeraufgabe in Volk und Staat nur erfüllen, die das deutsche Volks- und Staatsleben lenkende nationalsozialistische Weltanschauung in geistiger Geschlossenheit als persönliches Eigentum und innere Überzeugung besitzt. Ich messe daher der einheitlichen politischen Erziehung und Unterrichtung des Offizierkorps der drei Wehrmachtteile besondere Bedeutung bei. Zu ihrer Sicherstellung ordne ich die dienstliche Berücksichtigung des nationalpolitischen Unterrichts nach folgenden Richtlinien an: a) Auf den Kriegsschulen des Heeres, den Luftkriegsschulen und der Marineschule werden im Rahmen des planmäßigen Unterrichts über Wehrwesen (Heerwesen, Dienstkenntnis) mindestens zwei Stunden im Monat dem nationalpolitischen Unterricht gewidmet. Außerdem ist jede durch den Dienst oder Unterricht gegebene Gelegenheit auszunutzen, die von der Wehrmacht zu Volk, Staat und Bewegung führenden Wechselbeziehungen zu behandeln. Die mit der Erteilung des nationalpolitischen Unterrichts beauftragten Offiziere werden an geeigneten Zeitpunkten (Unterrichtspause) zu kurzen, für die drei Wehrmachtteile gemeinsam durchzuführenden Lehrgängen einberufen und erhalten fortlaufend Hinweise über Stoffgliederung und Schrifttum. Als Ergänzung zu diesem Unterricht finden bestimmte politische Vorträge von außenstehenden Persönlichkeiten statt. Die Auswahl der Vortragenden und der von diesen zu behandelnden Fragen soll so erfolgen, daß nach Möglichkeit dieselben Persönlichkeiten dieselben Fragen vor den verschiedenen Kriegsschulen behandeln. b) Auf der Kriegsakademie, der Marineakademie, der Luftkriegsakademie und der Lufttechnischen Akademie sind die Fragen des nationalpolitischen Unterrichts im Rahmen des planmäßigen Unterrichts zu berücksichtigen. Als Ergänzung zu diesem Unterricht finden Vorträge von außenstehenden Persönlichkeiten

l.Das

wenn es

statt.

c) Auf der Wehrmachtakademie finden Vorträge von außenstehenden Persönlichkeiten

statt.

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d)

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In den Bereichen der Generalkommandos, der Stationskommandos und der Luftkreiskommandos werden kurze politische Unterweisungen für die Regiments- und Bataillonskommandeure und Kompaniechefs und die in entsprechenden Dienststellungen befindlichen Offiziere der Kriegsmarine und der Luftwaffe abgehalten. Diese politischen Unterweisungen dienen besonders auch der Unterstützung des „Unterrichts über politische Tagesfragen" in der Truppe (vgl. Rw. Min. Nr. 1238 34 J Ic vom 4. 4. 34 und Nr. 1998 35 J IV b vom 17.4.35). Als Ergänzung erfolgt eine Zusammenfassung der hierfür wichtigsten Fragen in für den Dienstgebrauch des Offizierkorps bestimmten Sonderheften der „Richtlinien für den Unterricht über politische Tagesfragen". Die von den Generalkommandos, Stationskommandos und Luftkreiskommandos für die Leitung dieser politischen Unterweisungen in Aussicht genommenen Offiziere nehmen an den für die Lehrer der Kriegsschulen usw. eingerichteten zentralen Lehrgänge teil.

Zusammenhang mit der politischen Erziehung und Unterrichtung des Offizierkorps lege ich auch auf eine gefestigte Kenntnis der außerdeutschen völkischen und staatlichen Lebensbedingungen und Machtverhältnisse Wert. Sie ist eine wesentliche Grundlage wehrpolitischen Urteils-

2. Im

vermögens.

Entsprechend meinen Richtlinien für den nationalpolitischen Unterricht ordne ich für die dienstliche Berücksichtigung des auslandkundlichen Unterrichts folgendes an: a) Auf den Kriegsschulen des Heeres, den Luftkriegsschulen und der Marineschule wird im Rahmen des Taktik- und Kriegsgeschichts-Unterrichts den Fragestellungen der Auslandskunde erhöhte Beachtung geschenkt. Ergänzend finden Vorträge außenstehender Persönlichkeiten über die wichtigsten Länder bzw. Ländergruppen statt, die auch den Fragen der völkischen Minderheiten besonderes Augenmerk zuwenden. Als Vortragende kommen in erster Linie geeignete Hochschullehrer in Frage. der Marineakademie, der Luftkriegsakademie und der Lufttechnischen Akademie sowie auf der Wehrmachtakademie finden Vorträge außenstehender Persönlichkeiten über die wichtigsten Länder bzw. Ländergruppen statt.

b) Auf der Kriegsakademie,

Gewährleistung der erforderlichen Einheitlichkeit in der Durchführung meiner Richtlinien bestimme ich: a) Für die Fragen des nationalpolitischen Unterrichts im Sinne dieser Verfügung ist WA (J), für die Fragen des auslandkundlichen Unterrichts WA (Ausl) federführend. Sie beraten insbesondere die für die Durchführung dieser Verfügung zuständigen Dienststellen bei der Auswahl von geeignetem Schrifttum und bei der Heranziehung von außerhalb der Wehrmacht stehenden Persönlichkeiten. b) Für den nationalpolitischen Unterricht der Wehrmachtfachschulen bleibt WA (Vers) unter Mitbeteiligung von J federführend. c) Meine Verfügung vom 13.11. 35 betr. volkspolitische Vorträge (WA Abw Nr. 1026.10.35 In) tritt außer Kraft.

3. Zur

von

Blomberg

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22 Anordnung des Kommandierenden Generals des VII. Armee-Korps, General der Artillerie von Reichenau, vom 30. Juni 1937 über nationalpolitische Erziehung MGFA/DZ: WK XIII/1382 Vervielfältigtes Exemplar; oben rechts Vermerk: „Nur für Offiziere".

Generalkommando VII. Armeekorps

München, den

(Wehrkreiskommando VII)

30.

Juni

1937

Az. 34 x lib Nr. 6416/37 Betr.:

Nationalpolitische Erziehung bei den Truppenteilen =183 (bis einschl. Bade.)

Verteiler: A I 2

DI EU F F (Arbeitsstab VIL Reserven bei II b

A.K.)

=41 =33 =44 44 =25 =

1. Die bei dem

nationalpolitischen Lehrgang der Wehrmacht vom 15. bis 23.1. 37 gehaltenen Vorin Buchform gedruckt und bis einsdil. Kpien. verteilt. Das Buch kann nicht als Unterrichtsbuch im üblichen Sinne aufgefaßt werden. Es dient vielmehr dem Chef der Einheit als Nachschlagewerk und als Anregung für seinen

träge wurden

Unterricht. Ich weise auf meinen Befehl hin, wonach wöchentlich einmal Gelegenheit zu nehmen ist, bei Unteroffz. und Mannschaften kurz über nationalpolitische Dinge zu sprechen. Auch im Sommer bieten z. B. guter Verlauf von Besichtigungen, der Abschluß anstrengender Übungen im Manöver usw. günstige Gelegenheiten, auf die Truppe im Sinne des von der nationalsozialistischen Lehre besonders betonten Gedankens der selbstlosen Hingabe an die Sache, der wahren Kameradschaft und des Leistungsgedankens einzuwirken. 2. Es kommt immer noch vor, daß

Rekruten, die ehemals Angehörige der Partei oder SA waren, im Dienst oder außer Dienst durch Vorgesetzte verärgert werden. Dies geschieht z. B. durch hämische Bemerkungen und Anspielungen über das Exerzieren und das soldatische Auftreten der SA: „Sie waren doch bei der SA, nun zeigen Sie, daß Sie marschieren können; oder: Haben Sie das bei der SA auch so gemacht? usw...." Die Leute haben in diesen Formationen ihren Dienst mit Hingabe und Begeisterung versehen, derartige Bemerkungen sind daher kränkend und zu unterlassen.

3. Die im

nationalpolitischen Lehrgang in Berlin unterwiesenen Offiziere stehen den Herren soweit notwendig, als Berater in besonderen Fragen auf diesem Gebiet zur

Divisions-Kdeuren,

Verfügung.

Der Kommandierende General: v. Reichenau

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23 Geheimerlaß Hitlers

vom

13. Mai 1936 über

„Rassepflege" in der Wehrmacht

MGFA/DZ: WK VII/399

Vervielfältigtes Exemplar. Laut „Ausführungsverordnung

OKH Nr. 2660/36 PA (2)" vom 25. Mai 1936 (MGFA/DZ: VII/399) durften dieser Erlaß und die entsprechenden Ausführungsbestimmungen nicht veröffentlicht werden; auch ein Abdruck im Heeresverordnungsblatt war verboten.

WK

Der Führer Oberster Befehlshaber der Wehrmacht

Berlin, den

13. Mai 1936

Geheim An die

Wehrmacht Die nationalsozialistische Staatsauffassung verlangt die Pflege des Rassegedankens und eine Führerauslese aus Menschenreihen deutschen oder artverwandten Blutes. Für die Wehrmacht ist es daher eine selbstverständliche Verpflichtung, ihre Berufssoldaten und damit ihre Führer und Unterführer über die gesetzlichen Vorschriften hinaus nach schärfsten rassischen Gesichtspunkten auszuwählen und dadurch als Erzieher in der soldatischen Schule des Volkes eine Auslese besten deutschen Volkstums zu erhalten. Ich erwarte, daß die Wehrmacht sich dieser Verantwortung für Volk und Vaterland bewußt ist. Der Reichskriegsminister stellt die einheitliche Handhabung in der Wehrmacht sicher. gez. Adolf Hitler

24 Vortragsnotiz des Majors i. G. Rössing, T 3/Attache-Gruppe, Gespräch mit einem chinesischen Diplomaten

vom

22. Mai 1934 über ein

MGFA/DZ: H 24/6

Original, Schreibmaschinenschrift, letzte Zeile vom Chef der Heeresleitung, General der Artillerie, Frhr. von Fritsch, unterstrichen. Unterzeichnet mit Paraphe von i. G. Rössing. Auf dem Anschreiben Paraphe des Chefs der Heeresleitung vom 23.5. 34Major sowie Rotstift-Vermerk des Adjutanten: „Gelegentlich Min [ister] orientieren." Dieser Vermerk später mit Blaustift durchgestrichen, daneben vermerkt: „z. d. A. 25./7." mit Paraphe des Adjutanten Major i. G. Frhr. von Funck. Berlin, den 22. Mai

1934

Geheim

Vortragsnotiz 1. Gelegentlich des Frühstücks, das der Herr Chef T. A. den fremden Mil. Attachés am 16. 5. gab, sprach ich mit dem die Geschäfte des Mil. Attaches für China wahrnehmenden Leg. Sekr. Tan. Ich bat ihn um seine Unterstützung bei Unterbringung einiger junger Offiziere im chinesischen Militärdienst. Die Offiziere seien ausgezeichnet beurteilt, ihr Ausscheiden aus dem Reichsheer erfolge lediglich wegen des Arierparagraphen. Leg. Sekr. Tan erklärte, daß er an und für sich sehr gern helfen würde, er glaube jedoch nicht, daß die Offiziere unterzubringen wären. Als Grund teilt er mir vertraulich mit, daß von der

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622

deutschen

Regierung sehr nahestehenden Parteidienststellen der NSDAP den chinesischen Regierungsstellen offiziell nahegelegt worden sei, von der Anstellung von Nichtariern abzusehen. Als Begründung sei angegeben worden, daß die betr. Nichtarier keine Repräsentanten des deut-

schen Volkes seien und das deutsche Reich von ihrem Wirken im Ausland keinen Nutzen haben würde. 2. Bei Tisch fragte mich Leg. Sekr. Tan, weshalb die großen Bilder des Kaisers und der Kaiserin aus dem Saal im Kaiserhof entfernt worden wären. Ich hatte das Fehlen der Bilder noch nicht bemerkt und sagte, wahrscheinlich würden die Bilder vorgerichtet. Nach Tisch fragten mich der rumänische und schwedische Mil. Attache beim Hinausgehen aus dem Saal ebenfalls nach dem Grund. Später erkundigte ich mich bei einem der Geschäftsführer und erhielt die Antwort, die Entfernung sei von den im Kaiserhof verkehrenden Angehörigen der NSDAP verlangt worden.

25 Internes Schreiben des Chefs der Organisationsabteilung des Truppenamtes, Oberstleutnant i. G. von Sodenstern, vom 7. Dezember 1933 und Entwurf einer Regelung der „Befugnisse der obersten

politischen und militärischen Führung im Krieg und Frieden"

MGFA/DZ: H 1/319 b Anschreiben: Durchschlag, Schreibmaschinenschrift, überschrieben mit Rotstift „Entwurf", schrieben mit Paraphe Sodensterns, oben rechts handschriftlicher Vermerk „ab 9./12." Entwurf der Regelung: Original, Maschinenschrift, Kopf gedruckt.

unter-

Entwurf Chef T 2 Nr. 1218/33

Den 7. 12. 1933

g.Kdos. Geheime Kommandosache

4 Ausfertigungen 4. Ausfertigung

In der Anlage übersende ich einen neuen Entwurf für die endgültige Regelung der „Befugnisse der obersten politischen und militärischen Führung in Krieg und Frieden" mit der Bitte um Stellungnahme bis zum 16. 12. 33. Zu dem Vorschlag darf ich erläuternd bemerken: 1. Ich halte es für notwendig, bereits im Frieden die gleiche Organisation zu haben, wie man sie im Kriege haben will. Der Befehlsapparat muß im Frieden so eingespielt sein, wie er im Kriege

funktionieren soll.

Kriegskabinett kann nicht klein genug sein. Ich möchte sogar glauben, daß man den Reichsminister der Finanzen und auch den Reichspropagandaminister noch herauslassen sollte. Rechtzeitige und ihrer Bedeutung für die Kriegführung und -Vorbereitung entsprediende Beteiligung der anderen Reichsressorts ist m. E. durch die vorgeschlagene Institution des „Arbeitsausschusses"

2. Das

gewährleistet. 3. An der

Spitze dieses Arbeitsausschusses muß eine hauptamtliche Persönlichkeit stehen. Bei der der Aufgaben, die der „Arbeitsausschuß" zu lösen hat, ist es widersinnig, ihn neben-

Bedeutung

amtlich durch einen Abteilungsleiter des T. A. führen zu lassen. Es ist nebenbei läufig, daß der „Ausschuß" dabei zu kurz kommt, da T 2 durch andere für sie im stehende Aufgaben in Anspruch genommen ist.

nur

zwangs-

Vordergrund

Dokumente 4. Die militärische

623

Führung.

einer klaren und einfachen Lösung kommen. Sie ist nur gegeben, wenn der Chef der Wehrmacht seinen eigenen Stabschef und Arbeitsstab hat. Dabei sollte man sich den Kopf nicht darüber zerbrechen, welches Maß von Einfluß dem Chef H. L. zusteht. Er ist Führer eines Wehrmachtsteils, hat als solcher genug zu tun und sollte sich um anderes nicht kümmern! Im übrigen ist das auch in letzter Linie eine Organisationsfrage. Ein Chef H. L., der etwas kann, wird immer gehört werden, gleichviel welche Rolle ihm die jeweilige Organisation zuweist. b) Im Rahmen der militärischen Führung scheint es mir besonders wichtig, daß man die für den Krieg gedachte Organisation sobald als irgend möglich bereits im Frieden schafft. Die Einrichtung eines Wehrmachtsstabes ist auch nach meiner Auffassung keineswegs Überorganisation. Im Gegenteil: sie vereinfacht und schaltet den Wettlauf der drei Wehrmachtsteile um den Vorrang beim Minister aus. Das Fehlen dieses Wehrmachtsstabes hat sich m. E. bereits bemerkbar gemacht: es findet seinen Ausdruck in der Einflußnahme des politischen Ministeramtes auf rein militärische Dinge. Die gebotene Beschränkung des Chefs des Wehrmachtsstabes ergibt sich durch die klar herausgestellte volle Verantwortlichkeit der Führer der drei Wehrmachtsteile für ihre Bereiche von selbst. c) Auch die Einrichtung einer Wehrmachtshaushaltsabteilung bereits im Frieden halte ich für unerläßlich. Nur sie kann überparteiliche Schwerpunktbildung gewährleisten. Die Frage, ob das Heer wichtiger ist, als die Luftmacht, darf und kann weder vom Heer noch von der Luftmacht beantwortet werden! d) Auch das Wehrmachtsrüstungsamt sollte bereits im Frieden geschaffen werden. Die Hemmnisse, die sich einer solchen natürlichen Entwicklung bisher entgegengestellt haben, sind soweit sie mir bekanntgeworden sind im Wesentlichen auf einseitige Ressortstandpunkte gestützt. Natürlich muß dem Chef der Heeres- und der Marineleitung und dem Luftfahrtminister genügend Einfluß auf ihre Waffenentwicklung und -Beschaffung sichergestellt sein. Das könnte m. E. dadurch geschehen, daß im Wehrmachtsrüstungsamt Heeres-, Marine- und Luftwaffenamt nebeneinander stehen und jedes dieser Ämter seinem Wehrmachtsteil mit unterstellt bleibt. offenbar in der Entstehung begriffene 5. Es wäre schließlich noch das SA-Ministerium zu berücksichtigen. Über die Art seiner Eingliederung in die vorgeschlagene Organisation lassen sich Vorschläge erst machen, wenn man Charakter und Aufgaben dieses SA-Ministeriums kennt. v. Sod.

a)

Hier muß

man zu

-

-

-

1

-

Anlage (4 Blatt)

Verteiler: Chef T 1 Chef T 4 T2III

Heeres-Organisationsabteilung (T2.) des Reichswehrministeriums Der

Abteilungsleiter

Berlin W 10, den Dezember 33

Königin-Augusta-Straße

38-42

Befugnisse der obersten politischen und militärischen Führung in Krieg und Frieden A. Gesamtführung 1. Reichspräsident und Kriegskabinett (im Frieden: Reichsverteidigungsrat) tragen die Verantwortung für die Gesamtkriegführung bzw. ihre Vorbereitung. Sie bestimmen die Kriegsziele.

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Kriegskabinett (Reichsverteidigungsrat) führt der Reichskanzler. Mitglieder Kriegskabinetts (Reichsverteidigungsrates) sind: der Reichsverteidigungsminister (zugleidi ständiger Vertreter des Reichskanzlers), Den Vorsitz im

der Reichsminister des Äußeren, der Reichsminister für Propaganda und der Reichsminister der Finanzen.

des

Volksaufklärung,

2. Dem Kriegskabinett (Reichsverteidigungsrat) untersteht ein Arbeitsausschuß, dessen Vorsitz ein Vertreter des Reichsverteidigungsministers führt.* Dem Arbeitsausschuß gehören die schon im Frieden hauptamtlich zu bestimmenden Fach-

arbeiter aller Reichsministerien und der drei Wehrmachtsteile an. Die wesentlichen Aufgaben des Arbeitsausschusses sind: a) Die Vorarbeiten für die Beschlüsse des Kriegskabinetts (Reichsverteidigungsrates), b) die Formulierung und soweit sie nicht Aufgabe eines Reichsressorts ist die Durchführung der Anordnungen des Kriegskabinetts (Reichsverteidigungsrates). 3. Die Mitglieder des Gesamtkabinetts sind dafür verantwortlich, daß in ihrem Arbeitsbereich alle Kräfte im Sinne der Gesamtkriegführung bezw. ihrer Vorbereitung zum Einsatz kommen. Der Reichskanzler kann sowohl das Gesamtkabinett, wie einzelne seiner Mitglieder zu den Beratungen und zur Vorbereitung der Entschlüsse des Kriegskabinetts (Reichsverteidigungsrates) heranziehen. -

-

-

-

B. Die militärische Führung 1. Der Reichsverteidigungsminister ist zugleich der Chef der Wehrmacht. Er ist der verantwortliche militärische Berater des Kriegskabinetts (Reichsverteidigungsrates). Ihm obliegt die militärische Kriegsführung bezw. ihre Vorbereitung innerhalb der durch die Kriegsziele gesetzten Grenzen. Der Chef der Wehrmacht gibt die operativen Weisungen an die Chefs der Heeres- und Marineleitung und an den Luftfahrtminister. Er gibt ferner die Weisungen für Schaffung, Erhaltung und Ausgleich der personellen und materiellen Machtmittel der drei Wehrmachtsteile an diese und das Wehrmachtsrüstungsamt, sowie in seiner Eigenschaft als Reichsverteidigungsminister die Weisungen an den Arbeitsausschuß des Kriegskabinetts (Reichsverteidigungsrates) für die Durchführung der gesamten Reichsverteidigung und ihre Vorbereitung durch die Reichsministerien. -

-

-

-

Vorbereitung und Durchführung dieser Weisungen unterstehen dem Chef der Wehrmacht: a) der Chef des Wehrmachtsstabes''*, dessen Arbeitsstab 2 Generalstabsoffiziere, 1 Admiralstabsoffizier,

2. Für

Luftgeneralstabsoffizier und Wirtschaftsgeneralstabsoffizier angehören ; b) der Chef der Wehrmachtshaushaltsabteilung*'-''*, der Abgleichung und Schwerpunktbildung 1 1

Als Vorsitzender des Arbeitsausschusses wird am besten ein eigens hierfür bestimmter General Solange ein solcher nicht vorhanden, führt den Vorsitz der Chef des Wehrmachtsstabes (s. B. 2), oder solange auch dieser fehlt, der Chef des Truppenamtes. ** Solange im Frieden ein „Wehrmachtsstab" noch nicht gebildet ist, übernimmt die Aufgabe des Chefs des Wehrmachtsstabes der Chef des Truppenamtes. *** Solange im Frieden eine „Wehrmachtshaushaltsabteilung" noch nicht gebildet ist, übernimmt die Aufgaben des Chefs der Wehrmachtshaushaltsabteilung der Chef des Wehramtes. *

ernannt.

-

Anmerkung: Unter „Gesamtkriegführung"

ist die

Weiterführung

der Politik mit den Mitteln des

Krieges

zu

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625

innerhalb der gesamten für die Landesverteidigung zum Einsatz gelangenden Mittel nach den Weisungen des Chefs der Wehrmacht obliegt; c) der Chef des Ministeramtes, in dessen Amt alle politischen Angelegenheiten der Wehrmacht bearbeitet werden. 3. Nach den Weisungen des Chefs der Wehrmacht führen unter voller Verantwortung für ihren Bereich der das Heer Chef der Heeresleitung die Marine Chef der Marineleitung der Luftfahrtminister die operative Luftflotte und die Kräfte des Reichsluftschutzes. Sie sind dem Chef der Wehrmacht im Frieden für die Durchführung aller Kriegsvorbereitungen innerhalb ihres Bereiches verantwortlich. 4. Der Befehlshaber des Reichsluftschutzes leitet nach den Weisungen des Luftfahrtministers die außerhalb der drei Wehrmachtsteile notwendigen Luftschutzmaßnahmen. Er führt den Befehl über alle im Reichsluftschutz eingesetzten Kräfte. 5. Der Chef des Wehrmachtsrüstungsamtes ist dem Chef der Wehrmacht für die gesamte materielle Rüstung der Wehrmacht verantwortlich. Wie die Forderungen der einzelnen Wehrmachtsteile auf dem Gebiet der Rüstung auszugleichen und mit den operativen Absichten in Einklang zu bringen sind, entscheidet der Chef der Wehrmacht.

26 Stellungnahme des Chefs der Ausbildungsabteilung im Truppenamt, Oberstleutnant Reinhardt, 16. Dezember 1933 über den Entwurf der Organisationsabteilung zur Regelung der Organisation der obersten politischen und militärischen Führung vom

MGFA/DZ: H 1/319 b

Original, Unterschrift handschriftlich, oben rechts Eingangsstempel Truppenamtes.

T 2 des

Chef T 4 Nr. 1080.33.g.K. T4 IV

vom

19.12.1933 der

Berlin, den

Abteilung

16. 12.1933

Geheime Kommandosache Betr.: Oberste

Führung

An

Chef T 2 nachrichtlich: Chef T 1 A.

Ich stimme den für die Organisation des Gedanken zu. Der Forderung nach einer

Gesamtführung Kriegskabinetts und des Arbeitsausschusses dargelegten starken, verantwortungsbewußten Führung wird Redi-

verstehen. Sie umfaßt alle auf die Erreichung des jeweiligen Kriegszieles gerichteten Maßnahmen und Grundlagen diplomatischer, militärischer, wirtschaftlicher und propagandistischer Art. Die „militärische Kriegführung" ist ein Teil der Gesamtkriegführung. Sie umfaßt a) die Aufstellung, Ergänzung und Rüstung der Wehrmacht, b) die Verwendung der Streitkräfte zu Lande, zu Wasser und in der Luft zur Vernichtung der Widerstandskraft des Feindes. 40

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Kriegskabinett nur aus 3 Persönlichkeiten besteht, Reichsverteidigungsminister und dem Reichsminister des Äußern.

nung getragen,

dem

wenn

das

B. Militärische

dem Reichskanzler,

Führung

Schaffung einer Stelle, die die Entscheidungen des Chefs der Wehrmacht für den Ausgleich der Belange der 3 Wehrmachtsteile vorbereitet, halte auch ich für durchaus notwendig. Die Schwierigkeit liegt nur darin, diese Stelle so einzurichten, daß sie voll arbeitsfähig ist, daß aber andererseits eine Überorganisation vermieden wird. Der Wehrmachtsstab ist in der von T 2 vorgeschlagenen Zusammensetzung zu klein, um seine Aufgaben erfüllen zu können. Der Chef des Wehrmachtsstabes braucht zunächst eine Operationsgruppe, in der im Frieden operative Studien und Aufmarschanweisungen, im Kriege die Weisungen für die Kriegführung im Großen bearbeitet werden. In diese Gruppe gehören auch Fachbearbeiter für die Ausnutzung der Transport- und Nachriditenmittel. Die Grundlage für die operativen Arbeiten muß eine Nachrichtengruppe liefern, in der die von den Wehrmachtsteilen gewonnenen Auslandsnachrichten objektiv ausgewertet und Richtlinien für die einheitliche Handhabung des Die

Nachrichten- und Abwehrdienstes bearbeitet werden. Ferner muß eine Organisationsgruppe die Forderungen der obersten militärischen Führung auf dem Gebiet der personellen und materiellen Ausnutzung des Landes für die Kriegführung formulieren, den Schriftwechsel mit dem Reichsverteidigungsausschuß führen und den Ausgleich der Belange der Wehrmachtsteile auf organisatorischem Gebiet vornehmen. Das wichtigste Mittel, um die Ergebnisse der operativen und organisatorischen Arbeiten im Frieden in die Tat umzusetzen, ist die Regelung der Geldverteilung. Die Einheitlichkeit des Handelns wird auf diesem für die Schlagfertigkeit der Wehrmacht wichtigsten Gebiet nur dann sichergestellt sein, wenn die Haushaltsgruppe dem Chef des Wehrmachtsstabes voll unterstellt ist. Schließlich steht auch die Behandlung der politischen Fragen, der Presse usw. mit den operativen und organisatorischen Fragen in einem so engen Zusammenhang, daß es besser ¡st, auch diese Abteilung des Chefs des Wehrmachtsstabes zu unterstellen, als mehrere Chefs nebeneinander einzusetzen.

Auf Grund dieser Überlegung schlage ich die Gliederung des Wehrmachtsstabes nach Art einer Kommandobehörde in der in der Anlage beigefügten Zusammensetzung vor. In dem Bestreben, jede Überorganisation zu vermeiden, könnte man auch den Gedanken erwägen, Teile des Truppenamts geschlossen in den Stab der Wehrmacht zu übernehmen, die alsdann gleichzeitig für die Heeresleitung und für die gesamte Wehrmacht zu arbeiten hätten. Von diesem Weg muß indessen abgeraten werden, da alsdann die Überparteilichkeit des Stabes des Chefs der Wehrmacht von anderen Wehrmachtsteilen in Zweifel gezogen werden könnte und damit eine wichtige Voraussetzung für das erfolgreiche Arbeiten dieses Stabes verloren ginge. Bei der in der Anlage vorgeschlagenen Gliederung wird anzustreben sein, die Zahl der in den einzelnen Gruppen beschäftigten Offiziere möglichst klein zu halten. Der Schaffung des Wehrmachtsrüstungsamtes schon im Frieden wird zugestimmt. Die von T 2 hierbei vorgesehene Doppelunterstellung von Heeres-, Marine- und Luftwaffenamt könnte vielleicht dadurch vermieden werden, daß diese Ämter ihren Wehrmachtsteilen unterstellt bleiben und daß das Wehrmachtsrüstungsamt nur die Fragen bearbeitet, die sämtliche 3 Wehrmachtsteile berühren, und darüber wacht, daß ein Nebeneinander der Wehrmachtsteile in Fragen der Entwicklung und Beschaffung vermieden wird. Außer dem Wehrmachtsrüstungamt ist auch die Schaffung eines Wehrmachtsverwaltungsamts notwendig, da die Unterkunfts-, Verpflegungs-, Bekleidungs- und Beamtenangelegenheiten der 3 Wehrmachtsteile einer einheitlichen Leitung und Behandlung bedürfen. Reinhardt

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627

Anlage zu T 4

1080.33.

16.12. 33

g.K. v.

Gliederung des Stabes des Chefs der Wehrmacht Chef des Stabes 1 Hilfsoffizier

Organisations-

OperationsAbtlg.

u.

Wirtschafts-

Abteilungsleiter

Abtlg. Abteilungsleiter

1 1 1 1 1

1 1 1 1 1

Hilfsoffz. Ref. Heer Ref. Marine Ref. Luft Ref. Trans-

portwesen

Hilfsoffz. Ref. Heer Ref. Marine Ref. Luft Ref. für Wirtschaft

1 Ref. Nachr.-

Auslandsabtlg.

Haushaltsabtlg.

Polit.

Abteilungsleiter

Abteilungsleiter

Abteilungsleiter

1 Hilfsoffz.

3 Hilfsoffz.

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Unterabtlg.

Zusammensetzung wie

Ausland bei M.A. und jetzige

Unterabtlg.

Abw.Abtlg.

Abtlg.

jetzige

Heer Marine

Unterabtlg.

Wehrmach ts-

Abtlg.

Luft

Mittel

27 Denkschrift des Chefs des Truppenamtes, Generalleutnant Beck, Organisation der obersten Führung

vom

15.

Januar

1934 über die

MGFA/DZ: H 1/319 b

Original, Maschinenschrift, ohne Unterschrift; in der Akte auch der handschriftliche Entwurf Becks. Der Schreibmaschinenfassung vorgeheftet ein Blatt mit der handschriftlichen Notiz des Adjutanten, die als Empfänger der in fünf Exemplaren ausgefertigten und als „persönlicher Entwurf des Herrn Chefs T.A." bezeichneten Memorandums nennen: den Reichswehrminister, den Chef der Heeresleitung, Chef T 1/Truppenamt, sodann Oberstleutnant i. G. Stapf (Organisationsabteilung im Truppenamt) und den Chef des Wehramtes, General Fromm. In der Anlage vier Organigramme.

Der Chef des

den 15. 1. 34

Truppenamtes Spitzengliederung A.

Allgemeines

Spitzengliederung im Frieden muß der im Krieg erforderlichen von vorneherein möglichst angepaßt werden. 2. Die Zusammenfassung der drei Wehrmachtsteile unter einen Chef der Wehrmacht ist eine Notwendigkeit, nicht nur hervorgerufen durch die Person des augenblicklichen Reichswehrl.Die

ministers. Es ist jedoch

zu

bedenken, daß das Heer auch in Zukunft den bei weitem größten und den

ausschlaggebenden Teil

der Wehrmacht bilden wird.

3. Der Chef der Wehrmacht ist Führer der Gesamtwehrmacht.

Er stellt im Kriege die einheitliche Führung und das Zusammenwirken der drei Wehrmachtsteile nach den im Kriegskabinett festgesetzten politischen Richtlinien und Kriegszielen sicher, dessen militärischer Berater er in den Fragen der Gesamtkriegsführung ist. Die Leitung der Operationen erfolgt:

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a) für den Landkrieg durch den Chef der Heeresleitung,

b)

für den

Seekrieg durch den Chef der Marineleitung,

c) für den Luftkrieg durch den Chef der Luftwaffe.

Diese drei Persönlichkeiten haben nach den ihnen vom Chef der Wehrmacht erteilten Weisungen für die Führung des Krieges die Feldzugspläne zu Lande, zu Wasser und in der Luft zu entwerfen und alle operativen Weisungen und Befehle für die Kriegführung an Heer, Marine und Luftwaffe zu erlassen. Sie haben das Recht jederzeitigen unmittelbaren Zutritts und Vorschlagens beim Chef der Wehrmacht, dessen Zustimmung zu ihren Plänen und Stellenbesetzungsabsichten sie in wichtigen Fällen selbst einholen. Sie können in entscheidenden Fällen auf unmittelbaren Vortrag mit dem Chef der Wehrmacht beim „Führer" (Vorsitzenden des Kriegskabinetts)

dringen.

Der Vertreter des Chefs der Wehrmacht ist der Chef der Heeresleitung. Der Chef des Generalstabes der Wehrmacht ist der erste Gehilfe des Chefs der Wehrmacht. Er ist verantwortlich für die Organisation des gesamten Geschäftsganges im Wehrmachtsstabe und entlastet den Chef der Wehrmacht von bestimmten Dienstzweigen. Eine unmittelbare Einflußnahme auf die Operationen ist nicht seine Aufgabe. Er vertritt den Chef der Wehrmacht im Bedarfsfalle in den laufenden Geschäften. Die ministeriellen Aufgabengebiete, die im Frieden dem Reichswehrminister unmittelbar obliegen, sind von begrenztem Umfange. In der Hauptsache gehören sie zu den Geschäftsbereichen der Chefs der Heeres- und der Marineleitung sowie des Luftfahrtministers. Daraus ergibt sich, wenn auch nicht dem Namen nach, das Nebeneinanderbestehen von drei Ministerien, von denen das Luftfahrtministerium noch im Aufbau begriffen ist. 4. Das Nebeneinanderbestehen von in der Hauptsache getrennten Ministerien der drei Wehrmachtsteile ist bisher nicht als nachteilig empfunden worden, da Heer und Marine beim Neuaufbau der Reichswehr sich auf die bewährten Einrichtungen von Kriegs- und Vorkriegszeit stützen konnten, sich inzwischen im eigenen Bereich und nebeneinander eingelebt haben und das Luftfahrtministerium erst kurze Zeit besteht. Zweifellos wird aber in diesen drei Ministerien manche

Doppelarbeit geleistet.

Anders ist die Frage des Nebeneinanderbestehens der drei Ministerien im Kriege zu beurteilen. Einerseits müssen die Chefs der Heeresleitung, Marineleitung und der Luftwaffe im Kriege sich sowieso von dem ministeriellen Apparat in der Heimat trennen, weil sie ihn nicht leiten können und er sie nur aufs schwerste belasten würde, andererseits erfordern die Forderungen und Wünsche der drei Wehrmachtsteile eine viel schnellere Erledigung und, wo erforderlich, einen viel rascheren Ausgleich. Damit rückt aber die Notwendigkeit einer strafferen Leitung und Zusammenfassung aller ministeriellen Funktionen der drei Wehrmachtsteile in den Vordergrund. Sie kann durch Bildung eines Wehrmachtministeriums erreicht werden. Der Einwand, daß ein derartiges Ministerium zu umfangreich würde, ist insofern nicht als ausschlaggebend anzusehen, als man sich der Notwendigkeit einer zentralen Leitung und eines Ausgleichs durch die Person des Reichswehrministers bezw. Reichsverteidigungsministers schon im Frieden nicht verschlossen hat und die selbständige Bildung eines Luftministeriums in der Hauptsache außenpolitische Gründe hatte. Die ministerielle Spitze ist also schon vorhanden. Ihr aber dürfte bei den ungeheuren Anforderungen eines Krieges die Aufgabe ganz wesentlich erleichtert werden, wenn alle Fragen von einem Einheitsministerium bearbeitet und an sie herangetragen werden. Geht man zu einem Einheitsministerium der Wehrmacht erst im Kriege über, so liegen die Schwächen einer derartigen Maßnahme auf der Hand. Daher erscheint als notwendig anzustrebendes Ziel, daß ein derartiges Wehrmachts- (Kriegs-) Ministerium schon im Frieden gebildet wird. Die Bedenken und Schwierigkeiten einer solchen Maßnahme werden nicht verkannt, auch nicht der Umstand, daß bisher kein fremder Staat einen derartigen Schritt unternommen hat, obwohl es gewichtige Befürworter für ihn im Ausland gibt. Zuzugeben ist, daß ein Ministerium, welches im Frieden die jetzigen ministeriellen Funktionen

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der Chefs der Heeres- und Marineleitung, sowie der Luftwaffe auch noch in sich vereinigt, zu umfangreich werden würde. Diese Schwierigkeit wird aber beseitigt, sobald man das auch früher nicht ministerielle Gebiet dieser Wehrmachtsteile (Gr. Generalstab, Inspektionen, Admiralstab, Personalämter usw.) mit den Chefs der Wehrmachtsteile aus dem Ministerium wieder herausnimmt. Das verbleibende Wehrmadits- (Kriegs-) Ministerium würde dann im Krieg im wesentlichen unverändert bleiben, soweit es sich nicht empfiehlt, die stellvertretenden Behörden des Chefs der Heeresleitung, Marineleitung und der Luftwaffe im Kriege zu dem Wehrmachts(Kriegs-) Ministerium treten zu lassen. Notwendig erscheint es, den Reichswehrminister als Chef der Wehrmacht im Kriege durch Ernennung eines stellvertretenden Wehrmadits- (Kriegs-) Ministers von der Erledigung seiner ministeriellen Funktionen zu befreien, ohne ihm damit jedoch sein Amt als Reichsminister und

Mitglied des Kabinetts zu nehmen. Sofern die Frage der Schaffung eines

Wehrmadits- (Kriegs-) Ministeriums zur Zeit aus außenund anderen Gründen noch nicht reif erscheint, darf sie doch nicht mehr aus dem Auge verloren und muß eine Übergangslösung gesucht und schon jetzt alle Maßnahmen so getroffen werden, daß der Übergang zu einem solchen Ministerium im Kriege so schnell und so reibungslos wie möglich durchgeführt werden kann. Der Einwand, die Heeresleitung usw. neben ein Kriegsministerium zu stellen, bedeute, den früheren Dualismus zwischen diesen Stellen wieder aufleben zu lassen, dürfte nicht mehr voll stichhaltig sein. Der Hauptgrund für den früheren Dualismus zwischen Kommando- und Regierungsgewalt und damit auch der in erster Linie auf diesen Umstand zurückzuführende frühere Gegensatz zwischen Generalstab und Kriegsministerium mit seinen z. T. unheilvollen Folgen sind beseitigt, nachdem der Wehretat dem Einfluß des Parlaments entzogen, der Reichskanzler zugleich Vorsitzender des Reichsverteidigungsrates und der Reichswehrminister zugleich Chef der Wehrmacht ist. Eine gesunde Konkurrenz zwischen Führung und Rüstung ist keineswegs schädlich und als vorgesetzte und ausgleichende Stelle verfügen die Wehrmacht und ihre Teile heute über den bereits im Frieden vorhandenen Chef der Wehrmacht, dessen Einfluß weit unmittelbarer ist als es seinerzeit der S. M. des Kaisers bezw. des obersten Kriegsherrn war. Eine andere Frage ¡st es, ob insbesondere der Chef der Heeresleitung in der vorgeschlagenen Lösung eine Schwächung seiner bisher für ihn im Vordergrund stehenden Aufgabe des organisatorischen, personellen und materiellen Neuaufbaus des Heeres erblickt. Ist dies der Fall, so könnte dies jedoch lediglich ein Grund sein, vorläufig, also bis zum vollendeten Neuaufbau und für den Frieden dieser Lösung zu widerstreben. Aber auch die Heeresleitung kann sidi mit der Vergrößerung des Heeres der Notwendigkeit organisatorischer Erweiterungen und personeller Verstärkungen innerhalb ihres jetzigen Geschäftsbereiches sowie der Vergrößerung ihres Aufgabengebietes nicht entziehen. Damit wächst aber auch der persönliche Aufgaben-, Arbeits- und Verantwortungsbereich des Chefs der Heeresleitung und es ist die Frage, wann in dieser Hinsicht die Grenze für ihn erreicht ist bzw. er gezwungen sein wird, sich zur Entlastung von einzelnen seiner Arbeitsgebiete mehr abzu-

politischen

setzen.

Vorschläge im Krieg*. b) Einteilung des Stabes des Chefs der Wehrmacht im Krieg*. 6. a) Gliederung der Heeresleitung. b) Gliederung des Großen Generalstabes. B.

5.

a) Spitzengliederung des Chefs der Wehrmacht

Der Abgrenzung der unmittelbaren Befugnisse des Reichswehrministers und der Frage der Umgestaltung seines Stabes im Frieden soll erst nähergetreten werden, wenn die Entscheidung zu 5 a und 5 b gefällt ist. *

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